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German Pages 658 [663] Year 2019
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JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 67
herausgegeben von
Susanne Baer, Oliver Lepsius, Christoph Schönberger, Christian Waldhoff und Christian Walter
Mohr Siebeck
Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer, LL.M., Humboldt Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M., Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie, Universität Münster, Bispinghof 24/25, D-48143 Münster Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte, D-78457 Konstanz Prof. Dr. Christian Waldhoff, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Christian Walter, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht, Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München
ISBN 978-3-16-157052-0 / eISBN 978-3-16-159056-6 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung und Verbreitung in gedruckter oder elektronischer Form, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie die Übersetzung. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis Schwerpunktthema: Die Wahl Sophie Schönberger: Die personalisierte Verhältniswahl – eine Dekonstruktion .
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Joachim Behnke: Die Unausweichlichkeit der Reform des Wahlsystems nach seinem offenkundigen Scheitern bei der Bundestagswahl 2017 . . . . . . . . . . . 23 Fabian Michl und Roman Kaiser: Wer hat Angst vorm Gerrymander? Manipulative Wahlkreiszuschnitte in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Heike Merten: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Funktionen der Parteien bei der Wahlvorbereitung und deren Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Thorsten Kingreen: Die Wahl der Qual: Sozialwahlen in der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Bernard Dolez und Annie Laurent: Die französische Phobie gegen die Verhältniswahl: Rekonstruktion einer Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jörg Luther: Die römischen Passionen des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Christina Binder: Wählen außerhalb des Heimatlandes: Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Frithjof Ehm: Der Schutz des Wahlrechts durch regionale Menschenrechtsgerichtshöfe. Ein Beitrag zu ausgewählten Fällen der jüngeren Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Abhandlungen und Aufsätze Thomas von Danwitz: Zukunft des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Michael Riegner: Transformativer Konstitutionalismus und offene Staatlichkeit im regionalen Verfassungsvergleich mit Lateinamerika . . . . . . . . 265
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Inhaltsverzeichnis
Fabian Wesselmann: Die Politik der Bundesrichterberufung. Aus dem Inneren des Richterwahlausschusses nach Art. 95 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Debatte: Perspektivenerweiterung durch Genderforschung in der Rechtswissenschaft Catharine A. MacKinnon im Gespräch mit Susanne Baer: Gleichheit, realistisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Ute Sacksofsky: Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . 377 Eva Kocher: Die Position der Dritten. Objektivität im bürgerlichen Recht . . . . 403 Friederike Wapler: Politische Gleichheit: demokratietheoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Elisabeth Holzleithner: Geschlecht als Anerkennungsverhältnis. Perspektiven einer Öffnung der rechtlichen Kategorie im Zeichen des Prinzips gleicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Theresia Degener: Die UN Behindertenrechtskonvention – Ansatz einer inklusiven Menschenrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Porträts und Erinnerungen Bernhard Müllenbach: Hugo am Zehnhoff – Preußischer Justizminister in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zu seinem Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Frank Schorkopf: Robert Krawielickis (1905–1966) Arbeit am Schmelztiegel eines allgemeinen europäischen Rechts. Eine biographische Erkundung in die Verfassungs-rechtsgeschichte der europäischen Integration . . . . . . . . . 553
Entwicklungen des Verfassungsrechts Raúl Gustavo Ferreyra: On Presidentialism. The Problem of the System of Government in Argentina, Brazil, and Colombia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Attila Vincze, Herbert Küpper und Claudia Fuchs: Die Beziehungen zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den Obergerichten in Mitteleuropa. Eine vergleichende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
Schwerpunktthema: Die Wahl
Die personalisierte Verhältniswahl – eine Dekonstruktion von
Prof. Dr. Sophie Schönberger (Düsseldorf ) Inhalt I. Einleitung: Das personalisierte Verhältniswahlrecht in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Strukturbedeutungen des Wahlsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1. Mandatsverteilung unter den Bewerbern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2. Machtverteilung innerhalb der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3. Narrative Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 III. Strukturentscheidungen des personalisierten Verhältniswahlsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1. Mandatsverteilung zwischen den Bewerbern: Zwei-Stimmen-System und Mandatszahl . . . . . . 9 2. Machtverteilung innerhalb der Parteien: Bedeutungsgewinn und -verlust der Landesebene . . . . . 15 3. Narrative Funktion: Die unendliche Geschichte der Personalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
I. Einleitung: Das personalisierte Verhältniswahlrecht in der Krise Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag befindet sich in der Krise. Mögen hartnäckige Verfechter auch nach wie vor die internationale Vorbildfunktion betonen:1 Nach vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts innerhalb von drei Jahren, mit denen Teile des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt wurden,2 und einem ungewollt auf die internationale Rekordgröße von 709 Abgeordneten angeschwollenen Bundestag liegt das strukturelle Problem des Wahlsystems auf der Hand. Seit der letzten größeren Änderung im Jahr 2013, mit der überstürzt die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts für die unmittelbar bevorstehende Bundestagswahl umgesetzt wurden, kommt die politische Debatte um eine Reform deshalb auch nicht mehr zur Ruhe. Bereits in der ersten Sitzung des 2013 neu gewählten Bundestags mahnte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert eine Re So etwa Manow, Mixed Rules, Mixed Strategies, 2016. BVerfGE 124, 1 – Negatives Stimmgewicht; BVerfGE 130, 212 – Minderjährigenanteile in Wahlkreisen; BVerfGE 131, 316 – Negatives Stimmgewicht II; BVerfGE 132, 39 – Wahlrecht von Auslandsdeutschen. 1 2
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form des gerade geänderten Wahlrechts an.3 Der Alterspräsident des nachfolgenden Bundestags, Hermann-Otto Solms, tat es ihm vier Jahre später gleich,4 ohne dass in der Zwischenzeit realistische Anstrengungen für einen entsprechenden Prozess unternommen worden wären. Schließlich kündigte auch der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mehrfach an, sich um eine entsprechende Reform bemühen zu wollen.5 Die Notwendigkeit einer solchen Reform erschließt sich schnell, wenn man das geltende Bundestagswahlsystem und seinen nur noch schwer nachvollziehbaren Sitzverteilungsmechanismus genauer in den Blick nimmt. Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag beruht seit dem Jahr 1953 auf einem Zwei-Stimmen-System. Mit der ersten Stimme werden nach dem Prinzip relativer Mehrheit in den zurzeit 299 Wahlkreisen sogenannte Direktkandidaten als Abgeordnete gewählt. Mit der Zweitstimme werden nach dem Prinzip der Verhältniswahl Kandidaten der von den politischen Parteien aufgestellten Landeslisten gewählt. Die Besonderheit am deutschen Wahlsystem ist nun, dass das Ergebnis beider Stimmen miteinander verrechnet wird: Die für die Verhältniswahl maßgebliche Zweitstimme entscheidet also allein über die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments. Die Sitzverteilung nach der Zweitstimme bezieht sich daher nicht nur auf die Anzahl der Sitze des Bundestages abzüglich der durch Erststimme direkt gewählten Abgeordneten, sondern schließt deren 299 Mandate mit ein. Der Sache nach werden daher zunächst 299 Mandate mehr vergeben als der Bundestag tatsächlich hat, um dann diese Wahlkreismandate mit den Listenmandaten der Parteien verrechnen zu können. In der derzeit geltenden Fassung des Bundeswahlgesetzes erfolgt die derart vorzunehmende Sitzverteilung in einem komplexen mehrstufigen System, das jedenfalls für den Wähler kaum noch durchschaubar ist. Dafür werden in einem ersten Schritt schon vor der Wahl fiktive Sitzkontingente pro Bundesland gebildet, indem die 598 Sitze, die die Mindestgröße des Bundestags bilden, anhand der Bevölkerungszahl proportional auf die Bundesländer verteilt werden. Nach der Wahl werden dann zunächst für jedes Bundesland diese fiktiven Sitzkontingente auf die Parteilisten nach der Anzahl der Zweitstimmen im jeweiligen Bundesland verteilt, wobei die Listen solcher Parteien außer Betracht bleiben, deren Zweitstimmenanteil bundesweit die 5 %-Hürde nicht überschreitet. Diese für jede Partei ermittelte Mandatszahl wird mit der Anzahl der durch die Partei im Bundesland gewonnenen Direktmandate abgeglichen. Die höhere der beiden Zahlen bildet das Mindestsitzkontingent der Partei für das jeweilige Bundesland. Werden nun in einem weiteren Rechenschritt die Mindestsitzkontingente aller Parteien in allen Bundesländern zusammengezählt, so ergibt diese Zahl die Mindestmandatszahl im neuen Bundestag. Diese Mindestmandatszahl wird nun anhand des bundesweiten Zweitstimmenergebnisses wiederum rechnerisch auf die Parteien verteilt. Das rechnerische Ergebnis wird nun wiederum mit dem Mindestsitzkontingent jeder Partei auf Bundesebene abgeglichen. Wird dieses Mindestsitzkontingent nicht für alle Parteien erreicht, wird rechnerisch die Ge BT-Plenarprotokoll 18/1 v. 22.10.2013, 8. BT-Plenarprotokoll 19/1 v. 24.10.2017, 4. 5 Erstmals kurz nach der Wahl in einem Interview mit der Zeitschrift „Das Parlament“ v. 30.10.2017, S. 2 . 3 4
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samtzahl der Bundestagsmandate so lange erhöht, bis bei proportionaler Verteilung der Mandate auf die Parteien nach dem Zweitstimmenanteil jede Partei mindestens ihr Mindestsitzkontingent erhält. Die so errechneten Mandate für jede Partei werden dann in einem letzten Schritt nach dem Zweitstimmenergebnis auf die einzelnen Landeslisten aufgeteilt, wobei hier die im jeweiligen Land von einer Partei errungenen Wahlkreismandate angerechnet werden. Dieses überaus komplexe und schwer verständliche System ist das Ergebnis mehrerer Gesetzesänderungen, die dem Grunde, aber nicht der Sache nach durch vorhergehende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erzwungen wurden. Die letzten Gesetzesänderungen dienten insofern vor allem dem Zweck, das Entstehen von mehrheitsverzerrenden Überhangmandaten sowie den paradoxen Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts zu verhindern, bei dem es tatsächlich aufgrund der Spezifika des Sitzverteilungssystems in sehr besonderen Konstellationen dazu kommen konnte, dass eine größere Anzahl von Zweitstimmen zu einer geringeren Anzahl von Mandaten für eine Partei führte.6 In ihrer konkreten Ausgestaltung sind sie das Resultat einer politischen Praxis, in der die Akteure versuchten, die vom Bundesverfassungsgericht aufgeworfenen sehr grundlegenden Strukturprobleme durch möglichst geringfügige Anpassungen am geltenden Recht zu lösen. Das personalisierte Verhältniswahlsystem selbst wurde hingegen in der politischen Diskussion als solches nie auf den Prüfstand gestellt.7 So sehr also um die Reform des Wahlrechts gestritten wurde und gestritten wird, so selten wird und wurde dabei doch die Frage nach der Funktionalität des Wahlsystems als Ganzem gestellt. Vor diesem Hintergrund will der folgende Beitrag einen Schritt zurücktreten und nach den strukturellen Bedeutungen fragen, die Entscheidungen über das Wahlrecht im politischen System haben (II.). Mithilfe dieses Rasters werden die Grundbedingungen des personalisierten Verhältniswahlsystems des Bundeswahlgesetzes in den Blick genommen und auf ihre Funktionalität hin untersucht (III.).
II. Strukturbedeutungen des Wahlsystems Die Frage nach der strukturellen Bedeutung des Wahlrechts im demokratischen System scheint auf den ersten Blick banal. Es erfüllt in erster Linie die praktische Funktion, die demokratische Willensbildung real zu ermöglichen, den Wählern eine demokratische Entscheidung zu übertragen und, vor allem, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass konkrete Personen ausgewählt und in das Parlament entsandt werden können. Diese Funktion wird zunächst einmal von jedem Wahlrecht erfüllt, das demokratischen Mindeststandards entspricht, ist also dem Grunde nach wahlsystemunabhängig. Jenseits dieser Grundparameter ist die konkrete Ausgestaltung des 6 Zum negativen Stimmgewicht und der Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht s. nur Lenski, AöR 134 (2009), 473 (490 ff.); zu den Konstellationen, in denen dieser Effekt heute noch auftreten kann, s. Behnke, ZParl 2014, 17 (25 ff.). 7 Das Gleiche gilt im Wesentlichen auch für die Wissenschaft, vgl. etwa nur Behnke, ZParl 2010, 247 ff.; Pappi/Hermann, ZParl 2010, 260 ff.; Lübbert/Arndt/Pukelsheim, ZParl 2011, 426 ff.; Behnke/Grotz, ZParl 2011, 419 ff.; Strohmeier, ZParl 2011, 186 ff.; Grotz, in: Jesse/Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2009, 2013, 411 ff.; Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014, 394 ff.
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Wahlsystems jedoch auch für andere, die Realität des demokratischen Gemeinwesens maßgeblich prägende Parameter von ganz erheblicher Bedeutung.8 Zunächst ist sie maßgeblicher Faktor für die Machtverteilung unter den demokratischen Bewerbern. Die Frage, wie die demokratische Entscheidung des Wählers in eine Auswahlentscheidung hinsichtlich der Parlamentsbewerber umgewandelt wird, ist insofern von einschneidender Bedeutung für die Frage, wer den demokratischen Wettbewerb für sich entscheiden kann (1.). In den modernen Wahlsystemen, die maßgeblich von einer Vorauswahl von Kandidaten durch politische Parteien abhängig sind, entscheidet das Wahlsystem darüber hinaus auch ganz entscheidend über die Machtverteilung bei der Kandidatenauswahl innerhalb der Parteien (2.). Schließlich hat das Wahlsystem aber auch eine aus juristischer Sicht meist nur entfernt angedeutete narrative Funktion, durch die auf psychologischer Ebene die Legitimation des demokratischen Systems beim Wähler abgesichert werden soll (3.).
1. Mandatsverteilung unter den Bewerbern Die erste und offensichtlichste Funktion eines Wahlsystems liegt darin, Regeln bereitzustellen, mit denen aus der Wahlentscheidung der Wähler Mandatsverteilungsentscheidungen zwischen den Wahlbewerbern generiert werden können. Diese Mandatsverteilungsentscheidungen sind im letzten Schritt immer Personalauswahl entscheidungen: Es müssen die konkreten Personen ermittelt werden, die durch die Wahl ein Bundestagsmandat erhalten. In den modernen Demokratien wird diese Entscheidung in aller Regel in der einen oder anderen Form durch die politischen Parteien kanalisiert. Elemente einer Personenwahl vermischen sich daher in mehr oder weniger großem Umfang mit denjenigen einer Parteienwahl. Die großen Unterschiede, die die Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem bei der Mandatszuteilung ausmacht, werden besonders deutlich, wenn man die idealtypische Unterscheidung von Verhältnis- und Mehrheitswahl in den Blick nimmt.9 Während bei einem reinen Mehrheitswahlsystem alle Mandate über Wahlkreise vergeben werden, wobei das Mandat derjenige Wahlkreisbewerber erhält, der jeweils die Mehrheit auf sich vereinigt, werden bei einem reinen Verhältniswahlsystem alle Mandate anhand des Stimmenanteils vergeben, den eine Partei mit ihren Bewerberlisten prozentual im Wahlgebiet erhalten hat. In einem stark vereinfachten Modell mit zwei Parteien, in dem Partei A gleichmäßig im gesamten Wahlgebiet 60 %, Partei B hingegen 40 % der Stimmen erhält, würde bei einer Verrechnung nach einem reinen Mehrheitswahlsystem Partei A alle Mandate erhalten. Bei einer reinen Verhältniswahl entfielen hingegen nur 60 % aller Mandate auf sie, während Partei B die 8 Die vorliegende Darstellung wählt hier in ihrer Grundausrichtung zunächst einen analytischen Blickwinkel, der mit der geltenden Verfassungslage abgeglichen wird. Dabei geht es gerade nicht um eine „demokratietheoretisch“-normative Bewertung des Wahlsystems, wie sie in der Politikwissenschaft vorherrscht und sich an Kriterien wie Repräsentativität, Regierbarkeit, Personalisierung, Verständlichkeit und Legitimität orientiert, vgl. dazu nur Behnke/Grotz/Hartmann, Wahlen und Wahlsysteme, 2017, 63 ff.; ähnlich Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014, 187 ff. 9 Zur Unterscheidung vgl. nur grundlegend Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014, 141 ff.; Behnke/Grotz/Hartmann, Wahlen und Wahlsysteme, 2017, 88 ff.
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restlichen 40 % der Mandate erhielte. Bei einem Grabenwahlsystem schließlich, bei dem die Hälfte der Mandate nach dem Mehrheitswahlsystem über Wahlkreise und die andere Hälfte nach dem Verhältniswahlsystem vergeben wird, entfielen 80 % der Mandate auf die A Partei und nur 20 % der Mandate auf B. Der einzige Unterschied, der die so unterschiedliche Zusammensetzung des Parlaments begründet, liegt hier allein in der Entscheidung über das Wahlsystem, während die Entscheidung der Wähler völlig identisch bleibt. So einschneidend auch die Auswirkungen der Wahlsystementscheidungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und damit auf das politische System überhaupt sind: Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei der Entscheidung zwischen diesen Systemen in erster Linie um eine politische Entscheidung, die im Grundsatz nicht rechtlich determiniert ist.10 Der Bundesgesetzgeber ist daher in seiner Entscheidung für ein Wahlsystem grundsätzlich frei.11 Bei der genauen Ausgestaltung ist der Gesetzgeber gleichwohl an die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gebunden. Als zentral erweisen sich dabei die Wahlrechtsgrundsätze der Unmittelbarkeit sowie der Gleichheit der Wahl. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert zum einen, dass die Wahlentscheidung des Wählers ohne weitere Zwischenschritte die Zusammensetzung des Parlaments bestimmt, d.h. insbesondere ohne die Zwischenschaltung von Wahlmännern. Zum anderen folgt aus ihm die Notwendigkeit, dass der Wähler vor dem Wahlakt erkennen können muss, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann.12 Die Gleichheit der Wahl erfordert demgegenüber vom Wahlsystem, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können, und ist eine der wesentlichen Grundlagen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie sie das Grundgesetz verfasst.13 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht auch weitere ungeschriebene Anforderungen an das Wahlsystem aus der Verfassung abgeleitet. Neben der generellen Fähigkeit, den gewählten Abgeordneten überhaupt demokratische Legitimation vermitteln zu können, gehört dazu das Erfordernis, dass die zu wählende Volksvertretung funktionsfähig ist. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber auch „berücksichtigen“, dass er die Funktion der Wahl als Vorgang der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen soll, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben.14 Welche normativen Anforderungen genau aus diesen Sätzen folgen sollen, ist bisher in der Rechtsprechung jedoch noch nicht näher geklärt. Schließlich ist bisher in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts etwas unklar geblieben, inwiefern Aspekte der föderalen Gleichheit, die normativ im Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verankert sind, bei der Ausgestaltung des BVerfGE 3, 19 (24); 59, 119 (124); 95, 335 (349). BVerfGE 1, 208 (246); 6, 84 (90); 34, 81 (100); 131, 316 (334 f.). A.A. grundlegend Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, 1973, der das reine Mehrheitswahlsystem im Grundsatz für mit der Gleichheit der Wahl unvereinbar hält. 12 BVerfGE 95, 335 (350); unter Verweis auf BVerfGE 47, 253 (279 ff.). 13 BVerfGE 79, 169 (170); 85, 148 (157); 121, 266 (295); 124, 1 (18). 14 Zusammenfassend BVerfGE 131, 316 (335) m.w.N. 10 11
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Wahlsystems eine Rolle spielen. Insofern hat das Gericht zwar ausgeführt, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, föderale Belange bei der Gestaltung des Wahlrechts zum Bundestag als dem unitarischen Vertretungsorgan zu berücksichtigen.15 Entscheidet er sich allerdings trotzdem für ein System, in dem der „föderale Proporz“ für die Mandatsverteilung von Relevanz ist, soll diese Strukturentscheidung sogar geeignet sein, Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgleichheit verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.16 In einem solchen Fall kommt dem Wahlsystem dann nicht mehr nur die Aufgabe zu, die Mandatsverteilung zwischen den einzelnen Bewerbern bzw. zwischen den einzelnen Parteien zu organisieren. Vielmehr nimmt es auch eine Auswahlentscheidung hinsichtlich der föderalen Repräsentation auf der Gesamtstaatsebene über die Auswahl der Abgeordneten vor.
2. Machtverteilung innerhalb der Parteien Neben diesen offensichtlichen Funktionen der Mandatszuteilung zwischen den Bewerbern kommt dem Wahlsystem, jedenfalls unter den verfassungsrechtlichen Prämissen des Grundgesetzes, auch eine entscheidende Bedeutung im Hinblick auf die Machtverteilung innerhalb der sich zur Wahl stellenden Parteien zu. Denn mit der Strukturentscheidung darüber, in welcher Weise und auf welcher Ebene die Kandidaten für die Wahlen aufzustellen sind, wird auch eine Entscheidung darüber getroffen, auf welcher Ebene innerhalb der Parteien und damit auch durch welche Parteimitglieder die zentralen Personalentscheidungen für die Wahl getroffen werden. Zentraler verfassungsrechtlicher Maßstab für die Regeln, nach denen eine Kandidatenaufstellung durch die Parteien erfolgt, sind dabei zum einen das Gebot innerparteilicher Demokratie aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG, zum anderen die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, die zwar nicht unmittelbar auf die Wahlvorbereitungshandlungen durch die Parteien Anwendung finden, gleichwohl aber auf sie eine gewisse Vorwirkung entfalten.17 Die Kandidaten müssen daher durch die Parteien in einem demokratischen Verfahren aufgestellt werden, das insbesondere den Anforderungen an eine freie, gleiche und geheime Wahl entspricht.18 Diese demokratischen Grundsätze erfordern auch, dass die innerparteiliche Kandidatenaufstellung auf der Ebene der Partei stattfindet, für die die Kandidatenaufstellung erfolgt. Wahlkreiskandidaten müssen daher auf Wahlkreisversammlungen, Landeslisten auf Landeswahlversammlungen aufgestellt werden. Je größer die Bedeutung von Wahlkreiskandidaten ist, desto wichtiger ist dementsprechend innerparteilich die Rolle der unterschiedlichen Wahlkreisversammlungen, d.h. von Mitgliedern und Parteiführungsgremien auf lokaler Ebene. Sind hingegen die Landeslisten von entscheidender Bedeutung für die Mandatszuteilung, sind vor allen Dingen die Landeswahlversammlungen und damit auch die Parteiführungsgremien auf Landesebene maßgeblich. Das bedeutet, dass die für die innerparteilichen Machtverhält BVerfGE 6, 84 (99); 16, 130 (143); 95, 335 (402). BVerfGE 95, 335 (402); 121, 266 (303); 131, 316 (345). 17 BVerfGE 89, 243 (251); Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 351; Lenski, PartG und Recht der Kandidatenaufstellung, Einl. zum Recht der Kandidatenaufstellung Rn. 1. 18 Vgl. zu diesen Anforderungen etwa nur jüngst VerfGH Sachsen, JZ 2018, 771 ff. 15 16
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nisse wichtigen Kandidatenaufstellungen für Wahlen stärker zentralisiert und von der Führungsspitze der Partei gesteuert werden können. Die Frage nach Elementen föderaler Gleichheit im Wahlsystem kann sich schließlich auch im Hinblick auf die Machtverteilung innerhalb der Parteien stellen. Wenn sich Parteien etwa mit verschiedenen Landeslisten zur Wahl stellen, muss das Wahlsystem insofern auch die Frage beantworten, in welchem Verhältnis diese Listen zueinander stehen, ob also auch innerhalb der Partei die errungenen Mandate strikt nach föderalem Proporz verteilt werden sollen oder es zwischen den Listen derselben Partei zu Anrechnungsmechanismen kommen kann. In den bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen es um die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgleichheit durch Aspekte des „föderalen Proporzes“ ging, waren es tatsächlich in erster Linie solche Fragen der innerparteilichen föderalen Mandatsverteilung, über die der Sache nach entschieden wurde.
3. Narrative Funktion Neben diesen unmittelbaren, handfesten Aspekten hat die Entscheidung für ein Wahlsystem schließlich auch eine weiche Seite, über die eine demokratische Narration entwickelt und darauf auf bauend bestimmte psychologische Effekte erzielt werden.19 Letztlich ist es diese narrative Ebene, auf die das Bundesverfassungsgericht anspielt, wenn es aus dem Grundgesetz ungeschriebene Anforderungen dahingehend ableitet, dass der Gesetzgeber die Funktion der Wahl als Vorgang der Integration politischer Kräfte sicherstellen soll.20 Erste Ansätze zur theoretischen Konzeptualisierung dieser Funktion hat Christoph Möllers unter dem Stichwort der expressiven Demokratie skizziert und selbst auf die Unfertigkeit dieser Unternehmung verwiesen.21 Dieses demokratietheoretische Modell, das er dem Konzept der repräsentativen Demokratie entgegenhalten will, bezieht sich in seinem Ansatz zunächst nur auf die Frage der Konstituierung des demokratischen Legitimationssubjektes, geht aber in seinen Implikationen weit darüber hinaus, wenn es Demokratie vor allen Dingen über demokratische Verfahren und demokratische Praxis beschreiben will.22 Ein demokratisches Repräsentationsorgan müsse in diesem Sinne nichts abbilden, sondern eine Praxis gleicher Freiheit zum
19 Grotz, in: Jesse/Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2009, 2013, 411 (413); Behnke/Grotz/ Hartmann, Wahlen und Wahlsysteme, 2017, 106 ff., betrachten demgegenüber unter Verweis auf die eingespielte Terminologie in der Politikwissenschaft als psychologische Wirkung die Lenkungseffekte, die das Wahlsystem auf das Kandidatur-, Koalitions- und Wählerverhalten hat. Dabei geht es allerdings vor allem um tatsächliche Effekte im Gegensatz zu den hier untersuchten normativen Ansprüchen. 20 S.o. Fn. 14. 21 Möllers, in: Heinig/Terhechte (Hrsg.), Postnationale Demokratie, Postdemokratie, Neoetatismus, 2013, 131 (133 mit Fn. 6); vgl. auch v. Achenbach, Demokratische Gesetzgebung in der Europäischen Union, 2014, 387. 22 Möllers, in: Kreide/Niederberger (Hrsg.), Transnationale Verrechtlichung, 2008, 160 (167 ff.); Möllers, Demokratie, 2008, Rn. 31 f.
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Ausdruck bringen.23 Als demokratisches Verfahren nimmt er dabei im Wesentlichen den Akt der Wahl in den Blick, den er jedoch tatsächlich weniger mit Blick auf Verfahren und Praktiken, sondern vor allem aus einer sprachtheoretischen Perspektive als sprachlich vermittelter Kommunikationsakt rekonstruieren will. Die narrativen und psychologischen Effekte der Wahl werden damit jedoch gerade nicht in den Blick genommen. Vielversprechender, auch im Hinblick auf die Bedeutung des Wahlsystems für den demokratischen Prozess, scheint es daher zu sein, nicht das Expressive, sondern das Performative der Demokratie in den Vordergrund zu stellen.24 In diesem Sinne wird Demokratie weniger im Sinne einer expressiven Demokratie zum Ausdruck gebracht, als vielmehr im Sinne einer performativen Demokratie inszeniert.25 Wesentliches Element einer solchen demokratischen Inszenierung ist dabei nach Pierre Bourdieu die soziale Magie, die dadurch entsteht, dass die demokratisch „Repräsentierten“ an genau diese Repräsentation der Gruppe durch den Repräsentanten glauben.26 Aufgabe des Repräsentanten ist es in diesem Sinne „die Gruppe zu inszenieren, wobei es ihm gelingen muss, dass jene, die ihn beobachten, ihn als Repräsentant der Gruppe erkennen und anerkennen – und also seiner Darstellung Glauben schenken.“27 Wesentlicher Faktor dafür, dass eine solche Anerkennung tatsächlich stattfinden kann, ist nicht nur die Arbeit der Abgeordneten im Parlament, sondern auch die Ausgestaltung des Wahlrechts und vor allem ihre kommunikative Vermittlung gegenüber den Wählern, die den Wahlakt als Akt der Repräsentation begreifen müssen.
III. Strukturentscheidungen des personalisierten Verhältniswahlsystems Überträgt man dieses Analyseraster auf die personalisierte Verhältniswahl nach dem Bundeswahlgesetz, stellen sich viele ihrer systematischen Grundentscheidungen als überaus inkonsistent dar. Das betrifft sowohl die Frage nach der Mandatsverteilung zwischen den Bewerbern (1.) als auch die Mandatsverteilung innerhalb der Parteien (2.). Schließlich ist auch die narrative Dimension des personalisierten Wahlrechts tatsächlich mehr als brüchig, obwohl die Rechtsprechung genau diese Dimension immer wieder zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze heranzieht (3.). 23 Möllers, in: Heinig/Terhechte (Hrsg.), Postnationale Demokratie, Postdemokratie, Neoetatismus, 2013, 131 (133); Möllers, Demokratie, 2008, Rn. 31 f. 24 Vgl. dazu, allerdings fokussiert auf die Seite der demokratischen Institutionen, S. Schönberger, Der Staat 56 (2017), 441 (468 ff.). 25 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen und den Begriffsverschiebungen des Terminus „Performanz“ vgl. nur statt vieler Christensen/Lerch, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 3: Recht vermitteln, 55 ff.; allgemein: Bachmann-Medick, Cultural turns, 2006, 104 ff. 26 Bourdieu, Das politische Feld, 2001, 99. Zu dieser Dimension des Glaubens nicht nur an die Repräsentation, sondern an das Recht insgesamt vgl. etwa nur Viggiani, Rivista Italiana di Filosofia del Linguaggio, 2014, 325 ff. 27 Jentges, Die soziale Magie politischer Repräsentation, 2010, 61. Diese Beschreibung ist schlüssig, obwohl Jentges im Folgenden einem sehr bildlichen Konzept der Repräsentation folgt.
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1. Mandatsverteilung zwischen den Bewerbern: Zwei-Stimmen-System und Mandatszahl Beim System der personalisierten Verhältniswahl hat sich der Gesetzgeber dem Grunde nach für ein reines Verhältniswahlsystem entschieden.28 Seitdem über die mögliche Vergrößerung des Bundestags ein vollständiger Abgleich mit den Direktmandaten erfolgt, also keine unausgeglichenen Überhangmandate mehr entstehen können, existieren auch keine Verzerrungen des Verhältnismaßstabs mehr durch das Element der Wahlkreiskandidaturen. So klar die Strukturentscheidungen in dieser Hinsicht zu sein scheinen, so diffizil ist doch die Ausgestaltung des Wahlsystems an anderen mit der Mandatsverteilung zusammenhängenden Punkten. Dies betrifft zum einen den Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und Wahlentscheidung im Zwei-Stimmen-System, zum zweiten die Berücksichtigung föderalen Proporzes im Wahlsystem und, darauf auf bauend, drittens die Gesamtgröße des Bundestags.
a) Stimmabgabe und Wahlentscheidung im Zwei-Stimmen-System Gem. § 4 BWahlG hat jeder Wähler eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreis abgeordneten und eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Da das Wahlsystem im Ergebnis auf einer reinen Verhältniswahl zwischen Kandidaten der politischen Parteien beruht, entscheidet allein die Zweitstimme über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestags. Der Erststimme soll hingegen die Aufgabe zukommen, ein Element der Personenwahl in das Wahlsystem zu integrieren. Die Frage, welche Personenwahl genau der Wähler mit Wahrnehmung seiner Erststimme trifft, d.h. zwischen welchen Wahlalternativen genau er sich entscheidet, scheint auf den ersten Blick banal: Da er mit seiner Erststimme einen Wahlkreisabgeordneten wählt, muss seine Wahlmöglichkeit diejenige zwischen den verschiedenen als Wahlkreisbewerbern zugelassenen Kandidaten sein. Eine solche einfache Wahlalternative würde sich bei Ausübung der Erststimme allerdings tatsächlich nur dann stellen, wenn es sich bei dem Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes um eine mit der Verhältniswahl unverbundene Personenwahl handeln würde. Dadurch, dass die Ergebnisse der Personenwahl mit denen der Verhältniswahl verrechnet werden, die Erststimme also nicht für sich alleine wirkt, sondern immer eine Wechselwirkung mit dem Ergebnis der Zweitstimmen zeitigt, ist eine solche eindimensionale Betrachtung der Wirkungsweise der Erststimme allerdings stark verkürzt und gibt die Wahlalternativen nicht zutreffend wieder.29 Die Erststimme kann hinsichtlich der Auswahl, die mit ihr getroffen wird, daher nur zusammen mit der Zweitstimme richtig erfasst werden. Der Wähler entscheidet nämlich mit seiner Erststimme nicht nur, ob Direktkandidat A oder Direktkandidat Grundlegend BVerfGE 6, 84 (90); 13, 127 (129); 16, 130 (139); 66, 291 (304); 95, 335 (357 f.); 121, 266 (297); noch deutlicher zuletzt BVerfGE 131, 316 (357 ff.); a.A. Pappi/Hermann, ZParl 2010, 260 (270 f.). 29 S. hierzu und zum Folgenden Lenski, AöR 134 (2009), 473 (497 ff.). 28
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B in den Bundestag einzieht, sondern im gleichem Maße auch darüber, ob die der A-Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zustehenden Mandate durch den Direktkandidaten oder vielmehr durch einen Listenkandidaten besetzt werden soll.30 Durch diese Verquickung zweier Wahlentscheidungen entsteht ein äußerst komplexes Entscheidungsmuster: Votiert ein Wähler sowohl mit seiner Erst- als auch mit seiner Zweitstimme für die A-Partei, so bringt er mit seiner Zweitstimme zunächst seinen Willen zum Ausdruck, dass die A-Partei möglichst viele Sitze im Bundestag erhält. Mit seiner Erststimme drückt er demgegenüber zum einen aus, dass er lieber den Direktkandidaten der A-Partei als einen anderen Direktkandidaten im Bundestag vertreten wissen möchte. Diese Auswahl geht aber nicht über den Aussagegehalt seiner Zweitstimme hinaus, da er hier ja bereits seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat, dass die A-Partei möglichst viele und damit mehr Mandate als alle anderen Parteien erhält. Insofern deckt sich die Wahlentscheidung aus der Erststimme mit derjenigen der Zweitstimme. Darüber hinaus bringt der Wähler aber – und hier kommt der Erststimme eigenständige Bedeutung gegenüber der Zweitstimme zu – zum Ausdruck, dass er lieber den Direktkandidaten als einen Listenkandidaten für die A-Partei im Bundestag sehen möchte. Freilich wird dem Wähler diese Entscheidungsalternative in den seltensten Fällen bewusst sein. Votiert ein Wähler hingegen mit der Zweitstimme für die A-Partei, mit der Erststimme aber für den Wahlkreiskandidaten der B-Partei, liegt also ein Fall des sog. Stimmensplittings vor, so stellt sich die dahinterliegende Wertung als deutlich komplexer dar. Zunächst einmal bringt der Wähler mit seiner Zweitstimme auch hier seinen Willen zum Ausdruck, dass die A-Partei möglichst viele Sitze und damit mehr Sitze als die anderen Parteien im Bundestag erhält. Betrachtet man den Aussagewert der Erststimme demgegenüber zunächst isoliert, scheint er sich in Widerspruch zu demjenigen der Zweistimme zu setzen: Denn mit der Erststimme votiert der Wähler dafür, dass lieber der Kandidat der B-Partei als die Kandidaten anderer Parteien in den Bundestag einziehen soll.31 Als überhaupt in irgendeiner Weise nachvollziehbare Wahlentscheidung erweist sich dieses Verhalten nur, wenn man die wahlrechtliche Verquickung beider Stimmen in die Betrachtung mit einbezieht. Dann kann sich eine solche Form des Stimmensplittings nämlich zum einen als eine „wenn-schon-dann-aber“-Entscheidung darstellen: Der Wähler will zwar eigentlich, dass die A-Partei und nicht die B-Partei möglichst viele Sitze im Bundestag erhält. Wenn die B-Partei aber schon ein Mandat erringen kann, so soll dieses lieber von dem Direktkandidaten als von einem Listenkandidaten besetzt werden. Der Wähler übt in dieser Konstellation also eine Wahloption über die personale Zusammensetzung einer Bundestagsfraktion aus, deren Zustandekommen er mit seiner Stimme gar nicht unterstützt. Dieser scheinbare Widerspruch im Wählerverhalten konnte bis zur letzten großen Wahlrechtsreform noch dann aufgehoben werden, wenn man das strategische Stimmensplitting als legitime Option in das Wahlsystem integrierte, durch das bewusst Meyer, KritV 77 (1994), 312 (328 Fn. 47), spricht insofern von einem „trüben Licht“, das auf die Persönlichkeitswahl fällt. 31 Auf diese Möglichkeit als Errungenschaft des personalisierten Verhältniswahlrechts weist ausdrücklich Jung, NVwZ 2004, 703 (704), hin. 30
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auf die Entstehung von Überhangmandaten für eine der beiden unterstützten Parteien hingewirkt werden konnte.32 Gerade im Hinblick auf die Zweitstimmenwähler der FDP lässt sich ein solches Wahlverhalten, mit dem letztlich für eine Koalitionsregierung gestimmt werden soll, über die Zeit relativ stabil empirisch nachweisen.33 Der Sache nach war ein solches Wählerverhalten dann auf ein doppeltes Stimmgewicht gerichtet: Der Wähler wollte zum einen, dass die A-Partei möglichst viele Listenmandate im Bundestag erhält, und zielte gleichzeitig darauf ab, dass die B-Partei durch Überhangmandate ebenfalls einen möglichst hohen Anteil an den Bundestagsmandaten errang. Unabhängig davon, dass dieser Effekt des doppelten Stimmgewichts durch Überhangmandate nach der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zumindest dann gegen die Wahlrechtsgleichheit verstößt, wenn die Anzahl der Überhangmandate mehr als 15 beträgt,34 hat sich die Möglichkeit, eine solche Gleichheitsverzerrung wahltaktisch auszunutzen, durch das neue Mandatszuteilungsverfahren vollständig erledigt. Dass der Anteil der Wähler, der von der Möglichkeit des Stimmensplittings Gebrauch macht, bei der Bundestagswahl dennoch auf einen Rekordwert von 23,7 % stieg,35 mag vor diesem Hintergrund daran liegen, dass die überkommenen Wählergewohnheiten auch unabhängig von Änderungen im Wahlsystem fortwirken. Auf die personelle Zusammensetzung des Bundestags hat das Stimmensplitting heute in erster Linie nur noch dahingehend Auswirkungen, als dadurch die Anzahl der Bundestagsmandate erhöht wird.36 Schließlich wird die Zwei-Stimmen-Konstruktion mit der Behauptung, es handele sich einmal um eine Personen-, einmal um eine Parteistimme, dann vollständig paradox, wenn man berücksichtigt, dass selbst eine Negativauswahl eines Wählers gegen einen Wahlkreiskandidaten häufig deshalb nicht stattfinden kann, weil ein Großteil der in den Wahlkreisen durch die Parteien aufgestellten Bewerber auch über einen Platz auf der Landesliste ebendieser Partei verfügt und insofern doppelt abgesichert ist.37 Selbst die Möglichkeit des Wählers, personell zwischen dem Direktkandidaten und dem Listenkandidaten einer Partei zu entscheiden, stellt sich daher oft lediglich als Scheinwahl dar, wenn nämlich Direkt- und Listenkandidat personenidentisch sind. Die tatsächliche Bedeutung der Listenabsicherung hat sich dabei allerdings in den letzten Jahren durch die Veränderungen im Parteiensystem deutlich gewandelt. Noch 32 Zwar ist es richtig, dass auch durch das Stimmensplitting keine im Voraus durch den Wähler berechenbare Chance auf die Verursachung eines Überhangmandates entstehen konnte, wie BVerfGE 95, 335 (362), betont, jedoch wurde durch das Stimmensplitting die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten signifikant erhöht, vgl. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, 1973, 242. 33 Vgl. nur Jesse, in: Oppelland (Hrsg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015, 105 (110 ff.). Bei der Bundestagswahl gaben 56,4 % der Wähler, die der FDP ihre Zweitstimme gegeben haben, ihre Erststimme an eine andere Partei, s. Bundeswahlleiter, Pressemitteilung Nr. 02/18 vom 26. Januar 2018, https://www.bundes wahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/02_18_pm_repr_wahlstatistik.html, zuletzt abgerufen am 27.11.2018. 34 BVerfGE 131, 316 (357 ff.). 35 Bundeswahlleiter, Pressemitteilung Nr. 02/18 vom 26. Januar 2018, https://www.bundeswahl leiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/02_18_pm_repr_wahlstatistik.html, zuletzt abgerufen am 27.11.2018. 36 S.u. bei III.1.c). 37 Vgl. ausführlich und kritisch v. Arnim, JZ 2002, 578 (580).
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bei der Bundestagswahl 2005 war zu beobachten, dass im Grundsatz sowohl die Wahlkreiskandidaten der CDU/CSU als auch diejenigen der SPD als erfolgversprechende Wahlbewerber angesehen werden konnten. Zu einer echten Personalauswahl kam es hier jedoch in der Mehrzahl der Fälle nicht, weil in 155 der 299 Wahlkreise die Direktkandidaten sowohl der CDU als auch der SPD in den Bundestag einzogen.38 In diesen Fällen reduzierte sich die Entscheidungsmöglichkeit der Wähler weiter auf ein Minimum: Sie entschieden – plakativ gesprochen – nicht einmal mehr darüber, ob ein Wahlkreiskandidat oder ein Listenkandidat der von ihnen unterstützten Partei(en) in den Bundestag einzog, sondern nur noch darüber, wer als Listenkandidat und wer als Direktkandidat ein Mandat erhielt,39 ohne dass diese Unterscheidung nach der Wahl jedoch von rechtlicher Bedeutung wäre. Diese Zahl hat sich nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2017 naturgemäß deutlich verschoben. Nur noch in 103 von 299 Wahlkreisen zogen sowohl der Kandidat von SPD als auch derjenigen von CDU/CSU in den Bundestag ein.40 Die Komponente der Personalauswahl durch die Erststimme wurde dadurch für den Wähler allerdings keineswegs gestärkt. Ganz im Gegenteil: Die tatsächliche Relevanz der Personalauswahl scheint bei dieser Wahl – und prognostisch vermutlich auch noch für einige weitere Bundestagswahlen – jedenfalls im Hinblick auf die Kandidaten von CDU/CSU nahezu verschwunden. Denn in 246 von 299 Wahlkreisen hat bei der letzten Bundestagswahl der Direktkandidat der Union das Bundestagsmandat, für das er sich beworben hat, auch tatsächlich erhalten – unabhängig davon, ob er das Direktmandat gewinnen konnte oder nicht. Das bedeutet, dass nur in 43 von 299 Wahlkreisen, d.h. in 14 % der Wahlkreise, der Unionskandidat kein Parlamentsmandat erringen konnte. Die ohnehin nur sehr eingeschränkt gehaltene Versprechung des § 4 BWahlG, mit der Erststimme eine positive Personalauswahl für einen Wahlkreiskandidaten und damit zugleich auch eine Negativentscheidung gegen die anderen Kandidaten treffen zu können, wird in der Praxis dadurch jedenfalls im Hinblick auf die Unionskandidaten ad absurdum geführt. Ein stringentes Element der Personenwahl offeriert das BWahlG daher nur für die Fälle der parteiunabhängigen Wahlkreisbewerber, die jedoch in der Praxis keinerlei relevante Bedeutung besitzen. In allen anderen Fällen dominiert die Ausrichtung des Wahlsystems an den Parteien derart, dass die Möglichkeit der Personalauswahl demgegenüber in den Hintergrund tritt.
b) Föderaler Proporz Neben diesem „Markenkern“ der personalisierten Verhältniswahl durch das Zwei-Stimmen-System hat seit der letzten Wahl ein anderer Aspekt im Wahlsystem zumindest theoretisch an Bedeutung gewonnen: die Berücksichtigung des föderalen Proporzes. Die doppelte Abbildung gebietlicher Strukturen einmal durch die Wahlkreise und einmal durch die Landeslisten der Parteien prägt das Wahlsystem zum Lenski, AöR 134 (2009), 473 (500). Vgl. v. Arnim, JZ 2002, 578 (580). 40 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten des Bundeswahlleiters. 38 39
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deutschen Bundestag seit jeher. Seit der letzten Reform hat diese Bedeutung jedoch im Hinblick auf das Mandatsberechnungsverfahren noch einmal zugenommen: Durch die Festlegung von Mindestmandatszahlen pro Bundesland, die sich an der Bevölkerungszahl orientieren, wird hier ein zusätzliches föderales Element in das Wahlrecht eingefügt, das jedoch bei näherer Betrachtung allein Bedeutung für den Rechenvorgang der Mandatsverteilung hat. Es handelt sich nämlich bei diesen fiktiven Sitzkontingenten keineswegs um feste Mandatszahlen abgeschlossener Wahlgebiete, wie dies etwa im bayerischen Landtagswahlrecht der Fall ist,41 so dass die endgültige Verteilung der Gesamtmandatszahl auf die einzelnen Bundesländer doch nach dem Maßstab der abgegebenen Zweitstimmen erfolgt. Die Bundesländer werden daher gerade nicht am Maßstab ihrer Bevölkerungszahl, sondern allein am Maßstab der Wahlbeteiligung in ihrem Gebiet im Bundestag vertreten. Die Bedeutung des föderalen Proporzes bleibt somit im System der personalisierten Verhältniswahl insgesamt prekär.
c) Gesamtgröße des Bundestags Als dritter wesentlicher Faktor, der die Mandatsverteilung zwischen den Bewerbern determiniert, stellt sich schließlich die Gesamtzahl der Mandate im Bundestag dar. Schon vor der letzten Wahlrechtsreform handelte es sich in gewisser Weise um einen neuralgischen Punkt des Wahlsystems, das bis heute darauf ausgerichtet ist, mehr Mandate zu verteilen als dem Grundsatz nach zur Verfügung stehen. Gem. § 1 Abs. 1 BWahlG besteht der Bundestag vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen aus 598 Abgeordneten. Nach Abs. 2 werden dabei 299 Abgeordnete nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen und die übrigen nach Landeslisten gewählt.42 Bei der Berechnung der auf die jeweiligen Landeslisten entfallenden Mandate werden gleichwohl nicht 299 Mandate verteilt, wie es dem Regelungsgehalt des § 1 Abs. 2 BWahlG entspräche,43 denn auf diese Weise würde letztlich ein vom Gesetzgeber so nicht gewolltes Grabenwahlsystem verwirklicht. Vielmehr wird bereits auf der ersten Ebene der Berechnung der Mindestsitzkontingente pro Partei und Bundesland die Gesamtzahl der im Bundestag zu vergebenden Mandate, d.h. 598 Parlamentssitze, auf die Landeslisten verteilt. Von dieser Zahl wird lediglich die Anzahl der Direktmandate abgezogen, die von parteiunabhängigen Bewerbern errungen wurden oder von Kandidaten solcher Parteien, die an der 5 %-Hürde gescheitert sind – Mandate also, die in aller Regel gar nicht erst anfallen oder aber zumindest von sehr geringem Ausmaß sind. De facto werden nach dem BWahlG somit in diesem ersten Schritt rein rechnerisch 897 Sitze – 299 Sitze für Wahlkreismandate und 598 Sitze für Listenmandate – verteilt, obwohl der Bundestag doch nur aus 598 Mitgliedern bestehen soll. Eine rechnerische Reduzierung erfolgt Vgl. für das bayerische Recht etwa nur Gärditz, BayVBl. 2011, 421 ff. Kritisch zu dieser Formulierung bereits Ipsen, DVBl. 2005, 1465 (1466), der durch die Formulierung das Wahlsystem nicht als zutreffend gekennzeichnet sieht, weil die Wahl in Wahlkreisen und die Wahl über Landeslisten nicht unverbunden nebeneinander stehen, wie dies dem Modell des „Grabenwahlrechts“ entspräche. 43 In diese Richtung auch Meyer, KritV 77 (1994), 312 (318). 41
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erst im nächsten Schritt, indem die von einer Partei errungenen Direktmandate mit den auf sie im jeweiligen Land entfallenden Listenmandaten gegengerechnet werden. Ist die Zahl der von einer Partei errungenen Direktmandate jedoch größer als die ihr nach der ersten fiktiven Verteilung zustehende Anzahl von Mandaten, erhöht sich die Gesamtzahl der Mitglieder des Bundestages automatisch um diese Zahl. Schließlich wird die Zahl der Mandate im Bundestag noch einmal erhöht, wenn auf der Ebene der bundesweiten Gesamtverteilung eine proportionale Verteilung der Mandate anhand des Zweitstimmenergebnisses bei Beibehaltung aller Wahlkreismandate erfolgt. Interessanterweise ist in diesem Schritt aber die maximale Anzahl der Mandate nicht einmal mehr auf die ursprünglich verteilten 897 Wahlkreis- und Listenmandate beschränkt. Die Zahl der Mandate wird vielmehr so lange erhöht, bis ein vollständiger Verhältnisausgleich erreicht ist. In dem hypothetischen Extremfall, dass eine Partei alle Direktmandate im Bundesgebiet erringt, allerdings nur 5 % der Zweitstimmen auf ihre Listen vereinigen könnte, würde dies also, in einer vereinfachten Rechnung, dazu führen, dass der Bundestag auf etwa 5980 Mitglieder anwachsen müsste, da nur in diesem Fall die errungenen 299 Direktmandate einem relativen Anteil von 5 % der Abgeordneten entsprächen.44 Nun mag man einwenden, dass es sich bei einer solchen Stimmenverteilung zwar um ein theoretisch mögliches, aber doch überaus unwahrscheinliches Wahlergebnis handelt. Das ist zwar insofern richtig, als es sich hierbei tatsächlich um den extremsten denkbaren Fall handelt. Schon nicht mehr so unwahrscheinlich ist angesichts der letzten Bundestagswahlergebnisse jedoch die Konstellation, in der eine Partei alle Wahlkreismandate erringen kann, jedoch nur einen Zweitstimmenanteil von 30 % auf ihre Landeslisten vereinigen könnte. Grob überschlagen würde dieses Ergebnis immer noch zu einer Bundestagsgröße von 997 Abgeordneten führen. Tatsächlich ist daher durch die letzte Wahlreform die Gesamtgröße des Bundestags zur entscheidenden Variable des Wahlsystems geworden. Alle vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig gerügten Systemelemente, d.h. das übermäßige Auftreten von Überhangmandaten sowie die Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts, wurden im geltenden System einseitig zulasten der Möglichkeit eines übermäßigen Anwachsens der Gesamtmandatszahl aufgelöst. Das verfassungsrechtliche Problem der Wahlrechtsgleichheit, das über viele Jahre die wahlrechtliche Debatte und die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gerade im Hinblick auf die Überhangmandate dominiert hat, ist damit zwar in diesem Verrechnungsmodus grundlegend gelöst. Allerdings steht nun ein anderer vom Bundesverfassungsgericht als ungeschriebener Grundsatz der Verfassung entnommener Aspekt in Frage: die Funktionsfähigkeit des Parlaments.45 Bei der Festlegung der Größe von Parlamenten muss stets das Dilemma zwischen dem Ziel der Repräsentativität durch eine hinreichende Anzahl von Abgeordneten einerseits und dem Gebot der Funktionsfähigkeit durch 44 Tatsächlich könnte die Zahl der Abgeordneten sogar noch größer werden, da nicht nur bei einem solchen Auseinanderfallen von Erst- und Zweitstimmen die Gesamtzahl der Abgeordneten erhöht wird, sondern auch bei starken Schwankungen der Wahlbeteiligung zwischen den Bundesländern. Zu diesem Effekt s. Behnke, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 2017, 59 (61 ff.). 45 Zur Funktionsfähigkeit des Parlaments als verfassungsrechtlicher Anforderung an das Wahlsystem s. BVerfGE 6, 84 (92); 51, 222 (236); 82, 322 (338); 95, 408 (418); 120, 82 (107); 131, 316 (335).
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eine nicht allzu große Anzahl der Abgeordneten andererseits gefunden werden.46 Denn je größer ein Parlament wird, desto schwieriger wird es, einen echten Diskurs und eine darauf beruhende Entscheidungsfindung zwischen den Parlamentariern zu organisieren,47 desto größer wird also die Gefahr, dass entweder überhaupt keine Mehrheitsfindung im Parlament mehr möglich ist, oder aber das Parlament nur ohne substantielle eigene Willensbildung schlicht seine Zustimmung erklärt zu allen Entscheidungen, die an anderer Stelle, insbesondere also in der Regierung, getroffen werden. Das geltende Wahlsystem kann in keiner Weise verhindern, dass das Parlament eine Größe erreicht, in der seine Funktionsfähigkeit als Ort der Debatte und Entscheidungsfindung nicht mehr gegeben ist. Unter diesem Aspekt muss es daher als verfassungswidrig betrachtet werden.
2. Machtverteilung innerhalb der Parteien: Bedeutungsgewinn und -verlust der Landesebene Die grundlegende Unterscheidung zwischen Wahlkreiskandidaturen und Landeslisten, die dem Bundeswahlgesetz seit Beginn innewohnt, hat nicht nur grundlegende Auswirkungen auf die Auswahl zwischen den Wahlbewerbern verschiedener Par teien. Auch für die Machtverteilungsfragen innerhalb der Parteien sind sie von entscheidender Bedeutung. Denn auch, wenn allein das Zweitstimmenergebnis über den Anteil von Mandaten entscheidet, die eine Partei am Ende erhält, entscheidet das Ergebnis der Erststimmen darüber, ob diese Mandate durch Kandidaten aus den Wahlkreisen oder durch die Kandidaten auf den Landeslisten besetzt werden. Für die Parteien ist dieser Unterschied deshalb von besonderer Bedeutung, weil innerparteilich verschiedene Akteure über die Kandidatenauswahl auf den unterschiedlichen Ebenen entscheiden. Während die Landeslisten gem. § 27 Abs. 5 i.V.m. § 21 BWahlG von Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen auf der Landesebene aufgestellt werden, werden die Wahlkreiskandidaten von entsprechenden Versammlungen auf der Wahlkreisebene gewählt. Diese Konzeption resultiert letztlich aus dem Vorwirken demokratischer Grundsätze auf die Kandidatenaufstellung innerhalb der Partei: Die demokratische Legitimation für die Kandidatenvorschläge der Parteien muss insofern durch diejenigen Parteimitglieder erfolgen, die im jeweiligen Wahlgebiet (also im Bundesland oder im Wahlkreis) auch zur Bundestagswahl wahlberechtigt sind.48 In den Fällen, in denen eine Partei also Direktmandate erringt, bedeutet das, dass die Kandidatenauswahl innerparteilich dezentralisiert und in gewissem Umfang von den Parteieliten auf der Landesebene wegverlagert wird.49 Dass dies vereinzelt zu Vgl. etwa Loewenberg, ZParl 2007, 816 (819 ff.). Vgl. zum entsprechenden Phänomen etwa nur Hurrelmann/Liebsch/Nullmeier, Leviathan 30 (2002), 544 ff. 48 Vgl. für das Auseinanderfallen von innerparteilicher Organisation und wahlrechtlichen Aufstellungsversammlungen etwa Lenski, PartG und Recht der Kandidatenaufstellung, 2011, § 21 BWahlG Rn. 10 ff. 49 Auf die Spitze getrieben wird dieser Effekt im Landtagswahlrecht Baden-Württemberg, das zwar auch als System personalisierter Verhältniswahl konzipiert ist, allerdings allein mit Wahlkreisvorschlägen operiert, vgl. dazu Müller, ZParl 2004, 288 ff.; Däubler, ZParl 2017, 141 ff. 46 47
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bewussten Emanzipationsbewegungen der Parteibasis gegenüber der Parteiführung führen kann, zeigt das Beispiel des grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele. Aufgrund seiner innerfraktionellen Opposition zur Außenpolitik der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Außenminister Joschka Fischer stellte ihn die Berliner Landeswahlversammlung von Bündnis90/Die Grünen für die Bundestagswahl 2002 nicht mehr für einen aussichtsreichen Listenplatz auf. Da ihn die Wahlkreisversammlung für den Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg jedoch als Direktkandidaten für die Partei nominierte, kämpfte er in einem stark personalisierten Wahlkampf um den Wiedereinzug in den Bundestag auf Wahlkreisebene und positionierte sich dabei mit seinem Wahlslogan „Ströbele wählen heißt Fischer quälen“ bewusst gegen die Parteiführung. Auf diese Weise gelang es ihm, das erste und bisher einzige grüne Direktmandat für den Bundestag zu erringen, das er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Parlament im Jahr 2017 behielt. Dass bei der Bundestagswahl 2017 auch seiner Nachfolgerin als Wahlkreiskandidatin, Canan Bayram, der Einzug in den Bundestag gelang, obwohl sie deutlich weniger bekannt als Ströbele und auch an der Basis deutlich stärker umstritten war, zeigt an, dass selbst in ungewöhnlichen Konstellationen wie dem eines grünen Bundestagsdirektmandats gerade nicht nur die Person der Wahlkreiskandidaten, sondern auch Parteipräferenzen sowie die vorher kalkulierten Erfolgschancen aufgrund vorheriger Wahlergebnisse von entscheidender Bedeutung sind.50 Jenseits dieses Sonderfalls ist diese besondere Form der Einbindung der Parteibasis allerdings von vorneherein auf diejenigen Parteien und Wahlgebiete beschränkt, in denen die jeweilige Partei überhaupt Chancen hat, das Wahlkreismandat zu erringen. Im gegenwärtigen Parteiensystem trifft dies für die Bundestagswahl jedoch zunehmend nur noch auf CDU und CSU zu, hier jedoch in besonders verstärktem Maße. So gelang es bei der Bundestagswahl 2017 der CSU überhaupt nicht mehr, ein Listenmandat zu erringen, da mit den in Bayern gewonnenen Wahlkreismandaten der Mandatsanspruch nach Zweitstimmenergebnis schon um 7 Plätze überstiegen wurde. Der auf Landesebene benannte Spitzenkandidat der CSU, Joachim Herrmann, konnte daher im Ergebnis kein Bundestagsmandat erringen, da er in keinem Wahlkreis als Kandidat nominiert worden war. Damit konnte die Landesebene keinerlei Einfluss mehr auf die personelle Zusammensetzung der CSU-Landesgruppe im Bundestag nehmen. Bei der Schwesterpartei CDU hat man bei der Bundestagswahl 2017 zwar noch kein solches Ergebnis erreicht. Der Trend ist jedoch deutlich erkennbar: Von den 200 CDU-Abgeordneten im Bundestag erhielten lediglich 15 Abgeordnete ihr Mandat über eine Landesliste, verteilt auf zwei Mandate in Berlin, eines in Bremen, drei in Hamburg, fünf in Niedersachsen und vier in Nordrhein-Westfalen. In der Tendenz bedeutet dies, dass in den Unionsparteien die innerparteiliche Kandidatenauswahl zunehmend ausschließlich auf die Ebene der Wahlkreisversammlungen 50 Insofern ist bemerkenswert, dass bei der Bundestagswahl 2017 zwar der grünen Direktkandidatin mit einem Erststimmenergebnis von 26,3 % der Einzug in den Bundestag gelang, das Zweitstimmenergebnis von Bündnis90/Die Grünen jedoch nur bei 20,4 % lag, während die Linkspartei 28,6 % der Zweitstimmen auf sich vereinigen konnte. Bei der Bundestagswahl 2005, also der Wahl nach seiner erstmals erfolgreichen Direktkandidatur, konnte Hans-Christian Ströbele sein Erststimmenergebnis sogar von 31,6 % auf 43,3 % erhöhen und lag damit mehr als 20 Prozentpunkte über dem Zweitstimmenergebnis im Wahlkreis. Im Jahr 2009 gaben ihm sogar 46,7 % der Wähler ihre Stimme.
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verlagert wird, während in den kleineren Parteien bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich die Landeswahlversammlungen über die personelle Zusammensetzung der zukünftigen Bundestagsfraktion entscheiden. Lediglich in der SPD-Fraktion findet sich zurzeit noch eine relativ ausgewogene Mischung mit einem Verhältnis von 59 Wahlkreiskandidaten zu 94 Listenmandaten. Wie sich dieses Verhältnis in Zukunft entwickeln wird, kann im Moment noch nicht abgesehen werden.
3. Narrative Funktion: Die unendliche Geschichte der Personalisierung Wenn schließlich eine grundlegende Funktion eines Wahlsystems darin zu sehen ist, eine legitimatorische Narration bereitzustellen, um den Wahlakt als Akt der Repräsentation erzählerisch einzubetten, so ist das Kernstück dieser Erzählung gerade im Hinblick auf die personalisierte Verhältniswahl die besondere Verbindung des Abgeordneten zum Wähler, die durch die Wahl im Wahlkreis entstehen soll. Das „besondere Anliegen“ der personalisierten Verhältniswahl, das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar grundsätzlich geeignet sein soll, Einschränkungen bei der Wahlrechtsgleichheit zu rechtfertigen, soll dabei darin liegen, „durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten eine engere persönliche Beziehung zumindest der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu ihrem Wahlkreis zu gewährleisten“.51 Diese Formel ist vom Großteil der Literatur kommentarlos aufgenommen und reproduziert worden, ohne sie jedoch einer tiefergehenden Prüfung zu unterziehen.52 Erst in jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird dieser Begründungskanon etwas erweitert: Die Wahl des Abgeordneten als Person – und nicht als Exponent einer Partei – soll zumindest auch den repräsentativen Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes stärken, die nach Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG gebotene innerparteiliche Demokratie stützen und dem Vertrauen des Wählers zu seinem Repräsentanten eine persönlichkeitsbestimmte Grundlage geben.53 Schließlich soll das Wahlsystem der dominierenden Stellung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes ein Korrektiv im Sinne der Unabhängigkeit der Abgeordneten entgegensetzen.54
a) Engere Bindung zwischen Abgeordnetem und Wähler Dass das Instrument der Wahlkreismandate auf der einen Seite zu einer engeren Beziehung des Wahlkreisabgeordneten zu seinem Wahlkreis und damit – dies ist wohl das eigentliche Ziel – zu den Interessen und Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung führt, und auf der anderen Seite eine engere persönliche Bindung der Wähler an ihren Abgeordneten stärkt, letztendlich also dem im Demokratieprinzip wurzelnden BVerfGE 7, 63 (74); 16, 130 (140); 41, 399 (423); 95, 335 (358); 95, 408 (412); 97, 317 (327). Vgl. etwa nur Papier, JZ 1996, 265 (270); Poschmann, BayVBl. 1995, 299 (300); Mager/Uerpmann, DVBl. 1995, 273 (277); Bothe, DÖV 1976, 740 (742); Frowein, DÖV 1963, 857 (859); Schild, NVwZ 1983, 597 (598); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 100. 53 BVerfGE 95, 335 (352 f.); 97, 317 (327). 54 BVerfGE 131, 316 (365 f.). 51
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Repräsentationsgedanken dient,55 ist zunächst nicht mehr als eine Hypothese. Sie trifft Aussagen über besondere psychologische Effekte, die von einem Wahlsystem ausgehen sollen, und nutzt diese behaupteten psychologischen Effekte wiederum argumentativ zur Rechtfertigung der Abweichung von verfassungsrechtlich normierten Wahlrechtsgrundsätzen. Zwar führen die besonderen Effekte der Personalisierung nach dem geltenden System nicht mehr zu einer Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit, wie sie zuvor durch das Anfallen ausgleichsloser Überhangmandate systemimmanent war, sondern verursachen nur noch eine deutliche Vergrößerung des Parlaments. Trotzdem bleiben auch auf dieser Grundlage die Grundannahmen zweifelhaft, auf denen die Narration beruht und die letztlich die Grundlage für das personalisierte Verhältniswahlsystem mit allen seinen problematischen praktischen Wirkungen bilden sollen. Zwar gibt es bis heute keine empirischen Studien darüber, inwiefern ein Effekt der besonderen psychologischen Verbindung zwischen Wähler und Wahlkreisabgeordnetem durch das System der personalisierten Verhältniswahl tatsächlich eintritt. Die Tatsache, dass selbst im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Wahl mehr als 37 % der Wähler keinen einzigen Wahlkreiskandidaten benennen können und mehr als 20 % der Wähler sich lediglich an den Namen eines einzigen Kandidaten erinnern,56 legt allerdings mehr als nahe, dass ein solcher Effekt nicht besonders ausgeprägt sein kann: Denn erste Voraussetzung für eine „engere persönliche Beziehung“, die durch die Wahlentscheidung entsteht, wäre ja, dass überhaupt eine Wahlentscheidung aufgrund der Kenntnis mehrerer Bewerber getroffen wird. Dies ist aber bei fast 60 % der Wähler allein schon deshalb nicht der Fall, weil sie überhaupt nicht mehr als einen Wahlkreiskandidaten kennen. Hinzu treten die Wähler, die zwar mehr als einen Kandidaten benennen können, ihre Wahlentscheidung aber trotzdem nicht von der Person des Kandidaten, sondern seiner parteipolitischen Bindung abhängig machen. Auch dieser Anteil der Wähler dürfte sehr erheblich sein. Gerade diese parteipolitische Bindung ist es auch, die für den Zeitraum nach der Wahl Zweifel an der These der besonderen persönlichen Bindung auf kommen lässt. Denn eine wesentliche Bindung zwischen Wählern und Abgeordneten kann nur dann entstehen, wenn entweder die deutliche Mehrheit der Wähler im Wahlkreis für den tatsächlich obsiegenden Bewerber votiert hat, oder aber die Wähler auch dann eine besondere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreisabgeordneten auf bauen, wenn sie bei der Wahl für einen anderen Kandidaten gestimmt haben. Der erste dieser beiden Fälle ist heute jedenfalls auf tatsächlicher Ebene die Ausnahme. Bei der Bundestagswahl 2017 erhielten nur 13 der gewählten Wahlkreisabgeordneten ein Erststimmenergebnis von 50 % oder mehr, der höchste Erststimmenwert lag bei 57,7 %.57 Demgegenüber konnten 26 erfolgreiche Wahlkreiskandidaten nur ein Erststimmenergebnis erzielen, das unter 30 % lag. Das niedrigste Erststimmenergebnis, das zum Gewinn eines Wahlkreises genügte, lag bei 23,5 %.58 Der Mittelwert der Erststimmenergebnisse für die erfolgreichen Wahlkreiskandidaten lag bei 38,3 %: die BVerfGE 95, 335 (367). Vgl. nur Giebler/Weßels, German Politics, 2017, 149 ff. 57 Dieses Ergebnis erzielte die CDU-Kandidatin Silvia Breher im Wahlkreis Cloppenburg-Vechta. 58 Dieses Ergebnis erzielte die SPD-Kandidatin Eva Högl im Wahlkreis Berlin-Mitte. 55
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Hälfte der Kandidaten erreichte ein besseres, die andere Hälfte ein schlechteres Ergebnis.59 Damit könnte eine engere persönliche Bindung durch das Zwei-Stimmen-System und die Wahl in Wahlkreisen nur dann als wesentlicher Effekt entstehen, wenn die Wähler eine solche Bindung zu ihrem Wahlkreisabgeordneten auch empfinden, wenn sie bei der Wahl für einen anderen Abgeordneten gestimmt haben. Eine solche Bindung ist jedoch empirisch bisher in keiner Weise belegt und im Übrigen in hohem Maße unplausibel. Vor diesem Hintergrund ist auch in der politischen Praxis die tatsächliche Wahlkreisarbeit in viel stärkerem Maße durch parteipolitische Bindungen geprägt als durch die tatsächlich errungene Erststimmenmehrheit. Entsprechende Erwartungen sind normativ bereits im Abgeordnetengesetz verankert: Gem. § 12 Abs. 2 Nr. 1 AbgG hat jeder Bundestagsabgeordnete Anspruch auf Auszahlung einer Kostenpauschale, die insbesondere Bürokosten zur Einrichtung und Unterhaltung von Wahlkreisbüros außerhalb des Sitzes des Deutschen Bundestages ausgleichen soll – und zwar unabhängig davon, ob der Abgeordnete ein Direktmandat errungen hat, tatsächlich also einen Wahlkreis im Bundestag repräsentiert, oder über eine Landesliste in den Bundestag eingezogen ist. Durch diese Regelung soll bewirkt werden, dass nicht nur die gewählten Wahlkreisabgeordneten, sondern alle Mandatsträger eine intensive Bindung zu ihrem Wahlkreis auf bauen können und so eine beiderseitige engere persönliche Beziehung zwischen Wählern und Abgeordnetem vorantreiben. Die Vorschrift beruht darüber hinaus auch auf der Tatsache, dass ab dem Zeitpunkt der Wahl gerade kein Unterschied mehr zwischen Wahlkreismandaten und Listenmandaten gemacht wird, sondern die Mandatsträger sich vielmehr auf einen gleichen Status als Abgeordneter berufen können. Vor allem aber trägt die Vorschrift der Tatsache Rechnung, dass fast alle der 709 Abgeordneten im Bundestag tatsächlich in einem Wahlkreis kandidiert haben.60 Umgekehrt bedeutet dies, dass es bei der Bundestagswahl 2017 überhaupt nur 69 Wahlkreise gab, in denen nur einer der aufgestellten Wahlkreisbewerber ein Bundestagsmandat erringen konnte61 – in allen anderen Wahlkreisen waren zwischen zwei und fünf der Wahlkreisbewerber später auch im Bundestag vertreten, im Wahlkreis Stadt Gelsenkirchen gelang sogar allen sechs Kandidaten der Einzug in das Parlament. Die lokale Verbundenheit wird daher in der Praxis weit weniger durch den Erfolg im Wahlkreis bei der Bewerbung um ein Direktmandat als vielmehr durch die Bewerbung selbst erzeugt.
b) Unabhängigkeit des Abgeordneten und innerparteiliche Demokratie Sofern darüber hinaus das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten großen Wahlrechtsentscheidung die Unabhängigkeit des Abgeordneten und die innerparteiliche Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten des Bundeswahlleiters. Bei der Bundestagswahl 2017 gelangten lediglich 23 Abgeordnete ohne eine solche Kandidatur in den Bundestag. Bei der Bundestagswahl 2009 lag diese Anzahl noch bei 14. Allerdings gehen 17 der 23 Mandate ohne Wahlkreiskandidatur auf den parlamentarischen Neuling Af D zurück. 61 Diese Anzahl hat sich gegenüber der Bundestagswahl 2009 deutlich verringert, als noch 90 Wahlkreise nur durch einen Kandidaten vertreten wurden. 59
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Demokratie als Gründe benannt hat, die die Besonderheiten des personalisierten Verhältniswahlrechts auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht ausmachen, so bleibt entweder unklar, worauf sich diese Argumentation bezieht, oder aber die empirische Grundlage erscheint mehr als brüchig. Dass die personalisierte Verhältniswahl in ihrer heutigen Form mit ihrem Zwei-Stimmen-System und ihren Wahlkreisen Rückwirkungen auf die innerparteiliche Willensbildung hat, wurde bereits genauso dargelegt wie die Tatsache, dass diese Rückwirkungen mittlerweile heute in erster Linie noch die Unionsparteien betreffen – und zwar in der Form, dass ihre Bundestagsabgeordneten mittlerweile fast ausschließlich über die Wahlkreiskandidaturen gewählt werden. Dass hieraus eine Stärkung der innerparteilichen Demokratie folgen soll, ist in keiner Weise erkennbar, will man nicht pauschal annehmen, dass auf Wahlkreisebene getroffene Entscheidungen immer demokratischer sind als solche, die auf Landesebene getroffen werden. Selbst dann würde im heutigen System dieser Effekt jedoch nur sehr gezielt wenige Parteien tatsächlich betreffen. Die vom Bundesverfassungsgericht formulierte Annahme, dass durch Wahlkreiskandidaturen die Unabhängigkeit der Abgeordneten gestärkt wird, ist schließlich – jenseits vielleicht von dem Sonderfall des Direktmandats für Hans-Christian Ströbele – empirisch weder nachweisbar noch im deutschen politischen System plausibel. Sie scheint sehr stark von Erfahrungen mit Systemen reiner Mehrheitswahl wie etwa in den USA oder in Großbritannien geprägt zu sein, in der tatsächlich die Notwendigkeit, die Mehrheit der Wählerstimmen im Wahlkreis zu gewinnen, mitunter die Intensität der Parteibindung deutlich überlagern kann. Im deutschen politischen System, das immer noch sehr maßgeblich auf der Kanalisation politischer Meinungen und Interessen durch die Parteien angelegt ist, lassen sich ähnliche Effekte jedoch schlicht nicht beobachten. Die Fraktionsdisziplin, die die Arbeit im Bundestag durchgehend prägt, wirkt auf direkt gewählte Abgeordnete in aller Regel gerade nicht anders als auf solche Parlamentarier, die ihr Mandat durch eine Parteiliste erhalten haben.
c) Die Narration der Narration Vor diesem Hintergrund erscheint für die legitimierende narrative Wirkung des personalisierten Verhältniswahlsystems nicht der tatsächliche Zweistimmenmechanismus in seiner Wahrnehmung durch die Wähler entscheidend, sondern vielmehr die Wirkung der Erzählung, die um das Zweistimmensystem herum konstruiert wird. Mag diese Erzählung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik mit seinem parteipolitisch stabilen System und den daraus resultierenden stabilen Wahlergebnissen noch weitläufig verfangen haben, wird die Narration angesichts der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Zahl von Verfassungsgerichtsentscheidungen und der darauf basierenden Veränderungen des Wahlrechts immer brüchiger. Zudem lässt auch die stetig anwachsende Komplexität des Wahlrechts und die damit verbundene stetig abnehmende tatsächliche Verstehbarkeit des Wahlsystems für die Wähler die Legitimationskraft der Erzählung schwinden. Möglicherweise ist daher die Zeit gekommen über neue Narrative nachzudenken, die eine personenbezogene Legitima-
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tion des Wahlsystems auch jenseits der überkommenen Wahlkreiskandidaturen im personalisierten Verhältniswahlsystem stiften können.
IV. Ausblick Nach der Reform ist vor der Reform. Nachdem das geltende Bundestagswahlrecht bei der Wahl 2017 seine offensichtlichen Schwächen gezeigt hat, ist eine weitere Novellierung des Sitzzuteilungssystems unvermeidlich. Das alte Modell der personalisierten Verhältniswahl mit seinem Zwei-Stimmen-System ist dabei angesichts eines deutlich veränderten Parteiensystems offensichtlich an die Grenzen seiner Funktionalität gekommen. Die bisher in der politischen Diskussion angedeuteten Reformvorschläge wie etwa eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise oder ein Zurückfahren des vollständigen Ausgleichs von Überhangmandaten können diese Funktionsschwächen vielleicht in gewissem Umfang abmildern. Das zugrundeliegende Problem an sich können sie nicht überzeugend lösen. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass sich der Gesetzgeber in näherer Zukunft für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes entscheiden wird, die über minimalinvasive Anpassungen hinausgeht. Gerade im Hinblick auf die legitimatorische Funktion, die nicht nur dem Wahlakt als solchem, sondern auch dem Wahlsystem selbst zukommt, könnte es aber nur hilfreich sein, auch jenseits eingefahrener Muster der personalisierten Verhältniswahl nach Lösungen zu suchen.
Die Unausweichlichkeit der Reform des Wahlsystems nach seinem offenkundigen Scheitern bei der Bundestagswahl 2017 von
Prof. Dr. Joachim Behnke (Friedrichshafen) Inhalt I. Einleitung und einführende Skizzierung der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Die Entstehung des übergroßen Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Eine eingehendere Analyse der Problematik der Überhangmandate anhand des Referenzmodells des Wahlsystems von 2008: Die strukturellen Ursachen ihrer Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IV. Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 V. Was aus alledem folgt: Das Unvereinbarkeitstheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
I. Einleitung und einführende Skizzierung der Problematik Wahlsystemreformen sind politisch wohl die mit am schwierigsten umzusetzenden Reformen überhaupt und wirklich substanzielle Reformen, die das System in grundlegenden Aspekten ändern, sind äußerst selten, d.h. üblicherweise nur unter Systemkrisen1 oder einer „extraordinary historical situation“2 zu erwarten. Solange keine solchen schwerwiegenden Erschütterungen auftreten, solange die Verhältnisse also mehr oder weniger „normal“ sind, solange verharrt das Wahlsystem in seinem Status Quo in einer Art von Gleichgewichtszustand, der eine Balance zwischen all den Kräften bewirkt, die einen Reformdruck entstehen lassen könnten.3 Der Status Quo Bias in Form dieses natürlichen Beharrungsvermögens ist so stark, dass er sich ohne einen externen Anstoß, wie ihn in der deutschen Wahlreformdebatte der letzten Katz, A Theory of Parties and Electoral Systems, 1980, 123. Nohlen, Changes and Choices in Electoral Systems, in: Lijphart/Grofman (Hrsg.), Choosing an Electoral System: Issues and Alternatives, 1984, 217. 3 Vgl. Boix, Setting the Rules of the Game: The Choice of Electoral Systems in Advanced Democracies, American Political Science Review 93 (1999), 609 ff.; Benoit, Models of Electoral System Change, Electoral Studies 23 (2004), 363 ff. 1 2
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Jahre vor allem die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 2008 und 2012 darstellten, jeglicher Änderung widersetzt. Die Stärke und Unangreif barkeit des Status Quo beruht nicht zuletzt darauf, dass die Abgeordneten, die momentan im Bundestag vertreten sind, alle aufgrund der Zuteilungsregeln des geltenden Wahlgesetzes dort sind. Es ist psychologisch daher nur allzu nachvollziehbar, dass diese eher zögerlich sind, mit einer Reform des Wahlsystems das Fundament zu untergraben, dem sie ihre Position überhaupt erst verdanken. Natürlich sind nicht alle Abgeordneten durch eine Reform im gleichen Maße bedroht, aber es gibt zumindest genügend, die sich durch eine Reform bedroht fühlen könnten, so dass es zu einer Art von Moratorium einer möglichen Reform aufgrund der Unsicherheit kommen kann. Während die einzelnen Abgeordneten begründete Verlustängste um ihr Mandat bewegen können, beziehen sich die relevanten Ängste der Parteien auf ihre Sitzanteile im Parlament, auf denen ihre Durchsetzungsmacht beruht. Da diese Ängste desto ausgeprägter sind, je mehr man zu verlieren hat, sind gerade die Parteien, die aktuell eine Mehrheit im Bundestag hinter sich haben, tendenziell eher kritisch gegenüber Reformen eingestellt. Dies sind aber genau diejenigen Parteien, auf deren Zustimmung man in erster Linie angewiesen wäre, wenn man das Wahlsystem ändern wollte. Das Wahlergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 weist sicherlich einige besondere und außergewöhnliche Eigenschaften auf, die durchaus ihren Schatten auf den politischen Betrieb werfen, auch wenn es wohl übertrieben wäre, hier gleich von einer Systemkrise zu sprechen. Allerdings wirft das Wahlergebnis bzw. die Zusammensetzung des Bundestags einige Fragen auf, die bestimmte institutionelle Reformen als Antworten durchaus nahelegen. Ob der so entstandene Reformdruck allerdings groß genug ist, den erwähnten Status Quo Bias zu überwinden, muss sich erweisen. Das herausragende inhaltliche, also politische Ereignis der letzten Wahl besteht ohne Zweifel im Einzug der Af D in den deutschen Bundestag. Dies stellt einen gravierenden Einschnitt in das bisher bestehende Parteiensystem dar. Dabei gibt es einen inhaltlichen und einen formalen Aspekt. Der inhaltliche Aspekt besteht darin, dass mit der Af D bestimmte ideologische Positionen nun ihre Vertretung im Parlament finden, die dort bisher nicht zu finden waren. Zu Recht fokussiert sich ein Großteil der öffentlichen Diskussion darauf, welche Konsequenzen es für die Arbeit des Bundestags haben wird, wenn nun eine Partei mitmischt, die im ideologischen Spektrum so eindeutig dem äußeren rechten Bereich zuzuordnen ist. Wie groß dieser Einfluss tatsächlich sein wird, hängt vor allem davon ab, wie souverän die anderen Parteien agieren bzw. als Gestalter aus eigenem Antrieb und nicht nur Getriebene auftreten werden. Der formale Aspekt des neuen Parteiensystems besteht darin, dass der Einzug der Af D, gemeinsam mit dem Wiedereinzug der FDP, der Fragmentierung des Parteiensystems einen deutlichen Vorschub geleistet hat. Bei der Diskussion der Bedeutung des Einzugs der Af D werden häufig insbesondere diese Konsequenzen für die Regierungsbildung hervorgehoben. Allerdings erscheint es eher unplausibel, die Af D als Hauptursache dafür auszumachen, dass es momentan so schwierig ist, eine Regierungskoalition zusammenzustellen und sie für die „neue“ Instabilität des politischen Systems verantwortlich zu machen. Richtig ist, dass der Einzug der Af D nicht nur, aber maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass sowohl die CDU und CSU als auch
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die SPD historisch schlechte Ergebnisse erzielten, insofern die Af D ein Auffangbecken für Stimmen bot, die ansonsten wohl zum großen Teil einer dieser Parteien zugutegekommen wären. Als eher falsch oder doch zumindest unbegründet muss hingegen die Behauptung zurückgewiesen werden, dass es dadurch objektiv zu einer erschwerten Regierungsbildung gekommen sei. Die klassische Option einer schwarz-gelben Koalition existierte ja auch schon 2005 und 2013 nicht und die damals als letzter Ausweg zur Verfügung stehende große Koalition zwischen CDU/ CSU und SPD hat ja immer noch eine Mehrheit, lediglich dass diese „große Koalition“ eben immer weniger eine „große“ im Wortsinn ist. Die einzige eindeutige Folge ist daher eigentlich „nur“, dass die fehlende Mehrheit für eine schwarz-gelbe Koalition nicht mehr automatisch eine Mehrheit für die Alternative einer rot-rotgrünen Koalition nach sich zieht. Denn diese gab es noch 2005 und 2013, als ebenfalls keine Mehrheit für eine schwarz-gelbe Koalition zustande kam. Allerdings war die rot-rot-grüne Option politisch nicht umsetzbar bzw. wurde von den maßgeblichen Akteuren nicht angestrebt. Der Verlust einer Option, die grundsätzlich als nicht zulässig bzw. erwägenswert angesehen wird, kann aber im substanziellen Sinn nicht als Einengung des real verfügbaren Entscheidungsraums angesehen werden.4 In Bezug auf die konkret tatsächlich vorliegenden Optionen für die Bildung einer Regierungskoalition gibt es insofern nichts wesentlich Neues bei dem politischen Ergebnis der Wahl von 2017. Die durch den Einzug der Af D und den Wiedereinzug der FDP deutlich angestiegene Fragmentierung des Parteiensystems hat allerdings noch eine andere Wirkung nach sich gezogen, nämlich die Vergrößerung des Bundestags auf eine Größenordnung, die weit entfernt von dem liegt, was wir gewohnt sind. Mit insgesamt 709 Sitzen besitzt die Bundesrepublik Deutschland nun das weltweit größte Parlament einer demokratisch regierten Nation. Diese immense Vergrößerung des Bundestags hat schon im Vorfeld der Bundestagswahl, als sie sich bereits abzuzeichnen begann, große Beachtung gefunden, wobei sie durchweg als etwas Negatives, als mehr oder weniger schwerwiegender Defekt betrachtet wurde. Nach der Wahl sprach der Alterspräsident Hermann Otto Solms in seiner Eröffnungsrede von einem „aufgeblähten Parlament“, unter dessen Größe „Ansehen und Arbeitsfähigkeit“ leide, was eine schnelle Reform des Wahlrechts erfordere.5 Auch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat sich kurz darauf für die Notwendigkeit einer zügigen Reform ausgesprochen.6 Allerdings dürfte eine solche Reform nicht so leicht zu bewerkstelligen sein, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Ursache der „Auf blähung“ sind die Ausgleichsmandate, die seit dem neuen Wahlgesetz von 2013 für die Kompensation von Über Ob – vor allem aus heutiger Sicht – die SPD strategisch klug beraten war, diese Alternative grundsätzlich vorab auszuschließen und sich damit diese Machtoption zu verbauen, ist eine andere Frage. Entscheidend ist lediglich, dass die SPD selbst diese Option im Sinne einer klassischen Selbstbindung (vgl. Behnke, Entscheidungs- und Spieltheorie, 2013, 101 f., 120 f., 144) aus ihrem Entscheidungsraum entfernt hat. 5 https://www.welt.de/politik/deutschland/article169983673/Groesse-des-Bundestags-gefaehrdetAnsehen-und-Arbeitsfaehigkeit.html, zuletzt abgerufen am 4.12.2018. 6 https://www.zdf.de/nachrichten/heute/auf blaehung-des-parlaments-schaeuble-will-wahlrechtaendern-100.html, zuletzt abgerufen am 4.12.2018. 4
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hangmandaten vorgesehen sind. Der übergroße Bundestag kam zustande, weil Überhangmandate in einer noch nie dagewesenen Größenordnung anfielen. Die Gründe hierfür sind zum überwiegenden Teil in der schon erwähnten neuen Struktur des Parteiensystems zu finden, die die Entstehung von Überhangmandaten auf ganz besondere Weise begünstigt. Denn die Konstellation einerseits aus einer stärksten Partei, die noch nie so schwach war, und andererseits einer zweitstärksten Partei, die noch viel schwächer ist, stellt den idealen Nährboden für die Entstehung von Überhangmandaten dar. Ermöglicht wird diese Konstellation durch das relativ gute Abschneiden relativ vieler kleiner Parteien und insbesondere der Af D. Der große Bundestag ist also eine direkte Folge der Struktur des Parteiensystems. Abhilfe könnte daher auf direkte Weise nur geschaffen werden, indem man an der Ursache ansetzt, also an der Struktur des Parteiensystems selbst. Dies wäre z.B. der Fall, wenn man ein Mehrheitswahlsystem oder Systeme mit einer Mehrheitswahl-Komponente wie das sogenannte Grabenwahlsystem einführen würde. Für einen solch tiefgreifenden Systemwandel sind aber die „historischen Umstände“ wohl nicht „außergewöhnlich“ und die „Systemkrise“ nicht schwerwiegend genug, wenn man letztere denn überhaupt erkennen mag. Jede realistische Überlegung zu Reformen des Wahlsystems sollte daher von einer Erhaltung der Grundzüge der personalisierten Verhältniswahl in der vorliegenden Form ausgehen. Ein Wahlsystem, das zum Zweck der Veränderung der Struktur des Parteiensystems geschaffen würde, stellte einen starken und schwerwiegenden Eingriff dar, der wohl als unverhältnismäßig und unter legitimationstheoretischen Gesichtspunkten in jedem Fall als höchst problematisch anzusehen wäre. Last, not least würden sich für eine solche Reform auch kaum politische Mehrheiten finden. Realistische Reformmodelle sollten also von einer Modifikation des bestehenden Systems ausgehen. Damit sehen wir uns aber mit einem Problem konfrontiert, das dem der Quadratur des Kreises ähnelt, nämlich die Versöhnung von nicht miteinander vereinbaren Bedingungen. Das aktuelle Wahlgesetz ist das Ergebnis eines langwierigen Aushandlungsprozesses. Es stellt daher einen Kompromiss dar, in dem versucht wurde, verschiedene normative Kriterien, die den verschiedenen Parteien als bedeutsam erschienen, unter einen Hut zu bringen. Zu diesen Kriterien zählen vor allem die Erhaltung des bundesweiten Proporzes zwischen den Parteien, die Unantastbarkeit der Direktmandate und die weitgehende Erhaltung von Ländersitzkontingenten. Wenn aber Überhangmandate in großer Zahl anfallen und der Bundestag nicht allzu groß ausfallen soll, dann können nicht all diese normativen Forderungen gleichzeitig erfüllt werden. Wir kommen in diesem Fall nicht umhin, eine Entscheidung zu treffen, auf die Erfüllung welchen Kriteriums wir am ehesten zu verzichten bereit sind. Wir benötigen also eine Wertigkeit dieser Kriterien, anhand derer die Tauglichkeit verschiedener Reformentwürfe insofern diskutiert werden kann, als diese Wertigkeiten uns den Preis zu bestimmen helfen, den wir in Form der Aufgabe von Idealansprüchen bezahlen müssen.
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II. Die Entstehung des übergroßen Bundestags Nach dem neuen Wahlgesetz, das 2013 verabschiedet und in demselben Jahr zum ersten Mal angewandt wurde, wird die Verteilung der Sitze in mehreren Schritten bzw. Stufen vollzogen. Auf der ersten Stufe werden die Sitze proportional zur Bevölkerungszahl auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Als nächstes werden die Sitze dieser Ländersitzkontingente auf die Landeslisten der verschiedenen Parteien verteilt und zwar im Verhältnis zu den Zweitstimmen, die die einzelnen Landeslisten errungen haben. Die proportionale Zuteilung erfolgt in beiden Verfahrensschritten jeweils unter Anwendung der Sainte-Laguë-Formel. An der Sitzverteilung nehmen nur die Parteien mit ihren Zweitstimmen teil, die mehr als 5 Prozent aller abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben.7 Die Bildung der Ländersitzkontingente ist in Tabelle 1 dargestellt. In der vierten Spalte der Tabelle sind die Zweitstimmen und die Sitzzahlen angegeben, die man ermitteln würde, wenn die Sitzverteilung auf die Länder im Verhältnis zu den Zweitstimmen erfolgen würde. Wie man sieht, kommt es hier zu gewissen Abweichungen, so entfallen auf Niedersachsen zwei Sitze weniger, als es dem Anteil an den Zweitstimmen entsprechen würde, die für die Sitzzuteilung herangezogen werden. Gründe für diese Abweichungen sind unter anderem die in den Ländern variierende Wahlbeteiligung und der unterschiedliche Anteil an Stimmen, der für später nicht im Bundestag vertretene Parteien abgegeben wird. Tabelle 1: Verteilung der Sitze aufgrund der Bevölkerungszahl auf die Länder. Land Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Bund
Bevölkerung 9.365.001 11.362.245 2.975.745 2.391.746 568.510 1.525.090 5.281.198 1.548.400 7.278.789 15.707.569 3.661.245 899.748 3.914.671 2.145.671 2.673.803 2.077.901 73.377.332
Sitze (Bev) 76 93 24 20 5 12 43 13 59 128 30 7 32 17 22 17 598
Zweitstimmen 5.724.496 6.841.086 1.736.907 1.396.941 318.015 933.742 3.201.975 882.138 4.480.224 9.475.240 2.269.589 562.430 2.312.693 1.174.448 1.669.995 1.210.040 44.189.959
Sitze (ZW) 77 93 23 19 4 13 43 12 61 128 31 8 31 16 23 16 598
Die Alternativbedingung, die durch die sogenannte Grundmandatsklausel ausgedrückt wird, nach der auch alle Parteien an der Sitzverteilung anhand der Zweitstimmen teilnehmen, die mindestens drei Direktmandate gewonnen haben, kommt in der Regel nicht zur Anwendung. Das letzte Mal wurde sie 1994 in Bezug auf die PDS angewandt. 7
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In Tabelle 2 finden sich die Sitzzahlen, die sich nach der proportionalen Verteilung der Ländersitzkontingente auf die Landeslisten proportional zur Zweitstimmenzahl ergeben, kurz Proporzmandate genannt (PM), und dahinter die dazugehörige Anzahl der Direktmandate (DM), die eine Partei in einem bestimmten Bundesland errungen hat. Fett gedruckte Zahlen zeigen, in welchen Ländern es für welche Partei nach der ersten Verteilungsstufe zu Überhangmandaten kommt, also wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewinnt, also ihr dort nach den Zweitstimmen zustehen würden. Wegen der schon erwähnten Abweichungen bei der Zuweisung der Ländersitzkontingente aufgrund der Orientierung an den Bevölkerungszahlen anstatt an den Zweitstimmen, würden einige dieser „Überhangmandate“ aber womöglich gar nicht existieren, wenn die Anfangsverteilung auf die Länder sich ebenfalls schon an den Zweitstimmen orientiert hätte, andere, die normalerweise existieren würden, werden wiederum womöglich durch die inkonsistente Bestimmung der Ländersitzkontingente aufgrund der Bevölkerungszahlen verdeckt, d.h. „camoufliert“.8 Es ist daher sinnvoller, diese „Überhangmandate“ mit einem spezifischen Begriff zu kennzeichnen, der einerseits ihre konzeptuelle Nähe zu den eigentlichen Überhangmandaten aufzeigt, andererseits sie davon abhebt. Solche „Überhangmandate“ sollen daher hier im Folgenden als „Quasi-Überhangmandate“9 bezeichnet werden. Die SPD erhält 3 solcher Quasi-Überhangmandate, die CDU 36 und die CSU 7, insgesamt entstehen also 46 Quasi-Überhangmandate. Ungeachtet der leichten Unschärfe bei der Bestimmung von Quasi-Überhangmandaten im Vergleich zu „echten“ Überhangmandaten, ist offensichtlich, dass es sich hier bei weitem um die größte Anzahl von Überhangmandaten handelt, die je entstanden ist. Tabelle 2: Die Verteilung der Proporzmandate (PM) und die der Direktmandate. SPD CDU CSU FDP Grüne Linke Af D PM DM PM DM PM DM PM DM PM DM PM DM PM DM Baden-Württemberg 13 0 27 38 0 0 10 0 11 0 5 0 10 0 Bayern 15 0 0 0 39 46 10 0 10 0 6 0 13 0 Berlin 5 3 6 4 0 0 2 0 3 1 5 4 3 0 Brandenburg 4 1 6 9 0 0 1 0 1 0 4 0 4 0 Bremen 1 2 1 0 0 0 0 0 1 0 1 0 1 0 Hamburg 3 5 3 1 0 0 1 0 2 0 2 0 1 0 Hessen 11 5 14 17 0 0 5 0 4 0 4 0 5 0 Mecklenburg-Vorpommern 2 0 4 6 0 0 1 0 1 0 2 0 3 0 Niedersachsen 17 14 21 16 0 0 6 0 5 0 4 0 6 0 Nordrhein-Westfalen 35 26 43 38 0 0 17 0 10 0 10 0 13 0 Rheinland-Pfalz 8 1 11 14 0 0 3 0 2 0 2 0 4 0 Saarland 2 1 2 3 0 0 1 0 0 0 1 0 1 0 Sachsen 4 0 9 12 0 0 3 0 2 0 5 1 9 3 Sachsen-Anhalt 3 0 5 9 0 0 1 0 1 0 3 0 4 0 Schleswig-Holstein 5 1 7 10 0 0 3 0 3 0 2 0 2 0 Thüringen 3 0 5 8 0 0 1 0 1 0 3 0 4 0 Bund 131 59 164 185 39 46 65 0 57 1 59 5 83 3 8 9
Behnke, Das neue Wahlgesetz, sicherlich nicht das letzte, RuP 49 (2013), 1 ff. Behnke, Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2013, ZParl 45 (2014), 17 ff.
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Für das folgende Ausgleichsverfahren werden jetzt für jede Partei und jedes Bundesland die Sitzzahlen berechnet, die der Partei dort zustehen. Diese Zahl kann als eine Art von „vorläufiger“ oder „fiktiver“ Sitzanspruch betrachtet werden, da mit ihrer Hilfe die Anzahl von Sitzen bestimmt werden soll, die jeder Partei bundesweit mindestens zugewiesen werden soll, also der bundesweite Gesamtsitzanspruch. Der landesbezogene Sitzanspruch einer Partei entspricht üblicherweise der Zahl der Proporzmandate, die der jeweiligen Landesliste innerhalb des ersten Schrittes aufgrund der Verteilung der Ländersitzkontingente im Verhältnis zu den Zweitstimmen zusteht. Übersteigt die Anzahl der Direktmandate jedoch die Anzahl der Proporzmandate, kommt es also zu Quasi-Überhangmandaten, dann entspricht der Sitzanspruch der Anzahl der Direktmandate. Der bundesweite Gesamtanspruch einer Partei ist die Summe dieser landesbezogenen Sitzansprüche. Der vollständige Ausgleich der Überhangmandate sieht nun vor, dass die Gesamtzahl der Sitze so lange erhöht wird, bis die (bundesweiten) Gesamtmandatsansprüche aller Parteien durch die Zweitstimmenanteile der Parteien abgedeckt sind. Der Gesamtsitzanspruch der CDU z.B. beträgt 200 Sitze, 164 Proporzmandate zuzüglich der 36 Quasi-Überhangmandate. Die Bundestagsgröße muss also mindestens so lange erhöht werden, bis die CDU bei der proportionalen Verteilung der erhöhten Gesamtmandatszahl aufgrund ihres Zweitstimmenanteils mindestens 200 Sitze erhalten würde. Dies ist dann der Fall, wenn die Bundestagsgröße auf 709 Sitze anwächst. In Tabelle 3 sind die Gesamtmandatsansprüche der Parteien in der dritten Datenzeile und der proportionale Sitzanspruch der Parteien bei einer Hausgröße von 709 Sitzen in der vierten Datenzeile angegeben. Werden insgesamt 709 Sitze proportional verteilt, erhält – wie man sehen kann – in der Tat nicht nur die CDU ihre garantierte Mindestsitzzahl, sondern auch jede der anderen Parteien erhält mindestens so viele Sitze, wie es ihrem bundesweiten Gesamtanspruch entspricht. Tabelle 3: Bundesweite Zweitstimmen, Sitzansprüche nach exakter proportionaler Verteilung der Ausgangsgröße von 598 Sitzen und nach dem aktuellen Wahlgesetz und die entsprechenden Faktoren der Überrepräsentation. SPD CDU CSU FDP Grüne Linke Af D Zweitstimmen bundesweit 9.539.381 12.447.656 2.869.688 4.999.449 4.158.400 4.297.270 5.878.115 Proportionaler Sitzanspruch (N = 598) 129 168 39 68 56 58 80 Gesamtanspruch auf Sitze 134 200 46 65 57 59 83 Proportionaler Sitzanspruch (N = 709) 153 200 46 80 67 69 94 Faktor der Überrepräsentation 1,04 1,19 1,18 0,96 1,02 1,02 1,04
Der Ausgleich orientiert sich immer an der Partei, die aufgrund der während der ersten Sitzzuteilung ermittelten Gesamtsitzansprüche am stärksten überrepräsentiert ist. Dieser Faktor der Überrepräsentation wird bezogen auf die reguläre Größe des Bundestags als Referenzgröße berechnet, d.h. auf die Sitzzahlen, die den Parteien „eigentlich“ zustehen würden, wenn es bei der regulären Bundestagsgröße von 598 Sitzen bliebe. Diese Zahlen sind in der zweiten Datenzeile in Tabelle 3 angegeben. Der Faktor der Überrepräsentation ergibt sich dann als simpler Quotient aus den
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Gesamtsitzansprüchen aufgrund der ersten Verteilung und den entsprechenden Werten in der Referenzverteilung. Da sich der Ausgleich an der CDU orientiert, muss für diese auch das Ausmaß der Überrepräsentation am höchsten ausfallen (bzw. ist dies ja die Ursache dafür, dass sich der Ausgleich eben überhaupt an der CDU orientiert). Tatsächlich ist die CDU nach der ersten Verteilung um ca. 19 Prozent überrepräsentiert. Während sie aufgrund ihres Zweitstimmenanteils nur Anspruch auf 168 Sitze der 598 zu verteilenden Mandate hätte, bekommt sie aber 200. Der „tatsächliche Überhang“ der CDU beträgt also 32 und nicht 36 Mandate. Dies liegt daran, dass die CDU in der Erstverteilung zu wenige Proporzmandate erhält, da sie im Schnitt in den Ländern überdurchschnittlich abschneidet, die bei der Bestimmung der Ländersitzkontingente im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen unterrepräsentiert sind. Außerdem gibt es gewisse Rundungseffekte. Hervorzuheben ist aber zudem, dass die CSU, die 46 Sitze erhält, obwohl ihr nach dem Proporz nur 39 zustehen würden, ebenfalls sehr stark überrepräsentiert ist und zwar – mit einem Faktor der Überrepräsentation von 1,18 – annähernd genauso stark wie die CDU. Das hat zur Folge, dass, wenn die CDU nur wenige Überhangmandate weniger erhalten hätte, sich der Ausgleich nicht an ihr, sondern an der CSU orientiert hätte. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, weil die Überhangmandate der CSU externe Überhangmandate sind, während die der CDU zumindest zum Teil auch interne Überhangmandate darstellen. Normalerweise werden die Überhangmandate erst auf der Ebene der Länder sichtbar, daher werden diese als interne Überhangmandate bezeichnet. Externe Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei auch bundesweit mehr Direktmandate erhält, als ihr dort nach ihren Zweitstimmen zustehen würden. Diese Unterscheidung ist wesentlich, weil für die Kompensation von „nur“ bzw. „strikt“ internen Überhangmandaten Mechanismen zur Verfügung stehen, die man für die Kompensation von externen Überhangmandaten nicht anwenden kann. Will man den Effekt von externen Überhangmandaten neutralisieren, dann geht dies nur über die Ausgleichslogik und wird daher immer entsprechend teuer, wenn externe Überhangmandate in größerer Anzahl anfallen.
III. Eine eingehendere Analyse der Problematik der Überhangmandate anhand des Referenzmodells des Wahlsystems von 2008: Die strukturellen Ursachen ihrer Entstehung Die Problematik der Überhangmandate ist die wesentliche Ursache der Vergrößerung des Bundestags. Ein fundamentales Verständnis dieser Problematik ist daher notwendig, um auf angemessene Weise über potenzielle Lösungen des Problems nachzudenken. Für eine genaue Analyse ist aber das gegenwärtige Wahlsystem nur schlecht geeignet, da es den (unnötigen) Zwischenschritt einer Verteilung der Sitze anhand der Bevölkerungszahlen vornimmt. Da die Endverteilung sich aber wieder ausschließlich an den Zweitstimmen orientiert, führt dies zu gewissen Inkonsistenzen. Für eine präzise Analyse der Überhangsproblematik ist hingegen ein Wahlsystem, das in den Grundzügen dem von 2008 entspricht, ein sehr gut geeignetes Referenzmodell.
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Die Unausweichlichkeit der Reform des Wahlsystems
Nach dem Wahlsystem von 2008 werden die Sitze zuerst bundesweit proportional zu den Zweitstimmen auf die Parteien verteilt (Oberverteilung) und dann die Parteiensitzkontingente auf deren Landeslisten (Unterverteilung). Dabei sind die Direktmandate immer garantiert, so dass es zu Überhangmandaten in einem Bundesland kommen kann. Tabelle 4: Die Verteilung der Proporzmandate (PM) und die der Direktmandate nach dem Wahlgesetz von 2008. SPD PM DM Baden-Württemberg 13 0 Bayern 15 0 Berlin 5 3 Brandenburg 4 1 Bremen 1 2 Hamburg 3 5 Hessen 11 5 Mecklenburg-Vorpommern 2 0 Niedersachsen 17 14 Nordrhein-Westfalen 34 26 Rheinland-Pfalz 8 1 Saarland 2 1 Sachsen 4 0 Sachsen-Anhalt 3 0 Schleswig-Holstein 5 1 Thüringen 2 0 Bund 129 59
CDU CSU FDP Grüne Linke PM DM PM DM PM DM PM DM PM DM 28 38 0 0 11 0 11 0 5 0 0 0 39 46 11 0 10 0 6 0 6 4 0 0 2 0 3 1 5 4 5 9 0 0 1 0 1 0 3 0 1 0 0 0 0 0 0 0 1 0 4 1 0 0 1 0 2 0 2 0 14 17 0 0 5 0 4 0 4 0 4 6 0 0 1 0 1 0 2 0 22 16 0 0 6 0 5 0 4 0 43 38 0 0 18 0 10 0 10 0 11 14 0 0 3 0 2 0 2 0 3 3 0 0 1 0 0 0 1 0 9 12 0 0 3 0 2 0 5 1 5 9 0 0 1 0 1 0 3 0 8 10 0 0 3 0 3 0 2 0 5 8 0 0 1 0 1 0 3 0 168 185 39 46 68 0 56 1 58 5
Af D PM DM 10 0 13 0 3 0 4 0 0 0 1 0 5 0 2 0 6 0 13 0 4 0 1 0 9 3 3 0 2 0 4 0 80 3
Nach dem Wahlsystem von 2008 würden 34 und nicht 36 Überhangmandate für die CDU entstehen. Da sie nach Proporz einen Anspruch auf 168 Sitze hätte und insgesamt 185 Direktmandate gewonnen hat, gibt es also 17 externe Überhangmandate. Es verbleiben also 17 strikt interne Überhangmandate, denen 17 Listenmandate gegenüberstehen, die sich wie in Abbildung 1 zu sehen auf die Bundesländer verteilen.
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1
3
5
Abbildung 1: Listenmandate der CDU bei der Bundestagswahl 2017.
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Neben den 34 Überhangmandaten für die CDU gibt es noch sieben Überhangmandate für die CSU, alle extern, sowie drei Überhangmandate für die SPD, so dass die Gesamtzahl der Überhangmandate 44 beträgt. Der bisherige Höchststand war 24 und trat bei der Wahl von 2009 auf. Die Gesamtzahl der Überhangmandate hat sich also 2017 gegenüber dem bisherigen Rekord von 2009 noch einmal fast verdoppelt. Der Nettovorteil an Überhangmandaten der Union gegenüber der SPD beträgt 38 Mandate. Würden die Mandate nicht kompensiert, wie es ja bis einschließlich der Wahl von 2009 der Fall war, dann hätten die Überhangmandate der Union einem Sitzkontingent von ca. 6 % der Gesamtzahl der Mandate entsprochen, die der SPD einem halben Prozent. Die Union hätte also eine parlamentarische Verstärkung erhalten, die der Unterstützung einer kleinen Fraktion gleichkäme. Um genauso viele Mandate aufgrund von Zweitstimmen zu erhalten, hätte die Union über 3 Millionen zusätzliche Zweitstimmen erhalten müssen. Die Überhangmandate der Union entsprechen so vielen Zweitstimmen, wie insgesamt für alle Parteien in Hessen abgegeben wurden. Unterließe man den Ausgleich und ließe die Überhangmandate unkompensiert einfach stehen, dann entfaltete dies also eine Wirkung, als ob der Union in Form der Überhangmandate ein Äquivalent der Gesamtwählerzahl von Hessen in Form von zusätzlichen virtuellen Wählern zugeschlagen würde. Überdies wäre eine solche hohe Zahl von unausgeglichenen Überhangmandaten nach dem Verfassungsgerichtsurteil von 2012 unzulässig, in dem die Obergrenze für unausgeglichene Überhangmandate auf 15 festgesetzt wurde. Aber selbst nach der wesentlich großzügigeren Auffassung, dass unausgeglichene Überhangmandate erst dann ein Problem darstellten, wenn sie in Fraktionsstärke anfielen,10 wäre die jetzige Größenordnung also ein nicht wegzuleugnendes Problem, d.h. die Nichtbehandlung der Problematik der Überhangmandate, sei es durch Unterlassung des Ausgleichs oder sonstiger Maßnahmen zu ihrer Eindämmung oder der Eindämmung ihrer Auswirkungen, ist eine Option, die schlichtweg gar nicht mehr zur Verfügung steht. Wer glaubt, das Problem der dramatischen Vergrößerung des Bundestags sei in erster Linie eine unvorhergesehene Konsequenz des überschießenden Ausgleichs und könnte dadurch beseitigt werden, dass man den Ausgleich wieder abschafft oder doch zumindest deutlich reduziert, hat nicht verstanden, dass wir es hier mit einem grundlegenden Wandel des Parteiensystems zu tun haben, der sich so wenig wieder rückgängig machen lässt, wie es gelingt, die Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken. Antworten auf das Problem der Überhangmandate müssen diesen grundlegenden Wandel im Blick haben und dürfen nicht der Versuchung erliegen, einzelne Ergebnisse bei Bundestagswahlen als ungewöhnliche und exotische Ausreißer zu betrachten, die daher keiner institutionellen Gegenmaßnahme bedürfen und die man einfach vorübergehen lässt. Der sich abzeichnende Wandel ist systematischer Natur und bedarf dementsprechend einer systematischen Antwort. Um die angemessene institutionelle Antwort zu finden, ist es unerlässlich, die Systematik des Wandels zu begreifen. Aber auch für die normative Beurteilung der Überhangmandate, also inwieweit diese als positives oder negatives Phänomen zu beurteilen sind, ist es essentiell, sich die Ursachen der Entstehung von Überhangmandaten klar zu machen. Denn ob Überhangmandate als reines Übel zu verstehen sind, Vgl. hierzu die Ausführungen in Meyer, Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, 2010, 52 ff.
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oder nicht doch als zumindest hinnehmbares Übel oder gar als wünschenswert, weil Ausdruck von an sich begrüßenswerten Phänomenen, wird davon abhängen, wie sie denn überhaupt entstehen. Denn wenn die Überhangmandate als zwar an sich nicht erwünschte, aber unvermeidbare Folge von sehr wohl erwünschten Effekten aufgefasst werden müssen, dann steht zumindest eine Abwägung verschiedener Werte im Raum. Wenn zumindest manche Überhangmandate überdies sogar das bewusst geschaffene Produkt strategischen Handelns sein können, stellt sich die Frage ganz offensichtlich in besonderem Maße, inwieweit die diesem Handeln zugrundeliegenden Intentionen die Bewertung der Überhangmandate beeinflussen müssen.11 Wie in Abbildung 2 zu sehen ist, hat die Anzahl der Überhangmandate im Lauf der letzten Jahrzehnte deutlich zugenommen. Dies gilt nicht für jede einzelne Wahl, der sich abzeichnende Gesamttrend ist jedoch unverkennbar. Insbesondere ist zu erkennen, dass die großen Zahlen erst nach der Wiedervereinigung auftreten. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die für die Generierung von Überhangmandaten verantwortlich sind, unter anderem spielen die Wahlkreiseinteilung, die Wahlbeteiligung und Stimmensplitting eine Rolle.12 Die wichtigste Rolle aber spielt die Struktur des Parteiensystems. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verändert, wobei – wie schon erwähnt – vor allem die letzte Wahl hier noch einmal eine auffällige Zäsur bildet. Eine wichtige Kennzahl für die Struktur des Parteiensystems ist die sogenannte effektive Parteienzahl.13 Diese berücksichtigt neben der nominalen Anzahl der Parteien auch die Konzentration des Parteiensystems auf einzelne Parteien. Ein Parteiensystem mit zwei großen und einer kleinen Partei, wie wir es in den 60er und 70er-Jahren hatten, ist demnach kein reines Drei-Parteien-System, sondern „nur“ ein Zweieinhalbparteiensystem. Die effektive Parteienzahl ist gleich der nominalen Parteienzahl, wenn alle Parteien gleich groß sind, und weicht desto stärker nach unten von ihr ab, je stärker die Konzentration der Stimmen (oder Sitze) auf die großen Parteien ausfällt. Die effektive Parteienzahl ist daher besonders gut geeignet, die vom Parteiensystem bewirkten Effekte abzubilden – z.B. in Bezug auf die Bildung einer Koalition mit einer Mehrheit an Sitzen –, denn diese hängen weniger von der Anzahl der Parteien an sich ab, sondern vor allem von der Konzentration bzw. Fraktionalisierung (Zersplitterung) des Parteiensystems. In Abbildung 3 ist die Entwicklung der effektiven Parteienzahl in Bezug auf die Verteilung der Zweitstimmen der im Bundestag vertretenen Parteien seit 1949 dargestellt. Um die Effekte besser grafisch sichtbar zu machen, also inwieweit die Variation der Anzahl der Überhangmandate durch die Variation entsprechender Ursachenfaktoren erklärt werden kann, werden im Folgenden alle Variablen normiert, so dass die jeweiligen Variablenwerte vergleichbare Größenordnungen erhalten. Dabei wird auf eine in der Statistik gebräuchliche Form der Standardisierung zurückgegriffen, näm11 Pappi/Herrmann, Überhangmandate ohne negatives Stimmgewicht: Machbarkeit, Wirkungen, Beurteilung, ZParl 41 (2010), 260 ff.; Behnke/Grotz, Das Wahlsystem zwischen normativer Begründung, empirischer Evidenz und politischen Interessen, ZParl 42 (2011), 419 ff. 12 Grotz, Die personalisierte Verhältniswahl unter den Bedingungen des gesamtdeutschen Parteiensystems. Eine Analyse der Entstehungsursachen von Überhangmandaten seit der Wiedervereinigung, Politische Vierteljahresschrift 41 (2000), 707 ff.; Behnke, Ein integrales Modell der Ursachen von Überhangmandaten, Politische Vierteljahresschrift 44 (2003), 41 ff. 13 Behnke/Grotz/Hartmann, Wahlen und Wahlsysteme, 2017, 129 ff.
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Anzahl Überhangmandate
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Jahr
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Jahr
4.0 3.5 3.0 0.5
Effektive Parteienzahl
4.5
Abbildung 2: Entwicklung der Überhangmandate von 1949–2017.
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Abbildung 3: Entwicklung der Effektiven Parteienzahl von 1949–2017.
lich die sogenannte Fisher Z-Transformation. In Abbildung 4a) sind auf diese Weise die Kurve der Überhangmandate und die der effektiven Parteienzahl übereinandergelegt dargestellt. Die durchgehende Linie stellt dabei immer die Anzahl der Überhangmandate dar. Wie man sieht, ergibt sich eine recht gute Passung der beiden Kurven für die letzten Jahrzehnte, allerdings weichen beide Kurven in der Anfangszeit der Republik deutlich voneinander ab. Die effektive Parteienzahl scheint für die gegenwärtigen Verhältnisse also ein durchaus guter Prädiktor der Überhangmandate zu sein, scheidet aber als kausaler Erklärungsfaktor aus, da es sonst nicht zu den gro-
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b) Potenzial
a) Effektive Parteienzahl
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c) Verwirklichungschance evtl. Potenzials
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d) Umsetzung des Potenzials
Abbildung 4: Zusammenhänge zwischen den Überhangmandaten und potenziellen Erklärungsfaktoren. Die Überhangmandate entsprechen immer der durchgehenden Linie.
ßen Abweichungen zu Beginn der Republik kommen dürfte. Ein zersplittertes Parteiensystem wie das von 1949 führt nicht zwangsläufig zu vielen Überhangmandaten, auch wenn für die letzten Jahrzehnte sehr wohl gilt, dass es zu desto mehr Überhangmandaten gekommen ist, je fragmentierter das Parteiensystem war. Das deutet darauf hin, dass eine gewisse Parteienzersplitterung durchaus eine Art von notwendiger Bedingung darstellen könnte, aber für sich alleine genommen keineswegs hinreichend ist. Im vorliegenden Aufsatz konzentriere ich mich auf die strukturellen Ursachen des Entstehens von Überhangmandaten. Diese sind die kausal unmittelbar mit den Überhangmandaten verknüpften Ursachen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um das der Struktur innewohnende Potenzial und die Verwirklichungschance dieses Potenzials. Weiter davorliegende, indirekte Ursachen, wie z.B. psychologische, die das Wahlverhalten beeinflussen, interessieren mich in diesem Kontext nicht, sie sind nur insofern relevant, als sie ihrerseits diese strukturellen Ursachen erst hervorrufen. Das schon erwähnte strategische Wählen z.B. wirkt sich in der Regel dahingehend aus, dass dadurch das bestehende Potenzial für die Entstehung von Überhangmandaten erweitert wird. Aber auch die ganz „normale“ Desertion der großen Parteien durch die Wähler hat denselben Effekt.14 Streng genommen könnte man darüber streiten, ob nicht nur die den strukturellen Ursachen vorgelagerten Ursachen „Ursachen“ im strengen Wortsinn sind, da die strukturellen Ursachen die Überhangmandate eigentlich nicht erzeugen, sondern diese schlicht sind. Die Aufdröselung der strukturellen Ursachen stellt insofern eher eine Übersetzung des Phänomens der Überhangmandate dar, 14
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Überhangmandate fallen üblicherweise nur für die stärkste Partei an (innerhalb eines Bundeslandes). Im Mittel beträgt die Anzahl der Direktmandate 50 % der regulären Mandatszahl, d.h. 50 % der Mandate, die auf ein Bundesland aufgrund der Verteilung der regulären 598 Mandate anhand der Zweitstimmen der Parteienlisten in diesem Bundesland entfallen. Daher kann eine Partei normalerweise überhaupt nur Überhangmandate bekommen, wenn sie aufgrund ihrer Zweitstimmen auf weniger als 50 % der Mandate Anspruch gehabt hätte. Je geringer ihr Zweitstimmenanteil, desto höher theoretisch das Potenzial an Überhangmandaten, das sie erringen könnte. Das Potenzial ist daher nichts anderes als der Abstand des Zweitstimmenanteils der stärksten Partei an den Zweitstimmen aller im Bundestag vertretenen Parteien zu der magischen 50 %-Schwelle.15 Erhält die stärkste Partei z.B. 35 % der verrechneten Zweitstimmen, ist ihr Potenzial dreimal so groß, wie es der Fall gewesen wäre, wenn sie 45 % der Zweitstimmen erhalten hätte. 1949 war insofern ein großes Potenzial vorhanden, als die CDU mit 31 % der Zweitstimmen eine große Lücke zur 50 %-Schwelle aufwies,16 aber offenkundig konnte dieses Potenzial nicht genutzt werden, so dass es zu der geringen Anzahl von zwei Überhangmandaten kam. Damit das Potenzial auch verwirklicht werden kann, müssen möglichst viele Direktmandate gewonnen werden. Beträgt der Anteil der Direktmandate der stärksten Partei 100 %, dann wird das Potenzial vollständig umgesetzt. Allerdings messe ich diese „Verwirklichungschance des Potenzials“ nicht direkt durch den Anteil der durch die stärkste Partei errungenen Direktmandate, denn das würde zu einer tautologischen Erklärung führen, sondern durch eine Eigenschaft des Parteiensystems selbst, nämlich dem Abstand zwischen der stärksten und zweitstärksten Partei. Denn je größer dieser ausfällt, desto höher wird der Anteil der gewonnenen Direktmandate sein.17 Als grobe Faustregel kann man formulieren, dass ein Vorsprung von 10–15 Prozent(punkten) in der Regel dazu führt, dass die stärkste Partei zwischen 90 % und 100 % der Direktmandate erhält.18 1949 konnte die CDU z.B. ihr Potenzial nicht verwirklichen, weil sie nur zwei Prozentpunkte vor der SPD lag. 1953 und 1957 lag die CDU hingegen weit vor der SPD, es gab aber kein Potenzial mehr, da die CDU nur knapp unter (1953) bzw. sogar leicht über (1957) der 50 %-Hürde lag. durch sie werden die strukturellen Merkmale sichtbar gemacht, die mit den Überhangmandaten notwendig verknüpft sind. 15 Erst seit 1965 entspricht die Zahl der Direktmandate exakt der Hälfte der regulären Gesamtzahl, aber seit 1953 ist sie annähernd mit der Hälfte gleichzusetzen. 1949 bildet allerdings eine Ausnahme, der Anteil der Direktmandate betrug damals ungefähr 60 %. Um die Messung einheitlich zu halten, wird dennoch an der Schwelle von 50 % für die Bestimmung des Potenzials festgehalten, in Kauf nehmend, dass es dadurch für 1949 unterschätzt wird. 16 Wegen des in der vorhergehenden Fußnote genannten Grunds war 1949 das Potenzial sogar noch deutlich größer. 17 Theoretisch genügte auch ein Vorsprung von einem Prozent der stärksten gegenüber der zweitstärksten Partei, damit diese alle Direktmandate gewinnen würde, wenn alle Wahlkreise ganz und gar homogen wären. Da die Verteilung der Stimmenergebnisse in den Wahlkreisen jedoch variiert, nimmt der Anteil der Direktmandate im Land kontinuierlich zu, wenn sich der Abstand vergrößert. 18 Behnke, „Normale Überhangmandate“ und der Kontext ihrer Entstehung, 2002, unter https:// www.researchgate.net/publication/242458353_Normale_Uberhangmandate_und_der_Kontext_ ihrer_Enstehung, zuletzt abgerufen am 1.5.2018; vgl. auch Manow, The cube rule in a mixed electoral system: Disproportionality in German Bundestag Elections, West European Politics 34 (2011), 773 ff.
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Damit es also tatsächlich zu Überhangmandaten in größerer Zahl kommt, müssen beide strukturellen Ursachen gemeinsam vorliegen. Das gemeinsame Vorliegen der beiden Ursachen ist notwendig und dann aber zugleich auch hinreichend für die Entstehung von Überhangmandaten. Zum einen muss es zu einem erheblichen Potenzial kommen, d.h. die stärkste Partei liegt deutlich unter der 50 %-Schwelle, zum anderen muss dieses Potenzial in einem bedeutenden Ausmaß verwirklicht werden, d.h. die stärkste Partei muss deutlich vor der zweitstärksten Partei liegen. Diese beiden Bedingungen waren 2009 und 2017 in geradezu idealtypischer Weise erfüllt. In beiden Fällen hatte die CDU ein sehr schlechtes Zweitstimmenergebnis, 33,8 % bzw. 32,9 %, lag aber dennoch noch immer weit vor der SPD, die 2009 nur 23,0 % und 2017 sogar nur noch 20,5 % der Zweitstimmen erhielt. Während der deutliche Vorsprung der CDU vor der SPD wohl nicht unbedingt systematischer Natur ist, sondern vor allem dem beachtlichen Kandidatenbonus zu Gunsten von Merkel und einer insgesamt besseren Bewertung der CDU als der SPD zu verdanken ist, muss das kontinuierliche Abschmelzen der großen Parteien, der sogenannten „Volksparteien“, durchaus als ein Prozess betrachtet werden, der sich – wenn zwar auch mit Schwankungen – kontinuierlich in eine Richtung bewegt. Obwohl sehr positiv wirkende Kandidaten und programmatische Effekte einer Partei in Einzelfällen immer noch sehr gute Ergebnisse bescheren mögen, wie z.B. der CDU bei der Bundestagswahl 2013, so sind diese doch eher als Ausreißer innerhalb eines sich insgesamt abwärts bewegenden Trends zu betrachten.19 Diese gelegentlichen immer noch hervorragenden Ergebnisse einer Partei verdanken sich nicht mehr den langfristig stabilen Milieuverankerungen, die zur Identifikation mit einer bestimmten, diesem Milieu zuzurechnenden Partei führen, sondern sind situativ als spontane Reaktionen auf aktuelle Kontextbedingungen zu erklären. Die Volksparteien können zwar immer noch auf solche herausragenden Ergebnisse unter für sie günstigen Umständen hoffen, sie können aber nicht mehr mit ihnen rechnen. Der feste Sockel, der ihre Rückfallversicherung für ungünstige Umstände darstellt, fällt immer kleiner aus, die Ergebnisse sind aufgrund von volatiler gewordenen Wählern immer instabiler. Das sich unter solchen Umständen herausbildende Parteiensystem ist daher in Hinsicht auf die Entstehung einer großen Anzahl von Überhangmandaten extrem anfällig. Werden diese durch Ausgleichsmandate kompensiert, ist die Parlamentsgröße entsprechend verwundbar. Nicht nur nimmt die Häufigkeit zu, mit der die Regelgröße nicht eingehalten werden kann, sondern auch das Ausmaß der Abweichung von der Regelgröße steigt weiter an. Mit dem Begriff der „Verwundbarkeit“ möchte ich ausdrücken, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zwangsläufig zu einer dramatischen Vergrößerung des Parlaments kommen muss (siehe 2013), dass es aber schlagartig dazu kommt, wenn die Umstände ausreichend ungünstig sind.
Lösche, Ende der Volksparteien, APUZ 38 (2009), 6 ff.
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IV. Lösungsvorschläge Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, inwieweit die extreme Vergrößerung des Bundestags ein Problem darstellt, das unbedingt behoben werden muss, sondern ich setze gewissermaßen als Konsens voraus, dass hier Abhilfe geschaffen werden muss. Allerdings sollen einige der üblichen Kritikpunkte zumindest kurz erwähnt werden. Zuallererst ist zu konstatieren, dass es hier eine Prima Facie-Validität zu geben scheint, dass diese Größe unangemessen ist. Die Unangemessenheit scheint so augenscheinlich, dass sie gar nicht weiter begründet werden muss, Wortbildungen wie die schon erwähnte von Solms von einem „aufgeblähten Parlament“ geben dies anschaulich wieder. Doch natürlich gibt es auch gute und schwerwiegende Gründe, diesem Missstand Abhilfe zu schaffen. So wird häufig von einer Reduktion der Arbeitsqualität des Bundestags ausgegangen. Darauf wies Solms in seiner Eröffnungsrede 2017 hin, aber auch schon Lammert – anlässlich eines eigenen Reformvorstoßes 2016 – in seiner Begründung, warum eine Deckelung der Bundestagsgröße sinnvoll sei.20 Ebenfalls kam ein Bericht des Ältestenrats auch schon 1995, ausgehend von einer Parlamentsgröße von 672 Sitzen, die sich bei der Wahl 1994 ergeben hatte, zu der Schlussfolgerung „daß mit einer Verringerung der Abgeordnetenzahl ein wichtiger Beitrag zu der […] Verbesserung der Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Parlamentsarbeit geleistet werde.“21 Dabei wies die Kommission ausdrücklich darauf hin, dass sie dies nicht unter dem Kostenaspekt betrachte, sondern unter dem der Effizienz der Arbeitsabläufe. Aber das Kostenargument ist keineswegs unangebracht, ein Bundestag, der größer ist als notwendig zur Erfüllung seiner wesentlichen Aufgabe, ist damit auch immer ein Bundestag, der teurer ist als notwendig. Die vielfältigen Pressemitteilungen zur Rekordgröße von über 700 Sitzen bei der Bundestagswahl 2017 belegen eindeutig das negative Echo, das diese Vergrößerung in der Öffentlichkeit und auch in der Bevölkerung hervorruft. Insofern trägt sie zur weiteren Verbreitung von Politikverdrossenheit bei. Nicht außer Acht gelassen werden sollte zudem die Gefahr, dass der sehr große Bundestag die Vertrauenswürdigkeit des Wahlsystems an sich untergräbt. Denn die Vergrößerung wird als absurder Effekte desselben empfunden und erweckt somit den Anschein, das Wahlsystem sei dysfunktional. Eine wahrgenommene Dysfunktionalität des Wahlsystems könnte aber im schlimmsten Fall als ungewollte und nicht vorhergesehene Konsequenz die legitimationsschaffende Kraft der Wahl selbst in Frage stellen und so womöglich gar die Legitimität der durch das Wahlsystem hervorgebrachten Ergebnisse unterminieren. Es gibt also in jedem Fall viele gute Gründe, warum die extreme Vergrößerung des Bundestags als ein Übel angesehen werden muss, das beseitigt werden sollte. Es gibt viele Vorschläge, die dies grundsätzlich bewerkstelligen könnten, von denen manche einen radikalen Systemwechsel bedeuten würden, während andere am bestehenden System in den Grundzügen festhalten, aber an diesem diverse Modifikationen vornehmen würden. Die radikalen Lösungen bestehen im Wesentlichen aus der 20 https://www.welt.de/politik/deutschland/article154328819/Wie-Lammert-den-Mega-Bundes tag-verhindern-will.html, zuletzt abgerufen am 4.12.2018. 21 BT-Drucksache 13/1803, 8.
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Mehrheitswahl, dem Grabenwahlsystem oder einer reinen Listenwahl. Allen dreien gemeinsam ist, dass es zu keiner Verrechnung der Direktmandate mit den Listenmandaten kommt, so dass auch keine Überhangmandate entstehen würden und demnach auch keine Ausgleichsmandate benötigt würden. Während die reine Listenwahl die Verhältnisse zwischen den Parteien beibehalten würde, käme es zu einer dramatischen Verschiebung derselben im Falle der Mehrheitswahl oder des Grabenwahlsystems. Wie in Tabelle 2 zu sehen ist, haben CDU und CSU zusammen 231 der 299 Direktmandate errungen. Bei einem reinen Mehrheitswahlsystem hätte die Union also 77 % der Sitze erhalten. Bei einem Grabenwahlsystem, bei dem die Hälfte der Mandate aus den Direktmandaten und die andere Hälfte aus Listenmandaten bestehen würde, hätte die Union ebenfalls die 231 Direktmandate und zusätzlich einen Anspruch auf 103 oder 104 der 299 proportional verteilten Sitze, also insgesamt 334 oder 335 von 598 Sitzen, was einer Mehrheit von ca. 56 % der Sitze entsprechen würde. Sowohl das Mehrheitswahlsystem als auch das der Grabenwahl hätten also zu einer absoluten Mehrheit der CDU/CSU geführt, die dementsprechend eine Einparteiregierung hätte bilden können.22 Jede Wahlrechtsreform aber müsste durch das bestehende Parlament verabschiedet werden. Eine Reform, durch die sich alle Parteien außer den Unionsparteien drastisch verkleinern und damit selbstentmachten würden, ist aber mit Sicherheit politisch nicht durchsetzungsfähig. Auch die SPD, die unter den Bedingungen der 60er Jahre noch mit dieser Option gespielt haben mag,23 würde unter den derzeitigen Hintergrundbedingungen einer solchen Reform wohl kaum ihre Zustimmung geben. Aber der Wechsel von der Verhältniswahl zur Mehrheitswahl ist nicht nur unrealistisch, er wäre auch normativ nicht zu vermitteln.24 Grundsätzlich als realistischer einzustufen wäre hingegen die Einführung einer reinen Listenwahl, da die relativen Stärkeverhältnisse zwischen den Parteien erst einmal gewahrt blieben. Die Abschaffung der direkt wählbaren Wahlkreismandate allerdings würde einen tiefgreifenden Einschnitt in die bestehenden Traditionen bedeuten und ist daher zumindest als unwahrscheinlich einzustufen. Wie schon in der Einleitung erwähnt, treten weitreichende und systemverändernde Reformen in der Regel auf, wenn es eine echte substanzielle Krise gibt, die einen entsprechenden Reformdruck erzeugt. Davon dürfte aber derzeit trotz des anfänglichen negativen Medienechos keine Rede sein. Bei den Abgeordneten selbst kann man ja eher eine geradezu erstaunliche Gelassenheit und überraschend schnelle Gewöhnung an den großen Bundestag beobachten. Die naheliegenden und demnach auch diejenigen Optionen, die sich mit der immer noch größten Wahrscheinlichkeit verwirklichen lassen dürften, sind also solche, die das System der personalisierten Verhältniswahl in den Grundzügen bestehen lassen und an diesem nur „minimalinvasive“ Eingriffe vornehmen, wobei es hier immer noch Meinungsunterschiede geben mag, was denn 22 Auch wenn es sich dabei streng genommen um zwei Parteien handeln würde, die die Regierung bilden würden, wäre eine solche Regierung nach den strukturellen Eigenschaften als Einparteiregierung zu betrachten. 23 Vgl. Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, 1985. 24 Vgl. allgemein zu mehrheitsschaffenden Mechanismen von Wahlsystemen Behnke, Gegen einen wahlsystematischen Paternalismus: Replik auf Volker Bests „Komplexe Koalitionen, perplexe Wähler, perforierte Parteiprofile in Heft 1 der ZParl 2015“, ZParl 46 (2015), 426 ff.
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genau in diesem Sinne ein minimaler Eingriff sei. Wolfgang Schäuble hat ebenfalls in einem Interview für die Süddeutsche Zeitung im Mai 2018 darauf hingewiesen, dass die personalisierte Verhältniswahl und das Proporzprinzip Eigenschaften des Wahlsystems seien, die bei jeder Reform aufrechtzuerhalten seien.25 Alle bisher ernsthaft diskutierten Reformvorschläge, die im Wesentlichen in der Debatte von 2011 formuliert und propagiert worden sind und die weiterhin die wesentlichen Referenzgrößen bilden, halten an der Grundlogik der personalisierten Verhältniswahl fest, sie unterscheiden sich lediglich in ihrer relativen Gewichtung verschiedener Ziele, die mit dem Wahlsystem erreicht werden sollen. Dabei kann man von einem allgemeinen Konsens ausgehen, dass zwei Ziele als selbstverständlich einzuhaltende Rahmenbedingungen gesehen werden, nämlich die Verständlichkeit des Wahlsystems und seine Akzeptanzfähigkeit, auf der die legitimationsschaffende Kraft des Wahlsystems letztlich beruht. Da hinsichtlich dieser beiden Ziele allgemeiner Konsens besteht, können sie nicht zur Differenzierung der Systeme herangezogen werden. Als zur Differenzierung geeignete Ziele können folgende ausgemacht werden: – Einhaltung der Sollgröße; – Unantastbarkeit des Gewinnanspruchs der Wahlkreisgewinner, d.h. Unantastbarkeit der Direktmandate; – Unantastbarkeit der Landeslisten, d.h. die Sitze, die einer Landesliste im Zuge der proportionalen Sitzzuteilung im Verhältnis zu den Zweitstimmen zustehen, verbleiben ihr und können nicht weggenommen werden; – Aufrechterhaltung des Interparteienproporzes, also der Proportionalität zwischen Zweitstimmen und Sitzzahlen der Parteien. Für jeden Reformvorschlag, der sich am Grundmuster der personalisierten Verhältniswahl orientiert, lässt sich eine Hierarchie über diese Ziele bzw. Kriterien definieren, d.h. es ist diese Hierarchie, die letztlich die Essenz des jeweiligen Reformvorschlags charakterisiert. Aufgrund dieser Hierarchien lässt sich demnach eine Taxonomie der Reformvorschläge aufstellen, die in Tabelle 5 abgebildet ist. Dabei genügt es, auf drei Hierarchieebenen zurückzugreifen. Die Ebene des „ersten Opfers“ benennt das Ziel bzw. die Bedingung, deren Einhaltung der betreffende Reformvorschlag als erstes aufzugeben bereit ist, d.h. das aus Sicht dieses Reformvorschlags unwichtigste Ziel. Die unverzichtbaren Ziele bzw. Kriterien sind hingegen diejenigen, denen die höchste Wichtigkeit zugestanden wird, sogar in dem absoluten Sinn, dass sie in keiner Weise eingeschränkt werden dürfen. Auf der Zwischenstufe befinden sich demnach die Ziele, für deren Einhaltung einerseits die „ersten Opfer“ gebracht werden, die ihrerseits aber wiederum für die Einhaltung der ultimativen unverzichtbaren Ziele geopfert werden können.
25 http://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagspraesident-schaeuble-will-das-parlament-ver kleinern-1.3976649, zuletzt abgerufen am 4.12.2018.
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Tabelle 5: Die relative Bedeutung normativer Kriterien verschiedener Reformvorschläge. Reformvorschlag
Erstes Opfer
Zwischenstufe
Wichtigste Kriterien, unverzichtbar Unantastbare DM
Grünenentwurf 2009
Unantastbare LM
Interparteienproporz, Sollgröße
Grünenentwurf 2011
Unantastbare LM
Unantastbare DM
SPD-Ausgleichsmodell
Sollgröße
Linkenentwurf
Unantastbare LM
Peifer et al.
Sollgröße, Unantastbare LM
Unantastbare DM, Interparteienproporz
Flexibler Ausgleich
Sollgröße, Unantastbare LM
Unantastbare DM, Interparteienproporz
Lammert-Vorschlag Lesart 1
Sollgröße
Interparteienproporz
Unantastbare DM und LM
Lammert-Vorschlag Lesart 2
Sollgröße
Unantastbare LM, Interparteienproporz
Unantastbare DM
Interparteienproporz, Sollgröße Unantastbare DM und LM, Interparteienproporz
Sollgröße
Unantastbare DM, Interparteienproporz
DM = Direktmandate, LM = Listenmandate
Eine einfache Einteilung in zwei Gruppen kann z.B. anhand der Eigenschaft vorgenommen werden, ob der Interparteienproporz eingehalten werden soll oder ob er zumindest in einem gewissen Ausmaß geopfert werden darf. Der Interparteienproporz befindet sich niemals auf der Ebene des „ersten Opfers“, d.h. alle Wahlsysteme verzichten zumindest auf eine andere, an sich wünschenswerte Eigenschaft, um den Interparteienproporz zu erhalten, sie unterscheiden sich aber darin, ob sie diese Haltung mit letzter Konsequenz verfolgen oder durchaus zu gewissen Abstrichen vom reinen Ideal bereit sind. Fast alle Vorschläge halten an der Aufrechterhaltung der Proportionalität, die ja mit dem Wahlgesetz von 2013 erstmals umgesetzt wurde, fest, lediglich der Lammert-Vorschlag und das Modell der Grünen von 2009 weichen davon ab. Die Einhaltung der Sollgröße von 598 Sitzen wird nur vom Grünenvorschlag von 2011 strikt eingehalten, ansonsten wird sie auf der ersten oder der zweiten Stufe geopfert. Die oben beschriebene Taxonomie der verschiedenen Reformentwürfe orientiert sich an normativen Kriterien, d.h. welche Ziele geopfert werden dürfen und welche auf jeden Fall verwirklicht werden müssen. In der technischen Umsetzung der Verfolgung dieser Ziele unterscheiden sich die verschiedenen Entwürfe in erster Linie dadurch, wie sie mit den internen und externen Überhangmandaten umgehen. In Tabelle 6 erfolgt daher die Differenzierung der Reformvorschläge anhand dieser technischen Elemente.
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Tabelle 6: Lösungen verschiedener Reformvorschläge für den Umgang mit strikt internen und externen Überhangmandaten. Reformvorschlag Grünenentwurf 2009
Strikt interne Überhangmandate Kompensation mit Landeslistenmandaten
Grünenentwurf 2011 Kompensation mit Landeslistenmandaten SPD-Ausgleichsmodell Bleiben unangetastet und werden ausgeglichen Linkenentwurf Kompensation mit Landeslistenmandaten Peifer et al.
Flexibler Ausgleich.
Lammert-Vorschlag Lesart 1
Lammert-Vorschlag Lesart 2
Externe Überhangmandate Bleiben unangetastet ohne Ausgleich Nichtvergabe von Direktmandaten Bleiben unangetastet und werden ausgeglichen Bleiben unangetastet und werden ausgeglichen Bleiben unangetastet und werden ausgeglichen
Schaffung eines hinreichenden Puffers von Listenmandaten, danach Kompensation der internen Überhangmandate mit Landeslistenmandaten Kompensation mit Landeslistenmandaten, Bleiben unangetastet und werden solange die Opfer bei den Landeslisten nicht ausgeglichen eine unzumutbare Größenordnung erzielen, ansonsten werden sie ausgeglichen Bleiben unangetastet ohne Bleiben grundsätzlich unangetastet, d.h. Ausgleich Ausgleich findet nur dann statt, wenn es insgesamt weniger als 32 Überhangmandate gibt Bleiben unangetastet und werden Bleiben unangetastet ohne Ausgleich ausgeglichen bis zu einer Parlamentsgröße von 630 Sitzen, dann immer noch bestehende interne Überhangmandate werden kompensiert durch den Abzug von Landeslistenmandaten
Bevor ich nun auf die Diskussion der einzelnen Reformvorschläge selbst eingehen möchte, sollen in Tabelle 7 die Ergebnisse aufgezeigt werden, die sich nach dem jeweiligen Modell aufgrund der Stimmenverteilung bei der letzten Bundestagswahl 2017 ergeben hätten. Eine solche schlichte Übersetzung der Stimmen in die Sitzverteilung, wie sie sich unter Anwendung des jeweiligen Systems ergeben hätte, ist unter wissenschaftstheoretischen Gründen natürlich nicht unproblematisch, weil die Stimmenverteilung womöglich nicht unabhängig von der Form des Wahlsystems ist. Unter einem anderen Wahlsystem hätten die Bürger ihre Stimmen vielleicht anders abgegeben. Insofern soll keineswegs behauptet werden, die untenstehende Tabelle gäbe an, welches Ergebnis tatsächlich zustande gekommen wäre, wenn das entsprechende Wahlsystem 2017 angewandt worden wäre. Aber die Unterschiede zeigen dennoch recht zuverlässig die Tendenz an, in welche Richtung sich die Ergebnisse – ausgehend vom Status Quo – wohl verändern würden, wenn man ein anderes System gewählt hätte.
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Tabelle 7: Wichtige „Ergebnisse“ der verschiedenen Reformvorschläge unter Annahme einer Stimmenverteilung wie der bei der Bundestagswahl 2017. Reformvorschlag
Status Quo Grünenentwurf 2009 Grünenentwurf 2011 SPD-Ausgleichsmodell Linkenentwurf Peifer et al. Flexibler Ausgleich. Lammert-Vorschlag: Lesart 1 Lammert-Vorschlag: Lesart 2
Gesamtsitzzahl
Unausgeglichene ÜM
709 622 598 715 700 723 688 642 642
0 24 0 0 0 0 0 44 12
Verbleibender Sitzvorteil zu Gunsten der Union 0 24 0 0 0 0 0 38 12
Ein guter Ausgangspunkt für die Diskussion sind die Kompensationsmodelle in der Tradition der Grünenentwürfe von 200926 bzw. 2011.27 Dabei werden interne Überhangmandate dadurch kompensiert, dass der betroffenen Partei Listenmandate in anderen Bundesländern abgezogen werden. Sollte die Anzahl aller Überhangmandate einer Partei ihre Anzahl an Listenmandaten übertreffen, wenn also externe Überhangmandate dieser Partei entstehen, dann heißt das nichts anderes, als dass sämtliche noch vorhandenen Listenmandate zur Kompensation von Überhangmandaten aufgebraucht werden. Diese sind schon in Abbildung 1 aufgeführt worden. Insgesamt gibt es nur 17 Listenmandate für die CDU: 2 in Berlin, 1 in Bremen, 3 in Hamburg, 6 in Niedersachsen und 5 in Nordrhein-Westfalen. Bei der Kompensation würde die CDU in Niedersachsen 6 von ihren 22 Mandaten wieder verlieren, auf die sie aufgrund ihrer Zweitstimmen eigentlich Anspruch hätte, also mehr als ein Viertel, in Hamburg müsste die CDU sogar drei von vier Mandaten abgeben (vgl. Tabelle 8). Kompensationsmodelle können also zu einer starken Verzerrung des Proporzes innerhalb der Parteien führen, genau genommen verstärken sie noch einmal die innerparteiliche Disproportionalität, die durch die Überhangmandate alleine schon entstehen würde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden vor allem große Bundesländer wie Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen regelmäßig die Überhangmandate in anderen Bundesländern mit ihren Listenmandaten „bezahlen“, da in ihnen meist keine Überhangmandate anfallen. Da die entsprechenden Landesverbände natürlich starke Akteure innerhalb der CDU darstellen, ist die politische Durchsetzbarkeit dieser Vorschläge eher gering, zumindest solange die Verluste sehr hoch ausfallen könnten.
BT-Drucksache 16/11885. BT-Drucksache 17/4694.
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Tabelle 8: Verteilung der abgegebenen Landeslistenmandate der CDU zur Kompensation interner Überhangmandate. Reformvorschlag Gesamtmandatsanspruch nach Proporz Grünenentwurf 2009 Grünenentwurf 2011 SPD-Ausgleichsmodell Linkenentwurf Peifer et al. Flexibler Ausgleich. Lammert-Vorschlag: Lesart 1 Lammert-Vorschlag: Lesart 2
BE 6 2 2 0 1 0 1 0 2
HB 1 1 1 0 0 0 0 0 1
HH 4 3 3 0 1 0 1 0 3
NI 22 6 6 0 1 0 2 0 6
NRW 43 5 5 0 2 0 4 0 5
Eine Lösung dieses Problems wurde in dem Reformvorschlag von Peifer et al. vorgeschlagen.28 Grob gesagt wird in diesem Modell durch einen Aufschlag von 10 % auf die Direktmandate eine Art von „Puffer“ aus Listenmandaten geschaffen, so dass die Anzahl der Listenmandate so hoch ausfällt, dass es durch die Kompensation zu keinen allzu starken Verzerrungen des parteiinternen Proporzes mehr kommen kann. Allerdings kann es durch den etwas ins Blaue hinein festgelegten Puffer passieren, dass das System über sein Ziel hinausschießt. 2017 hätte dieses Modell zu einer Bundestagsgröße von 723 Sitzen geführt (Tabelle 7), also sogar zu mehr Sitzen als das klassische Ausgleichsmodell der SPD, das ja sämtliche Überhangmandate, sowohl die internen als auch die externen, ausgleicht.29 Mit dem SPD-Modell wäre der Bundestag auf 715 Sitze angewachsen. Die mit dem Peifer et al.-Modell verfolgte Absicht, den Ausgleich billiger zu machen als im SPD-Modell, ohne zugleich zu inakzeptablen Verlusten bei einzelnen Landeslisten zu führen, hätte sich also 2017 in ihr Gegenteil verkehrt. Auf diese Problematik der mangelnden Steuerung des Ausgleichs bzw. seiner unzulässigen Orientierung am tatsächlich bestehenden Bedarf reagiert das Modell des flexiblen und kriterienbasierten Ausgleichs.30 Dabei handelt es sich eher um einen Ansatz bzw. eine Modellklasse. Auch dieses Modell sieht eine Kompensation von Überhangmandaten mit Listenmandaten vor. Allerdings wird vorab definiert, wie groß maximal das „zumutbare Opfer“ für die Landeslisten ausfallen darf. Definiert man dieses z.B. folgendermaßen, dass jeder Landesliste zumindest das Opfer eines Mandats zugemutet werden kann, aber ein Opfer von mehr als einem Mandat nur dann, wenn das Gesamtopfer nicht mehr als 10 % des ursprünglichen Sitzanspruchs beträgt, dann kommt man auf eine Gesamtsitzgröße von 688 Sitzen. Hamburg müsste dann nur noch einen Sitz abgeben und Niedersachen nur noch 2 Sitze und auch die Abgabe von Nordrhein-Westfalen sinkt von 5 Sitzen auf 4 Sitze (vgl. Tabelle 8). Als Quintessenz in Bezug auf Kompensationsmodelle lässt sich festhalten, dass diese entweder zu einer starken Verzerrung des Intraparteienproporzes führen und 28 Peifer/Lübbert/Oelbermann/Pukelsheim, Direktmandatsorientierte Proporzanpassung: Eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne negative Stimmgewichte, DVBL 127 (2012), 725 ff. 29 BT-Drucksache 17/5895. 30 Behnke/Weinmann, Flexibler und Zielgerichteter Ausgleich – Eine am innerparteilichen Proporz orientierte Alternative zum geltenden Bundestagswahlrecht, ZParl 47 (2016), 369 ff.
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für einzelne Landeslisten zu Opfern einer wohl nur schwer vermittelbaren Größenordnung oder – falls sich die Opfer im zumutbaren Rahmen halten sollen – zu einer Vergrößerung des Parlaments, die weit über der Obergrenze liegt, die z.B. Lammert für maximal vertretbar gehalten hat. Die Rigorosität, mit der der Lammert-Vorschlag die Obergrenze von 630 Sitzen einzuhalten versucht, muss als überschießend und der Vorschlag selbst als gescheitert betrachtet werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es zwei verschiedene Lesarten des Lammert-Vorschlags gibt. Nach der ersten Lesart behielten die Parteien die Überhangmandate und es käme für die anderen Parteien nur zu einem Ausgleich, bis insgesamt die Obergrenze von 630 Sitzen erreicht wäre. Da es 2017 aber insgesamt zu 44 Überhangmandaten gekommen ist, hätte der Ausgleich überhaupt nicht stattgefunden, da die Obergrenze ja schon durch die Überhangmandate alleine überschritten worden wäre. Damit aber wäre es bei 44 unausgeglichenen Überhang mandaten geblieben, was verfassungswidrig gewesen wäre, da nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 201231 nur noch maximal 15 unausgeglichene Überhangmandate hätten verbleiben dürfen. Die zweite Lesart würde eine Vergrößerung bis 630 Sitzen vorsehen, dann käme es zur Anwendung eines Kompensationsmodells à la Grünenmodell. Dies hätte allerdings zur Folge, dass auch hier alle 17 Listenmandate zur Kompensation der internen Überhangmandate herangezogen würden. Es verblieben dann immer noch 12 externe Überhangmandate, die im Lammert-Modell nicht ausgeglichen würden. Diese letzte Eigenschaft hat das Lammert-Modell mit dem Grünen-Entwurf von 2009 gemeinsam, der ebenfalls vorsah, externe Überhangmandate nicht auszugleichen, wobei die Grünen offensichtlich davon ausgingen, dass es sich dabei im Wesentlichen um die Überhangmandate der CSU handeln würde, die aus ihrer Sicht wohl eine vernachlässigbare Größe darstellten. Wie das Wahlergebnis von 2017 zeigt, erreichen inzwischen aber auch die externen Überhangmandate Größenordnungen, die jederzeit das Potenzial entwickeln können, Mehrheitsverhältnisse zu verändern. Es ist daher durchaus sinnvoll und im Sinne der Aufrechterhaltung des Proporzes zwischen den Parteien notwendig, die externen Überhangmandate auszugleichen. Diesen Weg versuchte der Linkenentwurf zu gehen, der als Hybrid zwischen dem Grünenmodell und dem Vorschlag der SPD angesehen werden darf.32 Er sah die Kompensation interner Überhangmandate und den Ausgleich externer Überhangmandate vor. 2017 hätte dies aber ebenfalls zu einem sehr großen Bundestag mit 700 Sitzen geführt, da sich der Ausgleich an der CSU orientiert hätte bzw. deren 7 externen Überhangmandaten. Da externe Überhangmandate ihrer Natur gemäß nicht durch die Abgabe von Landeslistenmandaten kompensiert werden können, bleiben hier nur drei Möglichkeiten, wie man damit umgeht. Entweder man lässt sie unausgeglichen stehen (Grünenentwurf 2009, Lammert-Vorschlag) oder man gleich sie aus (SPD- und Linkenmodell, Peifer et al., flexibler Ausgleich) oder – so der radikale Vorschlag der Grünen 2011 – man vergibt entsprechend weniger Direktmandate. Da die CSU 2017 alle 46 Direktmandate gewonnen hat, aber entsprechend ihren Zweitstimmen nur Anspruch BVerfG, 2 BvF 3/11 vom 25.7.2012, Absatz-Nr. 1 ff. BT-Drucksache 17/5896.
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auf 39 Sitze hatte, hätte sie demnach nur 39 ihrer Direktmandate besetzen können, da nur so viele mit einem entsprechenden Preis in Zweitstimmen abgedeckt bzw. „bezahlt“ worden waren. Dies ist der einzige Vorschlag, der die Sollgröße von 598 Sitzen in jedem Fall einhalten würde und dabei den Proporz zwischen den Parteien voll und ganz beibehalten würde.33 Da damit die Unantastbarkeit der Direktmandate sowieso schon zur Disposition gestellt wird, könnte man den Vorschlag sogar noch weiter radikalisieren, um auch das Problem der Verzerrung des parteiinternen Proporzes zu beheben, das bei der Kompensation der internen Überhangmandate entsteht. Die Radikalisierung besteht darin, grundsätzlich alle Überhangmandate, also auch die internen, durch die Nichtvergabe von Direktmandaten zu neutralisieren. Damit würde die Sollgröße eingehalten und der Proporz zwischen den Parteien und innerhalb der Parteien. Die Landeskontingente blieben in vollem Umfang erhalten, „lediglich“ die Unantastbarkeit der Direktmandate müsste geopfert werden.
V. Was aus alledem folgt: Das Unvereinbarkeitstheorem Alle diskutierten Lösungsvorschläge opfern an einer Stelle mindestens eines der vier formulierten Ziele bzw. der vier normativen Kriterien der Aufrechterhaltung des Interparteienproporzes, der Unantastbarkeit der Direktmandate, der Unantastbarkeit der Listenmandate und der Einhaltung der Sollgröße. Es existiert also insofern ein Trade-off zwischen den Kriterien, weil die sichere Gewährung eines Kriteriums nur dadurch erkauft werden kann, dass mindestens eines der anderen Kriterien gelockert oder ganz aufgegeben wird. Man kann diesen zwingenden empirischen und theoretischen Zusammenhang auch in Form einer Art von Theorem festhalten, das ich das Unvereinbarkeitstheorem nennen möchte. Das Unvereinbarkeitstheorem. Wenn es zu einer größeren Anzahl von Überhangmandaten kommt, ist es nicht möglich, dass die Bedingungen der Unantastbarkeit der Direktmandate, der Unantastbarkeit der Listenmandate und die Aufrechterhaltung des Interparteienproporzes eingehalten werden können, ohne dass es zu einer deutlichen Vergrößerung des Parlaments kommt. Daraus ergibt sich logisch zwingend: 1. Besteht man auf der Einhaltung des Interparteienproporzes und der Unantastbarkeit der Direkt- und der Listenmandate, dann kommt es zu einer extremen Vergrößerung des Bundestags. 2. Besteht man auf der Einhaltung der Sollgröße des Bundestags, dann muss entweder auf die Einhaltung des Interparteienproporzes verzichtet werden oder das Prinzip der Unantastbarkeit der Direktmandate oder das der Unantastbarkeit der Listenmandate aufgegeben werden. Die Konsequenz aus der ersten Schlussfolgerung manifestiert sich im gegenwärtigen Modell bzw. dem SPD-Ausgleichsmodell, dessen Logik auch das gegenwärtige Zur rechtlichen Beurteilung vgl. Meyer (Fn. 11), 82 ff.
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Wahlsystem weitgehend folgt (wenn es auch den unsinnigen und unnötigen Umweg über die an der Bevölkerungszahl orientierten Ländersitzkontingente im ersten Schritt nimmt). Diese Art von Modell führt also zu einer Konsequenz, die allgemein als auf Dauer so nicht akzeptabel betrachtet wird. Wenn aber daraus wiederum folgt, dass die Sollgröße zumindest annähernd eingehalten werden soll, dann folgt entsprechend der zweiten Schlussfolgerung, dass auf eines der drei wichtigen normativen Prinzipien Interparteienproporz, Unantastbarkeit der Listenmandate oder Unantastbarkeit der Direktmandate verzichtet werden muss, die ich daher kurz der Reihe nach besprechen möchte. Der Interparteienproporz realisiert das wichtige Prinzip der Erfolgswertgleichheit, das wiederum das wichtigste Gerechtigkeitsprinzip ist, das in Zusammenhang mit Wahlsystemen eine Rolle spielt, denn es garantiert jedem Wähler den annähernd gleichen Einfluss auf das Ergebnis. Darüber hinaus realisiert es auch die Chancengleichheit zwischen den Parteien, da auf diese Weise garantiert wird, dass alle Parteien den – abgesehen von Rundungseffekten – gleichen Preis in Zweitstimmen für einen Sitz bezahlen. Durch die Einführung der Ausgleichsmandate 2013 wurde erstmals dem Interparteienproporz zur Geltung verholfen, es ist daher auch nicht damit zu rechnen, dass irgendeine der Parteien außer der CDU/CSU bereit sein könnte, diese nach langem Kampf erzielte Errungenschaft wieder aufzugeben. Die Einschränkung des Interparteienproporzes scheint daher weder aus normativen Gründen wünschenswert, noch scheint sie politisch durchsetzbar, da sie eindeutig zu Lasten bestimmter Parteien ginge. Die Aufgabe des Intraparteienproporzes bzw. die noch weitere Vergrößerung der schon aufgrund der Überhangmandate entstandenen Verletzung durch die Verrechnung ebendieser mit Landeslistenmandaten der betroffenen Partei, die der Partei in Ländern abgezogen werden, wo sie keine Überhangmandate erhält, scheint auf den ersten Blick weniger problematisch. Zwar kann man hier mit dem unitarischen Charakter des Bundestags argumentieren, dass diese Proporzverzerrungen nicht verfassungsrechtlich bedenklich sind, dennoch stellen die Kompensationsmodelle natürlich nichtsdestotrotz ein nicht geringes Gerechtigkeitsproblem innerhalb der Parteien dar. Letztlich ist nicht unbedingt einsichtig, warum z.B. der Landesverband von Nordrhein-Westfalen mit Listenmandaten die Überhangmandate der CDU z.B. in Baden-Württemberg bezahlen soll. Ist der Anspruch des Inhabers des Listenplatzes, der durch die Kompensation sein Mandat verlieren würde, wirklich so viel geringer zu bewerten als der eines Wahlkreisgewinners, so dass der erstere zu Gunsten des zweiten geopfert werden darf? Wenn auf diese Weise Listenmandate zur Absicherung von Direktmandaten als Verrechnungsmasse instrumentalisiert werden, zieht dies nicht eine unangemessene Priorisierung von Direktmandaten gegenüber Listenmandaten nach sich? Die Verletzung der Unantastbarkeit der Listenmandate hat also durchaus weitreichende Konsequenzen, die normativ als problematisch zu beurteilen sind. Dies scheint allerdings auf den ersten Blick mindestens genauso für die Aufgabe der Unantastbarkeit der Direktmandate zu gelten, wie sie im Grünenmodell von 2011 oder in der von mir genannten noch radikaleren Variante auftritt. Doch bei genauerer Erwägung scheint mir die Problematik eher geringer zu sein. Die Nichtvergabe von Direktmandaten, die nicht durch Zweitstimmen gedeckt sind, widerspricht zwar der fest etablierten Gewohnheit, dass derjenige, der eine relative Mehr-
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heit an Erststimmen im Wahlkreis gewinnt, diesen als Siegesprämie zugesprochen bekommt, aber es handelt sich dabei tatsächlich vor allem um eine Gewohnheit und nicht wirklich um einen Anspruch, dessen Legitimität in jeder Hinsicht unbestritten ist. Erstens ist die relative Mehrheitswahl ein denkbar schlecht geeignetes Verfahren, um den besten Repräsentanten eines Wahlkreises zu ermitteln.34 Insofern kann nicht gesagt werden, dass es ein von der Regel der Sitzvergabe selbst unabhängiges normatives Kriterium gibt, das den Sitzanspruch im Sinne eines legitim erworbenen Verdiensts zu begründen vermag. Die Regel aber lässt sich ohne weiteres ändern. Zweitens lässt sich durchaus überzeugend argumentieren, dass der Sitzanspruch auf diese Direktmandate nicht gedeckt ist, weil die Zweitstimmen, die die relevante Währung zur Gewährleistung dieser Sitzansprüche darstellen, nicht ausreichen, um diese Sitze „bezahlen“ zu können.35 Es genügt eben nicht, einen Lottoschein mit den sechs richtig angekreuzten Zahlen zu besitzen, sondern dieser Lottoschein muss auch bezahlt und damit anerkannt worden sein, um berechtigt zu sein, an der Ziehung zur Ermittlung des Gewinners teilzunehmen. Ein Wahlkreisgewinner mit der relativen Mehrheit an Erststimmen hat in diesem Sinn so wenig Anspruch auf ein durch Zweitstimmen nicht gedecktes Mandat wie der Tipper mit sechs Richtigen, dessen Lottoschein ungültig oder schlichtweg nicht abgegeben worden ist. Aber von allen Gewohnheiten oder Traditionen, die mit dem Wahlsystem verknüpft sind, dürfte der Anspruch des Wahlkreissiegers auf die Zuteilung „seines“ Mandats, wohl einer der unerschütterlichsten sein, auch wenn er argumentativ auf schwachen Beinen zu stehen scheint. Die Reformbereitschaft der Parteien in dieser Richtung dürfte daher eher sehr gering ausgeprägt sein. Die Reform des Wahlsystems scheint daher in gewisser Weise der Quadratur des Kreises zu entsprechen. Das vom Unvereinbarkeitstheorem konstatierte Dilemma des Trade-Offs zwischen wichtigen Kriterien selbst scheint unauflöslich zu sein, die einzige Möglichkeit der Auflösung des Dilemmas besteht in der Verhinderung der Situation, in der es überhaupt erst entsteht, also in der Verhinderung der Entstehung von Überhangmandate von Anfang an, die ja im Unvereinbarkeitstheorem im Bedingungsteil, also dem logischen Antezedens der Implikation, stehen. Angesichts der sich neu herauskristallisierenden Struktur des Parteiensystems gibt es hierfür aber wiederum nur zwei gangbare Wege.36 Der erste besteht in einer drastischen Verringerung des Anteils der Direktmandate an der regulären Sitzzahl von bisher 50 % auf 40 % oder darunter, also einer Verringerung der absoluten Anzahl von derzeit 299 34 McLean, Forms of Representation and Systems of Voting, in: Held (Hrsg.), Political Theory Today, 1993, 172 ff.; Behnke/Bader, Die Ermittlung von Wahlkreissiegern mithilfe von Approval Voting. Eine Simulation anhand der baden-württembergischen Landtagswahl 2011, ZPol 25 (2015), 469 ff. 35 Im Gegensatz zur relativen Mehrheitsregel lässt sich diese Regel auch durch ein unabhängig von ihr geltendes höheres Prinzip begründen, nämlich den Gleichheitsgrundsatz. Die relative Mehrheitsregel lässt sich hingegen eben gerade nicht aus dem Gleichheitsgrundsatz bezüglich der Erststimmen (im Sinne der Zählwertgleichheit) ableiten, weil nach ihr z.B. auch ein sogenannter Condorcet-Verlierer gewinnen kann (vgl. Behnke/Bader (Fn 32)). Während also der Gleichheitsgrundsatz in Bezug auf eine Verteilung zwangsläufig in das Proportionalitätsprinzip münden muss, muss er in Bezug auf die Ermittlung eines Siegers in einem Wettbewerb nicht zwangsläufig in die relative Mehrheitsregel münden. 36 Behnke, Zweipersonenwahlkreise oder die Reduktion der Anzahl der Einpersonenwahlkreise als „Catch all“-Reformoption, in: Behnke/Decker/Grotz/Vehrkamp/Weinmann (Hrsg.), Reform des Bundestagswahlsystems, 2017, 137 ff.
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Wahlkreismandaten auf 240 oder gar 210 bis 220 Sitze. Der zweite Weg besteht in der Einführung von Zweipersonenwahlkreisen, in denen nicht wie bisher nur derjenige Kandidat mit den meisten Stimmen ein Direktmandat erhält, sondern die beiden Kandidaten mit den meisten und zweitmeisten Stimmen. Die Anzahl dieser Zweipersonenwahlkreise könnte dann auf 150 reduziert werden. Beide Verfahren würden zu einer deutlichen Verminderung der Überhangmandate führen. Die dann eventuell noch verbleibende sehr geringe Anzahl von Überhangmandaten könnte entweder ausgeglichen oder durch Verrechnung mit Listenmandaten kompensiert werden, ohne dass es dabei zu inakzeptablen Verwerfungen kommen würde.
Wer hat Angst vorm Gerrymander? Manipulative Wahlkreiszuschnitte in Deutschland von
Dr. Fabian Michl, LL.M. (Edin.) (Münster) und Roman Kaiser (Augsburg) Inhalt I. Der Gerrymander – eine US-amerikanische Spezies? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 II. Gerrymandering: Begriff, Techniken, Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 III. Gerrymandering in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Anreizstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 IV. Rechtliche Einhegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Demokratietheoretische Präliminarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. US-amerikanische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Gerrymandering vor deutschen Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 V. Kommt der Bundes-Gerrymander? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
I. Der Gerrymander – eine US-amerikanische Spezies?* In ihrer Ausgabe vom 26. März 1812 vermeldete die Boston Gazette, dass im Essex South District, einem der Senatswahlkreise des US-Bundesstaats Massachusetts, eine neue Spezies von Monster gesichtet worden sei: der „Gerry-Mander“. Die Zeitung * Die Verfasser danken Dr. Konstantin Chatziathanasiou, Stefan Lenz (beide Münster) und Daniel Wolff (München) für ihre wertvollen Kommentare und Anregungen sowie Jonas Neumann (Münster) für die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts.
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garnierte diese aufsehenerregende Meldung mit einer kaum weniger spektakulären Zeichnung, die sie als getreues Abbild des „fürchterlichen Monsters“ ausgab, das während der letzten Sitzung der gesetzgebenden Versammlung von Massachusetts erschienen sei. Der längliche, merkwürdig gekrümmte Körper des Gerrymanders – der mit seinen spitzen Zähnen, seiner pfeilförmigen Zunge, seinen grimmigen Augen, scharfen Klauen und mächtigen Flügeln eher einem Drachen als dem namensgebenden Salamander ähnelte – unterteilte sich in einzelne Partien, die wiederum Namen von Städten im nahe Boston gelegenen Essex County trugen. Unter der Zeichnung prangte bedeutungsschwanger ein Matthäus-Zitat, das die Bedrohlichkeit des abgebildeten Wesens unterstrich: „O generation of Vipers! who hath warned you of the wrath to come?“1 Eine wortreiche „wissenschaftliche“ Klassifikation schloss sich an, der zufolge es sich bei dem Monster zwar um einen Salamander handele, der aber unter den Auspizien des Gouverneurs von Massachusetts, Elbridge Gerry, „gezeugt“ worden sei und daher zu Recht den Namen „Gerry-Mander“ erhalten habe.2 Der politische Hintergrund dieser abenteuerlichen Meldung war der kurz zuvor von Gouverneur Gerry unterzeichnete Apportionment Act, mit dem die demokratische Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus das Staatsgebiet von Massachusetts in neue Senatswahlkreise aufgeteilt hatte.3 Hatte sich die Wahlkreiseinteilung bislang weitgehend an den historischen County-Grenzen orientiert, erhielten die neuen Wahlkreise mitunter fantasievolle Zuschnitte. Die Wählerschaft der oppositionellen Föderalisten, die erst bei den letzten Wahlen die Macht an die Demokraten verloren hatten, wurde so auf die neuen Wahlkreise verteilt, dass ihnen jeweils eine deutliche demokratische Mehrheit gegenüberstand. Die Chancen der Föderalisten, die nach Mehrheitswahl vergebenen Sitze im Senat zu erringen, verringerten sich dadurch drastisch. Der Massachusetts Apportionment Act von 1812 war in der Geschichte der USA nicht der erste Fall manipulativer Wahlkreiszuschnitte und er sollte nicht der letzte bleiben.4 Nicht nur hat diese Praxis bis heute ihren festen Platz im politischen 1 In der King James Bible (Matthew 3:7) heißt es eigentlich: „Oh generation of vipers, who hath warned you to flee from the wrath to come“. Die Passage zitiert Johannes den Täufer, wie er sich an die Pharisäer und Sadduzäer wendet, die zu seiner Taufe gekommen waren. 2 „Gerry“ wird lautlich als [ˈgɛɹɪ] realisiert; dementsprechend wurde auch das Kofferwort „gerrymander“ ursprünglich mit einem velaren Plosiv [g] am Wortanfang gesprochen; Merriam Webster gibt als heute vorherrschende Aussprachevariante des Wortanfangs aber die postalveolare Affrikate [dʒ] an; URL = https://www.merriam-webster.com/dictionary/gerrymander; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 3 Zur Geschichte des ursprünglichen Gerrymanders ausf. Griffith, The Rise and Development of the Gerrymander, 1907, 16 ff., 62 ff.; Martis, Political Geography 27 (2008), 833 ff. Im politik- und rechtswissenschaftlichen Schrifttum hierzulande hält sich hartnäckig der Mythos, dass Elbrige Gerry „aus der Stadt Boston einen sicheren Wahlkreis für sich herausschnitt, der einem Salamander glich“ (so Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014, 96; aus der juristischen Literatur etwa Sacksofsky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 6 Rn. 7 ). Gerry fertigte als Gouverneur lediglich den Apportionment Act aus, der vorher von Senat und Repräsentantenhaus beschlossen worden war. Ob und inwieweit er auf den Inhalt des Wahlkreisgesetzes, das nicht seine eigene (Wieder-) Wahl betraf, Einfluss genommen hatte, wie es die Boston Gazette andeutete, ist unklar. Gerry verlor die im März 1812 abgehaltenen Gouverneurswahlen gegen seinen Herausforderer aus den Reihen der Föderalisten, wurde aber bei den US-Präsidentschaftswahlen im Oktober 1812 zum Vizepräsidenten unter James Madison gewählt; bereits zwei Jahre später verstarb er im Alter von 70 Jahren; zu Person und politischem Wirken ausf. Billias, Elbridge Gerry, 1976. 4 Griffith (Fn. 3) datiert die ersten Wahlkreismanipulationen weit in die Kolonialzeit zurück (23 ff.) und weist für die Zeit von 1812 bis 1840 insgesamt 31 Gerrymander nach (62 ff.).
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Abbildung 1: Der ursprüngliche „Gerry-Mander“ aus der Boston Gazette v. 26.03.1812.
System der Vereinigten Staaten, sie hat im letzten Jahrzehnt auch nie da gewesene Ausmaße angenommen.5 Der Berichterstattung der Boston Gazette, die rasch von der Föderalisten-nahen Presse im ganzen Bundesgebiet aufgegriffen wurde, verdankt sie ihren Namen: Der Gerrymander war geboren. Obwohl die Spezies in den USA erstmals identifiziert und benannt worden war, blieb ihr Vorkommen nicht auf Nordamerika beschränkt. Der Ausdruck „Gerrymandering“ etablierte sich über die Staats- und Sprachgrenzen hinweg als Bezeichnung für manipulative Wahlkreiszuschnitte und Exemplare des Gerrymanders wurden in der Folge auch in europäischen Demokratien gesichtet. Etwa bei den französischen Parlamentswahlen des Jahres 1958, bei denen es dem Staatspräsidenten de 5 Aus dem abundanten Schrifttum s. etwa Engstrom, Partisan Gerrymandering and the Construction of American Democracy, 2013; McGann/Smith/Latner/Keena, Gerrymandering in America, 2016.
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Gaulle gelungen war, die Erfolge der kommunistischen Partei durch geschickte Wahlkreiszuschnitte einzudämmen.6 In Mehrheitswahlsystemen7 hat der Gerrymander sein natürliches Habitat. Hier findet er trotz aller Unterschiede im Detail ideale Lebensbedingungen vor. Die deutschen Wahlsysteme sind vor dem „Monster“ hingegen auf den ersten Blick sicher: Das personalisierte Verhältniswahlrecht, nach dem der Bundestag und die meisten Landtage8 gewählt werden, scheint kaum Anknüpfungspunkte für Wahlkreismanipulationen zu bieten. So wird denn auch in der wahlrechtlichen Literatur dem „Zuschnitt der Stimmkreise im Sinne einer absichtsvollen ‚Wahlkreisgeometrie‘“ hierzulande nur eine geringe Bedeutung attestiert,9 das Gerrymandering bisweilen gar zu einem Spezifikum von Mehrheitswahlsystemen des anglo-amerikanischen Raums erklärt.10 Zweifel an diesem Narrativ sind angebracht. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass manipulative Wahlkreiszuschnitte auch bei Wahlen in Deutschland denkbar sind, ja sogar praktiziert werden. Der Gerrymander kann auch hierzulande heimisch werden, wenn er sich auch auf vergleichsweise magere Kost einstellen muss. Bevor diese These anhand von Fallbeispielen untermauert wird (III), sollen Begriff, Techniken und Ziele des Gerrymandering erläutert werden (II). Außerdem ist die zentrale juristische Frage zu klären, die durch manipulative Wahlkreiszuschnitte aufgeworfen wird: Wie und von wem lässt sich der Gerrymander rechtlich einhegen? Eine demokratietheoretische Perspektive legt nahe, dass es die Aufgabe der dritten Gewalt ist, Wahlkreismanipulationen Einhalt zu gebieten. Die US-amerikanische Erfahrung zeigt, dass ein beherzter Zugriff der Judikative aber keineswegs ausgemacht ist. In Deutschland stehen hingegen die Chancen gut, dass die Gerichte den Gerrymander in die Schranken weisen (IV). Mit Blick auf die zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft und den lauter werdenden Rufen nach einer Parlamentsreform auf Bundesebene erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die politischen Anreize für manipulative Wahlkreiszuschnitte auch hierzulande stärker werden (V).
II. Gerrymandering: Begriff, Techniken, Ziele 1. Begriff War Gerrymandering in den USA des frühen 19. Jahrhunderts noch ein parteipolitischer Kampf begriff in der Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Föderalisten, steht heute, jedenfalls im wissenschaftlichen Diskurs, eine deskriptiv-analytische Nohlen (Fn. 3), 98, 352 ff. Zum Wahlsystem der USA Schreyer, in: Jäger/Haas/Welz (Hrsg.), Regierungssystem der USA, 3. Aufl. 2007, 265 ff. 8 Ausnahmen sind Bremen und das Saarland. Die bremische Bürgerschaft wird nach einem reinen Verhältniswahlrecht mit offenen Listen gewählt, bei dem jeder Wähler fünf Stimmen auf Listenkandidaten vergeben kann; eine Direktwahl von Kandidaten in Wahlkreisen ist nicht vorgesehen; für die beiden Wahlbereiche Bremen und Bremerhaven werden jedoch eigene Listen aufgestellt (§ 7 BremWahlG). Der saarländische Landtag wird in einer Verhältniswahl mit geschlossenen Listen gewählt, bei der jeder Wahlberechtigte nur eine Stimme vergeben kann (§ 10 WahlG SL). 9 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 109. 10 Vgl. Sacksofsky (Fn. 3), Rn. 7. 6 7
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Konzeption im Vordergrund. „Gerrymandering“ in diesem Sinne bezeichnet Praktiken der Wahlkreiseinteilung, ohne notwendig11 ein Unwert- oder Rechtswidrigkeitsurteil über die jeweilige Wahlkreiseinteilung auszusprechen. Erfasst werden alle Wahlkreiszuschnitte, durch die bestimmte Wählergruppen einem Wahlkreis zugeschlagen oder aus ihm herausgenommen werden, um das Wahlergebnis zugunsten oder zulasten von bestimmten Wahlkreisbewerbern und/oder deren Parteien zu beeinflussen.12 Zu unterscheiden ist das Gerrymandering von der Bildung oder dem Auftreten von Wahlkreisen, die mit Blick auf die Zahl der Bevölkerung oder der Wahlberechtigten13 ihrer Größe nach voneinander abweichen. Abweichungen von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße im Sinne von Bevölkerungs- bzw. Wählerzahl14 werden als Malapportionment bezeichnet.15 Zwar kann auch Malapportionment aktiv zugunsten oder zulasten eines Bewerbers oder einer Partei praktiziert werden,16 ebenso können abweichende Wahlkreisgrößen aber auf einem schlichten Unterlassen der Neueinteilung beruhen. Verzerrt wird beim Malapportionment der Repräsentationsschlüssel, also die Zahl der Einwohner bzw. Wahlberechtigten, die auf ein Mandat entfällt.17 Beim Gerrymandering spielt dieses Verhältnis hingegen keine Rolle. Im Gegenteil findet Gerrymandering häufig gerade dann statt, wenn es darum geht, die Wahlkreise nach Bevölkerungsverschiebungen ihrer Größe nach einander wieder anzugleichen. So sieht Art. I Abschn. 2 der US-Verfassung eine Neueinteilung der Wahlkreise (redistricting) nach einer Periode von zehn Jahren vor, wobei die Wahlkreise nach dem Ergebnis des Zensus anzugleichen sind (reapportionment).18 Die obligatorische Neueinteilung, mit der Abweichungen vom Repräsentationsschlüssel vermieden werden sollen, gibt in der Staatspraxis der USA erst die Gelegenheit zu manipulativen Wahlkreiszuschnitten. Zu welchem Zeitpunkt der Ausdruck „Gerrymandering“ in den politischen Diskurs in Deutschland Eingang gefunden hat, lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen.19 Ab dem späten 19. Jahrhundert ist mit ähnlicher Konnotation von „Wahlkreis11 Gleichwohl überwiegt ganz eindeutig die Einschätzung jedenfalls des parteipolitischen Gerrymanderings als „a bad, bad thing“; so (kritisch) Shapiro, University of California Los Angeles Law Review 33 (1985), 227 (251). 12 Vgl. Nohlen (Fn. 3), 96; s. zur Definition auch Partmann, Redistricting: Die Wahlkreiseinteilung für das Repräsentantenhaus in den Vereinigten Staaten, 2017, 163 ff. 13 Beide Bezugsgrößen kommen in der Praxis vor, wobei es auch bei der Bevölkerung noch Modifikationen gibt; vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWahlG, der auf die Bevölkerungszahl abstellt, wobei Satz 2 Ausländer davon ausnimmt. 14 In der Politikwissenschaft wird unter „Wahlkreisgröße“ die Zahl der im Wahlkreis zu vergebenden Mandate verstanden und zwischen Einer- und Mehrpersonenwahlkreisen unterschieden (so Nohlen (Fn. 3), 98 f.). Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum steht „Wahlkreisgröße“ hingegen – je nach maßgeblicher Bezugsgröße – für die Zahl der Einwohner bzw. Wahlberechtigten im Wahlkreis (so etwa bei Ipsen/Koch, NdsVBl. 1996, 269 ff.; Möstl, AöR 127 (2002), 401 ff.); dem entspricht auch der Sprachgebrauch in der Rspr. (vgl. bereits BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschl. v. 26.08.1961 – 2 BvR 322/61 – BVerfGE 13, 127 (128)). 15 Nohlen (Fn. 3), 94 ff. 16 Auch zur Sicherstellung der Repräsentation bestimmter (häufig regionaler) Wählerschaften; vgl. Nohlen (Fn. 3), 94, 327 (Mindestrepräsentation von Schottland und Wales im House of Commons). 17 Nohlen (Fn. 3), 94. 18 Dazu ausf. Partmann (Fn. 12). 19 Brockhaus’ Konversations-Lexikon, Bd. 7, 14. Aufl. 1894, weist „Gerrymandering“ jedenfalls be-
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geometrie“ die Rede – ursprünglich ein spöttischer Ausdruck, mit dem die katholisch-patriotische Presse in Bayern die ihres Erachtens „gesetzes- und verfassungswidrige“ Wahlkreiseinteilung durch das liberale Kabinett im Vorfeld der Landtagswahl 1869 brandmarkte.20 Nach der Reichsgründung wurde der Ausdruck von bayerischen Reichstagsabgeordneten über die Landesgrenzen hinaus popularisiert21 und alsbald für sämtliche kritikwürdigen Wahlkreiseinteilungen verwendet. So begründete die SPD ihre Forderung nach einem Verhältniswahlrecht damit, dass mit diesem Wahlsystem „eine Wahlkreisgeometrie überhaupt nicht mehr nöthig“ wäre.22 Der Fokus lag im Kaiserreich aber (anders als noch in Bayern) nicht auf manipulativen Zuschnitten der Wahlkreisgrenzen, sondern auf den teils drastischen Abweichungen der Wahlkreisgröße vom Bevölkerungsdurchschnitt.23 Der Ausdruck „Wahlkreisgeometrie“, wie er sich in der politischen Sprache in Deutschland etabliert hat, umfasst also sowohl Gerrymandering als auch Malapportionment und weist daher nicht die Trennschärfe auf, die für eine gesonderte Betrachtung der Phänomene erforderlich ist.24
2. Techniken Unter den Techniken des Gerrymandering25 lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden. Beim cracking wird eine bestimmte Wählerschaft „aufgebrochen“ und so auf verschiedene Wahlkreise verteilt, dass ihr jeweils eine Mehrheit zugunsten eines anderen Kandidaten gegenübersteht. Ihre Stimmen werden auf diese Weise „neutralisiert“. Den historischen Prototyp des cracking bildet der für das Gerrymandering reits mit einem eigenen Schlagwort aus; eine Volltextsuche in den Protokollen des Reichstags (1867– 1942) nach „Gerrymandering“ und „Gerrymander“ ergab keine Treffer. 20 So wörtlich das Wochenblatt für die bayerischen Patrioten v. 28.02.1870, 1; erste Erwähnung von „Wahlkreisgeometrie“ im Volksbote[n] für den Bürger und Landmann v. 01.12.1869, 1; Ergebnis einer Volltextrecherche im Zeitungsportal der Bayerischen Staatsbibliothek (URL = https://digipress.digita le-sammlungen.de/; zuletzt abgerufen am 11.12.2018). Vgl. auch Glossar des Hauses der Bayerischen Geschichte: „Wahlkreisgeometrie ist eine Spottbezeichnung für das Verfahren der bayerischen Regierungen im 19. Jahrhundert, erwünschte Parteien zu begünstigen bzw. unerwünschte zu benachteiligen, indem sie die Stimmkreise so festlegte, dass jene soziale Schicht, welche normalerweise die erwünschte Partei wählte, in der Mehrheit war, oder umgekehrt, dass die soziale Schicht, welche normalerweise die unerwünschte Partei wählte, in der Minderheit war. Dies gelang beispielsweise dadurch, dass man in einem Stimmkreis ländliche und städtische Bevölkerung im gewünschten Verhältnis mischte. Die Wahlkreisgeometrie endete 1906 mit der gesetzlichen Festlegung der Stimmkreise.“ (URL = https:// www.hdbg.eu/glossare/eintrag/wahlkreisgeometrie/1740; zuletzt abgerufen am 11.12.2018). 21 Erstmals im Reichstag erwähnt wird „Wahlkreisgeometrie“ vom bayerischen Abg. August Schels (Zentrum) als „Reminiszenz“ an „eine[n] der schwärzesten Flecken, welchen die Regierung in Bayern auf sich geladen hat“ (RT-PlPr. v. 18.04.1871 [1. WP], 261). 22 Wortbeitrag des Abg. Tutzauer (SPD), RT-PlPr. v. 05.02.1895 [9. WP], 673. 23 Nohlen (Fn. 3), 95 gibt für die Reichstagswahlen 1907 eine Spanne von 18.800–220.000 Ew. pro Wahlkreis an; zur Debatte über das Malapportionment im Kaiserreich, das v.a. die Sozialdemokratie benachteiligte, da städtische Wahlkreise ungleich größer waren als ländliche, vgl. M. L. Anderson, Lehrjahre der Demokratie, 2009, 400 ff. 24 Vgl. auch Wahlrechtskommission, Grundlagen eines deutschen Wahlrechts, 1955, 59 f., wo „Gerrymandering“ und „Wahlkreisgeometrie“ synonym verwendet werden. 25 Vgl. auch ausf. Partmann (Fn. 12), 186 ff.
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namensgebende Wahlkreiszuschnitt im Massachusetts des Jahres 1812. Etwas subtiler ist die Methode des packing. Bei ihr wird eine bestimmte Wählerschaft gezielt in einem Wahlkreis konzentriert. Auf diese Weise entsteht zwar eine „Hochburg“ für die von dieser Wählerschaft unterstützte Partei oder Gruppe, außerhalb dieser Hochburg verringern sich jedoch deren Erfolgschancen. Das packing ist unter anderem dann attraktiv, wenn sich allein durch cracking Erfolge einer Partei oder Gruppe nicht ausschließen lassen. Durch Hochburgenbildung kann die Mandatszahl der Partei dann zumindest geringgehalten werden. Charles de Gaulle setzte zu Beginn der V. Französischen Republik beide Methoden ein, um die politische Repräsentation der Kommunisten so weit wie möglich einzudämmen: Wo sich die urbane kommunistische Wählerschaft nicht durch die Mischung städtischer und ländlicher Gebiete neutralisieren ließ, wurde sie in Hochburgen konzentriert.26 In den USA wird schließlich die besondere Methode des tacking praktiziert, bei dem eine bestimmte Wählerschaft ohne Rücksicht auf geographische oder politische Regelmäßigkeiten gezielt einem Wahlkreis „angeheftet“ wird, um in diesem den Ausschlag zugunsten oder zulasten eines Kandidaten zu geben.
3. Ziele Das klassische Ziel des Gerrymandering ist die Begünstigung bzw. Benachteiligung der Kandidaten einer politischen Partei. Mit Blick auf das US-amerikanische Wahlsystem ist vom partisan gerrymandering die Rede, das in neuerer Zeit ausschließlich durch die beiden großen Parteien – Republikaner und Demokraten – praktiziert wird. Parteipolitisches Gerrymandering wird häufig mit dem Phänomen Gerrymandering schlechthin gleichgesetzt.27 Doch darf nicht übersehen werden, dass mit manipulativen Wahlkreiszuschnitten auch andere Ziele verfolgt werden können. So gab und gibt in den USA nicht nur die parteipolitische Orientierung der Wählerschaft Anlass zum Gerrymandering, sondern auch ihre „ethnische“ Zusammensetzung (race). Nach dem Ende des Bürgerkriegs bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde vor allem in den Südstaaten das sog. negative racial gerrymandering praktiziert, um die politische Repräsentation afroamerikanischer Wähler zu verhindern.28 Infolge des Voting Rights Act von 1965, der diskriminierende Praktiken ausschließt und eine Repräsentation unabhängig von „race and color“ einfordert, trat das affirmative racial gerrymandering in den Vordergrund, das die politische Repräsentation von Minderheiten sicherstellen soll.29 Erreicht wird dies durch die Schaffung sog. majority-minority districts, in denen die jeweilige ethnische Minderheit – neben Afroamerikanern stehen die Gruppen der „Hispanics/Latinos“ und „Asian Pacific Islander“ im Fokus – die Mehrheit der Wählerschaft bildet und somit ihren „eigenen“ Repräsentanten
Nohlen (Fn. 3), 98, 352 f. Vgl. etwa McGann/Smith/Larner/Keena (Fn. 5), die trotz des Titels ausschließlich das partisan gerrymandering behandeln. 28 Vgl. Whitby, The Color of Representation, 1997, 1 ff. 29 S. dazu auch unten unter IV. 2. b). 26 27
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Abbildung 2: Der 12. Kongressdistrikt in North Carolina 1992. Ein besonders umstrittener Fall des affirmative racial gerrymandering; aus: Grose, Congress in Black and White, 2011, 41.
bestimmen kann.30 Durch Gerrymandering lassen sich Repräsentationsdefizite beheben, die in einem reinen Mehrheitswahlsystem infolge der strukturellen Unterlegenheit von Minderheiten auf anderem Wege nicht ausgeglichen werden könnten. Nicht jeder „abnorm geformte“ Wahlkreis ist mithin Ausdruck parteipolitisch motivierter Wahlkreismanipulation.
III. Gerrymandering in Deutschland 1. Anreizstrukturen Auf den ersten Blick hat es der Gerrymander schwer, in Deutschland Fuß zu fassen, da das System der personalisierten Verhältniswahl weitgehend immun gegenüber manipulativen Wahlkreiszuschnitten zu sein scheint.31 Mit der „vorgeschaltete[n] Direktwahl der Wahlkreiskandidaten“ verfügen jedoch auch die deutschen Wahlsysteme über ein Element der Mehrheitswahl,32 das Anreize setzen kann, Wahlkreise zugunsten oder zulasten eines Kandidaten zuzuschneiden, also Gerrymandering zu betreiben. Der Einfluss der Direktwahl auf den Proporz wird durch den Ausgleich von Überhangmandaten im Bundes- und Landtagswahlrecht freilich stark relativiert: Über die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments entscheidet in Deutsch30 Vgl. Whitby (Fn. 28), 17 ff.; Grose, Congress in Black and White, 2011, insb. 38 ff.; beide mit einem Fokus auf der Repräsentation von Afroamerikanern. 31 Zur Polysemie der Begriffe „Verhältniswahl“ und „Mehrheitswahl“ als Bezeichnungen für ein Wahlverfahren (Entscheidungsregel) bzw. ein Repräsentationsmodell s. unten unter IV. 2. a); im folgenden Abschnitt bezeichnen „Verhältniswahl“ und „Mehrheitswahl“ Wahlverfahren. 32 BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (358).
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land – jedenfalls grundsätzlich – die Verhältniswahl.33 Dennoch ist das Mehrheitswahlelement und mit ihm die Wahlkreiseinteilung nicht bedeutungslos.34 Zum einen wird mit der Wahl der Direktkandidaten die personelle Zusammensetzung des Parlaments beeinflusst.35 Immerhin ist ihnen in der Regel die Hälfte der Sitze36 vorbehalten. Zum anderen ist der Gewinn von Direktmandaten für die Parteien und die Kandidaten selbst 37 mit erheblichem politischem Prestige verbunden. Umgekehrt sind die Parteien bestrebt, einmal gewonnene Wahlkreise zu verteidigen. Denn der Verlust von Wahlkreisen ist, obgleich er sich im Proporz grundsätzlich nicht niederschlägt (zu den Ausnahmen sogleich), ein Zeichen politischer Schwäche und suggeriert eine defizitäre Rückbindung an die örtliche Wählerschaft. Der Vertretungsanspruch der Partei leidet. Welche Bedeutung Direktmandaten im Wettbewerb der Parteien um mediale Aufmerksamkeit und öffentliche Zustimmung zukommen kann, ließ sich zuletzt bei der Wahl zum Bayerischen Landtag am 14.10.2018 eindrucksvoll beobachten: Hatte die Partei Bündnis 90/Die Grünen sich bis dahin in Bayern noch nie mit einem Direktkandidaten durchsetzen können, errang sie 2018 sechs von 91 Direktmandaten. Die CSU hingegen, die bei der Landtagswahl 2013 noch 89 von 90 Direktmandaten gewonnen hatte, vermochte sich mit ihren Kandidaten in 85 Stimmkreisen durchzusetzen. Zwar waren christsoziale Bewerber damit immer noch in gut 93 % der Stimmkreise erfolgreich – und das bei einem mäßigen Gesamtergebnis ihrer Partei in der Verhältniswahl von nur 37,2 %. Umgekehrt blieben die Grünen mit nur 7 % der Direktmandate deutlich hinter ihrem Gesamtstimmenergebnis von 17,6 % zurück. Doch dass Bewerber der Grünen der CSU überhaupt Stimmkreise „abnehmen“ konnten, sorgte bereits für Schlagzeilen, zumal die Erfolge der Grünen und die korrespondierenden Verluste der CSU auf städtische Wahlkreise konzentriert waren und damit einen schwindenden Rückhalt der Christsozialen im urbanen Milieu nahelegten.38 Neben diesen vergleichsweise „weichen“ Faktoren (personelle Zusammensetzung, politisches Prestige) kann der Gewinn oder Verlust von Direktmandaten auch mit ganz handfesten, d.h. proporzrelevanten Vor- bzw. Nachteilen verbunden sein. Offensichtlich ist dies bei nicht ausgeglichenen Überhangmandaten, wie sie im Bundestagswahlrecht von 1949 bis 2009 vorkamen. Auch wenn derzeit im Bund ein voll33 Nicht immer nur die sog. Zweitstimme; so werden in Bayern Erst- und Zweitstimme zusammengezählt, um den Proporz zu ermitteln (Art. 45 Abs. 1 Satz 2 BayLWahlG); in Baden-Württemberg hat jeder Wähler nur eine Stimme für einen Direktkandidaten, die gleichzeitig über den Wahlkreissitz und über den Parteienproporz bestimmt (§ 1 Abs. 3, § 2 Abs. 1, 3 BWLWahlG); die Einführung eines solchen Ein-Stimmen-Systems auf Bundesebene befürwortet Ipsen, RuP 2017, 393 (398). 34 Die „Bedeutung des Wahlkreiszuschnitts für eine Parlamentswahl“ in Deutschland unterstreicht auch Wolf, Das negative Stimmgewicht als wahlgleichheitswidriger Effekt, 2016, 267. 35 Vgl. Badura, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 10, Anh. z. Art. 38: BWahlG, Rn. 59 (Stand: Oktober 2018); ähnlich Roth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. II, 2002, Art. 38 Rn. 80. 36 In manchen Ländern kann es zu Abweichungen kommen. In Bayern werden z.B. (derzeit) 91 der 180 Abgeordneten direkt gewählt, 89 Mandate (zzgl. etwaiger Ausgleichsmandate) werden in der Verhältniswahl vergeben (Art. 21 BayLWahlG). 37 Vgl. bereits Wahlrechtskommission (Fn. 24), 59, nach der „den im Wahlkreis gewählten Bewerbern stärkeres politisches Gewicht beigemessen wird als den Listenkandidaten“. 38 Vgl. „Grüne holen erstmals Direktmandate in Bayern“, Spiegel Online v. 15.10.2018, URL = http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wahl-gruene-holen-erstmals-direktmandate-in-bayernmuenchen-und-wuerzburg-a-1233231.html; zuletzt abgerufen am 11.12.2018.
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ständiger Ausgleich stattfindet (§ 6 Abs. 5 BWahlG), ist für die Zukunft nicht ausgeschlossen, dass Überhangmandate erst ab einer bestimmten Freigrenze ausgeglichen werden.39 Doch auch wenn Überhangmandate grundsätzlich voll ausgeglichen werden, können sie sich infolge des jeweiligen Ausgleichsmechanismus verzerrend auf den Proporz auswirken. So werden beispielsweise im bayerischen Landtagswahlrecht Überhangmandate nicht auf Landesebene, sondern auf Ebene der sog. Wahlkreise ausgeglichen, die den sieben Regierungsbezirken entsprechen. Das kann dazu führen, dass, obwohl einer Partei nach ihrem landesweiten Ergebnis ein Ausgleichsmandat zustehen müsste, ihr dieses im Ergebnis versagt bleibt, weil sie in keinem Wahlkreis die nötigen Gesamtstimmen für ein Ausgleichsmandat erreicht hat.40 Davon profitiert wiederum die Partei, die ihr überhängendes Direktmandat ohne Ausgleich in den Proporz einbringen kann – in Bayern ist das üblicherweise die CSU. Schließlich sind die Direktmandate von entscheidender Bedeutung, wenn eine Partei nur aufgrund einer Grundmandatsklausel bei der Sitzverteilung berücksichtigt wird, weil sie in der Verhältniswahl die im jeweiligen Wahlsystem vorgesehene Prozenthürde nicht überwinden konnte. Neben dem Bundeswahlgesetz, das drei Grundmandate verlangt, kennen die Wahlgesetze von Sachsen (zwei Mandate) sowie Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein (jeweils ein Mandat) entsprechende Vorschriften. Bei Bundestagswahlen kam die Grundmandatsklausel bislang viermal zum Zuge, zuletzt 1994 zugunsten der PDS, die trotz eines Zweitstimmenergebnisses von nur 4,4 % dank vier Berliner Direktmandate mit 30 Abgeordneten in den Bundestag einzog.
2. Fallbeispiele Das personalisierte Verhältniswahlrecht des Bundes und der Länder bietet den politischen Akteuren, d.h. den Mehrheiten im Parlament, also durchaus Anreize dafür, Wahlkreise manipulativ zuzuschneiden. Dass auch in Deutschland „GerrymanderGefahr“ besteht, ja sich sogar schon verwirklicht hat, lässt sich anhand von Fallbeispielen demonstrieren.
a) Methodik Eine methodische Vorbemerkung ist angezeigt: Empirische Untersuchungen zum Gerrymandering in Deutschland liegen, soweit ersichtlich, nicht vor.41 Die folgende Darstellung von Gerrymander-„Verdachtsfällen“ beansprucht weder, vollständig oder auch nur repräsentativ zu sein, noch, im Einzelnen den Nachweis führen zu können, dass tatsächlich Wahlkreise manipulativ zugeschnitten wurden. Es geht S. dazu unten unter V. Beispiel bei Kaiser, „Von Wissen und Nichtwissen bei der Wahl: Das ‚verbesserte Verhältniswahlrecht‘ in Bayern“, Verfassungsblog v. 10.10.2018, URL = https://verfassungsblog.de/von-wissen-undnichtwissen-bei-der-wahl-das-verbesserte-verhaeltniswahlrecht-in-bayern/; DOI: https://doi.org/10. 17176/20181012-131718-0. 41 Zu Gerrymandering als Gegenstand empirischer Wahlforschung (mit Schwerpunkt auf den USA) Falter/Winkler, in: Falter/Schoen (Hrsg.), Handbuch Wahlforschung, 2. Aufl. 2014, 135 (156 ff.). 39
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vielmehr nur darum, anhand von konkreten Fällen aufzuzeigen, dass Gerrymandering in der politischen Praxis in Deutschland vorstellbar ist und sich für die politischen Akteure auch auszahlen kann. Das Vorgehen ist dabei notwendig eklektisch: Es werden solche Fallbeispiele herangezogen, die, wenn auch ggf. nur regional begrenzt, öffentliches Aufsehen erregt, Eingang in Presseberichterstattung oder sogar die Rechtsprechung gefunden haben und bei denen auch Wahl- und Bevölkerungsdaten vorliegen, die eine Analyse des Wahlkreiszuschnitts mit Blick auf ein mögliches Gerrymandering zulassen.
b) Rheinland-pfälzische Landtagswahlkreise Das erste Fallbeispiel betrifft die Wahl zum 17. Landtag Rheinland-Pfalz im März 2016. Im Vorfeld wurden einige Wahlkreise, wie vom Landeswahlgesetz eingefordert, neu zugeschnitten, um Bevölkerungsabweichungen zwischen den Wahlkreisen zu verringern.42 Nähere Vorgaben über die Wahlkreiseinteilung enthalten weder die Landesverfassung noch das Landeswahlgesetz. Vom Neuzuschnitt betroffen waren unter anderem der Wahlkreis 1 Betzdorf/Kirchen (Sieg) und der Wahlkreis 5 Bad Marienberg (Westerwald)/Westerburg. Die Verbandsgemeinde Rennerod, die bislang dem Wahlkreis 5 angehört hatte, wurde durch die neue Wahlkreiseinteilung dem Wahlkreis 1 zugeschlagen. Der Wahlkreisbericht der Landesregierung für die 16. Wahlperiode hatte ergeben, dass die Bevölkerungszahl des bisherigen Wahlkreises 1 um 26,4 % unter, die Bevölkerungszahl des bisherigen Wahlkreises 5 um 29,5 % über dem Durchschnitt lag. Durch den Wechsel von Rennerod konnte die Abweichung auf – 4,3 % bzw. + 7,4 % verringert werden.43 Alternativ hätte zwar die Verbandsgemeinde Bad Marienberg dem Wahlkreis 1 zugeordnet werden können – eine Lösung, die (offenbar) der Landeswahlleiter favorisiert hatte44 –, dadurch hätte allerdings, wie die Landesregierung hervorhob, der Wahlkreis 5 seine Namensgeberin verloren.45 Außerdem habe Rennerod mit den anderen Gemeinden des Wahlkreises 1 „mit Blick auf die räumliche Situation im Grenzdreieck Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz“ gemeinschaftliche Interessen.46 Die Zuordnung der Verbandsgemeinde Rennerod zum Wahlkreis 1 ist zunächst unter geographischen Gesichtspunkten bemerkenswert. Denn ihr Gemeindegebiet grenzt nur auf einer Länge von ca. 750 Metern an die nächstgelegene Gemeinde des Wahlkreises 1, die Verbandsgemeinde Herdorf-Daaden, an. Da auf der Gemeindegrenze zudem ein Truppenübungsplatz liegt, besteht keine direkte Straßenverbin42 § 9 Abs. 4 RhPf LWahlG a.F. verlangte einen Neuzuschnitt erst ab einer Abweichung von 33 1/3 % vom Wahlkreisdurchschnitt, bei der Neueinteilung orientierte man sich aber bereits an der 25 %-Grenze, wie sie das Landeswahlgesetz in seiner heutigen Fassung vorsieht; vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung v. 17.09.2014, LT-Drs. 16/3970, 8 f. 43 Wahlkreisbericht der Landesregierung v. 21.01.2014, LT-Drs. 16/3215, 6. 44 Dies behauptete zumindest der Bf. im Verfahren vor dem RhPf VerfGH (Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, juris Rn. 11 = NVwZ-RR 2016, 161 ff. [dort nicht abgedruckt]); die Einsichtnahme in das dort in Bezug genommene Schreiben v. 20.05.2014 wurde den Verf. vom Büro des Landeswahlleiters mit der Begründung verweigert, es handle sich um innerbehördlichen Schriftverkehr. 45 Gesetzentwurf der Landesregierung v. 17.09.2014, LT-Drs. 16/3970, 10. 46 A.a.O.
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Abbildung 3: Rheinland-Pfälzische Landtagswahlkreise 2016 (bearbeiteter Ausschnitt); © Statistisches Landesamt Pfalz.
dung zwischen Rennerod und der Nachbargemeinde. Um von Rennerod nach Herdorf-Daaden zu gelangen, muss vielmehr erst die Landesgrenze nach Nordrhein-Westfalen passiert werden.47 Auch politisch erregte der neue Wahlkreiszuschnitt Aufsehen. Der Bürgermeister von Rennerod, selbst Mitglied der auf Landesebene oppositionellen CDU, beklagte sich darüber, dass mit dem neuen Wahlkreis 1 ein „schlauchartiges Gebilde mit einem Anhängsel Verbandsgemeinde Rennerod“ entstehe, und wies darauf hin, dass seine Gemeinde kaum Bindungen zu den anderen Teilen des Wahlkreises unterhalte. Der Wahlkreis sei „ein künstliches Gebilde, das den Blick vor allen maßgeblichen Realitäten verschließe“ und in dem seine Gemein47
Wortbeitrag des Abg. Bracht (CDU), LT-PlPr. 16/80, 5328.
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de keine Chance mehr habe, personell und inhaltlich angemessen berücksichtigt zu werden. Er äußerte sogar den Verdacht, dass die Wahlkreisgestaltung ausschließlich aus sachfremden politischen Motiven gewählt worden sei.48 Ins selbe Horn stieß der örtliche Wahlkreisbewerber der CDU, Ralf Seekatz. Explizit warf er der SPD vor, sich durch den Neuzuschnitt ihre Mehrheiten zu sichern, vor allem die ihres Fraktionsvorsitzenden, der Angst habe, seinen Wahlkreis zu verlieren.49 Der angesprochene Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion Hendrik Hering hatte bei der Wahl 2011 das Direktmandat im Wahlkreis 5 mit einem Vorsprung von 5.209 Stimmen bei einer Gesamtstimmenzahl von 45.330 Stimmen vor Seekatz gewonnen. In der Verbandsgemeinde Rennerod erzielte Hering dabei sein zweitschlechtestes (41 %), Seekatz sein zweitbestes (41,6 %) Einzelergebnis.50 Im gesamten Wahlkreis kam Hering auf 46,9 % der Stimmen, Seekatz auf 35,4 %. Legt man diese Ergebnisse zugrunde, war die Abgabe von Rennerod für den SPD-Bewerber in der Tat die „attraktivere“ Lösung, auch wenn er ein Verlust des Direktmandats nicht ernsthaft befürchten musste. Bei der von Seekatz präferierten Ausgliederung der Verbandsgemeinde Bad Marienberg aus dem Wahlkreis 5 hätte sich hingegen genau der umgekehrte Effekt eingestellt: Hering erreichte dort 2011 mit 53,3 % der Stimmen sein zweitbestes, Seekatz mit nur 28,1 % sein zweitschlechtestes Ergebnis. Bei der Landtagswahl 2016 hatte der Neuzuschnitt des Wahlkreises 5 freilich keine erkennbaren Auswirkungen; im Gegenteil verzeichneten beide Kandidaten ein schlechteres Ergebnis als 2011, wobei sich der Vorsprung des SPD-Bewerbers sogar etwas verringerte. Tabelle 1: Erststimmenergebnisse Rheinland-Pfalz. Wahlkreis 5 Bad Marienberg (Westerwald)/Westerburg
Landtagswahl 2011 SPD
Landtagswahl 2016
CDU
SPD
CDU
Gesamtergebnis
46,9
35,4
43,6
34,5
Bad Marienberg
53,3
28,1
47,1
29,0
Hachenburg
54,2
27,6
51,5
28,8
Selters (Ww.)
42,4
37,3
38,5
37,0
Westerburg
40,3
44,7
35,6
43,4
Rennerod
41,0
41,6
[34,4]
[45,2]
Dass es sich bei dem Neuzuschnitt der Landtagswahlkreise 1 und 5 um einen echten Gerrymander gehandelt habe, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, der von Seekatz angerufen worden war, konnte jedenfalls nicht feststellen, dass bei der Neugestaltung der Wahlkreise „unsachge48 „Rennerod will kein Anhängsel von Wahlkreis 1 sein“, Rhein-Zeitung v. 24.02.2014, URL = https://www.rhein-zeitung.de/region/lokales/westerwald_artikel,-rennerod-will-kein-anhaengselvon-wahlkreis-1-sein-_arid,1113955.html; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 49 Wortbeitrag des Abg. Seekatz (CDU), LT-PlPr. 16/80, 5333. 50 Endgültiges Ergebnis der Landtagswahl 2011 für den Wahlkreis Bad Marienberg (Westerwald)/ Westerburg, URL = https://www.wahlen.rlp.de/ltw/wahlen/2011/ergebnisse/?L=0&tx_stalalwl_wahl%5 Bgebiet%5D=258&tx_stalalwl_wahl%5Baction%5D=show&tx_stalalwl_wahl%5Bcontroller%5D =Ergebnis&cHash=e5cab59f 75d6488c76237874b6b5b032; zuletzt abgerufen am 11.12.2018.
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rechte, da parteipolitische Erwägungen“ zugrunde gelegen hätten.51 Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch der Aspekt, dass der Gesetzgeber, der sich bei der Neueinteilung zwischen einer Abgabe von Bad Marienberg oder Rennerod entscheiden musste, diejenige Variante gewählt hat, die für den Mandatsinhaber, der noch dazu der Vorsitzende der regierungstragenden Fraktion war, auf der Grundlage des letzten Wahlergebnisses günstiger erschien. Auch dass der neugestaltete Wahlkreis 1 eine eigenartig langgezogene Form erhielt, die – nicht nur entfernt – dem „OriginalGerrymander“ ähnelt, ist nicht zu bestreiten. Geht man aufgrund dieser Indizien von Gerrymandering aus, wäre hier die Methode des packing zum Einsatz gekommen. Denn das Direktmandat im Wahlkreis 1 (alt) hatte 2011 der CDU-Bewerber errungen, dessen ohnehin schon deutlichem Vorsprung (prognostisch) die CDU-Wählerschaft in Rennerod zugeschlagen worden wäre.52 Die Chancen des SPD-Bewerbers auf eine Wiederwahl im Wahlkreis 5 hätten sich demnach – ebenso prognostisch – verbessert, da ihm in seinem Wahlkreis eine verminderte CDU-Wählerschaft gegenüber gestanden hätte. Das (geringe) Potential der CDU-Anhänger in Rennerod wäre auf diese Weise neutralisiert worden, da es sich im ohnehin christdemokratisch dominierten Wahlkreis 1 nicht entfalten konnte.
c) Bayerische Landtagsstimmkreise aa) Ausgangslage Welche politische Bedeutung der Wahlkreisgeographie auch in einem Verhältniswahlsystem zukommen kann, das um mehrheitswahlrechtliche Elemente lediglich angereichert ist, lässt sich besonders deutlich an der häufigen Neueinteilung von Stimmkreisen in Bayern ablesen. „Stimmkreise“ nennt die Bayerische Verfassung die Teile des Wahlgebiets, in denen eine Direktwahl stattfindet (Art. 14 Abs. 1 BayVerf ). Sie sind den sieben „Wahlkreisen“ zugeordnet, deren Gebiet den Regierungsbezirken entspricht. Die Wahlkreise sind als selbständige Wahlkörper konzipiert, in denen die Verhältniswahl stattfindet. Die landesweit zu erringenden 180 Mandate werden unter strikter Beachtung der Bevölkerungsproportionalität auf die Wahlkreise verteilt, wobei je Wahlkreis höchstens ein Stimmkreis mehr gebildet werden darf, als Abgeordnete aus der Wahlkreisliste zu wählen sind. Etwaige Überhangmandate fallen auf Wahlkreisebene an und werden auch dort ausgeglichen.53
51 RhPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, NVwZ-RR 2016, 161 ff.; näher dazu unten unter IV. 3. c) bb). 52 Auch 2016 setzte sich der CDU-Bewerber im Wahlkreis 1 durch und erzielte in Rennerod mit 45,2 % der Stimmen sein bestes Ergebnis; die SPD büßte ebendort 6,6 Prozentpunkte gegenüber 2011 ein; vgl. die Ergebnisse für den Wahlkreis Betzdorf/Kirchen (Sieg), URL = https://www.wahlen.rlp.de/ ltw/wahlen/2016/ergebnisse/?L=0&tx_stalalwl_wahl%5Bgebiet%5D=189&tx_stalalwl_wahl%5Bac tion%5D=show&tx_stalalwl_wahl%5Bcontroller%5D=Ergebnis&cHash=f96a883d6eb5bc04dda9a 45c4818bf19; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 53 Vgl. zum Ganzen Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff, BayVerf, 2. Aufl. 2017, Art. 14 Rn. 10 ff. m.N. aus der Rspr. des BayVerfGH.
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Die zum Teil drastische innerbayerische Bevölkerungsverschiebung54 macht vor dem Hintergrund der streng proportionalen Verteilung der Mandate auf die Wahlkreise häufige Stimmkreisreformen erforderlich. Beim Neuzuschnitt von Stimmkreisen hat der Gesetzgeber, anders als bei der Mandatsverteilung auf die Wahlkreise, einen gewissen Spielraum. Zwar sollen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 3 BayVerf die Stimmkreise grundsätzlich den Landkreisen und kreisfreien Gemeinden entsprechen, aus Gründen der Wahlgleichheit sind aber bei unterschiedlichen Bevölkerungszahlen abweichende, räumlich zusammenhängende Stimmkreise zu bilden (Satz 4). Art. 5 Abs. 2 Satz 3 BayLWahlG sieht vor, dass die Einwohnerzahl eines Stimmkreises von der durchschnittlichen Einwohnerzahl nicht um mehr als 15 % nach oben oder unten abweichen soll; ab einer Abweichung von mehr als 25 % ist eine Neuabgrenzung der Stimmkreise zwingend.55 Innerhalb dieser Grenzen sind in aller Regel auch mit Blick auf die vergleichsweise große Gesamtfläche der Wahlkreise geographisch sehr unterschiedliche Zuschnitte denkbar, so dass den Stimmkreisreformen einige politische Aufmerksamkeit zuteilwird und unterschiedliche Gestaltungen miteinander konkurrieren. Eine weitere Besonderheit Bayerns muss berücksichtigt werden, um den politischen Stellenwert der Stimmkreiszuschnitte adäquat zu erfassen: Seit der Wahl zum zweiten Bayerischen Landtag im Jahr 1950, bei der erstmals nach der „verbesserten Verhältniswahl“ gewählt wurde (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BayVerf ), errang die CSU stets die Mehrzahl der Direktmandate und übertraf dabei regelmäßig ihr Proporzergebnis bei weitem. Dabei nahm die CSU-Dominanz stetig zu. Bei der Landtagswahl 2003 gewannen die Christsozialen sogar alle Stimmkreise, 2008 und 2013 gingen jeweils nur ein Direktmandat an die SPD,56 2018 immerhin sechs an die Grünen. Über die personelle Zusammensetzung der (größten57) regierungstragenden Fraktion wird damit fast ausschließlich durch das Wahlvolk in den Stimmkreisen entschieden, genauer gesagt: durch die parteiinterne Aufstellung von Direktkandidaten, die anschließend vom Wahlvolk in den Stimmkreisen gewählt werden. So kamen bei der Landtagswahl 2018 überhaupt keine Listenbewerber der CSU zum Zuge, 2013 und 2008 waren es jeweils nur zwei. Ein CSU-Bewerber verfügt damit nur über ein (relativ) sicheres Mandat, wenn er auch einen „eigenen“ Stimmkreis hat. Selbst prominente Kandidaten haben nur schlechte Aussichten, über die Liste in den Landtag einzuziehen.58 Der Stimmkreiseinteilung kommt in Bayern damit nicht nur eine partei-, Vgl. dazu mit Fokus auf der Mandatszuweisung an die Wahlkreise Gärditz, BayVBl. 2011, 421 ff. mit Erwiderung von Thum, BayVBl. 2011, 428 ff. 55 BayVerfGH, Entsch. v. 12.07.1990 – Vf. 10-VII-89 –, BayVerfGHE 43, 100 (106) = BayVBl. 1990, 591 (593), geht von einer verfassungsrechtlichen Grenze von 33 1/3 % aus. Ob sich an dieser Grenze unter dem Eindruck von BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (365), wonach 33 1/3 % im Bundeswahlrecht künftig nicht mehr genüge, etwas ändere, wurde offengelassen von BayVerfGH, Entsch. v. 04.10.2012 – Vf. 14-VII-11 u.a. –, BayVerfGHE 65, 189 (212) = BayVBl. 2013, 140 (145), da der Gesetzgeber mit der Grenze von 25 % eine verfassungskonforme Regelung getroffen habe. 56 Beide Male im Stimmkreis 104 München-Milbertshofen. 57 Zu einer Koalitionsregierung kam es seit der Landtagswahl 1966 nur zweimal: von 2008 bis 2013 (CSU/FDP) und seit 2018 (CSU/FW). 58 So schied selbst die vormalige Landtagspräsidentin Barbara Stamm, trotz „unangefochtene[r] Autorität“ 2018 aus dem Landtag aus, da sie über kein Direktmandat verfügte; s. Wittl, „Eine Politik-Ära 54
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sondern vor allem eine personalpolitische Relevanz zu, die in anderen Ländern und auf Bundesebene ihresgleichen sucht.
bb) Stimmkreisreform 2013 Beispiele für personalpolitisch motivierte Stimmkreiszuschnitte liefert die Stimmkreisreform, die der Landtagswahl 2013 vorausging. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung musste im Wahlkreis Oberbayern die Zahl der Mandate um zwei erhöht, in den Wahlkreisen Oberpfalz und Oberfranken jeweils um eins verringert werden.59 Während der Wegfall des Stimmkreises in der Oberpfalz vergleichsweise unspektakulär vonstattenging, nahmen sich die von der Staatsregierung vorgeschlagene und vom Landtag beschlossene Neueinteilung der Stimmkreise in Oberfranken und Oberbayern hingegen einigermaßen kurios aus. In Oberfranken wurden die bisherigen Stimmkreise Kulmbach und Wunsiedel im Fichtelgebirge zu einem Stimmkreis zusammengelegt. Die vorher zum Stimmkreis Kulmbach gehörenden Gemeinden des Landkreises Bayreuth wurden dem Stimmkreis Bayreuth – bestehend aus Stadt und Landkreis Bayreuth – zugeteilt. Da die Landkreise Kulmbach und Wunsiedel jedoch keine gemeinsame Grenze aufweisen, sondern durch den Landkreis Bayreuth voneinander getrennt werden, wurde eine Handvoll Bayreuther Gemeinden dem neuen Stimmkreis zugeschlagen, um die darin vereinigten Landkreise einem Korridor gleich miteinander zu verbinden. Das neugeschaffene Gebilde mit dem Namen Wunsiedel, Kulmbach erhielt aufgrund seiner ungewöhnlichen Form den spöttischen Beinamen „Hundeknochen-Stimmkreis“.60 Nicht nur die Gestalt und die Zusammenfassung zweier historisch, wirtschaftlich, kulturell und landsmannschaftlich äußerst inhomogener Gebiete61 sorgten für Aufsehen. Bemerkenswert war auch, dass mit dem „Hundeknochen“ ein Stimmkreis entstanden war, der sich mit einer positiven Abweichung von 24,2 % nur knapp unter der gesetzlichen Höchstgrenze von 25 % bewegte.62 Dennoch handelte es sich beim Stimmkreiszuschnitt nicht im technischen Sinne um einen Gerrymander. Dass die CSU-Kandidaten die betroffenen Stimmkreise auch 2013 mit deutlicher Mehrheit gewinnen würden, stand außer Frage.
vor ihrem Ende“, Süddeutsche.de v. 30.09.2018, URL = https://www.sueddeutsche.de/bayern/barba ra-stamm-eine-politik-aera-vor-ihrem-ende-1.4149382; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 59 Bericht der Bayerischen Staatsregierung über die Veränderung der Einwohnerzahlen in den Wahl- und den Stimmkreisen nach Art. 5 Abs. 5 des Landeswahlgesetzes v. 29.02.2011 (nicht veröffentlicht), 4. 60 Müller, „CSU gegen CSU bei Wahlreform“, SZ v. 14.10.2011, Bayern, 33; „Der ‚HundeknochenStimmkreis‘“, Mainpost online v. 05.09.2013, URL = https://www.mainpost.de/ueberregional/bay ern/Der-Hundeknochen-Stimmkreis;art16683,7662405; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 61 Vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 04.10.2012 – Vf. 14-VII-11 u.a. –, BayVerfGHE 65, 189 (217 f.) = BayVBl. 2013, 140 (146). 62 Vgl. Gesetzentwurf der Staatsregierung v. 06.06.2011, LT-Drs. 16/8800, 26, der aber ein weiteres Absinken der Bevölkerung bis zum Wahltag prognostiziert und die Abweichung dann mit + 22,8 % veranschlagt.
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Abbildung 4: Oberfränkische Stimmkreise 2013 (bearbeiteter Ausschnitt); © Bayerisches Landesamt für Statistik.
Nicht von der Hand zu weisen ist indes eine mögliche personalpolitische Motivation der auffälligen Stimmkreisbildung: Der 2008 direkt gewählte Bayreuther Abgeordnete trat bei der Landtagswahl 2013 nicht mehr an. An seine Stelle rückte 2013 die bisherige Kulmbacher Mandatsträgerin, deren Heimatgemeinde durch die Neueinteilung dem Stimmkreis Bayreuth zufiel. Der bisherige Inhaber des Wunsiedler Direktmandats kandidierte 2013 wiederum im neuen Stimmkreis Wunsiedel, Kulmbach, durch dessen Zuschnitt also vermieden werden konnte, dass einer der beiden christ-
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sozialen Mandatsinhaber, die 2013 erneut zur Wahl standen, „seinen“ Stimmkreis verlieren würde. Noch stärkere Anhaltspunkte für eine personalpolitisch motivierte Stimmkreis einteilung bestehen mit Blick auf den neugeschaffenen oberbayerischen Stimmkreis. Bereits im Stimmkreisbericht der Staatsregierung war die Bildung eines neuen Stimmkreises „im Norden Oberbayerns“ vorgeschlagen worden, für den die bisherigen überdurchschnittlich großen Stimmkreise Ingolstadt, Neuburg a. d. Donau und Pfaffenhofen a. d. Ilm, Schrobenhausen in drei Stimmkreise aufgeteilt werden sollten.63 Zu diesem Zweck wurden die Stadt Ingolstadt und der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen jeweils als eigener Stimmkreis ausgewiesen. Da der Stimmkreis Neuburg-Schrobenhausen aber unter die 25 %‑Grenze gefallen wäre, wurden ihm drei einzelne Pfaffenhofener Gemeinden – gegen ihren Protest64 – zugeschlagen. Die verbleibenden Pfaffenhofener Gemeinden wurden wiederum zu einem eigenen Stimmkreis zusammengefasst. Die drei neu zugeschnittenen Stimmkreise wichen deutlich nach unten vom Bevölkerungsdurchschnitt ab: Ingolstadt hatte 15,5 % weniger, Neuburg-Schrobenhausen 23,3 % weniger und Pfaffenhofen 22,8 % weniger Einwohner als der durchschnittliche bayerische Stimmkreis. Damit wurde bei allen dreien die gesetzliche Soll-Vorgabe von maximal +/– 15 % Abweichung nicht eingehalten. Die beiden letztgenannten Stimmkreise lagen sogar nahe an einem Verstoß gegen die zwingende 25 %‑Grenze. Da in Oberbayern für die Wahl 2013 insgesamt 30 Stimmkreise vorgesehen waren, wären zahlreiche andere Zuschnitte in Betracht gekommen, bei denen die Bevölkerung gleichmäßiger verteilt worden wäre. Die Oppositionsfraktionen hatten den Grund dafür, dass die Staatsregierung und die regierungstragenden Fraktionen von CSU und FDP ausgerechnet in der Ingolstädter Region einen neuen Stimmkreis schaffen wollten, schnell ausgemacht: Der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer, der bei der Amtsübernahme nach der Landtagswahl 2008 über kein Landtagsmandat verfügt hatte, sollte, so die Vorwürfe, mit seinem eigenen Stimmkreis „abgesichert“ werden.65 In der Tat kandidierte Seehofer, wohnhaft im Stadtgebiet von Ingolstadt, bei der Landtagswahl 2013 erfolgreich im Stimmkreis Neuburg-Schrobenhausen. Das Direktmandat im neu geschaffenen Stimmkreis Ingolstadt ging an Christine Haderthauer, die 2008 noch im Stimmkreis Ingolstadt, Neuburg a. d. Donau angetreten und von Seehofer ins Kabinett berufen worden war. Durch die Neuzuschnitte der Stimmkreise in der Ingolstädter Gegend konnte also zwei führenden Landespolitikern ein Sitz im Landtag verschafft bzw. gesichert 63 Bericht der Bayerischen Staatsregierung über die Veränderung der Einwohnerzahlen in den Wahl- und den Stimmkreisen nach Art. 5 Abs. 5 des Landeswahlgesetzes v. 29.03.2011 (nicht veröffentlicht), 12 ff. 64 Vgl. Jung, „Ein Landkreis – ein Stimmkreis“, in: Augsburger Allgemeine online v. 20.10.2011; URL = https://www.augsburger-allgemeine.de/neuburg/Ein-Landkreis-ein-Stimmkreis-id17207366. html; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 65 S. die Wortbeiträge des Abg. Schindler (SPD), LT-PlPr. 16/78, 9, und der Abg. Tausendfreund (Grüne), LT-PlPr. 16/78, 19 und LT-PlPr. 16/85, 19; StM Herrmann (CSU) führte demgegenüber aus, dass es angesichts der Bevölkerungsentwicklung eine „vertretbare und naheliegende Entscheidung sei, einen neuen Stimmkreis im Raum Ingolstadt zu bilden (LT-PlPr. 16/78, 39 – s. dort auch den Zwischenruf des Ministerpräsidenten Seehofer: „Aber nicht für mich!“, den StM Herrmann wiederum wie folgt kommentierte: „Sie sehen, man muss nicht dem Landtag angehören, um Ministerpräsident dieses Landtags zu sein. Das tut seiner Arbeit überhaupt keinen Abbruch.“).
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werden, ohne einen der amtierenden Direktkandidaten zu „verdrängen“. Um Gerrymandering im technischen Sinne handelte es sich auch dabei nicht, da die CSU zu keinem Zeitpunkt um den Verlust der nordoberbayerischen Stimmkreise fürchten musste, das Wählerverhalten als solches also nicht zum Anlass der Neuzuschnitte genommen wurde. Obwohl die Stimmkreise Wunsiedel, Kulmbach und Neuburg-Schrobenhausen keine Gerrymander im eigentlichen Sinne darstellen, belegen sie doch, welcher Stellenwert der Stimmkreiseinteilung in Bayern zukommt. Im Vordergrund steht dabei nicht der parteipolitische Vorteil, sondern die personalpolitische Weichenstellung, die dem Umstand geschuldet ist, dass sich die regierungstragende CSU-Fraktion (fast) ausschließlich aus Direktkandidaten zusammensetzt. Da es aber bei den dargestellten Fällen – das legen jedenfalls die Bevölkerungszahlen nahe – nicht in erster Linie um eine gleichmäßige Einteilung des Wahlgebiets, sondern um wahlrechtlich betrachtet „sachfremde“ Einflussnahmen auf die Wahlentscheidung ging, lassen sich die klassischen Kategorien des Gerrymanderings – partisan und racial gerrymandering – um eine „bayerische Spielart“ ergänzen: das personalpolitische Gerrymandering (Bavarian gerrymandering).
cc) Stimmkreisreform 2018 Doch die Stimmkreiszuschnitte in Bayern liefern auch Anschauungsmaterial für veritables partisan gerrymandering, nämlich dort, wo die christsoziale Dominanz bei den Direktmandaten stets gefährdet war: in München. Zwar gelang es der SPD bei den Landtagswahlen 2008 und 2013 jeweils nur, ein Münchener Direktmandat zu gewinnen, doch war der Vorsprung der CSU-Bewerber in den übrigen Stimmkreisen relativ knapp. Tabelle 2: Erststimmenergebnisse München. Erststimmenergebnisse absolut/relativ
Landtagswahl 2008 CSU
Landtagswahl 2013
SPD
CSU
SPD
101 M.-Hadern
22.698
30,6
20.582
27,8
24.401
37,5
20.199
31,1
102 M.-Bogenhausen
20.461
31,0
17.847
27,1
27.054
36,3
21.595
28,9
103 M.-Giesing
21.790
30,4
19.990
27,9
27.623
33,8
23.774
29,1
104 M.-Milbertshofen
14.978
26,8
22.307
39,9
24.865
32,3
26.005
33,8
105 M.-Moosach
17.825
34,6
15.651
30,4
22.996
39,5
18.465
31,7
106 M.-Pasing
23.249
37,0
17.122
27,2
29.670
42,0
19.192
27,1
107 M.-Ramersdorf
20.925
37,6
14.263
25,6
26.822
43,0
18.411
29,5
108 M.-Schwabing
17.093
28,9
16.368
27,6
23.134
31,6
21.405
29,2
Besonders umkämpft war bei beiden Wahlen das Direktmandat im Stimmkreis München-Schwabing, das der CSU-Bewerber nur mit 725 bzw. 1.729 Stimmen Vorsprung vor der SPD-Kandidatin erringen konnte. Wie dramatisch sich die „Münchener Si-
70
Fabian Michl und Roman Kaiser
tuation“ für die CSU darstellte, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass in den meisten Stimmkreisen auch die Bewerber der Grünen ein Ergebnis von über 10 % erzielten. In München-Schwabing kamen sie 2008 und 2013 sogar auf 18,1 % (10.720) bzw. 17,7 % (12.977) der Stimmen. In allen Münchener Stimmkreisen – bis auf die vorstädtisch geprägten Stimmkreise München-Pasing und München-Ramersdorf – stand dem CSU-Erststimmenergebnis damit jeweils eine deutliche rot-grüne Mehrheit gegenüber. Ein nur geringfügiges taktisches Stimmensplitting der grünen Wählerschaft zugunsten der SPD-Bewerber hätte der CSU weitere vier Direktmandate gekostet.66 Dass bei der Stimmkreisreform für die Landtagswahl 2018 aufgrund des Bevölkerungsanstiegs ausgerechnet ein weiterer Münchener Stimmkreis gebildet werden sollte, war vor diesem Hintergrund von besonderer parteipolitischer Brisanz. Da bei den Münchener Stimmkreisen das verfassungsrechtliche Deckungsprinzip, nach dem die Stimmkreise dem Gebiet der Landkreise bzw. kreisfreien Gemeinden entsprechen sollen, nicht zum Tragen kommt, hatte der Gesetzgeber beim Neuzuschnitt weitgehend freie Hand. Die Staatsregierung schlug die Bildung eines neuen Stimmkreises München-Mitte aus Gebietsteilen der bestehenden Münchener Stimmkreise mit Ausnahme von Pasing und Ramersdorf vor.67 Der Vorschlag wurde trotz heftiger Kritik aus den Reihen der Opposition vom Landtag angenommen. Besonders die SPD erhob explizit den Vorwurf des parteipolitisch motivierten Gerrymandering,68 der auch nicht aus der Luft gegriffen war. Welchen strukturellen Vorteil sich die CSU aus der Bildung des neuen Stimmkreises versprechen konnte, verdeutlicht eine Umrechnung der Erststimmenergebnisse von 2013 auf die neu zugeschnittenen Münchener Stimmkreise.69 Tabelle 3: Erstimmenumrechnung München. Erststimmenergebnisse
Zuschnitt 2013
absolut/relativ
CSU
Zuschnitt 2018
SPD
CSU
SPD
101 M.-Hadern
24.401
37,5
20.199
31,1
25.069
39,7
19.368
30,6
102 M.-Bogenhausen
27.054
36,3
21.595
28,9
21.641
40,6
14.792
27,8
103 M.-Giesing
27.623
33,8
23.774
29,1
26.464
34,5
22.204
28,9
104 M.-Milbertshofen
24.865
32,3
26.005
33,8
21.372
32,6
22.152
33,8
105 M.-Moosach
22.996
39,5
18.465
31,7
22.473
38,7
18.532
31,9
108 M.-Schwabing
23.134
31,6
21.405
29,2
19.191
33,7
16.375
28,8
–
–
–
–
13.861
24,8
18.019
32,3
109 M.-Mitte
66 Da für den Proporz nach Art. 45 Abs. 1 Satz 2 BayLWahlG Erst- und Zweitstimmen zusammengerechnet werden, ist in Bayern „taktisches Stimmensplitting“ weniger attraktiv als im Bundeswahlrecht. 67 Gesetzentwurf der Staatsregierung v. 29.11.2016, LT-Drs. 17/14472, 10 f. 68 Wortbeitrag des Abg. Schindler (SPD), LT-PlPr. 17/98, 8621: „Das nennt man in den USA Gerrymandering. Dort hat man das zur Perfektion getrieben. Aber die CSU kann das schon auch ganz gut.“ 69 Der Landeswahlleiter hat die Ergebnisse der Landtagswahl 2013 auf sämtliche Stimmkreise umgerechnet; URL = https://www.wahlen.bayern.de/landtagswahlen/ (dort unter „Landtagswahlen/ Landtagswahl am 14. Oktober 2018/Ergebnisse der Landtagswahl 2013 umgerechnet auf die Stimmkreiseinteilung 2018“); zuletzt abgerufen am 11.12.2018.
Wer hat Angst vorm Gerrymander?
71
Die Umrechnung ergibt zwar, dass – eine Wiederholung des Ergebnisses von 2013 unterstellt – die SPD nunmehr zwei Direktmandate erringen würde, mit großem Abstand auch das im neuen Stimmkreis 109 München-Mitte. Doch zugleich vergrößerte sich der Vorsprung der CSU-Kandidaten in den übrigen Stimmkreisen deutlich. Die Neueinteilung verschaffte vor allem dem CSU-Bewerber im heiß umkämpften Schwabinger Stimmkreis, Ludwig Spaenle – seit 2008 bayerischer Kultusminister und seit 2011 Vorsitzender des CSU-Bezirks München –, einen deutlichen Vorteil gegenüber seiner SPD-Konkurrentin.70 Denn die Schwabinger Stimmbezirke, in denen die SPD 2013 den höchsten Stimmenanteil erzielt hatte, wurden dem neuen Stimmkreis München-Mitte zugeschlagen. Dadurch verbesserte sich Spaenles Erststimmenergebnis nach der Umrechnung von 31,6 % auf 33,7 %, während sich das seiner sozialdemokratischen Mitbewerberin von 29,2 % auf 28,8 % verschlechterte. Das Gerrymandering im Fall der Münchener Stimmkreise lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Von den zahlreichen möglichen Stimmkreiszuschnitten wurde exakt derjenige gewählt, der aus einer Ex-ante-Perspektive die Chancen der CSU-Mandatsinhaber verbessern und damit einen Verlust der Münchener Direktmandate verhindern würde. Zum Einsatz kam dabei, da sich die SPD-Erfolge in München – prognostisch – nicht eindämmen ließen, die Technik des packing: Im neuen Stimmkreis München-Mitte sollte die sozialdemokratische und grüne Wählerschaft konzentriert und gleichzeitig aus den umliegenden Stimmkreisen, vor allem München-Schwabing, zum Vorteil der CSU-Bewerber abgezogen werden. Mit München-Mitte würde dann zwar eine „rot-grüne“ Hochburg entstehen, die CSU-Direktmandate im übrigen Stadtgebiet wären aber gesichert. In der Presse wurde der Stimmkreis daher auch treffend „Bad Bank der CSU“ genannt.71 Dass die SPD-Kandidaten bei der Landtagswahl 2018 tatsächlich keine Rolle spielen würden und stattdessen fünf der nunmehr neun Münchener Direktmandate (darunter M.-Schwabing und M.-Mitte) an Bewerber der Grünen gehen sollten, war bei Verabschiedung der Stimmkreisreform im März 2017 noch nicht abzusehen. Auch wenn er also nicht den gewünschten Erfolg brachte, kann der Stimmkreis München-Mitte als echter Gerrymander gelten.
d) Berliner Bundestagswahlkreise Anhaltspunkte für Gerrymandering gab es schließlich beim Neuzuschnitt der Berliner Wahlkreise für die Bundestagswahl 2002. 1998 beschloss der Bundestag einstimmig, die gesetzliche Mitgliederzahl von 656 auf 598 zu reduzieren. Die Zahl der Bundestagswahlkreise wurde in der Folge von 328 auf 299 verringert. Insgesamt wurden 167 Wahlkreise neu zugeschnitten, darunter auch die von 13 auf zwölf reduzierten Wahlkreise in Berlin. Das hatte vor allem Auswirkungen auf die PDS. 1994 konnte diese nur aufgrund vier gewonnener Berliner Direktmandate in Gruppenstärke in den Bundestag einziehen. 1998 gelang der Sprung über die 5-%-Hürde nur 70 Die SPD-Stimmkreisbewerberin erhob deshalb im Landtag den Vorwurf einer „Lex Spaenle“. S. den Zwischenruf der Abg. Zacharias (SPD), LT-PlPr. 17/98, 8621. 71 Issig, „Dieser Mann soll für die CSU München retten“, Welt online v. 09.09.2018, URL = https:// www.welt.de/regionales/bayern/article181456230/Landtagswahl-Dieser-Mann-soll-fuer-die-CSUMuenchen-retten.html; zuletzt abgerufen am 11.12.2018.
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Fabian Michl und Roman Kaiser
äußerst knapp mit 0,1 Prozentpunkten; immerhin konnte sie aber ihre Direktmandate in Berlin verteidigen. Mit der Wahlkreisreform 2002 zeichnete sich jedoch ein Verlust dieser Berliner „Hausmacht“ ab.72 Nach einer prognostischen Umrechnung der Ergebnisse von 1998 auf die neuen Wahlkreiszuschnitte war abzusehen, dass die PDS-Bewerber nur noch in zwei Wahlkreisen Erfolg haben würden. Vor allem der 1998 von Petra Pau (PDS) nur mit knappem Vorsprung gewonnene Wahlkreis Berlin Mitte würde nunmehr mit einem Rückstand von fast 50.000 Stimmen an den Bewerber SPD gehen.73 Tabelle 4: Erstimmenergebnisse Berlin (Bundestag). Wahlkreis Marzahn – Hellersdorf Lichtenberg-Hohenschönhausen Mitte Friedrichsh. – Kreuzbg – Prenzl. Berg-Ost Pankow
Ergebnis 1998
Prognose 2002
Ergebnis 2002
+ 31.656
unverändert
+ 5.666
–
+ 17.210
+ 10.201
+ 283
– 48.715
– 42.061
+ 14.039
– 18.134
– 12.076
+ 3.293
– 5.562
– 31.115
Die in der Umrechnung vorweggenommene Tendenz schlug sich im Wahlergebnis von 2002 tatsächlich nieder, wenn auch der PDS-Vorsprung in Marzahn – Hellersdorf entgegen der Prognose deutlich geringer, der Rückstand in Pankow deutlich größer ausfiel. Beide Abweichungen sind jedoch mit einem Wechsel bei den Wahlkreisbewerbern zu erklären.74 Zwar war das PDS-Erststimmenergebnis im gesamten Berliner Wahlgebiet um 55.731 Stimmen geringer ausgefallen als noch 1998, doch auch die SPD musste ein Minus in Höhe von 65.023 bei den Erststimmen hinnehmen. Die relative Stärke der PDS bei den Erststimmen ging von 1998 (16,6 %) auf 2002 (14,5 %) zwar zurück,75 jedoch nicht in einem Maße, das den Verlust der Hälfte ihrer Direktmandate nahegelegt hätte. Hauptursächlich für die Mandatseinbußen der PDS waren in der Tat die Wahlkreiszuschnitte. Am deutlichsten zu erkennen ist dies am Neuzuschnitt des Wahlkreises Mitte: Bestand dieser 1998 aus den Ostberliner Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg, kamen 2002 die Westberliner Gebiete Tiergarten und Wedding hinzu; das Gebiet Prenzlauer Berg-Ost wurde dem Wahlkreis Friedrichshain –Kreuzberg – Prenzlauer Berg-Ost zugeschlagen. Im neu zugeschnittenen Wahlkreis Mitte wurden also West- und Ostberliner Gebiete zusammengelegt und somit das im Osten der Stadt besonders starke Wählerpotential der PDS durch die Hinzunahme der Westberliner Wähleranteile neutralisiert; die Abgabe des PDS-dominierten Gebiets Prenzlauer Berg-Ost verstärkte diesen Effekt. Doch konnte die damit dem Wahlkreis Friedrichs72 Vgl. auch Hipp, „Die geschleiften PDS-Hochburgen“, in: Spiegel online v. 16.09.2002, URL = http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wahlkreisreform-die-geschleiften-pds-hochburgen-a213969.html; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 73 Daten aus Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Arbeitspapier Nr. 50. Bundestagswahlen 2002 – Kandidatenentwicklung und Personalwechsel, 2001, 19 f. 74 In Marzahn – Hellersdorf kandidierte 2002 für die PDS Petra Pau statt Gregor Gysi; Wolfgang Thierse trat für die SPD statt in Mitte in Pankow an. 75 Auch der SPD-Erststimmenanteil reduzierte sich von 40,6 % auf 38,9 %.
Wer hat Angst vorm Gerrymander?
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hain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg-Ost zugeordnete PDS-Wählerschaft auch dort ihr Potential nicht entfalten, da sie sich durch die Hinzunahme des Westberliner Stadtteils Kreuzberg nunmehr einer deutlichen sozialdemokratischen Mehrheit gegenüber sah. Der relativ knappe Vorsprung der PDS im Wahlkreis Pankow wurde durch die Abgabe Hohenschönhausens und durch die Einbeziehung des stärker sozialdemokratisch geprägten Gebiets Prenzlauer Berg-West76 ins Gegenteil verkehrt. Im neu geschaffenen Wahlkreis Lichtenberg-Hohenschönhausen, der ausschließlich aus Ostberliner Stadtteilen bestand, wurde die PDS-Wählerschaft schließlich regelrecht geballt. Ein unbefangener Blick auf die Wählerverschiebungen legt den Einsatz der beiden klassischen Methoden des Gerrymanderings zulasten der PDS nahe.77 In Mitte und Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg-Ost wäre nach dieser Lesart die PDS-Wählerschaft durch cracking neutralisiert, in Lichtenberg-Hohenschönhausen durch packing konzentriert worden. Für die Partei hatte dies dramatische Folgen: Da sie bei der Bundestagswahl 2002 nur noch auf 4,0 % der Zweitstimmen kam und ihre grundmandatsrelevanten Direktmandate in Berlin verlor, war sie im 15. Deutschen Bundestag nur mehr mit den zwei verbliebenen Berliner Abgeordneten vertreten. Doch ließen sich für den Neuzuschnitt der Berliner Wahlkreise durchaus sachliche Gründe anführen. So wurde die Zahl der Berliner Bezirke zum Jahresanfang 2001 von 23 auf zwölf reduziert. Bei Beibehaltung der alten Wahlkreiseinteilung wären sieben Bezirke durch Wahlkreisgrenzen durchschnitten worden. Bereits die parteipolitisch unabhängige Wahlkreiskommission78 hatte daher die Neueinteilung vorgeschlagen.79 Ihr Vorschlag, durch den zehn der zwölf neuen Berliner Bezirke einheitlich jeweils einem Bundestagswahlkreis zugeordnet werden konnten, wurde von den regierungstragenden Fraktionen lediglich übernommen.80 Letztlich stimmte auch die PDS-Fraktion der Neueinteilung zu,81 da sie „unter Abwägung aller Konflikte […] keine rationale, nachvollziehbare Alternative anzubieten“ hatte – freilich nicht ohne darauf hinzuweisen, dass bereits die Neugliederung der Berliner Bezirke mit der Absicht betrieben worden sei, „die PDS erst einmal aus den Berliner Rathäusern rauszuhal76 So jedenfalls die Einschätzung von Eisel/Graf, Die PDS und die Bundestagswahl 2002, Arbeits papier der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2001, 7, URL = https://www.kas.de/c/document_library/get_ file?uuid=2d5112e6-a6f6-4767-0e69-e36a16e34d04&groupId=252038; zuletzt abgerufen am 11.12. 2018. 77 Vgl. auch Hipp (Fn. 72): „So deutlich benachteiligt die Wahlkreisreform die PDS, dass man fast ein Komplott der übrigen Bundestagsfraktionen dahinter vermuten könnte“. 78 Vgl. § 3 Abs. 2 BWahlG: „Der Bundespräsident ernennt eine ständige Wahlkreiskommission. Sie besteht aus dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, einem Richter des Bundesverwaltungsgerichts und fünf weiteren Mitgliedern.“; Mitglieder der Wahlkreiskommission für die 14. WP der Präsident des Statistischen Bundesamtes Johann Hahlen (Vorsitzender), Hans Engel (stellv. Vorsitzender; MDg im Innenministerium NRW), Petra Dalhammer (MRin im sächs. Innenministerium), Peter Gielen (RiBVerwG), Dietmar Lutz (MDg im Innenministerium SH), Volker Pawlitzki (Dir. des Statistischen Landesamtes M-V) sowie Peter Zimmermann (Ltd. MR im Innenministerium BW); vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung v. 20.01.2000, BT-Drs. 14/2597, 3; die jeweiligen Landesministerien waren sämtlich SPD- bzw. CDU-geführt. S. zu Wahlkreiskommissionen auch noch unten IV. 1. c). 79 Unterrichtung durch die Bundesregierung v. 20.01.2000, BT-Drs. 14/2597, 13. 80 Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen v. 07.11.2000, BT-Drs. 14/4497, 33. 81 BT-PlPr. 14/149, 14586 verzeichnet nur eine Enthaltung aus den Reihen der PDS, die im Übrigen geschlossen für den Gesetzentwurf stimmte.
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ten“.82 Von einer Manipulation der Bundestagswahlkreise zulasten der PDS lässt sich aber nach alledem nicht sprechen.
3. Resümee Die Fallbeispiele belegen, dass der Gerrymander auch im System der personalisierten Verhältniswahl heimisch werden kann und – jedenfalls im Landeswahlrecht – bereits heimisch geworden ist. Die politische Bedeutung der Direktmandate kann die Mehrheitsfraktionen in den über die Wahlkreiseinteilung entscheidenden Parlamenten durchaus dazu verleiten, die Wahlkreisgrenzen nach ihren Interessen und Bedürfnissen zu ziehen. Selbst dort, wo die Verfassung vergleichsweise weitreichende Vorgaben macht, bleibt noch Spielraum für „eigennützige“ Zuschnitte. Das demonstriert besonders anschaulich die Praxis in Bayern, die mit dem personalpolitisch motivierten Bavarian gerrymander zudem eine ganz eigene Subspezies hervorgebracht hat. Bei Bundestagswahlen sind Gerrymander-Sichtungen noch rar. Der Berliner Verdachtsfall erwies sich in der Gesamtschau nicht als Wahlkreismanipulation, zeigt aber doch, wie gerade bei örtlich radizierten Wählerschaften – PDS in Ostberlin – die Wahlkreiseinteilung auch auf Bundesebene zum cracking und packing eingesetzt werden könnte.
IV. Rechtliche Einhegung Gerrymandering ist eine Herausforderung für jede repräsentative Demokratie. Schon im Jahr 1907 brandmarkte der US-amerikanische Politologe Elmer C. Griffith den Gerrymander als „a species of fraud, deception, and trickery which menaces the perpetuity of the Republic of the United States more threateningly than does, perhaps, the injustice of unjust taxation, for it deals more fundamentally with representative government.“83 Die von Griffith beschriebene Gefahr für die US-amerikanische Demokratie ist heute wohl größer denn je.84 Auch wenn der Fortbestand des repräsentativ-demokratischen Systems hierzulande unter anderen wahlrechtlichen Vorzeichen durch manipulative Wahlkreiszuschnitte nicht ernsthaft gefährdet erscheint, drängt sich doch die Frage auf, ob und inwieweit der Gerrymander rechtlich eingehegt werden kann und sollte. Immerhin sind Wahlkreismanipulationen auch bei verminderter Proporzrelevanz dazu angetan, den politischen Prozess auf sachwidrige Weise zu beeinträchtigen, indem sie der Mehrheit im Parlament Vorteile gegenüber der Konkurrenz verschaffen. Auch wenn verfassungsrechtliche Maßstäbe bereitstehen, mit denen solchem Machtmissbrauch beizukommen ist, ist keineswegs klar, durch wen diese zur Geltung gebracht werden. Auf eine Selbstregulation des demokratischen Prozesses zu setzen, dürfte dessen Leistungsfähigkeit jedenfalls überschät Wortbeitrag der Abg. Pau (PDS), BT-PlPr. 14/149, 14581 f. Griffith (Fn. 3), 7. 84 Vgl. Levitsky/Ziblatt, Wie Demokratien sterben, 2018, 180 ff., 246 f. (an den Beispielen der Wahlkreisreformen in Texas 2003 und North Carolina 2011). 82
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zen. Der Gerrymander ruft vielmehr bereits aus demokratietheoretischer Perspektive die dritte Gewalt in ihrer Rolle als „Wettbewerbshüterin“ des demokratischen Prozesses auf den Plan (1). Darüber, wie die Judikative ihre Kontrollbefugnisse auszuüben hat, lässt sich aber trefflich streiten. Das zeigt besonders eindrucksvoll die US-amerikanische Erfahrung, in der die höchstrichterliche Judikatur den Gerrymander bis heute weitgehend gewähren lässt (2). Im deutschen Verfassungsraum bestehen hingegen weitaus bessere Aussichten darauf, dass der Gerrymander gerichtlich eingehegt wird, auch wenn noch kaum einschlägige Judikatur vorliegt (3).
1. Demokratietheoretische Präliminarien a) Der Gerrymander als Kreatur der Mehrheit Der Gerrymander ist, wie bereits der „Sündenfall“ im Massachusetts des Jahres 1812 zeigt, eine Kreatur der parlamentarischen Mehrheit. Die Verfassungen repräsentativ-demokratischer Systeme, die ihre Volksvertretungen in einer Mehrheitswahl oder einer Wahl mit mehrheitswahlrechtlichen Elementen wählen lassen, vertrauen die Einteilung von Wahlkreisen der Legislative an,85 die über sie üblicherweise mit einfacher Majorität entscheidet. Das gilt für die Verfassung des Commonwealth von Massachusetts aus dem Jahr 178086 ebenso wie für die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787,87 die Verfassungen der deutschen Länder88 und, wenn auch nur mittelbar, da es sich auf überhaupt kein Wahlsystem festlegt, auch für das Grundgesetz (Art. 38 Abs. 3 GG). Der Verfassungsgeber trägt mit der Delegation der Wahlkreiseinteilung an den Gesetzgeber einer Sachnotwendigkeit Rechnung: Sollen die Wahlkreise an die Bevölkerungsentwicklung angepasst werden, um aus Gründen der Wahlgleichheit einen einheitlichen Repräsentationsschlüssel zu wahren, kann die Verfassung die Einteilung nicht vorwegnehmen, sondern ist auf das Parlamentsgesetz als flexibles Gestaltungsmittel angewiesen. Die Verfassung kann der Legislative nur mehr oder weniger detaillierte Vorgaben machen und Kriterien an die Hand geben, nach denen die Wahlkreise einzuteilen sind; häufig verzichtet sie selbst darauf. Die Entscheidung über den Zuschnitt der Wahlkreise trifft letztlich die Mehrheit im Parlament. In vordemokratischer Zeit wurde die Wahlkreiseinteilung bisweilen auch der Exekutive überlassen. So bestimmte etwa das bayerische Gesetz, die Wahl der Landtags-Abgeordneten betreffend (Verfassungsgesetz) v. 04.06.1848, dass je ein Abgeordneter auf „31,000 Seelen der Gesammt-Bevölkerung“ entfallen solle (Art. 1) und die „hiernach sich ergebende Zahl von Abgeordneten […] durch die Regierung auf die einzelnen Kreise verteilt“ werde (Art. 2 – Hervorhebung nicht im Original). Daran wurde bis zum Landtagswahlgesetz v. 09.04.1906 (Verfassungsgesetz) festgehalten, das die Wahlkreise dann selbst in einer Anlage abgrenzte (Art. 2). Exekutive Wahlkreiseinteilungen kommen heute noch in sog. gelenkten Demokratien vor; vgl. etwa zur Praxis in Singapur Au Waipang, in: Chong (Hrsg.), Management of Success, 2010, 100 (106). 86 Vgl. Abschn. 2 Art. I der ursprünglichen Verfassung, die heute weitreichend durch die Änderungsartikel XIII, XVI, XXII, LXIV, LXXI, CII, CI und CIX modifiziert ist. 87 Vgl. Art. I Abschn. 2, geändert durch Zusatzartikel XIV Abschn. 2 aus dem Jahr 1868. 88 Etwa Art. 14 Abs. 5 BayVerf; Art. 80 Abs. 4 RhPf Verf; zur Verfassungslage in Hamburg s. aber Fn. 101. 85
76
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Es ist ebendiese Mehrheit, die sich durch manipulative Wahlkreiszuschnitte Vorteile verschaffen kann. Im drastischsten Fall kann sie sich reproduzieren, indem sie durch geschicktes Gerrymandering die Wahlentscheidung so vorsteuert, dass die Mehrheitsabgeordneten gegenüber ihren Konkurrenten von der Opposition stets die „besseren Karten“ haben. Die ausufernde Praxis des partisan gerrymandering in den USA zeigt, dass der demokratisch-parlamentarische Prozess alleine, zumal in einem extrem polarisierten politischen System, das auf ein reines Mehrheitswahlrecht setzt, nicht in der Lage ist, solche Manipulationen zu verhindern.89 Doch auch hierzulande mag es Fälle geben, in denen die Mehrheit eine ihr günstige Wahlkreiseinteilung zulasten der Minderheit durchsetzt. Die Fallbeispiele aus Rheinland-Pfalz und Bayern legen das jedenfalls nahe. Zwar ist nicht jeder Gerrymander in Deutschland proporzrelevant; aber allein die „weichen Faktoren“ der Steuerung der personellen Zusammensetzung und der Steigerung des politischen Prestiges versprechen der parlamentarischen Mehrheit einen Vorteil im Wettbewerb um die Wählergunst. Auf Bundesebene wurde über Wahlkreiseinteilungen bislang häufig im Konsens entschieden:90 Selbst die PDS trug die Neuzuschnitte für die Wahl 2002 weitgehend mit, obwohl sie für die Partei mit dem Verlust zweier Mandate und damit letztlich sogar des Gruppenstatus verbunden waren. Doch dieser Konsens dürfte in Zukunft kaum mehr zu erzielen sein. Die zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft lässt es immer unwahrscheinlicher erscheinen, dass oppositionelle Fraktionen Wahlkreiszuschnitte selbst dann mittragen, wenn sie für die eigenen Direktkandidaten ungünstig sind. Lässt sich kein Konsens finden, entscheidet auch im Bundestag die Mehrheit.
b) Versagen des demokratischen Prozesses Man mag all dies als einen Ausfluss des demokratischen Majoritätsprinzips ansehen und eine (verfassungs-)rechtliche Einhegung des Gerrymanders daher für überflüssig, ja undemokratisch halten. Schließlich spricht nichts dafür, dass in einer grundsätzlich funktionierenden Demokratie genuin rechtliche Akteure, also vor allem Höchst- und Verfassungsgerichte, „bessere“ Entscheidungen träfen als der Gesetzgeber.91 Doch so einfach kann man es sich mit dem Gerrymander nicht machen. In repräsentativ-demokratischen Systemen sind Mehrheitsentscheidungen für die Minderheit nur unter zwei Bedingungen akzeptabel: Erstens muss die Minderheit die Chance haben, bei den nächsten Wahlen zur Mehrheit zu werden; die Mehrheit muss umgekehrt damit rechnen müssen, „abgewählt“ zu werden und sich selbst in der Rolle der Minderheit wiederzufinden.92 Die Bereitschaft der Minderheit, sich der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen, beruht auf deren Vorläufigkeit und Änder Vgl. Charles/Fuentes-Rohwer, Harvard Law Review 132 (2018), 236 (258 ff.). Vgl. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 3 Rn. 9. 91 Ausf. Waldron, Yale Law Journal 115 (2006), 1346 ff. 92 Vgl. Gusy, AöR 106 (1981), 329 (343); Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 194 ff.; Nicolaus, Demokratie, Verhältniswahl und Überhangmandate, 1995, 50; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 143; Hillgruber, AöR 127 (2002), 460 (465); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 54; Lepsius, Der Staat 52 (2013), 157 (169). 89
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barkeit.93 Die Mehrheit hat umgekehrt ein Interesse daran, „jedenfalls die formalen, verfahrensbezogenen Positionen der Minderheit zu achten“, weil sie sich selbst einmal in der Rolle der Minderheit wiederfinden kann.94 Zweitens darf die demokratische Entscheidungsfindung nicht zur „Tyrannei der Mehrheit“ über die Minderheit geraten.95 Mehrheitsentscheidungen sind nach diesem Kriterium illegitim, wenn die Interessen der Minderheit in unbilliger Weise den Interessen der Mehrheit untergeordnet werden, wenn mit anderen Worten die Mehrheit die Minderheit unterdrückt. Doch obgleich dieser Vorwurf schnell zur Hand ist, ist er nur in bestimmten Fällen berechtigt. „Mehrheit“ und „Minderheit“ sind nämlich zweideutige Begriffe.96 Da sind zum einen Mehrheit und Minderheit im Parlament. Sie sind Mehrheit und Minderheit nur mit Blick auf die Entscheidungsfindung selbst, bloße „Entscheidungsmehrheit“ (decisional majority) bzw. „Entscheidungsminderheit“ (decisional minority). Davon zu trennen sind die Teile der Bevölkerung, um deren Interessen es in der Mehrheitsentscheidung geht, die also von der Entscheidung „thematisch“ betroffen werden. Dabei lässt sich die Bevölkerung wiederum in eine „thematische Mehrheit“ (topical majority) und eine „thematische Minderheit“ (topical minority) unterteilen. Bei parlamentarischen Entscheidungen sind die Entscheidungsund die thematische Mehrheit in aller Regel nicht kongruent; ebenso wenig decken sich im Regelfall die Entscheidungs- und die thematische Minderheit. Denn die Mehrheit im Parlament verfolgt mit ihrer Entscheidung üblicherweise keine eigenen Interessen. Zwar sind auch die Mitglieder der Mehrheit Teil der Bevölkerung und als solche (möglicherweise) „thematisch“ betroffen. Doch die Entscheidungsmehrheit selbst ist „in sich politisch weitgehend diffus; sie setzt zu ihrer Bildung eine Vielzahl von Kompromissen und Ausgleichsmechanismen voraus.“97 Schon diese „Inhomogenität“98 der Entscheidungsmehrheit schließt es aus, ihre Interessen mit den thematisch betroffenen Interessen zu identifizieren. Verhilft die Entscheidungsmehrheit daher den Interessen der thematischen Mehrheit gegenüber der thematischen Minderheit zum Durchbruch, ordnet sie diese Minderheit nicht ihren eigenen Interessen unter. Von einer „Tyrannei der Mehrheit“ kann dann keine Rede sein. Umgekehrt ist es auch keine „Tyrannei der Minderheit“, wenn die Mehrheit im Parlament im Interesse der thematischen Minderheit entscheidet. Die repräsentative Demokratie lebt gerade davon, dass die Entscheidungsmehrheiten keine eigenen Interessen verfolgen, sodass Mehrheitsentscheidungen für alle thematisch Betroffenen akzeptabel sind, auch wenn sie ihre Interessen im Einzelfall nicht verwirklicht sehen. Beide Grundbedingungen für die Legitimität repräsentativ-demokratischer Mehrheitsentscheidungen sind im Fall des Gerrymanders nicht erfüllt. Denn die Mehrheit im Parlament betreibt Gerrymandering gerade, um Mehrheit zu bleiben oder wenigstens ihre Chancen darauf zu erhöhen. Sie will sich durch manipulative Wahlkreiszuschnitte Vorteile gegenüber der Minderheit verschaffen. Der „perfekte Gerry Gusy (Fn. 92), 343. Lepsius (Fn. 92), 169. 95 Der Topos geht zurück auf de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, 1835, tome I, partie II, chapitre VII. 96 Ausf. dazu Waldron (Fn. 91), 1395 ff. 97 Gusy (Fn. 92), 342. 98 A.a.O. 93
94
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mander“ schließt die Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden, aus. Die US-amerikanische Geschichte und Gegenwart hält dafür zahlreiche Beispiele bereit. Für sich genommen ist freilich „Mehrheitserhaltung“ durch legislative Tätigkeit nicht illegitim. Die parlamentarische Mehrheit wird, wenn sie an der Macht bleiben will, immer im Blick haben, ob ein Gesetz ihre Chancen erhöht oder schmälert, aus den nächsten Wahlen wieder als Mehrheit hervorzugehen. Doch im Normalfall richtet sich ihr Kalkül darauf, wie sich ein Gesetz im Wettbewerb um die Wählergunst auswirkt, ob man also mit ihm Wählerstimmen gewinnen oder verlieren wird. Die Entscheidungsmehrheit im Parlament wird darauf achten, jedenfalls in einer Gesamtbilanz die thematischen Mehrheiten in der Bevölkerung hinter sich zu haben, wenn sie auch in Einzelfällen die Interessen thematischer Minderheiten durchsetzen kann. Beim Gerrymander ist das anders: Bei ihm sind Entscheidungsmehrheit und thematische Mehrheit kongruent. Ebenso ist die thematische Minderheit mit der Entscheidungsminderheit identisch. Der Gerrymander begünstigt die Eigeninteressen der Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen gegenüber den Interessen der Abgeordneten der Minderheitsfraktionen. Die Mehrheit im Parlament, die zugleich thematische Mehrheit ist, ordnet die Interessen der parlamentarischen wie thematischen Minderheit ihrem eigenen Interesse am Machterhalt unter. Gerrymandering ist daher im eigentlichen Sinne eine „Tyrannei der Mehrheit“ über die Minderheit, die der demokratische Prozess selbst nicht zu verhindern vermag, sondern sogar erst ermöglicht.99
c) Minderheitenschutz durch (verfassungs-)gesetzliche Vorgaben Einhegung des Gerrymanders bedeutet folglich Minderheitenschutz, der den Mehrheitswechsel ermöglichen und den politischen Prozess offenhalten soll.100 Verschiedene Schutzmittel kommen in Betracht. So kann für die Wahlkreiseinteilung eine qualifizierte Mehrheit im Parlament vorgeschrieben werden, wie es z.B. die Hamburgische Verfassung für das gesamte Landeswahlrecht vorsieht.101 Damit werden freilich die klassischen Probleme qualifizierter Mehrheiten aufgeworfen: Zum einen widersprechen sie dem Gedanken politischer Gleichheit, da sie der Minderheit eine Möglichkeit geben, der Mehrheit ihren Willen aufzunötigen;102 zum anderen muss die Höhe des Quorums stets willkürlich festgelegt werden.103 Zwar würde im Fall der Wahlkreiseinteilung insofern ein echter Minderheitenschutz realisiert, als die 99 Es ist also weniger die „Entscheidung in eigener Sache“ (tongebend von Arnim, Der Staat als Beute: Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, 1993), die den Gerrymander als illegitim erscheinen lässt, sondern die Kongruenzen von Entscheidungs- und thematischer Mehrheit sowie Entscheidungsund thematischer Minderheit, die einen manipulativen Wahlkreiszuschnitt zur veritablen „Tyrannei der Mehrheit“ machen. 100 Vgl. zu dieser Art des Minderheitenschutzes Heun (Fn. 92), 239 ff., der diesen „funktionellen“ Minderheitenschutz dem Schutz struktureller Minderheiten gegenüberstellt (a.a.O., 232 f.). 101 Art. 6 Abs. 4 Satz 2 HmbVerf schreibt für Änderungen des Bürgerschaftswahlgesetzes eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen vor; Art. 6 Abs. 4 Satz 3 HmbVerf sieht außerdem die Möglichkeit einer Kontrolle solcher Änderungsgesetze durch Volksentscheid vor, in dem die Änderung wiederum von einer qualifizierten Mehrheit getragen werden muss. 102 Vgl. Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 52. 103 Vgl. Varain, Zf P 1964, 239 (248).
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Entscheidungsminderheit, die durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit eingebunden wird, auch zugleich die thematische Minderheit ist.104 Aber dass die Entscheidungsminderheit die nötige Stimmenzahl erreicht, ist nicht garantiert; verfehlt sie das Quorum, bleibt sie ebenso schutzlos, wie sie es bei einer Entscheidung mit einfacher Mehrheit gewesen wäre. Qualifizierte Mehrheiten sind deshalb nur dort sinnvoll, wo es um Stabilitätswahrung geht.105 Dies ist aber bei der ständig überprüfungs- und korrekturbedürftigen Wahlkreiseinteilung106 gerade nicht der Fall. Außerdem kann die Wahlkreiseinteilung durch Verfassung oder Gesetz einer unabhängigen Kommission übertragen werden. So überlässt eine Handvoll US-Bundestaaten die Wahlkreiseinteilung nicht der Legislative (mit Vorarbeit der Exekutive), sondern Wahlkreiskommissionen, deren Unabhängigkeit gegenüber den politischen Gewalten in unterschiedlichem Maß ausgeprägt ist.107 In Deutschland ist im Bundestagswahlrecht108 seit 1956 eine vom Bundespräsidenten einberufene Wahlkreiskommission vorgesehen, die einen Bericht über die Änderungen der Bevölkerungszahlen und von ihr für erforderlich gehaltene Wahlkreisänderungen erarbeitet (§ 3 Abs. 2 bis 4 BWahlG). Sie ist aber ein bloßes „Hilfsorgan der Exekutive“,109 letztlich wird die Wahlkreiseinteilung nach Vorarbeiten der Kommission und der Regierung durch den Bundestag beschlossen. Die Verantwortlichkeit des demokratisch legitimierten Parlaments muss sichergestellt sein.110 Denn eine Determination der Wahlkreiseinteilung durch abstrakt-generelle Vorgaben des Gesetzgebers für die Kommission ist unmöglich; vielmehr besteht immer ein gewisser Spielraum und die Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Zuschnitten. Daraus folgt umgekehrt auch, dass der Gesetzgeber stets die Möglichkeit hat, von dem Vorschlag der Wahlkreiskommission abzuweichen. Die Erfahrung des Bundestagswahlrechts zeigt, dass dies nicht selten der Fall ist.111 Damit besteht auch stets zumindest die Möglichkeit, partei- oder personalpolitische Erwägungen im Sinne eines Gerrymanderings einfließen zu lassen. Deswegen kann das Gerrymandering auch nicht dadurch effektiv verhindert werden, dass der Gesetzgeber sich selbst Kriterien für die Wahlkreiseinteilung112 vorgibt Insoweit trifft das von Schmitt, Legalität und Legitimität, 7. Aufl. 2005, 41 f., gegen qualifizierte Mehrheiten vorgebrachte Argument, die Qualifizierung stehe in keiner inhaltlichen Verbindung zum Schutzobjekt, in diesem Fall nicht zu. 105 Vgl. Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 5 Rn. 61. 106 Vgl. Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 4. 107 Vgl. Partmann (Fn. 12), 239 ff. Parallel zu den Zwischenwahlen am 06.11.2018 wurden durch Volksabstimmungen in vier Bundesstaaten neue Wahlkreiskommissionen geschaffen; zu erwähnen ist insb. die mit 13 zufällig ausgewählten Bürgern zu besetzende Kommission in Michigan; vgl. „When Voters Make Policy Changes Themselves“, The Economist online v. 08.11.2018, URL = https://www. economist.com/united-states/2018/11/08/when-voters-make-policy-changes-themselves; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 108 In den meisten Bundesländern werden Wahlkreisänderungen allein von der Landesregierung vorbereitet und vom Landtag beschlossen (vgl. etwa Art. 5 Abs. 5 BayLWahlG). 109 Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 35. 110 Vgl. Wolf (Fn. 34), 267; Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 1. 111 Vgl. Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 43. 112 Im Wege einer gleichheitsrechtlichen Selbstbindung des Gesetzgebers werden diese Kriterien verfassungsrechtlich aktiviert; vgl. Möstl (Fn. 14), 416, dort in Fn. 80. 104
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(vgl. § 3 Abs. 1 BWahlG113).114 Die Kriterien der Kontiguität und der möglichst weitgehenden Einhaltung bestehender Verwaltungsgrenzen115 schränken den Spielraum des Gesetzgebers zwar ein, lassen innerhalb dieses Rahmens aber die Berücksichtigung parteipolitischer Erwägungen ohne Weiteres zu. Dies lehrt bereits die Erfahrung aus den USA.116 Auch die in Abschnitt III dargestellten Fallbeispiele zeigen, dass selbst bei vergleichsweise strengen Vorgaben an die Wahlkreiseinteilung, wie sie das bayerische Landtagswahlrecht auszeichnen, Gerrymandering betrieben werden kann.
d) Judikative Intervention Da Gerrymandering durch eine (verfassungs-)gesetzliche (Selbst-)Bindung der Legislative nicht effektiv verhindert werden kann, erscheint eine Intervention durch die dritte Gewalt angezeigt. Es sind die Gerichte, die die Rechte der Minderheit im Parlament vor dem Zugriff der Mehrheit schützen sollen.117 In einem Fall des strukturellen Versagens des repräsentativ-demokratischen Verfahrens sprechen sich selbst die schärfsten Kritiker eines richterlichen Normenkontroll- und -verwerfungsrechts für eine Intervention der Judikative aus. Der Gerrymander ist aus demokratietheoretischer Sicht ein Paradefall für legitime richterliche Kontrolle der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung. Höchst- und Verfassungsgerichte sind hier in ihrer Rolle als „Wettbewerbshüter des politischen Prozesses“ angesprochen.118 Sie haben die Mehrheit, die den Anreizen zum illegitimen Machterhalt nicht widerstehen konnte, in ihre Schranken zu weisen, indem sie die Regeln eines fairen politischen Wettbewerbs um die Wählergunst durchsetzen. Für richterliche Selbstbeschränkung ist in dieser Rolle kein Platz.119 Auch wenn der gerichtliche Demokratieschutz gewissen Die meisten Landeswahlgesetze schreiben keine Kriterien vor; in Bayern sind Vorgaben sowohl verfassungs- als auch einfachrechtlich verankert (Art. 14 Abs. 1 Satz 3 und 4 BayVerf, Art. 5 Abs. 2 BayLWahlG). 114 Zur Verhinderung von Gerrymandering als Ziel dieser Vorgaben s. Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 14; vgl. auch BayVerfGH, Entsch. v. 12.07.1990 – Vf. 10-VII-89 –, BayVerfGHE 43, 100 (105) = BayVBl. 1990, 591 (593). 115 § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und 5 BWahlG. 116 Das Kriterium der Kontiguität gilt in allen, das Kriterium der Berücksichtigung von Verwaltungsgrenzen in der Mehrheit der Bundesstaaten. Das in den USA am meisten diskutierte Kriterium ist das der Kompaktheit, das auf die geographische Form des Wahlkreises abzielt. Vgl. ausf. Partmann (Fn. 12), 130 ff. Die Kompaktheit eines Wahlkreises spielt in Deutschland insofern eine Rolle, als laut BVerfG (K), Beschl. v. 18.07.2001 – 2 BvR 1252/99 u.a. –, NVwZ 2002, 71 (72), ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip vorliegen könnte, wenn ein Wahlkreis so geschnitten ist, „dass die Kommunikation zwischen den Wählern untereinander sowie mit den Mandatsbewerbern erschwert und damit die politische Willensbildung beeinträchtigt ist.“ Vgl. auch Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 5. 117 Vgl. Waldron (Fn. 91), 1401 ff. 118 Petersen, in: Elser u.a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtserzeugung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 59 ff. Zu einem US-amerikanischen Ansatz, der auch auf Rechtsprechung des BVerfG zurückgreift, s. Issacharoff/Pildes, Stanford Law Review 50 (1998), 643 ff. mit Erwiderung von Hasen, Stanford Law Review 50 (1998), 719 ff. 119 Vgl. Petersen (Fn. 118), 61. Petersen richtet im Weiteren den Fokus auf „wettbewerbswidrige“ Absprachen politischer Parteien, die sich vor allem zulasten solcher Parteien auswirken, denen der Einzug in die Parlamente noch nicht gelungen ist (Stichwort: Sperrklausel). Der Gedanke der erhöhten Kontrolldichte lässt sich aber über diese „politischen Kartelle[n]“ (a.a.O., 63) hinaus auch auf die Ausnut113
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Begrenzungen unterliegt, insbesondere nicht dazu führen darf, dass eine demokratische Weiterentwicklung der Regeln des politischen Prozesses unmöglich wird,120 geht es bei der Kontrolle der Wahlgesetzgebung allein um die Sicherung der unantastbaren Legitimationsgrundlage demokratischer Herrschaft: Die Kreation der neuen Mehrheit darf durch die Kreatur der alten Mehrheit nicht behindert werden. Die Gerichte werden insoweit nicht als die „besseren Gesetzgeber“ tätig – die sie gewiss nicht sind121 –, auch verhelfen sie keinen Interessen thematischer Minderheiten zum Durchbruch, die im demokratischen Prozess kein Gehör gefunden haben, ja sie entscheiden nicht einmal darüber, wie Entscheidungsmehrheit und -minderheit mit einander umgehen müssen,122 sondern verhindern lediglich, dass die Entscheidungsmehrheit, die zugleich thematische Mehrheit ist, ebendiese Position ausnutzt, um sich – womöglich auf Dauer – eine „marktbeherrschende Stellung“ im Wettbewerb um die Wählergunst zu verschaffen.
2. US-amerikanische Erfahrung Es liegt angesichts der Provenienz des Gerrymanders nahe, nach der US-amerikanischen Erfahrung im Umgang mit ihm zu fragen. Sie kann als Kontrastfolie dienen, wenn es darum geht, die Möglichkeiten rechtlicher Einhegung im deutschen Verfassungsraum auszuloten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Wahlkreismanipulationen in den USA unter speziellen repräsentationstheoretischen Vorzeichen beurteilt werden, die wiederum auf die Konzeption der Wahlgleichheit rückwirken.
a) Repräsentationsmodell Historischer Ausgangspunkt des US-amerikanischen Repräsentationsmodells123 ist die in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters aufgekommene Idee der territorialkorporativen Repräsentation, nach der die Wähler nicht als solche, sondern als Angehörige einer Gebietskörperschaft im Parlament repräsentiert werden.124 Das Mozung der Entscheidungsmehrheit für die Gestaltung des Wahlrechts übertragen. Die Anreizstrukturen sind ähnlich. 120 Vgl. Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, 281 (333 ff.); Kaiser/Wolff, Der Staat 56 (2017), 39 (47 f.). 121 Weder unter prozeduralen noch unter ergebnisorientierten Gesichtspunkten ist in einem hinreichend funktionierenden, rechtsstaatlichen System die richterliche Verwirklichung von Rechten und Interessen der parlamentarischen Tätigkeit überlegen; vgl. ausf. Waldron (Fn. 91), 1346 ff.; ders., International Journal of Constitutional Law 7 (2009), 2 ff. 122 Etwa durch die Festlegung von Oppositionsrechten. 123 Die folgenden Ausführungen müssen notwendig eine vergröbernde Perspektive einnehmen, da es sich bei der Entstehung der US-Verfassung um einen äußerst komplexen Prozess mit langen und kontroversen Diskussionen, nicht zuletzt auch über die Repräsentation im Kongress, handelte, von der weiteren Entwicklung des Verfassungssystems in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten ganz zu schweigen; vgl. Heideking/Sterzel, in: Jäger/Haas/Welz (Hrsg.), Regierungssystem der USA, 3. Aufl. 2007, 45 ff. 124 Vgl. Friedrich, in: Rausch (Hrsg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, 1968, 209 (217); Wild, Die Gleichheit der Wahl, 2003, 136.
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dell der territorialen Repräsentation prägt heute noch die Wahlen zum amerikanischen Senat, in den jeder Bundesstaat zwei Senatoren entsendet. Es geht also um die Staatengleichheit im Bundesstaat; Wahlgleichheit als individuelle Gleichheit der Wahlberechtigten kann in diesem Modell höchstens Zählwertgleichheit bedeuten. Die Erfolgschancen von Stimmen und damit auch Wahlkreisgröße und -zuschnitt haben hingegen keine Bedeutung. Die Gebietskörperschaften werden gerade unabhängig von ihrer Größe repräsentiert. Das Postulat der Erfolgschancengleichheit kommt erst auf, wenn das Parlament als Repräsentation aller Wähler, als „Popular-“ oder „Nationalrepräsentation“ verstanden wird.125 Das Repräsentantenhaus der USA sollte nach seiner ursprünglichen Konzeption gerade nicht die Bundesstaaten repräsentieren, sondern deren Bevölkerung – allerdings nach Bundesstaaten gegliedert.126 Das dahinter stehende Repräsentationsmodell kann als Zwischen- oder Mischform aus Territorial- und Nationalrepräsentation gelten. Die US-Verfassung sieht demgemäß zwar vor, dass die Abgeordnetenmandate im Verhältnis zur Bevölkerung auf die Bundesstaaten verteilt werden. Die Wahlkreiseinteilung bleibt aber den Bundesstaaten selbst überlassen. Gleich große Wahlkreise sind in diesem Repräsentationsmodell gerade noch nicht gefordert.127 Infolge der Herausbildung nationaler Parteien im Laufe des 19. Jahrhunderts löste der Gedanke der Nationalrepräsentation die Territorialrepräsentation allmählich ab.128 In den USA129 wurde der Charakter des Repräsentantenhauses als Nationalre Vgl. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, 1973, 166. Art. I Abschn. 2 US-Verf.: „The House of Representatives shall be composed of Members chosen […] by the People of the several States […]“; vgl. Rehfeld, in: Orren/Compton (Hrsg.), The Cambridge Companion to the United States Constitution, 2018, 106 (114 ff.). 127 Es gibt also einen Unterschied zwischen Bevölkerungsproportionalität (gleiches Verhältnis von Bevölkerung und Abgeordneten in jedem Wahlkreis) und Erfolgschancengleichheit (gleich große Wahlkreise). S. dazu Still, Ethics 91 (1981), 375 (379 ff.). Der Unterschied wird in der deutschen Wahlrechtswissenschaft regelmäßig verkannt, weil von vornherein von Einpersonenwahlkreisen ausgegangen wird. Die beschriebene „Mischform“ aus territorialem und nationalem Repräsentationsgedanken liegt auch den Wahlen zum Europäischen Parlament zugrunde, das einerseits eine Vertretung aller Unionsbürger darstellt (Art. 10 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 EUV), andererseits aber in den Mitgliedstaaten als Wahlkreisen mit unterschiedlichen (degressiv proportionalen) Abgeordnetenkontingenten (Art. 14 Abs. 2 Satz 3, 4 EUV) gewählt wird. Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. –, BVerfGE 123, 267, 371 ff.; auch das BVerfG arbeitet allerdings nicht heraus, dass selbst bei strikter Bevölkerungsproportionalität die Wählerstimmen in verschiedenen Mitgliedstaaten nicht dieselbe Erfolgschance hätten, die Abweichung von der Erfolgschancengleichheit also nicht erst daraus resultiert, dass kleine Mitgliedstaaten mehr Abgeordnete pro Einwohner haben. 128 Vgl. mit Fokus auf Deutschland Meyer (Fn. 125), 95 ff., 159 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rn. 27. 129 Die Entwicklung zeigt sich ebenfalls beim britischen House of Commons. Der Gedanke der Territorialrepräsentation war sogar besonders mustergültig ausgeprägt, denn die Wahlkreise waren ursprünglich identisch mit bestehenden lokalen Verwaltungseinheiten (counties und boroughs). Sehr lange wurden deutliche Größenabweichungen der Wahlkreise hingenommen; vgl. Ridder, Die Einteilung der Parlamentswahlkreise, 1976, 175 ff.; Nohlen (Fn. 3), 325 ff. Heute aber gilt ein vergleichsweise strikter Grundsatz der Erfolgschancengleichheit: Seitdem Schedule 2 des Parliamentary Constituencies Act 1986 durch Section 11 des Parliamentary Voting System and Constituencies Act 2011 geändert wurde, muss sich die Größe von Wahlkreisen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) innerhalb einer Toleranzspanne von 5 % halten. Im Zuge entsprechender Wahlkreisanpassungen kommt vermehrt der Vorwurf des Gerrymandering auf; s. Johnston/Rossiter/Pattie, Political Quarterly 88 (2017), 211 ff. 125
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präsentation aber erst in den 1960er Jahren vollends anerkannt.130 Seitdem versteht der Supreme Court den Grundsatz „one person, one vote“ auch als Gebot der Erfolgschancengleichheit und verlangt eine Einteilung des gesamten Wahlgebiets in gleich große Wahlkreise.131 Mit dem vollständigen Übergang zur Nationalrepräsentation rückte die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments in den Vordergrund.132 In der Folge kam erstmals die Forderung auf, die Mehrheitswahl durch die Verhältniswahl abzulösen.133 Die Antonyme „Verhältniswahl“ und „Mehrheitswahl“ bezeichnen zum einen zwei verschiedene Repräsentationsmodelle („Proporz“ und „Majorz“134), zum anderen konkrete Wahlverfahren (Entscheidungsregeln) als Ausprägungen dieser Modelle.135 Die Verhältniswahl zielt auf ein numerisches Abbild der Wählerschaft.136 Das Wahlsystem soll den parteipolitischen Proporz der Wählerschaft widerspiegeln. Daher muss über die Erfolgschancengleichheit hinaus die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen gewährleistet werden. Die Mehrheitswahl wiederum musste sich nach der Aufgabe des territorialen Repräsentationsgedankens auf eine neue Grundlage stützen. In ihr kommt heute ein funktionales Verständnis von Repräsentation zum Ausdruck.137 Bereits durch die Wahl soll eine Mehrheit gebildet und über die politische Führung entschieden werden.138 Ebendieser funktionale Ansatz steht hinter dem heutigen Mehrheitswahlrecht der USA: Es geht um die mehrheitsbildende Funktion der Wahl im Rahmen einer nationalen Repräsentation des Wahlvolks.139 In diesem Mehrheitswahlsystem kommt heute den Wahlkreisen insofern keine „konstitutive Bedeutung“140 mehr zu, als sie nicht mehr die historisch vorgegebene Grundlage einer territorialen Repräsentation sind. Sie haben vielmehr allein instrumentellen Charakter bei der Verwirklichung des funktionalen Repräsentationsgedankens,141 werden aber gerade dadurch zum maßgeblichen Faktor des Wahlsystems. Abhängig davon, wie man die Vorstellung der Verfassungsgeber vom Repräsentantenhaus versteht, kann man dies und die nachfolgend zitierten Entscheidungen als konsequente Umsetzung einer schon in der Verfassung enthaltenen Repräsentationsidee ansehen; so unter Berufung auf den Supreme Court selbst McGann/Smith/Latner/Keena (Fn. 5), 179 ff. 131 Wesberry v. Sanders, 376 U.S. 1 (1964); Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533 (1964). Zur Entwicklung der Rechtsprechung des Supreme Court zur Wahlgleichheit bis hin zu diesen Entscheidungen s. Rogowski, Ethics 91 (1981), 395 (414 ff.). S. auch Ridder (Fn. 129), 251 ff. 132 Meyer (Fn. 125), 162. 133 Während sich die Weimarer Reichsverfassung bewusst für die Verhältniswahl entschied, überstand im Vereinigten Königreich und in den USA das überkommene Mehrheitswahlrecht den Wandel des Repräsentationsgedankens. 134 So die Terminologie etwa bei Heun (Fn. 92), 115. 135 Nohlen (Fn. 3), 151 ff. 136 A.a.O., 153 f. 137 Meyer (Fn. 125), 161 ff. 138 Nohlen (Fn. 3), 153. 139 Die Sinnhaftigkeit des historisch tradierten Mehrheitswahlrechts ließe sich für die USA trefflich hinterfragen. Denn der mehrheitsbildenden Funktion kann zwar in einem parlamentarischen System, in dem die Regierung von der Parlamentsmehrheit abhängt, eine maßgebliche Rolle zukommen – bestes Beispiel dafür ist das Vereinigte Königreich (auch wenn dort Koalitionsregierungen nicht so selten sind, wie gemeinhin angenommen wird). In einem präsidentiellen System wie dem der USA aber ist eine klare Parlamentsmehrheit nicht von derselben Bedeutung. 140 Meyer (Fn. 128), Rn. 27 dort in Fn. 61. 141 Vgl. Meyer (Fn. 125), 165. 130
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Ihre Einteilung wird zum Prüfstein der Wahlgleichheit: Um die Erfolgschancengleichheit zu wahren, müssen die Wahlkreise der Bevölkerungsentwicklung angepasst werden. Es ist diese Anpassung, die der Parlamentsmehrheit die Gelegenheit zum Gerrymandering bietet.142
b) Racial gerrymandering Eine grosso modo wirksame Abhilfe gegen Wahlkreismanipulationen zulasten ethnischer Minderheiten schuf in den Vereinigten Staaten der (Bundes-)Gesetzgeber mit dem Voting Rights Act (VRA). § 2 VRA verbietet nicht nur vote denial, d.h. die Versagung der Möglichkeit zu wählen, sondern auch vote dilution, d.h. alles, was den Einfluss von Stimmen der Minderheit verringert. Vote dilution liegt nicht zuletzt dann vor, wenn die Wahlkreise so eingeteilt werden, dass es Angehörigen einer Minderheit unmöglich wird, einen von ihnen favorisierten Kandidaten zu wählen. Auch ohne Vorsatz verletzen die Gesetzgeber der Einzelstaaten § 2 VRA, wenn eine Minderheit wegen der Wahlkreiseinteilung über keine adäquate Repräsentationsmöglichkeit verfügt.143 In einem Urteil aus dem Jahr 1986 hat der Supreme Court die Vorgaben des VRA näher präzisiert.144 Ein Weg, um Verstöße gegen § 2 VRA zu vermeiden, kann das affirmative racial gerrymandering darstellen, bei dem sog. majority-minority districts zu bilden sind, in denen eine ethnische Minderheit die Mehrheit stellt.145 Das Bundesjustizministerium nutzte Anfang der 1990er Jahre seine in § 5 VRA vorgesehene Vorabkontrolle von Wahlgesetzen offensiv dazu, den Südstaaten die Errichtung möglichst vieler majority-minority districts vorzuschreiben. Die Demokraten in North Carolina versprachen sich daraus wiederum eine ihren Interessen dienende Wahlkreiseinteilung.146 Das dagegen gerichtete gerichtliche Vorgehen der Republikaner führte zu einer ersten Bewertung des affirmative racial gerrymandering durch den Supreme Court. Dieser schloss sich mehrheitlich der Argumentation der Republikaner an, dass Wahlkreiszuschnitte, die die Wählerschaft nach ethnischen Kriterien einteilten, gegen die Equal Ebenso Rogowski, Ethics 91 (1981), 395 (425); s. auch oben unter II. 1. Nachdem der Supreme Court in Mobile v. Bolden, 446 U.S. 55 (1980) entschieden hatte, dass § 2 VRA lediglich eine Wiederholung des 15. Verfassungszusatzes enthalte und deshalb nur absichtlich diskriminierende Wahlgesetze verbiete, wurde die Vorschrift 1982 dahingehend erweitert, dass es auf die diskriminierende Wirkung, nicht auf die Intention des Wahlgesetzes ankommt. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass daraus kein Anspruch von Minderheiten auf proportionale Repräsentation folgt. 144 Thornburg v. Gingles, 478 U.S. 30 (1986) formuliert drei Kriterien für einen verbotenen Wahlkreiszuschnitt: (1) Die Minderheit muss hinreichend groß und geographisch kompakt sein, um die Mehrheit in einem Wahlkreis bilden zu können. (2) Die Minderheit muss politisch geschlossen sein, d.h. ihre Angehörigen müssen dazu tendieren, ähnlich zu wählen. (3) Die Mehrheit wählt politisch als Block, sodass der von der Minderheit favorisierte Kandidat in der Regel unterliegt. 145 S. auch oben unter II. 3. 146 Die parteipolitischen Auswirkungen des affirmative racial gerrymandering sind nicht völlig geklärt. Oftmals dürfte die Konzentration von Minderheiten in eigenen Wahlkreisen eher den Demokraten schaden und den Republikanern nutzen, da das tendenziell demokratische Wählerklientel der ethnischen Minderheiten aus anderen Wahlkreisen „abgezogen“ wird und dort nicht den Ausschlag zugunsten des demokratischen Kandidaten geben kann (packing). 142 143
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Protection Clause des 14. Verfassungszusatzes verstießen.147 In ihren „bizarren“ Formen zeige sich eine ethnische Trennung, die mit den Prinzipien der Gleichheit und der repräsentativen Demokratie nicht vereinbar sei. Auf die Frage, ob die Wahlrechtsgleichheit „weißer“ Wähler in den minority-majority districts verletzt sei, kam es hingegen nicht an. Man wird das Urteil dahin verstehen können, dass die Verfassungswidrigkeit nicht aufgrund tatsächlich feststellbarer Auswirkungen der Wahlkreiseinteilung auf das Ergebnis, sondern allein aufgrund der darin zum Ausdruck kommenden Missachtung grundlegender Verfassungsprinzipien bejaht wurde.148 In einer späteren Entscheidung präzisierte der Supreme Court seinen Ansatz dahingehend, dass es darauf ankomme, ob die Ethnie der dominierende Faktor bei der Einteilung der Wahlkreise war.149 Obwohl zumindest eine Pluralität150 der Richter § 2 VRA als Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung der Equal Protection Clause in Betracht zog,151 hat der Supreme Court nie einen konkreten Fall des affirmative racial gerrymandering als gerechtfertigt angesehen.152 In den 2010er Jahren begannen umgekehrt die Republikaner unter dem Vorwand, den Anforderungen des VRA zu genügen, Angehörige von ethnischen Minderheiten durch packing in möglichst wenigen Wahlkreisen zu konzentrieren und ihr tendenziell den Demokraten zugutekommendes Wahlpotential dadurch einzudämmen.153 Es waren nunmehr die Vertreter von Minderheiten, die gegen das angeblich „affirmative“ Gerrymandering nach ethnischen Kriterien vorgingen. Bei der Mehrheit des Supreme Courts fanden sie zumindest insoweit Gehör, als diese feststellte, dass die Wahlkreiszuschnitte weder mit angeblichen Anforderungen des VRA noch mit der Sicherstellung der Erfolgschancengleichheit durch die Errichtung gleich großer Wahlkreise gerechtfertigt werden könnten. Die aus Alabama und North Caro lina stammenden Fälle zeigen, wie eng gerade in den Südstaaten ethnische Zugehörigkeit und parteipolitische Orientierung zusammenhängen;154 die Republikaner betrieben nichts anderes als partisan gerrymandering unter dem durchsichtigen Deckmantel des affirmative racial gerrymandering.
c) Partisan gerrymandering Während für das racial gerrymandering immerhin geklärt ist, dass es nicht zulasten ethnischer Minderheiten betrieben werden darf, sind mit Blick auf partisan gerryman Shaw v. Reno, 509 U.S. 630 (1993). Vgl. Pildes/Niemi, Michigan Law Review 92 (1993), 483 (486 ff.). 149 Miller v. Johnson, 515 U.S. 900 (1995). 150 Eine plurality opinion ist in dem Fall, dass innerhalb des Spruchkörpers keine Auffassung die Mehrheit der Richter hinter sich weiß, diejenige Auffassung, die mehr Zustimmung als jede andere bekommen hat. 151 Bush v. Vera, 517 U.S. 952 (1996). 152 In Easley v. Cromartie, 532 U.S. 234 (2001), wurde ein Verfassungsverstoß von der Mehrheit verneint, da nicht die Ethnie, sondern die Parteipolitik bei der Wahlkreiseinteilung im Vordergrund gestanden habe. 153 Vgl. Levitt, Florida State University Law Review 43 (2016), 573 ff. 154 Vgl. Hasen, Alabama Law Review 67 (2015), 365 (378 ff.); s. auch die Besprechung von Cooper v. Harris in Harvard Law Review 131 (2017), 303 ff. 147
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dering sowohl die rechtlichen Maßstäbe als auch ihre Durchsetzung durch die Rechtsprechung, vor allem den Supreme Court, bis heute unklar.
aa) Davis v. Bandemer (1986) Im Fall Davis v. Bandemer aus dem Jahr 1986 urteilten sechs der neun Richter, dass Klagen gegen angebliches partisan gerrymandering justiziabel und anhand der Equal Protection Clause zu entscheiden seien, konnten sich jedoch nicht auf einen konkreten verfassungsrechtlichen Maßstab einigen.155 Für die plurality lag verbotenes Gerrymandering dann vor, wenn eine Wahlkreiseinteilung mit sowohl der Absicht (intent) als auch der tatsächlichen Wirkung (effect) vorgenommen wurde, eine identifizierbare politische Gruppe zu diskriminieren. Die streitgegenständlichen Wahlkreise für die Parlamentswahl im Bundesstaat Indiana seien zwar mit dem Ziel zugeschnitten worden, demokratische Wähler zu diskriminieren. Es habe jedoch nicht nachgewiesen werden können, dass deren Stimmgewicht im gesamten Bundesstaat tatsächlich minimiert worden sei. Eine Minderheit von zwei Richtern stellte demgegenüber auf eine Reihe von Faktoren, wie etwa die Gestalt der Wahlkreise und die Einhaltung bestehender kommunaler Verwaltungsgrenzen, ab und bejahte im konkreten Fall einen Verfassungsverstoß. Drei weitere Richter wollten die Klagen von vornherein zurückweisen, da es sich beim parteipolitischen Gerrymandering um nicht justiziable political questions handle.156
bb) Vieth v. Jubelirer (2004) Ein ähnliches Bild bot sich achtzehn Jahre später im Fall Vieth v. Jubelirer.157 Nunmehr bildeten allerdings die vier Richter, die das partisan gerrymandering mangels eines verfassungsrechtlichen Maßstabs für nicht justiziabel hielten, die plurality des Gerichts. Es gebe, so das von Richter Antonin Scalia verfasste Votum, keinen Maßstab, der aus der Verfassung ableitbar (discernable) und gerichtlich handhabbar (manageable) sei. Insbesondere könne nicht, in Anlehnung an die Entscheidungen über racial gerrymandering, darauf abgestellt werden, ob die politische Zugehörigkeit der Wähler die maßgebliche Rolle bei der Wahlkreiseinteilung gespielt habe, denn diese sei im Gegensatz zur ethnischen Zugehörigkeit nicht ohne Weiteres festzustellen. Auch sei nicht, wie die Kläger argumentiert hatten, darauf abzustellen, ob der Wahlkreiszuschnitt dazu führe, dass eine Partei mit einer Minderheit der Stimmen die Mehrheit der Sitze erringe, da dies einen in der Verfassung nicht vorgesehenen Anspruch politischer Gruppen auf proportionale Repräsentation voraussetze. Für die weitere Ent155 Davis v. Bandemer, 478 U.S. 109 (1986). Einen Verfassungsverstoß im konkreten Fall verneinte das Gericht mit 7 zu 2 Stimmen. 156 Infolge der unklaren Entscheidung blieben weitere Verfahren gegen partisan gerrymandering vor unteren Gerichten erfolglos. Nur ein einziges Mal wurde ein Wahlkreiszuschnitt wegen partisan gerrymandering aufgehoben, der Fall betraf aber nicht Parlamentswahlen, sondern die Wahl von Richtern; vgl. Republican Party of North Carolina v. Martin, 980 F.2d 943 (4th Cir. 1992). 157 Vieth v. Jubelirer, 541 U.S. 267 (2004).
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wicklung von großer Bedeutung war, dass Richter Anthony Kennedy zwar der plurality opinion beitrat, aber nicht ohne darauf hinzuweisen, dass in Zukunft möglicherweise ein brauchbarer Maßstab gefunden werden könne, an dem der Gerrymander dann verfassungsrechtlich zu messen sei. Die vier dissentierenden Richter wiederum waren untereinander uneins und boten drei verschiedene Maßstäbe an, die sich sowohl von den Kriterien in Davis v. Bandemer – Absicht und Wirkung – als auch von dem Maßstab unterschieden, den die Kläger vorgebracht hatten. Immerhin stimmten drei der vier Dissenter mit den anderen fünf Richtern darin überein, dass Gerrymandering stets nur bezogen auf einzelne Wahlkreise, nicht aber mit Blick auf den gesamten Bundesstaat zu beurteilen sei.158
cc) Ein neuer Ansatz? Hatte sich das Gerrymandering bis in die 2000er Jahre nur wenig auf die Ergebnisse von Wahlen in den USA ausgewirkt,159 nahm die Häufigkeit von Gerrymandern im Gefolge der Vieth-Entscheidung deutlich zu. In den 2010er Jahren nahmen die Wahlkreiszuschnitte immer groteskere Formen an und beeinflussten zunehmend auch die Wahlchancen der Parteien sowie die Zusammensetzung der Parlamente.160 Der Gerrymander rückte damit auch in den Fokus der Öffentlichkeit.161 Das Vieth-Urteil bewirkte aber auch, dass sich Rechts- und Politikwissenschaftler darum bemühten, Methoden zu entwickeln, um parteipolitisches Gerrymandering feststellen und damit den von Richter Kennedy eingeforderten Maßstab für partisan gerrymandering vorlegen zu können.162 Die Strategie war vielversprechend: Denn Kennedy war, obwohl von Präsident Reagan nominiert, als sog. swing voter am konservativ dominierten Supreme Court der 2000er Jahre bekannt.163 Vieles sprach dafür, dass er auch den Ausschlag für eine judikative Intervention gegen das parteipolitische Gerryman dering geben würde, wenn ihm nur ein praktikabler Maßstab an die Hand gegeben würde. Unter den verschiedenen vorgeschlagenen Methoden164 stach der Ansatz der sog. efficiency gap hervor.165 Bei ihm wird die Anzahl „verschwendeter Stimmen“ 158 Zwei Jahre nach Vieth wies der Supreme Court in League of United Latin American Citizens v. Perry, 548 U.S. 399 (2006) mit deutlicher Mehrheit den Vorwurf des parteipolitischen Gerrymanderings zurück; nur zwei Richter nahmen aufgrund einer absichtlich manipulativen Wahlkreiseinteilung einen Verstoß gegen die Equal Protection Clause an. Im Übrigen trägt die Entscheidung nichts zur weiteren Klärung der Justiziabilität bzw. der verfassungsrechtlichen Maßstäbe bei. 159 So die weitgehend einhellige Einschätzung der empirischen Wahlforschung; vgl. Butler/Cain, Congressional Redistricting, 1992. 160 Vgl. McGann/Smith/Latner/Keena (Fn. 5), 56 ff. 161 S. etwa den knapp 20-minütigen Beitrag über Gerrymandering in der populären Late-Night-Sendung „Last Week Tonight with John Oliver“ v. 09.04.2017, der allein bei YouTube über 8 Mio. Aufrufe verzeichnet; URL = https://www.youtube.com/watch?v=A-4dIImaodQ; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 162 Vgl. Issacharoff/Karlan/Pildes/Persily, The Law of Democracy, 5. Aufl. 2016, 688 ff. 163 Vgl. McGaver, Minnesota Law Review 101 (2017), 1247 (insb. 1277 ff.). 164 Überblick und Kritik bei Best/Donahue/Krasno/Magleby/McDonald, Election Law Journal 17 (2018), 1 ff. 165 Stephanopoulos/McGhee, University of Chicago Law Review 82 (2015), 831 ff.; s. auch Partmann (Fn. 12), 180 ff.
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(wasted votes) ermittelt, verstanden als alle Stimmen, die nicht zur Wahl eines Wahlkreiskandidaten beigetragen haben, also sowohl die Stimmen, die auf unterlegene Kandidaten entfielen (Stimmen ohne Erfolgswert), als auch Stimmen, die über die Mehrheit hinaus für den erfolgreichen Kandidaten abgegeben wurden. Mit der efficiency gap sollen sowohl Cracking- als auch Packing-Gerrymander nachgewiesen werden können. Die effiency gap wirft jedoch im Zusammenspiel von Mathematik und Verfassungsrecht verschiedene Probleme auf 166 und ist deshalb einiger Kritik ausgesetzt.167 Der Ansatz wurde 2016 von einem Bundesgericht im Staat Wisconsin herangezogen, das über die Wahlkreiszuschnitte des dortigen Parlaments zu befinden hatte.168 Das Gericht bejahte mehrheitlich eine Verletzung der Equal Protection Clause sowie der Vereinigungsfreiheit des 1. Verfassungszusatzes. Es wendete einen dreistufigen Test an, um einen verbotenen parteipolitischen Gerrymander festzustellen: Erstens müsse die Wahlkreiseinteilung darauf abzielen, die Wirksamkeit der Stimmen individueller Wähler aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit erheblich zu beschränken. Zweitens müsse der Zuschnitt auch tatsächlich diese Wirkung entfalten und drittens dürfe die Einteilung nicht durch legitime Ziele gerechtfertigt sein. Ob eine Beschränkung des Stimmgewichts im Sinne der ersten Stufe vorliege, sei wiederum nach dem Kriterium des entrenchment zu beurteilen, das darauf abstellt, ob es der Minderheit durch den Zuschnitt unmöglich gemacht wird, durch den Zugewinn von Wählerstimmen zur Mehrheit zu werden. Die Absicht leitete das Gericht im konkreten Fall daraus ab, dass die republikanische Parlamentsmehrheit vor ihrer Entscheidung verschiedene Wahlkreiszuschnitte und deren parteipolitische Auswirkungen miteinander verglichen hatte. Auf der zweiten Stufe (tatsächliche Wirkung) kam unter anderem die efficiency gap zum Einsatz, mit der nachgewiesen werden konnte, dass die Republikaner mit dem neuen Wahlkreiszuschnitt über einen dauerhaften Vorteil gegenüber den Demokraten verfügen und unter Zugrundelegung eines jeden realistischen Wahlszenarios nie weniger als die Hälfte der Sitze erhalten würden. Der Einwand der Republikaner, dass sich aus der Konzentration demokratischer Wählerschaften in Städten eine Art natürliches Gerrymandering ergebe,169 verfing beim Gericht nicht, da dies allein den Effekt der Wahlkreiseinteilung nicht erklären könne. Das Maßgebliche an der Entscheidung des Bundesgerichts war nicht die in der Berichterstattung meist in den Vordergrund gerückte170 efficiency gap, sondern der Maßstab des entrenchment. Damit knüpfte das Gericht an eine schon länger in der US-ame166 Drei Probleme sind besonders bedeutend: (1) Die Definition „verschwendeter Stimmen“ ist fragwürdig. (2) Es wird letztlich der Verstoß gegen einen Proportionalitätsmaßstab gemessen, der keinen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt hat. (3) Es gibt kein festes Kriterium dafür, ab welchem Maß ein Fall des Gerrymandering vorliegt. 167 Vgl. Tam Cho, University of Pennsylvania Law Review Online 166 (2017), 17 ff.; Bernstein/ Duchin, Notices of the American Mathematical Society 64 (2017), 1020 ff.; Best/Donahue/Krasno/Magleby/McDonald (Fn. 164), 5 f.; Cover, Stanford Law Review 70 (2018), 1131 ff.; mit Erwiderung von Stephanopoulos/McGhee, Stanford Law Review 70 (2018), 1503 ff. 168 Whitford v. Gill, 218 F.Supp.3d 837 (W.D. Wis. 2016). 169 Auch Richter Scalia sprach in Vieth v. Jubelirer bereits davon, dass sich aus der Konzentration von Demokraten in Städten ein natural packing effect ergebe. 170 Vgl. Matthews, „How 2 Academics Got the Supreme Court to Reexamine Gerrymandering“,
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rikanischen Verfassungsrechtswissenschaft geführte Diskussion an, die sich um das oben erörterte Fundamentalprinzip legitimer Mehrheitsherrschaft dreht: dass die Minderheit die Chance haben muss, selbst zur Mehrheit zu werden.171 Dieses Prinzip bildete in der Entscheidung des Bundesgerichts den Maßstab. Die effiency gap kam dabei nur als ein Mittel zur Feststellung der tatsächlichen Auswirkungen zum Einsatz. Ihre Anwendung ist aber äußerst fragwürdig, da sie zum einen in sich nicht völlig kohärent ist und zum anderen gar nicht auf den Maßstab des entrenchment abstellt.
dd) Urteile des Jahres 2018 Das Urteil aus Wisconsin weckte die Hoffnung, dass der Supreme Court den immer lauter werdenden Rufen nach einer Intervention der Judikative gegen das parteipolitische Gerrymandering Gehör schenken würde.172 Doch im Juni 2018 hoben die Richter des Supreme Court in Gill v. Whitford das Urteil des Bundesgerichts in Wisconsin einstimmig auf, weil sie vom standing, einer Art Klagebefugnis, der Kläger nicht überzeugt waren.173 Der Fall wurde für eine weitere Prüfung der individuellen Betroffenheit an das Ausgangsgericht zurückverwiesen. Zeitgleich wies der Supreme Court mit einer einstimmigen Entscheidung das Rechtsmittel der Kläger in Benisek v. Lamone zurück – einen Rechtsstreit über eine von den Demokraten verantwortete Wahlkreiskarte in Maryland.174 Mit der Sache beschäftigten sich die Richter jedoch auch in diesem Fall nicht, sondern urteilten lediglich, dass die Vorinstanz eine einstweilige Anordnung in Bezug auf die Wahlkreiszuschnitte aus prozessualen Gründen habe verweigern dürfen. Nur wenige Tage später hob der Supreme Court wiederum die Entscheidung eines Bundesgerichts mangels standing auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurück; diesmal ging es um Wahlkreiszuschnitte in North Carolina.175 Vox v. 02.10.2017, URL = https://www.vox.com/policy-and-politics/2017/6/19/15831640/supremecourt-gerrymandering-wisconsin; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 171 Der Themenkreis entrenchment hat mehrere Facetten. Es geht vor allem um den Erlass von Gesetzen, die aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen von einer zukünftigen Mehrheit nicht mehr aufgehoben oder geändert werden können (Stichwort: Reversibilität), sowie um sonstige Maßnahmen (insb. im Wahlrecht), mit denen die Parlamentsmehrheit versucht, ihre Mehrheitsposition auf Dauer zu verfestigen. Neben dem Gerrymander zählen zu Letzterem v.a. Maßnahmen der sog. voter suppression; s. Klarman, Georgetown Law Journal 85 (1997), 491 ff.; Levinson/Sachs, Yale Law Journal 125 (2015), 400 ff.; speziell zu Wettbewerbsverzerrungen im US-Wahlsystem s. Strünck, in: Derichs/Heberer (Hrsg.), Wahlsysteme und Wahltypen, 2006, 145 ff.; zu voter suppression s. C. Anderson, One person, no vote, 2018. 172 Vgl. Gerken, „A Wisconsin Court Case May Be the Last Best Hope to Fix Gerrymandering by 2020“, Vox v. 01.12.2016, URL = https://www.vox.com/the-big-idea/2016/12/1/13800348/wiscon sin-gerrymander-supreme-court-parties; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 173 Gill v. Whitford, 585 U.S. ___ (2018). 174 Benisek v. Lamone, 585 U.S. ___ (2018). 175 Rucho v. Common Cause, 585 U.S. ___ (2018). Das Bundesgericht hat mittlerweile entschieden, dass die Kläger klagebefugt seien, und eine Verletzung der Equal Protection Clause, der Vereinigungsfreiheit und der Wahlrechtsgrundsätze des Art. I US-Verf. bejaht; s. Common Cause v. Rucho, No. 1:16-CV1026 (M.D.N.C. Aug. 27, 2018).
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Obwohl sich dem Supreme Court also in einem Jahr dreimal die Gelegenheit geboten hatte, zum parteipolitischen Gerrymandering Stellung zu nehmen, und er sich mit einer Sachentscheidung noch nicht einmal mit einer der beiden großen Parteien hätte gemein machen müssen – in Wisconsin waren die Republikaner, in Maryland die Demokraten für die streitgegenständlichen Wahlkreiszuschnitte verantwortlich –, hielt er sich ostentativ zurück und praktizierte mit dem Rückzug auf prozessuale Erwägungen einen judicial self-restraint der besonderen Art. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird dem Supreme Court deshalb vorgeworfen, mit seiner rein prozessrechtlichen Argumentation nur von der Sache abzulenken und sich letztlich durch „Nichtintervention“ auf die Seite der jeweiligen Parlamentsmehrheiten zu schlagen.176 Weitaus weniger zögerlich zeigte sich unterdessen der Supreme Court von Pennsylvania, der in einem Urteil aus dem Februar 2018 die dortige Einteilung der Bundeswahlkreise für verfassungswidrig erklärte und dem Gesetzgeber eine Frist für eine Neueinteilung setzte.177 Nachdem sich die republikanische Parlamentsmehrheit und der demokratische Gouverneur nicht auf einen neuen Zuschnitt einigen konnten und die Frist verstreichen ließen, setzte das Gericht mit der Hilfe eines Rechts professors aus Stanford eigenhändig die Wahlkreise für die Zwischenwahlen im November 2018 fest.178 Rechtsmittel gegen die Entscheidung blieben erfolglos.179
d) Kritische Analyse Die US-amerikanische Erfahrung ist geprägt von einer geradezu frappierenden Zurückhaltung der Judikative, wenn es um ein Einschreiten gegen parteipolitisch motivierte Wahlkreiszuschnitte geht. Während diskriminierendes racial gerrymandering vergleichsweise rigide beanstandet wird, konnte sich im Supreme Court noch immer keine Mehrheit dafür finden, auch dem partisan gerrymandering einen verfassungsrechtlichen Riegel vorzuschieben. Ausgehend vom Verständnis der Wahlen als Vorgang nationaler Repräsentation mit mehrheitsbildender Funktion müsste sich eigentlich ein Maßstab für die Kontrolle von partisan gerrymandering in den USA aufdrängen. Um dieses funktionale Repräsentationsmodell zu verwirklichen, muss nämlich zumindest sichergestellt sein, dass der Partei, welche die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, auch die Mehrheit der Sitze zufallen.180 Dieses majority rule principle wurde auch von den Klägern in Vieth v. Jubelirer vorgebracht, aber von Richter Scalia mit dem Argument zurückgewiesen, dass es ein Recht politischer Gruppen auf parlamentarische Repräsentation voraussetze, das die US-amerikanische Verfassung nicht kenne. Ein solcher Maßstab Charles/Fuentes-Rohwer (Fn. 89), 236 ff. League of Women Voters of Pennsylvania v. Commonwealth of Pennsylvania, No. 159 MM 2017 (Pa. Jan. 22, 2018). 178 League of Women Voters of Pennsylvania v. Commonwealth of Pennsylvania, No. 159 MM 2017 (Pa. Feb. 19, 2018). 179 Corman v. Torres, No. 1:18-CV-443 (M.D. Pa. Mar. 19, 2018); Corman v. Torres, No. 18-1816 (3d Cir. Sep. 14, 2018); Turzai v. League of Women Voters, No. 17-1700 (U.S. Oct. 29, 2018). 180 Dieser Gedanke findet sich schon bei Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 347. 176
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lässt sich jedoch sehr wohl aus dem individuellen Recht der Wahlgleichheit ableiten.181 Nicht ein „Kollektivrecht“ der Mehrheit, sondern die individuelle Gleichheit der Wähler verlangt, dass eine Mehrheit von Wählern in der Lage sein muss, auch über die Mehrheit der Abgeordneten zu entscheiden.182 Das majority rule principle sichert die zentrale Legitimationsbedingung demokratischer Mehrheitsherrschaft, nämlich dass die Minderheit die Möglichkeit haben muss, zur Mehrheit zu werden.183 Es zielt nicht auf eine proportionale Repräsentation, sondern, vereinfacht gesagt, darauf, dass eine Partei, die mehr Stimmen als eine andere Partei erringen kann, mindestens ebenso viele Sitze erhält wie diese. Mit anderen Worten müssen die Sitze zwar nicht streng proportional nach der Stimmenzahl vergeben werden, aber die Reihung der Parteien nach Sitzen muss ihrer Reihung nach Stimmen entsprechen (weak plurality ranking). In einem Zweiparteiensystem wie dem US-amerikanischen läuft das weak plurality rank ing auf das majority rule principle hinaus:184 Die Partei mit der Mehrheit der Stimmen muss auch die Mehrheit der Sitze erhalten. Das Prinzip ist verletzt, wenn innerhalb eines Spektrums realistischer Wahlergebnisse einer Partei selbst dann, wenn sie mehr als die Hälfte der Stimmen erreicht, nicht mehr als die Hälfte der Sitze zugeteilt werden, oder anders formuliert, falls eine Partei deutlich mehr als 50 % der Stimmen erhalten muss, um auch mehr als die Hälfte der Sitze zu erhalten. Ebendieser demokratische Grundgedanke, dass die Minderheit die Chance haben muss, zur Mehrheit zu werden, liegt dem Maßstab des entrenchment zugrunde, den das Bundesgericht in der Rechtssache Whitford v. Gill angelegt hat. Ein solches entrenchment durch die Parlamentsmehrheit ist nicht nur mit der Fundamentalbedingung legitimer Mehrheitsherrschaft unvereinbar, sondern verletzt auch die Wahlgleichheit der Wähler in gleicher Weise wie ungleich große Wahlkreise im Sinne des Malapportionment. Das majority rule principle kann deshalb ohne Weiteres an die in den 1960er Jahren gefällten Entscheidungen des Supreme Court zur Erfolgschancengleichheit anknüpfen.185 Obwohl also mit dem majority rule principle eigentlich ein Maßstab vorlag – und in Form des entrenchment-Gedankens auch in der Vorinstanz angekommen war –, der geeignet ist, die Auswirkungen manipulativer Wahlkreiszuschnitte nachvollziehbar und den Gerrymander damit verfassungsrechtlich „handhabbar“ zu machen, konnte der Supreme Court sich auch noch im Jahr 2018 nicht zu einem Einschreiten durchringen. Vielmehr zog er sich mit seinen Prozessurteilen auf eine Position der „Nichtintervention“ zurück und vermied eine Positionierung in der Sache. Nach diesen für die Gerrymander-Gegner186 ernüchternden Urteilen bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung in Zukunft entwickeln wird. Immerhin führten im Gill-Urteil nur zwei Richter, nämlich Chief Justice Roberts und Richter Gorsuch, McGann/Smith/Latner/Keena (Fn. 5), 196 ff. (insb. 210 ff.). Voraussetzung ist allerdings eine wahlkreisübergreifende Betrachtung, die im Vieth-Urteil von acht Richtern abgelehnt wurde. 183 S. oben unter IV. 1. b). 184 In einem Mehrparteiensystem ist das weak plurality ranking auch dann gewahrt, wenn – ganz im Sinne der mehrheitsbildenden Funktion des Mehrheitswahlrechts – die Partei, die zwar die meisten, nicht aber die Mehrheit der Stimmen hat, die Mehrheit der Sitze erhält. 185 Vgl. McGann/Smith/Latner/Keena (Fn. 5), 199 f.; umgekehrt muss aus dieser Perspektive das Vieth-Urteil als Abweichung von der früheren Rechtsprechung gelten (a.a.O., 188 ff.). 186 Etwa Charles/Fuentes-Rohwer (Fn. 89), 236 ff. 181
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die von Richter Scalia in der Vieth-Entscheidung vorgezeichnete Linie fort, parteipolitisches Gerrymandering sei als „politische Frage“ von vornherein nicht justiziabel.187 Die Mehrheit behielt sich mit der bloßen Beanstandung des standing vor, sich doch noch mit dem partisan gerrymandering zu befassen, sofern die Vorinstanzen eine hinreichende individuelle Betroffenheit der Kläger feststellen können.188 Richter Kennedy, der mit seinem Votum in Vieth v. Jubelirer die Hoffnung auf eine rechtlichen Einhegung des Gerrymanders genährt hatte, wird dabei freilich keine Rolle mehr spielen: Er schied im Juli 2018 aus dem Amt und wurde im Oktober desselben Jahres durch Brett Kavanaugh ersetzt, von dem politische Beobachter indes kein beherztes Zugreifen in Wahlrechtsfragen erwarten.189
3. Gerrymandering vor deutschen Gerichten Im Gegensatz zur Judikative in den USA waren deutsche Gerichte bislang kaum mit Gerrymandering befasst. Die bisherige verfassungsgerichtliche Wahlkreisjudikatur bezieht sich ganz überwiegend auf die Größe der Wahlkreise, lässt aber Schlüsse auf den Umgang mit einem möglichen Gerrymander zu. Sofern deutsche Gerichte – wie der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz im Jahr 2015 – über einen veritablen Gerrymander-Verdachtsfall zu urteilen haben, geschieht dies zudem vor dem Hintergrund eines vom US-amerikanischen grundsätzlich verschiedenen Repräsentationsmodells.
a) Repräsentationsmodell Dem personalisierten Verhältniswahlrecht als Entscheidungsregel liegt das Repräsentationsmodell der Verhältniswahl zugrunde;190 es zielt also auf eine möglichst exakte Proportionalität der Sitzverteilung. Ausnahmen von der Erfolgswertgleichheit ergeben sich, sofern Überhangmandate – wie im Bundestagswahlrecht seit 2013 – ausgeglichen werden, nur noch aus mathematischen Ungenauigkeiten bei der Übersetzung von Stimmen in Sitze191 sowie aus der Sperrklausel. Der Direktwahl der Wahlkreisabgeordneten mit der Erststimme liegt in diesem System offensichtlich nicht der Gedanke der Territorialrepräsentation zugrunde.192 Die Direktwahl kann sich, da über die Sitzverhältnisse im Parlament allein der Parteienproporz entscheidet, auch Vgl. a.a.O., 239. Gegen das Urteil des Bundesgerichts in North Carolina (vgl. Fn. 158) wurden bereits Rechtsmittel beim Supreme Court eingelegt; vgl. zum Verfahrensstand URL = https://www.brennancenter.org/ legal-work/common-cause-v-rucho; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 189 Vgl. Berman, „Does Brett Kavanaugh Spell the End of Voting Rights?“, New York Times online v. 13.07.2018, URL = https://www.nytimes.com/2018/07/13/opinion/sunday/voting-rights-voterid-kavanaugh.html; zuletzt abgerufen am 11.12.2018. 190 Vgl. BVerfG, Urt. v. 03.07.2008 – 2 BvC 1/07 u.a. –, BVerfGE 121, 266 (297): „Grundcharakter einer Verhältniswahl“ m.N. aus der st. Rspr. 191 Vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (372). 192 S. nur Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG („Vertreter des ganzen Volkes“); vgl. auch BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschl. v. 28.11.1979 – 2 BvR 870/79 – juris, Rn. 10. 187
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nicht auf die mehrheitsbildende Funktion des Mehrheitswahlrechts stützen.193 Auch der oftmals behauptete Zweck der Direktwahl, den Wählern einen unmittelbaren Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments zu ermöglichen, wird kaum realisiert. Denn die Wähler können – jedenfalls bei Bundestagswahlen – mit ihrer Erststimme nur Vertreter verschiedener Parteien wählen, nicht aber eine personelle Auswahl innerhalb ihrer Parteipräferenz treffen. Um ein „personalisiertes Verhältniswahlrecht“ handelt es sich also nur, weil ein Teil der Abgeordneten nicht über eine (starre194) Liste, sondern durch direkte „Personenwahl“195 gewählt wird. Der Zweck der Direktwahl von Wahlkreisabgeordneten kann unter Repräsentationsgesichtspunkten196 demnach nur darin bestehen, dass „zumindest die Hälfte der Abgeordneten eine engere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis hat.“197 Dadurch soll die Repräsentation vor Ort lebendig gemacht und das Verantwortungsgefühl des Abgeordneten gegenüber dem gesamten von ihm vertretenen Wahlkreis gestärkt werden.198
b) Wahlkreisjudikatur des Bundesverfassungsgerichts Obwohl das Bundesverfassungsgericht bislang nicht mit manipulativen Wahlkreiszuschnitten im Sinne des Gerrymandering befasst war, hatte es wiederholt Gelegenheit, zur Wahlkreiseinteilung Stellung zu nehmen. Stets ging es um die Größe der Wahlkreise, also die Frage eines einheitlichen Repräsentationsschlüssels oder, negativ gewendet, nach den Grenzen des Malapportionment im Bundestagswahlrecht. Nach anfänglicher Zurückhaltung199 legte sich das Gericht schon 1963 darauf fest, dass „im Rahmen des technisch Möglichen“ Wahlkreise mit annähernd gleich großen Bevölkerungszahlen gebildet werden müssten. Zugleich akzeptierte es die im Bundeswahlgesetz vorgesehene Abweichungsgrenze von 33 1/3 % als verfassungs Vgl. Meyer (Fn. 128), Rn. 36. Eine echte Personenauswahl ermöglicht die offene Listenwahl, wie sie in Bayern, Bremen und Hamburg praktiziert wird. 195 BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (349). 196 Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 85, weist daneben auf die Dezentralisierung der Kandidatenaufstellung hin. 197 So bereits BVerfG, Beschl. v. 03.07.1957 – 2 BvR 9/56 –, BVerfGE 7, 63 (74); ebenso BVerfG, Beschl. v. 22.05.1963 – 2 BvC 3/62 –, BVerfGE 16, 130 (140); Beschl. v. 09.03.1976 – 2 BvR 89/74 –, 41, 399 (423); Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, 95, 335 (352); Beschl. v. 31.01.2012 – 2 BvC 3/11 –, 130, 212 (228); Urt. v. 25.07.2012 – 2 BvF 3/11 u.a. –, 131, 316 (366); aus der landesverfassungsgerichtlichen Judikatur BayVerfGH, Entsch. v. 10.10.2001 – Vf. 2-VII-01 u.a. –, BayVerfGHE 54, 109 (138) = BayVBl. 2002, 11 (12); BWStGH, Urt. v. 14.06.2007 – GR 1/06 –, VBlBW 2007, 371 (373); Urt. v. 22.05.2012 – GR 11/11 –, VBlBW 2012, 462 (464). 198 Möstl (Fn. 14), 406 f.; s. auch Frowein, DÖV 1963, 857 (859). 199 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschl. v. 26.08.1961 – 2 BvR 322/61 –, BVerfGE 13, 127 (128 f.) ging noch davon aus, dass die Wahlkreiseinteilung im personalisierten Verhältniswahlrecht auf Bundesebene „keine entscheidende Rolle spiele“ und selbst erheblich voneinander abweichende Wahlkreisgrößen „nicht entscheidend ins Gewicht fielen“, weil die Erfolgswertgleichheit dadurch „nicht in strukturwidriger Weise infrage gestellt“ werde. Immerhin wollte der Vorprüfungsausschuss (§ 91a BVerfGG a.F.) des Zweiten Senats nicht ausschließen, dass auch im Rahmen des Bundestagswahlrechts unter Ausnutzung des Instituts der Überhangmandate eine „aktive oder passive, mit dem Gleichheitssatz unvereinbare Wahlkreisgeometrie betrieben“ werden könnte. 193
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konforme Konkretisierung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, mit der den berechtigten Anliegen einer Deckung der Wahlkreisgrenzen mit Verwaltungsgrenzen und dem stetigen Wandel der Bevölkerungsverteilung Rechnung getragen würde.200 Den verfassungsrechtlichen Maßstab bildete der Grundsatz der gleichen Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) in ihrer verhältniswahlrechtlichen Ausprägung als Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen.201 Maßgeblich für das Gericht war deshalb die Einschränkung der Erfolgswertgleichheit durch den Anfall proporzrelevanter Überhangmandate.202 Eine Rechtfertigung dafür sah es ausschließlich in dem spezifischen Repräsentationsgedanken der persönlichen Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu ihrem Wahlkreis. Unzulässig seien Überhangmandate hingegen, soweit sie sich als Folge ungleicher Wahlkreisgröße darstellten.203 Die Grundlage für das Erfordernis gleich großer Wahlkreise bildete also die verhältniswahlrechtliche Erfolgswertgleichheit, nicht eine spezifisch mehrheitswahlrechtliche Erfolgschancengleichheit. Die nicht ausgeglichenen Überhangmandate gaben dem Gericht 1997 erneut Anlass, sich im Lichte der Wahlgleichheit mit der Wahlkreisgröße zu befassen. Um das Erfordernis gleich großer Wahlkreise zu begründen, stellten die vier die Entscheidung tragenden Richter in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung204 nicht mehr (nur205) auf die Einschränkung der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit durch proporzrelevante Überhangmandate ab, sondern wählten einen spezifisch mehrheitswahlrechtlichen Ansatz:206 Im Mehrheitswahlsystem erfordere die Wahlgleichheit als Erfolgschancengleichheit die Einteilung möglichst gleich großer Wahlkreise, damit alle Wähler „mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können.“207 Da Überhangmandate seit 2013 vollständig ausgeglichen werden, kommt diesem Begründungsansatz heute besondere Bedeutung zu. Würde nämlich allein auf die Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit abgestellt, so würde, da Überhangmandate nunmehr keine proporzverzerrende Wirkung mehr haben können, das Erfordernis gleich großer Wahlkreise ersatzlos entfallen. Nur mehr aus dem spezifisch mehrheitswahlrechtlichen Repräsentationsgedanken lässt sich unter dem geltenden Wahlrecht ableiten, dass jeder Wahlkreisabgeordnete gleich viele Wähler vertreten soll.208 BVerfG, Beschl. v. 22.05.1963 – 2 BvC 3/62 –, BVerfGE 16, 130 (140 f.). A.a.O., 138 f. 202 Vgl. a.a.O., 139 f. Im konkreten Fall wurde eine Überschreitung der Abweichungsgrenze festgestellt; dies führte aber nicht zur Beanstandung des Wahlgesetzes, da bei dessen Erlass die Bevölkerungsentwicklung noch nicht hinreichend absehbar gewesen sei (a.a.O., 141 ff.). 203 A.a.O., 140. 204 Vgl. Backhaus, DVBl. 1997, 737 (738 ff.); Lege, Jura 1998, 462 (466). 205 Die Richter scheinen auch an die frühere Rechtsprechung anknüpfen zu wollen; vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (363): Bezugnahme auf BVerfG, Beschl. v. 22.05.1963 – 2 BvC 3/62 –, BVerfGE 16, 130 (139 f.). Später hat das BVerfG ausdrücklich beide Begründungsansätze zusammen herangezogen; vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.01.2012 – 2 BvC 3/11 –, BVerfGE 130, 212 (225 f.). 206 Möstl (Fn. 14), 414. 207 BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (353); vgl. zur mehrheitswahlrechtlichen Begründung des Gebots gleicher Wahlkreisgröße auch Möstl (Fn. 14), 408, 418 m.w.N. 208 Vgl. auch für das bayerische Landtagswahlrecht, das schon seit 1998 den Ausgleich von Überhangmandaten vorsieht, Möstl (Fn. 14), 418, der allerdings die Frage stellt, ob das Gebot gleicher Wahl200 201
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Dem Repräsentationsmodell einer lokalen Verankerung des Wahlkreisabgeordneten entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch festgehalten, dass jeder Wahlkreis zugleich ein zusammengehörendes und abgerundetes Ganzes bilden solle und sich die historisch verwurzelten Verwaltungsgrenzen nach Möglichkeit mit den Wahlkreisgrenzen decken sollten.209 Dem Gesetzgeber komme bei der Einteilung des Wahlgebiets in gleich große Wahlkreise daher ein gewisser Beurteilungsspielraum zu.210 Die Abweichungsgrenze von 33 1/3 % erachtete das Gericht aber als nicht mehr geeignet, um künftig die Wahlgleichheit zu wahren.211 An diesen Maßstäben orientiert sich auch die letzte einschlägige Entscheidung212 aus dem Jahr 2012, in der das Bundesverfassungsgericht die Heranziehung der deutschen Wohnbevölkerung anstatt der Zahl der Wahlberechtigten als Bezugsgröße für die Wahlkreiseinteilung als vom gesetzgeberischen Spielraum gedeckt akzeptierte.213 Bemerkenswert ist aber, dass das Gericht seine Rolle als „Wettbewerbshüter im demokratischen Prozess“ ausdrücklich annahm: Die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen des Gestaltungs- und Beurteilungsspielraums unterlägen jedenfalls so weit einer „strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung“, wie mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig werde und die Gefahr bestehe, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lasse.214 Zu diesen Regelungen gehörten grundsätzlich auch die Entscheidungen des Gesetzgebers über die Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise.215 Mit Blick auf die Bezugsgröße der Wahlkreisbildung konnte das Gericht freilich „Interessenkonflikte im Bereich der Gesetzgebung“ ausschließen und sah daher keinen Anlass, die konkrete Wahlkreiseinteilung einer näheren Überprüfung zu unterziehen.216
c) Wahlkreisjudikatur der Landesverfassungsgerichte Zwei der in Abschnitt III angeführten Fallbeispiele zogen eine landesverfassungsgerichtliche Überprüfung nach sich: Der „Hundeknochen“-Stimmkreis in Oberfrankreisgröße bei vollem Proporzausgleich wirklich mit der gleichen Schärfe zur Anwendung kommen müsse. 209 BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (364). 210 A.a.O.; vgl. im Anschluss daran auch BVerfG (K), Beschl. v. 18.07.2001 – 2 BvR 1252/99 u.a. –, NVwZ 2002, 71 (71 f.). 211 BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335 (365). Erneut wurde eine Überschreitung der nicht näher präzisierten neuen Grenze angenommen, die konkrete Wahlkreiseinteilung aber nicht beanstandet, da eine Neueinteilung bereits vom Gesetzgeber „in Angriff genommen“ worden sei (a.a.O., 364 f.). 212 Vgl. aber auch die bestätigenden Äußerungen zur Wahlkreisgröße in BVerfG, Urt. v. 05.06.2012 – 2 BvF 3/11 –, BVerfGE 131, 316 (361, 367 f.) 213 BVerfG, Beschl. v. 31.01.2012 – 2 BvC 3/11 –, BVerfGE 130, 212 (225 ff.). 214 A.a.O., 229 bezugnehmend auf die „Sperrklausel-Urteile“ BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 – 2 BvK 1/07 –, BVerfGE 120, 82 (105) und BVerfG, Urt. v. 09.11.2011– 2 BvC 4/10 u.a. –, BVerfGE 129, 300 (322 f.); später aufgegriffen in BVerfG, Urt. v. 26.02.2014 – 2 BvE 2/13 u.a. –, BVerfGE 135, 259 (289). 215 BVerfG, Beschl. v. 31.01.2012 – 2 BvC 3/11 –, BVerfGE 130, 212 (229). 216 A.a.O., 236.
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ken beschäftigte 2012 den Bayerischen Verfassungsgerichtshof im Rahmen mehrerer Popularklagen, die sich gegen die Stimmkreisreform richteten. Über den Neuzuschnitt des Landtagswahlkreises im Westerwald urteilte drei Jahre später der vom CDU-Wahlkreisbewerber angerufene Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz.
aa) Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 4. Oktober 2012 In Bayern griffen Kläger, darunter die Landkreise Kulmbach und Wunsiedel, die Stimmkreiseinteilung in Oberfranken im Wesentlichen mit der Begründung an, dass der neue Stimmkreis Wunsiedel, Kulmbach den Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BayVerf ), den Grundsatz der Deckungsgleichheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 3 BayVerf ) und den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 118 BayVerf ) verletze. Parteipolitisches Kalkül führten sie hingegen nicht ins Feld. Vielmehr rügten sie eine willkürliche Zusammenlegung zweier inhomogener und nur über eine „Landbrücke“ verbundener Gebiete sowie die mit + 24,36 % deutliche Abweichung vom Stimmkreisdurchschnitt.217 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte daher nicht über einen „echten Gerrymander“ zu entscheiden, der die Chancen einzelner Bewerber oder Parteien verschlechtert hätte,218 sondern „nur“ darüber, ob der Gesetzgeber die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze der Bayerischen Verfassung hinreichend berücksichtigt hatte: das Prinzip der Wahlgleichheit im Sinne eines einheitlichen Repräsentationsschlüssels auf der einen, das Prinzip der Deckungsgleichheit der Stimmkreise mit den Verwaltungsgrenzen auf der anderen Seite. Das Spannungsverhältnis, das zwischen beiden Prinzipien bestehe, sei im Rahmen einer Abwägung zu lösen, bei der dem Gesetzgeber ein „relativ weiter, verfassungsgerichtlich nicht überprüf barer Beurteilungsspielraum“ zustehe.219 Die Grenzen des Beurteilungsspielraums seien erst überschritten, wenn sich für die Lösung des Gesetzgebers keine sachlichen Gründe finden ließen, die sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben orientierten.220 Im konkreten Fall habe der Gesetzgeber aber nach sachlichen Kriterien gehandelt, indem er sich dazu entschieden habe, die ohnehin änderungsbedürftigen Stimmkreise Kulm217 BayVerfGH, Entsch. v. 04.10.2012 – Vf. 14-VII-11 u.a. –, BayVerfGHE 65, 189 (194 ff.) (insoweit nicht in BayVBl. 2013, 140 ff. abgedruckt). 218 Zwei Kläger hatten freilich gerügt, dass durch die starke Abweichung der Bevölkerungszahlen auch das passive Wahlrecht verletzt sei. Hintergrund ist ein Spezifikum des bayerischen Landtagswahlrechts, das offene Wahlkreislisten vorsieht, bei denen für die endgültige Reihung der Listenkandidaten deren Erst- und Zweitstimmen zusammengezählt werden. Ein Listenbewerber, der zugleich Direktkandidat in einem kleinen Stimmkreis ist, hat damit gegenüber einem Bewerber in einem bevölkerungsstarken Stimmkreis einen strukturellen Nachteil, da er weniger Erststimmen in die Gesamtstimmenzahl einbringen kann. Nach den Berechnungen eines der Kläger, deren Grundlagen im Urteilstext nicht wiedergegeben werden, soll ein Direktbewerber im kleinsten oberfränkischen Stimmkreis daher eine um 70,19 % schlechtere Chance auf die Erringung eines Listenmandats gehabt haben als ein Direktbewerber im größten Stimmkreis. Es ist bezeichnend, dass sich der BayVerfGH mit dieser Rüge, die immerhin eine Ergebnisrelevanz der Stimmkreiseinteilung und damit eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Bewerber behauptete, in seinen Entscheidungsgründen nicht auseinandersetzte. 219 BayVerfGH, Entsch. v. 04.10.2012 – Vf. 14-VII-11 u.a. –, BayVerfGHE 65, 189 (213) = BayVBl. 2013, 140 (145). 220 A.a.O.
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bach und Wunsiedel zusammenzulegen, auch wenn der neue Stimmkreis eine relativ hohe Abweichung vom Bevölkerungsdurchschnitt aufweise.221 Für das Gerrymandering hat die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs wenig Aussagekraft. Sie demonstriert vielmehr, wie stark die Kontrolldichte abgesenkt wird, wenn keine Anhaltspunkte für einen parteipolitisch motivierten Stimmkreiszuschnitt bestehen. Die CSU-internen personalpolitischen Erwägungen, die beim „Hundeknochen“-Stimmkreis eine Rolle gespielt haben dürften (s.o.), wurden im Verfahren offenbar nicht erörtert; da sie aber auch keine unmittelbare Benachteiligung der Minderheit indizieren würden, ist fraglich, ob der Verfassungsgerichtshof daran Anstoß genommen hätte. Der „personalpolitische Gerrymander“, wie er in Bayern praktiziert wird, dürfte sich, auch wenn er sich plausibilisieren lässt, dem verfassungsgerichtlichen Kontrollzugriff weitgehend entziehen, wenn die Parlamentsmehrheit für den Zuschnitt auch sachliche Gründe anführen kann und solange die Wahlchancen der Minderheit nicht geschmälert werden.
bb) Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 30. Oktober 2015 Gegen den oben beschriebenen Wahlkreisneuzuschnitt für die rheinland-pfälzische Landtagswahl 2016222 hatte der Direktkandidat der oppositionellen CDU im Wahlkreis 5 Bad Marienberg (Ww.)/Westerburg Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz erhoben. Er trug vor, dass Landesregierung und Gesetzgeber den Wahlkreiszuschnitt aus „rein parteipolitischen Motiven“ gewählt hätten, um dem SPD-Wahlkreisbewerber das Direktmandat zu sichern. Der Verfassungsgerichtshof sah sich also mit dem Vorwurf eines echten Gerrymanders konfrontiert. Als verfassungsrechtlichen Maßstab zog der Gerichtshof primär das Recht von Wahlbewerbern auf Chancengleichheit heran.223 Die Chancengleichheit als Ausprägung der Wahlrechtsgleichheit sei als strenger und formaler Gleichheitssatz zu verstehen, eine unterschiedliche Behandlung der Wahlbewerber daher nur „in engen Grenzen und bei dem Vorliegen von Gründen mit hinreichend zwingendem Charakter zulässig“.224 Die Wahlchancengleichheit gewährleiste dem Bewerber einen Anspruch darauf, „dass bei der Einteilung des Wahlgebiets diese nicht zu seinem Nachteil unter rein persönlichen und/oder parteipolitischen Aspekten vorgenommen und so das Wahlergebnis vorprogrammiert“ werde. Davon erfasst sei auch die Einteilung der Wahlkreise selbst, da diese die Bedingungen der politischen Konkurrenz unmittelbar berühre und ganz erhebliche Auswirkungen auf die Wahlchancen der Wahlkreisbewerber haben könne.225 Verboten sei eine Wahlkreiseinteilung, die ge A.a.O., 215 ff. S. oben unter III. 2. b). 223 RhPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, NVwZ-RR 2016, 161 (162 Rn. 34 f.); die Chancengleichheit wurde zwar aus der Landesverfassung abgeleitet (Art. 76 Abs. 1 i.V.m. Art. 17 Abs. 1 und 2 RhPf Verf ), jedoch inhaltlich vollständig an der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ausgerichtet. 224 RhPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, NVwZ-RR 2016, 161 (162 Rn. 36). 225 A.a.O., 162 Rn. 37 unter Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 31.01.2012 – 2 BvC 3/11 –, BVerfGE 221
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zielt einen Bewerber gegenüber seinen Mitbewerbern sachwidrig benachteilige. „Offensichtliche Wahlkreismanipulationen wie ein Zuschnitt der Wahlkreise auf Grund einer Analyse des bisherigen Wahlverhaltens durch die jeweilige Parlamentsmehrheit (sog. Gerrymandering)“ verstießen gegen den Verfassungsgrundsatz der Wahlchancengleichheit.226 Der Gerrymander ist damit – sogar ausdrücklich – in der deutschen Rechtsprechung angekommen. Bemerkenswert ist die Kontrollperspektive des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofs: Zwar geht er vom Recht des Wahlbewerbers auf Chancengleichheit aus, richtet dann aber den Blick auf die Motive des Gesetzgebers, fragt also nach den Gründen, die die Parlamentsmehrheit zu dem konkreten Wahlkreiszuschnitt bewogen haben: Sind diese Gründe „sachwidrig“, insbesondere „rein persönliche[r] und/oder parteipolitische[r]“ Art und zielt die Parlamentsmehrheit darauf ab, einen Kandidaten durch den Wahlkreiszuschnitt zu benachteiligen, ist dessen Recht auf Chancengleichheit verletzt, gleichviel ob er tatsächlich benachteiligt wurde. Positiv formuliert darf die Wahlkreiseinteilung „allein an sachgerechten Kriterien ausgerichtet sein“, um die Wahlchancengleichheit prozedural abzusichern.227 Sachgerecht sind dabei nur solche Kriterien, „die sich aus der Natur des Sachbereichs der Wahl und der Volksvertretung selbst ergeben“, insbesondere die „Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes“.228 Der Verfassungsgerichtshof operationalisiert die Chancengleichheit mit Blick auf Wahlkreiszuschnitte also als Willkürverbot, das an die Motive der Parlamentsmehrheit anknüpft. Dieser Ansatz unterscheidet sich markant von der Diskussion in den USA, in der der Fokus auf den tatsächlichen Auswirkungen des Wahlkreiszuschnitts liegt – mit der efficiency gap und dem Kriterium des entrenchments sollen gerade die empirisch feststellbaren Folgen der Wahlkreiseinteilung erfasst werden. Zwar spielen auch in der US-Rechtsprechung die Intentionen der Parlamentsmehrheit eine Rolle; ohne eine konkrete, zumindest absehbare Auswirkung auf das Wahlergebnis würde aber ein Wahlkreiszuschnitt selbst von den kontrollfreudigsten Gerichten nicht beanstandet werden.229 Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz setzt die Hürde für eine richterliche Intervention demgegenüber vergleichsweise niedrig an, wenn er sich allein mit einer Motivbeurteilung begnügt – allerdings nur auf den ersten Blick. Denn die Kontrolldichte des Gerichtshofs fällt nicht allzu hoch aus. Betont wird bezugnehmend auf die Wahlkreisjudikatur des Bundesverfassungsgerichts und anderer Landesverfassungsgerichte der gerichtlich zu achtende Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum, den der Gesetzgeber in Hinblick auf die „komplexen Abwägungs-
130, 212 (229); BWStGH, Urt. v. 22.05.2012 – GR 11/11 –, VBlBW 2012, 462 (465) (beide Urteile betreffen die Wahlkreisgröße) sowie Morlok (Fn. 9), Rn. 109. 226 RhPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, NVwZ-RR 2016, 161 (162 Rn. 38). 227 A.a.O., 162 Rn. 39 mit der etwas unklaren Einschränkung, dass das Erfordernis „insoweit (zumindest auch) einer prozeduralen Absicherung der Wahlchancengleichheit“ diene. 228 A.a.O., 162 f. Rn. 4 0. 229 Vgl. das Bundesgericht in Wisconsin in Whitford v. Gill, 218 F.Supp.3d 837 (W.D. Wis. 2016).
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und Prognoseentscheidungen“230 bei der Wahlkreiseinteilung genieße.231 Eine Überschreitung dieses Spielraums könne nur dann festgestellt werden, wenn sich für die Lösung, die der Gesetzgeber gewählt habe, keine sachlichen Gründe fänden, die sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere am Willkürverbot orientierten. Einschätzungen des Gesetzgebers, ob die Vorteile einer Alternativlösung gewichtiger seien als die Vorteile der von ihm getroffenen Lösung, könnten als Ergebnis von Wertungen und fachbezogenen Abwägungen verfassungsgerichtlich nur beanstandet werden, wenn sie eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlerhaft seien oder wenn sie der verfassungsrechtlichen Wertordnung widersprächen.232 Jedenfalls diesen Formulierungen nach soll sich die gerichtliche Kontrolldichte also auch beim „Gerrymander-Verdacht“ nicht von derjenigen unterscheiden, die bei einer „bloß geographischen“ Beanstandung des Wahlkreiszuschnitts angelegt würde. Immerhin hält der Verfassungsgerichtshof Rheinland Pfalz den Gesetzgeber dazu an, „zur Ermöglichung der verfassungsrechtlichen Kontrolle diejenigen Kriterien, welche er seiner Entscheidung über die Einteilung der Wahlkreise zugrunde legt, hinreichend zu konkretisieren und dokumentieren“.233 Eine besondere Form sei nicht vorgeschrieben: Die Kriterien könnten sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben (verwiesen wird auf § 3 Abs. 1 BWahlG), aber es reiche aus, sie „überhaupt in geeigneter Form“ zu dokumentieren.234 Auch diese Begründungsobliegenheit entspricht der allgemeinen Gleichheitsdogmatik: Der Gesetzgeber muss sich an den Kriterien messen lassen, die er einer Ungleichbehandlung zugrunde gelegt hat. Gibt er überhaupt keine Gründe an, die ihn zur Differenzierung bewogen haben, liegt willkürliches Handeln jedenfalls nahe. Im konkreten Fall gab sich der Gerichtshof mit der in den Landtagsdrucksachen dokumentierten Begründung des Gesetzentwurfs und ihrer Anwendung auf die Einteilung des streitigen Wahlkreises zufrieden.235 Die Rüge der parteipolitisch motivierten Manipulation wies er als spekulativ zurück, zumal sich durch den Neuzuschnitt die Mehrheitsverhältnisse in den betroffenen Wahlkreisen nicht signifikant verändert hätten.236
d) Kritische Analyse aa) Maßstäbe Der primäre verfassungsrechtliche Maßstab, an dem ein deutscher Gerrymander zu messen ist, ist das im Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und in den Landesverfassungen gleichermaßen verbürgte Recht auf Chancengleichheit der Wahlkreisbe230 RhPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, NVwZ-RR 2016, 161 (163 Rn. 46); dort wird auch der „planerische[n] Einschlag“ der gesetzgeberischen Entscheidung betont; zur Unergiebigkeit des Komplexitätsarguments vgl. Gärditz, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentags, Bd. I, 2016, D 69 ff. (mit Blick auf die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte). 231 RhPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15 –, NVwZ-RR 2016, 161 (163 Rn. 43 f.). 232 A.a.O., 163 Rn. 45. 233 A.a.O., 164 Rn. 48. 234 A.a.O., 164 Rn. 48. 235 A.a.O., 164 Rn. 51 ff. 236 A.a.O., 166 Rn. 70 ff.
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werber, das der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz als Willkürverbot operationalisiert. Die Wahlrechtsgesetzgeber sind demnach nicht verpflichtet, die Chancengleichheit der Wahlbewerber optimal zu verwirklichen, sie haben also nicht den „besten aller möglichen Wahlkreise“ zu gestalten.237 Es ist ihnen vielmehr nur untersagt, sich aus „sachwidrigen“, insbesondere persönlichen oder parteipolitischen Motiven für einen bestimmten Wahlkreiszuschnitt zu entscheiden. Neben der Chancengleichheit der Wahlbewerber kann aber auch die Wahlrechtsgleichheit der Wähler (Erfolgschancengleichheit) zur verfassungsrechtlichen Beanstandung eines Gerrymanders führen, wenn dieser – wie üblich – mit einer Abweichung von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße einhergeht. Denn eine solche größenmäßige Abweichung muss sich ebenfalls sachlich rechtfertigen lassen; parteipolitische Motive können nicht als sachliche Gründe gelten, sondern bringen im Gegenteil den Wahlkreiszuschnitt zu Fall. Unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit kann daher sogar ein „personalpolitischer Gerrymander“ wie in den bayerischen Fallbeispielen („Hundeknochen“- und „Seehofer“-Stimmkreis) verfassungsrechtlich in die Schranken gewiesen werden, auch wenn er sich nicht (unmittelbar) auf den politischen Wettbewerb auswirkt.
bb) Kontrolldichte Anders als in den USA, in denen die Justiziabilität des Gerrymanders bis heute umstritten ist, fällt es unter dem Grundgesetz und den Verfassungen der Länder also nicht schwer, materiell-rechtliche Anknüpfungspunkte für eine richterliche Intervention zu finden, die im Wege der Verfassungsbeschwerde, der Wahlprüfungsbeschwerde oder (in Bayern) sogar der Popularklage von Direktkandidaten und/oder Wahlberechtigten auch prozessual geltend gemacht werden können. Ob sich der Gerrymander auf diese Weise aber tatsächlich wirksam einhegen lässt, ist weniger eine Frage des materiellen Rechts als der gerichtlichen Kontrolldichte. Insoweit ist Kritik am bisher einzig unmittelbar einschlägigen Judikat angezeigt. Denn der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz stimmte, wie dargestellt, die Prüfungsintensität bei seinem „Gerrymander-Verdachtsfall“ weitestgehend mit der bisherigen Wahlkreisjudikatur des Bundesverfassungsgerichts und der Landesverfassungsgerichte ab. Hier wie da wird der weite Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont, den die Verfassungsgerichtsbarkeit zu achten und nur auf offensichtliche Fehler hin zu überprüfen habe. Diese Parallelisierung der Kontrolldichte ist freilich vorschnell: Denn während bei (bloß) ungleich großen Wahlkreisen im System der personalisierten Verhältniswahl nicht ohne Weiteres von einer eigennützigen Entscheidung der Parlamentsmehrheit ausgegangen werden kann, ist eben dies der Vorwurf, der bei einem „Gerrymander-Verdacht“ erhoben wird. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist hier als Hüterin des demokratischen Wettbewerbs angesprochen, in der sie die Mehrheit effektiv von der Ausnutzung ihrer Machtposition 237 Nicht nachvollziehbar daher Ridder (Fn. 129), 115 ff., der die Chancengleichheit für einen ungeeigneten Maßstab hält, weil es keine allgemeinverbindlichen Kriterien für die Wahlkreiseinteilung gebe.
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abhalten soll. Für die Anerkennung von Beurteilungs- und Gestaltungsspielräumen ist in dieser Rolle kein Raum. Dass bei Entscheidungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, eine „strenge[n] verfassungsgerichtliche[n] Überprüfung“ angezeigt ist, hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten Wahlkreisentscheidung aus dem Jahr 2012 hervorgehoben.238 Für den Gerrymander ist diese Festlegung, die man als Ausdruck einer gestiegenen „Repräsentativitätssensibilität“ deuten kann,239 in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Das Gericht gibt damit zu verstehen, dass es, sofern Anhaltspunkte für eine „wettbewerbswidrige“ Wahlkreiseinteilung durch die Parlamentsmehrheit bestehen, die Kontrolldichte erhöhen wird. Dass der Gesetzgeber bei der Wahlkreisgröße grundsätzlich einen Spielraum hat, darf also nicht dahin missverstanden werden, die Wahlkreiseinteilung unterliege allgemein einer zurückgenommenen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Vielmehr gilt: Je stärker die Indizien für eine eigennützige Entscheidung der Mehrheit im Parlament, desto höher ist die Kontrolldichte anzusetzen. Die vergleichsweise strenge Überprüfung von Sperrklauseln und differenzierenden Regelungen im Rahmen der Parteienfinanzierung belegt, dass das Bundesverfassungsgericht, sofern es Anreize für einen eigennützigen Machtmissbrauch durch die Mehrheit erkennt, seine Rolle als Hüter des politischen Wettbewerbs beherzt wahrnimmt.240 Der Kontrast zur ostentativen „Nichtinterventionspolitik“ der Mehrheit am US-Supreme Court könnte stärker kaum sein. Es ist daher keine gewagte Prognose, dass ein parteipolitisch motivierter Gerrymander, sofern er sich als solcher nachweisen lässt, vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben würde. Problematisch ist es aber, wenn bei der Überprüfung der Wahlkreiseinteilung auf sachwidrige Erwägungen die Gesetzesbegründung zugrunde gelegt wird. Denn damit ist bereits ein Deutungsrahmen gesetzt, der parteipolitische Erwägungen von vornherein fernliegend erscheinen lässt. Für den Gesetzgeber ist es ein Leichtes, sachliche Kriterien für seine Entscheidung anzuführen, auch wenn diese nur vorgeschoben sein mögen. Wahlkreiseinteilungen werden stets mit dem Hinweis auf eine Angleichung der Bevölkerungszahlen und arithmetische Notwendigkeiten begründet. Auch für einzelne Wahlkreiszuschnitte lässt sich so gut wie immer irgendein sachlicher Grund behaupten.241 So genügte dem rheinland-pfälzischen Verfassungs BVerfG, Beschl. v. 31.01.2012 – 2 BvC 3/11 –, BVerfGE 130, 212 (229). Vgl. Cancik, VVDStRL 72 (2013), 268 (278 ff.), die Konflikte um Wahlrecht und Parlamentsrecht allgemein als Indikatoren für „Repräsentativitätssensibilität“ begreift und zugleich nicht ohne kritischen Unterton feststellt, dass das Gericht „in scheinbar immer schnellerem Takt grundlegende Entscheidungen jenes Parlaments, gerade auch im Wahl- und Parlamentsrecht, für verfassungswidrig“ erkläre „und mit dem Topos von der ‚Entscheidung in eigener Sache‘ einen Zentralbegriff rechts- und politikwissenschaftlicher Parteien- und Abgeordnetenkritik übernommen“ habe (a.a.O., 271). 240 Ausf. Petersen (Fn. 118), 66 ff., 73 ff. 241 Der wohl kurioseste Grund, der je für einen (besonders großen) Wahlkreiszuschnitt angegeben wurde, war die Aussicht auf ein bevorstehendes Hochwasser bei den Wahlen zum 1. Reichstag am 03.03. 1871. Der Abg. Schels (Zentrum) kommentierte dies in der Debatte über eine Wahlbeschwerde wie folgt: „[…] wenn Hochwasser in Aussicht steht, so ist ja die erste Aufgabe so kleine Wahlbezirke als möglich zu bilden, auf dass nicht durch zu große Wahlbezirke und durch das unglücklicherweise – oder glücklicherweise – eingetretene Hochwasser einzelne Theile der Wählerschaft in die Lage gesetzt werden, wenn sie keine Brücke oder keinen Kahn haben, zu Hause zu bleiben und nicht an den Wahlort gehen zu können. Und dann möchte ich mir doch die Frage erlauben: besitzt etwa die Regierung von Unterfranken mit 238 239
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gerichtshof bereits der lapidare Hinweis auf „gemeinsame Interessen aufgrund der räumlichen Situation im Grenzdreieck“, um darüber hinwegzusehen, dass die im Wahlkreis vereinten Gebiete nur über eine – faktisch unpassierbare – gemeinsame Grenze von 750 Metern verbunden waren.242 Die gemeinsame Interessenlage war sogar vom Bürgermeister der betroffenen Gemeinde öffentlich bestritten worden. Ob die Gemeindevertreter vor der Entscheidung des Gerichtshofs gehört worden waren, ist unklar, aber aufgrund der tendenziellen Zurückhaltung deutscher Verfassungsgerichte gegenüber einer Ausschöpfung der Beweismöglichkeiten unwahrscheinlich.243 Gerade Gerrymander-Verdachtsfälle geben jedoch Anlass dazu, umfassend und von Amts wegen Beweis zu erheben, um sich nicht auf die Gesetzesbegründung verlassen zu müssen.244 Aufgrund ihrer Relevanz für den politischen Wettbewerb ist bei der Prüfung eines Gerrymander-Verdachts auch in tatsächlicher Hinsicht keine richterliche Zurückhaltung geboten.245 Dass ein Zuschnitt parteipolitisch motiviert war, wird sich freilich nur in seltenen Fällen mit letzter Gewissheit nachweisen lassen. Wie stets, wenn es um Intentionen der maßgeblichen Akteure geht, ist eine Zusammenschau aller indiziellen und kontraindiziellen Umstände erforderlich. Besonderes Gewicht wird man dabei einer zu prognostizierenden Stimmenverschiebung im jeweiligen Wahlkreis beimessen müssen, wie sie sich etwa in den Münchener Landtagstimmkreisen aufgrund der Umrechnung der Stimmbezirksergebnisse ohne Weiteres feststellen ließ. Wo eine solche Stimmenverschiebung nicht oder nur in geringem Umfang nachweisbar ist – etwa im rheinland-pfälzischen Beispiel –, liegt ein Gerrymander eher fern. Wahlmathematische Methoden, wie sie in den USA angewendet werden, lassen sich auch im deutschen Raum fruchtbar machen, insbesondere um mögliche Packing-Gerrymander, wie z.B. den Landtagsstimmkreis München-Mitte, adäquat erfassen zu können. Die empirischen Grundlagen können nötigenfalls im Wege eines Sachverständigengutachtens eingeholt werden.246 überirdischen oder unterirdischen Mächten Verbindung, welche ihr am 1. Februar mitgetheilt haben, daß am 3. März Hochwasser eintreten werde?“ (RT-PlPr. v. 18.04.1871 [17. Sitzung], 261). 242 RPf VerfGH, Beschl. v. 30.10.2015 – VGH B 14/15, NVwZ-RR 2016, 161 (166 Rn. 69). 243 Vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 26 Rn. 4 f., 7 zur Tatsachenermittlung des BVerfG. 244 In Whitford v. Gill, 218 F.Supp.3d 837 (W.D. Wis. 2016) hatte das US-Bundesgericht in Wisconsin umfangreich Beweis über die Frage einer parteipolitischen Motivation erhoben. Es vernahm in einer viertägigen mündlichen Verhandlung insgesamt acht teils sachverständige Zeugen, darunter auch parlamentarische Mitarbeiter, die an der Ausarbeitung der streitigen Wahlkreiskarte beteiligt waren. Der Prozess der Ausarbeitung wurde – einschließlich der softwaregestützten Analyse des Wählerverhaltens und von Äußerungen der maßgeblichen Akteure – minutiös rekonstruiert. Nach den Feststellungen des Gerichts ließ sich etwa der federführende Mitarbeiter des republikanischen Mehrheitsführers im Senat vor den republikanischen Abgeordneten wie folgt ein: „The maps we pass will determine who’s here 10 years from now […]. We have an opportunity and an obligation to draw these maps that Republicans haven’t had in decades.“ 245 In anderen politisch „sensiblen“ Fallgestaltungen, zumal wenn die Verfassungsgerichte als erste Instanz fungieren, sind umfangreiche Beweiserhebungen nicht unüblich, etwa bei Parteiverbotsverfahren oder Wahlprüfungsbeschwerden; vgl. Lenz/Hansel (Fn. 243), Rn. 8; Walter, in: ders./Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, § 26 Rn. 1 (Stand: 01.06.2018). Nichts anderes kann für Gerrymander-Verdachtsfälle gelten. 246 Dass auch in Deutschland „Wahlkreismathematik“ auf wissenschaftlichem Niveau betrieben wird, belegen einschlägige Veröffentlichungen, etwa Goderbauer, Mathematische Optimierung der Wahlkreiseinteilung für die Deutsche Bundestagswahl, 2016. Auch das BVerfG hat sich in wahlrecht-
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Waren die Zuschnitte bereits im Parlament umstritten – wie etwa in den Fallbeispielen aus Rheinland-Pfalz und Bayern – und sind auch geographische „Anoma lien“ des Zuschnitts leicht erkennbar (z.B. 750 m Grenze), hat das Verfassungsgericht die Wahlkreiseinteilung auch über die in der Gesetzesbegründung ausgewiesenen Gründe hinaus zu überprüfen, um seiner Aufgabe als Wettbewerbshüter gerecht zu werden. Je stärker der „Gerrymander-Anfangsverdacht“, desto intensiver muss die verfassungsgerichtliche Kontrolle ausfallen. Ein schematisches Vorgehen und der pauschale Verweis auf legislative Spielräume verbieten sich in jeden Fall.
4. Resümee Aus demokratietheoretischer Perspektive erscheint es geboten, den parteipolitisch motivierten Gerrymander rechtlich einzuhegen. Die dritte Gewalt ist als Hüterin des demokratischen Wettbewerbs dazu aufgerufen, die Minderheit im Parlament vor einem Machtmissbrauch der Mehrheit zu schützen. Die US-amerikanische Erfahrung zeigt, dass Gerichte aber nicht ohne Weiteres bereit sind, die ihnen zugedachte Rolle auch auszufüllen. In Deutschland stehen die Chancen für einen beherzten Zugriff der Verfassungsgerichte besser, sollte sich ein Gerrymander zeigen. Die Chancengleichheit der Wahlbewerber, aber auch die Erfolgschancengleichheit der Wahlberechtigten eignet sich hervorragend als normativer Anknüpfungspunkt für richterliche Interventionen. Ein besonderes Augenmerk wird aber darauf zu legen sein, wie intensiv die Gerichte ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen. Mit richterlicher Selbstbeschränkung in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht ist dem Gerrymander jedenfalls nicht beizukommen.
V. Kommt der Bundes-Gerrymander? In seiner Ausgabe vom 22. Januar 1968 überschrieb der Spiegel einen Artikel lapidar mit „Gerrymander kommt“. Verteidigungsminister Gerhard Schröder müsse um jeden Häuserblock kämpfen. Denn sein Bundestagswahlkreis, der seit 1949 fest in der Hand der CDU gewesen sei, drohe zur Hälfte an die Sozialdemokraten verloren zu gehen, wenn die Große Koalition ernstlich darangehe, das bisher geübte Verhältniswahlrecht durch ein System einfacher Mehrheitswahl zu ersetzen.247 Zu dieser Reform des Wahlrechts248 ist es bekanntlich nie gekommen.249 Die Gerrymander-Gelichen Fragen wiederholt sachverständiger Auskunftspersonen (§ 27a BVerfGG) aus mathematischen und empirischen Disziplinen bedient; vgl. BVerfG, Urt. v. 09.11.2011 – 2 BvC 4/10 u.a. –, BVerfGE 129, 300 (316); Urt. v. 25.07.2012 – 2 BvF 3/11 u.a. –, BVerfGE 131, 316 (331); Urt. v. 26.02.2014 – 2 BvE 2 u.a. –, BVerfGE 135, 259 (278). 247 „Gerrymander kommt“, Der Spiegel Nr. 4/1968 v. 22.01.1968, S. 20. 248 Zu den damaligen Reformdiskussionen s. allen voran den Bericht des Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts, 1968; ferner Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, 1967; Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, 1985, 169 ff. 249 Gerhard Schröder verlor bei der Bundestagswahl 1969 dennoch seinen Wahlkreis Düsseldorf-Mettmann II an seinen sozialdemokratischen Konkurrenten Georg Neemann – ganz ohne Gerrymander.
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fahr schien auf Bundesebene gebannt. Dass aber auch das personalisierte Verhältniswahlrecht Anreizstrukturen für Wahlkreismanipulationen bietet, zeigen nicht zuletzt die oben angeführten Fallbeispiele. Proporzrelevant sind Wahlkreiszuschnitte nach dem vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten auf Bundesebene zwar nur noch mit Blick auf die Grundmandatsklausel. Doch allein das politische Prestige, das mit dem Gewinn eines Wahlkreises für den Kandidaten und seine Partei verbunden ist, kann für die Mehrheit im Parlament Anreiz genug sein, eigene Direktmandate abzusichern und Direktmandate der Minderheit auszuschließen. Dass der Gerrymander auf Bundesebene dennoch lange nicht gesichtet wurde, hat nicht zuletzt mit dem Modus zu tun, nach dem die Wahlkreise im Bundestag festgelegt wurden. Von der sechsten bis zur zwölften Wahlperiode herrschte das Konsensprinzip: Die Wahlkreiseinteilungen sollten möglichst von allen betroffenen Parteien mitgetragen, Mehrheitsentscheidungen vermieden werden.250 Erst ab der 13. Wahlperiode wurde das Konsensverfahren aufgegeben. Wahlkreisänderungen wurden aber auch danach noch von Oppositionsfraktionen mitgetragen – selbst dann, wenn sie, wie im Fall der Berliner Wahlkreise 2002, die eigenen Wahlchancen schmälerten. Die Wahlkreis einteilung für die Bundestagswahl 2017 geht sogar auf einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der Großen Koalition und der oppositionellen Grünen zurück.251 Heute erscheinen jedoch die Aussichten des Gerrymanders, im Bundestagswahlrecht Fuß zu fassen, so gut wie selten zuvor. Zwei Faktoren tragen dazu bei, dass die Gerrymander-Gefahr zunimmt. Da sind zum einen die Bemühungen um eine Wahlrechts- und Parlamentsreform, die auf eine Verkleinerung des Bundestags abzielen.252 Auch wenn die Einführung des Mehrheitswahlrechts heute – anders als 1968 – keine realistische Option mehr ist,253 können die verschiedenen Reformvorschläge innerhalb des grundsätzlichen Systems der personalisierten Verhältniswahl Anreize für Wahlkreismanipulationen schaffen.254 Die Einführung einer Freigrenze für ausgleichslose Überhangmandate würde den Direktmandaten ihre potentielle Proporzrelevanz zurückgeben.255 Auch bei einer absoluten Obergrenze der Gesamtmandate256 würde die Bedeutung der Direktmandate zunehmen. Sofern der Anteil der Direktmandate an den Gesamtmandaten reduziert (etwa auf 40 oder 33 %)257 oder – unabhängig vom Verhältnis – die Zahl der Wahlkreise verringert würde,258 müss Hahlen (Fn. 9 0), Rn. 9 mit Einzelheiten zum Verfahren. Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen v. 15.03.2016, BT-Drs. 18/7873. Die Linke stimmte allerdings gegen den Entwurf (BT-PlPr. 18/164, 16118); sie kritisierte, dass trotz abweichender Bevölkerungszahlen ein Wahlkreis in Thüringen statt in Hessen wegfallen sollte und vermutete eine „CDU-interne Gefälligkeit“ zugunsten des damaligen CDU-Generalsekretärs Tauber (so wörtlich der Abg. Tempel [Linke], BT-PlPr. 18/161, 15928). 252 Zum Stand vgl. Lohse, „Neigung zur Perfektion“, FAZ v. 12.10.2018, 4. 253 Vgl. Sacksofsky, in: Mörschel (Hrsg.), Wahlen und Demokratie, 2016, 101 (111 f.). 254 Erst recht würde dies gelten, wenn das personalisierte Verhältniswahlrecht in ein Grabenwahlsystem geändert würde; s. zu dieser Reformidee Ipsen (Fn. 33), 395 ff., der sie indes für weder realistisch noch verfassungsrechtlich zulässig hält. 255 Nach BVerfG, Urt. v. 25.07.2012 – 2 BvF 3/11 u.a. –, BVerfGE 131, 316 (369 f.) sind bis zu 15 nicht ausgeglichene Überhangmandate zulässig. 256 Eine Obergrenze von 110 Abgeordneten bei einer Regelgröße von 88 Mandaten sieht etwa § 3 Abs. 7 BbgLWahlG vor. 257 Dazu Grotz, in: Mörschel (Hrsg.), Wahlen und Demokratie, 2016, 77 (96); Ipsen (Fn. 33), 394 f. 258 Vgl. Sacksofsky (Fn. 236), 113: „Ob die Politik hierfür die Kraft auf bringt, ist fraglich.“ 250 251
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ten die Wahlkreise im gesamten Bundesgebiet neu eingeteilt werden und es böten sich vielfältige Möglichkeiten für parteipolitisch motivierte Gestaltungen. Hinzu kommt die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems, die spätestens seit der Bundestagswahl 2017 zu konstatieren ist.259 Das Wahlrecht steht in „Zeiten knapper Wahlergebnisse“260 vor besonderen Herausforderungen. Vor allem der Einzug der Af D in den Bundestag lässt auch die Direktmandate wieder in den Vordergrund rücken. Immerhin konnten Af D-Wahlkreisbewerber 2017 drei Direktmandate in Ostsachsen gewinnen.261 Weitere Verschiebungen bei den Direktmandaten zulasten von Union und SPD und zugunsten der Af D – gerade in Ostdeutschland –, aber auch der Grünen – gerade in urbanen Wahlkreisen – sind unter Berücksichtigung der jüngsten Landtagswahlergebnisse nicht unwahrscheinlich. Es ist keine gewagte Prognose, dass sich die Fragmentierung des Parteiensystems auch in einer „Vielfarbigkeit“ der Wahlkreislandschaft niederschlägt. Die Mehrheitsfraktionen haben, schon um den damit verbundenen Prestigeverlust zu vermeiden, Anlass genug, dem durch eigennützige Wahlkreiszuschnitte entgegenzuwirken. Ein Konsens über Wahlkreiseinteilungen, wie er über lange Zeit das Bundestagswahlrecht geprägt hat, erscheint heute jedenfalls weiter entfernt denn je.262 Sollte vor dem Hintergrund von Wahlrechtsreform und Parteienzersplitterung tatsächlich das ein oder andere Exemplar eines Gerrymanders auf Bundesebene gesichtet werden – in den Ländern dürfte die Spezies ohnehin schon heimisch sein –, ist die deutsche Verfassungsordnung sowohl materiell-rechtlich als auch institutionell gut darauf vorbereitet: Anders als der US-amerikanische Supreme Court wird sich das Bundesverfassungsgericht kaum in richterlicher Zurückhaltung üben, wenn es von Kandidaten oder Wählern mit manipulativen Wahlkreiszuschnitten konfrontiert wird. Es wird – auch das ist keine gewagte Prognose – seine Rolle als Hüter des demokratischen Wettbewerbs beherzt wahrnehmen und den Gerrymander gestützt auf die Gewährleistungen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in die Schranken weisen, um eine Übervorteilung der Minderheit durch die Mehrheit im Parlament von vorneherein auszuschließen. Die Überlebenschancen des Bundes-Gerrymanders sind daher, falls er kommt, als nicht allzu hoch zu taxieren.
259 Dazu allgemein Grabow/Pokorny, Das Parteiensystem in Deutschland ein Jahr nach der Bundestagswahl, 2018 (hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung); differenzierend Schönberger/Schönberger, JZ 2018, 105 (105 ff.). 260 Ipsen, DVBl. 2003, 1013 (1017). 261 Die Abg. Petry, die den Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gewann, verließ jedoch kurz nach der Wahl die Af D-Fraktion. 262 Zur „Herausforderung der Konsenskultur des Bundestages durch Neulinge“ im Allgemeinen und durch die Af D im Besonderen vgl. Schönberger/Schönberger (Fn. 259), 107 f.
Nach der Wahl ist vor der Wahl Funktionen der Parteien bei der Wahlvorbereitung und deren Kontrolle von
Dr. Heike Merten (Düsseldorf ) Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Kernaufgaben der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Funktionenkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Verfahren der demokratischen Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Wahlteilnahme als Pflichtaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Wahlteilnahme als Daueraufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Personelle Dimension der Wahlteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Wahlvorschlagsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Kandidatenaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Die sachliche Dimension der Wahlteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3. Die zeitliche Dimension der Wahlteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 V. Angreifbarkeit der Kandidatenaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Fehleranfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Innerparteiliche Angreifbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Wahlrechtliche Angreifbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 VI. Fazit und Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
I. Einführung Politische Parteien sind in einer Demokratie ein notwendiger Bestandteil.1 Sie finden sich folglich in allen Demokratien, ungeachtet dessen wie die Demokratien ausge1 Volkmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch Parlamentsrecht, 2016, § 4 Rn. 3; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 166; Tsatsos/Morlok, Parteienrecht, 1982, 7 ff.; Grimm, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Parteien ohne Volk, 2008, 9 ff.; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1984, 45; Morlok, in: Tsatsos (Hrsg.), 30 Jahre Parteiengesetz in Deutschland, 2002, 53 (54); Ipsen, in: Sachs (Hrsg.),
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staltet sind, allerdings in mannigfachen Formen und Arbeitsweisen, leisten sie doch in parlamentarischen Demokratien Anderes als in Präsidialdemokratien oder gar autoritären Systemen. Ist in größeren organisierten Verbänden eine Selbstbestimmung des Einzelnen nicht möglich, so soll doch der Wille des Einzelnen und damit des Bürgers möglichst wirksam in die politische Entscheidungsfindung einfließen. Kurz gesagt: die Herrschaft muss wesentlich von den Beherrschten beeinflusst werden. Die normative Grundlage hierfür ist die Volkssouveränität.2 Nach Art. 20 Abs. 2 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Demokratie heißt mithin Beeinflussbarkeit.3 Die wesentlichen Impulse für den staatlichen Apparat, der die verbindlichen Entscheidungen trifft, soll das Volk setzen. Ist das Volk in einer Demokratie die maßgebende politische Größe, so muss es handlungs- und entscheidungsfähig werden. Dazu bedarf es organisatorischer und prozeduraler Einrichtungen, auch in Gestalt von mehreren Organisationen. Das Volk als Vielzahl der Bürger ist ohne derartige Organisationen und Verfahren geregelter Entscheidungsfindung nicht zu Entscheidungen in der Lage – und damit nicht politikfähig. Als gesellschaftliche Organisationen, die die Interessen ihrer Anhänger bündeln, artikulieren und durch Besetzung von politischem Führungspersonal in Entscheidungsmacht umsetzen, erfüllen politische Parteien den Zweck, das Volk handlungs- und entscheidungsfähig zu machen. Sie sind die Organisationen, die sich darauf spezialisiert haben, die institutionalisierten Wege und Möglichkeiten der Einflussnahme in einer Demokratie wahrzunehmen. Sie sind Spezialzweckorganisationen4, die ihren normativen Grund in der Volkssouveränität haben. Volkssouveränität bedeutet in ihrer sachlichen Dimension, dass Sachentscheidungen vom Volk inhaltlich bestimmt werden können. Dies geschieht zum einen durch Abstimmungen und zum anderen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Für die Ausübung der Staatsgewalt durch besondere Organe gewinnt die personelle Dimension der Volkssouveränität besondere Bedeutung. Jede Besetzung jeder Position, durch die Staatsgewalt ausgeübt wird, muss in lückenloser Legitimationskette auf das Volk, d.h. den Souverän zurückgeführt werden können.5 Politische Parteien sind spezialisiert auf die personelle Dimension der Volkssouveränität. In ihrer Spezialisierung auf die Erringung von Wahlerfolgen und die Gewinnung von Parlamentsmandaten und möglichst auch die Mitwirkung in Regierungen sind sie alternativlos. Parteien sind der Motor der Demokratie,6 sie ermöglichen erst die Demokratie.
Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 5 ff.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 15 ff. Kritisch Towfigh, Das Parteien-Paradox, 2015, passim. 2 Morlok, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 559 (560); Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 129 ff.; Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 7. 3 Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, 5. 4 Dazu näher Morlok, in: Morlok/Poguntke/Zons (Hrsg.), Etablierungschancen neuer Parteien, 2016, 59 ff.; s.a. Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, 13. 5 Morlok, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 559 (567). 6 Oder, mit Max Weber gesprochen, Parteien sind „Kinder der Demokratie“, Politik als Beruf, 2. Aufl. 1926, Nachdruck Reclam 2012, 43.
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II. Kernaufgaben der Parteien Die Aufgabe der Parteien ist im Wesentlichen die „Vermittlung“ zwischen Gesellschaft und Staat. Was aber genau bedeutet Vermittlung? Ein Blick auf die verschiedenen Aspekte der Parteitätigkeit und damit auf die Funktionen der Parteien verdeutlicht den Gehalt.
1. Funktionenkatalog Die Parteienforschung hat die Funktionen der Parteien intensiv untersucht. Eine hervorgehobene Rolle spielen dabei Funktionenkataloge, mit denen die verschiedenen Aspekte der Parteitätigkeit benannt und zusammengefasst werden. Die tatsächlich wahrgenommenen und die normativ zugedachten Aufgaben der Parteien gehen dabei oftmals eine unübersichtliche Mischung ein. Diese Funktionenkataloge sind mehr oder weniger umfangreich: Es finden sich vier7, sieben8 oder gar 189 Funktionen, die den Parteien zugeschrieben werden.10 Das Parteiengesetz selbst enthält in § 1 Abs. 2 ebenfalls eine Aufzählung von verschiedenen Funktionen, welche die Parteien erfüllen oder erfüllen sollen. Mit einer abstrakt ansetzenden Analyse lassen sich die Leistungen der Parteien in drei Funktionen zusammenfassend beschreiben, nämlich als solche der Interessenvermittlung, des Betriebs des politischen Systems und der Durchsetzung eigenen Personals.11 Die Funktion der Interessenvermittlung ist eine zentrale Aufgabe, in der sich die Parteien aufgrund ihrer Strukturen deutlich von den Möglichkeiten anderer Organisationen abheben. Ihre sowohl personell wie auch inhaltlich in der Breite angelegte Ausrichtung auf politische Themen und Einflussbereiche prädestinieren sie dafür, in der Gesellschaft vorhandene Interessen aufzunehmen und in den politischen Entscheidungsgang hinein vermitteln zu können. Dabei leisten sie bereits im Vorfeld der staatlichen Entscheidungsfindung Entscheidendes für eine auf Kompromissbildung angewiesene parlamentarische Demokratie, indem sie in der Bevölkerung vorhandene Interessen und Überzeugungen aufnehmen, diese zu gemeinschaftlich vertretenen Parteipositionen bündeln und über ihre gewählten Vertreter in die staatlichen Willensbildungsprozesse einspeisen. 7 So Steffani, ZParl 1988, 549 (550); Volkmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch Parlamentsrecht, 2016, § 4 Rn. 4 ff. 8 So v. Alemann/Erbentraut/Walther, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 2018, 239 ff., im Einzelnen werden dort unterschieden Partizipation, Transmission, Selektion, Integration, Sozialisation, Selbstregulation und Legitimation. 9 Wiesendahl, Parteien und Demokratie, 1980, 188. 10 Einen Überblick über die Funktionsdebatte in der Parteiensoziologie gibt v. Alemann/Erbentraut/ Walther, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 2018, 235 ff. Zu den Dimensionen des Funktionsbegriffs und einem spezifisch rechtswissenschaftlichen Verständnis s. Krüper, in: Morlok/Poguntke/Sokolov (Hrsg.), Parteienstaat – Parteiendemokratie, 2017, 69 (71 ff.). 11 Siehe dazu im Einzelnen Morlok, in: FS für Ulrich von Alemann, 2010, 19 ff.; s. auch Morlok/ Merten, Parteienrecht, 2018, 11.
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Die politischen Parteien sind auf diesem Gebiet der Interessenvermittlung vom Volk hin zu den Staatsorganen die zentralen Organisationen zum Betrieb des politischen Systems. Die demokratischen Institutionen, insbesondere die Parlamente, Regierungen und Selbstverwaltungskörperschaften, sind das Zielgebiet der politischen Parteien.12 Die von ihnen innerparteilich vorformulierten politischen Ziele, hinter denen die Interessen und Überzeugungen ihrer Anhänger stehen, werden in den politischen Betrieb mit dem Ziel der möglichst weitreichenden Verwirklichung eingebracht, sei es durch erneute Kompromissbildung mit den politischen Partnern oder durch Unterbreitung von Alternativen zu den Vorschlägen politischer Gegner. Beide Aufgaben, Interessenvermittlung wie der Betrieb des politischen Systems, werden wesentlich dadurch wahrgenommen, dass die Parteien Entscheidungspositionen mit eigenem Personal besetzen. Über das eigene Personal kann die eigene Programmatik verwirklicht werden, wobei die Durchsetzung der Parteipositionen selbstverständlich nicht nur von der besetzten Position, sondern maßgeblich auch von Durchsetzungskraft und -willen des jeweiligen politischen Personals abhängt. Primäres personalpolitisches Ziel der Parteien ist dabei, wie auch die einfachgesetzliche Definition der politischen Partei in § 2 Abs. 1 S. 1 PartG zum Ausdruck bringt, die Gewinnung von Sitzen in den Volksvertretungen. Daran an schließt sich aber unmittelbar auch das besondere Interesse der Parteien an der Besetzung auch von Regierungsämtern.
2. Verfahren der demokratischen Einflussnahme Zentrales Verfahren zur Organisation des Volkswillens und damit zur demokratischen Einflussnahme durch die Bürger sind Wahlen.13 Durch die Wahlen wird der Legitimationszusammenhang hergestellt. So werden die Parlamente als einzige Organe im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes unmittelbar demokratisch legitimiert. Die Parlamentswahlen sind mithin der zentrale Akt, durch den das in Art. 20 Abs. 2 GG zum Ursprung der staatlichen Gewalt erklärte Volk seinen Willen verbindlich äußern kann.14 Alle staatliche Gewalt wird so zurückgeführt auf den Volkswillen. Dabei hängt die politische Repräsentation des Volkes im Parlament ganz wesentlich von der konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems ab. Anders als die Weimarer Reichsverfassung, die eine Verhältniswahl vorgab, hat das Grundgesetz darauf verzichtet, ein Wahlsystem vorzugeben. Stattdessen hat der Verfassungsgeber die nähere Ausgestaltung gemäß Art. 38 Abs. 3 GG dem Bundesgesetzgeber überlassen und lediglich das Wahl- und Wählbarkeitsalter in Art. 38 Abs. 2 GG sowie die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG festgeschrieben. Die grundsätzliche Offenheit des Grundgesetzes gibt dem Bundesgesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen er das Wahlsystem als Mehrheitswahl, als Verhältniswahl, aber eben auch durch Verbindung beider Modelle ausgestalten
Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, 12. Morlok, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 559 (589). 14 Lenski, AöR 134 (2009), 473 (475). 12 13
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darf.15 Der Gesetzgeber hat sich im Bundeswahlgesetz (BWahlG) für eine Kombination in Form der „verbundenen personalisierten Verhältniswahl“ entschieden. Danach wird die Hälfte (299) der 598 Abgeordneten nach dem Grundsatz der relativen Mehrheitswahl in Einer-Wahlkreisen mit der Erststimme direkt gewählt. Die andere Hälfte (299) wird „en bloc“ aufgrund „starrer“ Landeslisten der Parteien nach den Grundsätzen der Verhältniswahl in den Ländern mit der Zweitstimme gewählt (§ 1 Abs. 2, §§ 4 –6 BWahlG). Entgegen der Konnotation des Begriffs „Zweitstimme“ ist diese für das numerische Wahlergebnis der einzelnen Parteien ausschlaggebend. Die Stärkeverhältnisse der Parteien und die Größe der später zu bildenden Fraktionen ergeben sich primär aus dem Zweitstimmenanteil der Parteien bei den Wahlen. Das System der personalisierten Verhältniswahl basiert auf dem Grundgedanken, dass, trotz der wesentlichen Rolle der Parteien im Wahlgeschehen, dem Wähler die Möglichkeit gegeben werden soll, nach persönlichkeitsbezogenen Kriterien wählen zu können.16 Die bei der Erststimme mögliche Wahl einer Person soll zudem eine engere Bindung des Abgeordneten an seinen Wahlkreis bewirken.17 In den jüngeren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die Begründung des personalisierten Verhältniswahlrechts erweitert und die Wahl des Direktkandidaten als Person und nicht als Exponent einer Partei auch als Stärkung des repräsentativen Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes bezeichnet. Auch die innerparteiliche Demokratie werde gestützt und dem Vertrauen des Wählers zu seinem Repräsentanten eine persönlichkeitsbestimmte Grundlage gegeben.18 Die bisherige Begründung aus Abgeordnetensicht wurde ergänzt um eine parteibezogene und eine wählerbezogene Sicht. Die Bestimmungsmacht des Volkes wird im Ergebnis aber nur dann wirksam, wenn der Souverän in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen wiederkehrend durch neue Betätigung der Volkssouveränität in Wahlen eine Rückkoppelung geben kann.19 Allerdings sichert die Volkssouveränität zur Aufrechterhaltung der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt Einflussmöglichkeiten des Volkes auch zwischen den Wahlen.20 Wirkmächtig wird der sich ständig bildende Volkswille durch die antizipierte nächste Wahlentscheidung. So erhält der Souverän über das Wiederwahlinteresse der gewählten Volksvertreter Einfluss auf die Politik.21 Die Wahlen sind daher tragendes Medium der Einflussnahme jedes Einzelnen auf die staatliche Entscheidungsbildung. Im Vorfeld einer Wahl bedarf es der ordnenden und gestaltenden Herausbildung von Alternativen und Handlungsoptionen, die letztlich zur Wahl stehen. Dazu bedarf es der Organisation und Organisationen, die eine Entscheidung möglich machen. 15 Siehe dazu Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 58; Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, 217 ff.; Robbe/Weinzierl, ZRP 2015, 84 ff.; einen Überblick gibt Hambusch, Kandidatenaufstellung und „Primaries“ im Lichte des Verfassungsrechts, 2016, 13 ff. 16 Lenski, AöR 134 (2009), 473 (496), unter Hinweis auf Pukelsheim, DÖV 2004, 405 (412). 17 BVerfGE 7, 63 (74); 16, 130 (140); 41, 399 (423); 95, 335 (358); 95, 408 (412); 97, 317 (327). 18 BVerfGE 95, 335 (352 f.); 97, 317 (327). Siehe dazu auch Lenski, AöR 134 (2009), 473 (478 ff.). 19 Morlok, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 559 ff.; Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, 103 f. 20 Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, 104 m.w.N. 21 Siehe auch Merten, in: Morlok/Poguntke/Walther (Hrsg.), Politik an den Parteien vorbei, 2012, 95 (96 f.).
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III. Wahlteilnahme als Pflichtaufgabe Organisatorische Zusammenschlüsse von Aktivbürgern zu politischen Handlungseinheiten mit dem Ziel der Mitwirkung an der politischen Willensbildung sind mithin unerlässlich. Die Verfassung hat dem Rechnung getragen und den politischen Parteien mit Art. 21 GG an einem eigenständigen Regelungsort diese Aufgabe zuerkannt. Neben ihnen wirken auch die einzelnen Bürger sowie Verbände, Gruppen und Vereinigungen auf den Prozess der Meinungs- und Willensbildung ein. Art. 21 GG rechtfertigt allerdings die noch zu zeigende herausgehobene Stellung der Parteien bei Wahlen. Politische Parteien i.S.v. Art. 21 GG sind körperschaftlich organisierte Vereinigungen natürlicher Personen, die auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen wollen, insbesondere durch gewählte Repräsentanten in Volksvertretungen, soweit sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse diese Zielsetzung ernstlich verfolgen. Diese Auslegung ist gekennzeichnet durch drei Elemente 22: ein Strukturelement, ein Zielelement und das Erfordernis der Ernsthaftigkeit. Die daraus abgeleitete einfachgesetzliche Definition des Parteibegriffs in § 2 Abs. 1 S. 1 PartG greift die drei Elemente auf und verlangt richtigerweise die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und die relativ regelmäßige verpflichtende Teilnahme an Wahlen,23 allerdings beschränkt auf die Bereiche des Bundes oder eines Landes. Diese einfachgesetzliche Beschränkung des Parteibegriffs führt unter anderem zum Ausschluss von Vereinigungen, die lediglich auf der kommunalen Ebene tätig sind. Diese Beschränkung ist nach Ansicht des BVerfG und eines Teils der Literatur verfassungsgemäß,24 stößt aber zugleich in der Literatur auf Widerspruch.25 Durch Wahlen zu beschickende Volksvertretungen gibt es auch auf Ebene der Kreise und Gemeinden, wie Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich bestimmt. Auch oder gerade auf kommunaler Ebene beteiligen sich die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes. Damit erscheint es fragwürdig, die Einbeziehung der kommunalen Ebene mit der Begründung abzulehnen, dass auf kommunaler Ebene die Orientierung am Staatsganzen fehle.26 Gerade auf dieser Ebene findet eine sehr bürgernahe Betei22 Siehe auch Lenski, PartG, 2011, § 2 Rn. 3, die ebenfalls von drei Elementen spricht. Von einem objektiven (Vereinigung), einem subjektiven (Zielen) und Ernsthaftigkeit der subjektiven Zielrichtung. 23 Gemäß § 2 Abs. 2 PartG verliert eine Partei ihre Rechtsstellung, wenn sie sechs Jahre an keiner Bundestags- oder Landtagswahl teilgenommen hat. 24 BVerfGE 2, 1 (76); 6, 367 (373); 11, 266 (276); 11, 351 ff.; 69, 92 (104, 110); 78, 350 (358 f.); 85, 264 (328); 87, 394 (398 f.); 99, 69 (78); BVerwGE 6, 96 (99); 8, 327 (328); ebenso Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg., Art. 21 Rn. 238 ff.; Henke, in: BK-GG, 189. Lfg., Art. 21 Rn. 7; Bundespräsidialamt (Hrsg.), Bericht der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Frage der Parteienfinanzierung, 2001, 60; Streit, MIP 2004/2005, 79 ff. 25 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 168; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 37; Kluth, in: BeckOK-GG, 36. Ed. 2018, Art. 21 Rn. 28 ff.; Kunig, in: v. Münch/ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 21 Rn. 12, 18 ff.; ders., in: HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 4 0 Rn. 13; Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, 650 ff; Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 19 f.; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. II, 7. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 47; Lenski, PartG, 2011, § 2 Rn. 13 f.; Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, 175 ff. 26 So die Zusammenfassung bei Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg., Art. 21 Rn. 239.
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ligung an der politischen Willensbildung statt, die durchaus den Boden für das Staatsganze bereitet. Vor dem gleichen Hintergrund ist auch der Ausschluss von Parteien, die sich nur auf der europäischen Ebene an der Willensbildung und an den Wahlen beteiligen, aus dem parteiengesetzlichen Parteienbegriff durchaus problematisch.27 Zum einen ist nicht zuletzt wegen Art. 23 GG die europäische Ebene wesentlicher Teil unserer politischen Willensbildung. Zum anderen ist nach den Vorgaben des Europarechts der supranationale Bereich einzubeziehen. Im Zeichen von Art. 10 Abs. 4, 14 Abs. 2 EUV und Art. 224 AEUV ist auch eine Beteiligung an den Wahlen zum europäischen Parlament ein Ziel, das eine Vereinigung zur Partei qualifiziert.28 Dafür spricht auch die ausdrückliche Erwähnung der Europawahlen in den Parteienfinanzierungsvorschriften (§ 18 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 4 S. 1 PartG). Die relativ regelmäßige Teilnahme an Wahlen ist für den Status einer Organisation als politische Partei ein konstitutives Merkmal. Richtigerweise findet sich in der einfachgesetzlichen Auflistung der Aufgaben der Parteien in § 1 Abs. 2 PartG daher unter anderem die Wahlbeteiligung durch die „Aufstellung von Bewerbern“ für „Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden“.29 Die kommunale Ebene wird hier, anders als in der einfachgesetzlichen Begriffsdefinition des § 2 Abs. 1 S. 1 PartG, ausdrücklich einbezogen. Die Wahlteilnahme durch eigene Bewerber ist ein objektiv wirkendes Kriterium. An Wahlen teilnehmende Vereinigungen haben den Status einer politischen Partei, auch wenn sie nicht als solche firmieren oder sogar ausdrücklich damit werben, keine politische Partei zu sein.30 Pflichtaufgabe einer jeden politischen Partei ist mithin die Teilnahme an Wahlen mit eigenen Wahlvorschlägen. Das Bundesverfassungsgericht hat die politischen Parteien in seiner früheren Rechtsprechung als reine „Wahlvorbereitungsorganisationen“ verstanden,31 dieses auf die Wahlen fokussierte Verständnis allerdings aufgegeben.32 Die allgemeine politische Tätigkeit der Parteien sei außerhalb von Wahlen und Wahlkämpfen und während derselben die gleiche. Wahlen erforderten darüber hinaus allerdings Vorbereitungen besonderer Art, wie etwa die Ausarbeitung von Wahlprogrammen, Aufstellung von Wahlbewerbern und das Führen von Wahlkämpfen.33 Die Wahlvorbereitung bildet damit lediglich einen allenfalls in organisatorischer Hinsicht selbständigen Teil ihrer Aufgaben und Funktionen. Parteien sind nicht nur, aber jedenfalls als Wahlvorbereitungsorganisationen für die demokratische Ordnung unerlässlich, was ihre herausgehobene Stellung in der Verfassung und im Wahlrecht rechtfertigt. Mit der Wahlteilnahme als Pflichtaufgabe ist im Umkehrschluss dann aber auch eine chancengleiche Mitwirkungsgarantie auf eben diesem Gebiet verbunden.
Siehe Morlok, DVBl. 1989, 393 ff. Morlok, DVBl. 1989, 393 ff.; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg., Art. 21 Rn. 242; Wißmann, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), PartG, 2009, § 2 Rn. 39; Kluth, in: BeckOK-GG, 36. Ed. 2018, Art. 21 Rn. 31 ff. 29 Siehe auch Lenski, PartG, 2011, § 1 Rn. 7. 30 Morlok/Merten, DÖV 2011, 125 ff. 31 BVerfGE 20, 56 (113), unter Hinweis auf BVerfGE 8, 51 (63); 12, 276 (289). 32 BVerfGE 85, 264 (284). Siehe dazu auch Werner, Gesetzesrecht und Satzungsrecht bei der Kandidatenaufstellung politischer Parteien, 2010, 28 f. m.w.N. 33 BVerfGE 85, 264 (285). 27
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IV. Wahlteilnahme als Daueraufgabe Sind die Parteien demnach zur Teilnahme an Wahlen mit eigenen Wahlvorschlägen zur Statuserhaltung verpflichtet, so geht dies einher mit der Verpflichtung, die Aufstellung und Unterstützung von Wahlbewerbern zu organisieren, die die politischen Ziele der Partei in den Wahlkämpfen mit besonderer Intensität propagieren und bestenfalls später in den Parlamenten und Regierungen durchsetzen sollen. An dieser Pflichtaufgabe müssen sich die Parteien in personeller, aber auch sachlicher und zeitlicher Dimension ausrichten. Die personelle Dimension betrifft die Aufstellung der Wahlbewerber als Angelegenheit der innerparteilichen Demokratie, wohingegen die sachliche Dimension die Festlegung der politischen Inhalte und Positionen der Partei in einem Wahlprogramm betrifft. Die Legitimation der Volksvertreter muss in einer Demokratie in regelmäßig wiederkehrenden Abständen erfolgen. Diese zeitliche Dimension der Pflichtaufgabe Wahlteilnahme muss auch vor dem Hintergrund des Wiederwahlinteresses Berücksichtigung finden. Die Teilnahme an Wahlen verlangt von den Parteien in jeglicher Hinsicht einen hohen Organisationsaufwand und einen erheblichen Personalbedarf an hauptamtlichen aber auch an ehrenamtlichen Mitstreitern.34 Zudem gilt es sich mit den differenzierten rechtlichen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen und deren Einhaltung zu gewährleisten. Im Folgenden wird den drei aufgeworfenen Dimensionen im Detail nachgegangen.
1. Personelle Dimension der Wahlteilnahme Das Recht und die Möglichkeit, Personalvorschläge für Wahlen einzubringen, ist das „Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl“35. Dies folgt aus den Verfassungsgrundsätzen der Allgemeinheit, der Freiheit und der Gleichheit der Wahl im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, deren Anwendungsbereich sich nicht auf die Stimmabgabe des Wählers am Wahltag beschränkt, sondern insoweit die Wahlvorbereitung mit einschließt.36 Daher steht es grundsätzlich erst einmal jedem Wahlberechtigten zu, zumindest im Zusammenwirken mit anderen (§ 20 Abs. 3 BWahlG), Wahlvorschläge einzureichen. Die Einreichung von Wahlvorschlägen ist daher keinesfalls auf politische Parteien beschränkt 37, denen das Teilnahmerecht in Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistet wird. In der politischen Wirklichkeit spielt das Wahlvorschlagsrecht der Parteien gegenüber dem Wahlvorschlagsrecht der Wahlberech34 Mit Max Weber, Politik als Beruf, 2. Aufl. 1926, Nachdruck Reclam 2012, 48: „die Maschinerie bedarf eines erheblichen Personenapparates“. 35 BVerfGE 41, 399 (417); 71, 81 (100); 89, 243 (251). 36 BVerfGE 71, 81 (100) unter Hinweis auf 41, 399 (417): Freies Wahlvorschlagsrecht als Bestandteil der Wahlfreiheit. Siehe auch BVerfGE 60, 162 (167); 69, 92 (106 f.); 85, 264 (284); 95, 335 (349): Ausschluss einer bloßen Parteiwahl. Kritisch zur Heranziehung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl Linck, NJW 1976, 565; zum freien Wahlvorschlagsrecht siehe auch Kissler, JöR NF Bd. 26 (1977), 39 (58 f.). 37 Noch unter der Weimarer Verfassung waren die Parteien nicht selbst Träger des Wahlvorschlages, sondern unterstützten den Vorschlag eines Bürgers, siehe Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1. Aufl. 1964, 159.
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tigten aber eine dominierende Rolle.38 Sind die Parteien damit die zentralen und wichtigsten Akteure, denen bei der Wahl in dem entscheidenden Bereich der Listenaufstellung sogar – zumindest auf Bundesebene – das Wahlvorschlagsrecht exklusiv zuerkannt ist, so gilt das Augenmerk darauf zu richten, dass das für die Ausübung des Wahlvorschlagsrechts zuständige „Parteivolk“ immer nur einen – mehr oder weniger großen oder, treffender gesagt, kleinen – Ausschnitt des „Wahlvolkes“ darstellt.39 Mit Blick darauf, dass in Konsequenz der Tendenzfreiheit politischer Parteien40 nicht jeder Mitglied einer politischen Partei werden kann, bedarf es in der Frage eines Aufnahmeanspruches einer differenzierenden Betrachtung. Die Partei kann eine Mitgliedschaft aus Tendenzgründen ablehnen. Teilweise wird angenommen, die Partei könne frei über die Aufnahme eines Mitglieds entscheiden, sodass es keinen Anspruch auf Aufnahme in eine politische Partei gebe.41 Dies legt der Wortlaut von § 10 Abs. 1 S. 1 PartG nahe. Allerdings sprechen gute Gründe dagegen.42 Zwar können sich Parteien prima facie auf ihre Mitgliederfreiheit berufen, sie können also grundsätzlich selbst entscheiden, wen sie aufnehmen wollen. Die aufnahmewillige Person hat demgegenüber ihrerseits ein prima facie Recht auf Aufnahme.43 Diese beiden gegeneinander stehenden Rechtspositionen, wie auch die der anderen Parteimitglieder, müssen abgewogen werden. Die Partei muss also Gründe anführen können, die ihr Recht gewichtiger erscheinen lassen, als das der Mitgliederfreiheit gleichrangige Recht des Aufnahmewilligen auf Aufnahme. Diese Abwägungsentscheidung ist durch Verfahrensbestimmungen abzusichern, etwa die zwingende Anhörung des Betroffenen und Begründung der Entscheidung.44 Dem wird der Gesetzgeber nicht gerecht, wenn in § 10 Abs. 1 S. 1 PartG den Parteien das Recht zugestan-
Bei der Bundestagswahl 2017 traten in den 299 Wahlkreisen 4.828 Kandidaten an, von denen lediglich 111 nicht von einer Partei vorgeschlagen wurden. Siehe dazu Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Der Bundeswahlleiter, Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017, Heft 5, Teil 1, Textliche Auswertung (Wahlergebnisse), 2018, 17, mit den Zahlen rückwirkend bis 2002. Siehe auch Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1. Aufl. 1964, 146, 2. Aufl. 1972, 192, der dieses Phänomen schon früh feststellte. Parteifreie Bewerber haben lediglich bei der BT-Wahl 1949 zwei Wahlkreismandate errungen, so Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 18 Rn. 3. 39 Zeuner, Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 1965, 1970, 6: „Nominierung durch 3 % der Wähler“; auch Schüttemeyer/Sturm, ZParl 2005, 539 (543), machten Angaben darüber, wieviel Prozent der Parteimitglieder sich an der Wahl zur Aufstellung der Kandidaten beteiligen. Zu aktuellen Partei mitgliederzahlen siehe Niedermayer, ZParl 2018, 346 ff. Auf Basis der Daten von Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland, 2015, enthält der Datenreport 2016 eine Darstellung des Verhältnisses zwischen Wahlberechtigten und Parteimitgliedern im Zeitverlauf, wonach im Jahre 2014 nur noch 2 % der Wahlberechtigten in politischen Parteien organisiert waren, Kapitel 13.2.2, online verfügbar unter http:// www.bpb.de/nachschlagen/datenreport-2016/226936/bindung-an-interessengruppen-und-politi sche-parteien (zuletzt abgerufen am 26.9.2018). 40 Grundlegend dazu Morlok, NJW 1991, 1162 ff. 41 Henke, in: BK-GG, 189. Lfg., Art. 21 Rn. 272 m.w.N.; Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 83 ff.; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg., Art. 21 Rn. 369; Kunig, in: HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 4 0 Rn. 19; Maurer, Staatsrecht, 6. Aufl. 2010, § 11 Rn. 4 0; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. II, 7. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 109 f. 42 Siehe hierzu Morlok, in: FS für Franz Knöpfle, 1996, 231 ff. 43 Morlok, in: FS für Franz Knöpfle, 1996, 257 f. 44 Morlok, in: FS für Franz Knöpfle, 1996, 260 f. 38
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den wird, „nach näherer Bestimmung der Satzung frei über die Aufnahme von Mitgliedern“ entscheiden zu können.45
a) Wahlvorschlagsrecht Dem Recht, Wahlvorschläge einzureichen, kommt im Wahlverfahren eine zentrale Bedeutung zu, bestimmen die Wahlvorschläge doch entscheidend das Ergebnis der Wahl. Da die Verfassungsgrundsätze der Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit der Wahl, wie soeben festgestellt, auch für das Wahlvorschlagsrecht gelten, geht eine Verengung der Vorschlagsberechtigten jeglicher Art einher mit einem Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze. Begrenzungen der Wahlrechtsgrundsätze sind dabei zulässig, sofern für sie ein besonders rechtfertigender, zwingender Grund besteht.46 Entsprechend dieser verfassungsrechtlichen Ausgangslage wird im Rahmen des geltenden Wahlsystems sowohl Wahlberechtigten als auch politischen Parteien das Wahlvorschlagsrecht für einen Kreiswahlvorschlag einfachgesetzlich zugesprochen (§ 18 BWahlG).47 Wie sich aus § 20 Abs. 3 BWahlG ergibt, können Wahlberechtigte sich nur im Zusammenwirken mit anderen, d.h. nur als Gruppe, an der Bundestagswahl beteiligen. Dabei wird die Gesamtheit der im Wahlkreis Wahlberechtigten Unterzeichner des Wahlvorschlages zum Wahlvorschlagsträger. Ein einzelner Wahlberechtigter kann zwar einen Wahlvorschlag „betreiben“ und sich dabei auch selbst als parteilosen Einzelbewerber vorschlagen, im Sinne des Gesetzes ist er aber nicht Träger des Wahlvorschlags, sondern die ihn vorschlagende Gruppe. Finden sich nach § 20 Abs. 3 BWahlG Wahlberechtigte zu einem Kreiswahlvorschlag zusammen, können Sie das einerseits unorganisiert spontan und auch in wechselnder Zusammensetzung, andererseits auch mitgliedschaftlich organisiert als Verein. Der Zusammenschluss muss nicht als solcher schon vor der Wahl in Erscheinung getreten sein und Versammlungen durchgeführt oder ein Programm aufgestellt haben. Es genügt, dass Wahlberechtigte sich für eine bestimmte Wahl zusammenfinden und sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Politischen Parteien steht das Wahlvorschlagsrecht für Kreiswahlvorschläge uneingeschränkt zu.48 Sie sind gemäß § 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG darüber hinaus exklusiv berechtigt, Landeslisten einzureichen (sog. Listenprivileg).49 Im personalisierten Verhältniswahlrecht treten mithin lediglich die politischen Parteien in den Wettbewerb 45 A.A. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 81. Lfg., Art. 21 Rn. 369 ff. m.w.N.; auch die damit einhergehenden verfassungsrechtlichen Probleme beleuchtet Stocklossa, Der Zugang zu den politischen Parteien im Spannungsfeld zwischen Vereinsautonomie und Parteienstaat, 1989, 98 ff. 46 Vgl. BVerfGE 1, 208 (247 ff.); 6, 84 (91 ff.); 34, 81 (99); 41, 399 (413); 82, 322 (338); 95, 408 (418 ff.); 99, 69 (78). 47 Vgl. für Einzelkandidaturen BVerfGE 41, 399 (399 f., 417). 48 Das Wahlvorschlagsrecht und die Kandidatenaufstellung ist für Bundestags-, Landtags-, Europaund Kommunalwahlen im Detail unterschiedlich ausgestaltet. Im Folgenden wird wegen der notwendigen Umfangbegrenzung i.d.R. auf die Regelungen zur Bundestagswahl verwiesen. Für einen Überblick der zahlreichen Regelungen siehe Lenski, PartG, 2011, Einleitung zum Recht der Kandidatenaufstellung, Rn. 1 ff. 49 Für Landeslisten „neuer“ Parteien gemäß § 18 Abs. 2 BWahlG verlangt § 27 Abs. 2 S. 2 BWahlG ein Unterschriftenquorum von maximal 2000 Wahlberechtigten.
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um die Zweitstimme und damit um die Wahl einer politischen Richtung ein, im Unterschied zur reinen Personenwahl. Wie oben dargelegt, ist die Wahl der Landesliste mit der Zweitstimme für den parlamentarischen Parteienproporz maßgeblich. Die beiden Elemente, Stimmenberechnung und Listenprivileg, weisen den Parteien eine herausragende Position im Wahlrecht zu, die durch Art. 21 GG untermauert wird. Weil die Nichtanerkennung als politische Partei deshalb auch besonders schwerwiegende Folgen hat, wurde auf Bundesebene in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG50 ein Beschwerdeverfahren gegen die Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Deutschen Bundestag neu eingeführt. Näher ausgestaltet ist dieses Verfahren in den §§ 13 Abs. 1 Nr. 3a, 96a–d BVerfGG. Danach kann gegen eine Feststellung des Bundeswahlausschusses, mit der die hinreichende parlamentarische Vertretung der Partei (§ 18 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 BWahlG) oder die Anerkennung einer Vereinigung als Partei für die Wahl (§ 18 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 BWahlG) abgelehnt wird, unmittelbar Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben werden. Die Nichtanerkennungsbeschwerde ist auf eine Entscheidung vor der Wahl ausgerichtet. Sie ermöglicht die Klärung, ob eine Vereinigung berechtigt ist, als Partei mit eigenen Wahlvorschlägen an der Wahl zum Deutschen Bundestag teilzunehmen. Aufgrund der Pflichten im Bundeswahlgesetz handelt es sich um ein beschleunigt zu betreibendes Hauptsacheverfahren. Da der Bundeswahlausschuss gemäß § 18 Abs. 4 S. 1 BWahlG spätestens am 79. Tag vor der Wahl feststellt, welche Parteien zur Einreichung von Wahlvorschlägen berechtigt sind, die Vereinigungen nach der Fiktionsregelung des § 18 Abs. 4a S. 2 BWahlG jedoch längstens bis zum Ablauf des 59. Tages vor der Wahl wie wahlvorschlagsberechtigte Parteien zu behandeln sind, muss das Bundesverfassungsgericht im ungünstigsten Falle über die Beschwerde innerhalb von 20 Tagen entscheiden, um effektiven Rechtsschutz gewährleisten zu können. Bereits vor der Bundestagswahl im September 2013 hatte die neu eingeführte Nichtanerkennungsbeschwerde ihre erste Bewährungsprobe.51 Mit Beschlüssen vom 23.7.2013 hat das Bundesverfassungsgericht über die Beschwerden von zwölf Vereinigungen entschieden, die sich gegen die Ablehnung der Anerkennung als Partei für die anstehende Wahl zum Deutschen Bundestag wandten.52 Zehn der zwölf Beschwerden waren unzulässig oder jedenfalls unbegründet, weil bereits die formellen Voraussetzungen der Beteiligungsanzeige nicht erfüllt waren. Somit hatte das Bundesverfassungsgericht nur in zwei Verfahren überhaupt materiell über die Parteieigenschaft zu entscheiden. Vier Jahre später – vor der Bundestagswahl im September 2017 – legten erneut sieben Vereinigungen Beschwerde gegen die Nichtanerkennung als Partei vor dem Bundesverfassungsgericht ein.53 Sechs Nichtanerkennungsbeschwerden wurden bereits als unzulässig verworfen. Im Übrigen wurde die Beschwerde der Sächsischen 50 Eingefügt durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 93) vom 11.7.2012, BGBl. I, 1478. Siehe zu diesem Verfahren bspw. Bechler, in: Mitarbeiterkommentar BVerfGG, 2018, § 96a Rn. 1 ff.; Grünewald, in: BeckOK-BVerfGG, 4. Ed. 2017, § 96a Rn. 1 ff.; Morgenthaler, in: BeckOK-GG, 36. Ed. 2018, Art. 93 Rn. 88 f. 51 Siehe auch Bechler/Neidhardt, NVwZ 2013, 1438 ff. 52 Zu den Verfahren im Einzelnen s. Sokolov, MIP 2014, 205 (205 f.). 53 Dazu Orlowski, MIP 2018, 136 (137 ff.); s. auch Frau, DÖV 2018, 152 ff.
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Volkspartei (SVP) als unbegründet zurückgewiesen. Das Gericht kam hier nach der erforderlichen Gesamtwürdigung zu dem Ergebnis, dass der SVP die Eigenschaft einer wahlvorschlagsberechtigten Partei fehlt. Ein besonderes Augenmerk legten die Richter dabei auf die Organisation, die Mitgliederzahl und das Hervortreten in der Öffentlichkeit, um die „tatsächlichen Verhältnisse“ der SVP zu bewerten. Auch eine gerichtliche Überprüfung der (Nicht-)Zulassung von Landeslisten einer politischen Partei – neben der Anerkennung als Partei eine weitere, demokratiewesentliche Entscheidung der Wahlorgane – sollte vor der Wahl möglich sein.54 Die wahlrechtliche Beschränkung der Einreichungsmöglichkeiten für Landeslisten auf politische Parteien durch § 27 BWahlG macht Rechtsschutz mit Blick auf die zu gewährleistende Offenheit des politischen Prozesses und die Legitimation der Staatsgewalt erforderlich. Jedoch ist das Listenprivileg an sich nicht verfassungsgeboten, aber durchaus verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht begründete die Verfassungsmäßigkeit in unbefriedigender Knappheit damit, dass der Ausschluss von Landeslisten parteiloser Kandidaten sich „aus der Natur der Sache“ ergebe, weil das Wahlrecht Gruppen mit einem gemeinsamen Programm, also Parteien, voraussetzt.55 Dieses Argument ist auf den ersten Blick wenig stichhaltig, da durchaus auch Wählervereinigungen ein gemeinsames Programm verbindet. Einige Landeswahlgesetze, die Verhältnis- und Personalkomponenten miteinander verbinden, enthalten Bestimmungen über das Wahlvorschlagsrecht, in denen vorgesehen ist, dass Listen von Parteien und anderen mitgliedschaftlich organisierten Wählergemeinschaften aufgestellt werden dürfen.56 Eine danach jeweils vorausgesetzte Wählergemeinschaft ist indes keine lose verbundene Formation, die lediglich das Ziel verfolgt, ins Parlament zu gelangen. Die Kandidatengemeinschaft wird vielmehr eine innere Kohärenz im Sinne einer politisch-programmatischen Verbundenheit aufweisen und bestrebt sein müssen, die politischen Ziele in organisierter Weise parlamentarisch zu vertreten.57 Erfüllt eine Gemeinschaft diese Kriterien auf Landesoder Bundesebene, so erfüllt sie zugleich die objektiven Kriterien des Parteibegriffs und hat mithin den rechtlichen Status einer politischen Partei.58 Hätte jeder Wahlberechtigte bei der Verhältniswahl ein Vorschlagsrecht, wäre diese nicht durchführbar, auch mit Blick auf das Ziel eines arbeitsfähigen Parlamentes.59 Bei Kommunal- und Europawahlen60, die nicht dem System der personalisierten Verhältniswahl folgen, ist eine Privilegierung der Parteien verfassungswidrig.61 Für den Bereich des Kommunalwahlrechts hat das Bundesverfassungsgericht aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG und der darin zum Ausdruck kommenden Orientierung an den besonderen Bedürfnissen der örtlichen Gemeinschaft gefolgert, dass die Kandidatenauslese für kommunale Wahlkörper Morlok/Bäcker, NVwZ 2011, 1153 (1158 f.). BVerfGE 5, 77 (82); siehe auch BVerfGE 46, 196 (199). 56 S. etwa § 33 Abs. 1 LWahlG Rh-Pf.; § 15 Abs. 1 LWG Saarland. 57 Mußgnug, JR 1976, 353 (358); Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, 425. 58 Siehe dazu ausführlich Morlok/Merten, DÖV 2011, 125 (132 ff.). 59 Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1. Aufl. 1964, 160. 60 Siehe zum Wahlvorschlagsrecht § 8 EuWahlG. 61 Für den kommunalen Bereich siehe BVerfGE 11, 266 (273 ff.). 54 55
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schaften nicht ausschließlich den „in erster Linie am Staatsganzen orientierten“ politischen Parteien vorbehalten sein dürfe, sondern auch ausgewogenen Wählergruppen zu ermöglichen sei.62 Diese Rechtsprechung ist auch im Kontext des Parteibegriffs zu sehen, demzufolge kommunale Wählergemeinschaften bzw. „Rathausparteien“ keine Parteien im Sinne des Parteiengesetzes sind. Den verfassungsrechtlich dafür vorgesehenen Spezialzweckorganisationen beim Wahlvorschlagsrecht auf Bundes- und Landesebene eine Privilegierung einzuräumen, ist vor dem Hintergrund, dass diese verfassungsrechtlich zur innerparteilichen Demokratie verpflichtet sind, hinnehmbar und bewegt sich im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungspielraumes.
b) Kandidatenaufstellung Mit dem Wahlvorschlagsrecht untrennbar verbunden ist die Aufstellung der Kandidaten. Die Kandidatennominierung ist eine unentbehrliche Voraussetzung für die Durchführung der Wahl und berührt zugleich das aktive wie das passive Wahlrecht. Auch der Akt der Kandidatenaufstellung ist somit ein wesentlicher Teil der nichtamtlichen Wahlvorbereitung, der insgesamt demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Wie gezeigt dominieren die Parteien das Wahlvorschlagsrecht und damit auch die Kandidatennominierung. Die Kandidatenaufstellung gehört zu den wichtigsten und bedeutsamsten Aufgaben der Parteiwillensbildung. Um zu gewährleisten, dass die Kandidatenaufstellung der Parteien genau wie die spätere Wahl selbst demokratischen Grundsätzen entspricht, enthält sowohl das Wahlrecht wie auch das Parteienrecht detailreiche Vorschriften. Das BWahlG konstituiert ein innerparteiliches Wahlverfahren. Die politischen Parteien unterliegen gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG dem Gebot der innerparteilichen Demokratie. Dem folgend muss sich die Aufstellung von Kandidaten durch die Parteien nach bestimmten Mindestregeln einer demokratischen Wahl vollziehen. § 21 BWahlG normiert diesen Kernbestand an Verfahrensgrundsätzen für die Aufstellung der Wahlkreisbewerber und über § 27 Abs. 5 auch für die Nominierung der Landeslistenkandidaten. Die Bewerberaufstellung darf ausschließlich durch die Parteimitglieder in Parteiversammlungen, die als Mitglieder- oder Vertreterversammlungen organisiert sein können, mit Vorschlagsrecht durch die stimmberechtigten Versammlungsteilnehmer erfolgen. Weder Außenstehende63 noch die Exekutivorgane der Parteien, sondern ausschließlich die Parteimitglieder selbst, entscheiden unmittelbar oder mittelbar durch Delegierte über die Kandidaten ihrer Partei. Jedes wahlberechtigte Parteimitglied hat auf der untersten Gebietsebene der Parteiorganisation die rechtliche Möglichkeit, auf die Aufstellung der Kandidaten Einfluss zu nehmen.64 Zur wahlrechtlichen Mitgliederversammlung 65 BVerfGE 11, 266 (276); vgl. auch 11, 351 (364 f.); 13, 1 (15 f.). Bäcker, RuP 2011, 151 (157); Sacksofsky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch Parlamentsrecht, 2016, § 6 Rn. 101; Ch. Schönberger, JZ 2016, 486 (489). 64 BVerfGE 47, 253 (283); 89, 243 (252); siehe auch Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 2 Fn. 11 m.w.N. 65 Siehe zum Unterschied zwischen der parteienrechtlichen Mitgliederversammlung gemäß § 9 PartG und der wahlrechtlichen gemäß § 21 Abs. 1 S. 2 BWahlG ausführlich Lenski, PartG, 2011, § 21 BWahlG Rn. 10. 62
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müssen alle im betreffenden Wahlkreis mit Erstwohnsitz gemeldeten Parteimitglieder eingeladen werden, auch soweit diese anderen Gebietsverbänden der Partei angehören.66 Dies verlangt den Parteien besondere organisatorische Vorkehrungen ab, da die Mitgliederdaten mit anderen Gebietsverbänden abgeglichen werden müssen, um die im Wahlbereich wahlberechtigten Mitglieder zu ermitteln. Die zweite Möglichkeit zur Kandidatenaufstellung besteht in der Durchführung einer besonderen Vertreterversammlung, die sich aus den von einer wahlrechtlichen Mitgliederversammlung aus ihrer Mitte gewählten Vertretern zusammensetzt.67 Eine derartige Versammlung bietet sich vor allen Dingen bei der Aufstellung von Landeslisten sowie bei sehr mitgliederstarken Verbänden an, um die praktische Durchführung der Versammlung zu erleichtern. Über die mögliche Größe der Vertreterversammlung trifft das Gesetz keine Aussage, sie liegt grundsätzlich in der Satzungsautonomie der Parteien.68 Als dritte Möglichkeit sieht das Gesetz die Wahlen in einer allgemeinen Vertreterversammlung vor. Eine solche Versammlung ist eine nach der Satzung der Partei allgemein für bevorstehende Wahlen von einer wahlrechtlichen Mitgliederversammlung aus ihrer Mitte bestellte Versammlung. Der wesentliche Unterschied zu einer besonderen Vertreterversammlung besteht darin, dass sich die allgemeine Vertreterversammlung nicht nur einmal für eine konkrete Kandidatenaufstellung zu einer konkreten Wahl konstituiert, sondern unabhängig von der konkret bevorstehenden Wahl allgemein für die Kandidatenaufstellung gebildet wird. Auch diese Versammlung ist kein Parteiorgan nach dem Parteiengesetz. Hinsichtlich der Art der Kreation unterscheidet sich die allgemeine nicht von der besonderen Vertreterversammlung. Als persönliche Voraussetzung der Kandidaten verlangt das Bundeswahlgesetz seit 2008, dass diese nicht Mitglied einer anderen Partei sein dürfen69; die Aufstellung parteiloser Kandidaten ist aber möglich. Für die Durchführung der parteiinternen Wahlen sehen sowohl das Bundeswahlgesetz70 als auch das Parteiengesetz71 ausdrücklich eine geheime Abstimmung vor. Die Vorschriften übertragen somit den in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG normierten Wahlrechtsgrundsatz der Geheimhaltung der Wahl ausdrücklich auf die Wahlvorbereitungshandlung der Kandidatenaufstellung durch die Parteien. Die Geheimhaltung stellt den wichtigsten institutionellen Schutz der Wahlfreiheit dar, die wiederum unabdingbare Voraussetzung für die demokratische Legitimation der Gewählten ist.72 Eine geheime Abstimmung beinhaltet notwendigerweise auch eine schriftliche BVerfGE 89, 243 (256). Die besondere Vertreterversammlung ist daher nicht identisch mit den parteienrechtlichen normierten Organen der Partei. Sie entspricht nicht vollständig der Vertreterversammlung nach § 9 PartG, da sie nicht durch eine parteienrechtliche, sondern nur eine wahlrechtliche Mitgliederversammlung gebildet wird. 68 Zum Berechnungsschlüssel der Gesamtzahl der Delegierten siehe Lenski, PartG, 2011, § 21 BWahlG Rn. 26 ff. 69 Siehe § 21 Abs. 1 S. 1 BWahlG. Diese Regelung soll die verdeckten gemeinsamen Wahlvorschläge verschiedener Parteien verhindern, wie sie etwa bei der Bundestagswahl 2005 durch die Linkspartei und die WASG eingebracht wurden. 70 § 21 Abs. 3 S. 1 BWahlG. 71 Siehe § 17 PartG. 72 BVerfGE 99, 1 (13). 66 67
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Abstimmung. Die Stimmzettel müssen geschützt vor der Einsichtnahme anderer ausgefüllt und verdeckt abgegeben werden können. Jeder stimmberechtigte Teilnehmer der Versammlung ist vorschlagsberechtigt und kann sich auch selbst nominieren. Die Gewährung eines Vorschlagsrechtes aus der Wahlversammlung heraus ist notwendige Voraussetzung einer demokratischen Wahl. Nicht damit zu vereinbaren wäre es, wenn nur über Wahlvorschläge eines Parteivorstandes oder eines Parteigremiums zu entscheiden wäre. Jeder Vorgeschlagene muss sein Einverständnis zur Kandidatur geben. Jedem Kandidaten ist Gelegenheit zu geben, sich und sein Programm der Versammlung in angemessener Zeit vorzustellen. Nur wenn sich die Abstimmenden über die Persönlichkeit des Bewerbers und sein politisches Programm hinreichend informieren können, ist die Offenheit der Kandidatenaufstellung als unverzichtbares Merkmal einer demokratischen Wahl gewährleistet.73 Notwendigerweise ergänzen in Übereinstimmung mit § 17 PartG satzungsrechtliche Regelungen der Parteien eine Vielzahl von verfahrensrechtlichen Fragen, die durch das Bundeswahlgesetz ungeregelt bleiben. So etwa, welche wahlrechtlichen Aufstellungsversammlungen auf welcher Ebene durchgeführt werden müssen, Regelungen über Form, Frist und Zuständigkeit der Ladung zu einer Versammlung oder zu einer etwaigen Wiederholung der Aufstellung sowie über die Beschlussfähigkeit der Versammlung. Auch können in der Satzung bestimmte qualifizierte Mehrheitserfordernisse für die Kandidatenwahl aufgestellt werden.74 Bei der satzungsrechtlichen Ausgestaltung derartiger Regelungen sind die Parteien allerdings nicht gänzlich frei, ihre Satzungsautonomie findet ihre Grenze in den zwingenden verfassungs- und wahlrechtlichen Vorgaben. Einige Parteien haben in ihren Satzungen Geschlechterquoten festgelegt.75 Die Zulässigkeit derartiger Quotenregelungen ist umstritten.76 Als Inanspruchnahme der Parteifreiheit sind Quotenregelungen zur Stärkung einer unterrepräsentierten Gruppe zulässig, sie müssen aber dem wahlrechtlichen Gleichheitssatz gerecht werden. Bei der Listenaufstellung spielt neben den formellen Geschlechterquoten auch der Regionalproporz, wenngleich nur informell, eine Rolle. Auch das Austarieren von innerparteilichen Gruppierungen, insb. horizontaler Unterorganisationen, Strömungen bzw. Flügeln und auch Altersgruppen.77 BVerfGE 89, 243 (260). Siehe im Einzelnen Lenski, PartG, 2011, § 21 BWahlG Rn. 78 ff.; Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 39 ff.; Werner, Gesetzesrecht und Satzungsrecht bei der Kandidatenaufstellung politischer Parteien, 2010. 75 So müssen nach § 11 Abs. 2 der SPD-Bundessatzung vom 9.12.2017 in Funktionen und Mandaten der Partei mindestens 40 % Frauen bzw. Männer vertreten sein; die Grünen haben in ihren „grünen Regeln“ ein separates Frauenstatut, nach dessen § 1 Wahllisten „grundsätzlich alternierend mit Frauen und Männern zu besetzen“ sind; ähnlich liegt es bei den Linken, wo nach § 10 Abs. 4 Bundessatzung bei Wahlen von Gremien, Delegierten etc. ebenfalls eine hälftige Quote festgelegt wird. Nicht mit Frauen besetzte Mandate bleiben grundsätzlich unbesetzt. 76 Für die Zulässigkeit von Geschlechterquoten Lange, NJW 1988, 1174 ff.; Oebbecke, JZ 1988, 176 ff.; Ebsen, Verbindliche Quotenregelungen für Frauen und Männer in Parteistatuten, 1988, passim; ablehnend Heyen, DÖV 1989, 649 ff.; vermittelnd Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 139; Sacksofsky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 6 Rn. 103. 77 Siehe dazu jeweils mit umfangreichen empirischen Daten Reiser, in: Niedermayer (Hrsg.), Die 73 74
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2. Die sachliche Dimension der Wahlteilnahme Neben der für die Partei ausgesprochen wichtigen Nominierung geeigneter Kandidaten ist die sachliche Dimension der Wahlteilnahme mit der Festlegung der politischen Inhalte und Positionen der Parteien ebenso wichtig. Während die Grundsatzprogramme der Parteien stets eine gewisse Stoßrichtung mit mittel- oder gar langfristigen Horizonten vorgeben, sind Wahlprogramme als eine auf die Wahlperiode begrenzte Erklärung von Handlungsabsichten zu verstehen. Sie geben den Wählern Orientierungshilfen und der Partei Selbstvergewisserung über ihre aktuellen Inhalte und Positionen. Wahlprogramme sind allerdings meist so umfassend, dass die Wähler zumeist kein vollständiges Wahlprogramm lesen würden.78 Neben der gleichwohl vorhandenen Informationsfunktion für den Wähler dienen Wahlprogramme aber auch dazu, innerparteiliche Strömungen abzubilden, womit sie ein breites inhaltliches Angebot der Parteien repräsentieren.79 Vor jeder Wahl gilt es in einer Partei unter Einbindung der Parteimitglieder und der zuständigen Gremien ein Wahlprogramm zu beschließen. Dem Parteitag, als höchstem Organ jedes Gebietsverbandes, wird gemäß § 9 Abs. 3 PartG die Sachentscheidungskompetenz für u.a. die Parteiprogramme zugesprochen. Die Wahlprogramme werden mithin nach eingehender Diskussion vom zuständigen Parteitag beschlossen. Das so festgelegte Wahlprogramm wird von den Parteien und deren Kandidaten im Wahlkampf den Wählern in vielfältiger Weise nahegebracht. Zu diesem Zweck werden den Parteien gemäß § 5 PartG auch öffentliche Leistungen gewährt.80 Beispiele für solche wahlbezogenen Leistungen sind etwa die gesetzlich geregelte Zurverfügungstellung von Sendezeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen für Wahlkampfstände oder die Anbringung von Wahlplakaten im öffentlichen Raum sowie die Bereitstellung von Räumlichkeiten für Wahlkampfveranstaltungen.81 In Wahlkampfzeiten ist der Gleichbehandlungsgrundsatz und damit die Pflicht zur gleichen Leistungsgewährung durch Träger der öffentlichen Gewalt dahingehend modifiziert, das während der Dauer des Wahlkampfes82 für die Gewährung öffentlicher Leistungen im Zusammenhang mit einer Wahl nur Parteien, die Wahlvorschläge eingereicht haben, berücksichtigt werden. In jüngster Zeit wächst vor allem in den größeren Parteien das Bewusstsein dafür, die eigene Parteibasis vor aber auch nach jeder Wahl mehr einbinden zu müssen. Das zeigt etwa der Mitgliederentscheid der SPD über die Zustimmung zum Koalitionsvertrag, die freilich für den nach dem Parteiengesetz letztentscheidenden Parteitag nicht bindend war. In eine ähnliche Richtung geht auch die „Zuhör-Tour“ der daParteien nach der Bundestagswahl 2009, 2011, 237 ff.; Höhne, in: Koschmieder (Hrsg.), Parteien, Parteiensysteme und politische Orientierungen, 2017, 227 (238 ff.). 78 Merz/Regel, in: Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, 2013, 211 (224). 79 Jakobs/June, ZParl 2018, 265 ff. 80 Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, 112 ff. m.w.N. 81 Siehe dazu im Einzelnen Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, 115 ff.; Volkmann, Politische Parteien und öffentliche Leistungen, 1993, 51 ff. 82 Die Dauer des Wahlkampfes definiert das Gesetz nicht. Aus dem Normzusammenhang ergibt sich jedoch das jeweils die Zeit zwischen der Frist für die Einreichung von Wahlvorschlägen bis zum Wahltag gilt. Siehe dazu auch Lenski, PartG, 2011, § 5 Rn. 35.
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maligen CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Diese Versuche sind richtig, reichen allerdings sicher nicht aus um wieder mehr Menschen für ein Engagement in politischen Parteien zu begeistern. Nichtmitgliedern stehen die Türen zu Parteiveranstaltungen inzwischen durchaus weit offen. Mit Ausnahme der FDP, bei der die Mitgliedschaft nach den Satzungen der Landesverbände oder der Auslandsgruppen erworben wird, bieten inzwischen alle großen Parteien in ihren Bundessatzungen Alternativen zur ordentlichen Mitgliedschaft an. Die stimmberechtigte Teilnahme an Mitglieder- und Vertreterversammlungen ist allerdings gesetzlich ausgeschlossen. Über die, in anderen Ländern durchaus übliche, Beteiligung von Nicht-Mitgliedern83 an der parteiinternen Aufstellung von Kandidaten lohnt es sich nachzudenken. Bereits vor den Nominierungskonferenzen finden parteiintern Vorentscheidungen statt84, in die Nicht-Mitglieder satzungsrechtlich eingebunden werden könnten. Dies wäre jedenfalls ein erster Schritt auf einem lohnenden Weg, politisch engagierte Menschen in politische Parteien einzubinden und nicht etwa den neuerdings in Europa auf blühenden Sammelbewegungen zu überlassen. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass parteipolitische Erfahrungen, Loyalität zur eigenen Partei und ein „einpassen in innerparteiliche Machtgefüge“85 für die Nominierung wesentlich sind, wohingegen die inhaltliche Positionierung deutlich nachrangig ist. Die inhaltliche Ausrichtung der Gesamtpartei und der Wahlkampf sind dagegen entscheidend für den Wahlerfolg der Partei und damit für die Positionierung in der Parteienlandschaft und zwar weit über den bei der konkreten Wahl errungenen Erfolg hinaus. Nach der absolvierten Wahl steht in der Regel schon die nächste Wahl an. Parteipolitische Fehler wirken sich ggf. auch wahlübergreifend aus. Im digitalen Zeitalter werden Wahlen im Internet verloren oder gewonnen.
3. Die zeitliche Dimension der Wahlteilnahme Die Legitimation der Volksvertreter muss in einer Demokratie in regelmäßig wiederkehrenden Abständen erfolgen. Diese zeitliche Dimension der Pflichtaufgabe Wahlteilnahme führt dazu, dass die großen Parteien an einer Vielzahl von Wahlen teilnehmen: zur Bundestagswahl treten 16 Landtagswahlen, die Europawahl und zahlreiche Kommunalwahlen hinzu. Im Jahr 2019 finden beispielsweise 13 Wahlen statt, an denen sich die Parteien i.d.R. mit Wahlvorschlägen beteiligen.86 In einer repräsentativen Demokratie haben Wahlen die Bildung eines Parlamentes zum Ziel, das eine angemessene Vertretung der im Volk vorhandenen maßgeblichen politischen Meinungen für die Dauer einer Legislaturperiode darstellt. Bei der Kandidatenaufstellung ist daher besonderer Wert auf einen möglichst engen zeitlichen 83 Für weitere Formen der Bindung von Nicht-Mitgliedern an die Parteiorganisation vgl. Scarrow, Beyond party members. Changing approaches to partisan mobilization, 2015, 26, 34. 84 Siehe Höhne, in: Koschmieder (Hrsg.), Parteien, Parteiensysteme und politische Orientierung, 2017, 227 (234). 85 Höhne, in: Koschmieder (Hrsg.), Parteien, Parteiensysteme und politische Orientierung, 2017, 227 (239). 86 Siehe https://www.bundeswahlleiter.de/service/wahltermine.html (zuletzt abgerufen am 24.9. 2018).
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Zusammenhang zwischen dem Beginn der Kandidatenaufstellung und dem Wahltermin zu legen. Daher sollte die parteiinterne Kandidatenaufstellung möglichst zeitnah zur Wahl erfolgen, damit das Ergebnis noch am Wahltag den politischen Willen der Parteimitglieder und der sie repräsentierenden Vertreter entspricht. Berücksichtigt werden sollen auch „neue Strömungen“ in einer Partei. Je größer der Abstand zwischen der Bewerberaufstellung und dem Wahltag ist, umso größer ist die Gefahr, dass die Bewerber am Tag der Wahl nicht mehr eine angemessene Repräsentation der Parteibasis und ihrer aktuellen politischen Meinung darstellen.87 Auch neue Mitglieder in der Partei haben einen Anspruch auf Teilnahme an der Kandidatenaufstellung, wobei es der Parteiautonomie vorbehalten bleibt, etwa zum Schutz vor Unterwanderung, satzungsrechtlich eine gewisse Karenzzeit für die Stimmberechtigung neuer Mitglieder vorzusehen. Zu berücksichtigen ist auch, dass die für die Bestimmung des teilnahmeberechtigten Personenkreises erforderlichen Wahlkreisabgrenzungen häufig erst relativ spät feststehen. Aufgrund dieser Erwägungen hat sich der Gesetzgeber für die Bundestagswahl darauf festgelegt, dass die Wahl der Einzelbewerber frühestens 32 Monate, die Wahl für die Vertreterversammlung frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Bundestages, also dem Tag der konstituierenden Sitzung, stattfinden dürfen.88 Die Vorbereitungen für eine anstehende Bundestagswahl beginnen mithin für die Parteien schon mehr als ein Jahr vor dem eigentlichen Wahltermin. Die politischen Parteien sind demnach ständig mit Wahlvorbereitungen beschäftigt. Nach der Wahl ist immer auch vor der nächsten Wahl.
V. Angreif barkeit der Kandidatenaufstellung 1. Fehleranfälligkeit Die Kandidatenaufstellung der politischen Parteien birgt angesichts der Vielzahl und Komplexität der Regelungen zur Teilnahme an den unterschiedlichen Wahlen sowie aufgrund der bloßen Häufigkeit der durchzuführenden Wahlen durchaus Probleme. Für eine Organisation, die insb. an ihrer Basis aber auch auf allen weiteren Gliederungsebenen hauptsächlich mit ehrenamtlichen Mitgliedern arbeitet, sind nicht unerhebliche Herausforderungen zu bewältigen. Die gesetzlichen Bestimmungen sowohl im Wahlrecht als auch im Parteienrecht sind vielschichtig und lassen es an Laientauglichkeit89 mitunter vermissen. Auch das innerparteiliche Verfahren der Kandidatenaufstellung ist komplex, fehleranfällig und gibt immer wieder Anlass zu strittigen Auseinandersetzungen. Mit der Fehleranfälligkeit und der – in der Folge auch nicht selten – Fehlerhaftigkeit der Kandidatenaufstellung korrespondieren allerdings – durchaus überraschend – nur sehr begrenzte Möglichkeiten der Fehlerkorrektur. Während zwar einige In Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 31. Siehe § 21 Abs. 3 S. 4 BWahlG. 89 Morlok, in: Brandt/Haratsch/Schmidt (Hrsg.), Verfassung – Parteien – Unionsgrundordnung, 2015, 19 (32 f.). 87
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strumente bereitstehen, die Fehlerhaftigkeit einer Kandidatenaufstellung anzugreifen und damit – vereinzelt auch öffentlichkeitswirksam – anzuprangern, bleibt das Ergebnis der fehlerhaften Aufstellung doch überwiegend unangetastet.
2. Innerparteiliche Angreifbarkeit Noch vor der Wahl gegen fehlerhafte Aufstellungsbeschlüsse der Wahlversammlungen vorzugehen, ist ausschließlich aus der Partei selbst heraus möglich. Dritten oder anders gesagt „Außenstehenden“ sind solche Möglichkeiten nicht gegeben.90 Bei der Bewerberaufstellung handelt es sich um eine parteiinterne Angelegenheit, für die – nach Maßgabe des jeweiligen Satzungsrechts91 – der Gang vor die Parteischiedsgerichte (§ 14 PartG) und – im Regelfall erst nachgängig – die ordentlichen Gerichte möglich ist.92 Gerade in Wahlanfechtungsverfahren kann eine Ausschöpfung des innerparteilichen Rechtsweges vor Anrufung der staatlichen Gerichte aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit aber auch entbehrlich sein.93 Nach den auch für Parteien geltenden allgemeinen vereinsrechtlichen Grundsätzen führt das Bestehen satzungsrechtlicher Einschränkungen der Möglichkeit zur Wahlanfechtung nur dann zur Unzulässigkeit einer Klage vor den ordentlichen Gerichten, wenn darauf in der Satzung eindeutig hingewiesen wird und für den juristischen Laien erkennbar ist, dass diese Rechtsfolge eintritt.94 Ist dies nicht der Fall, steht der ordentliche Rechtsweg jedem Vereinsmitglied offen.95 Zudem hält das Wahlrecht (§ 21 Abs. 4 BWahlG) für organisatorische Gliederungen ein Einspruchsrecht gegen den Aufstellungsbeschluss einer Mitglieder- oder Vertreterversammlung vor, auszuüben durch die jeweiligen Vorstände. Dieses Einspruchsrecht ist durch die recht hohe Hürde der Einspruchsberechtigung, die Landesverbänden oder, sofern diese nicht bestehen, nächstniedrigeren Gebietsverbänden vorbehalten ist, kaum praktisch relevant.96 Zudem führt der Einspruch lediglich dazu, dass die Aufstellungsentscheidung durch die zuständige Wahlversammlung Dritte sind ausschließlich auf die Möglichkeit der Wahlanfechtung verwiesen, dazu im Folgenden (V. 3.). 91 Die Parteien regeln die Möglichkeit der Wahlanfechtung in recht unterschiedlicher Art und Weise. Die CDU beschränkt sich etwa darauf, eine Wahlanfechtungsfrist vorzusehen (§ 20 Abs. 2 PGO vom 14.12.2015), ebenso die CSU (§ 60 Satzung vom 15.12.2017), während die SPD in §§ 11–13 der Wahlordnung vom 9.12.2017 recht detaillierte Regelungen nicht nur hinsichtlich der Fristen und weiterer formaler Voraussetzungen trifft, sondern insbesondere auch einschränkende Vorgaben zur Antragsberechtigung enthält. 92 Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 37, § 26 Rn. 23; Wagner, in: Reichert (Hrsg.), Vereins- und Verbandsrecht, 14. Aufl. 2018, Kapitel 2 Rn. 1842. Zur Kontrolldichte der Zivilgerichte gegenüber Parteisatzungen und Parteibeschlüssen siehe Jürgensen, MIP 2015, 13 ff.; Roßner, Parteiausschluss, Parteiordnungsmaßnahmen und innerparteiliche Demokratie, 2014, 187 ff.; ders., in: Morlok/Poguntke/Sokolov (Hrsg.), Parteienstatt – Parteiendemokratie, 2018, 95 ff. 93 So Lenski, PartG, 2011, § 14 Rn. 30. 94 Wagner, in: Reichert (Hrsg.), Vereins- und Verbandsrecht. 14. Aufl. 2018, Kapitel 2 Rn. 1843. Beschränkungen der Möglichkeit zur Wahlanfechtung müssen am Maßstab des materiellen Rechts zu rechtfertigen sein, so zu Recht Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 37. 95 Wagner, in: Reichert (Hrsg.), Vereins- und Verbandsrecht, 14. Aufl. 2018, Kapitel 2 Rn. 1845. 96 Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 36 m.w.N. 90
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neu zu treffen ist. Erst die auf den Einspruch stattfindende erneute Wahl ist nach § 21 Abs. 4 BWahlG endgültig, und zwar auch nur in dem Sinne, dass sie nicht erneut mit dem Einspruch angegriffen werden kann.97 Unberührt bleiben jedoch die – jedenfalls vorbehaltlich zulässiger satzungsrechtlicher Beschränkungen – Möglichkeiten jedes Parteimitgliedes, Rechtsschutz vor den Parteischiedsgerichten oder den Zivilgerichten zu suchen. Rügefähig sind sowohl Gesetzes- als auch Satzungsverstöße. Nicht selten werden Kandidatenaufstellungen parteiintern angegriffen. Dabei lassen sich verschiedene Kategorien von geltend gemachten Wahlfehlern identifizieren. Eine Auswertung von Entscheidungen der Bundesparteischiedsgerichte98 zu Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Kandidatenaufstellung für staatliche Wahlen hat folgendes gezeigt: Relativ häufig wird die Abstimmungsberechtigung von Teilnehmern der Aufstellungsversammlung 99 gerügt, auch eine fehlende Geheimheit der Abstimmung100 wird vielfach beklagt. Daneben und mitunter auch nur sind weitere verfahrensrechtliche Fragstellungen Gegenstand der schiedsgerichtlichen Wahlanfechtungsverfahren, so beispielsweise die Einhaltung von Ladungsfristen101 oder die unklare Bezeichnung von Tagesordnungspunkten102 oder unzureichende Vorstellungszeiten103 für die Bewerber. Im Falle der Listenaufstellung werden daneben weitere, spezifisch „listentypische“ Wahlfehlerrügen erhoben, so die (Nicht-)Beachtung von parteiinternen Quotenregelungen104 (etwa Frauenquoten, Regionalproporz oder Altersdiskriminierung), Probleme bei der Blockwahl105 oder Fehler bei der Wahler97 So LG Köln, NVwZ 2005, 359 (360): Im Jahre 2004 erhob der Landesverband NRW der CDU hinsichtlich der Bewerberaufstellung für die bevorstehende Landtagswahl NRW Einspruch und beraumte eine neue Wahlversammlung an. Hiergegen wandte sich ein in der ursprünglichen Wahlversammlung bereits aufgestellter Bewerber an das LG Köln, das den Bewerber allerdings zu Recht auf den fehlenden abschließenden Charakter einer Kandidatenaufstellung hinwies. In Rechts- oder Bestandskraft erwächst ein Aufstellungsbeschluss nicht, lediglich das Wahlrecht setzt einer Änderung Grenzen (vgl. §§ 23, 24 BWahlG), s. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 37. 98 Die Sammlung der Entscheidungen der obersteten Bundesparteischiedsgerichte von SPD, CDU, FDP, CSU, Die LINKE und Bündnis 90/Die Grünen ist online abruf bar unter http://www.pruf.de/ sammlung-partei-schiedsgerichtsurteile.html (zuletzt abgerufen am 25.9.2018). 99 Bundesschiedskommission der SPD, Entscheidung vom 22.7.2014, Az. 1/2014/WA; Bundespar teigericht der CDU, Entscheidung vom 23.11.2010, Az. CDU-BPG 3/2010; Bundesschiedsgericht der FDP, Entscheidung vom 14.8.2009, Az. B-3-26/X-09; Bundesschiedsgericht der FDP, Entscheidung vom 27.4.1992, Az. B-6/VIII-92. 100 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 12.97.1995, Az. BPG 3/94 R; Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 11.11.1991, Az. BPG 7/91 (R); Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 5.12.1983, Az. unbekannt; Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 12.3.1976, Az. unbekannt. 101 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 4.2.1986, Az. CDU-BPG 6/83 (R). 102 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 4.10.1988, Az. BPG 7/86 (R). 103 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 6.3.1992, Az. BPG 1/91: LPG HH 1/90 = NVwZ 1993, 1126 f. 104 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 28.1.2014, Az. CDU-BPG 3/2013; Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 15.12.2009, Az. CDU-BPG 8/2009; Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 29.8.2006, Az. CDU-BPG 1/2006; Bundesschiedskommission DIE LINKE, Entscheidung vom 23.1.2010, Az. BSchK/068/2009. 105 Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 28.6.2013, Az. PSG 03/13; Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 5.12.1983, Az. unbekannt.
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gebnisermittlung106 (so bei der Listenplatzzuordnung oder auch der Stimmauszählung). Es finden sich auch Kuriositäten, so etwa die Geltendmachung eines „Anspruches“ auf einen sicheren Listenplatz107 durch einen Bewerber. In den erwähnten Schiedsgerichtsverfahren (21) wurde in nur sechs Fällen die Begründetheit der Wahlanfechtung angenommen, in nur zwei Fällen hatte dies auch eine Fehlerkorrektur zur Folge, indem eine Wahlwiederholung angeordnet wurde. Eine Wahlwiederholung wurde angeordnet, weil aus nicht nachvollziehbaren Gründen ein Name von der Liste „verschwunden“ war und zudem eklatante Verstöße gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl vorlagen, weil Stimmzettel von anderen als den Stimmberechtigten ausgefüllt und dann an diese zur Abgabe zurückgereicht wurden.108 In einem Fall war ein rechtzeitiger Hinweis auf das Ausreichen einer relativen Mehrheit in der Stichwahl unterblieben, was als Wahlfehler bewertet wurde, da die Abstimmung in Unkenntnis der Modalitäten der Wahl erfolgte.109 Aufgrund der recht langen Verfahrensdauer blieb in vier Verfahren lediglich die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Kandidatenaufstellung, eine rechtzeitige Fehlerkorrektur war aufgrund des Zeitablauf rein tatsächlich unmöglich. In einem Verfahren war bei der Einladung zur Kandidatenaufstellungsversammlung nicht mit geteilt worden, dass es sich um eine eben solche handelte110. In einem weiteren handelte es sich nicht um eine zur Aufstellung von Wahlkreisbewerbern befugte Vertreterversammlung im Sinne des einschlägigen Landeswahlrechts.111 Auch eine zu kurz bemessene Vorstellungszeit eines Bewerbers mit lediglich drei Minuten Redezeit führte zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Kandidatenaufstellungsbeschlusses.112 In einem weiteren Fall wurde ausweislich der Entscheidungsbegründung sogar ausdrücklich in Widerspruch zur insoweit herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum ein Verstoß gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl deshalb angenommen, weil Stimmzettel bei einem kleinen Teilnehmerkreis handschriftlich ausgefüllt wurden.113 Machen die Parteimitglieder schon eher selten von der Möglichkeit Gebrauch, die Parteischiedsgerichte anzurufen, gelangen noch deutlich weniger Verfahren vor die ordentlichen Gerichte. Hier sind die Erfolgsaussichten im Hinblick auf eine mit der Klage angestrebte rechtzeitige Fehlerkorrektur allerdings besser. Lediglich bei einem sogar bis zum BGH114 gelangten Verfahren, in dem das bei einer Delegiertenwahl für eine Kandidatenaufstellungsversammlung zur Anwendung gelangte Blockwahlsystem als nicht zulässig gerügt wurde, war eine Fehlerkorrektur nicht mehr möglich. 106 Bundesschiedskommission der LINKEN, Entscheidung vom 29.6.2013, Az. BSchK/020/2013; Bundesschiedsgericht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entscheidung vom 10.9.1994, Az. 20/94; Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 12.5.1995, Az. PSG 18/95; Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 12.3.1976, Az. unbekannt. 107 Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 6.8.2005, Az. PSG 4/05. 108 Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 12.3.1976, Az. unbekannt. 109 Parteischiedsgericht der CSU, Entscheidung vom 12.5.1995, Az. PSG 18/95. 110 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 4.10.1988, Az. BPG 7/86 (R). 111 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 4.2.1986, Az. CDU-BPG 6/83 (R). 112 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 6.3.1992, Az. BPG 1/91 = NVwZ 1993, 1126 f. 113 Bundesparteigericht der CDU, Entscheidung vom 11.11.1991, Az. BPG 7/91 (R). 114 BGH, NJW 1974, 183 ff.
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Der BGH war zwar auch der Auffassung, dass es sich insoweit um einen schwerwiegenden Wahlfehler handelt, der auch auf die anschließend von der Delegiertenversammlung durchgeführte Kandidatenaufstellung durchschlug. Aufgrund des – in Anbetracht des Instanzenzugs notwendigerweise – langen Zeitablaufs bis zur Entscheidung konnte allerdings lediglich die Rechtswidrigkeit des Aufstellungsbeschlusses festgestellt werden. Demgegenüber erwirkte der Vorsitzende eines Kreisverbandes vor dem LG Saarbrücken115 eine einstweilige Verfügung, mit der die Beklagten dazu verpflichtet wurden, eine bereits eingereichte Landesliste durch die nach dem Wahlrecht allein dazu befugten Vertrauensleute (§§ 27, 21, 23 BWahlG) wieder zurückzuziehen, weil die Liste durch ein dafür nicht zuständiges Gremium aufgestellt worden war. Diese Entscheidung wurde in zweiter Instanz vom OLG Saarbrücken116 bestätigt. Von weiteren Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung des Urteils sah das OLG ab, weil die Beklagten in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärten, der Anordnung Folge zu leisten. Ebenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ordnete das LG Berlin117 eine Wahlwiederholung an, weil bei der Kandidatenaufstellung gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl verstoßen wurde. Das AG Königswinter118 hat in einem Eilverfahren zunächst einem Antrag auf Wiederholung einer Wahl der Reserveliste für eine Kommunalwahl stattgeben. Der beklagte Stadtverband der politischen Partei hielt tatsächlich Neuwahlen ab, wehrte sich aber weiter gegen die einstweilige Verfügung. In einem weiteren Verfahren hob das AG Königswinter119 dann die einstweilige Verfügung mit der Begründung wieder auf, dass zuvor die Parteischiedsgerichtsbarkeit hätte angerufen werden müssen. Kandidatenaufstellungen vor den Parteischiedsgerichten anzugreifen, ist demnach nicht der erfolgversprechendste Weg, wenn es einem Parteimitglied darum geht, eine Kandidatenaufstellung wiederholen zu lassen. Schon die Feststellung eines Wahlfehlers ist eher die Ausnahme denn die Regel, hinzukommt, dass die Schiedsgerichte offensichtlich gern eine gewisse Zeit benötigen, bis eine Entscheidung gefällt wird, so dass faktisch eine Fehlerkorrektur schon nicht mehr erfolgen kann. Der Gang vor die ordentlichen Gerichte führt, sofern einstweiliger Rechtsschutz beantragt wird, zuverlässiger zum gewünschten Ergebnis, wird aber offensichtlich von den Parteimitgliedern eher gescheut. Dies mag vielfältige Ursachen haben. Es kann spekuliert werden, dass einerseits das Kostenrisiko durchaus abschreckende Wirkung hat, es mag aber auch so sein, dass die mit einem öffentlichen Gerichtsverfahren einhergehende öffentliche Aufmerksamkeit aus unterschiedlichen Gründen (persönlichen oder auch mit Blick auf das Parteiansehen) gemieden wird.
LG Saarbrücken, Urteil vom 1.6.2017 – 15 O 78/17, online veröffentlicht bei juris. OLG Saarbrücken, KommunalPraxis Wahlen 2018, 49 ff. 117 LG Berlin, Urteil vom 6.7.2006 – 5 O 229/06, online veröffentlicht bei juris. 118 AG Königswinter, einstweilige Verfügung vom 27.3.2014, nicht veröffentlicht. 119 AG Königswinter, KommunalpraxisPraxis Wahlen 2014, 82 ff.
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3. Wahlrechtliche Angreifbarkeit Die innerparteilichen Streitigkeiten finden ihre Fortsetzung nicht selten in Wahlprüfungsverfahren120 vor den staatlichen Gerichten. So hat das Bundesverfassungsgericht für das Verfahren der parteiinternen Kandidatenaufstellung festgestellt, dass nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden können, die von Verfassung wegen an den staatlichen Wahlakt zu stellen sind. Zwar handelt es sich bei der Aufstellung der Kandidaten um eine unverzichtbare Voraussetzung für einen demokratischen Wahlvorgang. Sie ist aber von der eigentlichen staatlichen Wahl zu unterscheiden. An der parteiinternen Kandidatenaufstellung selbst sind noch keine amtlichen Wahlorgane beteiligt. Die innerparteiliche Kandidatenaufstellung dient vielmehr lediglich der Vorbereitung der Wahl der Vertretungen und ist zugleich ein Akt der innerparteilichen Autonomie, die es zu wahren gilt.121 Den Parteien steht damit bei der Gestaltung des Aufstellungsverfahrens ein eigenverantwortlich auszufüllender Freiraum zu, da sie nur so vor unverhältnismäßiger staatlicher Einflussnahme auf den Ablauf innerparteilicher Willensbildungsprozesse bewahrt werden können. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass die für das staatliche Wahlverfahren maßgeblichen Gebote nur in ihrem Kerngehalt auf das innerparteiliche Verfahren zur Bestimmung der Wahlbewerber einwirken.122 Die Parteien müssen bei der Wahl ihrer Kandidaten daher nicht alle organisatorischen Maßnahmen ergreifen, die in den Wahlordnungen für staatliche Wahlakte normiert sind. Der Bestand rügefähiger Wahlfehler ist gegenüber denen, die Gegenstand innerparteilicher Auseinandersetzung sind, aber noch einmal erweitert. Angegriffen werden häufig auch die Zulassungsentscheidungen der Wahlorgane über Wahlvorschläge, ebenso wie zahlreiche weitere Probleme, die im Zusammenhang mit der Durchführung der Wahl etwa in den Wahllokalen oder davor, bei der Wahlwerbung oder auch durch unzulässige Einflussnahmen des Staates wie auch Dritter auftreten können. Dies ist auch damit zu erklären, dass in den Wahlprüfungsverfahren der Kreis der Beschwerdeberechtigten weiter gefasst ist, als in den vorgenannten innerparteilichen Verfahren. Einspruchsberechtigt sowohl im Verfahren der Wahlprüfung vor dem Bundestag als auch im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht sind im Wesentlichen123 Wahlberechtigte und Gruppen von Wahlberechtigten. Im Wahlprüfungsgesetz und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz sind die politischen Parteien zwar nicht ausdrücklich als antragsberechtigt genannt, als Partei können sie aber als Gruppe von Wahlberechtigten einen Antrag stellen.124 Anders ist 120 Für die Bundestagswahl ist die Wahlprüfung durch den Bundestag in Art. 41 Abs. 1 GG und dem Wahlprüfungsgesetz, die daran anschließende Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ist in Art. 41 Abs. 2 GG und § 48 des BVerfGG näher geregelt. 121 Vgl. BVerfGE 89, 243 (253), so kürzlich auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.10.2017 – 4 L 88/16, online veröffentlicht bei juris. 122 Morlok, NVwZ 2012, 913 (914). 123 Beschwerdeberechtigt für eine Wahlprüfung vor dem Bundestag sind darüber hinaus auch in ihrer amtlichen Eigenschaft der Bundes- und die Landeswahlleiter sowie der Präsident des Bundestages. Diesem Personenkreis ist die Beschwerdebefugnis für die Wahlprüfungsbeschwerde jedoch nicht eingeräumt. Zu den Details der Wahlprüfung s. Glauben, NVwZ 2017, 1419 ff. 124 Walter, in: BeckOK-BVerfGG, 5. Edition 2018, § 48 Rn. 20; Ewer, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch Parlamentsrecht, 2016, § 8 Rn. 16.
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dies hingegen in einigen Bundesländern, die in den gesetzlichen Regelungen auch ausdrücklich die politischen Parteien als antragsberechtigt erwähnen: In Nordrhein-Westfalen etwa ist jede in einem Wahlkreis mit einem Wahlvorschlag aufgetretene Partei gemäß § 3 WahlPrüfG NRW zur Antragstellung befugt, ebenso in Sachsen (§ 2 Abs. 2 SächsWprüfG), Thüringen (§ 53 ThürLWG), Rheinland-Pfalz (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 RPLWPG) und Bremen (§ 38 Abs. 1 S. 2 BrWahlG). In diesen Ländern reicht es schlichtweg aus, dass die Partei an der Wahl beteiligt ist. In Niedersachsen ist jede Partei antragsberechtigt, die entweder auch an der Wahl teilgenommen hat, oder keinen Wahlvorschlag einreichen konnte, weil der Wahlausschuss sie nicht zugelassen hat (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 NdsWahlprüfG). In Berlin sind Parteien und Vereinigungen ebenso antragsberechtigt, soweit sie von der angefochtenen Entscheidung betroffen sind (§ 40 Abs. 3 Nr. 3 VerfGHG Berlin). In den übrigen Ländern – Baden-Württemberg (§ 2 BWLWprüfG), Hessen (§ 7 Abs. 1 HESWahlPrüfG), Hamburg (§ 2 Abs. 2 S. 1 HbgWahlprüfG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 41 Abs. 1 S. 1 LWG MV), Brandenburg (§ 3 BbgWPrüfG), Sachsen-Anhalt (§ 2 LSAWahlPrüfG), dem Saarland (§ 46 Abs. 3 SaarLWG), Bayern (Art. 53 BayLWG) sowie Schleswig-Holstein (§ 44 Abs. 1 S. 1 SHLWahlG – sind Parteien im Wahlprüfungsverfahren hingegen nicht antragsberechtigt. Wahlen sind ein einzigartiges Massenverfahren, dessen „Fehlerlosigkeit“ kaum vorstellbar ist. Eine demokratische Ordnung ist aber auf – regelmäßige und termingerechte – Wahlen angewiesen, ebenso wie auf ordnungsgemäße Wahlen, aus denen arbeitsfähige und legitimierte Parlamente hervorgehen. Angesichts der großen Bandbreite der Antragsberechtigten in Wahlprüfungsverfahren und eingedenk der Vielzahl denkbarer – kleinerer wie größerer – Wahlfehler ist nach einem verhältnismäßigen Ausgleich der kollidierenden Interessen – Bestandsschutz des gewählten Parlaments und wahlfehlerfreie Wahlen – zu suchen125. Wahlwiederholungen sind nicht nur aus Kostengründen, sondern auch in zeitlicher Hinsicht problematisch. Wahlen vorzubereiten und durchzuführen ist eine sowohl kosten- als auch zeitintensive Angelegenheit. Auch mit Blick auf die Legitimationsgrundlage staatlichen Handelns sind schlimmstenfalls immer wieder angeordnete Neuwahlen nicht hinnehmbar. Wahlprüfungsverfahren sind in erster Linie dazu bestimmt, die Rechtmäßigkeit der Wahl und damit die richtige Abbildung des Wählerwillens in der Mandatsverteilung zu gewährleisten. Folgen für die Gültigkeit der Wahl können deshalb nur Rechtsverletzungen mit Mandatsrelevanz haben.126 Unter Berücksichtigung des demokratischen Mehrheitsprinzips ist ein Wahlfehler deshalb nur dann als in diesem Sinne „mandatsrelevant“ bzw. erheblich anzusehen, wenn sich der Fehler auf die konkrete Mandatsverteilung ausgewirkt hat oder ausgewirkt haben könnte. Dies bedeutet, dass der Fehler die gesetzmäßige Zusammensetzung des Parlaments berühren muss oder dies jedenfalls könnte (sog. potentielle Kausalität). Bloß theoretische Möglichkeiten reichen hierfür nicht aus, die mögliche Auswirkung muss vielmehr nach der allgemeinen Lebenserfahrung hinreichend konkret (greif bar) sein und nicht ganz
In diese Richtung auch Morlok/Bäcker, NVwZ 2011, 1153 (1153 f.). S. nur Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 14.
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fern liegen.127 So verstanden bleiben Wahlfehler regelmäßig wegen fehlender „Mandatsrelevanz“ folgenlos. Auch für Wahlfehler, die Parteien verwirklichen können, ist deren Erheblichkeit im Wahlprüfungsverfahren daher eng und strikt zu begrenzen.128 Ein Wahlfehler ist grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn die Parteien rechtlich mögliche und ihnen zumutbare organisatorische Maßnahmen unterlassen haben, um Wahlrechtsverstöße zu verhindern.129 Ein derartiger Fehler macht auch die staatliche Zulassungsentscheidung des Wahlvorschlags fehlerhaft.130 Um etwa den Grundsatz der Geheimheit der Wahl zu wahren, wird von der Rechtsprechung parteiintern eine schriftliche Abstimmung mit Stimmzetteln gefordert, die verdeckt gekennzeichnet und ohne Einsichtnahme anderer abgegeben werden können. Wahlkabinen und Wahlurnen sind nicht notwendig.131 Die bloße Möglichkeit, auf den Wahlzettel des Nachbarn zu schauen, reicht für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl nicht aus, solange das Geschriebene hätte verdeckt werden können. Auch das handschriftliche Ausfüllen der Stimmzettel stellt keinen Wahlfehler dar, da die Wahlteilnehmer ihr Schriftbild durchaus auch verzerren können.132 Damit kommt es lediglich auf die tatsächliche Möglichkeit an, dass die Stimmabgabe von anderen nicht eingesehen werden kann.133 Wenngleich solche Wahlfehler nicht selten sind und auch häufig in Wahlprüfungsverfahren festgestellt werden, ist über die Mandatsrelevanz eines solchen Fehlers freilich noch nichts gesagt. Erfolgreiche Wahlprüfungsverfahren, in dem Sinne, dass es zu einer Fehlerkorrektur durch Anordnung von Neuwahlen kam, sind äußerst selten. Zumeist werden Wahlfehler zwar festgestellt, aber der Bestand der Wahl bleibt unangetastet. So führte auch eine Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Landtagswahl im Saarland im Jahre 2009 nicht zur Feststellung der Ungültigkeit der Wahl.134 Die Beschwerdeführer rügten zahlreiche Wahlverstöße, so dass die Entscheidung einen guten Überblick über mögliche Fehler insb. bei der Kandidatenaufstellung gibt und gar als „Kleines Kompendium des Wahlrechts“ eingeordnet wird.135 Die erste Rüge der Beschwerdeführer galt der Möglichkeit, sich ausreichend der wählenden Mitgliederversammlung vorstellen zu können. Eine Mitbewerberin habe unbegrenzt reden dürfen, wohingegen das eigene Rederecht begrenzt worden sei, was ein Verstoß gegen die innerparteiliche Chancengleichheit sei. Die Möglichkeit, sich vor der Wahlversammlung vorstellen zu können, beeinflusst unstreitig die Chancen auch nominiert zu werden. Erstmalig und viel beachtet haben sich Gerichte mit der Frage VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.4.2018 – Vf. 108-V-17, juris Rn. 58 m.w.N. aus Rspr. und Lit. BVerfGE 89, 243 (253). 129 BVerfGE 89, 243 (257). 130 BVerfGE 89, 243 (253 f.). 131 Vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 8.12.2009 – Vf. 47-III-09 –, NVwZ-RR 2010, 213 (213 f.); SaarlVerfGH, Urteil vom 29.9.2011 – Lv 4/11 –, NVwZ-RR 2012, 169 (175); OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.10.2017 – 4 L 88/16 online veröffentlicht bei juris; Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 Rn. 27. 132 So OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.10.2017 – 4 L 88/16, juris Rn. 36 und 37. 133 Morlok, NVwZ 2012, 913 (915). 134 SaarlVerfGH NVwZ 2012, 169 ff. Siehe dazu auch die Urteilsbesprechung von Morlok, NVwZ 2012, 913 ff. 135 So ausdrücklich Morlok, NVwZ 2012, 913 ff. 127
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der angemessenen Vorstellungszeit von Wahlkandidaten in der Aufstellungsversammlung anlässlich der Bundestagswahl 1990 im Hinblick auf die Hamburger CDU und mit der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft befasst.136 Die letztere Entscheidung widerlegt die Aussage von H. Meyer „Wahlprüfungsbeschwerden sind, selbst wenn sie berechtigt sind, immer erfolglos“137. Als eine der wenigen Ausnahmen von der Regel, dass Wahlprüfungsverfahren erfolglos bleiben, wurde die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft aufgrund von Fehlern bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung für ungültig erklärt.138 Im saarländischen Verfahren wurde dieser Wahlfehler nicht substantiiert vorgetragen, ebenso wie die Rüge, zwei Teilnehmern der Versammlung seien jeweils zwei Stimmzettel ausgehändigt worden, die dann auch abgegeben worden seien. Das Substantiierungsgebot im Wahlprüfungsrecht stellt sicher, dass die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlamentes auf der Basis der amtlichen Wahlergebnisse nicht vorschnell infrage gestellt wird und dadurch Zweifel an der Legitimation des Parlamentes auf kommen.139 Der Saarländische Verfassungsgerichtshof führte zunächst unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG140 an, dass an das Verfahren der parteiinternen Kandidatenaufstellung nicht dieselben Maßstäbe angelegt werden können, wie sie für den staatlichen Wahlakt gelten.141 Über den konkreten saarländischen Fall hinaus beachtlich sind die Ausführungen zu parteiinternen Feststellung der stimmberechtigten Parteimitglieder. Danach müssen Parteien die Wahlberechtigung der an der parteiinternen Wahl beteiligten Personen lediglich mit der ihnen zumutbaren Sorgfalt überprüfen. Ausreichend dazu ist regelmäßig die Wahlberechtigung anhand aktueller Ausweispapiere, aus denen der Erstwohnsitz und die Staatsangehörigkeit hervorgehen, und Mitgliederlisten zu prüfen. Nicht jede Teilnahme nichtberechtigter Personen an der Kandidatenaufstellung kann auch einen wahlrechtlich relevanten Verstoß darstellen, solange die Partei alles ihr „Gebotene und Zumutbare“ in organisatorischer Hinsicht unternommen hat.142 Ein Fehler bei der Feststellung der Wahlerlaubnis wirkt sich allenfalls dann aus, wenn er Ausdruck einer systematischen Desorganisation oder einer Manipulation der Kandidatenaufstellung ist.143 Größere Aufmerksamkeit verdienen die Ausführungen im Urteil zur Wahlwerbung durch verfassungsrechtlich unzulässige Öffentlichkeitsarbeit einer Regierung im Vorfeld der Wahl. Der öffentliche Meinungsbildungsprozess muss frei bleiben von durch Steuergelder finanzierter regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit zugunsten einer bestimmten Partei.144 Diese kann aber nur dann zur Ungültigkeit der 136 BVerfGE 89, 243 ff. zuvor HbgVerfG, NVwZ 1993, 1083 ff. und HbgVerfG, DVBl. 1993, 1070 ff. Siehe dazu auch Kuhle/Unruh, DVBl. 1994, 1391 ff. 137 Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, 1987, § 38, Rn. 60. 138 HbgVerfG, DVBl. 1993, 1070 ff. In Reaktion auf diese Rechtsprechung haben die Wahlgesetzgeber eine Normierung einer angemessenen Vorstellungszeit in die Wahlgesetze aufgenommen, so etwa in § 21 Abs. 3 S. 3 BWahlG. 139 SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (170). 140 BVerfGE 89, 243 (253). 141 SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (173). 142 SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (175). 143 SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (176 f.). 144 Siehe dazu auch BVerfGE 44, 125 (139 ff.); 66, 369 (380).
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Wahl führen, wenn ernstlich die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Wahl bestanden hat.145 Auch die Gestaltung der amtlichen Stimmzettel wurde im Urteil thematisiert. Die Stimmzettel bei den staatlichen Wahlen dürfen keine für die Orientierung des Wählers nicht erforderlichen Zeichen enthalten. Die Reihenfolge der Wahlvorschläge muss notwendigerweise auf dem Stimmzettel in einer bestimmten Reihung erfolgen, womit die Frage nach den zulässigen Kriterien aufgeworfen ist. Die Reihenfolge der Parteien auf dem Stimmzettel muss einem einheitlichen Ordnungskriterium folgen und darf nicht bei bereits im Parlament vertretenen Parteien die Stärkeverhältnisse zu Grunde legen und die weiteren Parteien alphabetisch auflisten. Ein derartiger Systemwechsel bei der Reihenfolge verletzt das Gebot der Wahlrechtsgleichheit und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Parteien. Das Gericht sah die Gültigkeit der Landtagswahl von diesem Wahlfehler nicht betroffen. Bei lebensnaher Betrachtung lasse sich der Wähler nicht alleine von der Listung auf dem Stimmzettel leiten.146 Auch die Veröffentlichung von Wahlprognosen durch Privatpersonen am Tag der Wahl durch eine Twittermeldung ist nicht unproblematisch.147 § 32 Abs. 2 BWahlG aber auch § 29 Abs. 2 SaarlWahlG statuiert ein Veröffentlichungsverbot148, welches dem Schutz vor Beeinflussung der Wählerwillensbildung und der Vermeidung eines Wissensvorsprungs dient und damit die Gleichheit der Wahl sichert. Auch wenn im Einzelfall in der Veröffentlichung von Nachwahlbefragungen über die neuen Kommunikationsmedien ein Wahlrechtsverstoß zu sehen ist, so ist der entscheidende Gesichtspunkt, dass die Gültigkeit der Wahl nicht in die Hände Privater gelegt werden darf. In einer Wahlprüfungsbeschwerde zur Gültigkeit der Sächsischen Landtagswahl am 21. Juni 2017 hat sich der Verfassungsgerichtshof Sachsen mit der Streichung von zuvor von der Aufstellungsversammlung gewählter Kandidaten von der Landesliste zu befassen.149 Der Landesvorstand des Landesverbands der Af D hatte die Streichung des Beschwerdeführers von der bereits bei der Landeswahlleiterin eingereichten Landesliste beschlossen. Die Vertrauenspersonen der Af D baten die Landeswahlleiterin darauf hin, den Beschwerdeführer und einen weiteren Kandidaten von der Liste zu streichen. Der Beschwerdeführer führte die Streichung von der Af D-Liste unter anderem darauf zurück, dass er der Partei im Gegenzug für den Listenplatz kein Darlehen gewährt habe. Die Af D-Spitze machte geltend, dass der Beschwerdeführer kein Engagement mehr für die Partei gezeigt habe. Nach Anhörung der Betroffenen wurde die Liste in geänderter Form zur Landtagswahl zugelassen. Eine gegen diese Entscheidung eingereichte Verfassungsbeschwerde des Parteimitglieds Samtleben wurde als unzulässig verworfen, weil das erst nach der Wahl durchzuführende Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde vorrangig sei. Der zugleich gestellte Antrag auf Erlass SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (177). SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (178 f.). 147 SaarlVerfGH, NVwZ 2012, 169 (179 f.); s. auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 38 GG Rn. 95, 98 ff.; Hintzsch, DÖV 2010, 357 ff. 148 Siehe zu den Adressaten des Verbotes Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 32 Rn. 2 . 149 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.4.2018, Vf. 108-V-17. 145
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einer einstweiligen Anordnung hatte sich damit erledigt.150 Der Verfassungsgerichtshof stellte mit seiner Entscheidung klar, dass in Wahlangelegenheiten der Grundsatz gilt, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, ausschließlich mit den in den Wahlvorschriften vorgesehenen Rechtsbehelfen und im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden können. Da demnach die Verfassungsbeschwerde unzulässig sei, habe das Gericht das Vorbringen des Beschwerdeführers inhaltlich nicht geprüft. Sollte ein nach der Landtagswahl durchzuführendes Wahlprüfungsverfahren erfolgreich sein, könnte gegebenenfalls eine Wiederholungswahl angeordnet werden. Die Streichung eines ordnungsgemäß gewählten Kandidaten durch den Vorstand aus politischen Gründen ist ein klarer Verstoß gegen das Gebot innerparteilicher Demokratie. Der Landeswahlausschuss hätte die Änderung der Af D-Liste daher zurückweisen und in der zunächst eingereichten, von der Aufstellungsversammlung beschlossenen Fassung, zulassen müssen. Eine Änderung ist nur nach vorheriger Durchführung eines neuen Aufstellungsverfahrens möglich,151 da nicht nur der Wegfall der betroffenen Kandidaten, sondern nachträglich auch eine Änderung der Personalreihung auf der Landesliste erfolgt.152 Dieser Wahlfehler hat sich auch auf die konkrete Mandatsverteilung des Landtages ausgewirkt. Eine Anordnung von Neuwahlen kommt wegen des im Demokratiegebot wurzelnden Interesses am Bestandsschutz des gewählten Landtages nicht in Betracht. Auf der Ebene des Wahlfehlerfolgenrechts gelte das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs in den Bestand und daraus der Vorrang der Wahlergebniskorrektur.153 Eine Berichtigung des Wahlfehlers ist im gegebenen Fall nicht möglich. Im Ergebnis bleibt daher als ultima ratio nur die Ungültigkeitserklärung der Wahl. Wegen des aus dem Demokratieprinzips gefolgerten Bestandsschutzes ist eine Abwägung vorzunehmen, die die Erforderlichkeit nur dann sieht, wenn ein „erheblicher Fehler von solchem Gewicht vorliegt, der einen Fortbestand der Volksvertretung unerträglich erscheinen lassen würde“.154 Einen solchen schwerwiegenden Fehler hat der Verfassungsgerichtshof nicht gesehen. Die aktuelle Zusammensetzung des Landtages nach der vormaligen Parteizugehörigkeit der über die Listen gewählten Abgeordneten spiegele das tatsächliche Wahlergebnis wider. Ein parteiinterner Wahlfehler schlage sonst auf die ganze Wahl durch und gebe den Parteien die Möglichkeit, nach der Wahl Einfluss auf den Fortbestand des Parlamentes zu nehmen.155
VerfGH Sachsen, Beschluss vom 28.8.2014, Az.: Vf. 56-IV-14 (HS)/57-IV-14 (e.A.). Nur in den Sonderfällen des § 24 S. 1 SächsWahlG, wonach erstens die Einreichungsfrist abgelaufen ist und zweitens der Bewerber verstorben oder seine Parteimitgliedschaft verloren hat, ist ein neues Aufstellungsverfahren entbehrlich. 152 Im Ergebnis ebenso Hahlen, in Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 23 Rn. 5 § 27 Rn. 27; a.A. wohl Ipsen, RuP 2016, 214 (215 f.). 153 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.4.2018, Vf. 108-V-17, online veröffentlicht bei juris, Rn. 70 unter Hinweis auf BVerfGE 121, 266 (311 f.). 154 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.4.2018, Vf. 108-V-17, online veröffentlicht bei juris, Rn. 76 unter Hinweis auf BVerfGE 129, 300 (344), 103, 111 (134). 155 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.4.2018, Vf. 108-V-17, online veröffentlicht bei juris, Rn. 83 unter Hinweis auf BVerfGE 89, 243 (254). 150 151
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VI. Fazit und Reformbedarf Rechtsschutz vor der Wahl in Fragen wahlfehlerbehafteter Kandidatenaufstellungen ist möglich, aber gehaltlos. Er ist ausschließlich Parteimitgliedern vorbehalten, wird nur äußerst selten in Anspruch genommen und bleibt zumeist erfolglos. Ob die mangelnde Beanspruchung der Parteischiedsgerichte und/oder der staatlichen Gerichte Ausdruck fehlenden Problem- oder Unrechtsbewusstseins, von Parteiloyalität, Resignation oder schlicht Desinteresse ist, lässt sich nicht sagen. Rechtsschutz nach der Wahl ist nicht auf eine Fehlerkorrektur angelegt. Im der Wahl nachgelagerten Wahlprüfungsverfahren können lediglich mandatsrelevante Wahlfehler, die die Zusammensetzung des Parlamentes verändern (können), überhaupt Folgen haben. Da eine gewählte Volksvertretung aber einen besonderen Bestandsschutz verdient, ist eine Ungültigerklärung der Wahl immer nur das letzte Mittel. Dazu kommt es nur, wenn der Fehler so gewichtig ist, dass der Fortbestand des Parlamentes unerträglich erscheint. Paradox ist dann allerdings, dass man auch offensichtliche und vor der Wahl bekannt gewordene Fehler, die Mandatsrelevanz haben können, erst nachträglich im Wahlprüfungsverfahren rügen kann. Gleichwohl sind gerade in der jüngeren Vergangenheit Fälle aufgetreten, in denen Wahlfehler bei der Kandidatenaufstellung der politischen Parteien geeignet waren und sind, das Vertrauen des Wählers in das Funktionieren des politischen Systems und letztlich der Demokratie schlechthin zu beeinträchtigen. Zu erwähnen ist etwa der Fall der vertauschten Listenplätze der FDP in Nordrhein-Westfalen. Bei der Einreichung der Landesliste für die Landtagswahlen Nordrhein-Westfalen im Jahr 2017 hatte die Landesgeschäftsstelle die gewählten Kandidaten der Plätze 24 und 48 versehentlich vertauscht. Trotz Kenntnis dieses Fehlers hatte der Landeswahlausschuss die Liste in der falschen Fassung zugelassen.156 Die öffentliche Kritik war erheblich. Auch die NRW-Af D durfte bei der Bundestagswahl 2017 mit einer eigenen Liste antreten, obwohl es bei der Aufstellung der Liste Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Offenbar hatten nicht wahlberechtigte Personen mit abgestimmt. Der Wahlausschuss hatte die Liste dennoch in Kenntnis dieses Umstandes zugelassen.157 Hinzuweisen ist auch auf den oben bereits geschilderten Fall der Streichung eines gewählten Kandidaten von der Liste der Af D Sachsen für die sächsische Landtagswahl 2017. Es sprechen gute Gründe dafür, Parteiinterna zunächst, d.h. vor der Wahl, auch „nur“ der parteiinternen Kontrolle zu überlassen. Die Bedeutung der Parteien vor der Wahl ist wie gezeigt vielschichtig. Die innerparteiliche Kandidatenaufstellung und die Ausübung des Wahlvorschlagsrechtes sind komplexe Vorgänge, die unter zahlreichen Gesichtspunkten rechtlich erheblich, aber eben auch fehleranfällig sind, nicht zuletzt wegen der Mitwirkung von juristischen Laien in durchaus tragenden Rollen. Die innerparteiliche Demokratie aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG geht von einem solchen Verständnis aus, wenn es die wesentlichen Angelegenheiten der politischen Parteien und damit auch die Kandidatenaufstellung in die Hände der Parteimitglie156 S. dazu die zusammenfassende Darstellung der FDP NRW, https://fdp-lage.de/?p=310 (zuletzt abgerufen am 26.9.2018). 157 Beispielhaft für die umfangreiche mediale Berichterstattung s. Korfmann, NRZ vom 28.7.2017, online abruf bar unter https://www.nrz.de/politik/wahlausschuss-nrw-afd-darf-doch-zur-bundestags wahl-antreten-id211397907.html (zuletzt abgerufen am 20.9.2018).
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der legt. Diese sind dann auch zuerst und zuvörderst berufen, auf die Einhaltung der innerparteilichen und wahlrechtlichen Regeln Acht zu geben. Damit lässt sich auch eine gewisse Fehlertoleranz im Wahlrecht begründen.158 Zum Schutz der Wahl als einem demokratiewesentlichen Integrationsvorgang darf diese Fehlertoleranz jedoch nicht zu weit gehen. Den durchaus erkennbaren und bedenklichen Entwicklungen in diesem Bereich sollte entgegengewirkt werden, indem den Verantwortlichen die Fehleranfälligkeit stärker bewusstgemacht wird. Jedoch fehlen materiell-rechtliche Normen zu Wahlfehlern und deren Folgen, was im Wesentlichen wohl auf die kaum zu überblickende Vielzahl von möglichen Wahlfehlern zurückzuführen sein dürfte.159 Im Interesse einer Unterstützung der von (juristischen) Laien betriebenen Wahlvorbereitung wäre es hilfreich, wenn ein gesetzlich fixierter Katalog von möglichen Wahlfehlern dem Rechtsanwender und damit auch dem juristischen Laien eine Orientierung im unübersichtlichen Feld der Wahlfehler bieten und damit das Recht laientauglicher gestalten würde.160 Allein dies ist mit Blick auf die legitimierende Wirkung schon der Kandidatenaufstellung für die Wahlen aber wohl nicht hinreichend, da von den Parteimitgliedern eine verantwortungsvolle Wahrnehmung ihrer Kontrollfunktion nicht erzwungen werden kann. Rechtsschutzmöglichkeiten vor der Wahl sind als Fehlerkorrektiv daher notwendig.161 Anzusetzen ist dafür an der Schnittstelle, an der die Kandidatenaufstellung als reines Parteiinternum zu einer öffentlichen Angelegenheit wird, nämlich bei der Zulassung der Wahlvorschläge durch die staatlichen Wahlorgane. Auch diesen ist eine Kontrollfunktion überantwortet, der sie jedoch nicht stets gerecht werden. Davon zeugen unter anderem auch die vorgenannten Einzelfälle.162 In einem ersten Schritt ist daher daran zu denken, die Fehleranfälligkeit der Entscheidungen der staatlichen Wahlorgane zu reduzieren. Sowohl an dem Verfahren der Entscheidungsfindung als auch an der Besetzung der Wahlausschüsse wird Kritik geübt.163 Zur Verbesserung bieten sich diverse Lösungsmöglichkeiten an. In zeitlicher Hinsicht könnte das Verfahren der Entscheidung über die Zulassung von Wahlvorschlägen „entzerrt“ werden, um so einerseits den zeitlichen Druck zu reduzieren und zugleich praktikable Möglichkeiten der Fehlerkorrektur zu geben. Auch hier wäre es angezeigt, den wertenden Entscheidungs- und Beurteilungsspielräumen der Wahlausschüsse hinreichend präzise Kriterien als Maßstab für die Entscheidungsfindung an die Hand zu geben.164 Im Hinblick auf die personelle Zusammensetzung wurde bereits im Jahr 2012 eine deutliche Verbesserung erreicht, indem zumindest für Bundestagswahlen die Zusammensetzung des Bundeswahlausschusses, neben den aus den Wahlberechtigten berufenen Beisitzern, um zwei Richter erweitert wurde (§ 9 Abs. 2 Siehe Morlok, NVwZ 2012, 913 (913). Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 24. 160 Eine Kodifizierung des materiellen Wahlprüfungsrechtes verlangt auch Schreiber, in: FS für Gerfried Fischer, 2010, 423 (451 ff.); ders., DVBl. 2010, 609 (616). a.A. Hahlen, in Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 24. Für eine laientauglichere Gestaltung des Parteienrechts Morlok, in: Brandt/ Haratsch/Schmidt (Hrsg.), Verfassung – Parteien – Unionsgrundordnung, 2015, 19 (32 f.). 161 Siehe dazu Morlok/Bäcker, NVwZ 2011, 1153 (1157). 162 Für weitere Beispiele s. Morlok/Bäcker, NVwZ 2011, 1153 (1154 f.). 163 Im Einzelnen dazu Morlok/Bäcker, NVwZ 2011, 1153 (1155 f.). 164 Näher dazu Morlok/Bäcker, NVwZ 2011, 1153 (1157). 158 159
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BWahlG).165 Dem Vorwurf der überwiegend mangelnden „fachlichen Eignung“ der im Bundeswahlausschuss tätigen juristischen Laien zur Bewältigung der rechtlich komplizierten Aufgaben im Wahlverfahren wurde auf diese Weise begegnet. Dass sich etwa bei Bundestagswahlen der Wahlausschuss überwiegend aus Vertretern der im Bundestag vertretenen politischen Parteien zusammensetzt, ist damit freilich nicht behoben. Nach wie vor entscheidet damit die bereits erfolgreiche politische Konkurrenz über die Wahlzulassung.166 Daneben bleibt aber ein Bedürfnis nach einer Korrekturmöglichkeit hinsichtlich gleichwohl zu befürchtender Fehlentscheidungen. Die mit einer Verfassungsänderung neu geschaffene Möglichkeit der vom Bundeswahlausschuss nicht zur Wahl zugelassenen Parteien, diesen Beschluss vor dem Bundesverfassungsgericht vor der Wahl anzufechten, muss lediglich als Anfang gesehen werden. Rechtsschutz vor der Wahl in Form von Nichtanerkennungsbeschwerden ist auch auf Landesebene zwingend notwendig. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen hat darüber hinaus eindringlich gezeigt, dass Rechtsschutz vor der Wahl nicht nur im Falle der Nichtanerkennung, sondern auch in Fällen von zwar zugelassenen aber durchaus zweifelhaften Wahlvorschlägen möglich sein sollte. Ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz der innerparteilichen Demokratie bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung kann, wie oben gezeigt, im der Wahl nachgängigen Wahlprüfungsverfahren i.d.R. nicht mehr geheilt werden. Dies trägt einerseits kaum zur immer wichtiger werdenden Vertrauensbildung in die Politik bei, andererseits stärkt es auch nicht das Vertrauen in eine funktionierende und regulierende innerparteiliche Demokratie. Eine sanktionslos gebliebene nachträgliche Streichung von ordnungsgemäß gewählten Listenkandidaten durch Parteigremien ist alles andere als eine vertrauensbildende Maßnahme. Im Ergebnis kommt den politischen Parteien vor den Wahlen die verantwortungsvolle Aufgabe zu, die Vorbereitung der Wahl im Hinblick auf die Kandidatenaufstellung so fehlerfrei wie möglich durchzuführen. In ihren Händen liegt letztlich die Umsetzung des unverfälschten Willens des Souveräns, da die Wahlprüfung als Garant und Korrektiv ausfällt. Dieser Befund bekräftigt gleichzeitig die wesentliche Bedeutung der Parteien und deren machtvolle Stellung im Demokratiesystem der Bundesrepublik Deutschland.167 Die der Wahl nachgelagerte Wahlprüfung korrigiert die Wahlfehler im Regelfall nicht, sie erfüllt in den allermeisten Fällen lediglich die Funktion, Wahlfehler immerhin öffentlich anzuprangern und auf diese Weise auf ein möglichst rechtstreues Verhalten bei der als nächstes anstehenden Wahl hinzuwirken.168 Nach der Wahl ist auch in dieser Hinsicht vor der Wahl!
165 Eingeführt durch das Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen vom 16.7.2012, BGBl. I, 1501. 166 Hahlen, in Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 9 Rn. 12a. 167 Siehe dazu S. Schönberger, JZ 2017, 701 (707), die dafür plädiert, Parteien verfassungsrechtlich als „unmittelbare Machtakteure“ anzuerkennen. 168 Ähnlich Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 12.
Die Wahl der Qual: Sozialwahlen in der Sozialversicherung von
Prof. Dr. Thorsten Kingreen (Regensburg) Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 II. Sozialversicherungsrechtliche Regelungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Die Sozialversicherungsträger als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, § 29 Abs. 1 SGB IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Versicherte und Arbeitgeber als Träger der Selbstverwaltung, § 29 Abs. 2 SGB IV . . . . . . . . . . 142 a) Kranken- und Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 c) Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 d) Arbeitsförderung, insbes. Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Recht und Praxis der Sozialwahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das Sozialwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Die Verfassungswidrigkeit der sog. Friedenswahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) „Democracy is so overrated“: Das Bundessozialgericht und die „Friedenswahlen“ . . . . . . . . . 146 b) Art. 87 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Legitimation der Friedenswahlen? . . . . . . . . . . 149 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Durchführung der Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Einreichung der Wahlvorschläge, § 48 Abs. 1 SGB IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) 5 %-Sperrklausel, § 45 Abs. 2 S. 3 SGB IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Sozialversicherungsträger als Gesetzgeber: Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung in der Gemeinsamen Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Rechtsetzung durch Richtlinien im Gemeinsamen Bundesausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Die personelle Legitimation der Vertreter der Krankenkassen im Gemeinsamen Bundesausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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I. Einleitung 2019 ist ein Superwahljahr, anders als 1994, in dem es gar zum Wort des Jahres gekürt wurde, aber nicht wegen der in diesem Jahr stattfindenden Wahlen, sondern als Referenzjahr für Historiker. Es jähren sich die erste Europawahl vor 40 Jahren (am 7.6. und 10.6.1979), die erste Bundestagswahl vor 70 Jahren (am 14.8.1949), die erste Wahl zur Weimarer Reichsversammlung vor 100 Jahren am 11.8.1919 und schließlich vor 170 Jahren das Frankfurter Reichswahlgesetz (12.4.1849), eine der letzten Amtshandlungen der Frankfurter Nationalversammlung, zwar niemals angewendet, aber immerhin Vorbild für spätere Wahlgesetze, insbesondere das Reichswahlgesetz, das vor 150 Jahren am 31.5.1869 in Kraft trat. Man könnte einige Gründe dafür anführen, dass es auch die Sozialwahlen in der Sozialversicherung verdienen, in diesem Kontext gewürdigt zu werden. Ihre Tradition ist lang (die ersten Wahlen fanden schon Mitte des 19. Jahrhunderts statt1), die Zahl der Wahlberechtigten groß (bei den vergangenen Sozialwahlen mehr als 50 Millionen), und das Volumen der Haushalte allein der Kranken- und Rentenversicherungsträger macht mit zusammen gut 500 Mrd. € fast 40 % des öffentlichen Gesamthaushalts aus.2 Dennoch werden die Sozialwahlen in diesem Jahr des Rückblicks auf die deutsche Demokratiegeschichte noch nicht einmal Randfigur sein. Das liegt nicht daran, dass es keinen passenden „runden“ Jahrestag gibt, sondern weil die Sozialwahlen die anderen Sternstunden der Demokratie verschatten würden. Das können wir gerade jetzt gar nicht gebrauchen. Im Folgenden werden zunächst die für das Sozialwahlrecht relevanten einfach-rechtlichen Regelungsstrukturen (II.) und die dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Vorgaben (III.) entfaltet. Sodann wird gezeigt, dass sich die verfassungsrechtlichen Desiderata insbesondere im Krankenversicherungsrecht auswirken, wo im sog. Gemeinsamen Bundesausschuss teilweise Entscheidungen ohne demokratische Legitimation fallen (IV.). Abschließend werden die Ergebnisse des Beitrages knapp zusammengetragen (V.).
II. Sozialversicherungsrechtliche Regelungsstrukturen Wahlen bewirken personelle Legitimation von Hoheitsgewalt ausübenden Amtswaltern. Bevor die Regelungsstrukturen des Sozialwahlrechts behandelt werden, muss daher erklärt werden, wer hier eigentlich gewählt wird.
1 Ayaß, Hundert Jahre und noch mehr … Zur Geschichte der Sozialwahlen, Soziale Sicherheit 62 (2013), 422 ff. 2 Zahlen aus https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/OeffentlicheFinanzen Steuern/OeffentlicheFinanzen/EUHaushaltsrahmenrichtlinie/Tabellen/OeffentlicherGesamthaus halt.html (letzter Zugriff: 28.11.2018).
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1. Die Sozialversicherungsträger als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, § 29 Abs. 1 SGB IV Die Sozialversicherungsträger sind nach § 29 Abs. 1 SGB IV bzw. § 367 Abs. 1 SGB III Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Das Recht auf Selbstverwaltung beinhaltet auch im Sozialrecht das Recht auf Regelung eigener Angelegenheiten.3 Es ist damit Ausfluss gemeinschaftlich wahrgenommener Selbstbestimmung.4 Selbstverwaltung bedeutet auch Staatsdistanz und weist damit eine ausgeprägte Affinität zu den Grundrechten auf:5 Sie war im 19. Jahrhundert Ausdruck des zunehmenden Selbstbewusstseins des erstarkenden Bürgertums gegenüber dem monarchischen Staat, der insbesondere in seiner Eigenschaft als Wohlfahrtsstaat eine ausgeprägte Neigung gezeigt hatte, das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben unter seine Kuratel zu stellen.6 In der Bildung der Selbstverwaltungskörperschaften lag eine Dezentralisierung und Demokratisierung einzelner Lebensbereiche im monarchischen Staat, denn der engere Bereich der Körperschaft blieb für ihre Mitglieder überschaubarer und damit auch besser zu beeinflussen als der politische Prozess auf der gesamtstaatlichen Ebene.7 Sozialversicherungsträger vermitteln Solidarität, indem sie die Ansprüche und die Verpflichtungen der Solidargenossen auf sich konzentrieren. Sie bilden die Schaltstelle im solidarischen Verteilungsfluss: Ihnen werden die Beiträge geschuldet, mit denen das Mitglied seiner Einstandspflicht für die Solidargemeinschaft nachkommt. Zugleich sind sie Adressaten der Leistungsansprüche. Kraft ihrer hoheitlichen Gewalt erzwingen sie die von jedem Mitglied geforderte solidarische Mitwirkung und bieten ihm stellvertretend für die Solidargemeinschaft Unterstützung bei der Bewältigung der Wechselfälle des Lebens.8 Angesichts der die Sozialversicherung heute beherrschenden Großbürokratien mag man diese historische Funktionsbeschreibung der Selbstverwaltung für eine romantisierende Überzeichnung halten.9 Aber sie bleibt zum Verständnis des Sozialwahlrechts wichtig, denn im Recht, die Selbstverwaltungsorgane zu bestimmen, verwirklicht sich noch heute die Idee der staatsfernen Selbstbestimmung in den eigenen Angelegenheiten. Die Frage nach demokratischer Legitimation der Sozialversicherungsträger hat sich seit 1949 sogar eher noch zugespitzt. Sozialversicherungsträger substituieren staatliche Funktionen in grundrechtswesentlichen Bereichen, d.h. 3 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, 227 ff. 4 Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 300 f.; Hase, Soziale Selbstverwaltung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. V I, 3. Aufl. 2008, § 145 Rn. 1 ff.; Hufen, Soziale Selbstverwaltung im demokratischen Rechtsstaat, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes 34 (1991), 43 (50 ff.). 5 Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 329 ff. 6 In diesem Spannungsfeld ist in den 1880er Jahren die Bismarck’sche Sozialversicherung entstanden, s. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, 170 ff. 7 Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 2 und passim. 8 Simons, Verfahren und verfahrensäquivalente Rechtsformen im Sozialrecht, 1985, 73 f. 9 So tendenziell etwa Geis, Körperschaftliche Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Schnapp (Hrsg.), Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip am Beispiel der Sozialversicherung, 2001, 65 (80 ff.).
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der Staat gibt in einem zentralen Handlungsbereich Verantwortung ab, muss aber zugleich, insbesondere über die Aufsicht (§§ 87 ff. SGB IV), die Beachtung der Spielregeln des demokratischen Rechtsstaats gewährleisten. Namentlich die Verbände der Sozialversicherungsträger verfügen zudem über einen enormen Einfluss auf die Gestaltung der Sozialpolitik, teilweise sogar mit Regelungsbefugnissen gegenüber Außenseitern. Sozialversicherungsträger sind also bedeutende Akteure des Verbändestaats und damit auch Adressaten der Debatte über die demokratische Kontrolle von Korporationen.10 Verfassungsrechtlich geht es damit um die Schwierigkeit, passende Maßstäbe für diese Zwischenschicht zwischen Staat und Gesellschaft zu entwickeln.11
2. Versicherte und Arbeitgeber als Träger der Selbstverwaltung, § 29 Abs. 2 SGB IV Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung wird nach § 29 Abs. 2 SGB IV grundsätzlich gemeinsam durch die Versicherten und die Arbeitgeber ausgeübt. In der sozialen Selbstverwaltung verbinden sich damit die korporatistischen Strukturen des Arbeits- mit denjenigen des Sozialrechts, denn die soziale Selbstverwaltung wird maßgeblich durch die Gewerkschaften und die Verbände der Arbeitgeber geprägt, wie sich bei der Darstellung des Sozialwahlrechts12 noch zeigen wird. Selbstverwaltungsorgane sind nach § 31 Abs. 1 S. 1 SGB IV eine Vertreterversammlung, die nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB IV insbesondere die Satzung und das sonstige autonome Recht beschließt, und ein Vorstand, der den Sozialversicherungsträger gemäß § 35 Abs. 1 SGB IV verwaltet. Für die laufenden Verwaltungsgeschäfte wählt die Vertreterversammlung einen hauptamtlichen Geschäftsführer (§ 36 Abs. 1, 2 SGB IV). In der Vertreterversammlung sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber grundsätzlich paritätisch vertreten; sie wird von beiden Gruppen getrennt aufgrund von Vorschlagslisten gewählt (§ 46 Abs. 1 SGB IV). Diese gemeinsame Grundstruktur darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen den einzelnen Sozialversicherungszweigen erhebliche Unterschiede gibt, die auch für das Verständnis der Sozialwahlen von erheblicher Bedeutung sind. In der Grobstruktur sind folgende Unterscheidungen wichtig:
a) Kranken- und Pflegeversicherung Sozialversicherungsträger in der Krankenversicherung sind nach § 4 Abs. 1 SGB V die derzeit noch gut 100 Krankenkassen. In der Pflegeversicherung sind die bei den 10 Klassisch (und umstritten): Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, 1955. Vgl. ferner etwa Grimm, Verbände, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, 2. Aufl. 1995, 665 ff.; Schmitter/Grote, Der korporatistische Sisyphus. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, PVS 38 (1997), 530 ff. 11 Vgl. bereits Kingreen, Das Verfassungsrecht der Zwischenschicht. Die juristische Person zwischen grundrechtsgeschützter Freiheit und grundrechtsgebundener Macht, JöR 65 (2017), 1 ff. 12 Dazu 3.
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Krankenkassen angesiedelten, aber rechtlich selbständigen Pflegekassen Sozialversicherungsträger (§ 46 SGB XI). Die Kranken- und Pflegekassen verfügen über eine von den anderen Sozialversicherungsträgern abweichende Binnenstruktur. Bei ihnen wird nach § 31 Abs. 3a S. 1 SGB IV keine Vertreterversammlung, sondern ein Verwaltungsrat gebildet, der über weniger Mitglieder verfügt als eine Vertreterversammlung (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB IV). Der nach § 35a Abs. 5 SGB IV vom Verwaltungsrat zu wählende Vorstand muss zudem hauptamtlich tätig sein. Diese Professionalisierung der Selbstverwaltungsstrukturen lässt sich damit erklären, dass die Kranken- und Pflegekassen anders als die anderen Sozialversicherungsträger in einem durch Wahlrechte (§ 175 SGB V) gesteuerten Beitragswettbewerb stehen und zudem über erhebliche Gestaltungsrechte im Bereich des leistungserbringungsrechtlichen Vertragsrechts verfügen. Wie wichtig historische Pfadabhängigkeiten sind, zeigt sich darin, dass die Selbstverwaltungsstrukturen zwischen den Kranken- und damit auch den Pflegekassen differieren. Während die Selbstverwaltungsorgane, der allgemeinen Regel des § 44 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV entsprechend, bei den meisten Krankenkassen zur Hälfte aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber zusammengesetzt sind, bestehen sie in den Organen der Ersatzkassen (das sind große Krankenkassen wie die Barmer/ GEK, die DAK und die Techniker-Krankenkasse) nur aus Vertretern der Versicherten (§ 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IV). Das hat den Hintergrund, dass die Vorläufer der Ersatzkassen, die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, allein von den Versicherten verwaltet worden waren.13 Aufgrund kassenartübergreifender Fusionen (§ 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IV) sind allerdings im Verwaltungsrat einzelner Ersatzkassen mittlerweile auch Arbeitgebervertreter Mitglieder. Selbstverständlich können zudem Arbeitgeber, die selbst Mitglieder sind, an der Selbstverwaltung partizipieren.14
b) Rentenversicherung Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sind nach § 125 SGB VI die in 14 Regionalträger untergliederte Deutsche Rentenversicherung Bund sowie die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Hinsichtlich der Binnenstruktur muss unterschieden werden. Für die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gilt die Grundregel des § 31 Abs. 1 SGB IV, d.h. sie verfügt über eine Vertreterversammlung und einen ehrenamtlichen Vorstand, dem ein nach § 36 Abs. 2 SGB IV von der Vertreterversammlung zu wählender Geschäftsführer angehört. Die Deutsche Rentenversicherung Bund ist hingegen nicht nur Sozialversicherungsträgerin, sondern nimmt auch die in § 138 Abs. 1 SGB VI genannten Grundsatz- und Querschnittsaufgaben der Deutschen Rentenversicherung wahr. Das hat Auswirkungen auf ihre Binnenstruktur: Auch sie verfügt zwar über eine Vertreterversammlung und einen Vorstand i.S.v. § 31 Abs. 1 SGB IV, wel Vgl. zur historischen Entwicklung Eichenhofer, Ersatzkassen und ihre Verbände in der deutschen Sozialgeschichte, ZSR 58 (2012), 481 (482 ff.); Wigge, Die Stellung der Ersatzkassen im gegliederten System der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem GRG vom 20.12.1988, 1992, 4 ff. 14 Zabre, in: Kreikebohm (Hrsg.), Sozialgesetzbuch IV. Kommentar, 3. Aufl. 2018, § 4 4 Rn. 6. 13
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chem auch ein Geschäftsführer angehört (§ 36 SGB IV). Bei ihr werden darüber hinaus aber noch eine Bundesvertreterversammlung und ein Bundesvorstand gebildet (§ 31 Abs. 3b SGB IV), die für Grundsatz- und Querschnittsfragen und bei gemeinsamen Angelegenheiten der Träger zuständig sind. Näheres zur Zusammensetzung ergibt sich aus § 44 Abs. 5 und 6 SGB IV und zur Beschlussfassung aus § 64 Abs. 4 SGB IV.
c) Unfallversicherung Träger der Unfallversicherung sind die in § 114 Abs. 1 SGB VII genannten Berufsgenossenschaften und sonstigen Unfallversicherungsträger. Die Besonderheit der Unfallversicherung besteht darin, dass Mitglieder allein die Arbeitgeber sind; sie allein sind daher nach § 150 SGB VII beitragsverpflichtet. Dafür befreit sie die Unternehmen von Schadensersatzansprüchen, die aufgrund von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten entstehen (§§ 104 ff. SGB VII). Die Organe der gewerblichen Berufsgenossenschaften sind gemäß der allgemeinen Regel des § 44 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV paritätisch besetzt. Das gilt nach § 44 Abs. 2a SGB IV auch für die Unfallkassen der Länder und der Gemeinden, die die Unfallversicherung der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst tragen sowie nach § 44 Abs. 7 SGB IV für die Unfallversicherung Bund und Bahn, die für die Arbeiter und Angestellten auf Bundesebene zuständig sind. Die Arbeitgebervertreter werden hier aber nicht gewählt, sondern jeweils durch staatliche Behörden bestimmt. Sie erhalten die notwendige personelle Legitimation m.a.W. nicht über die Sozialwahlen, sondern durch staatliche Berufungsakte.
d) Arbeitsförderung, insbes. Arbeitslosenversicherung Das im Sozialgesetzbuch III geregelte Recht der Arbeitsförderung nimmt eine Sonderstellung insoweit ein, als es nicht nur Sozialversicherungsrecht regelt (in Gestalt der Arbeitslosenversicherung, §§ 24 ff., 136 ff. SGB III), sondern auch die staatliche Aufgabe der Arbeitsförderung. Daher gilt für sie das gesamte Organisationsrecht für die Sozialversicherung nach § 1 Abs. 1 S. 2 SGB IV nicht. Trägerin ist gemäß § 367 SGB III die regional untergliederte Bundesagentur für Arbeit. Für sie gilt das von den §§ 31 ff. SGB IV abweichende Binnenorganisationsrecht der §§ 371 ff. SGB III. Selbstverwaltungsorgane sind nach § 371 Abs. 1 SGB III der Verwaltungsrat und die Verwaltungsausschüsse bei den Agenturen für Arbeit. Die Mitglieder des Verwaltungsrates erhalten ihre personelle Legitimation aufgrund der Berufung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Verwaltungsausschüsse durch den über diesen Berufungsakt legitimierten Verwaltungsrat (§ 377 Abs. 2 SGB III). Der Vorstand wird nach § 382 Abs. 1 S. 1 SGB III auf Vorschlag des Verwaltungsrats durch die Bundesregierung berufen. Im Recht der Arbeitsförderung finden daher keine Sozialwahlen statt. Die arbeitsrechtlichen Korporationen haben allerdings Vorschlagsrechte (§ 379 SGB III).
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3. Recht und Praxis der Sozialwahlen Die Rechtsgrundlagen für die Sozialwahlen finden sich in den §§ 45 ff. SGB IV und der auf § 56 SGB IV beruhenden Wahlordnung für die Sozialversicherung (SVWO). Gemäß § 46 Abs. 1 SGB IV wählen die Versicherten und die Arbeitgeber die Vertreter ihrer Gruppen in die Vertreterversammlung (bzw. den Verwaltungsrat) jeweils getrennt aufgrund von Vorschlagslisten. Die Vorschlagslisten können nach § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB IV die arbeitsrechtlichen Korporationen einreichen. Das Recht, Vorschlagslisten einzureichen, haben zwar auch die Versicherten über sog. freie Listen (§ 48 Abs. 1 Nr. 4 SGB IV); diese spielen aber wegen der hohen Zugangshürden in der Praxis des Sozialwahlrechts keine Rolle.15 Im Vergleich mit Art. 28 Abs. 1 S. 1, 38 Abs. 1 S. 1 GG sind die Wahlrechtsgrundsätze eher dünn normiert. Nach § 45 Abs. 2 S. 1 SGB IV sind die Wahlen immerhin frei und geheim. Allerdings wird die Wahl nach § 54 Abs. 1 SGB IV als Briefwahl durchgeführt, die gemeinhin als Durchbrechung der Geheimheit gilt16 und daher die Ausnahme bleiben sollte. Insbesondere auf die Normierung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl meint der Gesetzgeber ganz verzichten zu können; stattdessen regelt er in § 45 Abs. 2 S. 3 SGB IV eine 5 %-Sperrklausel. Wahlberechtigt ist nach § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB IV bereits, wer das 16. Lebensjahr vollendet hat. Besonders kurios sind die Regelungen zu den begrifflich recht freundlich daherkommenden „Friedenswahlen“. Nach § 46 Abs. 2 SGB IV gelten die für die Vertreterversammlung der Krankenkassen Vorgeschlagenen als gewählt, wenn aus der Gruppe der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber nur eine Vorschlagsliste zugelassen ist oder auf mehreren Vorschlagslisten insgesamt nicht mehr Bewerber benannt werden als Mitglieder zu wählen sind. Es finden dann also gar keine Wahlen durch die Versicherten statt, sondern, wie es in § 28 Abs. 1 Sozialversicherungswahlordnung in geradezu entwaffnender Offenheit heißt, „Wahlen ohne Wahlhandlungen“17, deren Ergebnis nach Abs. 2 der Vorschrift spätestens am 107. Tage vor (!) dem Wahltag bekannt zu machen ist. Bei den Friedenswahlen dürfen also die Sektkorken bereits vor der Wahl knallen. Friedenswahlen waren, wie schon bei allen Wahlen zuvor, auch bei den Sozialwahlen 2017 die Regel. In der Krankenversicherung fanden Urwahlen nur bei 5 Ersatzkassen statt; bei allen anderen, gut 100 Krankenkassen wurden die Verwaltungsräte durch Friedenswahlen bestimmt. Urwahlen fanden zudem noch statt bei der Deutschen Rentenversicherung Bund sowie ihrem Regionalträger Saarland. In der Unfallversicherung fanden die Sozialwahlen bei allen 33 Trägern als Friedenswahlen statt. Wo gewählt wurde, lag die Wahlbeteiligung zwischen 25 und 33 %.18
Dazu näher unten III. 2. a). Vgl. etwa Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck-OK GG, Art. 38 Rn. 77. 17 Vgl. auch BSGE 39, 244 (249). 18 Vgl. zum Ganzen https://www.sozialwahl.de/ergebnisse/gesamtergebnisse-der-sozialwahl-2017 (letzter Zugriff: 30.11.2018). 15 16
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III. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das Sozialwahlrecht Das Grundgesetz hat das Sozialwahlrecht ebenso vorgefunden wie insgesamt die soziale Selbstverwaltung. Es hat damit auch vorkonstitutionelle Strukturen geerbt, die erst allmählich mit den Anforderungen des demokratischen Rechtsstaats in Einklang gebracht wurden. Die Sozialwahlen waren im Kaiserreich und in der Weimarer Republik aufgrund der noch nicht vollzogenen Trennung zwischen Sozialverwaltung und Sozialrechtsprechung19 eng mit der Wahl der Laienrichter verzahnt. Erst als 1945 das bis dahin als letzte Instanz für sozialrechtlichen Rechtsschutz fungierende Reichsversicherungsamt geschlossen und 1953 das Sozialgerichtsgesetz eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit schuf,20 wurde der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) auch im Sozialrecht verwirklicht. Dadurch kam es dann auch zur Abspaltung der erstmals 1953 wieder abgehaltenen Sozialwahlen von der Wahl der Laienrichter in der Sozialgerichtsbarkeit. Nach wie vor ist aber umstritten, welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe eigentlich an die Sozialwahlen anzulegen sind. Im Folgenden ist zunächst zu zeigen, dass das Grundgesetz fordert, dass überhaupt Wahlen stattfinden müssen; das führt zur Verfassungswidrigkeit der sog. Friedenswahlen (1.). Zudem folgen aus Art. 3 Abs. 1 GG Anforderungen an die Durchführung der Wahlen (2.).
1. Die Verfassungswidrigkeit der sog. Friedenswahlen Zu den Hinterlassenschaften aus Kaiserreich und Weimar gehören insbesondere die „Friedenswahlen“. Immerhin hat zwar noch niemand versucht, die Vereinbarkeit dieser „Wahlen ohne Wahlhandlung“ (§ 28 Abs. 1 SVWO) mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) zu behaupten. Aber teilweise wird einfach die Maßstäblichkeit des Demokratieprinzips bestritten:
a) „Democracy is so overrated“ 21: Das Bundessozialgericht und die „Friedenswahlen“ Das Bundesverfassungsgericht hat an sich schon 1961 alles Erforderliche zu Friedenswahlen gesagt. Diese waren im schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrecht in Kommunen mit weniger als 750 Einwohnern vorgesehen, in denen es nur einen Wahlvorschlag gab. Das sei, so das Bundesverfassungsgericht, verfassungswidrig, denn Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG schreibe zwingend vor, dass „das Wahlverfahren so geregelt ist, dass jeder Wahlberechtigte seine Stimme bei der Wahl abgeben kann. Die19 Dazu Ayaß, Wege zur Sozialgerichtsbarkeit: Schiedsgerichte und Reichsversicherungsamt bis 1945, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht Bd. 1, 2014, 265 ff. 20 Voßkuhle/Gerberding, Das Bundessozialgericht unter dem Grundgesetz – Errichtung und verfassungsrechtliche Garantien, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht Bd. 1, 2014, 265 ff. 21 Frank Underwood, House of Cards Staffel 2, Episode 2.
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sem Gebot ist nicht Genüge getan, wenn das Wahlergebnis durch die Aufstellung und Duldung entsprechender Wahlvorschläge vorweggenommen werden kann.“22 Das Bundessozialgericht meint allerdings, dass nur Gebietskörperschaften ein „Volk“ haben und daher eine Volksvertretung benötigen. Soziale Versicherungsträger hingegen hätten zwar Mitglieder, aber kein Verbandsvolk. Daher sei das demokratische Prinzip „wenn überhaupt, nur mit Einschränkungen auf Nichtgebietskörperschaften zu übertragen.“ Weil diese „nach Verfassungsrecht nicht einmal notwendig eine Vertretung“ benötigten, könne von ihnen noch weniger verlangt werden, dass „eine vom Gesetzgeber vorgesehene Vertretung ausnahmslos aus Wahlen hervorgeht, die den Anforderungen des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG genügen.“23 Das ist nicht haltbar. Es ist zwar zutreffend, dass Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG nur für die kommunale Selbstverwaltung gilt. Daraus kann man aber nicht folgern, dass die sog. funktionale Selbstverwaltung24 von den Anforderungen des Demokratieprinzips gänzlich freigestellt wäre. Denn soziale Verwaltungsträger üben in vielfältiger Weise Hoheitsgewalt aus, etwa wenn sie als Verwaltungsakte nach § 31 SGB X ergehende Beitrags- und Leistungsbescheide erlassen. Das Bundesverfassungsgericht formuliert unmissverständlich: „Alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter bedarf nach dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) der demokratischen Legitimation. Es muss sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden.“25 Wahlen bilden das Fundament des demokratischen Prinzips und sind daher auch Dreh- und Angelpunkt des bundesverfassungsgerichtlichen Legitimationsmodells.26 Der nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG erforderliche „Zurechnungszusammenhang“27 zwischen dem Volk und den besonderen Organen wird vorrangig durch das Parlament und die Parlamentsgesetze realisiert, denn das Volk wählt lediglich die besonderen Organe der Gesetzgebung (und nicht auch diejenigen der beiden anderen Gewalten). Daher bilden die sachlich-inhaltliche Legitimation durch das Parlamentsgesetz und die unmittelbar auf den Volkswillen zurückzuführende personell-organisatorische Legitimation der gewählten Abgeordneten das Gerüst des verfassungsrechtlichen Modells demokratischer Legitimation.28 Das grundgesetzliche Legitimationsmodell ist zwar auch offen für die Ausübung von Staatsgewalt durch rechtlich verselbständigte Verwaltungsträger. Die personelle Legitimation wird hier nicht auf das Gesamtvolk zurückgeführt, sondern auf die autonome Legitimation durch die Träger der Selbstverwaltung, also das „Verbandsvolk“.29 Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert diese „gelockerte Einbindung in den zentralen, auf das Gesamtvolk zurückgehenden Legitimationszusammenhang“, wenn und soweit dieser „durch ein stärkeres Zurgeltungbringen der gleichfalls im BVerfGE 13, 1 (18). BSGE 36, 242 (244). 24 Zu ihr umfassend Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997. 25 BVerfGE 130, 76 (123). 26 Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rn. 1 und 4. 27 BVerfGE 130, 76 (123); 135, 155 (221); 136, 194 (261). 28 BVerfGE 135, 155 (223); vgl. bereits 83, 60 (72); 130, 76 (123). 29 Holzner, Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie, 2016, 285 ff. Kritisch zur Existenz von solchen Teilvölkern etwa Köller, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, 2009, 210 ff. 22
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Gedanken der Selbstbestimmung und damit im demokratischen Prinzip wurzelnden Grundsätze der Selbstverwaltung und der Autonomie“ ausgeglichen werde.30 Allerdings müsse auch die funktionale Selbstverwaltung „der Verwirklichung des übergeordneten Ziels der freien Selbstbestimmung aller“31 dienen. Aus diesem Grunde „müssen die Regelungen über die Organisationsstruktur der Selbstverwaltungseinheiten auch ausreichende institutionelle Vorkehrungen dafür enthalten, dass die betroffenen Interessen angemessen berücksichtigt und nicht einzelne Interessen bevorzugt werden.“32 Die grundlegenden, aus Art. 20 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen für die Ausübung der Staatsgewalt durch Verwaltungsträger gelten daher „für alle Formen der Ausübung von Staatsgewalt“33 und damit auch in der funktionalen Selbstverwaltung.34 Personelle Legitimation wird entweder durch Wahlen vermittelt oder durch Bestellungsakte von ihrerseits demokratisch legitimierten Amtswaltern.35 Dementsprechend sind etwa die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales berufenen Mitglieder des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit (§ 377 Abs. 2 S. 1 SGB III) legitimiert.36 Amtswalter, die ihr Amt weder auf eine Wahl noch einen öffentlich-rechtlichen Ernennungs-, Berufungs- oder Betrauungsakt zurückführen können, verfügen aber über keine personell-demokratische Legitimation. Zwar stehen die personell-organisatorische und die sachlich-inhaltliche Komponente des Legitimationsmodells in einem wechselseitigen und bis zu einem gewissen Grad auch gegenseitig substitutionsfähigen Verhältnis untereinander, wenn denn das notwendige Legitimationsniveau realisiert wird.37 Man könnte also überlegen, ob die fehlende personelle Legitimation von Amtswaltern, die ihr Amt Friedenswahlen verdanken, nicht durch eine verstärkte sachlich-inhaltliche Legitimation kompensiert wird. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht selbst gesagt, die Hauptaufgabe der Sozialversicherungsträger bestehe „in dem Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe“38. Das war allerdings 1975 und diente der Begründung der fehlenden Grundrechtsfähigkeit der Krankenkassen (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG) und nicht der Exemtion vom Demokratieprinzip. Für die seit 1995 im Wettbewerb untereinander stehenden Krankenkassen stimmt dieser Befund BVerfGE 136, 194 (263). BVerfGE 107, 59 (92). 32 BVerfGE 107, 59 (93). 33 BVerfGE 47, 253 (273); 77, 1 (40). 34 BVerfGE 107, 59 (93). 35 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 20 (Demokratie) [2010], Rn. 121. 36 Daher geht das Argument ins Leere, Friedenswahlen könnten schon deshalb nicht undemokratisch sein, weil sich der Gesetzgeber ja auch für andere Verwaltungsformen der Sozialversicherung habe entscheiden können (so in Verkennung des Konzepts der personellen Legitimation Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Fragen zur Sozialversicherung, Az. WD 6 – 3000, 060/17 v. 4.1.2018, S. 15). 37 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 111–113. 38 BVerfGE 39, 302 (313); ferner etwa Schnapp, Friedenswahlen in der Sozialversicherung – vordemokratisches Relikt oder scheindemokratisches Etikett, in: Epping/Fischer/Heintschel-von Heinegg (Hrsg.), Brücken bauen und begehen: Festschrift für Knut Ipsen zum 65. Geburtstag, 2000, 807 (825): „Subsumtionsautomatismus“. 30 31
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ohnehin nicht mehr, weil sie gerade zur Aktivierung dieses Wettbewerbs über vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten insbesondere im leistungserbringungsrechtlichen Vertragsrecht verfügen und die gesetzliche Steuerung daher insoweit eher reduziert wird.39 Insbesondere das Krankenversicherungsrecht ist in weiten Bereichen durch untergesetzliche Rechtskonkretisierung gekennzeichnet, an der die Krankenkassen stets beteiligt sind.40 Hinzu treten ihre ohne Zweifel legitimationsbedürftigen Funktionen im Rahmen der soziale Rechte ausgestaltenden Rechtsetzung der Gemeinsamen Selbstverwaltung.41 Selbst wenn also, was umstritten ist,42 der durch Friedenswahlen bedingte Totalausfall der personell-organisatorischen Legitimation durch eine verschärfte gesetzliche Steuerung kompensiert werden könnte, könnte hier kein dem Demokratieprinzip genügendes Legitimationsniveau erreicht werden, weil die gesetzliche Detailsteuerung nicht nur dem Wettbewerbsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern insgesamt der Gestaltungsspielräume implizierenden Selbstverwaltung fremd ist.43 Daraus folgt, dass es auch in der Sozialversicherung keine Ausübung von Staatsgewalt durch Amtswalter geben kann, die über keine personell-organisatorische Legitimation verfügen. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gilt! Auch die weiteren Argumente des Bundessozialgerichts (geringe Wahlbeteiligung, unverhältnismäßige Kosten bei geringem Nutzen44) sind offensichtlich sachwidrig, denn immerhin das Demokratieprinzip ist noch nicht ökonomisch disponibel. Man kann die Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1973 also allenfalls damit erklären, dass das Demokratieprinzip erst in den 1980er Jahren rechtsdogmatische Konturen bekommen hat.45 Dennoch staunt man etwas, dass ein höchstes deutsches Bundesgericht noch 1973 ernsthaft meinte, unter dem Grundgesetz könne Hoheitsgewalt ausgeübt werden, die keiner demokratischen Legitimation bedarf, und noch mehr, dass es sich davon bis heute nicht distanziert hat, obwohl es dazu insbesondere in seiner Rechtsprechung zur demokratischen Legitimation der Gemeinsamen Selbstverwaltung46 hinreichende Gelegenheit gehabt hätte.
b) Art. 87 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Legitimation der Friedenswahlen? Diskutiert wird schließlich, ob Art. 87 Abs. 2 GG eine Art Bestandsgarantie auch der vordemokratischen Strukturen der Gemeinsamen Selbstverwaltung gewährleistet. Dazu Becker/Schweitzer, Welche gesetzlichen Regelungen empfehlen sich zur Verbesserung des Wettbewerbs der Versicherer und Leistungserbringer im Gesundheitswesen? Gutachten zum 69. Dt. Juristentag, Abteilung Sozialrecht, 2012, B 30 ff. 40 Kingreen, Governance im Gesundheitsrecht, Die Verwaltung 42 (2009), 339 (347 ff.). 41 Dazu IV. 42 Vgl. etwa Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 20 (Demokratie) [2010], Rn. 130. 43 Wie hier etwa Wimmer, Friedenswahlen in der Sozialversicherung – undemokratisch und verfassungswidrig, NJW 2004, 3369 (3372 f.). 44 BSGE 36, 242 (244); aufgegriffen für die Friedenswahlen in einer Handwerkskammer VGH Mannheim, NVwZ-RR 1998, 366 (369). 45 Grundlegend: Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. I, 1. Aufl. 1987, § 22 Rn. 14 ff.; nunmehr: 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 16 ff. 46 Dazu IV. 39
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Die Norm bildet die nach 1945 vorgefundene Vielfalt der sozialen Versicherungsträger verwaltungskompetenzrechtlich ab, wird aber darüber hinausgehend zum Teil materiell aufgeladen. Sie enthalte zwar keine Verfassungsgarantie der sozialen Selbstverwaltung, bringe aber zum Ausdruck, dass die Ausübung von Staatsgewalt durch soziale Versicherungsträger in Einklang mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes stehe. Damit dispensiere Art. 87 Abs. 2 GG auch von den Erfordernissen personell-organisatorischer Legitimation, wie sie Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG für die Ausübung der Staatsgewalt durch Träger der unmittelbaren Staatsverwaltung voraussetze.47 Mit dieser Begründung werden auch die als „Friedenswahlen“ stattfindenden Sozialwahlen in das Grundgesetz hinübergerettet.48 Auch diese Begründung ist sehr ambitioniert. Es ist zwar, wie bereits gesehen,49 richtig, dass das Demokratieprinzip Selbstverwaltung als legitime Ausübung von Hoheitsgewalt grundsätzlich anerkennt. Aber es gibt weder im Wortlaut der Norm noch in den historischen Materialien50 einen Anhaltspunkt dafür, dass mit der Verteilung von Verwaltungskompetenzen zugleich ein von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG grundsätzlich abweichendes Legitimationskonzept mitgeregelt wird und damit der vorkonstitutionelle Zustand gewissermaßen gebilligt wurde.
c) Fazit Es ist im rechtswissenschaftlichen Schrifttum schon seit langem weitgehend unbestritten, dass die Sozialwahlen wegen der Möglichkeit von sog. Friedenswahlen (§ 46 Abs. 2 SGB IV) keine demokratische Legitimation zu vermitteln mögen.51 Das verdient nicht nur deshalb Hervorhebung, weil es sich damit auch ziemlich einhellig gegen das Bundessozialgericht stellt, sondern vor allem auch, weil außerhalb der Rechtswissenschaft im verbändegeprägten Schrifttum so getan wird, als sei die Friedenswahl „in Rechtsprechung und Literatur allgemein als verfassungsgemäß anerkannt“52. Diese Fehleinschätzung belegt, wie sehr sich die korporatistische Parallelgesellschaft von der Welt des geltenden Verfassungsrechts abgeschottet hat. 47 So vor allem und grundlegend Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, 299 ff.; tendenziell auch Burgi, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Begr.), Grundgesetz. Kommentar Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 87 Abs. 2 Rn. 78. 48 Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, 372; anders aber trotz seines Ansatzes über Art. 87 Abs. 2 GG Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, 305. 49 Siehe vorstehend a). 50 Zur Entstehungsgeschichte von Art. 87 Abs. 2 GG etwa Ibler, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 87 [2012] Rn. 168 ff. 51 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, 305; Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, VVDStRL 70 (2011), 152 (178 f.); Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, 460; Oebbecke, Demokratische Legitimation nichtkommunaler Selbstverwaltung, VerwArch 81 (1990), 349 (362 f.); Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, 83 f.; Wimmer, Friedenswahlen in der Sozialversicherung – undemokratisch und verfassungswidrig, NJW 2004, 3369 (3370 ff.). 52 So tatsächlich Düker, Sozialwahlen 1999, Die Angestelltenversicherung 1999, 117 (118 f.); aus jüngster Zeit auch Zabre, in: Kreikebohm (Hrsg.), Sozialgesetzbuch IV. Kommentar, 3. Aufl. 2018, § 4 4 Rn. 6.
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2. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Durchführung der Wahlen Das Grundgesetz fordert nicht nur, dass Amtswalter personell legitimiert sind, sondern es begründet auch Anforderungen an den die Legitimation stiftenden Akt. Zwar gelten für Sozialwahlen weder der allein für Bundestagswahlen maßgebliche Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG noch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG und entsprechende landesverfassungsrechtliche Garantien. Nach zutreffender Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gilt aber für sonstige, nicht unter Art. 28 Abs. 1 S. 2 und 38 Abs. 1 S. 1 GG fallende politische Abstimmungen Art. 3 Abs. 1 GG,53 den das Bundesverfassungsgericht wahlrechtlich scharfstellt und ihm daher die gleichen Anforderungen entnimmt wie Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Daher gilt auch für Sozialwahlen der Grundsatz der Gleichheit der Wahl.54 Alle Wahlberechtigten müssen danach das aktive und passive Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können,55 und jede Wählerstimme muss grundsätzlich den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, also nicht nur den gleichen Zählwert, sondern auch den gleichen Erfolgswert haben.56 Dabei folgt aus dem formalen Charakter des Wahlrechts, „dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt“57. Problematisch sind unter dem Aspekt der Gleichheit der Wahl die Regelungen über die Einreichung der Wahlvorschläge (dazu a)) und die 5 %-Sperrklausel (b)):
a) Einreichung der Wahlvorschläge, § 48 Abs. 1 SGB IV Die Regelungen über die Einreichung von Wahlvorschlägen bilden zwei Gruppen: auf der einen Seite die Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen/-verbände, die als privilegierte Berechtigte nach § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 SGB IV stets Vorschläge einreichen dürfen, und auf der anderen Seite die sonstigen Arbeitnehmervereinigungen (§ 48a SGB IV) und verbandlich nicht organisierten Versicherten und Arbeitgeber (§ 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB IV), welche nur unter den Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 SGB IV Vorschläge einreichen dürfen. In diesen Regelungen kommt deutlich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber die Versicherten eher als potenziellen Störfaktor in der sozialen Selbstverwaltung wahrnimmt. Die soziale Selbstverwaltung ist mitnichten Selbstbestimmung der Versicherten, sondern ein Machtzentrum korporatistischer Funktionseliten. Alle bedeutsamen Sozialversicherungsträger haben mehr als 3 Millionen Versicherte, weshalb freie Listen nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB IV regelmäßig 2000 Unterstützer benötigen. Diese Zahl hat sich aber in der Praxis regelmäßig als unerreichbar erwiesen, weil man als Initiator einer Liste wegen des Sozialdatenschutzes seine potenziellen Unterstützer gar nicht kennt und die Versicherten anders als die Sozialversicherungsträger und Leistungserbringer auch nirgends verbandlich organisiert sind. Auch die formal-or53 Vgl. für die Wahlen zum Europäischen Parlament BVerfGE 51, 222 (234) sowie BVerfGE 120, 300 (317); 135, 259 (284). 54 BVerfGE 30, 227 (246). 55 BVerfGE 93, 373 (376). 56 BVerfGE 95, 408 (417); BVerfGE 120, 82 (102). 57 BVerfGE 120, 86 (106).
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ganisatorischen Hürden sind offenbar so hoch,58 dass man schon an hochgradiger Langeweile leiden muss, bevor man sich die Aufstellung einer freien Liste antut. Selbst das sonst eher ironiefreie Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann sich den Hinweis nicht verkneifen, dass die Aufstellung freier Listen „ein freundschaftliches Verhältnis zum Formalismus“59 voraussetzt. Auf der Seite der Versicherten beherrschen daher die Gewerkschaften die Vertreterversammlungen und Verwaltungsräte, woraus sie einen Einfluss ableiten, der in einem gewissen Widerspruch zu ihrer abnehmenden Anziehungskraft unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steht. Dass sie diejenigen vertreten, die nicht als abhängig Beschäftigte (§ 7 SGB IV) Mitglieder der Sozialversicherung sind, wird man ohnehin nicht ernstlich behaupten können.60 Das ist aus mehreren Gründen auch ein verfassungsrechtliches Problem. Erstens sind die rigiden Regelungen zur Einreichung von Wahlvorschlägen ein wesentlicher Grund dafür, dass „Friedenswahlen“ im Sozialwahlrecht zur Regel geworden sind; es ist dem faktischen Vorschlagsmonopol der Korporationen in § 48 Abs. 1 S. 1 SGB IV zu verdanken, dass sich in der Regel nur genauso viele Kandidaten und Kandidatinnen zur Wahl stellen wie im Gesetz bzw. den Satzungen vorgesehen. Die Unvereinbarkeit des geltenden Sozialwahlrechts mit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG beruht damit maßgeblich auf den Bestimmungen über die Einreichung von Wahlvorschlägen. Zweitens sind die unterschiedlichen Zugangshürden mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar. Zwar ist ein Unterschriftenquorum grundsätzlich mit der Wahlrechtsgleichheit vereinbar, um die Ernsthaftigkeit einer Vorschlagsliste sicherzustellen.61 Auch im staatlichen Wahlrecht werden daher die von den Parteien aufgestellten Wahlvorschläge privilegiert und müssen parteifreie Listen eine bestimmte Anzahl von Unterstützern nachweisen. Aber selbst im Bundestagswahlrecht sind dafür nach § 20 Abs. 3 BWahlG nur 200 Wahlberechtigte erforderlich. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum diese Hürde bei den meisten Sozialversicherungsträgern zehnmal so hoch ist wie im Bundestagswahlrecht. Zwar gibt es in staatlichen Wahlkreisen weniger Bürger als Versicherte in großen Sozialversicherungsträgern. Aber die Wahlberechtigten eines Wahlkreises lassen sich wesentlich leichter ausfindig machen und aktivieren als Versicherte eines bestimmten Sozialversicherungsträgers. Dieses Problem besteht letztlich unabhängig von der Größe des Trägers. Erklärungsversuche aus dem Umfeld der Sozialversicherungsträger sind eher hilflos: Es gehe in den selbstverwalteten Vertretungskörperschaften anders als in den staatlichen Parlamenten doch nicht um Opposition, sondern um Konsens62 – den die Versicherten offenbar nur stören können. Die Vorstellung, dass politische Auseinandersetzungen die Funktionsfähigkeit von Wahlorganen gefährden, ist Ausdruck des technokratischen Demokratiekonzepts der Output-Legitimation: Was gute Ergebnisse bringt, kann ja legitimatorisch so schlecht nicht Vgl. Windels-Pietzsch, Friedenswahlen in der Sozialversicherung, VSSR 2003, 215 (218). Bundesministerium für Arbeit und Soziales, https://www.bmas.de/DE/Themen/Soziale-Siche rung/Sozialversicherungswahlen/Fragen-und-Antworten/inhalt.html (letzter Zugriff: 28.11.2018). 60 Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 301: „Soziale Selbstverwaltung wird heute auf den Cheftagen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gemacht.” 61 BVerfGE 30, 227 (246 f.). 62 Zabre, in: Kreikebohm (Hrsg.), Sozialgesetzbuch IV. Kommentar, 3. Aufl. 2018, vor § 45 Rn. 9. 58 59
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sein. Dagegen wird spitz vorgebracht, dass die Output-Legitimation auch von einer Diktatur geltend gemacht werden könne, wenn sie nur genügend akzeptable Ergebnisse erziele.63 Der Schluss von der Vernünftigkeit einer Entscheidung auf ihre demokratische Legitimation hat also letztlich eine ausschließende Wirkung: „Denn wer nicht in der Lage ist, an der Debatte teilzunehmen und sich zu rechtfertigen, wird ausgeschlossen. Demokratische Verfahren werden damit zu einer Art Gedankenexperiment des Vernünftigen. Wenig erstaunlich, dass solche Theorien gerne von Vertretern internationaler Bürokratien verwendet werden, um sich eine eigene Legitimation zu verschaffen.“64 § 48 Abs. 1 S. 2 SGB IV greift daher ohne hinreichende Rechtfertigung in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 GG) ein und ist mithin verfassungswidrig.
b) 5 %-Sperrklausel, § 45 Abs. 2 S. 3 SGB IV Auch die in § 45 Abs. 2 S. 3 SGB IV enthaltene 5 %-Sperrklausel beeinträchtigt den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Denn Stimmen, die für Vorschlagslisten abgeben werden, die den Stimmenanteil nicht erreichen, werden bei der Umrechnung der abgegebenen Stimmen in Sitze in den Vertreterversammlungen und Verwaltungsräten nicht mitgezählt, d.h. ihr Erfolgswert ist gleich Null.65 Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert Sperrklauseln zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments, die durch das – auch bei den Sozialwahlen anzuwendende (§ 45 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB IV) – Verhältniswahlrecht in Frage gestellt sein kann.66 Aber es sieht diese Gefahr weder bei Wahlen zum Europäischen Parlament67 noch im Kommunalwahlrecht, wo es ebenso wie in der sozialen Selbstverwaltung um Selbstverwaltungskörperschaften geht: „Kommunalverfassungsrecht und -wirklichkeit sind von dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Gemeindebürger geprägt. Auch wenn insbesondere in größeren Gemeinden und Kreisen die Willensbildung der Bürger überwiegend von den politischen Parteien geformt wird, so folgt doch aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, dass die Auslese der Kandidaten für die kommunalen Vertretungskörperschaften jedenfalls auch nach partikularen Zielen möglich sein muss und daher nicht ausschließlich den ihrem Wesen und ihrer Struktur nach in erster Linie am Staatsganzen orientierten politischen Parteien vorbehalten werden darf.“68 Gerade in Vertretungskörperschaften von Selbstverwaltungsträgern muss es daher eine vom Verbändeeinfluss unabhängige, realistische Möglichkeit geben, als Wahlbewerber aufgestellt und von den Wählern gewählt zu werden. 63 Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 6 Rn. 53 Fn. 271. 64 Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechungen, 2009, 43 f. 65 Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 34. Aufl. 2018, Rn. 87. 66 BVerfGE 51, 222 (236 f.). 67 BVerfGE 129, 300 (324 ff.); 135, 259 (291 ff.). 68 BVerfGE 120, 82 (110).
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Vor diesem Hintergrund ist eine Rechtfertigung von § 45 Abs. 2 S. 2 SGB IV kaum vorstellbar. Die Sperrklausel ist gewissermaßen die zweite Verteidigungslinie gegen den Einfluss von Versicherten in den Vertretungskörperschaften. Wenn es trotz des prohibitiven § 48 Abs. 1 S. 2 SGB IV doch einmal eine freie Liste geschafft hat, eine Urwahl zu erzwingen, muss sie auch noch insgesamt über 5 % der Stimmen aller Wahlberechtigten bekommen, was ohne eine verfestigte, einen Wahlkampf durchführende Organisation kaum möglich sein dürfte. Man könnte allenfalls darauf abstellen, dass die sozialen anders als die kommunalen Vertreterversammlungen das für die laufende Verwaltung zustehende hauptamtliche Organ (Vorstand bzw. Geschäftsführer, §§ 35a Abs. 5, 36 Abs. 2 SGB IV) wählen. Aber selbst dann müsste dargetan werden, dass die Abschaffung der 5 %-Hürde eine politische Zersplitterung in den Vertreterversammlungen und Verwaltungsräten zur Folge hätte, die die Wahl eines Vorstands bzw. Geschäftsführers unmöglich machen. Dafür gibt es aber keine validen Hinweise. § 45 Abs. 2 S. 3 SGB IV ist daher ebenfalls wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 GG) verfassungswidrig.
IV. Sozialversicherungsträger als Gesetzgeber: Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung in der Gemeinsamen Selbstverwaltung Die fehlende personell-organisatorische Legitimation der durch „Friedenswahlen“ bestimmten Amtswalter in den Vertreterversammlungen/Verwaltungsräten der Sozialversicherungsträger wirkt als „weiterfressender Mangel“ fort. Wenn die Legitimationskette zum Volk als Inhaber der Staatsgewalt einmal durchbrochen ist, ist es daher um die demokratische Legitimation aller weiteren Amtswalter geschehen, die ihre Legitimation von den Vertreterversammlungen und Verwaltungsräten ableiten. Nicht demokratisch legitimiert sind daher nicht nur die von diesen gewählten Vorstände, sondern auch die Verbände der Sozialversicherungsträger.69 Das ist insbesondere im Krankenversicherungsrecht von erheblicher Bedeutung, denn hier verwalten die Krankenkassen nicht nur, sondern betreiben insbesondere im Gemeinsamen Bundesausschuss (§ 91 SGB V) funktional allgemein-verbindliche Rechtsetzung. Um die Dimension dieses Kardinalproblems des Gesundheitsrechts zu erfassen, muss zunächst auf das Regulierungskonzept der Gemeinsamen Selbstverwaltung eingegangen werden (1.), bevor das verfassungsrechtliche Problem adressiert wird (2.):
1. Rechtsetzung durch Richtlinien im Gemeinsamen Bundesausschuss Die Regelungsstrukturen des Krankenversicherungs- und Gesundheitsrechts weichen nicht unerheblich „vom vertrauten Bild der öffentlichen Verwaltung“70 ab.71 Sie Windels-Pietzsch, Friedenswahlen in der Sozialversicherung, VSSR 2003, 215 (226 f.). Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, 2001, 382. 71 Das Folgende aus Kingreen, Krankenversicherungs- und Gesundheitsrecht, in: Ehlers/Fehling/ Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht Bd. 3, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 73 ff. 69
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bilden ein „System komplexer Vielfachsteuerung“72, in dem das Ziel, knappe Ressourcen sozialstaatlich und gesamtwirtschaftlich optimal zuzuordnen, durch ein unterschiedliches Mischungsverhältnis zwischen hierarchischer Steuerung, korporativen Aushandlungsmechanismen und wettbewerblicher Allokation verfolgt wird.73 Diese sehr speziellen Regelungsstrukturen wirken sich auch auf die Konkretisierung des Anspruchsinhalts aus. § 27 Abs. 1 S. 2 SGB V zählt zwar auf, welche Leistungen Bestandteil des Anspruches auf Krankenbehandlung sind, und die §§ 28 ff. SGB V füllen diesen Katalog auch jeweils durch Einzelbestimmungen näher aus. Aber diese Normen schreiben den Anspruch des Versicherten nur dem Grunde nach fest, ohne näher festzulegen, welche Leistungen genau Bestandteil des von den Krankenkassen zu garantierenden Leistungskataloges sind. Auch aus den Eingangsbestimmungen folgen nur grobe Vorgaben: Nach § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V müssen Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Die Leistungen müssen zudem gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Grundsätzlich ist diese allgemein gehaltene Umschreibung des Leistungskataloges rechtsstaatlich unproblematisch und wegen der Dynamik des medizinischen Fortschritts sogar geboten. Es ist schlechterdings unmöglich, die Feinheiten des Leistungskataloges zum Gegenstand einer eher langwierigen parlamentarischen Rechtsetzung zu machen. Erforderlich ist eine Konkretisierung gleichwohl, sollen nicht Einzelfragen des Leistungskataloges zum Gegenstand permanenter sozialgerichtlicher Auseinandersetzungen werden. Untergesetzliche Rechtsquellen (Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften), die in anderen dynamischen Rechtsgebieten wie dem Umwelt- und Technikrecht74 üblicherweise zur Detailsteuerung eingesetzt werden, spielen indes im Krankenversicherungsrecht praktisch keine Rolle. Hintergrund ist die Genese des Vertragsarztrechts, das nach den Konflikten zwischen Ärzten und Krankenkassen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in weiten Bereichen durch (gemeinsame) Selbstverwaltungsstrukturen mit einer nur vergleichsweise geringen parlamentsgesetzlichen Regelungsdichte geprägt ist. Auch in den anderen Leistungsbereichen dominiert die Selbstverwaltung, hier allerdings nur der Kassen und nicht der Leistungserbringer. Da der Selbstverwaltung die Handlungsformen der allgemeinen Staatsverwaltung nicht zur Verfügung stehen und aus legitimatorischen Gründen auch gar nicht zur Verfügung stehen dürfen, haben sich hier mit den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses und einem darunter angelegten, seinerseits mehrschichtigen Vereinbarungs- und Empfehlungsregime sehr spezielle korporatistische Regelungsstrukturen herausgebildet.75 Alber, Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, 1992, 157. Gutachten 2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (BT-Drs 15/15670), Ziff. 42 ff. 74 Vgl. dazu Eifert, Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 19 Rn. 62 ff. und Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, ebd., § 17 Rn. 85 ff. 75 Dazu Axer, Normsetzung der Exekutive im Sozialversicherungsrecht, 2000, 52 ff.; Ebsen, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrecht Bd. 1 (Krankenversicherungsrecht), 1994, § 7; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, 345 ff.; Kingreen, Governance im Gesundheitsrecht. Zur Bedeutung der Referenzgebiete für die verwaltungsrechtswissenschaftliche Methoden72 73
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An der Spitze dieser sog. Selbstverwaltungsstrukturen steht der Gemeinsame Bundesausschuss – ein hybrides Gremium der sog. Gemeinsamen Selbstverwaltung, das neben drei neutralen Mitgliedern aus Vertretern der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (vgl. § 91 Abs. 1 SGB V), sowie aus Vertretern der Patientinnen und Patienten besteht, die allerdings kein Entscheidungs-, sondern nur ein Beteiligungsrecht haben (§ 140f Abs. 1, 2 SGB V). Mit der Befugnis zum Erlass von Richtlinien (§ 92 SGB V) verfügt er über ein in der Rechtsordnung einmaliges Handlungsinstrument: Die Richtlinien enthalten, obwohl sie von einem Selbstverwaltungsträger kommen, außenwirksames, allgemeinverbindliches Recht, also Recht, das Wirkungen auch gegenüber nicht im Gemeinsamen Bundesausschuss Vertretenen beansprucht und das das gesamte Leistungsgeschehen steuert, also nicht nur den Bereich der ärztlichen und der Krankenhausleistungen, sondern etwa auch die Arzneimittelversorgung. Diese mit einer Rechtsverordnung vergleichbaren Wirkungen ergeben sich mittlerweile aus § 91 Abs. 6 SGB V, wurzeln aber im Rechtskonkretisierungskonzept des Bundessozialgerichts: Danach sind die Leistungsansprüche der §§ 27 ff. SGB V nicht als Leistungsrechte im Vollsinne zu begreifen, sondern als ausfüllungsbedürftige Rahmenrechte.76 Dem trägt das SGB V dadurch Rechnung, dass es mit den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses einen Konkretisierungsmechanismus vorsieht, der das gesetzliche Rahmenrecht zum durchsetzbaren Einzelanspruch verdichtet.77 Damit werden zugleich Leistungs- und Leistungserbringungsrecht aufeinander abgestimmt: Leistungen, die in den Richtlinien nicht anerkannt sind, darf die Krankenkasse nicht bewilligen, der Leistungserbringer nicht erbringen/verordnen und der Versicherte nicht beanspruchen. Eine erhebliche Bedeutung für das Versorgungsgeschehen haben darüber hinaus Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, im Bereich der ärztlichen Leistungserbringung zwischen den Verbänden der Parteien, im nichtärztlichen Bereich oftmals auch zwischen einzelnen Kassen und Leistungserbringern. Für alle diese Vereinbarungen sind jeweils die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses maßgebend.
2. Die personelle Legitimation der Vertreter der Krankenkassen im Gemeinsamen Bundesausschuss Es gibt keine befriedigende Antwort auf die Frage, wie sich die in korporatistischen Aushandlungs- und Rechtsetzungsprozessen getroffenen Entscheidungen legitimatorisch auf die Versicherten zurückführen lassen.78 diskussion, Die Verwaltung 42 (2009), 339 (347 ff.); Schuler-Harms, Soziale Infrastruktur im Gesundheitswesen, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 15 Rn. 134 ff.; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, 2001, 288 ff., 346 ff. 76 BSGE 73, 271 (279 ff.); 78, 70 (75 ff.); 81, 54 (59 ff.); 81, 73 (76 ff.). Zu dieser Rechtsprechung (und auch zu den Unterschieden unter den Senaten des BSG) Kingreen, Systemstabilisierung durch ein lernendes System: Die Gemeinsame Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung und das Bundessozialgericht, ZMGR 2010, 216 (218 ff.). 77 BSGE 81, 54 (61). 78 Dazu und zum Streitstand mit ausführlichen Nachweisen Schmidt-De Caluwe in: Becker/Kingreen (Hrsg.) SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, 6. Aufl. 2018, § 92 Rn. 9.
Die Wahl der Qual: Sozialwahlen in der Sozialversicherung
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Die personell-organisatorische Legitimation der Mitglieder des Beschlussgremiums des Gemeinsamen Bundesausschusses wird maßgeblich durch die Trägerorganisationen, also den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (§ 91 Abs. 2 S. 1 SGBBV) vermittelt. Dagegen ist im Prinzip auch nichts einzuwenden, denn die autonome Legitimation durch Mitglieder ist ein Wesenselement von Selbstverwaltung. Allerdings stellt das Erfordernis personell-organisatorischer Legitimation einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Person und Aufgabe her. Der handelnde Amtswalter wird durch einen Ernennungs-/Bestellungsakt nicht generell personell legitimiert, sondern für einen konkreten, gesetzlich und durch exekutive Vorgaben näher umschriebenen Aufgabenbereich; diese Zuständigkeitszuweisung macht die organisatorische Komponente des Erfordernisses personell-organisatorischer Legitimation aus.79 Daraus folgt denknotwendig ein Korrespondenzgebot zwischen dem Amtswalter, den ihm übertragenen Aufgaben und den Wirkungen seiner Entscheidungen.80 Wenn nämlich die personell-organisatorische Legitimation im Wesentlichen mitgliedschaftlich vermittelt wird, können die Aufgaben und Entscheidungswirkungen auch nur mitgliedschaftlich gedacht werden. Sollen autonom legitimierte Verwaltungsträger hingegen Aufgaben erhalten, die auch Nichtmitglieder betreffen, so bedarf es eines weiteren personell-organisatorisch gestrickten Legitimationsstrangs. Ein Amtsträger, der seine personell-organisatorische Legitimation allein aus einem Teilvolk bezieht, kann daher denknotwendig keine Entscheidungen treffen, die andere Teilvölker oder das Gesamtvolk betreffen. Eine solche Korrespondenz würde freilich bestehen, wenn die vom GKV-Spitzenverband entsandten Mitglieder im Beschlussgremium des Gemeinsamen Bundesausschusses zugleich Vertreter der Versicherten wären, wie es der 6. Senat des Bundessozialgerichts81 und vereinzelte Stimmen im Schrifttum82 vertreten. Diese These ist aber schlicht unhaltbar, und zwar ganz unabhängig davon, ob bei den Krankenkassen Friedenswahlen stattfinden. Denn es fehlt auch an einer hinreichend festen Legitimationskette zwischen den Vertreterversammlungen der einzelnen Krankenkassen und den Vertretern des Spitzenverbands Bund im Gemeinsamen Bundesausschuss. Der Spitzenverband Bund verfügt über eine Mitgliederversammlung, in die jede Krankenkasse jeweils einen Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber beruft (§ 271b Abs. 3 S. 1 und 3 SGB V);83 ihre offenbar einzige Aufgabe besteht dann darin, einen Verwaltungsrat zu wählen (§ 217b Abs. 3 S. 2 SGB V). Dieser besteht aus höchstens 52 Mitgliedern (§ 217c Abs. 1 S. 1 SGB V), repräsentiert also nur noch knapp die Hälfte der derzeit existierenden Krankenkassen mit einer zudem hochkomplexen Verteilung von Sitzen und Stimmen (vgl. § 26 der Satzung des GKV-Spitzenverban Vgl. bereits oben III. 1. a). Holzner, Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie, 2016, 145 f., 287; Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, 76. 81 BSGE 78, 70 (81). 82 Schlacke, Kontrolle durch Patientenbeteiligung im Medizin- und Gesundheitssystem, in: Schmehl/Wallrabenstein (Hrsg.), Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens Bd. 3, 2007, 41 (57). 83 Sonderregelung für die Ersatzkassen: § 217b Abs. 3 S. 4 SGB V. 79
80
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des84). Es ist zudem gesetzlich nicht geregelt, welches Organ dafür zuständig ist, das Benennungsrecht für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach § 91 Abs. 2 S. 1 SGB V auszuüben; nach § 31 Abs. 1 Nr. 17 der Satzung des GKV-Spitzenverbandes dürfte aber der Verwaltungsrat zuständig sein. Die personelle Legitimation der fünf vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen zu entsendenden Mitglieder verläuft also über eine vergleichsweise lange und gesetzlich nur rudimentär ausgestaltete Legitimationskette von der einzelnen Krankenkasse über eine Mitgliederversammlung und einen Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes in den G-BA.85 Auch das Bundesverfassungsgericht hält die Zweifel an der demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses für „durchaus gewichtig“, betont aber zugleich, dass nicht die Verfassungsmäßigkeit der Institution als solche in Frage stehe: „Vielmehr bedarf es konkreter Ausführungen nicht nur zum Einzelfall, sondern auch zur Ausgestaltung der in Rede stehenden Befugnis, zum Gehalt der Richtlinie und zur Reichweite der Regelung auf an ihrer Entstehung Beteiligten oder auch unbeteiligte Dritte. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss für eine Richtlinie hinreichende Legitimation besitzt, wenn sie zum Beispiel nur an der Regelsetzung Beteiligte mit geringer Intensität trifft, während sie für eine andere seiner Normen fehlen kann, wenn sie zum Beispiel mit hoher Intensität Angelegenheiten Dritter regelt, die an deren Entstehung nicht mitwirken konnten. Maßgeblich ist hierfür insbesondere, inwieweit der Ausschuss für seine zu treffenden Entscheidungen gesetzlich angeleitet ist.“86 Das Bundesverfassungsgericht legt damit zwar den Finger in die Wunde. Aber die Vorstellung, man könne das Problem durch parlamentsgesetzliche Verdichtung in den Griff bekommen, ist nicht nur sehr praxisfern, sondern setzt auch am falschen Pfeiler des Legitimationskonstrukts an. Es meint, die sachliche Legitimation durch verstärkte gesetzliche Determinierung des Leistungsgeschehens ertüchtigen zu können, obwohl doch eigentlich die personell-organisatorische Legitimation problematisch ist. Das Problem lässt sich systemimmanent nur lösen, wenn man die personelle Legitimation der Entscheidungen stärkt; das wird nur über eine Verstärkung der Aufsicht durch das Bundesministerium für Gesundheit funktionieren.
V. Schluss In Sozialwahlen werden die Vertretersammlungen und Verwaltungsräte der meisten Sozialversicherungsträger gewählt; keine Sozialwahlen finden nur insoweit statt als die Mitglieder der Organe durch staatliche Berufungsakte benannt werden.
84 https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/gkv_spitzenverband/wir_ueber_uns/ organisation/Satzung_GKV-SV_20180123.pdf (letzter Zugriff: 30.11.2018). 85 Kritisch dazu etwa Mühlhausen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, 6. Aufl. 2018, § 217a Rn. 8: Rückverfolgung der Legitimationskette führt in „sozial- und verfassungsrechtliches ‚Niemandsland‘“. Ausführlich, aber weniger kritisch Besemann, Aktuelle Entwicklungen im Organisationsrecht der gesetzlichen Krankenkassen, 2010, 299 ff. 86 BVerfGE 140, 229 (238 f.); dazu Kingreen, Der Gemeinsame Bundesausschuss vor dem Bundesverfassungsgericht: Das Tor liegt in der Luft, MedR 2017, 8 ff.
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Sozialwahlen vermitteln allerdings nicht, was sie als Wahlen verheißen: personelle Legitimation. Die Amtswalter in den Vertreterversammlungen und Verwaltungsräten der Krankenkassen werden fast durchgängig durch sog. „Friedenswahlen“ bestimmt, die auf Vorschlagslisten beruhen, die faktisch allein Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen einreichen können. Diese „Wahlen ohne Wahlhandlung“ verhöhnen das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, für das nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG nur Wahlen mit Wahlhandlung Legitimation stiften können. Zugleich delegitimieren sie die für das bundesrepublikanische Sozialmodell so wichtige Politikgestaltung durch Korporationen. Die Sozialwahlen sind zudem gleichheitswidrig ausgestaltet, weil sie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände bei der Aufstellung der Wahlvorschläge gegenüber den sog. freien Listen ohne rechtfertigenden Grund übervorteilen und eine nicht begründbare 5 %-Sperrklausel gilt. Diese Legitimationsdefizite setzen sich in den Vorständen der Sozialversicherungsträger und insbesondere deren Verbänden fort, die namentlich im Krankenversicherungsrecht nicht nur verwalten, sondern in der Gemeinsamen Selbstverwaltung sogar allgemeinverbindliches Recht setzen. Sozialwahlen sind damit ein vordemokratisches Relikt und im Superwahljahr 2019 kein Grund zum Feiern. Es ist dennoch gut, dass sie beim Themenschwerpunkt „Wahlen“ mit dabei sein dürfen: zur Sensibilisierung der Verfassungsrechtswissenschaft für die Legitimationsdefizite der korporatistischen Parallelgesellschaft.
Die französische Phobie gegen die Verhältniswahl: Rekonstruktion einer Pathologie* von
Bernard Dolez Professor an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne (CESSP), Paris
Annie Laurent emeritierte Forschungsdirektorin (CNRS – CERAPS) – Universität Lille), Lille
Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 II. De Gaulle und die Vierte Republik gegen das Mehrheitswahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 III. 1958–1978. Die Gründer der Fünften Republik gegen das Verhältniswahlrecht . . . . . . . . . . . . . . 167 IV. 1979 – 1986. Die Verhältniswahl gegen die Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 V. 1988–2004. Die Rechte und die Linke gegen die Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 VI. 2017: Geht die Fünfte Republik an einer (geringen) Dosis Verhältniswahlrecht zugrunde? . . . . . . . 181 VII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
„Alles ist Gift und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Paracelsus
I. Einleitung Die Mehrheits- bzw. Persönlichkeitswahl in zwei Wahlgängen (scrutin uninominal majoritaire à deux tours) ist eines der wesentlichen Elemente des französischen politischen Systems und der Vorschlag, die Abgeordneten im Wege des Verhältniswahlrechts (représentation proportionnelle) zu wählen, stößt immer noch auf große Vorbehalte sowohl innerhalb der politischen Klasse als auch unter den sachkundigen Beobachtern * Übersetzung aus dem Französischen von Helene Jaschinski, überarbeitet von Christoph Schön berger.
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der französischen Politik, obwohl dieses Wahlverfahren in Europa und darüber hinaus in konsolidierten Demokratien sehr häufig angewandt wird. Mit Ausnahme der kleinen Parteien, die im Parlament systematisch unterrepräsentiert sind, schlägt niemand die Einführung eines „echten“ Verhältniswahlrechts vor. Nur gelegentlich, und bis zur Wahl von Emmanuel Macron ohne Erfolg, wird darüber nachgedacht, einem Wahlverfahren, das im Wesentlichen Mehrheitswahlrecht bliebe, eine (homöopathische) „Dosis“ Verhältniswahlrecht beizumischen. Diese Voreingenommenheit gegen die Verhältniswahl speist sich im Wesentlichen aus einer Sicht auf die französische Politik- und Institutionengeschichte, die sich auf zwei Annahmen stützt, welche ihrerseits beide auf einem Vorurteil beruhen. Zum einen wird eine Verbindung zwischen der Vierten Republik, der Instabilität der Regierung und dem Verhältniswahlsystem hergestellt. Die Vierte Republik (1946–1958) gilt heute wegen der Regierungsinstabilität, unter der sie litt, als das Gegenmodell schlechthin. Im Allgemeinbewusstsein geht die Instabilität der damaligen Regierungen auf das Verhältniswahlrecht zurück, das als „das“ Wahlverfahren der Vierten Republik angesehen wird. Zum anderen werden de Gaulle, die Fünfte Republik und das Mehrheitswahlrecht als untrennbar verbunden angesehen. De Gaulle gilt heute als glühender Verfechter der Mehrheitswahl, die genauso wie die Präsidentschaftswahl als eine der Säulen des Regierungssystems dargestellt wird. Die seit 1962 zu beobachtende Herausbildung stabiler Regierungsmehrheiten in der Nationalversammlung (der sogenannte fait majoritaire) wird diesem Wahlrecht zugeschrieben. Die Verbindung beider Annahmen führt logischerweise zu einer dritten: Die Rückkehr zum Verhältniswahlrecht würde das Ende der Regierungsstabilität bedeuten, verbunden mit der Gefahr, in die Muster der Vierten Republik zurückzufallen. Die Vierte Republik dient so als abschreckendes Beispiel. Die erste Annahme übersieht jedoch, dass das Verhältniswahlsystem auf Departements-Ebene nur bei den ersten Parlamentswahlen der Vierten Republik Anwendung fand, die 1946 abgehalten wurden. Die Wahlen von 1951 und 1956 wurden hingegen nach einem gemischten Wahlverfahren durchgeführt. Aber die Gleichsetzung von Vierter Republik und Verhältniswahlsystem ist so zählebig, dass selbst amtliche Dokumente bisweilen diesem Irrtum aufsitzen. So unterbreitete die Regierung von Premierminister Edouard Philippe im Mai 2018 dem Parlament ihren Gesetzesentwurf zur Einführung einer „Prise“ Verhältniswahlrecht bei den Parlamentswahlen mit einer begleitenden Folgenabschätzung, in der es heißt: „Die Vierte Republik war durch die Beständigkeit des Verhältniswahlrechts nach Listen bei den Parlamentswahlen (1946, 1951, 1956) gekennzeichnet.“1 Die zweite Annahme verschleiert die Tatsache, dass de Gaulle selbst es war, der nach der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung die Verhältniswahl durchsetzte; de Gaulle wollte so mit dem am Ende der Dritten Republik (1870–1940) geltenden Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen brechen, weil dieses Wahlsystem nach seiner Auffassung die Instabilität der Regierungen begünstigt und das politische System handlungsunfähig gemacht hatte. „La IVème République s’est caractérisée par la permanence du scrutin de liste à la proportionnelle pour les élections législatives (1946, 1951, 1956)“, Etude d’impact, projet de loi n° 976 pour une démocratie plus représentative, responsable et efficace, Assemblée Nationale, Fünfzehnte Legislaturperiode, 23. Mai 2018, note 1. 1
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Das Verhältnis der französischen Gesellschaft zum Verhältniswahlrecht ist daher vor allem das Ergebnis einer singulären Geschichte und mehr noch ihrer Wahrnehmung. Es war durch eine Reihe von Kehrtwenden geprägt, die de Gaulle zunächst dazu veranlassten, nach 1944 das Mehrheitswahlrecht durch das Verhältniswahlrecht abzulösen (I) und später, nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahre 1958, gerade umgekehrt nun die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen an die Stelle des Verhältniswahlrechts zu setzen (II). Während der ersten Amtszeit François Mitterrands als französischer Staatspräsident führten die linken Parteien zwar in den achtziger Jahren kurzzeitig das Verhältniswahlrecht für die Parlamentswahlen ein. Es handelte sich dabei aber eher um eine opportunistische Entscheidung mit dem Ziel, den bürgerlichen Parteien zu schaden, die durch das Auftreten des Front National und Jean-Marie LePens auf der politischen Bühne in Verlegenheit geraten waren, als um den echten Wunsch, die Institutionen der Fünften Republik tiefgreifend umzugestalten. Sobald die bürgerlichen Parteien wieder an die Macht kamen, stellten sie dann auch das Mehrheitswahlsystem in zwei Wahlgängen wieder her (III). Das Verhältniswahlsystem findet deshalb in Frankreich lediglich bei den Europawahlen kontinuierlich Anwendung. Im Übrigen haben sich in Frankreich gemischte Wahlverfahren etabliert: teilweise um einem Wahlverfahren, das im Wesentlichen Mehrheitswahl ist, eine Dosis Verhältniswahl beizufügen (bei den Kommunalwahlen [élections municipales], seit 1983), teilweise um bei einem Wahlverfahren, das im Wesentlichen Verhältniswahl ist, der bestplatzierten Liste einen Mehrheitsbonus einzuräumen (bei den Regionalwahlen [élections régionales], seit 2004). Allerdings haben in den letzten dreißig Jahren die republikanische Rechte und die regierungswilligen linken Parteien, die abwechselnd an der Macht waren, als Antwort auf die Zersplitterung der Parteienlandschaft die Mehrheitsdimension des geltenden Wahlrechts ständig verstärkt, beide zu ihrem Vorteil (IV). Auch heute noch ist die „Akte Verhältniswahlsystem“ keineswegs geschlossen, wie die aktuelle Debatte über die Reform des Wahlverfahrens für die Parlamentswahlen eindrucksvoll belegt. Es besteht nahezu Einigkeit darüber, dem Wahlrecht für die Parlamentswahl eine „Prise“ Verhältniswahlrecht beizufügen, solange diese Ergänzung die mehrheitsbildende Logik der Fünften Republik nicht in Frage stellt (V).
II. De Gaulle und die Vierte Republik gegen das Mehrheitswahlrecht Die 1875 gegründete Dritte Republik hatte in ihrer Entstehungsphase einige hitzige Debatten durchzustehen, als es darum ging, sich für ein Wahlgesetz zu entscheiden, auch wenn damals das Verhältniswahlsystem noch nicht auf der Tagesordnung stand. Gambetta und die Republikaner sprachen sich zu Gunsten einer Wahl nach Departements-Listen (scrutin de liste départemental) aus, die bei den Wahlen 1871 angewandt worden war, um der während der Herrschaft Napoleons III. üblichen Praxis der „amtlichen Kandidatur“ („candidature officielle“) ein Ende zu setzen und den Einfluss der örtlichen Honoratioren zu begrenzen. Die monarchistische Rechte, fest verwurzelt in den Kleinstädten und auf dem Land, befürwortete die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen (scrutin uninominal à deux tours), die während des Zweiten Kaiserreichs
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Anwendung gefunden hatte. Darauf bedacht, die „Macht der großen Zahl“2 einzuhegen, war sie mit dem Marquis de Castellane vor allem der Meinung, dass „die Listenwahl Frankreich notwendigerweise, verhängnisvollerweise in die Arme der Radikalen drängt.“3 Mit Gesetz vom 30. November 1875 fiel die Entscheidung zu Gunsten der Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen, damals als Wahl nach Arrondissement (scrutin d‘arrondissement) bezeichnet. Es diente damit „als Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Ordnung, die darauf zielt, das Geheimnis der Wahlurnen zum Teil zu bändigen, indem sie böse Überraschungen ausschaltet.“4 Die Bewegung für die Einführung des Verhältniswahlsystems nahm Ende der 1880er Jahre ihren Anfang; ihre Anhänger hatten es allerdings schwer, sich in Frankreich Gehör zu verschaffen trotz der zahlreichen Beiträge, die Jean Jaurès in der Zeitung La dépêche zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlichte. Mit Ausnahme der Parlamentswahlen von 1885, die als Mehrheitswahl nach Listen auf Departements-Ebene (scrutin de liste majoritaire dans le cadre du département) stattfanden, wurde somit bis zum Ersten Weltkrieg die Mehrheitswahl auf der Ebene der Arrondissements praktiziert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit Gesetz vom 12. Juli 1919 erstmals ein gemischtes Wahlsystem eingeführt. Dabei handelte es sich um eine Wahl nach Departements-Listen (scrutin de liste départemental). In jedem Departement war eine sich nach der Bevölkerungszahl richtende Zahl von Abgeordneten zu vergeben. Der Wähler konnte einem Kandidaten auf der jeweiligen Liste seine Stimme geben. In jedem Departement war zunächst gewählt, wer dort die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreichte. Die übrigen Sitze wurden in einem zweiten Schritt zwischen den konkurrierenden Listen nach einem Verhältniswahlsystem nach Höchstzahl (représentation proportionnelle à la plus forte moyenne) verteilt, was dem d’Hondt-Verfahren entspricht. Innerhalb jeder Liste wurden die Sitze dann den Kandidaten zugewiesen, die die meisten Stimmen erhalten hatten. Bei den Parlamentswahlen im November 1919 wurden auf diese Weise 40 Prozent der Sitze nach Mehrheitswahl vergeben und 60 Prozent nach Verhältniswahl.5 Dieses gemischte Verfahren stellte jedoch niemanden zufrieden: „Die ‚Proportionalisten‘ fanden es zu mehrheitswahllastig und die ‚Majoritären‘ waren der Meinung, dass es der Verhältniswahl eine zu große Bedeutung einräume“.6 Mit Gesetz vom 21. Juli 1927 wurde 2 Annales de l’Assemblée Nationale, Band 31, Sitzung vom 3. Juni 1874, 104. Zitiert nach Ferrière, La loi électorale du 30 novembre 1875. La difficile confirmation du suffrage universel, 2003, 421–447, online, DOI : 10.4000/books.puam.135. 3 „le scrutin de liste conduit nécessairement, fatalement, la France à l’avènement du radicalisme“, Assemblée nationale, Sitzung vom 25. November 1875; Journal officiel, 26. November 1875, 9713. Zitiert nach Prélot, Le suffrage universel dans la république. Les débats parlementaires 1871–1875, Revue Française d’Histoire des Idées Politiques 38 (2013/2), 305–328. 4 „[ fait office] d’opération de maintien de l’ordre qui entend apprivoiser une partie des mystères des urnes en neutralisant la mauvaise surprise“, Hastings, La surprise électorale ou les infortunes de l’énonciation, in: Dabène/Hastings/Massal (Hrsg.), La surprise électorale. Paradoxes du suffrage universel, 2007, 23. 5 Dewavrin, Quelques chiffres à propos des élections législatives françaises de 1919, Journal de la société statistique de Paris, 61 (1920), 213. 6 „Les ‘proportionnalistes’ le trouvaient trop majoritaire et les ‘majoritaires’ estimaient qu’elle faisait la part trop belle à la représentation proportionnelle“, Rapport du Sénat, angefertigt für den Verfassungsausschuss (Commission des lois constitutionnelles). Annex zum Sitzungsprotokoll der Sitzung vom 22. Mai 1985, 10, abruf bar unter https://www.senat.fr/rap/1984-1985/i1984_1985_0301.pdf [zuletzt abgerufen am 23. Juli 2018].
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daher die Wahl nach Arrondissement wiederhergestellt, die auch bei den Parlamentswahlen 1928, 1932 und 1936 zur Anwendung kam. Von 1875 bis 1936 war somit die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen weithin vorherrschend (dreizehn von sechzehn Parlamentswahlen), sodass sie als „das Standard-Wahlverfahren des Systems“7 angesehen werden konnte. Tabelle 1: Das Wahlverfahren unter der Dritten Republik. Gesetz
Wahlverfahren
Parlamentswahlen
30. November 1875
Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen (Scrutin uninominal majoritaire à deux tours)
1876, 1877, 1881
16. Juni 1885
Mehrheitswahl nach Listen in zwei Wahlgängen auf Departements-Ebene (Scrutin de liste majoritaire à deux tours dans le cadre du département)
1885
13. Februar 1889
Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen (Scrutin uninominal majoritaire à deux tours)
1889, 1893, 1898, 1902, 1906, 1910, 1914
12. Juli 1919
Gemischte Wahl auf Departements-Ebene (Scrutin mixte dans le cadre du département)
1919, 1924
21. Juli 1927
Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen (Scrutin uninominal majoritaire à deux tours)
1928, 1932, 1936
Zum Zeitpunkt der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzungsherrschaft war das Mehrheitswahlrecht im Allgemeinbewusstsein daher eng mit der Dritten Republik und ihren Misserfolgen verbunden, insbesondere mit heterogenen und unbeständigen Regierungskoalitionen, mit der chronischen Instabilität der Regierungen, welche in den letzten Jahren der Dritten Republik geherrscht hatte, und mit der Ohnmacht der wechselnden Regierungen angesichts der sich auftürmenden Gefahren in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. Vor Beginn der Ausarbeitung einer Verfassung, deren Ziel es sein würde, „den Parlamentarismus zu rationalisieren“, war es allerdings nötig, eine verfassunggebende Versammlung zu wählen. Aber nach welchem Wahlverfahren? Sollte man die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen beibehalten oder sich zu einer Verhältniswahl entschließen? Die Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen war mit Risiken verbunden. De Gaulle meinte: „Wir hätten […] in allen Wahlkreisen einen kommunistischen Kandidaten, der alle Stimmen dieser Tendenz auf sich vereint, und zehn oder zwölf andere Kandidaten (Sozialisten, MRP, UDSR, Radikale, gemäßigte Republikaner, Rechte, Rechtsextreme, verschiedene Einzelpersönlichkeiten dieses Wahlkreises). Das Ergebnis wären zweihundertfünfzig Kommunisten in der Nationalversammlung und, neben anderen Konsequenzen, ein Parlament, das den Willen des Landes in
7 „le scrutin type du régime“, Cotteret/Emeri/Lalumière, Lois électorales et inégalités de représentation en France, 1960, 11.
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Bernard Dolez und Annie Laurent
keiner Weise zum Ausdruck brächte.“8 Die zweite Option hatte den Vorteil, dass sie sowohl von den linken Kräften unterstützt wurde als auch von einem Teil der linksbürgerlichen Radikalen Partei und den aus der Résistance hervorgegangenen Gruppen. Mit der Verordnung vom 17. August 1945 entschied de Gaulle zugunsten der Verhältniswahl auf Departements-Ebene (représentation proportionnelle dans le cadre du département). Dieses Wahlverfahren fand bei der Wahl der beiden folgenden verfassungsgebenden Versammlungen im Oktober 1945 und im Juni 1946 Anwendung. Mit Gesetz vom 5. Oktober 1946 wurde für die Parlamentswahl der im Entstehen begriffenen Vierten Republik eine nahezu identische Entscheidung getroffen mit dem einzigen Unterschied, dass nun zusätzlich die Abgabe einer Vorzugsstimme (vote préférentiel) erlaubt war. Diese Entscheidung war allerdings weniger Ausdruck einer plötzlichen Begeisterung für das Verhältniswahlsystem als vielmehr den Umständen geschuldet. Das Verhältniswahlrecht war noch nicht fest etabliert, wie eine Bemerkung de Gaulles aus dem Jahre 1947 belegt: „Ich habe niemals geglaubt oder gesagt, dass das im Oktober 1945 angewendete Verfahren endgültig sein müsse.“9 Darüber hinaus befürwortete er zwei Jahre später „ein Mehrheitswahlsystem, das die Zusammenführung der Franzosen begünstigt, zum Beispiel eine Mehrheitswahl auf Departements-Ebene.“10 Als das Wahlverfahren im Vorfeld der Parlamentswahlen 1951 geändert wurde, geschah dies jedoch nicht auf Initiative General de Gaulles, der seit fünf Jahren nicht mehr an der Macht war, sondern ganz im Gegenteil „gegen de Gaulle“. Die politische Landschaft war nicht nur zersplittert, sondern wurde auch an ihren beiden äußeren Rändern von zwei mächtigen politischen Kräften polarisiert, mit denen jede Koalition undenkbar war: die Kommunistische Partei, die regelmäßig ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinte und mit der seit Beginn des Kalten Krieges 1947 jedes Bündnis politisch unmöglich geworden war; das im selben Jahr von de Gaulle gegründete Rassemblement du peuple français (RPF), das es ablehnte, mit den politischen Kräften der Vierten Republik irgendein Bündnis einzugehen. Im Vorfeld der Wahlen, die Gefahr liefen, eine regierungsunfähige Nationalversammlung hervorzubringen, entschlossen sich daher die Parteien der „Dritten Kraft“ (Sozialisten, MRP, Radikale und einige Gemäßigte), das Wahlverfahren abzuändern und ihm ein Element des Mehrheitswahlrechts beizufügen. Das Mischsystem, das auf diese Weise durch das sogenannte Wahlbündnisgesetz (loi des apparentements) vom 9. Mai 1951 zustande kam, behielt zwar den Grundsatz der Verhältniswahl bei; es ermöglichte den konkurrierenden Listen aber, vor der Wahl Bündnisse einzugehen. Wenn mehrere „verbündete“ Listen gemeinsam mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten, bekamen sie alle in dem jeweiligen Departement zu verge8 „Nous aurions eu […] dans toutes les circonscriptions un candidat communiste bloquant toutes les voix de cette tendance et dix ou douze autres candidats (socialistes, MRP, UDSR, radical, républicain modéré, droite, extrême droite, personnalités diverses de la circonscription). Le résultat c’était deux cent cinquante communistes à l’Assemblée et, entre autres conséquences, une représentation qui n’eut aucunement exprimé l’opinion du pays.“, de la Gorce, Charles de Gaulle, Band 2, 2008, 15. 9 „Je n’ai jamais cru, ni dit, que le système employé en octobre 1945 devait être définitif “, Pressekonferenz vom 24. April 1947. Zitiert nach Chagnollaud, Les Présidents de la Ve République et le mode d’élection des députés à L’Assemblée nationale, Pouvoirs°32 (1985), 97. 10 „un régime électoral majoritaire qui favorise le regroupement des Français, par exemple un scrutin majoritaire dans le cadre du département“, Pressekonferenz vom 14. November 1949. Zitiert nach Chagnollaud, ebd., 98.
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benden Sitze; in diesem Fall wurden die Sitze des Departements allein zwischen diesen verbündeten Listen nach deren jeweiligem Stimmenanteil aufgeteilt. Gelang es keiner Liste oder Listenverbindung im jeweiligen Departement, die absolute Mehrheit der Stimmen zu gewinnen, wurden die Sitze nach Verhältniswahlsystem im Wege der Höchstzahlmethode zwischen allen konkurrierenden Listen aufgeteilt. Das Wahlbündnisgesetz richtete sich eindeutig gegen die Kommunistische Partei und das RPF und erfüllte tatsächlich auch die Erwartungen seiner Erfinder: Mit 51 % der Stimmen erreichten die sich als „Dritte Kraft“ bezeichnenden Parteien bei den Parlamentswahlen im Juni 1951 62 % der Sitze und wendeten somit vorläufig das Schreckgespenst einer Regierungskrise ab. Das RPF hielt sich am Rande des Systems, bereitete aber die Zukunft vor. Im Jahr 1954 war Michel Debré, als Mitglied des Conseil de la République [der zweiten Kammer, Anm. d. Ü.], auch Berichterstatter der Wahlrechtskommission, die Änderungen der Verfassung vorbereitete. Er setzte sich für eine Mehrheitswahl in einem Wahlgang ein. Er schlug auch vor, das Verhältniswahlsystem in der Verfassung zu untersagen und dort „zwingend die Mehrheitswahl als Wahlverfahren“11 zu verankern. Diese Vorschläge wurden zunächst verworfen, doch fanden sie wenig später im Jahr 1958 einen Nachklang, als General de Gaulle an die Macht zurückkehrte und die Ausarbeitung neuer Institutionen begann. Tabelle 2: Das Wahlverfahren unter der Vierten Republik. Gesetz
Wahlverfahren
Parlamentswahlen
Provisorische Regierung der Französischen Republik 17. August 1945
Verhältniswahl auf Departements-Ebene
1945, Juni 1946
Vierte Republik 5. Oktober 1946
Verhältniswahl auf Departements-Ebene mit Vorzugsstimme
Oktober 1946
9. Mai 1951
Gemischte Wahl auf Departements-Ebene: Zuweisung aller Sitze an die Liste oder die verbündeten Listen, die mehr als 50 % der Stimmen erhalten haben. Ansonsten Zuweisung der Sitze nach Verhältniswahlsystem im Wege der Höchstzahlmethode.
1951, 1956
III. 1958–1978. Die Gründer der Fünften Republik gegen das Verhältniswahlrecht Auch wenn die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen heute eng mit den Institutionen der Fünften Republik verbunden ist, sei daran erinnert, dass General de Gaulle in dieser Angelegenheit keine feste Überzeugung hatte. Nachdem er sich 1945 für das Verhältniswahlsystem entschieden und danach 1949 ein Mehrheitswahlsystem nach „caractère obligatoirement majoritaire du mode de scrutin“, Debré, Mémoires, Band 2, 1989, 393.
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Listen auf Departements-Ebene vorgeschlagen hatte, setzte de Gaulle 1958 die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen sowohl für die Präsidentschaftswahl als auch für die Parlamentswahlen durch. Während der ersten zwanzig Jahre der Fünften Republik festigte sich dieses Wahlrecht immer stärker, durchdrang das gesamte französische politische System und wurde geradezu zu einer Doktrin erhoben. Allerdings beruhte seine Einführung 1958 hauptsächlich auf zwei eher prosaischen Überlegungen. Zum einen gab es den erklärten Willen, mit der Vierten Republik und damit auch dem Verhältniswahlsystem zu brechen, mochte diesem auch ein Element der Mehrheitswahl beigemischt sein. Hinzu trat zeitbedingtes politisches Kalkül. Ende der 1950er Jahre war die Kommunistische Partei die stärkste Partei Frankreichs. Angesichts der tiefgreifenden Zersplitterung der politischen Landschaft schien bei der Präsidentschaftswahl ein Sieg des kommunistischen Kandidaten möglich, falls diese nur in einem einzigen Wahlgang durchgeführt würde. Aus Sicht de Gaulles war eine Wahl mit zwei Wahlgängen geeignet, das zu verhindern. Diese Entscheidung wurde 1958 bei der ersten Präsidentschaftswahl der Fünften Republik, die noch in indirekter Wahl stattfand, umgesetzt, bevor sie 1962 im Referendum über die Direktwahl des Staatsoberhauptes bestätigt wurde. Es ist jedoch zu betonen, dass die Einführung eines Mehrheitswahlrechts mit zwei Wahlgängen im Oktober 1958 keineswegs selbstverständlich war. Während die Radikale Partei und die Freunde François Mitterands12 sich für eine Rückkehr zur Wahl nach Arrondissement einsetzten, stand die Kommunistische Partei diesem Wahlrecht ganz und gar ablehnend gegenüber. Die Regierung General de Gaulles selbst war in dieser Frage tief gespalten. Guy Mollet, Generalsekretär der französischen Sektion der Arbeiter-Internationale (Section française de l’Internationale ouvrière, SFIO), sprach sich dafür aus, während Pierre Pflimlin und Antoine Pinay, für das Mouvement des Républicains Populaires (MRP) bzw. die Indépendants dagegen waren und sich für eine Listenwahl auf Departements-Ebene (scrutin de liste départemental) stark machten. Antoine Pinay setzte sich für das Verhältniswahlsystem ein13 und Pierre Pflimlin äußerte seine Präferenz für eine Mehrheitswahl nach Listen auf Departements-Ebene in zwei Wahlgängen (scrutin de liste départemental majoritaire à deux tours) unter Anwendung des Verhältniswahlsystems für den Fall eines zweiten Wahlganges, ein Verfahren, wie es René Coty 1951 vorgeschlagen hatte.14 Michel Debré, der sich erst lange für ein Verfahren mit einem Wahlgang nach britischem Vorbild eingesetzt hatte, verteidigte nun die Mehrheitswahl nach Listen auf Departements-Ebene (scrutin de liste majoritaire dans le cadre départemental).15 Dass sich de Gaulle für die Mehrheitswahl einer Person in zwei Wahlgängen einsetzte, geschah weniger aus prinzipiellen Erwägungen als deshalb, weil dieses Wahlverfahren der kleinste gemeinsame Nenner zu sein schien bzw. eine Kompromisslösung, die für seine wichtigsten Unterstützer annehmbar war. Mit der Verordnung vom 13. Oktober 1958 wurde jedoch nicht genau das Wahlverfahren, das am Ende der Dritten Republik gegolten hatte, wiedereingeführt. Si „Pour le retour au scrutin d’arrondissement“, Le Monde, 22. September 1958. „Le général de Gaulle souhaite un système électoral simple et clair“, Le Monde, 8. Oktober 1958. 14 „Le comité national du MRP se réunira les 11 et 12 octobre“, Le Monde, 6. Oktober 1958. 15 „Les ministres divisés sur la loi électorale“, Le Monde, 2. Oktober 1958. 12 13
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cherlich ist die Wahlmethode – die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen [scrutin uninominal majoritaire à deux tours] – dieselbe, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden. Unter der Dritten Republik stand die Kandidatur im zweiten Wahlgang allen Bewerbern offen. In der Fünften Republik kann niemand im zweiten Wahlgang antreten, der nicht bereits im ersten Wahlgang kandidiert und dort eine Mindestzahl von Stimmen erhalten hat. 1958 wurde die Zulassungsschwelle für den zweiten Wahlgang auf 5 Prozent der abgegebenen Stimmen festgelegt; sie war also niedrig genug, um nur in geringem Maße restriktiv zu wirken und lediglich die „unhaltbaren“ Kandidaturen auszuschließen. In 80 Prozent der Wahlkreise traten im zweiten Wahlgang mindestens drei Kandidaten gegeneinander an. Bei den Wahlen im November 1958 wurden zwar 207 gaullistische Abgeordnete gewählt; die Gaullisten hatten aber keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung. Die Legislaturperiode endete im Oktober 1962 mit der Auflösung der Nationalversammlung nach dem Misstrauensvotum gegen die Regierung Georges Pompidou, als General de Gaulle daran ging, durch verfassungsänderndes Referendum die Direktwahl des Staatspräsidenten einzuführen. Die Parlamentswahlen im November 1962 fanden nach demselben Wahlverfahren wie 1958 statt. Aber die politische Lage war nun völlig verändert. Die binäre Fragestellung des Referendums hatte das „Kartell der Neinstimmen“ („Cartel des Non“) entstehen lassen, und bei den Parlamentswahlen, die einige Wochen später stattfanden, hatte sich die Parteienlandschaft neu formiert. Im zweiten Wahlgang fanden Sozialisten und Kommunisten zur „republikanischen Disziplin“ zurück; sie zogen also vor der Stichwahl den jeweils im ersten Wahlgang niedriger platzierten Kandidaten zugunsten des höher platzierten zurück, während de Gaulle das Land dazu aufforderte, ihm die zum Regieren notwendige Mehrheit zu geben. In 62 Prozent der Fälle kam es nun zu einem Duell zwischen einem linken und einem bürgerlichen Kandidaten im zweiten Wahlgang, während das noch fünf Jahre zuvor nur in 20 Prozent der Wahlkreise der Fall gewesen war. De Gaulle gewann schließlich die Mehrheit, und die Wahlen von 1962 gelten seither als Beginn der stabilen Parlamentsmehrheiten der Fünften Republik, des sogenannten fait majoritaire. Die politische Konstellation von 1962 war allerdings außergewöhnlich gewesen und im Vorfeld der Parlamentswahlen 1967 beabsichtigte die gaullistische Regierung, das Wahlrecht zu ändern, um die Wahlen „klarer“ zu gestalten. Mit Gesetz vom 29. Dezember 1966 wurde die Zugangsschwelle für den zweiten Wahlgang deutlich angehoben, von 5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf 10 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen Wähler. Mit dieser scheinbar geringfügigen Reform änderte sich die Bedeutung des zweiten Wahlgangs grundlegend. Nunmehr ging es dort darum, zwischen den zwei oder drei Kandidaten auszuwählen, die es mit einem starken Ergebnis in der ersten Runde geschafft hatten, sich für die entscheidende Runde zu qualifizieren. Die Art und Weise, in der Innenminister Roger Frey die Reform damals der Nationalversammlung vorstellte, ist erhellend: „Die Erfahrungen der Parlamentswahlen 1958 und 1962 haben gezeigt, dass in nahezu allen Fällen die Zugangsschwelle von 5 Prozent der abgegebenen Stimmen diejenigen Kandidaten, die überhaupt keine ernsthafte Chance haben, gewählt zu werden, nicht vor dem zweiten Wahlgang herausfiltert. Wenn diese ihre Kandidatur auch im zweiten Wahlgang aufrechterhalten, verfälschen sie die Authentizität der Wahlen oder sind sogar, was vielleicht noch
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schwerer wiegt, bisweilen versucht, für ihren Rückzug Bedingungen auszuhandeln, auf die ich lieber nicht näher eingehe (…). Es liegt daher auf der Hand, dass die Ihnen vorgeschlagene Änderung dazu dient, die Wahlen klarer und eindeutiger zu gestalten und jene Ränkespiele zu beenden, die dem Wähler nicht verborgen bleiben und drohen, die Wahlen selbst zu diskreditieren.“16
Die spürbare Anhebung der Zugangsschwelle für den zweiten Wahlgang legte den politischen Kräften nahe, sich nach dem ersten Wahlgang neu zu formieren; sie reduzierte die Zahl von Dreierkonstellationen im zweiten Wahlgang und bewirkte das nahezu völlige Verschwinden von Viererduellen. Die fünf Jahre zuvor begonnene „Vereinfachung“ ging weiter: 1967 kam es bereits in 80 Prozent der Fälle zu reinen Zweikämpfen im zweiten Wahlgang17 und in mehr als 80 Prozent dieser Duelle standen sich im zweiten Wahlgang ein gaullistischer Kandidat und ein Kandidat der Kommunisten oder der Sozialisten gegenüber.18 Es schien fast so, als sollte sich der zweite Wahlgang der Präsidentschaftswahl bei den Parlamentswahlen in allen Wahlkreisen wiederholen. Die Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen war nun so sehr zum politischen Kernbestand der Fünften Republik geworden, dass sie bald als „zweite Säule des Systems“ angesehen wurde.19 Das Mehrheitswahlrecht wurde während der Amtszeit Valéry Giscard d’Estaings als Staatspräsident mit Gesetz vom 19. Juli 1976 erneut verschärft. Die Qualifikationsschwelle wurde auf 12,5 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen Wähler angehoben. Die Härte dieses neuen Wahlverfahrens führte dazu, dass die Dreierkonstellationen im zweiten Wahlgang praktisch verschwanden (1978 gab es noch eine einzige davon). Vor allem zwang sie die politischen Kräfte, sich gleich nach dem ersten Wahlgang zusammenzuschließen: Sieben Jahre nach der Gründung der Sozialistischen Partei unter der Ägide François Mitterrands auf dem Kongress von Epinay im Jahr 1971, die beinahe die gesamte „nicht-kommunistische Linke“ vereinigt hatte, nahm sich Valéry Giscard d’Estaing bei den Parlamentswahlen 1978 vor, die „nicht-gaullistische Rechte“ unter dem Banner der UDF zusammenzuführen. Diese Wahlen brachten eine politische Landschaft hervor, die von nun an den geometrischen Formen eines französischen Parks ähnelte oder vielmehr, um ein Bild Maurice Duvergers zu verwenden, einer Quadrille mit zwei Paaren;20 man hatte es nun mit vier ungefähr gleichstarken politischen Kräften zu tun, von denen jeweils zwei dauerhaft miteinander verbündet waren. „Der Mehrheitstaumel“, um einen Ausdruck Georges Vedels aufzunehmen,21 beschränkte sich nicht allein auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Er breitete sich schnell im gesamten französischen politischen System aus. Mit Gesetz vom 5. April 1884 hatte man ursprünglich für die Kommunalwahlen eine MehrheitsMehrpersonenwahl in zwei Wahlgängen (scrutin plurinominal majoritaire à deux tours) Débats Assemblée Nationale, Erste Sitzung vom 7. Dezember 1966, Journal officiel, 5310. Le Gall/Riglet, Les circonscriptions marginales aux élections législatives de 1967 et 1968, Revue française de science politique 23(1) (1973), 86–109. 18 „La Ve République livrera cent vingt-cinq duels au PC et cent quarante-quatre à la fédération de la gauche“, Le Monde, 9. März 1967. 19 Duverger, Le second pilier du régime, Enjeu 6 (1983), 35–36. 20 Duverger, Un quadrille bipolaire, Le Monde, 15. März 1973. 21 Vedel, Réflexions sur la représentation proportionnelle, Commentaire 3 (1978), 251. 16 17
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eingeführt. Dieses Verfahren, das beinahe ein dreiviertel Jahrhundert lang in allen Gemeinden Frankreichs (mit Ausnahme von Paris) gegolten hatte, wurde mit Gesetz vom 5. September 1947 geändert und ein Verhältniswahlrecht mit Panaschieren und Vorzugsstimme in Gemeinden mit mehr als 9.000 Einwohnern sowie in allen Gemeinden des ehemaligen Departements Seine eingeführt. Aber unter der Fünften Republik sollte das Verhältniswahlrecht bald zu Gunsten des Mehrheitswahlrechts an Bedeutung verlieren. Das Kommunalwahlrecht wurde in zwei Etappen entsprechend reformiert. Zunächst wurde durch Verordnung vom 4. Februar 1959 der Anwendungsbereich für das Verhältniswahlverfahren auf Paris und zwölf Städte des Landes mit mehr als 120.000 Einwohnern begrenzt. In allen anderen Gemeinden fand von nun an die Mehrheits-Mehrpersonenwahl in zwei Wahlgängen (scrutin plurinominal à deux tours) Anwendung. Das Kommunalwahlverfahren wurde dann mit Gesetz vom 27. Juni 1964 erneut geändert. Die Verhältniswahl wurde abgeschafft und die Mehrheits-Mehrpersonenwahl in zwei Wahlgängen nur in Städten mit mehr als 30.000 Einwohnern beibehalten. Unterhalb dieser Schwelle wurden die Gemeinderäte nun im Wege einer Mehrheitswahl nach Listen in zwei Wahlgängen (scrutin de liste majoritaire à deux tours) gewählt. Dieses Verfahren war äußerst radikal und die ihm innewohnende Logik das genaue Gegenteil der für die Verhältniswahl charakteristischen: Die Liste, die die Wahl gewinnt, erhält damit die Gesamtheit der Sitze; die anderen Listen erhalten gar kein Mandat und sind im Gemeinderat nicht vertreten. Darüber hinaus wurde die Qualifikationsschwelle für den zweiten Wahlgang, die bis dahin wie bei den Parlamentswahlen 10 % der abgegebenen Stimmen betragen hatte, spürbar heraufgesetzt: Sie wurde mit Gesetz vom 31. Dezember 1975 auf 10 % der eingeschriebenen Wähler und dann mit Gesetz vom 19. Juli 1976 auf 12,5 % der in die Wahllisten eingetragenen Wähler angehoben. Schließlich sei daran erinnert, dass die Departementsräte (damals noch „Generalräte“ genannt [conseillers départementaux bzw. „conseillers généraux“]) schon immer durch Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen gewählt worden waren. Traditionell war die Kandidatur im zweiten Wahlgang offen, wie sie es auch bei den Parlamentswahlen während der gesamten Dauer der Dritten Republik gewesen war. Wie für die Parlamentswahlen einige Jahre zuvor wurde nun mit Gesetz vom 19. Juli 1976 bestimmt, dass künftig niemand im zweiten Wahlgang antreten konnte, der nicht bereits im ersten Wahlgang kandidiert hatte. Die Zugangsschwelle für den zweiten Wahlgang wurde auf 10 % der eingetragenen Wähler festgelegt. Die Rückkehr General de Gaulles an die Macht führte nicht nur zu einem Re gimewechsel. Die Verhältniswahl wurde zu Gunsten der Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen abgeschafft. Zwanzig Jahre nach der Gründung der Fünften Republik fand für alle allgemeinen unmittelbaren Wahlen das gleiche Wahlverfahren Anwendung, unabhängig davon, ob es sich dabei um Persönlichkeitswahlen ([eine Person je Wahlkreis, scrutin uninominal] Präsidentschaftswahlen, Kommunal- und Departementswahlen) handelte, um Personenwahlen ([mehrere Personen je Wahlkreis, scrutin plurinominal] Gemeinden < 30.000 Einwohner) oder Listenwahlen ([scrutin de liste] Gemeinden > 30.000 Einwohner), wobei die Bedingungen für die Teilnahme am zweiten Wahlgang mit der Zeit zusehends verschärft wurden.
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IV. 1979–1986. Die Verhältniswahl gegen die Rechte Die allgemeinen unmittelbaren Wahlen zum Europäischen Parlament ab 1979 gaben Frankreich die Gelegenheit, sich wieder dem Verhältniswahlrecht zuzuwenden. Die Entscheidung war damals bedingt durch den Willen der Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit, im Namen des „Unteilbarkeitsprinzips“ die Wahl der französischen Vertreter für das Europäische Parlament in einem einheitlichen Wahlkreis stattfinden zu lassen. Der Innenminister Christian Bonnet betonte seinerzeit „den besonderen Charakter der Europawahlen, die sich insbesondere durch das Wahlverfahren von Kommunal- und Parlamentswahlen unterscheiden. Diese Klarstellung erscheint demjenigen nicht überflüssig, der wie ich vermeiden will, dass irgendjemandem bei diesem Thema irgendwelche Zweifel in den Sinn kommen.“22 Mit Gesetz vom 7. Juli 1977 wurde neben der Organisation der Stimmabgabe in einem einheitlichen Wahlkreis, der das gesamte Staatsgebiet umfasste, das weitere Verfahren näher festgelegt: ein Listenwahlrecht ohne die Möglichkeit zu panaschieren oder Vorzugsstimmen abzugeben, und ein Verhältniswahlsystem, wobei die Sitze nach dem Höchstzahlprinzip verteilt wurden. Um eine Zersplitterung in Kleinparteien zu begrenzen, wurde eine Sperrklausel in Höhe von 5 % der abgegebenen Stimmen eingeführt. Dieses Wahlverfahren blieb bis zu den Europawahlen 1999 unverändert. Auch wenn diese Entscheidung zunächst nicht als Zeichen für eine Wende der Fünften Republik zur Verhältniswahl wahrgenommen wurde, war damit doch eine Bresche geschlagen, die François Mitterrand nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Jahr 1981 nutzen konnte. Die französische Linke war traditionell für das Verhältniswahlrecht eingetreten und so stellte denn auch die Reform des Wahlrechts einen der zentralen Programmpunkte der „110 Vorschläge“ des Kandidaten Mitterrand bei der damaligen Präsidentschaftswahl dar: „47 – Die Verhältniswahl wird eingeführt für die Wahlen zur Nationalversammlung, zu den regionalen Versammlungen und zu den Gemeinderäten für Gemeinden mit 9.000 oder mehr Einwohnern (…)“.
Dieses Wahlversprechen wurde – teilweise – eingelöst. Während der Wahlperiode 1981–1986 kam es zu drei grundlegenden Reformen des Wahlrechts. Zunächst wurde das Kommunalwahlrecht reformiert. Die 1983 anstehenden Kommunalwahlen boten der neuen Regierung eine erste Gelegenheit, das Verhältniswahlrecht einzuführen. Die regierende Linke – bestehend aus Sozialisten und Kommunisten – verzichtete jedoch von sich aus auf die Einführung der „uneingeschränkten“ Verhältniswahl (représentation proportionnelle „intégrale“) aus Gründen, die zweifellos nicht ganz frei von politischem Kalkül waren. Denn Kommunisten oder Sozialisten beherrschten seit den Kommunalwahlen 1977 über 70 Prozent der Städte mit mehr als 30.000 Einwohnern 23 und rechneten damit, ihre lokale Präsenz nach 22 „le caractère particulier des élections européennes en les distinguant, notamment par le mode de scrutin, des élections locales et législatives. Cette précision n’apparaît pas superflue pour qui est désireux, comme moi, d’éviter que quelque équivoque que ce soit ne se glisse dans l’esprit de qui que ce soit à ce propos“, Débats Assemblée nationale, Erste Sitzung vom 21. Juni 1977, Journal officiel, 3988. 23 Von den 221 Gemeinden mit mehr als 30.000 Einwohnern wurden 155 von der Linken gehalten (davon 72 durch die Kommunisten und 81 durch die Sozialisten); vgl. Le Monde, 22. März 1977.
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der Wahl Mitterrands zum Staatspräsidenten noch weiter ausbauen zu können. Anstatt zum uneingeschränkten Verhältniswahlsystem für die Gemeinderatswahlen zurückzukehren, befürwortete die Linke daher ein komplexes Wahlverfahren, das „Gerechtigkeit und Effizienz“ gleichermaßen Rechnung tragen sollte, wie der Berichterstatter für das Gesetz, der Sozialist Jean Poperen, vor der Nationalversammlung ausführte: „Der Text (…) zielt darauf ab, zwei Erfordernisse der Demokratie in Einklang zu bringen: Gerechtigkeit und Effizienz. Die Gerechtigkeit verlangt die Einführung der Verhältniswahl (…). Das zweite Erfordernis ist Effizienz. Zahlreiche Erfahrungen haben uns die verhängnisvollen automatischen Wirkungen einer uneingeschränkten Verhältniswahl gezeigt. Wir haben sie in der Zeit der Vierten Republik oft in unseren Städten zu spüren bekommen. Und unlängst wurde auf das Beispiel jener Großstadt aufmerksam gemacht, die in zwei Jahren drei Krisen durchgemacht hat, d.h. drei Wahlen. Ist es nötig, außerdem an die verhängnisvollen Auswirkungen der Verhältniswahl bei den Parlamentswahlen in gewissen Ländern zu erinnern? Es ist nötig, dass unsere Städte verwaltet, ich wage nicht zu sagen regiert werden. Sie dürfen sich nicht in einem Zustand der permanenten Krise befinden, ob verdeckt oder nicht. Deshalb schlägt uns die Regierung vor, (…) tragfähige mehrheitswahlrechtliche Korrektive vorzunehmen.“24
Die linke Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit beschworen also die Schreckgestalt der Vierten Republik, um sich von einem der wichtigsten institutionellen Vorhaben François Mitterands loszusagen und ein sogenanntes Bonuswahlverfahren (système électoral à bonus) in den wichtigsten 2.000 Gemeinden des Landes einzuführen. Mit Gesetz vom 19. November 1982 wurde das Kommunalwahlrecht tiefgreifend geändert. Es wurden zwei verschiedene Wahlverfahren verabschiedet, je nach Größe der Gemeinde. In Gemeinden mit mehr als 3.500 Einwohnern wurde eine Listenwahl mit einem starken Mehrheitsbonus eingeführt. Danach erhielt die Liste, die im ersten Wahlgang mehr als die Hälfte der Stimmen erhielt oder im zweiten Wahlgang den ersten Platz erreichte, immer mehr als die Hälfte der Sitze im Gemeinderat. Die zweite Hälfte der Sitze wurde im Wege des Verhältniswahlsystems nach Höchstzahl vergeben. Dabei nahmen am Verhältnisausgleich alle Listen teil, die mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen erhalten hatten, einschließlich derjenigen Liste, die die Wahl gewonnen hatte. Praktisch konnte die siegreiche Liste somit sicher sein, mindestens ¾ der Sitze zu erhalten. Das Wahlrecht legte drei Schwellenwerte fest: Am zweiten Wahlgang konnte nur eine Liste teilnehmen, die im ersten Wahlgang 10 % der abgegebenen Stimmen erhalten hatte. Eine Listenfusion für den zweiten Wahlgang war nur zwischen Listen möglich, von denen eine mindestens 10 % der abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang erhalten hatte und weitere Listen jeweils mindestens 5 % auf sich vereinigt hatten. Schließlich galt eine Sperrklausel für die Sitzverteilung in Höhe von 5 % der abgegebenen Stimmen. Mehrheitsbonus und Schwellenwerte begünstigten die für den ersten Wahlgang geschlossenen Bündnisse oder spätestens die zwischen den beiden Wahlgängen getroffenen Wahlabkommen.
Débats Assemblée Nationale, Erste Sitzung vom 26. Juli 1982, Journal officiel, 4822.
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Verfolgten die linke Regierung und ihre Parlamentsmehrheit offiziell das Ziel, ein Verhältniswahlrecht mit korrigierenden Elementen der Mehrheitswahl einzuführen, so begnügten sie sich doch tatsächlich damit, ein Wahlrecht, das weiterhin durch eine ausgeprägte Mehrheitslogik gekennzeichnet war, um Elemente der Verhältniswahl zu ergänzen. Das Hauptziel der Reform lag darin, eine Vertretung von Minderheitenlisten im Gemeinderat zu ermöglichen, und nicht etwa darin, die Mehrheitsbasis des Bürgermeisters im Gemeinderat in Frage zu stellen. Das war zweifellos der Grund, weshalb die konservative Opposition die Reform lediglich wegen grundsätzlicher Bedenken gegen das Verhältniswahlrecht ablehnte. Einige ihrer führenden Köpfe wie Jean-Claude Gaudin, Präsident der UDF-Fraktion in der Nationalversammlung und künftiger Bürgermeister von Marseille, setzten sich sogar für die Wiedereinführung eines uneingeschränkten Verhältniswahlrechts in den größten Städten des Landes ein.25 Das Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen (scrutin majoritaire plurinominal à deux tours) wurde schließlich nur in den Gemeinden mit weniger als 3.500 Einwohnern beibehalten. Die Parlamentsdebatten kreisten in erster Linie um diesen Schwellenwert;26 die bürgerlichen Parteien traten für höhere Schwellenwerte ein, weil sie auf dem Land über eine traditionelle Honoratiorenbasis verfügten und durch die Listenwahl eine stärkere Politisierung der Wahl in den Kleinstädten befürchteten. Drei Jahre später hatte sich das politische Klima radikal verändert. Die Linke hatte eine Reihe von Wahlniederlagen erlitten: bei den Kommunalwahlen 1983, den Europawahlen 1984 und den Departementswahlen 1985. Die Kommunisten hatten die Regierung verlassen und die Sozialisten standen ohne Koalitionspartner da. Bei den Parlamentswahlen 1986 drohte den Sozialisten eine katastrophale Niederlage. Die Frage war nicht, ob die Sozialisten die Mehrheit in der Nationalversammlung verlieren würden, sondern wie viele Sitze sie würden retten können. Gleichzeitig änderte sich die Situation auf der rechten Seite des politischen Spektrums dadurch, dass plötzlich der von Jean-Marie Le Pen geführte Front National die politische Bühne betrat. Die republiktreuen konservativen Parteien sahen eine neue Oppositionskraft entstehen, die ihr einen Teil ihrer Wählerschaft abspenstig machte, ohne dass zumindest auf nationaler Ebene ein Bündnis politisch denkbar gewesen wäre. In dieser Situation kam es im Frühjahr 1985 zu zwei weiteren Wahlreformen. Für François Mitterand und seine Regierung war dabei politischer Opportunismus mindestens ebenso entscheidend wie die grundsätzliche Vorliebe für das Verhältniswahlrecht. Mit Gesetz vom 10. Juli 1985 wurde das Wahlverfahren für die anstehenden Parlamentswahlen geändert. Man führte die Verhältniswahl nach dem Höchstzahlverfahren auf Departements-Ebene ein (représentation proportionnelle „à la plus forte moyenne“ dans le cadre départemental), wobei für die Sitzverteilung eine Sperrklausel in Höhe von 5 % der abgegebenen Stimmen galt. Ein zweites Gesetz, das ebenfalls am 10. Juli 1985 verabschiedet wurde, sah ein identisches Wahlverfahren für die ersten allgemeinen unmittelbaren Regionalwahlen vor, die – nach den Reformen zur De-
Idem, 4827. Der Schwellenwert wurde später durch das Gesetz vom 17. Mai 2013 im Vorfeld der Kommunalwahlen 2014 auf 1.000 Einwohner nochmals weiter herabgesetzt. 25
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zentralisierung der französischen Verwaltung – am selben Tag wie die Parlamentswahlen im März 1986 stattfinden sollten. Die parlamentarischen Debatten dazu waren äußerst lebhaft. Sie machten deutlich, wie sehr das Mehrheitswahlrecht inzwischen im politischen Allgemeinbewusstsein mit der Fünften Republik verknüpft war und spiegelbildlich das Verhältniswahlrecht der Vierten Republik zugeordnet wurde. Zwei Redebeiträge zeigten dies besonders anschaulich. Beide stammten von gaullistischen Abgeordneten, die sich als Hüter der Institutionen präsentierten. Der Linksgaullist Philippe Séguin, der später Präsident der Nationalversammlung werden sollte, sah mit der Einführung der Verhältniswahl das Ende der Fünften Republik heraufziehen: Minister des Innern und für Dezentralisation: „Dank des Verhältniswahlrechts werden die Meinungen in der Nationalversammlung proportional zur Entscheidung der Wähler vertreten sein.“ Philippe Séguin: „Und die Fünfte Republik wird tot sein!“27
Der spätere Justizminister Jacques Toubon erinnerte ausdrücklich an die Entstehung der Fünften Republik und François Mitterands damalige Opposition gegen die Verfassung von 1958. Er sah in der Mehrheitswahl die „notwendige Bedingung“ der Regierungsstabilität und brachte damit implizit die Befürworter der Verhältniswahl – und damit in erster Linie den Staatspräsidenten – mit der Vierten Republik in Verbindung. Jacques Toubon: „Die Verhältniswahl bringt die Funktionsweise der Institutionen aus dem Gleichgewicht. Gegenwärtig ist die Fünfte Republik ein Machtgefüge in einem Dreiklang. Der Präsident wird in allgemeiner Wahl gewählt, er ernennt die Regierung, diese aber kann nur gestützt auf das Vertrauen der Nationalversammlung regieren, die selbst wiederum vom Volk gewählt wird. Die Regierung, d.h. die Existenz und die Dauer einer Regierungsmannschaft und einer Politik, setzt somit eine parlamentarische Mehrheit voraus. (…) Ich sage nicht – und niemand behauptet –, dass die Mehrheitswahl der einzige Faktor für Stabilität ist, aber er ist deren notwendige Bedingung. (…) Der Streit zwischen uns ist nicht nebensächlich. Er rührt an die Fundamente der Fünften Republik. Sie haben die Institutionen bekämpft, die die Franzosen gegen Ihren Widerstand eingeführt haben und die Sie zu nutzen gezwungen waren, weil die Franzosen an ihnen hängen. Wir haben die Institutionen der Fünften Republik zunächst errichtet und dann verteidigt, und wir werden dies auch weiterhin mit der Unterstützung des Volkes tun: Das ist es, was uns trennt.“28
Am 16. März 1986 fanden so zum ersten und einzigen Mal in der Fünften Republik Parlamentswahlen nach dem Verhältniswahlrecht statt. Die Entscheidung für die Departements-Ebene hatte jedoch wegen der geringen Größe der Wahlkreise starke Auswirkungen auf die Umsetzung der Stimmen in Sitze. Die Hälfte der Departements verfügte über weniger als fünf der zu vergebenden Sitze, was in Kombination mit der Fünf-Prozent-Hürde in erheblichem Maße die großen Parteien begünstigte. 27 „Et la Vème République sera morte!“ Débats Assemblée Nationale, Erste Sitzung vom 24. April 1985, Journal officiel, 350. 28 Débats Assemblée Nationale, Erste Sitzung vom 24. April 1985, Journal officiel, 351.
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Die Sozialistische Partei kam auf immerhin 206 Abgeordnete und erhielt damit eine weitaus höhere Zahl an Sitzen, als sie auf der Grundlage des vorherigen Mehrheitswahlrechts in zwei Wahlgängen hätte erreichen können. Der Front National zog mit 35 Abgeordneten in die Nationalversammlung ein und erreichte dort sofort Fraktionsstärke. Vor allem aber gelang es den republiktreuen bürgerlichen Parteien mit 42,2 % der Stimmen – ganz knapp – die Mehrheit in der Nationalversammlung (291 Sitze) zu erreichen; sie mussten deshalb nicht neue Bündnispartner zu ihrer Rechten oder Linken suchen. Die ersten allgemeinen Regionalwahlen fanden am gleichen Tag nach exakt demselben Wahlverfahren statt. Es ging dabei allerdings um eine viel größere Anzahl von Sitzen, und die Logik des Verhältniswahlrechts schlug voll durch. In Ermangelung einer eigenen Mehrheit gaben die bürgerlichen Parteien RPR und UDF hier und dort der Versuchung nach, ein Zweckbündnis mit dem Front National Jean-Marie Le Pens einzugehen.29 In dieser Phase der Entwicklung wurde die bisherige Mehrheitslogik des französischen Wahlsystems mehr und mehr verwischt, weil je nach Art der Wahl auf verschiedene Wahlverfahren zurückgegriffen wurde: Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen bei der Präsidentschaftswahl und den Departementswahlen, Verhältniswahlrecht bei den Europa-, Parlaments- und Regionalwahlen und schließlich „Bonuswahlverfahren“ bei den Kommunalwahlen. Die Wahlrechtsreformen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre trugen so dazu bei, das „Wahl-Akkordeon“ zu öffnen, um einen Ausdruck Jean-Luc Parodis aufzugreifen,30 indem sie den Parteien und den Wählern zahlreiche Gelegenheiten gaben, sich von der vereinfachenden Logik des Mehrheitswahlrechts in zwei Wahlgängen frei zu machen. Es entstand so die Frage nach einem möglichen „Widerspruch zwischen dieser Weiterentwicklung, die Zwänge lockert und das Spiel und die beibehaltenen Mehrheits-Logiken verkompliziert, und den anderen konstitutiven Elementen der Fünften Republik“.31 Die Antwort auf diese Frage sollte sehr rasch in Gestalt mehrerer Wahlrechtsreformen kommen, die zu einer stärkeren Rückkehr zum Mehrheitswahlrecht beitrugen.
V. 1988–2004. Die Rechte und die Linke gegen die Verhältniswahl Die Entscheidung für das Verhältniswahlrecht bei den Parlamentswahlen 1986 war auf Seiten der damaligen sozialistischen Regierung vor allem taktischer Natur gewesen, um die bürgerlichen Parteien der Versuchung auszusetzen, sich mit dem Front National zu verbünden und sie dadurch zu spalten. Nach dem Wahlsieg der bürger29 Bon, Le réglage national des majorités régionales, in: Perrineau (Hrsg.), Régions: le baptême des urnes, 207–216. 30 Parodi, Chapitre 12: La double consultation de mars 1992 a la recherche d’un modèle, in: Habert/ Perrineau/Ysmal (Hrsg.), Le vote éclaté. Les élections régionales et cantonales des 22 et 29 mars 1992, 1992, 269–312. 31 „la question est alors posée de la contradiction entre ces évolutions qui desserrent les contraintes et compliquent le jeu et les logiques majoritaires maintenues des autres éléments constitutifs de la Cinquième République“, Parodi, Proportionnalisation périodique, cohabitation, atomisation partisane: un triple défi pour le régime semi-présidentiel de la Vème République, Revue française de Science politique 47 ( Juni-August 1997), 292.
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lichen Parteien kam es zwischen 1986 und 1988 zu einer „Kohabitation“ des sozialistischen Staatspräsidenten François Mitterrand mit dem bürgerlichen Premierminister Jacques Chirac. Die neue Regierung ging sofort daran, für die Parlamentswahl das bisherige Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen wiederherzustellen. Die parlamentarische Debatte zeigte wiederum, wie sehr inzwischen Fünfte Republik und Mehrheitswahlrecht gleichgesetzt wurden. Die gesamte politische und wissenschaftliche Debatte beruhte nun auf zwei eng miteinander verbundenen Axiomen: Zum einen galt das Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen als wesentlicher Bestandteil der von den Gründervätern 1958 entworfenen Verfassungsarchitektur. Zum zweiten galt eine Rückkehr zum Verhältniswahlrecht de jure oder doch jedenfalls de facto als Rückkehr zur ungeliebten Vierten Republik. Diese Position wurde im Parlament mit Nachdruck von Innenminister Charles Pasqua vertreten: Innenminister: „Letzten Endes gab es in Frankreich ein echtes Verhältniswahlsystem nur von 1945 bis 1958, unter der Vierten Republik (…), die allerdings daran zu Grunde gegangen ist. (…) In Wahrheit beruht die Regierungsstabilität, die wir seit 1958 erleben und die große Neuerung der Fünften Republik war, auf der Verbindung von zwei Faktoren: der Stabilität der Exekutive, welche die Institutionen der Fünften Republik gewährleisten, insbesondere durch die Wahl des Staatspräsidenten durch das Volk, und der Existenz einer Regierungsmehrheit im Parlament, die allein durch das Mehrheitswahlrecht gewährleistet wird. (…) Auch wenn das Mehrheitswahlrecht nicht in der Verfassung verankert ist, bildet es doch einen wesentlichen Bestandteil des institutionellen Rahmens der Fünften Republik.“32
Jenseits der tagespolitischen Diskussion bedeutete die damalige Rückkehr zum Mehrheitswahlrecht einen Wendepunkt. Denn hier stritten sich die linken und die bürgerlichen Parteien zum letzten Mal grundsätzlich über das Wahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen wurde inzwischen von einem breiten Konsens getragen. Die Sozialisten gaben nunmehr ihre früheren Pläne einer radikalen Änderung der Institutionen der Fünften Republik und ihres Wahlrechts endgültig auf. François Mitterrand ernannte nach seiner Wiederwahl 1988 Michel Rocard zum Premierminister; er löste dann – wie schon 1981 – die Nationalversammlung auf und erreichte eine – knappe – parlamentarische Mehrheit für ein Bündnis aus Sozialisten, dem Mouvement des radicaux de gauche (MRG) und der bürgerlichen Union du Centre (UDC). Auf das frühere Bündnis mit den Kommunisten konnten die Sozialisten nicht länger zurückgreifen, denn dieses war seit dem Ausscheiden der kommunistischen Minister aus der Regierung im Jahr 1984 endgültig zerbrochen. Die So zialisten waren sich vor diesem Hintergrund sehr bewusst, wie viel sie dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen verdankten. Während der Legislaturperiode 1988–1993 nutzten sie auch stark die sonstigen Ressourcen zur Stärkung der Regierung im französischen Verfassungsrecht, insbesondere die in Artikel 49 Abs. 3 der französischen Verfassung vorgesehene Möglichkeit der Regierung, dass eine Vorlage ohne Abstimmung als von der Nationalversammlung verabschiedet gilt, wenn diese nicht der Regierung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder das Misstrauen ausspricht. Premierminister Rocard war im Übrigen persönlich ein strikter Gegner des Verhältniswahlrechts. Einige Jahre zuvor, im April 1985, hatte er aus Protest gegen dessen Verabschiedung lautstark seinen Austritt aus der Regierung Fabius erklärt. Vor die32
Débats Assemblée Nationale, Sitzung vom 20. Mai 1986, Journal officiel, 976.
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sem Hintergrund war nach der Rückeroberung der Regierungsmacht für die Sozialisten 1988 keine Rede mehr davon, für die Parlamentswahl erneut das Verhältniswahlrecht einzuführen. Selbst das sich für die Parlamentswahl 1993 ankündigende Wahldebakel bewegte die Sozialisten nun nicht mehr dazu, erneut die Spielregeln zu ändern, um die sich abzeichnende Niederlage in Grenzen zu halten. Vielmehr war das französische Wahlrecht mit der Wiedereinführung des Mehrheitswahlrechts in zwei Wahlgängen für die Parlamentswahl im Jahr 1986 in eine neue Phase eingetreten. Alle späteren Wahlreformen verfolgten nunmehr das – nicht immer erreichte – Ziel, die Zersplitterung der politischen Landschaft zu begrenzen. Die erste Reform betraf die Regionalwahlen und erfolgte während der dritten Kohabitation 1999. Zuvor, von 1986 bis 1998, fanden die Regionalwahlen nach dem Verhältniswahlsystem auf Departements-Ebene (représentation proportionnelle dans le cadre départemental) statt, wobei nur Listen, die mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen erhalten hatten, bei der Sitzverteilung Berücksichtigung fanden. Das Departement wurde als Wahlkreis für die Regionalwahlen gewählt, nachdem sich François Mitterrand gegen die Schaffung von Wahlkreisen in Anknüpfung an die Grenzen der Regionen ausgesprochen hatte. Wie Pierre Joxe später mitteilte, „war er der Meinung, dass dies die Karte der Regionen zum Erstarren gebracht und die Legitimität der Regionalpräsidenten gestärkt hätte, verbunden mit einer Gefährdung der nationalen Einheit. Können sie sich einen Präsidenten der Region Ile-de-France vorstellen, der von elf Millionen Einwohnern gewählt wird? Er wäre ein zweiter Staatspräsident.“33 Die Wahlen 1986 und 1992 wurden eindeutig von den bürgerlichen Parteien gewonnen. Aber 1998 erhielt der Front National durchschnittlich 9,6 % der Stimmen und fand sich daher in zahlreichen Regionen in der Rolle des Züngleins an der Waage. In sechs Regionen beschlossen die bürgerlichen Parteien vor Ort, ein Stichwahlbündnis mit dem Front National einzugehen, um zu verhindern, dass die Präsidentschaft der jeweiligen Region an einen Politiker der Linken fallen würde. Dieses Verhalten löste ein politisches Erdbeben aus. Die bürgerlichen Parteien waren zwischen Befürwortern und Gegnern eines Bündnisses mit dem Front National hin- und hergerissen. Sie einigten sich aber schließlich auf die Position des damaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac, der sich gegen jeden Kompromiss mit der Partei von Jean-Marie Le Pen wehrte. Der sozialistische Premierminister Lionel Jospin ging in der Folge daran, das Regionalwahlrecht bis zur nächsten Wahl, die für 2004 vorgesehen war, zu ändern, wobei er sich am Kommunalwahlrecht orientierte, das seit dem Gesetz vom 19. November 1982 in Kraft war. Während es aber 1982 darum gegangen war, einem im Wesentlichen mehrheitswahlrechtlich geprägten Verfahren eine „Dosis“ Verhältniswahlrecht hinzuzufügen, lag dem Gesetz vom 19. Januar 1999 ein genau gegenteiliger Ansatz zugrunde. Diesmal ging es darum, der erstplatzierten Liste einen Mehrheitsbonus zu gewähren. Ihr sollte so eine absolute Mehrheit der Sitze garantiert wer33 „il considérait que cela aurait figé la carte régionale et que cela aurait renforcé la légitimité des présidents de région au risque de l’unité nationale. Vous imaginez un président de la région Ile-de-France élu par onze millions d’habitants ? Ce serait un Président de la République bis …“, Gélard, Bericht im Namen des Rechtsausschuss‘ zu dem Gesetztesvorhaben über die Wahl der Regionalräte und der Abgeordneten für das Europäische Parlament sowie über Beihilfen für die Politischen Parteien (projet de loi relatif à l’élection des conseillers régionaux et des représentants au Parlement européen ainsi qu’à l’aide publique aux partis politiques), Sénat, ordentliche Sitzungsperiode 2002–2003, Dokument Nr. 192, 26. Februar 2003, 11.
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den, um zu vermeiden, dass der Front National zum Zünglein an der Waage würde. Mit Gesetz vom 19. Januar 1999 wurde folglich eine Listenwahl in zwei Wahlgängen eingeführt. Einheitlicher Wahlkreis war die jeweilige Region. Die stärkste Liste erhielt einen Mehrheitsbonus von 25 % der Mandate. Damit war dieser eine Mehrheit in der Regionalversammlung auch dann garantiert, wenn es im zweiten Wahlgang zu einer Dreierkonkurrenz eng beieinanderliegender Listen kam. Nach der Wiederwahl Jacques Chiracs 2002 behielt die nunmehrige bürgerliche Parlamentsmehrheit das Regionalwahlrecht im Grundsatz bei, beschloss aber eine Anhebung der Schwellenwerte. Das Gesetz vom 11. April 2003 orientierte sich dabei an den drei Schwellenwerten, die bereits im Kommunalwahlrecht galten. Es galt für die Mandatsverteilung nun zunächst allgemein eine Fünf-Prozent-Sperrklausel. Am zweiten Wahlgang konnten nur noch Listen teilnehmen, die im ersten Wahlgang zumindest 10 % der Stimmen erreicht hatten. Eine Listenfusion für den zweiten Wahlgang war nur zwischen Listen möglich, von denen eine mindestens 10 % der abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang erhalten hatte und weitere Listen jeweils mindestens 5 % auf sich vereinigt hatten. Die Auswirkungen der Reform ließen nicht lange auf sich warten. Die kombinierte Wirkung der Abschaffung der Departements-Wahlkreise, der Einführung von zwei Wahlgängen und einer Qualifikationsschwelle für den zweiten Wahlgang von 10 % der abgegebenen Stimmen benachteiligte 2004 die kleinen Gruppierungen, deren Wählerschaft sehr stark gebietsbezogen ausgeprägt ist, wie etwa die Liste „Jagd, Fischerei und Tradition“ („Chasse, pêche et traditions“), die 1998 in einigen Departements hatte Abgeordnete stellen können. Der Mehrheitsbonus von 25 % kam automatisch den in Paris abwechselnd regierenden bürgerlichen oder linken Parteien zugute. Sie gewannen gemeinsam 170 Sitze hinzu, die der extremen Linken, der extremen Rechten und den „Sonstigen“ verloren gingen.34 Die zweite Reform betraf die Europawahlen. Dasselbe Gesetz vom 11. April 2003 ersetzte den seit 1979 verwendeten einheitlichen Wahlkreis durch acht Wahlkreise. Die sonstigen Modalitäten des Wahlverfahrens blieben unverändert. Die Sitze wurden weiterhin nach Verhältniswahlsystem mit Höchstzahlverfahren auf die Listen verteilt, die mehr als 5 % der Stimmen im jeweiligen Wahlbezirk erhalten hatten. Der Neuzuschnitt der Wahlkreise änderte tiefgreifend die Anzahl der zu besetzenden Sitze je Wahlkreis. Im Jahr 1999 betrug diese Zahl 87, da Frankreich über 87 Sitze verfügte, die einem einheitlichen Wahlkreis zugeordnet waren. Im Jahr 2004 verfügte Frankreich aufgrund der Erweiterung der Europäischen Union nur noch über 78 Sitze. Da es nunmehr acht Wahlkreise gab, lag die durchschnittliche Zahl je Wahlkreis zu vergebender Sitze bei knapp zehn Mandaten. Je nach Wahlkreis variierte die tatsächliche Anzahl zu besetzender Sitze zwischen drei (Wahlkreis „Outremer“) und 14 (Wahlkreis „Ile de France“). Die Zahl der je Wahlkreis zu vergebenden Mandate hat indes einen unmittelbaren Einfluss auf den Grad der Proportionalität des Wahlsystems. Bei identischer Wahlformel ist ein Wahlsystem umso weniger effektiv proportional, je weniger Mandate pro Wahlkreis zu vergeben sind.35 In diesem Fall kann die Proportionalität eines Wahlsystems mit verschiedenen statistischen In34 Dolez, Changer la règle, change le jeu: les effets du nouveau mode de scrutin, in: Dolez/Laurent/ Patriat (Hrsg.), Le vote rebelle, Les élections régionales de 2004, 2005, 207–220. 35 Taagepera/Shugart, Seats and Votes. The Effects and Determinants of Electoral Systems, 1989, 112.
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strumenten bewertet werden. Die von Loosemore und Hanby ausgearbeitete Methode (Loosemore-Hanby Index; [indice D]) ermöglicht es, die „Verfälschung“ der Proportionalität beim Übergang von Stimmen in Sitze zu beurteilen, d.h. die Abweichung zwischen der realen Sitzverteilung und dem rein proportionalen Stimmverhältnis zu messen.36 Je größer die Zahl der Wahlkreise, desto größer ist auch die Abweichung zwischen dem verhältnismäßigen Stimmenanteil und den tatsächlich vergebenen Mandaten. Auch im französischen Europawahlrecht stellte sich diese Wirkung sofort ein. Im Jahr 2004 schnellte der Index auf 19,1 gegenüber 8,8 im Jahr 1999 und erreichte damit den höchsten Wert seit 1979.37 Der Zuschnitt des Staatsgebiets in acht Wahlkreise und die sich daraus ergebende Verringerung des relativen Stimmgewichts genügten, um die Proportionalität des Systems insgesamt zu verringern. Logischerweise kam dies den großen Parteien zugute: 1999 gewannen die drei größten Parteien (PS, RPR-DL und RPF) 54 % der Sitze mit 47,8 % der Stimmen; 2004 belegten die ersten drei (PS, UMP und UDF) 75 % der Sitze mit „nur“ 57,5 % der Stimmen. Hier wurde deutlich, dass jeder Eingriff in ein tragendes Element eines Systems per Definition dessen Gleichgewicht und dessen Funktionsweise beeinflusst.38 Obwohl der Gesetzgeber das Prinzip der Verhältniswahl beibehielt, schränkte er dessen Auswirkungen dennoch stark ein, indem er den Wahlkreiszuschnitt und damit einen entscheidenden Faktor veränderte.39 Schließlich wurde auch die Wahl der Departementsräte reformiert. Zunächst wurde mit dem während der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys verabschiedeten Gesetz vom 16. Dezember 2010 über die Gebietsreform der Schwellenwert für die Qualifikation zum zweiten Wahlgang an denjenigen angepasst, der seit drei Jahrzehnten für die Parlamentswahlen galt, d.h. 12,5 % statt 10 % der eingeschriebenen Wähler. Die Wirkung war wiederum unmittelbar zu spüren. Während bei den Departementswahlen 2004 noch 343 Dreierkonstellationen zu verzeichnen waren, waren im Jahr 2011 nur noch 26 davon übrig. Auch die Departementswahlen wurden nun regelmäßig zu Duellen. Eine weitere Reform wurde aus Gründen der Gleichstellung durchgeführt. Durch Gesetz vom 17. Mai 2013, das während der Amtszeit François Hollandes verabschiedet wurde, wurde festgelegt, dass die Departementsräte nach Mehrheitswahlrecht mit Kandidatenpaaren in zwei Wahlgängen (scrutin binominal majoritaire à deux tours) gewählt wurden, um die Gleichstellung zu fördern. Seither werden in jedem Kanton – dem Wahlkreis für die Wahl der Departementsräte – ein Mann und eine Frau gemeinsam gewählt. Diese Änderung des Wahlverfahrens bei gleichbleibender Zahl der Departementvertreter führte zu einer Halbierung der Zahl und damit zu einem Neuzuschnitt der Kantone. Die neue Pflicht zu einer Doppelwahl eines Mannes und einer Frau verstärkte noch die dem Mehrheitswahlrecht eigene Disproportionalität. 36 D = (1/2) Σ Iv i -siI ; vgl. Loosemore/Hanby, The Theoretical Limits of Maximum Distortion: Some Analytic Expressions for Electoral Systems, British Journal of Political Science 1(4) (1971), 467–477. 37 Dolez/Laurent, La magnitude, facteur décisif ? Les élections européennes de 2004 en France et les effets du changement de mode de scrutin, Revue internationale de politique comparée 17(3) (2010), 175–193. 38 Parodi, La Cinquième République à l’épreuve de la représentation proportionnelle. Essai de prospective institutionnelle, Revue française de science politique 33(6) (Dezember 1983), 1006. 39 Taagepera/Shugart, Seats and Votes, 1989, s.o. Fn. 35.
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Am Ende der fünfjährigen Amtszeit François Hollandes 2017 waren die verschiedenen in Geltung befindlichen Wahlverfahren schließlich insgesamt so ungünstig für kleinere Parteien geworden wie niemals zuvor. Aber nie zuvor war auch die Krise der Repräsentation so akut und schien das Parteiensystem der Implosion so nahe zu sein.
VI. 2017: Geht die Fünfte Republik an einer (geringen) Dosis Verhältniswahlrecht zugrunde? Repräsentationsverzerrungen, wie sie für das Mehrheitswahlrecht typisch sind, haben wiederholt Anlass zu Diskussionen über eine Reform des Wahlrechts gegeben und den Befürwortern des Verhältniswahlrechts Argumente geliefert, insbesondere der Kommunistischen Partei. Als die Nationalversammlung etwa Ende 1966 über die Anhebung der Qualifikationsschwelle für den zweiten Wahlgang von 5 % auf 10 % der eingetragenen Wähler debattierte, setzten sich die Kommunisten für eine Rückkehr zum Verhältniswahlrecht ein und verwiesen auf die bei den Wahlen 1958 und 1962 eingetretenen „Verzerrungen“ der Repräsentation, deren Hauptopfer sie unbestritten gewesen waren. Waldeck L’Huillier: „1958 gewann die U.N.R. als Regierungspartei 188 Sitze mit 3.589.000 Stimmen; die Kommunistische Partei erhielt mit 3.900.000 Stimmen, d.h. 300.000 mehr, nur zehn Sitze! Kann man sich, verehrte Kollegen, eine noch schlimmere Verzerrung des Wählerwillens vorstellen? 1962 erhielt die Kommunistische Partei mit mehr als vier Millionen Stimmen 41 Sitze; die U.N.R.-U.D.T. errang mit 5.840.000 Stimmen 229 davon. Ein kommunistischer Abgeordneter repräsentierte 98.000 Wähler, ein Abgeordneter der U.N.R. – etwas bescheidener – 26.000.“40
In den sechziger und siebziger Jahren traten alle linken Parteien einschließlich der Sozialisten klar für das Verhältniswahlrecht ein. So betonte das „Gemeinsame Programm“ (programme commun) der Linken (PC, PS und MRG) von 1972, dass „die Existenz eines Wahlsystems, das die möglichst gerechte Repräsentation der Wähler sicherstellt, eine Voraussetzung für die demokratische Funktionsweise des Parlaments darstellt. Das Wahlgesetz wird für die Wahlen zur Nationalversammlung das Verhältniswahlrecht einführen.“41 Die Frage nach dem Wahlverfahren war damals ein bedeutendes politisches Thema, bei dem sich linke Befürworter des Verhältniswahlrechts und konservative Verteidiger des Mehrheitswahlrechts als Ausdruck des gaullistischen Erbes unversöhnlich gegenüberstanden. Seit den ausgehenden achtziger Jahren veränderten sich die Bedingungen dieser Debatte aber nachhaltig. Zum einen verzichteten die Sozialisten nach der Wiederwahl François Mitterrands zum Staatspräsidenten 1988 darauf, das von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit 1986 wieder eingeführte Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen für die Parlamentswahl erneut in Frage zu stellen und gaben damit Débats Assemblée Nationale, Erste Sitzung vom 7. Dezember 1966, Journal officiel, 5316. Programme commun de gouvernement du Parti communiste français et du Parti socialiste (27. Juni 1972), Kapitel 2. Editions sociales, 1972. 40 41
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praktisch die Einführung des Verhältniswahlrechts auf. Zum anderen entstanden in der politischen Landschaft neue politische Kräfte, die im Parlament nicht oder nur in geringem Maß vertreten waren: der Front National, die Grünen und bald auch die konservativ-europakritischen „Souveränisten“ (souverainistes). Zwischen 1988 und 1993 wurde die Atomisierung der politischen Landschaft offenkundig: Die „effektive Anzahl“ der wählbaren Parteien (ENEP) stieg von 4,4 auf 6,9, während sich in demselben Zeitraum die effektive Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien (ENPP) leicht verringerte, von 3,1 auf 2,9, was wiederum die Benachteiligung kleinerer Parteien durch das Mehrheitswahlrecht unterstreicht.42 Von da an bahnte sich eine neue Idee ihren Weg: Das inzwischen geradezu mit der Fünften Republik selbst gleichgesetzte Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen sollte beibehalten, zugleich aber durch eine „Prise“ Verhältniswahlrecht abgemildert werden. Auf diese Weise sollte das Ziel der Erhaltung einer stabilen parlamentarischen Mehrheit (des „fait majoritaire“), die als Frucht des Mehrheitswahlrechts in zwei Wahlgängen betrachtet wurde, mit einer besseren Repräsentation der kleinen Parteien in Einklang gebracht werden. Diese Idee stand im Mittelpunkt der Überlegungen einer Sachverständigenkommission, die von François Mitterrand eingesetzt und von dem namhaften Rechtsprofessor und früheren Mitglied des Verfassungsrats Georges Vedel geleitet wurde. Ihr „Bericht zum Problem einer Reform des Wahlrechts für die Wahl der Nationalversammlung“ („Rapport sur le problème de la réforme électorale du mode de scrutin pour l’élection des députés“) vom 15. Februar 1993 stellt verschiedene Formen hybrider Wahlverfahren zur Diskussion, die „das Beste aus beiden Welten“ verbinden sollen. Der „Vedel-Bericht“ wendet sich – vor allem wegen möglicher Verfassungswidrigkeit – gegen ein System, in dem die Abgeordneten der bevölkerungsreichsten Departements nach Verhältniswahlrecht gewählt würden und diejenigen der bevölkerungsärmeren nach Mehrheitswahlrecht.43 Stattdessen schlägt der Bericht vor, der Mehrheitswahl einen „angemessen berechneten Anteil Verhältniswahl“44 hinzuzufügen, der bei 10 % der Sitze liegen könne. Auf dieser Grundlage werden sodann zwei mögliche Konkretisierungen vorgeschlagen. In der ersten Variante würden die Sitze des Verhältniswahlanteils denjenigen Parteien vorbehalten, die durch die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen „benachteiligt“ werden, weil ihr Anteil an Parlamentsmandaten niedriger ist als der Stimmenanteil ihrer Kandidaten an der Gesamtzahl der im ersten Wahlgang abgegebenen Stimmen; der Verhältniswahlanteil würde demnach als Korrektiv eingesetzt. In der zweiten Variante würde der Verhältniswahlanteil zwischen allen Parteien, die Kandidaten aufgestellt haben, 42 Die „effektive Anzahl der Parteien“ (effective number of parties, ENP), entwickelt von Markku Laakso und Rein Taagepera, ist der gebräuchlichste Index zur Messung der Stimmenstreuung bei Wahlen. Er ermöglicht es, die Zahl der Wahlwettbewerber festzustellen und dabei durch entsprechende Gewichtung ihre relative Stärke zu berücksichtigen. Er kann im Hinblick auf gewonnene Stimmen (effective number of electoral parties: ENEP=1/Σvi²) oder gewonnene Mandate (effective number of parliamentary parties: ENPP=1/Σ si²) berechnet werden, wobei v i der Prozentsatz der abgegebenen Stimmen (bzw. si der Prozentsatz der Sitze) ist, die auf die Liste i entfallen. Je höher die Zahl ausfällt, desto größer ist der politische Pluralismus. Vgl. Laakso/Taagepera, Effective Number of Parties: A Measure with Application to Western Europe, Comparative Political Studies 12(3) (1979), 3–27. 43 Rapport Vedel, „Une démarche empirique“, 38. 44 „la superposition à ce scrutin majoritaire d’une part convenablement calculée de scrutin proportionnel“, idem 39.
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aufgeteilt – unter Einschluss der Parteien, die durch die Mehrheitswahl überrepräsentiert sind. Der Wähler hätte zwei Stimmen, eine für die Mehrheits- bzw. Persönlichkeitswahl, die andere für die Verhältniswahl nach landesweiten Listen.45 Die Kommission stellte abschließend fest, dass „die Einführung eines komplexen Wahlverfahrens eine Reihe von Schwierigkeiten“ mit sich bringe, jedoch „kein Hindernis ein wesentliches Hindernis darzustellen scheine“.46 Der Bericht der „Vedel-Kommission“ hatte keine unmittelbaren Folgen. Zwei Reformen, die Anfang der 2000er Jahre – während der „Kohabitation“ des konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac mit einer von Ministerpräsident Lionel Jospin angeführten sozialistischen Parlamentsmehrheit in der Nationalversammlung – verabschiedet wurden, änderten allerdings in gewissem Maß die Ausgangssituation: Durch die Verfassungsänderung vom 2. Oktober 2000 wurde die Amtszeit des Staatspräsidenten von sieben auf fünf Jahre verkürzt. Zudem bestimmte die „loi organique“ vom 15. Mai 2001, dass Parlamentswahlen, die traditionell im März stattgefunden hatten, künftig im Juni stattfinden sollten. In der Praxis bedeutet das, dass die Wahl zur Nationalversammlung in Frankreich seit 2002 immer wenige Wochen nach der Präsidentschaftswahl stattfindet. Der Hintergrund für diese Reform war folgender: Im Jahr 2002 hätten die Parlamentswahlen nach geltendem Recht einige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen. Premierminister Lionel Jospin kündigte dann aber auf dem Kongress der Sozialistischen Partei in Grenoble im November 2000 seine Absicht an, die Wahltermine „umzukehren“. Kerngedanke der Reform war es, „Verwirrung“ zu vermeiden und „Klarheit“ zu fördern.47 Eine weitere „Kohabitation“ sollte nach Möglichkeit dadurch vermieden werden, dass der neugewählte Präsident durch die Abhaltung der Parlamentswahl kurz nach der Präsidentschaftswahl die besten Chancen bekam, eine ihn unterstützende Parlamentsmehrheit zu erreichen. Mit einem Bild Georges Vedels gesprochen, sollte so sichergestellt werden, dass der Kapitän nicht mehr von seiner Mannschaft getrennt war.48 In dieser Reform kam die Annäherung der Linken an die gaullistische Sicht der Institutionen zum Ausdruck. Der Berichterstatter der Reform in der Nationalversammlung, der Sozialist Bernard Roman, vertrat denn auch ausdrücklich die Auffassung, dass „die Wiederherstellung des normalen Wahlkalenders eine der Voraussetzungen für die Wahrung des fait majoritaire zu sein scheint“.49 Diese Reformen haben die ihnen zugedachte Funktion bisher tatsächlich erfüllt. Seit der Einführung der fünfjährigen Amtszeit des Staatspräsidenten und des neuen Wahlkalenders hat die Dynamik der Präsidentschaftswahl ihre Wirkung voll entfaltet; die Parlamentswahlen bestätigen und verstärken seither das Ergebnis der Präsidentschaftswahl. Dies hat sich merklich auf die Strategien sowohl der Parteien wie 45 Diese zweite Variante des „Rapport Vedel“ ist in der deutschen Wahlrechtsdiskussion als Grabenwahlsystem bekannt, Anm. d.Ü. 46 „l’introduction d’un mode de scrutin complexe soulève un certain nombre de difficultés, aucun obstacle n’a paru constituer un obstacle majeur“, idem 46. 47 Lionel Jospin, Congrès du Parti socialiste à Grenoble, 26. November 2000. Quelle: http://www. parti-socialiste.fr, abruf bar unter http://discours.vie-publique.fr/notices/003003268.html [zuletzt abgerufen am 7. August 2018]. 48 Vedel, Il ne faut pas dissocier le patron de son équipe, Le nouvel observateur, 18. Dezember 2000. 49 „le rétablissement du calendrier normal des élections semble l’une des conditions pour préserver le fait majoritaire“, Roman, rapport n° 2791, Assemblée Nationale, onzième législature, 18. Dezember 2000.
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auch der Wähler ausgewirkt. Die Parteien sind nun faktisch gezwungen, die bei der Präsidentschaftswahl geschlossenen Bündnisse auch bei der nachfolgenden Parlamentswahl beizubehalten. Die Wähler werden so in der Parlamentswahl letztlich nur noch vor die einfache Frage gestellt, ob sie die Mehrheit in der Nationalversammlung mit der Mehrheit bei der Präsidentschaftswahl in Einklang bringen wollen oder nicht. So kann jeder Wahlzyklus aus Präsidenten- und Parlamentswahl letztlich als eine „Wahl der Exekutive in vier Wahlgängen“50 aufgefasst werden, deren Abfolge Olivier Duhamel wie folgt beschreibt: „Der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahl nimmt alle Strömungen auf und erlaubt es, jedes politische Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen, der zweite Wahlgang eint den Mehrheitsblock, der erste Wahlgang der Parlamentswahlen gibt die Vielfalt wieder, aber deren zweiter Wahlgang konsolidiert den Mehrheitsblock in dem bereits gefundenen Bündnis.“51 Im Jahr 2002 erhielten die bürgerlichen Parteien auf diese Weise wenige Wochen nach der Wiederwahl Jacques Chiracs zum Staatspräsidenten bei den Parlamentswahlen beinahe 400 Sitze in der Nationalversammlung. Vergleichbares wiederholte sich dann 2007 nach der Wahl Nicolas Sarkozys, 2012 nach der Wahl François Hollandes und 2017 nach derjenigen Emmanuel Macrons. So erreichte im Jahr 2007 die konservative UMP mit 313 Sitzen die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, die Sozialisten kamen insgesamt auf lediglich 186 Sitze. Die anderen politischen Kräfte mussten sich, obwohl sie im ersten Wahlgang der Parlamentswahl mehr als ein Drittel der Stimmen erhielten, mit wenigen Mandaten begnügen: die Kommunisten hatten nur fünfzehn Abgeordnete, die Grünen vier, die Zentristen um François Bayrou drei und der Front National keinen. Während des Wahlkampfes 2007 hatte sich Nicolas Sarkozy verpflichtet, „etwas Verhältniswahlrecht einzuführen, beim Nationalrat oder dem Senat, ohne das Risiko einer Instabilität für die Regierung heraufzubeschwören.“52 Die sogenannte Balladur-Kommission („Comité de réflexion et de proposition sur la modernisation et le rééquilibrage des institutions“), die vom früheren Premierminister Edouard Balladur geleitet und unmittelbar nach der Wahl Nicolas Sarkozys zum Staatspräsidenten eingesetzt wurde, sollte dazu konkrete Vorschläge erarbeiten. Die Kommission führte in ihrem Abschlussbericht aus, sie empfehle „nicht, die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen für die Wahl der Abgeordneten aufzugeben. Sie hat den von einigen der angehörten politischen Persönlichkeiten geäußerten Wunsch zur Kenntnis genommen, dass die darauf zurückzuführende Überrepräsentation der großen Parteien zum Nachteil anderer politischer Gruppierungen, deren Kandidaten gleichwohl eine beträchtliche Anzahl von Stimmen erhalten, durch die Einführung des sogenannten „Ausgleichs-“ Verhältniswahlrechts für die Wahl der Nationalversammlung behoben werden soll (Vorschlag Nr. 62). Dieses Wahlverfahren, angewendet auf eine Zahl von 20 bis 30 Parodi, L’ancrage d’une curiosité française: L’élection ‘exécutive’ à quatre tours, Revue française de Science politique 57(3–4) (2007), 285–291. Siehe auch, Sauger/Dupoirier, Four Rounds in a Row: The impact of presidential elections outcomes on legislative elections in France, French Politics 8(1) (2010), 21–41. 51 „Le premier tour de l’élection présidentielle accueille toutes les sensibilités et permet l’expression de toutes les identités, le second tour unifie le bloc majoritaire, le premier tour des législatives reproduit la diversité mais, dans l’union déjà réalisée, leur second tour consolide le bloc majoritaire“, Duhamel, Le quinquennat, 2008, 115. 52 Nicolas Sarkozy, meeting au Palais omnisports de Paris-Bercy, Sonntag, 29. April 2007 http:// discours.vie-publique.fr/notices/073001622.html [zuletzt abgerufen am 27. August 2018] 50
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Sitzen, brächte den Vorteil einer ausgeglicheneren Repräsentation derjenigen Parteien, die durch das Mehrheitswahlrecht benachteiligt werden, weil die Zahl ihrer Abgeordneten proportional viel niedriger liegt als die Zahl der auf sie abgegebenen Stimmen und deren Gesamtstimmenanteil im ersten Wahlgang mehr als fünf Prozent beträgt.“53 Zwar schlugen sich einige Vorschläge der Balladur-Kommission in der Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 nieder; zu einer Wahlreform kam es jedoch während der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozys nicht. Der gleiche Vorgang wiederholte sich während der folgenden Amtszeit von François Hollande. Dieser setzte die Jospin-Kommission („Commission de rénovation et de déontologie de la vie publique“) unter Leitung des früheren Premierministers Lionel Jospin ein. Nach ihrem Abschlussbericht sollte „das auf die Parlamentswahlen anwendbare Wahlverfahren die Bildung einer klaren Mehrheit fördern, um die Stabilität der Regierung zu gewährleisten: Dies ist das vorrangige Ziel, das ihm zuzuweisen ist. Die Suche nach einer möglichst zufriedenstellenden Repräsentation der verschiedenen politischen Strömungen und nach einem höheren Frauenanteil in der Nationalversammlung muss mit diesem Grundanliegen in Einklang gebracht werden. Es wird vorgeschlagen, das Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen für die Wahl des Großteils der Abgeordneten beizubehalten und eine „Dosis“ Verhältniswahl einzuführen. Die Wahl von bis zu zehn Prozent der Abgeordneten – d.h. 58 Abgeordneten – nach Listenwahl in einem einheitlichen nationalen Wahlkreis ohne Schwellenwert für die Wählbarkeit und bei Teilnahme aller Listen an der Verteilung der nach Verhältniswahl zu vergebenden Sitze würde eine bessere Repräsentation des politischen Pluralismus in der Nationalversammlung ermöglichen, ohne die Errungenschaften des fait majoritaire zu beeinträchtigen.“54 Balladur- wie Jospin-Kommission waren sich darin einig, dass die Einführung einer „Dosis“ Verhältniswahl zwar wünschenswert sein mag, jedoch minimal bleiben müsse und die dem Mehrheitswahlrecht eigenen Wirkungen nicht beeinträchtigen dürfe. Die von ihnen vorgeschlagene „Dosis“ Verhältniswahl war lediglich kosmetischer Natur und zielte darauf, den politischen Kräften, die durch die Mehrheitswahl stark unterrepräsentiert oder gar nicht repräsentiert werden, einige Sitze zu verschaffen, ohne das Bestehen des fait majoritaire zu gefährden. Aber die Vorschläge beider Kommissionen blieben ohnehin Makulatur. Die Idee, für die Wahl der Nationalversammlung das Verhältniswahlrecht einzuführen, ist gleichwohl nie ganz aufgegeben worden. So befürworteten im Präsidentschaftswahlkampf 2017 acht der zwölf Kandidaten, darunter Emmanuel Macron, die Einführung des Verhältniswahlsystems oder doch einer „Dosis“ Verhältniswahl. Von den aussichtsreichen Kandidaten sprach sich allein François Fillon dezidiert dagegen aus und argumentierte, man dürfe die Regierungsstabilität nicht durch ein Parlament ohne klare Mehrheit schwächen. Gegenwärtig scheinen die politischen Umstände aus mindestens drei Gründen günstig für eine Änderung des Wahlgesetzes zu sein: 53 Rapport du Comité de réflexion et de proposition sur la modernisation et le rééquilibrage des institutions, Une Vème république plus démocratique, 69, abruf bar unter http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rapports-publics/074000697/index.shtml [zuletzt abgerufen am 2. August 2018]. 54 Rapport de la Commission de rénovation et de déontologie de la vie publique, Pour un renouveau démocratique, 120, abruf bar unter http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rapports-publics/124000596/index.shtml, [zuletzt abgerufen am 3. August 2018].
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Erstens haben die Parlamentswahlen 2017, bei denen das traditionelle französische Parteiensystem zerbrach, erneut die Automatismen des Mehrheitswahlrechts deutlich hervortreten lassen. Rein Taagepera zufolge gilt bei der Mehrheitswahl mit einem Wahlgang für das Verhältnis zwischen Stimmen und Sitzen die Regel, dass die erstplatzierte Partei einen Bonus erhält, die zweitplatzierte ein ausgeglichenes Ergebnis und die Partei auf dem dritten Platz hart bestraft wird.“55 Diese Gesetzmäßigkeit kann auch für die Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen, wie sie in Frankreich üblich ist, beobachtet werden. Im Jahr 2017 stellte das Bündnis LREM-MoDem, das Emmanuel Macron unterstützte, mit 32,3 % der Stimmen im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen 45 % der im zweiten Wahlgang antretenden Kandidaten, um schließlich 60 % der Wahlkreise für sich zu gewinnen. Die Verbindung der bürgerlichen Parteien LR-UDI erhielt 19 % der Stimmen im ersten Wahlgang, stellte 26 % der Kandidaten im zweiten Wahlgang und errang 23 % der Sitze. Die „zweite Partei“ erhielt also einen Sitzanteil, der dem im ersten Wahlgang erzielten Stimmanteil nahekam. Die „dritten“ (der Front National), „vierten“ (La France Insoumise) und „fünften“ Parteien (die Sozialistische Partei) wurden dagegen hart bestraft. Die Kandidaten von La France Insoumise beispielsweise erhielten 11 % der Stimmen im ersten Wahlgang, stellten aber nur 5,8 % der für den zweiten Wahlgang qualifizierten Kandidaten und gewannen schließlich nur 2,9 % der Wahlkreise. Während die erstplatzierte Partei aus dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen einen großen Vorteil zieht, geraten die Parteien jenseits des dritten Platzes unter die Räder. Im Schrifttum wurde nachgewiesen, dass das Ausmaß der Verzerrung zwischen Stimmenanteil und Sitzen vom Wahlsystem abhängt. Es ist bei der Mehrheitswahl (mit einem oder zwei Wahlgängen) stärker ausgeprägt als bei der Verhältniswahl, die kleine Parteien weniger benachteiligt.56 Es wurde ebenfalls nachgewiesen, dass die Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen in der Fünften Republik die disproportionalsten Ergebnisse hervorgebracht hat, die es in westlichen Demokratien gibt.57 Im Jahr 2017 erreichte der Grad an Disproportionalität, gemessen nach dem Gallagher-Index,58 einen Höhepunkt.59 Er lag bei 22,95 und näherte sich damit dem Rekordwert bei den Parlamentswahlen 1993, bei denen fast 80 % der Sitze an die bürgerlichen Parteien (RPR-UDI) gingen (Tabelle 3).
Taagepera, Predicting Party Sizes. The Logic of Simple Electoral Systems, 2007, 205. Duverger, Les partis politiques, 1953. 57 „produit les résultats les plus disproportionnels qui soient dans les démocraties occidentales“, vgl., ACE project: http://aceproject.org/ace-fr/topics/es/esd/esd01/esd01e/esd01e01. 58 Der Gallagher-Index, teilweise Least square index (LSq) oder auch Methode der kleinsten Quadrate genannt, erlaubt es, den Grad an Disproportionalität eines Wahlsystems bei einer bestimmten Wahl zu messen. Er basiert auf der Differenz zwischen den Prozentsätzen für die erhaltenen Stimmen und für die gewonnenen Sitze einer Partei anlässlich einer bestimmten Wahl. Seine Formel lautet wie folgt (ig = √ (½ Σ (si – vi)2, wobei Vi der Prozentsatz der von einer Partei i erhaltenen Stimmen und S i der Prozentsatz der von derselben Partei gewonnenen Sitze ist. Gallagher, Proportionality, Disproportionality and Electoral Systems, Electoral Studies 10(1) (1991), 33–35. 59 Dolez/Laurent, Des voix aux sièges. Les élections législatives de 2017, Revue française de Science politique 68(5) (2018). 55
56
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Die französische Phobie gegen die Verhältniswahl
Tabelle 3: Wahl-Indizes. Französische Parlamentswahlen (1958–2017). Gallagher-Index LSq.
Effektive Anzahl der wählbaren Parteien ENEP
effektive Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien ENPP
Gesamtzahl der Sitze
1958
21.22
6.09
3.45
465
1962
14.99
4.93
3.43
465
1967
10.03
4.56
3.76
470
1968
19.21
4.31
2.49
470
1973
11.01
5.68
4.52
473
1978
6.57
5.08
4.20
474
1981
16.04
4.13
2.68
474
1986
7.23
4.65
3.90
556
1988
11.84
4.40
3.07
555
1993
25.25
6.89
2.86
577
1997
17.69
6.56
3.54
577
2002
21.95
5.22
2.26
576
2007
13.58
4.32
2.49
577
2012
17.66
5.27
2.83
577
2017
22.95
5.57
2.36
577
Quelle: Election indices dataset60 für den Zeitraum 1958–2012. Die Zahlen 2017 wurden von den Autoren errechnet.
Zweitens gibt es eine breite Zustimmung für eine Änderung des Wahlverfahrens mit dem Ziel, die Repräsentativität der Nationalversammlung zu verbessern. So erklärten im Juni 2017 mehr als sieben von zehn Franzosen (71 %), sie seien dafür, dass die Abgeordneten nach Verhältniswahlrecht und nicht mehr nach Mehrheitswahlrecht gewählt werden sollten.61 Drittens hat nicht zuletzt die Wahl Emmanuel Macrons zum Präsidenten eine unerwartete Gelegenheit eröffnet. Denn wahrscheinlich war die Änderung des Wahlsystems eine der von François Bayrou, dem Präsidenten der zentristischen Partei 60 Gallagher. Abruf bar unter https://www.democratienouvelle.ca/wp-content/uploads/2013/01/ indicesdistorsionsgallagherelections120pays1945-2012.pdf. [zuletzt abgerufen am 23. Juli 2018]. 61 „favorables à ce que les députés soient élus au scrutin proportionnel et non plus au scrutin majoritaire“, Umfrage des BVA für „L’Obs“, durchgeführt anhand einer Auswahl von 1191 Personen, die per Internet zwischen dem 13. und 14. Juni 2017 befragt wurden, abruf bar unter: https://staticswww.bva-group. com/wp-content/uploads/2017/06/BVA-pour-LObs-Les-Fran%C3%A7ais-et-lentre-deux-tours.pdf, [zuletzt abgerufen am 23. August 2018].
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Bernard Dolez und Annie Laurent
MoDem, gestellten Bedingungen dafür, dass er die Kandidatur Macrons bei der Präsidentschaftswahl unterstützte. Zudem ist Emmanuel Macron ein outsider, der von keiner der beiden großen Parteien unterstützt wurde, die sich seit 35 Jahren an der Macht abgewechselt und dabei jeweils Vorteile aus den Automatismen des Mehrheitswahlrechts gezogen hatten. Zwei Reformen wurden von Emmanuel Macron nach seiner Wahl angestoßen: Zunächst wurde die seit 2004 für die Europawahlen geltende Aufteilung des Staatsgebiets in acht Wahlkreise abgeschafft, die nach Ansicht der Regierung „die Pluralität bei der Repräsentation nicht gefördert hat“, sondern im Gegenteil „die größten Parteien begünstigte“, insbesondere weil sie dazu führte, „die Wirkungen des Verhältniswahlsystems bei der Verteilung der Sitze zu begrenzen“.62 Mit Gesetz vom 25. Juni 2018 wurde daher die Entscheidung für einen einheitlichen nationalen Wahlkreis bei den Europawahlen im Frühjahr 2019 getroffen, ohne sonstige Änderungen am bis dahin geltenden Wahlsystem vorzunehmen. Weiterhin werden derzeit Vorschläge beraten, das Wahlrecht für die Parlamentswahl im Rahmen einer umfassenderen institutionellen Reform zu ändern, die auch die Zahl der Abgeordneten und der Senatoren verringern und die Möglichkeit ihrer Wiederwahl auf drei aufeinanderfolgende Mandate zu begrenzen. Der neue Präsident hat damit seine Wahlversprechen bestätigt und erklärte vor den im Kongress in Versailles versammelten Abgeordneten und Senatoren am 3. Juli 2017: „Ich schlage vor, dass das Parlament mit einer Dosis Verhältniswahl gewählt wird, damit alle Strömungen dort angemessen vertreten sind.“ Drei Gesetzesentwürfe wurden darauf hin ins Parlament eigebracht: der Entwurf einer Verfassungsänderung; der Entwurf einer „loi organique“, mit der die Zahl der Abgeordneten und Senatoren um 30 % gesenkt würde (404 Abgeordnete der Nationalversammlung statt derzeit 577 und 241 Senatoren statt 348); schließlich ein einfaches Gesetz zur Änderung des Verfahrens bei den Parlamentswahlen. Aber diese Vorschläge halten sich in einem engen Rahmen. Sie wollen das Institutionengefüge nicht wesentlich ändern oder gar die Konturen einer „Sechsten Republik“ skizzieren. Ihnen geht es vielmehr allein darum, die Repräsentation „aufzuhübschen“, ohne an den Grundlagen des Systems zu rühren. „Die Fünfte Republik hat Frankreich eine stabile und effiziente Demokratie gebracht. General de Gaulle hat robuste und ausgewogene Institutionen geschaffen, die es dem Staat ermöglichen, seine Maßnahmen unter allen Umständen durchzuführen und dies im Einklang mit den republikanischen Werten. Unser politisches System hat jedoch seither eine Form von Erschöpfung erlebt, die zu einer deutlichen Ablehnung einer bestimmten Sichtweise auf politisches Handeln geführt hat. Während die Franzosen ihr Festhalten an der Fünften Republik bekunden, haben sie zugleich dem Bedürfnis Ausdruck verliehen, besser repräsentiert zu werden, über Abgeordnete zu verfügen, die stärker mit der Gesellschaft in Verbindung stehen und die deutlicher für die von ihnen umgesetzte Politik Rechenschaft ablegen müssen.“63
Die Forderung nach einem „uneingeschränkten Verhältniswahlrecht“, welche die Kommunistische Partei, La France Insoumise und das Rassemblement National von Marine Le Pen erheben, war daher von Anfang an aussichtslos. Während die konser62 Exposé des motifs, projet de loi n° 539 relatif à l’élection des représentants au Parlement européen, Assemblée Nationale, Fünfzehnte Legislaturperiode, 3. Januar 2018. 63 Idem.
Die französische Phobie gegen die Verhältniswahl
189
vative Partei Les Républicains hinsichtlich der Einführung des Verhältniswahlrechts an der Ansicht festhält „Die richtige Dosis ist Null“,64 hat sich die Regierung für eine vorsichtige Öffnung entschieden und vorgeschlagen, den Anteil der Abgeordneten, die ab der Wahl 2022 nach Verhältniswahlrecht gewählt werden sollen, auf 15 % festzusetzen. Hingegen hatte François Bayrou als Präsident des MoDem und wichtigster Bündnispartner Emmanuel Macrons eine „Dosis“ Verhältniswahlrecht „mindestens zwischen 20 % und 25 %“ gefordert.65 Konkret sollen nach dem Reformvorschlag 61 Abgeordnete in einem einheitlichen Wahlkreis nach Verhältniswahlrecht gewählt werden. Die Verteilung der Sitze soll im Wege des Verhältniswahlsystems nach Höchstzahl mit einer Fünf-Prozent-Hürde geschehen. Die weiteren 343 Abgeordneten sollen weiterhin nach Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen gewählt werden – mit Ausnahme derjenigen Abgeordneten, welche die außerhalb Frankreichs lebenden Franzosen vertreten, die ebenfalls nach Verhältniswahlrecht gewählt werden sollen. Das Reformvorhaben weist somit zwei wesentliche Merkmale auf.66 Zum einen würde die dem Wahlverfahren für die Abgeordneten beigefügte geringe „Prise“ Verhältniswahl die Disproportionalität des französischen Wahlsystems nur in geringem Umfang beheben. Es würde sich dann um ein Grabenwahlsystem handeln, bei dem 85 Prozent der Sitze nach Mehrheitswahlrecht und 15 Prozent nach Verhältniswahlrecht vergeben würden, ohne dass irgendeine Verrechnung stattfände. Die Verteilung der auf nationaler Ebene in einem einheitlichen Wahlkreis vergebenen Sitze wäre also völlig unabhängig von den Ergebnissen der Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen, durch die weiterhin der Hauptteil der Abgeordneten bestimmt würde. Die politische Partei, die dabei die größte Anzahl von Sitzen erhielte, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach auch diejenige politische Kraft, die bei der Verhältniswahl die meisten Mandate bekäme. Die stark unterrepräsentierten Parteien, wie die Kommunistische Partei, La France Insoumise oder das Rassemblement National, würden wohl jeweils nicht mehr als zehn der 61 nach Verhältniswahl zu verteilenden Sitzen erhalten. Zum anderen soll sich die Zahl der Wahlkreise beinahe halbieren, um gleichzeitig die Anzahl der Abgeordneten um 30 % verringern und eine „Prise „Verhältniswahl einführen zu können. Je größer aber der Zuschnitt der Wahlkreise und je geringer ihre Anzahl ist, umso stärker wirken die typischen Effekte des Mehrheitswahlrechts.67 Man kann also davon ausgehen, dass die laufende Reform den fait majoritaire keineswegs schwächen, sondern ihn sogar verstärken wird.
64 „la bonne dose, c’est zéro“, „Proportionnelle, une dose et beaucoup d’accrocs“, Libération, 15. März 2018. 65 „Proportionnelle: François Bayrou met la pression sur Macron“, Le Monde, 22. März 2018. 66 Für eine erste Analyse des Projektes siehe: Martin, Les modes de scrutin et la Ve République. Quelle sera la portée de la réforme en projet ?, Revue politique et parlementaire 1085–1086 (2018), 144–150. 67 Taagepera, Le macro-agenda duvergérien, à demi-achevé, Revue Internationale de Politique Comparée 17(1) (2010), 94.
190
Bernard Dolez und Annie Laurent
VII. Schluss Hat auch jedes Wahlsystem seine spezifischen Auswirkungen, so darf doch dessen Einbettung in das gesamte Institutionengefüge nicht außer Acht gelassen werden. Die Frage nach der Wechselwirkung zwischen dem Wahlsystem und seinem Umfeld steht im Mittelpunkt des Konzepts der „embedded institutions“ von Shaun Bowler und Bernard Grofman.68 Diese verfolgen einen umfassenden Ansatz und nehmen insbesondere das Zusammenspiel von Wahlverfahren, Institutionengefüge und Parteiensystem in den Blick. Dabei geht es neben der Größe des Parlaments insbesondere auch um die Zahl der entscheidenden Wahlen und die Art des Regierungssystems (präsidentiell, semi-präsidentiell versus parlamentarisch).69 Es bedarf insoweit sowohl einer Reflexion über die Direktwahl des Staatspräsidenten selbst wie auch die zeitliche Verbindung von Präsidentschaftswahl und Parlamentswahl, durch welche die Wahl zur Nationalversammlung zwangsläufig in den Sog der Präsidentschaftswahl gerät. Erst bei Berücksichtigung dieser besonderen „Einbettung“ der Parlamentswahl wird erklärlich, weshalb die Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen seit 2002 stets eine deutliche parlamentarische Mehrheit hervorgebracht hat, obwohl sich die politische Landschaft in diesem Zeitraum zunehmend zersplittert hat, um im Jahr 2017 schließlich ganz auseinanderzubrechen. Ebenso wird auch erst bei Einbeziehung des institutionellen Kontextes klar, dass die Auswirkung der Einführung einer „Prise“ Verhältniswahlrecht bei den nächsten Parlamentswahlen voraussichtlich bereits durch die Reduzierung der Größe des Parlaments neutralisiert wird. Hieraus wird deutlich, dass eine „echte“ Wahlreform darin bestehen müsste, entweder am Prinzip der Präsidentschaftswahl selbst zu rühren oder doch jedenfalls die zeitliche Abfolge zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl zu verändern, die derzeit noch stärker als das Wahlsystem selbst zu proportional völlig verzerrten Mehrheiten beiträgt. Bislang steht die Frage einer Veränderung der zeitlichen Abfolge zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl jedoch nicht auf der politischen Agenda – ein deutlicher Beleg dafür, dass Emmanuel Macron bei der von ihm angestoßenen Änderung des Wahlverfahrens, die sich auf die Wahl von etwa 60 Abgeordneten nach Verhältniswahlrecht beschränkt, keinerlei Absicht hat, das institutionelle Erbe General de Gaulles zu beseitigen, sondern dieses vielmehr durch eine „Modernisierung“ sogar stärken möchte.
Bowler/Grofman (Hrsg.), Elections in Australia, Ireland, and Malta under the Single Transferable Vote: Reflections on an Embedded Institution, 2000. 69 Hicken/Stoll, Are All Presidents Created Equal? Presidential Powers and the Shadows of Presidential Elections, Comparative Political Studies 46(3) (2012), 291–319. 68
Die römischen Passionen des Wahlrechts von
Prof. Dr. Jörg Luther (Alessandria) Inhalt I. „Passions and reasons“: das Spiel mit den Wahlregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Erinnerungsspuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Altrömische und italische Republiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Reformen im Königreich und unter dem Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Die elastische Verfassung der Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 IV. Verfassungsgerichtliche Zügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Verfassungswidrigkeit des „Porcellum“ (Urteil 1/2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2. Verfassungswidrigkeit des „Italicum“ (Urteil 35/2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 V. Ist das „Rosatellum“ verfassungsrechtlich fehlerfrei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
I. „Passions and reasons“: das Spiel mit den Wahlregeln Seit den Wahlrechtsreferenden der neunziger Jahre sind Wahlreformen ein Dauerbrenner der italienischen Politik und eine „Passion“ im Sinne von Leidenschaft und Leiden des Volkes und seiner politischen Klasse.1 Bei den Wahlen 2018 wurde nach dem „Mattarellum“ (1994–2005), den teilweise für verfassungswidrig erklärten Gesetzen des „Porcellum“ (2005) und „Italicum“ (2013) mit dem sog. „Rosatellum“ die vierte Wahlreform für die Parlamentswahlen erprobt, deren Verfassungsmäßigkeit erneut nicht unbestritten ist.2 Reformiert wurden seit den neunziger Jahren nicht nur das Wahlsystem im engeren Sinne, d.h. die Regeln der Umsetzung der Stimmen in Mandate, sondern auch das Wahlrecht der Auslandsitaliener, die Verfahren der Kandidatenaufstellung, Regeln der Wahlwerbungsfairness und die Wahljustiz. Die Va riationen wurden von Reformen der Kommunal-, Regional- und Europawahlen teils antizipiert, teils rezipiert und durch intensive Vergleichung vor allem mit briti Zuletzt Floridia, Electoral systems and concepts of democracy: electoral reform as a permanent policy issue in the Italian political system, Contemporary Italian Politics 10 (2018), 112 ff. 2 Zu den Wahlen von 2018 kritisch auch die OSZE: https://www.osce.org/it/odihr/elections/ 386118?download=true, zuletzt abgerufen am 21.01.2019. 1
192
Jörg Luther
schen, französischen, deutschen und spanischen Modellen inspiriert. Verfassungsrechtliche Differenzierungen der Strukturen, speziell des Mindestwahl- bzw. -wählbarkeitsalters und der Größe der zwei Kammern erschwerten sie ebenso wie der Streit um die Verfassungs(teil)reformen, die auch mit nicht qualifizierten absoluten Mehrheiten in den Kammern beschlossen und durch Referenden ratifiziert oder abgelehnt werden konnten (2001, 2006, 2016). Die Wahlreformen erleichterten tiefgreifende Veränderungen in der Parteienlandschaft, bei denen die Parteien, die Italien seit der verfassungsgebenden Versammlung von 1946 geprägt hatten, neuen, sich zumeist nicht als Partei bezeichnenden Formationen wichen: Lega Nord, Forza Italia, Alleanza Nazionale, Scelta Civica, Partito Democratico, Movimento Cinque Stelle, Liberi ed Eguali. Neue parteiinterne Direkt- und Vorwahlen bzw. digitale Abstimmungen wurden erprobt. In der Medienlandschaft verfestigten sich bestehende Oligopole und etablierten sich zudem die neuen sozialen Medien, die eine Personalisierung der politischen Repräsentation förderten und Versuchungen populistischer „Videokratie“ oder digitaler „Populokratie“ nicht immer widerstanden.3 Die italienische Verfassungsrechtslehre stellt die Wahlgesetzgebung als materielles Verfassungsrecht dar, das zwar überwiegend – auch in der Frage des Wahlsystems – flexibel und reformierbar bleibt, dessen Rahmen und Grundzüge jedoch durch Prinzipien, Rechte und Staatsorganisationsnormen von Verfassungsrang determiniert sind. Das subjektive und objektive Wahlrecht stellt die Souveränität des Volkes und die Herrschaft des Rechts über die gewählte Person her, schließt aber potentiell konkurrierende Territorialautonomien nicht aus. Es legitimiert und begrenzt gleichzeitig eine elastische parlamentarische Regierungsform, die Bürgervertrauen vermutet und Misstrauen zulässt. Soweit es die Spielregeln des politischen Wettbewerbs bildet und Veränderungen in der politischen Kultur und Ökonomie antizipiert oder rezipiert, ist es mehr Gesellschafts- als Staatsrecht, kann aber auch seinerseits Gegenstand eines Spieles mit den Spielregeln werden, das die Arbeit an den einzelnen Sachpolitiken lähmt. Seit 2001, speziell in den Jahren der Finanzkrise 2008 und 2013 unter der eher technokratischen Regierung Monti, ist das Bürgermisstrauen gegenüber dem Parlament von 70 % gestiegen. Wahlen und ihre Gesetze sind daher nicht nur „rational choice“, ein wohl eher liberales als republikanisches Ideal, sondern stets auch Rituale und Modelle der Selbstdarstellung und Selbstbeherrschung eines sich parteilich, sozial und territorial teilenden, aber als Bürgerschaft (civitas) einig werdenden Volkes. Während bei den alten Parteien der sog. „ersten Republik“ Italiens soziale Ideale und politische Ideologien eine stärkere Rolle spielten, scheinen heute eher positive Affekte zu Führerpersönlichkeiten und negative kollektive Gefühle des Zorns und der Lust am Abstrafen den Wahlausgang zu beeinflussen.4 Der wenig erforschten sozialpsychologischen Bedeutung der Wahlen versucht hier der Begriff der Passion5 gerecht zu werden, der sowohl die von Parteien, Kandidaten und Wählern in die Wahlen hineingetragenen Sartori, Homo videns, 1998; Diamanti/Lazar, Popolocrazia, 2018. Ginsborg/Labate, Passioni e politica, 2016; Ridolfi, Italia a colori. Storia delle passioni politiche d alla caduta del fascismo ad oggi, 2014; Bodei, Geometria delle passioni, 1991. 5 Vgl. Hirschman, The Passions and the Interests, 1977 (= Leidenschaften und Interessen, 1980). 3 4
Die römischen Passionen des Wahlrechts
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und in ihr verarbeiteten „Leidenschaften“ mit positiven und negativen Gefühlen der Hoffnung und Angst, Hass und Liebe etc. als auch das „Leiden“ an der aus Souveränität gekürten Macht der Gewählten bezeichnet. In der Republik wird vom Wähler nicht nur der Gang zur Wahlurne, sondern auch eine Mischung aus den warmen Passionen des „amor patriae“ mit Argumenten und kühleren Gefühlen des „kleineren Übels“ erwartet, die mehr oder weniger stolze Sieger und demütige Verlierer an der öffentlichen Gewalt friedlich teilhaben lässt. Weil Wahlen Passionen verarbeiten und erzeugen, ist auch die Geburt ihrer Gesetze nicht frei von Hoffnungen und Ängsten, die zu verfassungswidriger Unvernünftigkeit (irragionevoleza) der entworfenen Normen führen können. Im Folgenden sollen dazu die lange Geschichte des Wahlrechts in Rom und Italien (II.), die Entwicklung der Verfassung und Verfassungsrechtsprechung (III.), speziell die beiden letzten Verfassungsgerichtsurteile (IV.) und das neueste Wahlgesetz untersucht werden (V.).
II. Erinnerungsspuren 1. Altrömische und italische Republiken Ein Wahlrecht gibt es in Italien seit der altrömischen Republik, der es viele, noch heute maßgebliche Rechtsbegriffe verdankt.6 Bestandteil des Bürgerrechts der „civitas romana“ war das „ius suffragiorum“, das Recht der Bürger, in den Volksversammlungen („comitia“) mit ihrer Stimme einen in eine weiße Toga gewandeten „candidatus“ zu unterstützen (suffragare). Kandidaten brauchten das „ius honorum“, das passive Wahlrecht eines freigeborenen, seinen Dienstpflichten nachgekommenen und unbescholtenen Mannes zur Karriere eines „cursus honorum“, in dem die Wiederwahl ausgeschlossen war. Noch heute gebührt Parlamentariern die sie ermahnende Anrede „onorevole“ und beruft der Staatspräsident die „Wahlkomitien“ ein, um das Wahlverfahren einzuleiten. Der „comizio“ ist heute eher die öffentliche Ansprache des Kandidaten, der schon in der Antike durch Rundgänge in seinem „ambitus“ Stimmen einwarb und durch an Wände geschriebene Wahlaufrufe („programmata“) unterstützt wurde. Anders als in der griechischen Polis waren die römischen Versammlungen zunächst sakrale „comitia curiata“ der „gentes“, später 193 in Klassen gegliederte „comitia centuria“7 und zuletzt auch „comitia tributa“, von den Volkstribunen versammelte städtische (4) und ländliche (31) Bezirke des gemeinen Volkes. Die Lex Gabinia tabellaria (139 v. Chr.) führte die geheime schriftliche Wahl ein, bei der die durch eine „tesserula“ legitimierten Wähler eine Tafel mit Namen oder Initialen in eine 6 Zum antiken Konstitutionalismus De Martino, Le idee costituzionali dell’antichità classica e la nostra costituzione, in: Corte costituzionale/Accademia dei Licei (Hrsg.), Dalla Costituente alla Costituzione, 1998, 51 ff.; Loewenstein, The Governance of Rome, 1973. Als „Verfassungsänderung“ bezeichnet Mommsen, Abriss des römischen Staatsrechts, 1893, 106, den Übergang des Magistratsernennungsrechts auf die Komitien. 7 Unter den vom Magistrat (Dekurionen) zugelassen Kandidaten entschied häufig schon die Mehrheit der zuerst abstimmenden oberen Klassen.
194
Jörg Luther
bewachte Urne („arca“) legten, die dann von den „diribitores“ ausgezählt wurden.8 Marcus Tullius Cicero empfahl, die Präferenzen den Optimaten gegenüber zu offenbaren,9 sein Bruder Quintus Cicero schrieb in der Wahlkampffibel des „Commentariolum Petitionis“, wie Freunde zu mobilisieren und der Volkswille („populari voluntate“) zu beachten seien.10 Gesetze gegen Wahlkorruption, das sog. „crimen ambitum“, bestraften seit der Lex Petelia (367 v.C.) mit zehnjähriger und später lebenslänglicher Untersagung öffentlicher Ämter. M.T. Cicero hatte sich der Wahlkorruption des Verres zu erwehren und verteidigte u.a. Plancius gegen die Anklage, einen verbotenen Wahlverein („sodalicium“) gegründet zu haben, sowie Murenius dagegen, das Verbot der Abhaltung von Gladiatorenspielen in den letzten zwei Jahren vor einer Kandidatur verletzt zu haben.11 Art. 294 (Wählernötigung und Wahlbetrug)12 und Art. 416-ter (politisch-mafiöser Stimmenkauf: voto di scambio) des Strafgesetzbuchs und das Nebenstrafrecht der Wahlgesetze schützen heute die Wahlfreiheit durch zahlreiche Spezialtatbestände.13 Wähler konnten so viele Namen aufschreiben, wie Ämter zu vergeben waren. Die Auszählung („scrutinio“) in der Zenturie oder im Tribus wandte ein Mehrheitsprinzip an, aber bei der Aggregation der Ergebnisse wurden diejenigen Kandidaten als gewählt proklamiert, die zuerst die absolute Mehrheit der Wahlkollegien erreichten, wobei die Reihenfolge der zu berücksichtigenden Kollegien durch das Los bestimmt wurde.14 Die Mehrheitsregel fingierte einen Gesamtwillen: „refertur ad universos quod publice fit per majorem partem“ (Ulpian). Im kanonischen Recht erwartete die „Wahl durch alle“ („qui praefuturus est omnibus, ab omnibus eligatur“) erst Einstimmigkeit als Bezeugung göttlichen Willens („ducendus est populus, non sequendus“), seit Sinibaldo de Fieschi das Überwiegen der „maior et sanior pars“ („per plures melius veritas inquiritur“), um das Prinzip „quod omnes tangit ab omnibus comprobar debet“ zu realisieren. Die indirekten Wahlen der Konsule, Capitani del popolo und Podestà in den autonomen Kommunalordnungen erfolgten zweistufig durch ein Wahlkollegium von „homines meliores“.15 Hierzu Yakobson, Secret Ballot and Its Effects in the Late Roman Republic, Hermes 123 (1995), 426 ff. 9 De officiis II, 24: „Quamvis enim sint demersae leges alicuius opibus, quamvis timefacta libertas, emergunt tamen haec aliquando aut iudiciis tacitis aut occultis de honore suffragiis.“ De legisbus III, 38: „lex est de suffragiis: ‚Optimatibus nota, plebi libera sunto.‘“ 10 Quintus Cicero, Commentariolum petitionis, 6 ff.: die Dinge beim Namen nennen, lobpreisen, sich gütlich erweisen und öffentlich sichtbar zu sein, mit Versprechungen nicht zurückhalten, das eigene Ansehen pflegen und die öffentliche Meinung zu berücksichtigen, weil nicht das Sein, sondern auch der Anschein bzw. die Wahrnehmung zähle. 11 Zur Kaiserzeit Triscuoglio, Studi sul crimen ambitus in et imperiale, 2017. 12 Ein Betrug liegt vor, wenn der Wähler durch Täuschung dazu bestimmt wird, das Wahlrecht nicht oder anders auszuüben als er es wollte. 13 Z.B. wird gem. Art. 95 der Präsidialverordnung Nr. 361/1957 mit drei bis fünf Jahren Haft bestraft, wer in eigenem Namen oder für Dritte, auch private und öffentliche Einrichtungen, außerhalb der ordentlichen Leistungen derselben, in der den Wahlen vorausgehenden Woche und am Wahltag Geld, Lebensmittel, Kleidungsstücke oder andere Gegenstände verschafft. 14 Ruffini, La ragione dei più, 1977, 32 ff. 15 Ruffini (Fn. 14), 272 ff.; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft – Die Stadt, MWG 1/22-5, 1999, betont die Besonderheiten der italienischen Kommunen als „relativ rationaler patrimonialer Verbände“. 8
Die römischen Passionen des Wahlrechts
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Venedig entwickelte 1268 gar ein System von neunstufigen Wahlkollegien weiter und ersetzte die Volksvertretung durch den adligen Maggior Consiglio. Die heutigen Tendenzen der Divinisierung der „vox populi“, der Bewahrung von Oligarchien als ehernes Gesetz (Robert Michels) und der Komplizierung des Wahlrechts haben insofern mittelalterliche Vorläufer. Unter Napoleon garantierte die Verfassung von Bologna (1796) den Bürgern ein gleiches Recht zur Mitwirkung an der Gesetzgebung, der Ernennung der Volksrepräsentanten und der öffentlichen Beamten (art. XX). In jeder Parochialgemeinde wählten „Comizj Generali“ regionale Wahlmänner der „Comizj Elettorali“. In der Römischen Republik (1798) sollten Konsulen und Tribunen sogar in direkter und allgemeiner Wahl gewählt, in der italienischen Republik Mailands drei Wahlkollegien der Wohlhabenden, der Gelehrten und Gewerbetreibenden gebildet werden (1802). Das erste piemontesische Wahlgesetz von 1848 knüpfte das Wahlrecht an Staatsbürgerschaft, männliches Geschlecht, Mindestalter von 25 Jahren, Alphabetisierung und einen Zensus von 40 Lire. Gewählt wurde nach Mehrheitswahlrecht in 204 Einerwahlkreisen. Wenn im ersten Wahlgang kein Kandidat die Stimmen von einem Drittel der Wahlberechtigten und mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigte, kam es zu einer Zweierstichwahl.16
2. Wahlreformen im Königreich und unter dem Faschismus Nach der Bildung des Königreichs Italien wurden die Kollegien vermehrt, aber Forderungen einer Verhältniswahl abgelehnt.17 Der Papst dekretierte eine Pflicht zur Wahlenthaltung („non expedit“). Unter Depretis wurde 1882 das Wahlalter auf 21 herabgesetzt, der Zensus halbiert und davon befreit, wer Schulbildung hatte oder im öffentlichen Dienst stand, was die Zahl der Wahlberechtigten mehr als verdreifachte. In 135 Wahlkreisen mit 2–5 Sitzen wurde eine Listenwahl mit entsprechenden Präferenzstimmen eingeführt, bei der im ersten Wahlgang Sitze mit relativer Mehrheit erhielt, wer von mindestens 1/8 der Wahlberechtigten Stimmen erhielt, und eine Stichwahl unter den Kandidaten mit den höchsten Stimmenzahlen in der doppelten Zahl der verbliebenen Sitze stattfinden konnte. Da hierdurch keine stabilen Regierungsmehrheiten zustande kamen, kehrte man 1891 wieder zu den Einerwahlkreisen zurück und erhöhte das im ersten Wahlgang erforderliche Quorum auf 1/6. Vor allem in Süditalien nahm darauf hin die Zahl der Wahlkreise stark zu, in denen sich nur ein Kandidat zur Wahl stellte. Katholische Kandidaten konnten nun vom „non expedit“ dispensiert werden (1904) und organisierten sich in der Unione elettorale cattolica (1906). Lodovico Mortara pochte als einer der ersten Richter auf eine Anerkennung des Wahlrechts als subjektives politisches Recht (Art. 24 des Albertinischen Statuts) ohne Unterscheidungen nach dem Geschlecht (1906), aber nach der herrschenden Lehre (Orlando, Santi Romano) galt es nur als ein Recht auf Ausübung 16 Eine Wahl im ersten Wahlgang war in der Lombardei und anfänglich auch in Venetien und Nea pel vorgesehen. Der Wahlgesetzentwurf für die verfassunggebende Versammlung von 1848 sah allgemeines Wahlrecht ohne Zensus mit 21 Jahren vor. Hierzu und zur weiteren Entwicklung Piretti, Le elezioni politiche in Italia dal 1848 a oggi, 1996. 17 Luther, JöR 56 (2008), 244 f.
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einer staatlichen Funktion in Form einer Auslese der Besten.18 Unter der Regierung Giolitti wurde das Wahlrecht auch Bürgern, die den Wehrdienst geleistet hatten, und Analphabeten, die älter als 30 Jahre waren, zugestanden (1913). Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde dann die Alphabetisierung als Voraussetzung ganz aufgegeben (1918) und wie in anderen Ländern Europas auch ein Systemwechsel zur Verhältniswahl vorgenommen (1919). Italien wurde in 54 aus Provinzen gebildete Wahlkreise mit 5–20 Mandaten gegliedert, die nach dem d’Hondt-Verfahren auf die Listen und intern nach der Zahl der Präferenzen und Zusatzstimmen verteilt wurden. Die Wähler konnten nun durch Symbole gekennzeichnete Parteilisten ankreuzen und bis zu vier Stimmen an einen oder mehrere Kandidaten einer Liste oder alternativ 1–3 „Zusatzstimmen“ an Kandidaten anderer Listen geben, ein den Abschied vom Mehrheitswahlrecht erleichterndes Panaschieren. Anlässlich der Wahlen von 1921 wurden die Wahlkreise neu geordnet. Es gewann eine von Giolitti geführte Allianz der „blocchi nazionali“, die Liberale und Demokraten mit neuen rechten Parteien, unter ihnen die „Fasci italiani di combattimento“, verband. Als sein Versuch scheiterte, per Notverordnung zum Mehrheitswahlrecht zurückzukehren, verweigerte der König die von der Regierung Facta beantragte Verhängung des Notstandes zur Abwehr des Marsches auf Rom und ernannte Mussolini zum Ministerpräsidenten. Das neue nach dem Abgeordneten Acerba benannte Gesetz von 1923 fasste die Wahlkreise in einem einzigen nationalen Wahlkollegium mit sechs Bezirken zusammen und gab jedem Wähler drei Stimmen. Der Liste, die die relative Mehrheit der Stimmen und mindestens 25 % aller Stimmen auf sich vereinigte, wurde eine 2/3-Mehrheit der 535 Sitze garantiert, die restlichen Sitze wurden nach dem HareVerfahren verteilt.19 Diese Mehrheitsprämie und eine von Gewalt begleitete Wahlpropaganda erleichterten 1924 den Wahlerfolg der Liste Mussolini, die den Partito Nazionale Fascista mit Liberalen und verschiedenen kleineren Parteien verband. Der Abgeordnete Matteotti, der die Gültigkeit der Wahlen im Parlament bestritt, wurde ermordet, alle Parteien bis auf die PNF verboten und dem Gran Consiglio del Fascismo die Aufstellung der Kandidatenliste aus Vorschlägen der Berufsstände übertragen, die die auf Mitglieder berufsständischer Körperschaften, Staatsbedienstete und Steuerzahler beschränkte Wählerschaft 1929 und 1934 nur annehmen oder ablehnen konnte. Seit 1939 wurde auf die Wahlen der neuen „Camera dei fasci e delle corporazioni“ ganz verzichtet. Auch die verfassunggebende Versammlung der Sozialen Republik von Salò sollte nicht aus einer Direktwahl, sondern aus den Generalständen der Gewerkschaften, Provinzen, Kombattanten, Auslandsitaliener etc. gebildet werden. Die in den Komitees der nationalen Befreiung (CLN) geeinten Widerstandskräfte hielten nach Kriegsende ein Referendum zur Staatsform und den Übergang zur Verhältnismäßigkeitswahl für den besten Weg, in der verfassunggebenden Versammlung die Volkssouveränität zu verwirklichen und die politischen Leidenschaften auf das Spiel der Parteien zu richten.
Armanno, Personale uguale libero e segreto, 2018, 62 ff. m.w.N. Mussolinis nationaler Mehrparteienblock erhielt 64,9 % der Stimmen.
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III. Die elastische Verfassung der Volkssouveränität Die Verfassung von 1947 definierte Italien vorab neu durch die Grundprinzipien einer auf Arbeit gegründeten Republik und Demokratie und versuchte eine neue Formel der Volkssouveränität als unverzichtbares politisches Kollektivrecht: „Die Souveränität gehört (appartiene) dem Volk, das sie in den Formen und Grenzen der Verfassung ausübt.“ Sie sollte nicht vom Volke „ausgehen“ (emanare), damit „keine Gruppe und niemand mit ihr belehnt werde, sie an sich reiße und vom Volke absondere.“20 Als Formen der Ausübung der Souveränität galten nicht nur Wahlen und Abstimmungen, sondern auch die sonstige Teilnahme an der Ausübung gesellschaftlicher und staatlicher Macht.21 In der verfassunggebenden Versammlung wurde ein verfassungsrechtlicher Rahmen des Wahlrechts erarbeitet, die Wahl des Wahlsystems aber dem Gesetzgeber freigestellt.22 Das Kapitel „Politische Beziehungen“ des Grundrechteteils garantiert die Persönlichkeit, Gleichheit, Freiheit und Geheimhaltung der Wahl, führt eine das „non expedit“ überwindende bürgerliche, nicht notwendig erzwingbare Wahlpflicht ein und regelt mögliche Beschränkungen des subjektiven Wahlrechts (Art. 48 Verf.).23 Es folgt das Recht der Bürger, sich frei in Parteien zu vereinigen, um in demokratischer Methode an der Bestimmung der nationalen Politik mitzuwirken (Art. 49 Verf.), eine Formel, die die umstrittene Frage einer erzwingbaren Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie offen zu lassen scheint. Ihm schließt sich das zahnlose Petitionsrecht an (Art. 50 Verf.). Das Recht zur Wahl und zur Kandidatur (Art. 51 Verf.) wurde erstmals explizit beiden Geschlechtern garantiert. Die Abgeordneten haben das Recht, über die zur Ausübung der öffentlichen Funktionen nötige Zeit zu verfügen und ihren Arbeitsplatz beizubehalten (Art. 51 Verf.), und zudem als „Bürger, denen öffentliche Funktionen anvertraut sind, (…) die Pflicht, sie mit Disziplin und Ehre zu erfüllen und in den durch das Gesetz bestimmten Fällen einen Eid zu leisten“ (Art. 54 Verf.). Im zweiten Teil der Verfassung wurde die Allgemeinheit und Unmittelbarkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus zunächst in einem Verhältnis von einem Abgeordneten auf mindestens 40.000 und höchstens 80.000 Einwohner garantiert (Art. 56 Verf.). Der Senat sollte dagegen „auf regionaler Basis“ gewählt werden, wobei jede Region mindestens sechs, das Aostatal einen Senator hatten und ansonsten ein Senator auf mindestens 100.000 und höchstens 200.000 Stimmen entfiel (Art. 57 Verf.). Abgeordnete und Senatswähler sollten mindestens 25, Senatoren mindestens 40 Jah Ruini, 22.3.1947, Atti della Costituente I, 576. Crisafulli, La sovranità popolare nella Costituizone italiana, Studi sulla Costituzione 1958, 127 ff. 22 Bettinelli, All’origine della democrazia dei partiti. La formazione del nuovo ordinamento elettorale nel periodo costituente (1944–1948), 1982; Luciani, Il voto e la democrazia, 1991, 21 ff.; ders., Riforme elettorali e disegno costituzionale, in: Luciani/Volpi (Hrsg.), Riforme elettorali, 1995, 97. Zuletzt grundlegend Trucco, Democrazie elettorali e stato costituzionale, 2011. 23 „Wahlberechtigt sind alle Staatsbürger, Männer und Frauen, die volljährig sind. Die Wählerstimme ist persönlich und gleich; frei und geheim. Ihre Abgabe ist Bürgerpflicht. Das Wahlrecht kann nur im Falle bürgerlicher Handlungsunfähigkeit oder durch ein unwiderrufliches Strafurteil oder in gesetzlich geregelten Fällen moralischer Unwürdigkeit eingeschränkt werden“. Die hier vorgeschlagenen Übersetzungen weichen von den halb-amtlichen der Abgeordnetenkammer und der Provinz Südtirol ab. 20 21
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re alt sein (Art. 56, 58 Verf.). Fälle der Nichtwählbarkeit und der Unvereinbarkeit eines Abgeordneten-, Senatoren- oder Regionalratsamtes wurden gesetzlich geregelt (Art. 65, 122 Verf.) und die Wahlprüfung sollte jeder Kammer vorbehalten bleiben (Art. 66 Verf.). Sämtliche Wahlgesetze, auch die staatliche Regelung des Kommunal(Art. 117 Abs. 2 let. p Verf.) und Regionalwahlsystems (Art. 122 Verf., ab 2001 nur noch durch Rahmengesetz), stehen unter Plenarvorbehalt und können nicht im Ausschuss beschlossen werden (Art. 72 Verf.). Die verfassunggebende Versammlung handelte auch die ersten Wahlgesetze für ein gleichgewichtiges Zweikammersystem mit jeweils unterschiedlichem Wahlmodus aus. Die in einem Grundsatzbeschluss schon Ende 1946 favorisierte Verhältniswahl für das Abgeordnetenhaus ersetzte die nationalen durch regionale Wahlkreise und gewährte bis zu 4 Präferenzstimmen. Für den Senat hatten die linken Parteien zunächst Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen durchgesetzt, akzeptierten dann aber den Vermittlungsvorschlag von Giuseppe Dossetti, nur Mehrheiten ab 65 % mit Direktmandaten zu prämieren und die restlichen Sitze nach Proporz zu verteilen. 1952 beschloss die Regierungsmehrheit eine erste Korrektur des Wahlgesetzes, um die Regierungsstabilität zu stärken. 385 der nunmehr 590 Mandate des Abgeordnetenhauses sollten als „Mehrheitsprämie“ an den Listenverbund gehen, der 50,1 % der Stimmen erhielt, die restlichen 205 Sitze sollten nach Proporz verteilt werden. Die linken Parteien brandmarkten dies als „legge truffa“ (gesetzlicher Betrug) und ein Teil der Lehre vertrat nun die Auffassung, das Mehrheitswahlsystem widerspreche dem Demokratieprinzip und dem materiellen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 Verf., weil es die Regierungsparteien bevorzuge und sozial Schwächere benachteilige.24 Die Democrazia Cristiana erreichte nur 49,8 % der Stimmen, worauf diese Mehrheitsprämie wieder abgeschafft wurde. Der Verfassungsgerichtshof entschied darauf hin zum Kommunalwahlgesetz, die Gleichheit der Wahl garantiere zwar, dass jede Stimme „potentiell und mit gleicher Wirksamkeit einfließt“, die Offenheit des Wahlsystems verwehre es aber, sie „auf das konkrete Ergebnis der Willensäußerung des Wählers“ zu beziehen.25 Auch die Verbote exzessiver Wahlpropaganda im Gesetz Nr. 212/1956 hielt er für erforderlich, um das „demokratische Leben“ nicht durch „Situationen wirtschaftlicher Benachteiligung oder politischer Minderheiten“ zu behindern.26 Unter den ersten Mitte-links-Koalitionsregierungen wurden 1963 die Wahlen der beiden Kammern synchronisiert und die Mandatszahlen in der Verfassung festgeschrieben. Die Kommunistische Partei wurde von jeder Regierungsbeteiligung ferngehalten. Erst in den siebziger Jahren unterstützten die Kommunisten erstmals eine Regierung der nationalen Einheit im Kampf gegen den damaligen Terrorismus, nachdem die ersten Volksreferenden die Scheidungs- und Abtreibungsreformen bestätigten und der skandalgeschwächte Präsident Gronchi (DC) durch Sandro Pertini (PSI) abgelöst wurde. In den Reformdebatten der achtziger Jahre wurde nicht nur für eine Präsidentialisierung, sondern auch für eine Stärkung der Exekutive durch Lavagna, Il sistema elettorale nella Costituzione italiana, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1952, 849 ff. 25 Urteile 43/1961, 6/1963. 26 Urteil 48/1964. 24
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Wahlreformen gestritten. Dabei geriet die ohne Sperrklauseln und schriftliche Koalitionsverträge auskommende Proporzkultur in den Verdacht, die Koalitionsbildung unter immer mehr Parteien zunehmend zu erschweren, zu verteuern und der Wählerentscheidung zu entziehen. Nach 1989 wurde das Parteiensystem durch zahlreiche Strafverfahren wegen Korruption und krimineller Parteienfinanzierung (tangentopoli) erschüttert, die zu einer Reform der Immunitäten (Art. 68 Verf.) und neuen Kandidaturverboten bei rechtskräftigen Strafurteilen führte (zuletzt Gesetz Nr. 190/2012 -„Severino“27). Das Verfassungsgericht ließ einige Wahlrechtsreferenden zu, die 1991 erst die Präferenzstimmen in den Abgeordnetenhauswahlen auf eine reduzierten und 1993 die praktisch nur noch von der Südtiroler Volkspartei erreichte 65 %-Schwelle für die Erringung von Direktmandaten in den 238 Einerwahlkreisen des Senats auf hoben.28 Das Volk schien durch die Wahlreferenden eine zweite Republik zu wollen und das Parlament führte ein zu 3/4 nach Mehrheitswahl, zu 1/4 nach Verhältniswahl gemischtes Wahlsystem für beide Kammern ein (sog. „Mattarellum“). Einige Details und Auswirkungen des Kompromisses waren von Anfang an umstritten. Eine Klage der Südtiroler Volkspartei gegen die neue 4 %-Sperrklausel für die 155 im Proporz zu vergebenden Abgeordnetensitze wurde als unzulässig abgewiesen, weil der Schutz der Sprachminderheiten nicht notwendig durch eine Freistellung von ihr, sondern auch im Rahmen der Mehrheitswahl gewährleistet werden und das Verfassungsgericht nicht das gesetzgeberische Ermessen auf heben könne.29 Die neue Direktwahl der Bürgermeister (mit Stichwahl ab 15.000 Einwohnern), deren Wahlliste 60 % der Gemeinderatssitze erhielt (1993), und die Regionalwahlreform (Gesetz Nr. 43/1995 „Tartarellum“), die 80 % der Sitze über den Proporz verteilte und mit 20 % die stärkste der vom Kandidaten für den Regionalgouverneur geführten (Koalitions-)Listen („listino“) prämierte, förderten die Personalisierung der Politik und eine Tendenz zur Präsidentialisierung der Regierungsform auch auf nationaler Ebene. Weitere Wahlrechtsreferenden gegen den verbleibenden Proporz, die kleinere Parteien begünstigende Stimmabzugsregel,30 Koalitionsprämien und Mehrfachkandidaturen und gegen die Beschränkung der Bürgermeisterstichwahl auf kleine Gemeinden waren teils unzulässig, teils erfolglos.31 Die Verfassungsreform von 1999 führte erstmals zur Bildung eines Auslandswahlkreises. Die Verfassungsreform von 2001 garantierte dabei eine den Inländern verwehrte Briefwahl für 12 von 630 Abgeordneten und für 6 von 315 Senatoren.32 Den Regionen wurde nun gestattet, von dem staatlichen Wahlgesetz abweichende regio27 Die Beschwerde von Silvio Berlusconi zu dem EGMR-Urteil hiergegen wurde nach Ablauf des Verbots zurückgenommen. 28 Urteile 47/1991, 32/1993. 29 Urteil 438/1993. Vgl. auch die Entscheidung der EMRK-Kommission vom 15.4.1996 in Magnago und Südtiroler Volkspartei v. Italia (25035/94) und Peterlini, Minderheitenschutz und Wahlsysteme, 2012, 167 ff. 30 Nach dem sog. „scorporo“ (Herausrechnung) wurde bei der Verteilung der restlichen Sitze für jedes direkt gewählte Mandat einer Partei die Zahl der Stimmen des Zweitplatzierten, mindestens jedoch 25 % der Wahlkreisstimmen von ihrer Gesamtstimmenzahl abgezogen. 31 Urteile 26, 33/1993, 5, 18/1995, 26/1997, 13/1999, 33/2000, 15, 16. 17/2008. 32 Zur Verfassungswidrigkeit des durch das Rosatellum aufgehobenen Verbotes für Inländer, im Auslandswahlkreis zu kandidieren, vgl. Grosso, Riflessioni a prima lettura sulla nuova legge in materia
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nale Gesetze zu erlassen, wovon jedoch nur wenige verfassungsfehlerfreien Gebrauch machten.33 Nachdem der Verfassungsgerichtshof schon 1995 eine Quotenregelung der Kommunalwahlrechtsreform für unvereinbar mit der strengen formellen Wahlrechtsgleichheit erklärt hatte,34 schrieben die Verfassungsreformen von 2001 und 2003 den regionalen (Art. 117 Abs. 7 Verf.) und dem nationalen Wahlgesetzgeber vor, ein „Gleichgewicht in der Repräsentation der Geschlechter“ (VerfG Nr. 2/2001) bzw. „durch besondere Maßnahmen die Chancengleichheit von Frauen und Männern“ (Art. 51) zu fördern.35 Ein Wahlgesetz der Region Kalabrien fand 2009 schließlich eine vom Verfassungsgerichtshof gebilligte Lösung: „Der Wähler kann in den dazu bestimmten Spalten des Wahlzettels eine oder zwei Präferenzstimmen ausdrücken, indem er den Nachnamen oder den Vor- und Nachnamen der beiden Kandidaten derselben Liste aufschreibt. Wenn zwei Präferenzen abgegeben werden, muss eine einen männlichen Kandidaten, die andere eine weibliche Kandidatin derselben Liste betreffen, andernfalls wird die zweite Präferenz annulliert.“36
Die Geschichte der Wahlreformen der neunziger Jahre war zunächst eine Erfolgsgeschichte.37 Sie erleichterten Regierungswechsel per Wahlen, beschleunigten die Erneuerung der Parteienlandschaft und erhöhten die Regierungsdauer. Ein Koalitionswechsel (sog. ribaltone) wurde rechtlich auf kommunaler und regionaler, faktisch auch auf nationaler Ebene erschwert. Die Bipolarisierung der sich vollständig erneuernden Parteienlandschaft hielt jedoch nicht lange an. Bürgermeister und Regionalpräsidenten verlangten mehr Dezentralisierung, und die Wahl des Staatspräsidenten im Parlament wurde schwieriger. Die unterschiedlichen Wahlsysteme für beide Kammern belasteten den Bikameralismus, und die Verfassungsreformversprechen der neuen, rascher wechselnden Regierungsmehrheiten spornten weitere Wahlreformversuche an.
IV. Verfassungsgerichtliche Zügel 1. Verfassungswidrigkeit des „Porcellum“ (Urteil 1/2014) Das vom Minister Roberto Calderoli (Lega Nord) vorgeschlagene und in der Öffentlichkeit als „Porcellum“38 kritisierte Gesetz Nr. 270/2005 teilte die 618 Sitze der ersten Kammer auf 26 Wahlbezirke (Regionen oder verbundene Provinzen) und die di voto dei cittadini all‘estero, http://www.forumcostituzionale.it/wordpress/wp-content/uploads/ pre_2006/641.pdf, zuletzt abgerufen am 21.01.2019. 33 Zur Verfassungsrechtsprechung Urteile 196/2003, 2, 372, 378, 379/2004, 2, 12/2006. Zu den Reformen Raveraira, Le leggi elettorali regionali, 2009; Floridia/Sciola, Il „federalismo elettorale“ dieci anni dopo: il gioco vale la candela?, Le Regioni 2015, 643 ff. 34 Urteil 422/1995 betr. Art. 5 Gesetz Nr. 81/1993, wonach in den Listen kein Geschlecht durch mehr als drei Viertel der Ratsmandate repräsentiert werden durfte. 35 Urteile 49/2003, 39/2005, 4/2010. 36 Urteil Nr. 4/2010. 37 Vgl. D’Alimonte/Fusaro, La legislazione italiana, 2008. 38 Sartori, Il „porcellum“ da eliminare, Corriere della Sera, 1.11.2006.
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309 Senatorensitze auf 20 Regionalwahlbezirke auf, um ein durch Mehrheitsprä mien und Sperrklauseln stark korrigiertes Verhältniswahlsystem mit blockierten Listen ohne Präferenzstimmen zu etablieren. Die Mehrheitsprämie bestand im Abgeordnetenhaus in 340 der 630 Sitze (55 %) und ging an die Liste oder die als Regierungskoalition kandidierende Listenverbindung, die die meisten Stimmen erhielt. Für den Senat wurden dem Rat des Staatspräsidenten Ciampi folgend regionale Mehrheitsprämien gebildet, mit Sonderregelungen für Trient-Südtirol (sechs Senatoren nach Mehrheits- und ein Senator nach Proporzwahl) und das Aostatal (nur ein Senator nach Mehrheitswahl). An der Sitzverteilung nahmen Koalitionen teil, wenn sie 10 % auf nationaler Ebene in der ersten und 20 % auf regionaler Ebene in der zweiten Kammer erhielten. An der Sitzverteilung nahmen nur Parteien teil, die ohne Koalition 4 % in der ersten oder 8 % in der zweiten Kammer oder in einer Koalition mindestens 2 % bzw. 3 % erhielten (oder im Abgeordnetenhaus als „beste Verlierer“ diese Schwelle verfehlten). Von der Sperrklausel für das Abgeordnetenhaus ausgenommen waren Parteien anerkannter Sprachminderheiten, die in einem Wahlkreis mindestens 20 % der Stimmen erhielten. Nachdem die Mitte-rechts-Koalition 2006 ihre auf das Mattarellum gestützte Mehrheit im Abgeordnetenhaus verloren hatte, erreichte die Mitte-links-Koalition mit dem neuen Gesetz eine letztlich nur durch die Senatoren auf Lebenszeit gesicherte schwache Mehrheit im Senat. 2008 erhielt die Mitte-rechts-Koalition eine klare Mehrheit in beiden Kammern, musste aber 2012 der Regierung Monti mit parteilosen Ministern weichen. 2013 erhielt die Mitte-links-Koalition mit nur knapp 25 % der Stimmen die Mehrheitsprämie im Abgeordnetenhaus, aber keine Mehrheit im Senat und musste die Regierungen Letta, Renzi und Gentiloni mit Teilen der Mitte-rechts-Koalition – gegen die Opposition der Lega und der neuen Fünfsternebewegung (M5S) – bilden. Nachdem der EGMR 2012 eine Klage gegen die Mehrheitsprämie und die blockierten Listen für unzulässig erklärt hatte,39 brachte schließlich der Sohn des „Verfassungsvaters“ Aldo Bozzi vor dem Zivilgericht Mailand eine Klage ein, mit der er beantragte festzustellen, bei den vergangenen Wahlen sei sein subjektives Verfassungsrecht auf gleiche und freie Wahl durch die Anwendung des verfassungswidrigen Wahlgesetzes verletzt worden. Die Zivilgerichte hielten die Klage für zulässig, aber unbegründet und verweigerten eine Vorlage an den Verfassungsgerichthof wegen „offenkundiger“ Unbegründetheit der Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit. Die Vorlage wurde schließlich vom Plenum des Kassationsgerichtshofs beschlossen, das die Zweifel für begründet hielt. Der Verfassungsgerichtshof hielt die Frage der Zulässigkeit der Feststellungsklage für nicht offensichtlich fehlerhaft beurteilt und erklärte die Wahlgesetze zu beiden Kammern für verfassungswidrig, soweit sie Mehrheitsprämien bei der Sitzverteilung vorsahen und dem Wähler nicht gestatteten, eine Präferenz unter den Kandidaten auszudrücken.40 Die Urteilsbegründung präzisiert den Grundsatz der Wahlgleichheit dahingehend, dass die Verfassung kein Modell des Wahlsystems beinhalte, das Gestaltungsermessen des Gesetzgebers jedoch der Normenkontrolle und dem Verbot „offenkundiger Un Saccomanno et al. v. Italia, 11583/08. Urteil 1/2014.
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vernunft“ (irragionevolezza) unterliege, bei der „dieser Gerichtshof wie auch andere europäische Verfassungsgerichte“ und der EUGH einen „Test der Verhältnismäßigkeit“ vornehme. Wie schon in früheren „obiter dicta“ angedeutet,41 halte die Gewährung einer Mehrheitsprämie „ohne ein vorgeschriebenes Minimum an Stimmen oder Sitzen“ dem Test nicht stand. Das legitime Ziel, die Bildung einer angemessenen Regierungsmehrheit zu erleichtern, die Regierungsstabilität zu erhöhen und politische Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, legitimiere zwar weitere, den Sperrklauseln hinzugefügte Korrektive der Verhältniswahl. Ohne jegliches Quorum zerstöre aber ein Mechanismus, der jede auch noch so geringe relative Stimmenmehrheit in eine absolute Mehrheit der Sitze verwandele, „die Ratio der vom Gesetzgeber 2005 gewählten Wahlformel, die Repräsentativität der parlamentarischen Versammlung zu sichern.“ Die Repräsentativität des Parlaments, das anders als die Regional- und Kommunalräte die Nation repräsentiert (Art. 67) und ggf. mit Zwei drittelmehrheit und ohne Referendum die Verfassung ändern kann (Art. 132), dürfe nicht übermäßig geopfert werden. Auch in anderen „der italienischen Verfassung vergleichbaren Verfassungsordnungen“, in denen die Wahlsystemformel nicht in der Verfassung festgelegt sei, „hat das Verfassungsgericht längst ausdrücklich anerkannt, dass der Gesetzgeber, der auch nur teilweise die Verhältniswahl einführt, damit im Wähler die legitime Erwartung weckt, dass er kein Ungleichgewicht in den Wirkungen der Stimmabgabe, d.h. keine gleichheitswidrige Bewertung des „Gewichts“ der Stimme im Wahlausgang bewirkt, soweit es nicht erforderlich ist, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu vermeiden (BVerfGE, Urteil Nr. 3/11 vom 25.7.2012; vgl. schon Urteile Nr. 197 vom 22.5.1979 und Nr. 1 vom 5.4.1952).“
Derselbe Test führe auch zur Verfassungswidrigkeit der regionalisierten Mehrheitsprämien im Senat, wobei es schon an der Eignung des Mittels zur Zweckerreichung fehle, zumal selbst bei vergleichbarer Gesamtstimmenzahl die Kombination der Prämien eine von der Abgeordnetenkammer abweichende Mehrheit herstellen könne. Die Parteien dienten letztlich nur der Ermöglichung und Erleichterung der Teilnahme der Bürger am politischen Leben (Art. 49 Verf.). Deren schon im Kommunalwahlrecht42 betonte Freiheit, sowohl Gruppen als auch durch die Präferenzstimme Kandidatenpersönlichkeiten zu wählen, werde durch das Verbot der Präferenzstimmen übermäßig geopfert, weil bei blockierten Listen die Auswahl der Personen dem Wähler völlig entzogen und den Parteien zugewiesen werde. Wenn der Wähler nur eine lange Liste von ihm unbekannten und nicht beurteilbaren, teils in mehreren Wahlkreisen antretenden Personen ankreuzen könne, sei seine Unterwerfung unter die Personalentscheidungen der Parteien allenfalls für einen Teil der zu vergebenden Sitze oder für Wahlkreise hinzunehmen, in denen „die Wahl der zu wählenden Kandidaten derart begrenzt ist, dass ihre effektive Kennbarkeit (conoscibilità) und damit die effektive Wahlfreiheit (ebenso gut wie bei Einmannwahlkreisen) gewährleistet ist.“ Das Gesetz habe „für die Gesamtheit der Parlamentarier das Repräsentationsverhältnis zwischen Wählern und Gewählten“ umgeworfen und verletze die Wahlfreiheit als Ausfluss auch der Volkssouveränität. 41
Urteile 15, 16/2008, 13/2012. Urteil 203/1975.
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2. Verfassungswidrigkeit des „Italicum“ (Urteil 35/2017) Die nach beiden Teilverfassungswidrigerklärungen übrig gebliebenen Wahlgesetze bereiteten auch ohne gesetzliche Korrekturen keine unlösbaren Anwendungsprobleme, aber das nach wie vor rechtsgültig konstituierte Parlament durfte das aus dem Urteil sich ergebende „Consultellum“ abändern und ersetzen. Das Gesetz Nr. 52/2015 (sog. „Italicum“) tat dies nur für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, weil die Regierungsmehrheit damals noch hoffte, durch eine Verfassungsreform den Senat nur noch indirekt wählen zu lassen und seine Befugnisse zu beschneiden. Die Mehrheitsprämie von 340 Sitzen sollte nur einer Liste gewährt werden, die mindestens 40 % der abgegebenen gültigen Stimmen erreichte, andernfalls sollte eine Stichwahl zwischen den beiden Listen mit den jeweils meisten Stimmen über die Mehrheitsprämie entscheiden. Um Abstimmungen über Änderungsvorschläge der Opposition zu vermeiden, hatte die Regierung eine Vertrauensfrage mit der Vorlage der Wahlreform verbunden und vorweg eine Präambel mit umstrittenen Reformprinzipien eingeflochten. Auch die Ablehnung der Verfassungsreform durch das Volk hatte das Italicum nicht erledigt. Noch bevor das Gesetz jedoch zur Anwendung kommen konnte, entschied der Verfassungsgerichthof mit Urteil Nr. 35/2017, die Regelung der Stichwahl sei ebenso verfassungswidrig wie eine Norm, die einem in mehreren Wahlkollegien gewählten Kandidaten gestatte, binnen 8 Tagen dem Präsidium des Abgeordnetenhauses gegenüber zu erklären, welchen Wahlkreis er vertreten wolle. Die Einwände der Regierung und Kritiken der Lehre, das Rechtsschutzinteresse im Hauptverfahren bestehe nur in der Einleitung einer präventiven Normenkontrolle und lasse den Filter der Entscheidungserheblichkeit leerlaufen, wurden mit der Begründung zurückgewiesen, im Hauptverfahren ginge es um die Feststellung der Reichweite und Schutzbedürftigkeit des „unverletzlichen Wahlrechts“, das eine „entscheidende Funktion“ in der Verfassungsordnung habe und dessen Rechtsschutz sich nicht im Wahlprüfungsverfahren gem. Art. 66 Verf. in seiner derzeitig praktizierten Form erschöpfe.43 Das Verfassungsgericht entschied, die nur bei Erreichen eines Mindestquorums von 40 % der Stimmen wirksame Mehrheitsprämie sei auch im Kontext der 3 % Sperrklausel verfassungskonform, die jedenfalls einer Fragmentierung der Opposition entgegenwirke und auch sie gegen die prämierte Mehrheit stärke. Die Zweifel an der Gewährung der Prämie auch an Koalitionen, deren Bestand nicht gewährleistet werden könne, seien damit freilich nicht ausgeräumt. Die Stichwahl des Italicum versuche zwar – jedenfalls in einer Kammer – die Regierungsstabilität zu gewährleisten, verlange jedoch unverhältnismäßige Opfer der Repräsentativität des Parlaments und der Gleichheit der Wahl. Anders als bei den Stichwahlen in Frankreich gehe es nicht um die Repräsentation in Einerwahlkreisen nach Mehrheitswahlrecht, sondern darum, auch bei Nichterreichen der Schwelle von 40 % den Kampf um die Mehrheitsprämie unter Bedingungen fortzusetzen, die eine „radikale Reduzierung des politischen Angebots“ auf zwei Listen bedeuteten. Das Urteil spielt insofern auch auf 43 Das Parlament entscheidet zwar wie ein Richter über die Wahlprüfung, hat aber Fragen der Verfassungswidrigkeit der eigenen Wahlgesetze nie dem Verfassungsgericht vorlegt. Vgl. Luther, Giustizia elettorale sarà fatta?, in: E. Catelani et al. (Hrsg.), La giustizia elettorale, 2013, 399 ff.
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die Stichwahl in Frankreich an, zu der bis zu drei Kandidaten zugelassen sind, die mindestens 17,5 % der Stimmen erhalten haben. Die Stichwahl des Italicum sei auch nicht mit den Bürgermeisterstichwahlen zu vergleichen, da nicht die Exekutive, sondern die Legislative direkt gewählt werde. Damit seien Stichwahlen nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber die zur Wahrung der Repräsentativität des Parlaments und der Wahlgleichheit erforderlichen Korrektive habe nicht das Verfassungsgericht zu entscheiden. Einige Kritiker meinten, das Gericht habe letztlich nur einen Wahlsieg der FünfSterne-Bewegung befürchtet.44 Die Begründung klingt in der Tat wie ein apodiktisches „So nicht“, aber die Kohärenz der Rechtsprechung ist doch jedenfalls größer als die des Gesetzgebers. Genauer besehen mutiert das Verhältniswahlrecht mit Mehrheitsprämie durch die Stichwahl zwischen den beiden meistgewählten Listen im Kontext eines nicht mehr bipolaren Mehrparteiensystem zu einem Mehrheitswahlrecht, bei dem die Mehrzahl der Parteien und der Wählerpräferenzen ausgeschlossen werden. Der Wähler wird im zweiten Wahlgang gezwungen, einer Einparteienherrschaft auf Zeit ohne jegliche Repräsentativitätsschwelle zuzustimmen. Er wird daran gehindert, ein Wahlergebnis herbeizuführen, das große Koalitionen auch zwischen bisher nicht dialogbereiten Parteien erzwingt. Dieser Freiheits- und Gleichheitsverlust geht wohl zu weit. Die weiteren Bedenken der vorlegenden Gerichte gegen die Regelungen des „Italicum“ teilte der Verfassungsgerichtshof nur in einem Punkt. Der Gesetzgeber hatte 100 Wahlbezirke gebildet, in denen dem Wähler nur kurze Listen vorgelegt wurden. Der auf dem Wahlzettel stehende Listenführer sollte stets als erster gewählter Kandidat gelten und nur für den Rest der Liste sollten die Präferenzstimmen der Wähler für einen oder zwei Kandidaten unterschiedlichen Geschlechts zur Geltung kommen. Dabei spielte auch eine Rolle, dass sich zuletzt die Regierungs- und Parteiführung in einer Person vereint hatte und letztere direkt gewählt worden war.45 In diesem die Listenführer von den Präferenzstimmen befreienden System verblieb den Präferenzen der Wähler jedoch nur dann genügend Gewicht, wenn die in mehreren Wahlkreisen siegreichen Listenführer nicht mit ihrer Entscheidung über den Wahlkreis, den sie vertreten wollen, die von den Wählern getroffenen Präferenzen zugunsten ihrer Getreuen bzw. Freunde durchkreuzen und entwerten konnten. Nicht mehr die Wähler entschieden über ihre Repräsentanten, sondern die mehrfach Gewählten entschieden, wer sie effektiv gewählt hatte. Das Urteil ließ zwar einen „Consultellum“ genannten Gesetzesrest bestehen, der ggf. auch direkte Anwendung hätte finden können, schloss aber mit einem Appell an den Gesetzgeber: „Der Verfassungsgerichthof kann nicht umhin hervorzuheben, dass der Ausgang des Referendums gem. Art. 138 Verf. vom 4.12.2016 die auf eine Parität der Stellung und Funktionen der beiden gewählten Kammern angelegte Verfassungsstruktur bestätigt hat. In diesem Kontext verlangt die Verfassung vom Gesetzgeber zwar nicht für beide Zweige des Parlaments identische Wahlsysteme, aber um das korrekte Funktionieren der parlamentarischen Regierungsreform nicht zu kompromittieren, sollten die gewählten Systeme trotz ihrer Unterschiede nach Wahlen nicht die Bildung homogener parlamentarischer Mehrheiten behindern.“ 44 Ferri, La Corte costituzionale e i sistemi elettorali dell Camere, in: ders. (Hrsg.), Corte costituzionale e leggi elettorali delle Camere, 2017, 36 ff. 45 Zu den Vorwahlen Gambino, Elezioni primarie e rappresentanza politica, 1995.
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V. Ist das „Rosatellum“ verfassungsmäßig? Das Parlament verabschiedete noch im selben Jahr nach einem ersten fehlgeschlagenen Versuch der Imitierung des deutschen Wahlrechts (sog. Tedeschellum46) mit dem Gesetz Nr. 165/2017 (sog. „Rosatellum“) eine erneute Wahlreform, der mit der Gesetzesverordnung Nr. 189/2017 eine Reform der Wahlkreise folgte. Es handelt sich um ein Mischsystem, das auf Stichwahl und Mehrheitsprämie ganz verzichtet, die Unterschiede zwischen beiden Kammern einzuebnen versucht und anders als im sog. „Mattarellum“ nicht mehr die Mehrheitswahl, sondern die Verhältniswahl überwiegen lässt. Zur Kammer werden 232 Abgeordnete (37 %) in Einerwahlkreisen, die restlichen 386 in 63 inländischen Listenwahlkreisen (collegi plurinominali) mit 3–8 Mandaten sowie 12 Abgeordnete in 4 ausländischen Wahlkreisen gewählt. Zum Senat werden 116 Mandate in Einerwahlkreisen, 193 in Listenwahlkreisen (2–8 Mandate) vergeben. Der Wähler hat zwei Wahlzettel mit jeweils zwei Stimmen, die er dem Direktwahlkandidaten und einer starren Liste von weiteren vier Kandidaten geben kann, die alleine oder in einem Listenverbund antreten. Die Stimme an den Direktwahlkandidaten wird der mit ihm verbundenen Liste bzw. dem Listenverbund im Verhältnis der den Listen von allen Wählern direkt gegebenen Stimmen zugerechnet und umgekehrt jede Listenstimme dem dazu gehörenden Kandidaten. Beide Geschlechter müssen sich in der Reihenfolge der Kandidaten abwechseln und mit mindestens 40 % der Direktkandidaten und Listenführern auf nationaler (Kammer) bzw. regionaler Ebene (Senat) vertreten sein.47 Die Listenverbindung muss mindestens 10 %, die koalierenden Listen müssen 3 % der Stimmen erhalten, um Mandate zu erringen. Ihnen werden die Stimmen aller Listen, die mehr als 1 % erhalten, anteilig zugerechnet. In der Region Trentino/Südtirol gibt es mehr Einerwahlkreise als Listenwahlkreise (6:5 in der ersten, 6:1 in der zweiten Kammer) und eine faktisch die SVP begünstigende besondere Sperrklausel, nach der Parteien von Sprachminderheiten mindestens 2 Direktmandate oder 20 % Listenstimmen in ihrer Region erringen müssen. Die von den Parteiführern genutzten Mehrfachkandidaturen werden auf fünf Wahlkreise beschränkt. Bei Mehrfacherfolgen gilt ein Kandidat im Einerwahlkreis oder dort als gewählt, wo er die wenigsten (!) Stimmen erhalten hat.48 Schon im Gesetzgebungsverfahren wurden nicht nur von der Fünf-Sterne-Bewegung verschiedene Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser und anderer Regelungen aufgeworfen.49 Die Verknüpfung der Stimme an den Direktwahlkandidaten mit der Listenstimme und das damit verbundene Verbot, die Zustimmung zur Person von der Zustimmung zur Partei zu trennen, gibt der Stimme ein doppeltes Gewicht, das im Mattarellum noch eine – nicht unumstrittene – Stimmenabzugsregelung („scorporo“) abgemildert hatte. Wenn ein Wähler nur eine verbundene Liste wählt, A.C. 2352. Der Frauenanteil stieg 2018 auf 227/630 in der ersten und 109/315 in der zweiten Kammer. 48 Kritisch Barbieri, L’ infinito riformismo elettorale tra aporie giuridiche e dilemmi costituzionali, federalismi.it. 1/2018, https://www.federalismi.it, zuletzt abgerufen am 21.01.2019. 49 Spadacini, Proposta di riforma elettorale all’attenzione del Senato: alcuni dubbi di illegittimità costituzionale, Nomos 3/2017, http://www.nomos-leattualitaneldiritto.it, zuletzt abgerufen am 21.01.2019; Apostoli, Il c.d. Rosatellum-bis. Alcune prime considerazioni, Osservatorio AIC 3/2017, http://www.osservatorioaic.it, zuletzt abgerufen am 21.01.2019. 46 47
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zählt seine Stimme auch dann für den mit der Koalition verbundenen Direktkandidaten, wenn er ihn nicht will. Wenn ein Wähler nur die Person und keine Liste in einer Listenverbindung ankreuzt, entscheiden die von den anderen Wählern den mit dem Direktkandidaten verbundenen Listen gegebenen Stimmen über die Aufteilung des Gewichts seiner gewissermaßen fingierten Zweitstimme, worunter die Grundsätze der Persönlichkeit und Unmittelbarkeit der Wahl leiden. Mit diesen nicht voraussehbaren anteiligen Zuwächsen der Stimmenzahlen der einzelnen Listen wiegt die Stimme des Wählers einer Koalitionsliste mehr als die des Wählers einer Einzelliste (M5S). Diese Zuwächse können ihr sogar die Sperrklausel überwinden helfen. Das Verbot des imperativen Mandats erlaubt diesen Listen dann, auch bei der Nichterfüllung des Koalitionsversprechens die errungenen Sitze zu behalten, sodass die Regel weder Regierungsstabilität garantiert, noch eine Zersplitterung des Parlaments verhindert. Der Mehrheit der Bürger waren diese Regeln jedenfalls bei den Wahlen 2018 nicht bekannt. Die kleinen Dimensionen der Listenwahlkreise gestatten zwar dem Wähler, sich ein persönliches Bild von den Kandidaten der kurzen Listen zu machen. Problematisch sind jedoch die Regeln der Verschiebungen (sog. „slittamenti“) der Listenstimmen über die nationale und regionale Ebene auf andere Wahlkreise, wenn in einem Wahlkreis mit 3–9 Mandaten eine Partei Stimmen für mehr Mandate erringt als von ihrer Liste (2–4) bedient werden können. Die Reststimmenverwertung in anderen Wahlkreisen wahrt zwar das Stimmengewicht auf nationaler Ebene, kann jedoch, wenn nicht auf Ausnahmen begrenzt, gegen die in Art. 56 (4) Verf 50 bestimmte Regel der gleichmäßigen Verteilung der Sitze auf die Wahlkreise verstoßen, den Erfolgswert der Stimmen zwischen den Wahlkreisen erheblich differenzieren und letztlich dazu führen, dass der Wähler mit seiner Stimme Kandidaten wählt, die zu kennen und zu beurteilen er nicht in der Lage ist.51 Der tatsächliche Umfang dieser Verschiebungen bei den Wahlen 2018 ist noch nicht ausreichend untersucht. Schließlich wird die Verfassungsmäßigkeit der nationalen Sperrklausel des Senats bezweifelt, der gem. Art. 57 Verf „auf regionaler Basis“ zu wählen ist, weshalb der Präsident Ciampi eine analoge Vorschrift im Entwurf des Mattarellum-Gesetzes beanstandet und das Parlament sie entsprechend geändert hatte. Wann die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Rosatellum geklärt werden können, ist noch nicht absehbar. Anträge der Fraktionsführer der Oppositionsparteien und einzelner Abgeordneter, noch vor den Wahlen durch organstreitähnliche Verfassungsstreitverfahren die Verbindung der Abstimmung über das Gesetz mit mehrfachen Vertrauensfragen in beiden Kammern für verfassungswidrig zu erklären, wurden ebenso wie der Antrag eines Wählers, den Ausschluss von Individualkandidaturen für verfassungswidrig zu erklären, wegen mangelnder Aktivlegitimation als unzulässig abgewiesen, da 50 „Die Verteilung der Sitze auf die Wahlkreise erfolgt – mit Ausnahme der dem Auslandswahlkreis zugeteilten Sitze – indem die sich aus der jeweils letzten allgemeinen Volkszählung ergebende Einwohnerzahl der Republik durch 618 geteilt wird und die Sitze im Verhältnis zur Bevölkerung jedes Wahlkreises nach ganzzahligen Quotienten und den höchsten Resten verteilt werden.“ Zur Verteilung der Senatssitze auf die Regionen vgl. Art. 57 (4) Verf. 51 Vgl. Verfassungsgerichtshof 35/2017: „umfangreiche Übertragungen von Sitzen von einem Wahlbezirk zum anderen würden in die Garantie der proportionalen Verteilung der Sitze im nationalen Wahlgebiet eingreifen.“
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im italienischen Verfassungsprozessrecht keine Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden vorgesehen sind und nach der Rechtsprechung der einzelne Wähler nicht das gesamte Wahlvolk vertreten kann.52 Der passionierteste Kritiker des Wahlgesetzes ist nun Leiter der Abteilung für institutionelle Reformen des Ministerratspräsidiums und hat eine Verfassungsreform angekündigt, die u.a. nach deutschem Modell eine Beschwerde zum Verfassungsgerichtshof gegen die Wahlprüfungsentscheidungen der Kammern und deren Verzögerung einführen soll. Eine Korrektur des Wahlgesetzes und eine Erleichterung seiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle sind dagegen nicht geplant, wären aber einfacher in der Mitte als zu Beginn oder gegen Ende der Legislaturperiode umzusetzen. Mit den Europa- und einigen Regional- und Kommunalwahlen werden vom Wahlvolk und den Parteivölkern 2019 neue Passionen erwartet. Ihre Leidenschaften tendieren zu eher kurzer, ihre Leiden zu längerer Dauer.
Verfassungsgerichtshof 280/2017; 168/2018. Ein Obiter dictum im Urteil 170/2018 zur Verfassungsmäßigkeit des in Art. 98 erlaubten Verbotes für Richter, Parteien anzugehören, fügte im Hinblick auf die Parteienklausel des Art. 49 hinzu: „kein Bürger, auch nicht ein Richter oder Staatsanwalt, kandidiert allein“, bei allen Wahlen bestehe immer eine Verbindung zu einer Partei. 52
Wählen außerhalb des Heimatlandes: Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme von
Prof. MMag. Dr. Christina Binder, E.MA (Neubiberg)* Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 II. Wählen außerhalb des Heimatlandes: Generelles zu OCV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Völker- und menschenrechtlicher Rahmen: das Recht auf politische Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Gibt es ein Recht auf Wählen außerhalb des Heimatlandes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Das Recht auf politische Teilhabe: inhaltliche Vorgaben für OCV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Formen des OCV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Einleitung und Wahlrechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Modalitäten von OCV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. Zusammenfassende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 III. Embassy Voting mit besonderem Fokus auf den Pflichten des Aufenthaltsstaates . . . . . . . . . . . . . 219 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Internationale Standards und Commitments im Wahlbereich betreffend Embassy Voting . . . . 220 3. Allgemeines Völkerrecht und Embassy Voting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 a) Die Wiener Konsularrechtskonvention (WKK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Sonstige völkerrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Ein mittelbarer Schutz für Embassy Voting? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 d) Grenzen der Pflichten des Empfangsstaates im Zusammenhang mit Embassy Voting . . . . . 229 4. Beurteilung des verhinderten Embassy Votings in der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 IV. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Die Autorin dankt Adam Drnorský, Mitarbeiter des Kongresses für Lokal- und Regionalautoritäten des Europarats und Verena Jackson, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für internationales Recht und internationalen Menschenrechtsschutz der Universität der Bundeswehr München, für die Unterstützung bei den Recherchen. *
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I. Einleitung In Zeiten der Globalisierung befinden sich immer mehr Personen außerhalb ihres Heimatlandes. Die Frage ihrer Teilnahme an Wahlen als Instrument der politischen Teilhabe im Aufenthalts- wie im Heimatland wird immer wichtiger. Dies vor allem angesichts der zentralen Bedeutung von Wahlen als Instrument und Möglichkeit der politischen Einflussnahme und Mitbestimmung. Neben der Teilnahme an Wahlen im Aufenthaltsstaat, die vor allem mit Blick auf die Teilnahme an lokalen Wahlen zur Förderung der besseren Integration diskutiert wird,1 stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit Personen außerhalb ihres Heimatlandes ein Recht auf Teilnahme (zumindest) an Wahlen auf nationaler Ebene in ihrem Herkunftsland zukommt bzw. zukommen soll. So ermöglicht eine immer größere Zahl von Staaten ihren im Ausland lebenden Bürgern die politische Teilhabe im Heimatland (sogenanntes „OCV/Out-Of-Country-Voting“). Die dabei üblichen Modalitäten sind unterschiedlich und reichen von der Briefwahl über die Stimmabgabe in ausländischen Vertretungsbehörden (Embassy Voting) zu eigens errichteten Wahllokalen (In-Person-Polling-Stations) im Aufenthaltsland. OCV verwirklicht solcherart das Recht von außerhalb ihres Landes lebenden Personen auf politische Teilhabe2 in ihrem Heimatland. OCV trägt auch den im Zeitalter der Globalisierung teils multiplen nationalen Zugehörigkeiten von Personen Rechnung und erleichtert die politische Einbindung einer in Diaspora außerhalb ihres Heimatlandes lebenden Bevölkerung.3 Gleichzeitig führt die zunehmende Praxis des OCV aber auch zu einer Reihe von Problemstellungen u.a. aus völker- und menschenrechtlicher Perspektive. Vor allem die besonders häufig praktizierte Form des Embassy Voting wirft Fragen auf. Hier wird bekanntlich an der (konsularischen bzw. diplomatischen) Vertretungsbehörde des Heimatlandes einer Person im Aufenthaltsstaat gewählt. Der Wahlakt wird insofern auf dem Territorium eines anderen Staates vollzogen. Deswegen greift Embassy Voting vergleichsweise weit in die Souveränität des Aufenthaltsstaates ein. Entsprechend kontroversiell zeigte sich Embassy Voting auch in jüngerer Praxis: so hinderten ukrainische Autoritäten russische Wähler im März 2018, in der Form von Embassy Voting an den russischen Präsidentschaftswahlen teilzunehmen.4 Dies führte zu entsprechenden diplomatischen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine. 1 Siehe etwa Congress of Local and Regional Authorities, Congress Recommendation and Resolution, Voting rights at local level as an element of successful long-term integration of migrants and IDPs in Europe’s municipalities and regions, CG/MON10(2018)12. 2 Zum Recht auf politische Teilhabe siehe insbes. Art. 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1. EMRK-ZProt). 3 Siehe für Details, Bauböck, Stakeholder Citizenship and Transitional Political Participation: A Normative Evaluation of External Voting, Fordham Law Review 75/5 (2007), 2393 ff. 4 Siehe RadioFreeEurope/RadioLiberty, Russians In Ukraine Blocked from Voting in Presidential Election, 18. März 2018, https://www.rferl.org/a/ukraine-russia-voting-blocking-security/29106771. html, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. Vgl. in dem Zusammenhang auch die Diskussion um die Abhaltung eines Referendums zur Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei und einer eventuellen Untersagungsmöglichkeit bzw. -pflicht für Deutschland bzw. Österreich. Für Details Gragl, Rechtsfra-
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Von besonderem Interesse für eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme des Wählens außerhalb des Heimatlandes ist vor diesem Hintergrund eine Analyse der Pflichten des Aufenthaltsstaates im Fall von Embassy Voting. Stehen doch das traditionelle Völkerrecht und die Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates im Spannungsfeld zum Recht auf politische Teilhabe des sich im Ausland befindenden Individuums. Geographisch wird – dem Anlassfall der ukrainisch-russischen Spannungen entsprechend – der Schwerpunkt auf den Europarat bzw. die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gelegt.5 Dementsprechend soll zunächst ein Überblick über OCV gegeben und generelle Fragestellungen – der anwendbare völkerrechtliche Rahmen und verschiedene Formen von OCV – erörtert werden (Teil II). Embassy Voting wird als besonders gebräuchliche, aber auch viele Fragen aufwerfende Wahlmodalität identifiziert. Insofern steht Embassy Voting in der Folge im Zentrum mit einem besonderen Fokus auf den Pflichten des Aufenthaltsstaates (Teil III). Eine wertende Zusammenschau schließt (Teil IV).
II. Wählen außerhalb des Heimatlandes: Generelles zu OCV Die Frage des Embassy Voting fügt sich in die vergleichsweise rezente Entwicklung, dass Staaten im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Teilnahme an Wahlen in ihrem Heimatland ermöglichen. Die Zahl der OCV praktizierenden Staaten hat vor allem in den letzten drei Jahrzehnten stark zugenommen.6 Weltweit ermöglichten 2013 etwa 129 Staaten die eine oder andere Form des Wählens außerhalb des Heimatlandes (OCV ); darunter 44 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates.7 Kurz, es gibt einen klaren Trend, nicht im Heimatland lebenden Bürgern das Wahlrecht zu gewähren.8
gen einer möglichen Untersagungspflicht für völkerrechtswidrige Referenden – Zum türkischen Todesstrafen-Referendum und der Rechtslage in Deutschland und Österreich, ZÖR 72 (2017), 673 ff. 5 Die Ukraine ist ebenso wie Russland unter den 47 Mitgliedstaaten des Europarats; beide Staaten sind auch unter den 57 am OSZE Prozess teilnehmenden Staaten. 6 Zwar gab es schon Anfang des 20. Jahrhunderts vereinzelt Staaten (z.B. Australien (1902)), die nicht im Land lebenden Bürgern ein Wahlrecht gewährten. Dies blieb allerdings die Ausnahme. Zudem war das Wahlrecht zumeist beschränkt auf Militär und Regierungsvertreter, die ins Ausland versetzt waren. Vgl. für Details Lappin, The Right to Vote for Non-Resident Citizens in Europe, ICLQ 65 (2016), 859 ff. 7 Vgl. EGMR (GC) v. 15. März 2012 – 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos/Griechenland, Abs. 32 ff.; vgl. auch Lappin (Fn. 6), 32 ff. 8 Siehe i.d.S. auch die Venedig-Kommission: „[…] while the denial of the right to vote to citizens living abroad or the placing of limits on that right constitutes a restriction of the principle of universal suffrage, the commission does not consider at this stage that the principles of the European electoral heritage require the introduction of such a right.“, Council of Europe (Venice Commission), Report on Out-of-Country Voting, 24. Juni 2011, Abs. 98 (Hervorhebung durch die Autorin).
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1. Völker- und menschenrechtlicher Rahmen: das Recht auf politische Teilhabe Zentral für die Verortung des völker- und menschenrechtlichen Rahmens von OCV in der speziellen Form des Embassy Voting ist das Recht auf politische Teilhabe. In einem ersten Schritt ist in dem Zusammenhang zu untersuchen, ob es ein Recht von im Ausland lebenden Bürgern auf OCV gegenüber ihrem Heimatland gibt (a)). Auch wenn dies verneint wird, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, welche inhaltlichen Vorgaben es für OCV gibt, wenn dieses praktiziert wird (b)).
a) Gibt es ein Recht auf Wählen außerhalb des Heimatlandes? Der völker- und menschenrechtliche Rahmen für OCV ist – auch angesichts der unterschiedlichen Gründe, ins Ausland zu gehen, die von Tourismus über dienstliche Versetzung bis hin zur Auswanderung reichen und die Herausbildung eines einheitlichen Rahmens erschweren,9 (noch) wenig ausgeprägt. Es gibt gegenwärtig kaum völkerrechtliche Vorgaben, inwiefern im Ausland lebende Staatsbürger ein Recht darauf haben, an Wahlen in ihrem Herkunftsland teilzunehmen. Das Recht auf politische Teilnahme erstreckt sich traditionell auf im Land lebende Bürger. Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – festgestellt, dass es keine Verletzung von Art. 3 Zusatzprotokoll Nr. 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (ZP Nr. 1 EMRK) wäre, außerhalb des Heimatlandes (in dem Fall Griechenland) lebenden Bürgern kein Wahlrecht zu gewähren (Sitaropoulos und Giakoumopoulos/Griechenland (2012)).10 Auch in Shindler/Vereinigtes Königreich (2013) fand der EGMR, dass die Versagung des Wahlrechts eines britischen Staatsbürgers, der für mehr als 15 Jahre im Ausland gelebt hatte,11 keine Verletzung des Art. 3 ZP Nr. 1 EMRK sei.12 Ebenso bleibt der – völkerrechtlich nicht bindende – Code of Good Practice in Electoral Matters (Code of Good Practice) der Venedig-Kommission vage, was das Wahlrecht von außerhalb ihres Heimatlandes lebenden Individuen anbelangt, indem er feststellt, dass das Wahlrecht zuerkannt werden kann: „the right to vote and to be elected may be accorded to citizens residing abroad.“13 Wie durch die Verwendung der „kann-Bestimmung“ („may“) deutlich wird, gibt es gegenwärtig keine staatliche Verpflichtung, im Ausland lebenden Staatsbürgern das Wahlrecht zu gewähren.14 9 Vgl. Venedig-Kommission, Report on Out-Of-Country Voting, Study No. 580/2010, 24. Juni 2011, Abs. 6. 10 EGMR (GC) v. 15. März 2012 – 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos/Griechenland, Abs. 47 ff. Hinsichtlich der diesbezüglichen vom EGMR gemachten Einschränkungen vgl. gleich unten. 11 Staatsbürger des Vereinigten Königreichs, die weniger als 15 Jahre außerhalb des Landes leben, behalten das Wahlrecht. 12 EGMR v. 7. Mai 2013 – 19840/09, Shindler/Vereinigtes Köngreich. 13 Venedig-Kommission, Code of Good Practice in Electoral Matters – Guidelines and Explanatory Report, Opinion No. 190/2002, I.1.1.c.v.; vgl. auch die Venedig-Kommission, Report on Out-OfCountry Voting (Fn. 9). 14 Vgl. i.d.S. ebd., Abs. 98. Siehe auch den Verweis auf staatliches Ermessen in speziellen internationalen Instrumenten, wie der Wanderarbeitnehmerkonvention, deren Art. 41 generell das Recht von Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen „an den öffentlichen Angelegenheiten ihres
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Allerdings begrenzen gewisse Erwägungen den staatlichen Ermessensspielraum im Umgang mit OCV. Retrogressive Maßnahmen müssen etwa sorgfältig gerechtfertigt werden, wie die Venedig-Kommission in einem Gutachten über die Rücknahme des Rechts armenischer Staatsbürger im Ausland zu wählen (Opinion on the repeal of the right of Armenian citizens to vote from abroad), feststellte.15 Andere Vorgaben machte der EGMR als er in Sitaropoulos und Giakoumopoulos/Griechenland (2012) feststellte, dass, auch wenn die Nichtgewährung des Wahlrechts für im Ausland lebende Griechen im konkreten Fall keine Verletzung des Art. 3 ZP Nr. 1 EMRK darstellte, die Umsetzung einer schon bestehenden diesbezüglichen Verfassungsbestimmung nicht auf unbestimmte Zeit verzögert werden dürfe.16 Zumindest gewisse menschenrechtliche Erwägungen beschränken also das staatliche Ermessen ob der Gewährung bzw. des Entzugs des Wahlrechs von außerhalb ihres Heimatlandes lebenden Personen. Darüber hinaus verweisen auch (nicht bindende) Erklärungen vor allem der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auf die notwendige Ermöglichung von OCV. Zum Beispiel empfahl die Parlamentarische Versammlung in Recommendation 1714 (2005) on abolition of restrictions on the right to vote,17 u.a. die Notwendigkeit eines neuen Abkommens zu prüfen, um die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Wahlrechts von im Ausland lebenden Bürgern zu vereinfachen. In Resolution 1591 (2007) on distance voting (d.h. die Ausübung des Wahlrechts außerhalb des Heimatlandes)18 lud die Parlamentarische Versammlung die Mitgliedstaaten des Europarats ein, Formen des Wählens auf Distanz einzuführen. Auch im Zusammenhang mit der stärkeren Einbindung europäischer Diasporas regte die Parlamentarische Versammlung Mitgliedstaaten dazu an, „[to] ease the acquisition or maintenance of voting rights by offering out-of-country voting at national elections“ (Resolution 1696 (2009) on engaging European diasporas).19 Gleichfalls auf Ebene
Herkunftsstaates mitzuwirken und bei Wahlen in diesem Staat zu wählen und gewählt zu werden, entsprechend den Rechtsvorschriften dieses Staates“ verankert, 1990 Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen; in Kraft getreten 2003. Zu beachten ist, dass die – wenn auch nur von einer handvoll GUS Nachfolgestaaten ratifizierte – 2002 CIS Convention on Standards of Democratic Elections in Art. 2 ein Wahlrecht für im Ausland lebende Staatsbürger der Vertragsparteien vorsieht. Siehe Fn. 58 und 59 zumRatifikationsstand beider Konventionen. 15 So erklärte die Venedig-Kommision in einem Gutachten über die Rücknahme des Rechts armenischer Staatsbürger im Ausland zu wählen (Opinion on the repeal of the right of Armenian citizens to vote from abroad), dass retrogressive Maßnahmen – im konkreten Fall eine Reform, die das Wahlrecht bestimmter Staatsbürger (diesfalls der im Ausland lebenden Staatsbürger) effektiv beschneidet – sorgfältig gerechtfertigt werden müssen, Venedig-Kommission, Report on Out-of-Country Voting, 24. Juni 2011, Abs. 10, 13. 16 EGMR (GC) v. 15. März 2012 – 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos/Griechenland, Abs. 47 ff. 17 Abruf bar unter: http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=17364, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. 18 Abruf bar unter: http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=17610, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. 19 Abruf bar unter: http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-DocDetails-EN.asp?FileID=17796 &lang=EN, zuletzt abgerufen am 17.01.2019.
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der Vereinten Nationen sprechen sich Sonderberichterstatter für die Gewährung des Wahlrechts für im Ausland lebende Bürger aus.20 Kurz, es gibt einen bemerkenswerten Trend in Richtung OCV, der durch zahlreiche unverbindliche Instrumente untermauert wird. Dies könnte als Zeichen eines zumindest im Entstehen begriffenen Rechts auf OCV im Ausland lebender Bürger gegenüber ihrem Heimatland gewertet werden.21
b) Das Recht auf politische Teilhabe: inhaltliche Vorgaben für OCV Das Recht auf politische Teilhabe macht zwar, wie gezeigt, traditionell nur wenige Vorgaben, ob OCV durch das Heimatland zu gewähren ist. Gleichzeitig enthält es aber einen inhaltlichen Beurteilungsrahmen für die Modalitäten von OCV, sobald dieses gewährt wird. Diese Kriterien sind für die Beurteilung der praktizierten Formen von OCV – und speziell für Embassy Voting – von Relevanz. Art. 25 lit. b) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) verlangt etwa geheime, echte, wiederkehrende, allgemeine und gleiche Wahlen.22 Art. 3 ZP Nr. 1 EMRK ist demgegenüber weiter formuliert und verankert einzig die staatliche Verpflichtung, freie und geheime Wahlen abzuhalten.23 Auch Art. 3 ZP Nr. 1 EMRK wurde aber vom EGMR in der Folge in zahlreichen Fällen konkretisiert und als subjektives Recht ausgestaltet.24 Das Kopenhagener Dokument der OSZE von 1990 enthält ähnliche Kriterien, wie etwa das Commitment der am OSZE Prozess teilnehmenden Staaten, „allen erwachsenen Staatsbürgern das allgemeine und gleiche Wahlrecht zu[zu]sichern“ (Abs. 7.3).25 20 So etwa in Empfehlungen „[to] guarantee in law and practice the right of […] citizens abroad to participate in national public life and to vote“, HRC, Report of the Special Rapporteur on the Human Rights of Migrants: Mission to Albania, 10. April 2012, A/HRC/20/24/Add.1, Abs. 72, bzw. „[to] make it possible for [citizens] living abroad to exercise their voting rights, at least in the countries where it has diplomatic representation, as done by many countries“ HRC, Report of the Special Rapporteur on the Situation of Human Rights in Cambodia, 16. Juli 2012, A/HRC/21/63, Abs. 81. 21 Siehe generell Bauböck (Fn. 3). 22 Art. 25 PBPR: „Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den im Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen […] b. bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden.“ Siehe auch den General Comment des VN Menschenrechtsausschusses Nr. 25 (1996), der die Vorgaben des Art. 25 PBPR konkretisiert (CCPR General Comment No 25: Article 25, The Right to Participate in Public Affairs, Voting Rights and the Right to Equal Access to Public Service, 12. Juli 1996). 23 Art. 3 1. EMRK-ZProt (Recht auf freie Wahlen): „Die Hohen Vertragschließenden Teile verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, die die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Organe gewährleisten.“ 24 Fälle beispielhaft vgl. EGMR, v. 2. März 1987 – 9267/81, Mathiew Mohin/Belgien; EGMR (GC) v. 6. Oktober 2005 – 74025/01, Hirst (Nr. 2)/Vereinigte Königreich. 25 Siehe auch die Commitments in 7.1. und 7.4. des Kopenhagener Dokuments: „[Werden die Teilnehmerstaaten] – in angemessenen Zeitabständen freie Wahlen abhalten, wie das Gesetz es vorschreibt (7.1); [
] – sicherstellen, daß die Abstimmung geheim […] durchgeführt wird [
] (7.4)“, Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE, 29. Juni 1990, https://www.osce.org/de/odihr/elections/14304?download=true, zuletzt abgerufen am 17.01.2019.
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Vor allem einige der das Recht auf politische Teilhabe charakterisierenden Attribute – nämlich geheime, echte und allgemeine Wahlen – sind als inhaltliche Vorgaben für die Ausgestaltung von OCV von Relevanz.26 Sie wurden in der Judikatur der Vertragsüberwachungsorgane (VN-Menschenrechtausschuss und EGMR) auch entsprechend konkretisiert: Die geheime Wahl sichert die unbeobachtete Stimmabgabe, die nicht nachfolgend rekonstruiert werden kann; die echte (auch freie) Wahl steht für die unbeeinflusste Stimmabgabe, die den wahren Wählerwillen zum Ausdruck bringt. Das Prinzip der allgemeinen Wahl schützt den Zugang zur Wahl, zielt also auf möglichst umfassende Wahlbeteiligung ohne ungerechtfertigten Ausschluss von Wähler(gruppe)n.27 Diese menschenrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Rechts auf politische Teilhabe bieten auch einen Beurteilungsrahmen für die Modalitäten von OCV im Allgemeinen und für Embassy Voting im Besonderen.
2. Formen des OCV 28 a) Einleitung und Wahlrechtsgrundsätze Für das Wählen außerhalb des Heimatlandes gibt es unterschiedliche Modalitäten, die in Abhängigkeit von zahlreichen administrativen, infrastrukturellen und finanziellen Faktoren sowie den innerstaatlichen Wahlmodalitäten und dem Ausmaß des öffentlichen Vertrauens variieren.29 Für die solcherart vergleichende Zusammenschau bietet sich eine Bezugnahme auf die zuvor detaillierten Wahlrechtsgrundsätze vor allem der geheimen, echten und allgemeinen Wahlen an, die das Recht auf politische Teilhabe konkretisieren. Diese Wahlrechtsgrundsätze stehen zueinander in gewissem Spannungsverhältnis: So vergrößern Maßnahmen, die Wählen außerhalb des Wahllokals ermöglichen – wie mobiles Wählen oder der Einsatz neuer Technologien wie Home-Voting – in der Regel die Allgemeinheit der Wahl, da auch Wähler, die nicht ins Wahllokal kommen (können), sich entsprechend zu beteiligen vermögen. Gleichzeitig gefährden diese Maßnahmen aber auch die Integrität/Echtheit bzw. die Geheimheit der Wahl, da außerhalb der kontrollierten Umgebung des Wahllokals gewählt wird und unbe Vgl. Art. 25 IPbpR; Art. 3 ZP Nr. 1 EMRK verweist, wie gezeigt, einzig auf „freie und geheime“ Wahlen. Weniger von Relevanz für OCV sind die Kriterien der wiederkehrenden Wahlen, die auf die Regelmäßigkeit der Wahlen abstellen und der Verweis auf „gleiches“ Wahlrecht mit Blick auf den gleichen Wert der abgegebenen Stimmen. 27 Vgl. etwa CCPR General Comment No 25 (Fn.22), vor allem Abs. 10, 11, 15, 19. Siehe Fälle des EGMR in Fn. 24. Siehe zu den Wahlrechtsgrundsätzen auch Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 2016, 33 f. 28 Erben/Goldsmith/Shujaat, Out-of-Country Voting: A Brief Overview. IFES White Paper, 2012. 29 Die Venedig-Kommission betonte in einer Opinion concerning the granting of the right to vote from abroad to Macedonian citizens, dass „no precise international standards exist for implementing such measures, but elections abroad should generally meet the same standards for democratic elections as in-country procedures. The design of a system for voting abroad depends on the particular circumstances of a country, including its administrative, infrastructure, budget constraints, in-country election arrangements and level of public confidence“, CDL-AD(2007)012, Abs. 5. 26
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einflusstes oder geheimes Wählen insofern nicht sichergestellt werden kann. Es ist also häufig eine Abwägung zwischen den verschiedenen Wahlrechtsgrundsätzen vorzunehmen. Dies ist auch bei den verschiedenen Formen von OCV der Fall.
b) Modalitäten von OCV Im Prinzip kann zwischen sechs Wahlmodalitäten unterschieden werden, um das Wahlrecht von sich außerhalb ihres Heimtlandes befindenden Personen zu realisieren. Eine erste mögliche Form ist Return Voting, bei dem der Wähler in persona zurück im Heimatland wählt. Return voting ist zwar streng genommen kein Wählen im Ausland/OCV, da der Wahlakt ja im Wahllokal des Heimatlandes gesetzt wird; trotzdem ermöglicht es im Ausland lebenden Staatsbürgern die Ausübung des Wahlrechts. Gewählt wird in der kontrollierten Umgebung des Wahllokals, weswegen Return Voting im Zeichen der Verwirklichung der Prinzipien der geheimen und echten Wahlen steht. Für die Wähler bedeutet Return Voting allerdings einen beträchtlichen finanziellen und organisatorischen Aufwand: sie müssen sich vorab registrieren und am Wahltag in ihr Herkunftsland reisen.30 Entsprechend selten wird die Möglichkeit des Return Voting wahrgenommen werden, was dem Prinzip der Allgemeinheit der Wahl schadet. Demgegenüber muss beim Proxy Voting ein sich im Ausland befindender Wähler nicht selbst ins Wahllokal kommen. Er hat die Möglichkeit, eine andere Person zu bezeichnen, die die Stimme für ihn abgibt. Voraussetzung ist allerdings, dass die Wahlentscheidung dieser Person gegenüber offengelegt wird, was dem Prinzip der geheimen Wahl widerspricht; darüber hinaus kann auch nicht sichergestellt werden, dass die betreffende Person gemäß der Instruktionen abstimmt. Insofern ist Proxy Voting eine mit einigen Bedenken behaftete Wahlmodalität. Eine andere Möglichkeit des OCV ist die Briefwahl, die die Stimmabgabe im Ausland – Remote Voting – realisiert. Diesfalls werden Stimmzettel an die im Ausland lebenden Wählern geschickt, die in der Regel postalisch wählen.31 Dies erfordert allerdings eine relativ langfristige Planung und Registrierung der Wähler, da ja die Stimmzettel mit genügend zeitlichem Abstand im Voraus verschickt werden müssen. Da die Wahl nicht in der „kontrollierten Umgebung“ des Wahllokals stattfindet, ist die Briefwahl auch unsicher. So kann weder garantiert werden, dass der Stimmzettel tatsächlich vom betreffenden Wähler selbst ausgefüllt wird, noch dass dies in geheimer und unbeeinflusster Weise geschieht.32 Die Echtheit der Wahl und der freie Ausdruck des Wählerwillens drohen also zu leiden. Allerdings kann – theoretisch – die Wahl durch die Errichtung von Wahllokalen an den wichtigsten Flughäfen in einem Land oder bei den zentralen Grenzübergängen vereinfacht werden. 31 Die Stimmzettel können auch an Sammelstellen in den Aufenthaltsstaaten der Auslandsbürger gesammelt werden. 32 Österreich verlangt i.d.Z. etwa eine eidesstattliche Erklärung, dass selbst gewählt wurde. Weitere Nachteile der Briefwahl sind, dass es auch zu Verzögerungen durch die spätere Auszählung angesichts der für den Postweg anzuberaumenden Zeit kommen kann bzw. – im Fall einer notwendigen früheren Stimmabgabe zur Terminwahrung – dass die Wähler nicht allen Facetten des Wahlkampfes folgen können, da sie schon eher abstimmen müssen. 30
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Eine andere – moderne – Form des Remote Voting, das sog. Internet-/e-Voting, ermöglicht außerhalb ihres Heimatlandes lebenden Personen ähnlich der Briefwahl, die Stimme im Ausland abzugeben. Als für den Wähler in der Regel vergleichsweise einfache und bequeme Form der Stimmabgabe steht e-Voting grundsätzlich im Zeichen der Allgemeinheit der Wahl (vorausgesetzt die Wähler haben entsprechenden Zugang zu den neuen Technologien). Allerdings gibt es, da die Wahl in unkontrollierter Umgebung stattfindet, ähnliche Bedenken hinsichtlich einer möglichen Beeinflussung des Wählers wie bei der Briefwahl.33 Zudem steckt diese neue Technologie erst in den Anfängen und wird in der Regel als nicht sicher genug eingestuft, um zum Einsatz zu kommen.34 Sie ist auch manipulationsgefährdet. Die Nachteile der obgenannten Modalitäten für Wählen im Ausland lenken den Blick auf förmlichere und kontrollierte Möglichkeiten einer Wahl im Aufenthaltsstaat; konkret sind dies In-Person-Polling-Stations und Embassy Voting.35 Teils werden die beiden Formen auch verbunden. In-Person-Polling-Stations beinhalten die Errichtung von Wahllokalen außerhalb von Botschaften und Konsulaten: Dies ermöglicht Wählen in kontrollierter Umgebung und bietet damit weitgehend Schutz vor Einflussnahme. Für die außerhalb ihres Landes lebenden Bürger haben In-Person-PollingStations den beispielsweise gegenüber Return Voting bestehenden Vorteil der leichteren Erreichbarkeit, was in der Regel der Wahlbeteiligung und dem Prinzip der allgemeinen Wahlen nützt. Allerdings bedeutet die Errichtung von Wahllokalen im Aufenthaltsstaat einen großen logistischen Aufwand; sie ist in der Regel auch sehr teuer. Ebenso stellen In-Person-Polling-Stations einen relativ weitgehenden Eingriff in die Souveränität des Aufenthaltsstaates dar.36 Eine demgegenüber einfachere Form ist das Embassy Voting. Es hat den Vorteil geringerer logistischer Herausforderungen als In-Person-Polling-Stations, aber auch einer größeren Kontrolle über den Wahlprozess als bei Briefwahl und e-Voting und gibt insofern bessere Möglichkeiten, die Echtheit und Geheimheit der Wahl zu gewährleisten, da diese – wenn auch nicht im Wahllokal – so zumindest in der kontrollierteren Umgebung der ausländischen Vertretungsbehörde stattfindet.37 Ebenso besteht der Vorteil der – im Vergleich zum Return Voting – leichteren Erreichbarkeit für die außerhalb des Heimatlands lebenden Personen.38 Embassy Voting bietet also entsprechende Vorteile – für das Heimatland der im Ausland lebenden Personen und für die Wähler selbst. Auch aus der Perspektive der 33 Eine Möglichkeit, das Risiko der Einflussnahme zu vermindern, ist etwa, dass Wähler mehrmals abstimmen können und immer nur die letzte Stimmabgabe zählt. Dies ist etwa in Estland der Fall. 34 Der Einsatz von e-Voting ohne eine entsprechende Infrastruktur würde Wahlbetrug ermöglichen oder zumindest möglichen Betrugsvorwürfen aussetzen und das Vertrauen der Wähler mindern. Weitere Probleme können Computerausfälle und Datenschutz darstellen. Siehe für Details z.B. OSCE/ ODIHR, Handbook for the Observation of New Voting Technologies, 2013. 35 Beachte, dass in diesem Beitrag auf „Embassy Voting“ verwiesen wird, obgleich OCV eigentlich Teil der konsularischen Aufgaben ist. Wenn diplomatische Vertretungsbehörden konsularische Funktionen, übernehmen ist jedenfalls die WKK anzuwenden (Art. 3 WDK). 36 Aufenthaltsstaaten wenden sich deswegen häufig gegen In-Person-Polling-Stations; die Konkretisierung der Modalitäten des Wahlvorgangs kann auch komplexe zwischenstaatliche Absprachen erfordern. 37 Allerdings haben die Vertretungsbehörden häufig nicht die Kapazitäten, mit großen Zahlen von Wählern umzugehen. Embassy Voting kann ebenso – wie schon einleitend thematisiert – zu Spannungen mit dem Aufenthaltsstaat führen, wenn dieser Embassy Voting auf seinem Gebiet ablehnt. 38 Trotzdem ist für Embassy Voting in der Regel die Fahrt zur Vertretungsbehörde notwendig – für die Wahl wie schon zuvor für die Registrierung –, weswegen – abhängig von den örtlichen Gegeben-
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Wahlrechtsgrundsätze erscheint Embassy Voting insofern als gute Form und macht eine differenzierte Abwägung möglich. Dementsprechend ist es wenig verwunderlich, dass eine Vielzahl von Staaten Embassy Voting praktizieren. Nicht vorgesehen ist Embassy Voting zwar in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Demgegenüber sehen 35 am OSZE Prozess teilnehmende Staaten Embassy Voting – teils in Verbindung mit In-Person-Polling-Stations – vor: Konkret sind dies Aserbaidschan, Belgien, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Island, Kasachstan, Kirgisien, Kroatien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Moldau, Mongolei, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Serbien, Slowenien, Spanien, Schweden, Tadschikistan, die Tschechische Republik, Türkei, Turkmenistan, Ukraine, Ungarn und Zypern.39 Annähernd so weit verbreitet ist einzig die Briefwahl, die neben Deutschland,40 Österreich41 und der Schweiz42 noch in 20 anderen am OSZE Prozess teilnehmenden Staaten praktiziert wird. Ausgesprochen selten ist demgegenüber (als einzige Möglichkeit praktiziertes) Return Voting/Wählen im Heimatland: Als alleinige Option für im Ausland lebende Bürger ist es nur in Albanien, Montenegro und Griechenland vorgesehen. Das gleiche gilt für Proxy Voting, das nur in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich in Verwendung ist. Noch restriktiver wird e-Voting eingesetzt: Umfassend ist es nur in Estland möglich; teils auch in der Schweiz (Genf, Luzern, Basel-Stadt and Neuchâtel).43
3. Zusammenfassende Beurteilung44 Internationale Menschenrechtsverträge (bzw. das Recht auf politische Teilhabe) beinhalten (noch) keine Pflicht des Heimatlandes, im Ausland lebenden Bürgern OCV zu ermöglichen; auch wenn die Entwicklung in Richtung einer zunehmenden Gewährung geht. Das Recht auf politische Teilhabe macht aber inhaltliche Vorgaben für OCV, wenn dieses möglich ist: Vor allem die Grundsätze der geheimen, echten und allgemeinen Wahl bilden einen entsprechenden Rahmen, der auch bei der Beurteilung und Bewertung der unterschiedlichen Formen von OCV hilft. Die so gemachten Vorgaben zeigen gewisse Vorteile von Embassy Voting für die Realisierung von OCV: so findet die Wahl in der vergleichsweise „kontrollierten“ Umgebung der Vertretungsbehörde statt, was die Gefahr der Beeinflussung gegenheiten – das Wählen für gewisse Wählergruppen aufgrund der räumlichen Distanz komplizierter werden kann; je nach Standort der Vertretungsbehörde. 39 In der Staatenpraxis wird Embassy Voting dabei teils mit In-Person-Polling-Stations kombiniert, da manche Staaten die Errichtung von Wahllokalen außerhalb der Vertretungsbehörde vorsehen. So etwa in Bulgarien, Dänemark, Ungarn, Island, Portugal, Moldau, Norwegen, Serbien, und Tadschikistan. 40 Art. 12 Abs. 2 , 1 BWG; BVerfG v. 22. August 2018 – 2 BvC 1/11. 41 Vgl. Leitfaden zur Stimmabgabe im Ausland des Bundesministeriums für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/32/Seite.320510.html, zuletzt abgerufen am 17.01.2019; Stern/Valchars, Access to electoral rights: Austria, 2013, 3. 42 Art. 8 Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR) der Schweiz. 43 Zu beachten ist auch, dass etwa in Armenien, Malta und Irland gar keine Form des OCV ermöglicht wird. 44 Siehe insbes. Lappin (Fn.6), 859 ff. für weiter Informationen.
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über der Briefwahl oder der Internetwahl vermindert. Für den Wähler bedeutet Embassy Voting, dass er nicht wie etwa beim Return Voting in sein Heimatland zurückkehren muss, um zu wählen. Er kann auch selbst den Wahlakt setzen und muss keine Stimme übertragen wie im Fall von Proxy Voting. Die Bedeutung von Embassy Voting in der aktuellen Staatenpraxis ist, wie gezeigt, entsprechend groß. Umgekehrt stellt Embassy Voting einen vergleichsweise weiten Eingriff in die Souveränität des Aufenhaltsstaates des Wählers dar. So kontrolliert der Heimatstaat des im Ausland lebenden Bürgers die Wahlhandlung und setzt damit einen hoheitlichen Akt auf dem Territorium des anderen Staates.45 Deswegen beschränkt Embassy Voting (ebenso wie die selteneren In-Person-Polling-Stations) die Hoheitsgewalt des Aufenthaltsstaates stärker als souveränitätsschonendere Formen von OCV wie die Briefwahl oder Wählen im Herkunftsland (Return Voting).46 Embassy Voting kann insofern – wie schon einleitend am Beispiel der Behinderungen russischer Wähler durch ukrainische Behörden gezeigt – zu Spannungen mit dem Aufenthaltsstaat führen, wenn dieser Embassy Voting auf seinem Gebiet ablehnt. Entsprechend notwendig erscheint die völkerrechtliche Verortung von Embassy Voting und die Analyse der diesbezüglichen Pflichten des Aufenthaltsstaates. Darf ein Staat, wie dies die Ukraine tat, Embassy Voting verbieten bzw. das Wählen in der Vertretungsbehörde verhindern?
III. Embassy Voting mit besonderem Fokus auf den Pflichten des Aufenthaltsstaates 1. Einleitung Wie gezeigt, wird Embassy Voting umfassend praktiziert. Kommt es zu Spannungen mit dem Aufenthaltsstaat, stellt sich die Frage nach dem völkerrechtlichen Rahmen. Ausgangspunkt der Analyse ist, dass der Wahlvorgang in der ausländischen Vertretungsbehörde einen Akt der Ausübung von Hoheitsgewalt durch den Herkunftsstaat darstellt, der grundsätzlich die Zustimmung des Aufenthaltsstaates voraussetzt.47 Auf dieser Basis wird Embassy Voting in der Folge zunächst aus der Perspektive der anwendbaren Wahlstandards/Menschenrechtsschutzinstrumente und dann aus der Perspektive des allgemeinen Völkerrechts diskutiert. 45 Breuer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen, 2001, 141; vgl. für Details Birkenkötter/von Notz, Freiheit der (Auslands-)Wahl: Musste Deutschland der Türkei die Durchführung des Verfassungsreferendums gestatten?, Verfassungsblog, 2017, https://verfassungsblog. de/freiheit-der-auslands-wahl-musste-deutschland-der-tuerkei-die-durchfuehrung-des-verfassungsreferendums-gestatten/, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. 46 Deutschland betrachtet etwa Embassy Voting – anders als die Briefwahl – als hoheitlichen Akt. Siehe Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetz, 12.08.82; Breuer (Fn. 45), 141. 47 Der Wahlvorgang wurde in diesem Sinn mit der militärischen Präsenz in dem Staatsgebiet eines anderen Staates verglichen (die die Genehmigung des Staates voraussetzt wo die Truppen stationiert werden) oder mit der Einreise eines fremden Staatsoberhaupts in offizieller Funktion, die gleichfalls verboten werden kann. EuGH, Urt. v. 16.10.2012, – Rs. C‑364/10 (Hungary/Slovak Republic), S. generell Birkenkötter/von Notz (Fn. 45).
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2. Internationale Standards und Commitments im Wahlbereich betreffend Embassy Voting Das Recht auf politische Teilhabe in internationalen Menschenrechtsverträgen und einschlägige OSZE Commitments beinhalten grundsätzlich keine Pflicht des Aufenthaltsstaates, OCV zu ermöglichen. Vielmehr verpflichtet das Recht auf politische Teilhabe zunächst das Heimatland des Wählers zur Gewährung des Wahlrechts auf dessen eigenem Staatsgebiet.48 Wie gezeigt, gibt es nicht einmal einen Anspruch von sich im Ausland befindenden Personen gegen ihr Heimatland, OCV auf der Grundlage des Rechts auf politische Teilhabe einzufordern.49 Eine korrespondierende Pflicht des Aufenthaltsstaates der betreffenden Person zu konstruieren, Embassy Voting zu ermöglichen, scheint entsprechend schwierig. Unterschiedliche Konstruktionen sind aber zu prüfen. Eine erste mögliche Grundlage bietet die Konzeption der Menschenrechte als erga omnes Verpflichtungen; als „matter of concern“ für die gesamte internationale Gemeinschaft.50 Gewährt der Heimatstaat seinen Bürgern im Ausland ein Recht auf OCV, könnte argumentiert werden, dass der Aufenthaltsstaat den Heimatstaat bei der Erfüllung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen unterstützen muss. Dies ist allerdings letztlich wenig überzeugend.51 Zwar hat jeder Staat ein Interesse an der Einhaltung der Menschenrechte durch einen anderen Staat;52 einschließlich des Rechts auf politische Teilhabe. Dieses Interesse erschöpft sich allerdings weitgehend im Recht auf Geltendmachung der Verantwortung des anderen Staates für Menschenrechtsverletzungen (Art. 48 ILC Artikel zur Staatenverantwortlichkeit).53 Positive staatliche Pflichten – wie die Pflicht, Embassy Voting zu ermöglichen – sind daraus kaum ableitbar. Dies umso weniger, als Embassy Voting nur eine – und zwar eine vergleichsweise wenig souveränitätsschonende – Form von mehreren OCV Arrangements ist. Andere For48 Wie gezeigt, sind das Recht auf politische Teilhabe in Art. 25 IPbpR sowie das Recht auf freie Wahlen in Art. 3 ZP 1 EMRK im Prinzip auf das Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehörigkeit der Wähler/die Wählerin hat, beschränkt. (Vgl. Art. 2 IPbpR, der vorsieht, dass jeder Vertragsstaat „[sich verpflichtet], die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen […] zu gewährleisten.“ 49 EGMR (GC) v. 15. März 2012 – 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos/Griechenland. Siehe oben, Teil II.1.a). 50 Siehe zum Konzept der Menschenrechte als erga omnes Verpflichtungen etwa Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, RdC 250 (1994), 221 ff. 51 Vgl. etwa Simma (Fn. 50). 52 MRA/HRC, Eightieth Session General Comment No. 31 [80], CCPR/C/21Rev.1/Add 13, 26. Mai 2004, Abs. 2: „While article 2 is couched in terms of the obligations of State Parties towards individuals as the right-holders under the Covenant, every State Party has a legal interest in the perfor mance by every other State Party of its obligations. This follows from the fact that the ‘rules concerning the basic rights of the human person’ are erga omnes obligations and that, as indicated in the fourth preambular paragraph of the Covenant, there is a United Nations Charter obligation to promote universal respect for, and observance of, human rights and fundamental freedoms. Furthermore, the con tractual dimension of the treaty involves any State Party to a treaty being obligated to every other State Party to comply with its undertakings under the treaty.“ 53 Siehe Art. 48.1.b der ILC Artikel über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln (2001): “Jeder Staat, der nicht ein benachteiligter Staat ist, ist berechtigt, die Verantwortlichkeit eines anderen Staates nach Maßgabe des Absatz 2 geltend zu machen, wenn: […] b) die verletzte Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft als Ganzes geschuldet ist.“
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men, wie die Briefwahl, können für die Verwirklichung der politischen Teilhabe mit weniger weitreichenden Souveränitätseingriffen eingesetzt werden. Entsprechend wenig Grundlage bietet die Konstruktion der Menschenrechte als erga omnes Verpflichtungen, um daraus eine Pflicht des Aufenthaltsstaates abzuleiten, Embassy Voting zu ermöglichen. Bestenfalls ließe sich eine notwendige Gewährung von Embassy Voting politisch argumentieren – mit Blick auf den Soft Law Bereich. Ein Staat sollte – auch ohne förmliche Verpflichtung – generell bestrebt sein, einen anderen Staat bei der Erfüllung seiner Menschenrechtspflichten zu unterstützen. Dies umso mehr, da souveränitätsschonendere Wahlmodalitäten wie die Briefwahl mit gewissen Nachteilen verbunden sein können (lange Vorlaufzeit, Kosten, etc.) und insofern für den Herkunftsstaat nicht immer realisierbar sind. Embassy Voting kann insofern aus der Sicht des Heimatlandes den einzigen in Frage kommenden Ersatz darstellen. Diesfalls böte das Konzept der Menschenrechte als erga omnes Pflichten zumindest eine starke politisch-theoretische Basis dafür, dass ein Aufenthaltsstaat Embassy Voting im guten Glauben für die Bürger eines anderen Staates ermöglichen soll.54 Dies trifft a fortiori auf Staatengruppen zu, die eine gemeinsame Wertegemeinschaft bilden, wie die OSZE oder der Europarat. Die Mitgliedstaaten des Europarats bekennen sich zur pluralistischen Demokratie und zu den Menschenrechten/dem Recht auf freie Wahlen.55 Die am OSZE Prozess teilnehmenden Staaten haben einen Katalog mit spezifischen Commitments im Wahlbereich akzeptiert, die im 1990iger Kopenhagener Dokument niedergelegt sind. Im Katalog dieser im Rahmen des Europarats/der EMRK übernommenen Pflichten bzw. der OSZE Commitments haben die betreffenden Staaten auch die Allgemeinheit des Wahlrechts anerkannt,56 dem OCV (und Embassy Voting als gängigste Form) dienen. Dementsprechend sollten Staaten, die Teil einer Wertegemeinschaft, wie Europarat oder OSZE, sind, sich gegenseitig in gutem Glauben bei der Erfüllung der durch sie übernommenen Pflichten einschließlich der umfassenden Realisierung des Wahlrechts im Rahmen von OCV/Embassy Voting unterstützen. Ungeachtet des starken moralisch-politischen Impetus bleibt eine solche Konstruktion aber im Soft Law Bereich angesiedelt.57 Konkretere Pflichten für Aufenthaltsstaaten können aus speziellen Verträgen wie der 1990 Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (Wanderarbeitnehmerkonvention) und der 2002 Convention on Standards of Democratic Elections, Electoral Rights and Freedoms in the Member States of the Commonwealth of Independent States (CIS Convention; Gemeinschaft unabhängiger Staaten-(GUS)-Übereinkommen) gewonnen Zu einer möglichen auf Völkergewohheitsrecht beruhenden Pflicht siehe unten, Teil III.3.b. Siehe Art. 3 Satzung des Europarats; Art. 3 ZP Nr. 1 EMRK. 56 Vgl. das Kopenhagener Dokument, 7.3.: „Um zu gewährleisten, daß der Wille des Volkes die Grundlage für die Autorität der Regierung bildet, werden die Teilnehmerstaaten […] – allen erwachsenen Staatsbürgern das allgemeine und gleiche Wahlrecht zusichern“ (Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE (Fn 25). 57 Siehe i.d.S. etwa auch die im Rahmen der für die Gruppe der Flüchtlinge abgegebenen Bekenntnis des Dokuments von Istanbul 1999: „Wir sind entschlossen, das volle Wahlrecht von Angehörigen von Minderheiten sicherzustellen und das Recht von Flüchtlingen zu fördern, an Wahlen in ihrem Herkunftsland teilzunehmen.“ (Dokument von Istanbul der OSZE, 19. November 1999, verfügbar unter: https://www.osce.org/de/mc/39571?download=true, zuletzt abgerufen am 17.01.2019). 54 55
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werden. Beide Konventionen enthalten Bestimmungen betrffend OCV/Wählen außerhalb des Heimatlandes. Konkret sieht die Wanderarbeitnehmerkonvention in Art. 41.1 für Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen „das Recht [vor], an den öffentlichen Angelegenheiten ihres Herkunftsstaates mitzuwirken und bei Wahlen in diesem Staat zu wählen und gewählt zu werden, entsprechend den Rechtsvorschriften dieses Staates.“ Art. 41.2 bezieht sich auf die korrespondierende Pflicht der Aufenthaltsstaaten: „Die betreffenden Staaten haben, soweit angebracht und entsprechend ihren Rechtsvorschriften, die Ausübung dieser Rechte zu erleichtern.“ Eine beschränkte Pflicht, Embassy Voting zu ermöglichen, kann insofern aus Art. 41.2 abgeleitet werden, wenn Embassy Voting vom Heimatland des Wanderarbeitnehmers vorgesehen ist. Diese Pflicht ist allerdings vergleichsweise schwach formuliert. So erweitern die qualifizierenden Hinweise „soweit angebracht“ und „entsprechend ihren Rechtsvorschriften“ den Ermessensspielraum der Aufenthaltsstaaten. Der rechtliche Rahmen ist insofern überaus vage. Darüber hinaus haben nur wenige (51) Staaten die Wanderarbeitnehmerkonvention ratifiziert; darunter sind kaum Mitgliedstaaten des Europarats bzw. Teilnehmerstaaten der OSZE.58 Auf regionaler Ebene der GUS Staaten verankert die CIS Convention von 2002 ein Recht auf OCV von außerhalb ihres Heimatlandes lebenden Personen. Embassy Voting wird ausdrücklich erwähnt und auch mit der korrespondierenden Verpflichtung des diplomatischen und konsularischen Personals verbunden, im Ausland lebende Bürger bei der Ausübung ihrer Rechte zu unterstützen. Art. 2.c der CIS Convention normiert, dass „[e]ach citizen residing or being outside the boundaries of his/her state during the period of conducting national elections shall be entitled to the electoral rights equal to the electoral rights of other citizens of his/her state. The diplomatic representations and consular departments, and their officials shall assist the citizens in exercising their electoral rights and freedoms“.
Angesichts dieses in der CIS Convention niedergelegten Rechts, das ausdrücklich auf Embassy Voting verweist, kann eine korrespondierende Pflicht des Aufenthaltsstaates, OCV auf seinem Territorium zu ermöglichen, abgeleitet werden. Die CIS Convention geht so bei der Verankerung einer staatlichen Pflicht, Embassy Voting zu erlauben, am Weitesten. Allerdings hat die CIS Convention nur wenige Vertragsparteien und ihre praktische Bedeutung ist entsprechend gering.59 Damit bieten menschenrechtliche Erwägungen insgesamt eine nur schwache Grundlage für Embassy Voting und diesbezügliche Pflichten des Aufenthaltsstaates. Mit Ausnahme der CIS Convention enthalten internationale Wahlstandards und Commitments keine Verpflichtung von Aufenthaltsstaaten, Embassy Voting zu ermög lichen. Im besten Fall könnte von einer im Entstehen begriffenen Verpflichtung der Aufenthaltsstaaten im Soft Law Bereich gesprochen werden;60 a fortiori wenn Staaten Mitglieder einer Wertegemeinschaft sind, wie im Fall des Europarats oder der OSZE. 58 UNTC, International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members Of their Families, verfügbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src= IND&mtdsg_no=IV-13&chapter=4&lang=en, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. 59 Armenien, Belarus Kirgisien, Moldau, Russland, Tadschikistan, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan; verfügbar unter: http://base.garant.ru/1156220/ (in Russisch), zuletzt abgerufen am 17.01. 2019. 60 I.d.S. Bauböck (Fn. 3), 2402.
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3. Allgemeines Völkerrecht und Embassy Voting Embassy Voting wird in ausländischen Vertretungsbehörden praktiziert. Insofern kommen zur Verortung einer eventuellen Pflicht des Aufenthalts-/Empfangsstaates im allgemeinen Völkerrecht, Embassy Voting zu ermöglichen, vor allem die Wiener Konsularrechtskonvention von 1963 (WKK); und, indirekt, die Wiener Diplomatenrechtskonvention von 1961 (WDK) in Betracht.61
a) Die Wiener Konsularrechtskonvention (WKK) Die WKK verankert die Pflicht des Empfangsstaates, die Tätigkeit einer konsularischen Vertretung zu erleichtern.62 Sollte also Embassy Voting in den Aufgabenbereich einer konsularischen Vertretung fallen, so würde dies grundsätzlich eine korrespondierende Pflicht des Empfangsstaates implizieren, die Praxis des Embassy Voting zu ermöglichen.63 Allerdings ist die Durchführung von Embassy Voting nicht ausdrücklich in der Liste der konsularischen Aufgaben genannt.64 Damit gehört Embassy Voting nicht zum engen Kreis der Aufgaben einer Mission, denen der Empfangsstaat im Rahmen der Ratifizierung der WKK zugestimmt hat.65 Dies wird auch dadurch deutlich, dass völkerrechtliche Instrumente, die sich auf die Praxis des Embassy Voting beziehen, dieses als Novum betrachten; wie etwa die European Convention on Consular Functions of the Council of Europe von 1967. Der Explanatory Report zu Artikel 8 der 1967 European Convention66 bezeichnet die Funktion von Konsularbeamten, im Wahlbereich tätig zu werden, als „Innovation“.67 Zumindest 1967 gab 61 In der Folge wird vor allem auf die WKK als einschlägiges Instrument eingegangen. Siehe i.d.S. Art. 3 WDK, der auf die WKK als einschlägig verweist, wenn diplomatische Vertretungsbehörden konsularische Funktionen ausüben. 62 Art. 28 WKK: „Der Empfangsstaat gewährt der konsularischen Vertretung jede Erleichterung zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben.“ Eine vergleichbare Bestimmung ist in der WDK enthalten. 63 Die WKK (wie die WDK) wird generell als Kodifikation von Völkergewohnheitsrecht gewertet, weswegen sie auch für Nichtvertragsparteien verbindlich ist. Angesichts der 179 Vertragsparteien zur WKK ist dies jedoch von subsidiärer Bedeutung. (Vgl. den Ratifikationsstand der WKK in UNTC, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=IND&mtdsg_no=III-6&chapter=3&clang=_en, zuletzt abgerufen am 17.01.2019). 64 Art. 5 WKK: „Die konsularischen Aufgaben bestehen darin: (a) die Interessen des Entsendestaats sowie seiner Angehörigen, und zwar sowohl natürlicher als auch juristischer Personen, im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen; […] ( f ) die Interessen des Entsendestaats sowie seiner Angehörigen, und zwar sowohl natürlicher als auch juristischer Personen, im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen; […].“ 65 Zwar gibt es Stimmen in der Literatur, die der Auffassung sind, dass Embassy Voting von den traditionellen konsularischen Aufgaben mitumfasst sei; das entspricht aber nicht der Mehrheitsmeinung. I.d.S. Behrens, Diplomatic Law in a New Millennium, 2017, 262. 66 Art. 8 der 1967 European Convention on Consular Functions: „A consular officer shall be entitled to: […] b. send individual notifications to nationals of the sending State in connection with referendums and elections, national and local, and to receive ballot papers of his nationals qualified to participate in the said referendums and elections.“ 67 Explanatory Comments zu Art. 8: „56. Paragraph (b) is an innovation and must be considered as a „European provision“ par excellence; the text was favourably received by most delegations […]“, http:// www.worldlii.org/int/other/COETSER/1967/4.html, zuletzt abgerufen am 17.01.2019.
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es also kein Recht des Entsendestaates gegenüber dem Empfangsstaat, Wahlen in der konsularischen Vertretung durchzuführen. Die 1967 Konvention hätte zwar – wie gezeigt – ein solches Recht vorgesehen; sie trat aber nie in Kraft. Auch nachfolgend sind keine Entwicklungen zu beobachten, die auf ein solches Recht schließen lassen. Embassy Voting gehört also nicht zum engeren Aufgabenkreis einer konsularischen Vertretung. Eine konsularische Vertretung kann zwar auch andere Aufgaben wahrnehmen als jene, die in der Liste des Art. 5 WKK genannt sind; einschließlich der Durchführung von Embassy Voting. Art. 5 m) WKK knüpft dies allerdings an prozedurale Voraussetzungen und verfahrensrechtliche Pflichten des Entsendestaates.68 Zusätzliche Aufgaben (wie Embassy Voting) sind dem Empfangsstaat vorab zu notifizieren; dieser darf keinen Einspruch gegen die Wahrnehmung der Aufgaben erheben. Dementsprechend setzt Embassy Voting zumindest eine Notifizierung vorab und das Fehlen eines Einspruchs durch den Empfangsstaat bzw. dessen stillschweigende Akzeptanz voraus.69 Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, hätte der Empfangsstaat die Pflicht, Embassy Voting zu ermöglichen. Wurde die Notifikation unterlassen oder diese beeinsprucht, besteht keine korrespondierende Pflicht des Empfangsstaates, Embassy Voting zu ermöglichen; er darf dieses untersagen. Kurz, Embassy Voting ist nicht Teil der klassischen konsularischen Aufgaben und erfordert eine ausdrückliche Notifikation des Empfangsstaats durch eine Vertretungsbehörde gemäß Art. 5 m) WKK. Dessen ungeachtet könnte der aktuelle Trend in Richtung OCV, mit Embassy Voting als de facto gebräuchlichster Form, den Anwendungsbereich des Art. 5 m) WKK erweitert haben. Dies ist im Folgenden zu prüfen.
b) Sonstige völkerrechtliche Grundlagen Der klassische Aufgabenbereich einer Vertretungsbehörde (Art. 5 WKK) könnte durch die vielfach praktizierte Durchführung des Embassy Voting erweitert worden sein. Denn auch wenn Embassy Voting nicht Teil der traditionellen konsularischen Aufgaben ist und im Prinzip eine ausdrückliche Notifikation erfordert, kann sich 68 Art. 5 WKK: „[…] m) alle anderen der konsularischen Vertretung vom Entsendestaat zugewiesenen Aufgaben wahrzunehmen, die nicht durch Gesetze und sonstige Rechtsvorschriften des Empfangsstaats verboten sind oder gegen die der Empfangsstaat keinen Einspruch erhebt oder die in den zwischen dem Entsendestaat und dem Empfangsstaat in Kraft befindlichen internationalen Übereinkünften erwähnt sind.“ 69 Das wird durch einschlägige Staatenpraxis wie jener Kanadas oder Sloweniens bestätigt. Die Regierung Kanadas ist beispielsweise der Meinung, dass konsularische und diplomatische Vertretungsbehörden, die Aufgaben für fremde Wahlen übernehmen, Kanadas vorherige Zustimmung für diese Aktivitäten einholen müssen. Siehe Policy on foreign elections in Canada on foreign electoral constituenies, https://www.international.gc.ca/protocol-protocole/policies-politiques/elections_faq_elec tions_qr.aspx?long=eng, zuletzt abgerufen am 4.3.2019. Slowenien wiederum lässt an seinen ausländischen Vertretungsbehörden Embassy Voting nur unter der Voraussetzung durchführen, dass „the country in which they (the expatriate voters) are residing approves of such voting or that it is authorized by an international agreement“, Art. 82 Assembly Elections Act of Slovenia. Auch Deutschland verlangt eine vorherige Notifikation für Embassy Voting. Vgl. für Details Birkenkötter/von Notz (Fn. 45).
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dies durch spätere Übung der Vertragsparteien iSd Art. 31 Abs. 3 b) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) oder nachfolgendes Völkergewohnheitsrecht geändert haben. Zunächst verweist Art. 31 Abs. 3 b) WVK70 auf eine entsprechende spätere Übung der Vertragsparteien, die bei der Auslegung einer Vertragsbestimmung – also im Rahmen der Vertragsinterpretation – heranzuziehen ist. Die WKK wurde in den 1960iger Jahren angenommen, bevor der generelle Trend in Richtung OCV (inklusive Embassy Voting) eingesetzt hat. Wie gezeigt, praktizieren heute, anders als damals, zahlreiche Staaten Embassy Voting.71 Dementsprechend könnte argumentiert werden, dass Embassy Voting eine spätere Übung der Vertragsparteien in der Anwendung des Vertrags iSd Art. 31 Abs. 3 b) der WVK darstellt72 und insofern für die Auslegung des Begriffs „konsularische Aufgabe“ des Art. 5 WKK heranzuziehen ist.73 Dabei muss die Übung gemäß Art. 31 Abs. 3 b) WVK übereinstimmend sein – d.h. zumindest von einigen Vertragsparteien mit gewisser Häufigkeit praktiziert werden und von den sich nicht beteiligenden Vertragsparteien unwidersprochen bleiben; also von diesen zumindest stillschweigend akzeptiert werden.74 Bei Erfüllung dieser Voraussetzungen wäre es möglich, im Rahmen einer evolutiv-dynamischen Vertragsinterpretation eine Pflicht des Empfangsstaates, Embassy Voting zu ermöglichen, als zu den konsularischen Aufgaben einer Vertretungsbehörde gehörend zu argumentieren. Dem kann allerdings – trotz der weitverbreiteten Praxis von Embassy Voting – entgegengehalten werden, dass die WKK Vertragsparteien die Praxis des Embassy Voting in der Regel noch heute an prozedurale Voraussetzungen knüpfen (wie vorherige Notifikation etc.), weswegen ein Recht auf Embassy Voting ohne Erfüllung dieser Voraussetzungen ungeachtet einer auf spätere Übung bezugnehmenden Vertragsinterpretation/Art. 31 Abs. 3 b) WVK nur schwer konstruierbar bleibt. Ähnliches gilt für das noch weitergehende Argument basierend auf Völkergewohnheitsrecht. Bekanntlich verweist Art. 38 Abs. 1 b) IGH Statut als Voraussetzungen für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht auf Staatenpraxis, die von Rechtsüberzeugung/opinio iuris getragen ist.75 Die Judikatur des IGH detailliert diese Voraussetzungen dahingehend, dass die Staatenpraxis weitverbreitet und allgemein sein muss.76 70 Art. 31 Abs. 3 b) WVK: „[…] bei der Auslegung des Vertrags sind in gleicher Weise zu berücksichtigen: […] b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags bei der die Auslegung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht.“ 71 Siehe oben, Teil II.2.b. 72 Beachte in dem Zusammenhang, dass die Grenze zwischen Vertragsinterpretation und Änderung durch spätere Praxis fließend ist. I.d.S. Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2009, 432: „Authentic interpretation in subpara. 3(b) is of dynamic nature in that it may alter the original ordinary meaning of a term by both contractua and customary means […] parties may in their practice gradually wander from interpretation […] to customary modification of the treaty.“ 73 Siehe zur weitverbreiteten Praxis des Embassy Voting, oben Teil II.2.b. 74 Siehe Villiger (Fn. 72), 431: „The active practice [of some parties to the treaty] should be consistent rather than haphazard and it should have occurred with a certain frequency. However, the subsequent practice must establish the agreement of the parties regarding its interpretation. Thus, it will have been acquiesced in by the other parties and no other party will have raised an objection.“ 75 Art. 38 1 b) IGH Statut verweist auf: „internationale[s] Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“. 76 Siehe IGH, Dänemark und die Niederlande/Deutschland, 20. Februar 1969, ICJ Reports 1969, 3, 41 f., 43 f. (Abs. 72) – North-Sea Continental Shelf Cases, für die Kriterien für Völkergewohnheitsrecht.
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Auch das Element der Rechtsüberzeugung (opinio iuris) wurde entsprechend konkretisiert.77 Üblicherweise wird die Rechtsüberzeugung von Stellungnahmen oder Äußerungen von staatlichen Vertretern (z.B. Außenministern) abgeleitet.78 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, eine umfassende Analyse der relevanten Staatenpraxis durchzuführen. Trotzdem scheint die Mehrzahl der Staaten, die Embassy Voting auf ihrem Staatsgebiet akzeptieren, sehr wohl an der vorherigen Notifikation/Anzeige der Praxis des Embassy Voting festzuhalten.79 Auch die entsprechende Rechtsüberzeugung ist nur schwer argumentierbar. Es besteht also keine auf Völkergewohnheitsrecht basierende Pflicht des Aufenthaltsstaates, Embassy Voting ohne vorherige Notifikation/Anzeige zuzulassen.80 Zwar ist die Herausbildung von regionalem (z.B. in der OSZE Region) und sogar bilateralem Völkergewohnheitsrecht möglich. Der IGH hat im „Indian Passage“-Fall die grundsätzliche Möglichkeit von bilateralem Völkergewohnheitsrecht bejaht.81 Wenn also ein Staat eine entsprechende Praxis des Embassy Voting mit einem anderen Staat hat, ist er an diese Praxis gebunden, sobald sie sich zu Völkergewohnheitsrecht verfestigt hat. Allerdings sind die Bedingungen für die Herausbildung von regionalem (oder bilateralem) Völkergewohnheitsrecht sehr streng: die Staatenpraxis muss besonders gleichmäßig sein, da sie ja nur von einer kleinen Zahl von Staaten praktiziert wird.82 Es erscheint also entsprechend schwierig, diesbezügliche Pflichten des Empfangsstaates, Embassy Voting zu ermöglichen, in (bilateralem/regionalen) Völkergewohnheitsrecht zu begründen. Demgegenüber leichter festzustellen ist Estoppel. Das Prinzip des Estoppel (verankert im Vertrauensschutz) verwehrt einem Staat, (ohne guten Grund) sein Verhalten zu ändern, wenn ein anderer Staat darauf vertrauend Dispositionen getroffen hat oder durch die Veränderung des Verhaltens einen Nachteil erleiden würde.83 Ebenso verhindert Estoppel, dass ein Staat einer Praxis widerspricht, die er zuvor akzeptiert hat. Dementsprechend wäre ein Staat estopped, es wäre ihm verboten, OCV in konsularischen (bzw. diplomatischen) Vertretungen zu verhindern, wenn er Embassy Voting in früheren Wahlen akzeptiert hat. Unabhängig von den oben genannten Gründen muss natürlich Embassy Voting dann akzeptiert werden, wenn eine andere völkerrechtliche Basis besteht, z.B. wenn
77 Siehe ebd., 44: „[…] The States concerned must […] feel that they are conforming to what amounts to a legal obligation.“ Siehe auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 1984, 353 f. 78 Siehe i.d.S. etwa von Arnauld, Völkerrecht, 2016, 106 mit weiteren Verweisen. 79 Vgl. für Details Birkenkötter/von Notz (Fn. 45); i.d.S. auch Gragl (Fn. 4), 677. 80 Jedenfalls gibt es die Möglichkeit des Persistent Objector: wenn Staaten nicht an neu entstehendes Völkergewohnheitrsrecht gebunden sein wollen, müssen sie entsprechend protestieren. Siehe IGH, Vereinigtes Königreich/Norwegen, 18. Dezember 1951, ICJ Reports 1951, 115, 131 – Fisheries Jurisdiction case. 81 Vgl. IGH, Portugal/Indien, 12. April 1960, ICJ Reports 1960, 6, 39, 42 ff. – Right of Passage over Indian Territory. 82 Herdegen, Völkerrecht, 2016, § 16 Rn. 1, 3. 83 Vgl. Voyiakis, Estoppel, 2012: „As it is most commonly described, estoppel is a rule of international law that bars a party from going back on its previous representations when those representations have induced reliance or some detriment on the part of others.“
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Verträge oder andere Vereinbarungen ein Recht auf Embassy Voting vorsehen. Allerdings sind Verträge oder sonstige Vereinbarungen dieser Art selten. Auch das Reziprozitätsprinzip kann eine Basis für eine eventuelle Pflicht des Empfangsstaates darstellen, Embassy Voting zu ermöglichen. Das Reziprozitätsprinzip beruht auf der Maxime, dass ein Staat eine völkerrechtliche Norm, auf die er sich selbst gestützt hat, auch in der Anwendung gegen sich gelten lassen muss.84 Im Fall des Embassy Voting würde das bedeuten, dass wenn ein Staat selbst Embassy Voting auf dem Territorium eines anderen Staates praktiziert hat, er diese Praxis durch Letzteren auch auf seinem eigenen Territorium akzeptieren muss. In Deutschland wurde etwa in den 1990iger Jahren argumentiert, dass Deutschland anderen Staaten Embassy Voting auf deutschem Staatsgebiet gestatte, weswegen gegebenenfalls auch seine eigenen Staatsbürger in deutschen Vertretungen in den betreffenden Staaten Embassy Voting durchführen dürften.85 Das Reziprozitätsprinzip bildet gegebenfalls also eine vergleichsweise starke Grundlage für Embassy Voting, wenn die Praxis gegenseitig ist.
c) Ein mittelbarer Schutz für Embassy Voting? Sogar wenn keine Duldungspflicht von Embassy Voting für den Empfangsstaat besteht, können gewisse Pflichten aus der generellen Schutzpflicht des Empfangsstaats für eine ausländische Vertretungsbehörde gewonnen werden. So hat der Empfangsstaat die Pflicht, die Wahrnehmung der konsularischen Aufgaben durch den Entsendestaat gemäß Art. 36 WKK zu ermöglichen; dies beinhaltet auch den freien Verkehr mit Angehörigen des Entsendestaates.86 Dementsprechend ist Angehörigen des Entsendestaates der Zutritt zur konsularischen (bzw. diplomatischen) Vertretung durch den Empfangsstaat zu ermöglichen. Das umfasst auch potentielle Wähler. Polizeisperren oder Ähnliches, die den Zugang zur Vertretung für mögliche Wähler blo-
84 Siehe Simma, Reciprocity, Oxford Public International Law Online Encyclopedia, 2008, Abs. 2: „The designation of reciprocity as a principle of international law […] should only be applied to con clusions derived from the analysis of the latter – above all to the maxim that a State basing a claim on a particular norm of international law must accept that rule as also binding upon itself “, http://opil. ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1461, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. Das Prinzip der Reziprozität kann als allgemeiner Rechtsgrundsatz iSd Art. 38.1.c IGH Statut verstanden werden, ebd. 85 Deutscher Bundestag, Steonographischer Bericht, 40. Sitzung, Bonn, 18. September 1991, http:// dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12040.pdf, zuletzt abgerufen am 17.01.2019: Anfragebeantwortung, Deutsche Bundesregierung. Deutschland sieht allerdings nur die Briefwahl und kein Embassy Voting vor, weswegen eine diesbezügliche Berufung auf das Reziprozitätsprinzip ausscheidet. 86 Siehe i.d.S. Art. 36 WKK: Verkehr mit Angehörigen des Entsendestaates: „(1) Um die Wahrnehmung konsularischer Aufgaben in Bezug auf Angehörige des Entsendestaats zu erleichtern, gilt folgendes: a) Den Konsularbeamten steht es frei, mit Angehörigen des Entsendestaats zu verkehren und sie aufzusuchen. Angehörigen des Entsendestaats steht es in gleicher Weise frei, mit den Konsularbeamten ihres Staates zu verkehren und sie aufzusuchen; […] 2.) Die in Absatz 1 genannten Rechte sind nach Maßgabe der Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften des Empfangsstaats auszuüben; hiebei wird jedoch vorausgesetzt, daß diese Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften es ermöglichen müssen, die Zwecke vollständig zu verwirklichen, für welche die in diesem Artikel vorgesehenen Rechte eingeräumt werden.“
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ckieren, können dementsprechend eine Verletzung der aus der WKK erwachsenden Pflichten des Empfangsstaates darstellen.87 Die allgemeinen Pflichten aus Art. 36 WKK (Verkehr mit Angehörigen des Empfangsstaates) sind im Prinzip auch auf Situationen anwendbar, in denen Embassy Voting ohne Zustimmung eines Staates und dementsprechend völkerrechtswidrig praktiziert wird. Zwar enthält die WKK die Pflicht konsularischer Vertreter, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften des Empfangsstaates zu beachten (siehe Art. 55 Abs. 1 WKK; Art. 36 Abs. 2 WKK) und die konsularischen Räumlichkeiten nicht in einer Weise zu benutzen, die mit der Wahrnehmung der konsularischen Aufgaben unvereinbar ist (siehe Art. 55 Abs. 2 WKK).88 Insofern kann Embassy Voting ohne Zustimmung des Empfangsstaates – oder trotz Widerspruchs – gegen die WKK verstoßen.89 Allerdings wird der Empfangsstaat, wenn er auf eine völkerrechtswidrige Wahlaktivität in einer konsularischen Vertretung reagiert und versucht, möglichen Wählern den Zutritt zu verwehren, um keine illegalen Wahlhandlungen zuzulassen, in der Regel nicht wissen, ob die ausländischen Staatsangehörigen für den Wahlakt oder für den Verkehr mit konsularischen Vertretern iSd Art. 36 WKK zur Vertretungsbehörde kommen. Es kann also praktisch schwierig sein, illegale Wahlpraktiken/Embassy Voting von anderen Aktivitäten, die den Pflichten des Empfangsstaates gemäß der WKK entsprechen, zu unterscheiden.90 Insofern kann ein mittelbarer Schutz aus Art. 36 WKK gewonnen werden. Was mögliche Behinderungen von Embassy Voting durch Privatpersonen anbelangt, ist Art. 31 Abs. 3 WKK einschlägig. So hat der Empfangsstaat die „besondere Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die konsularischen Räumlichkeiten vor jedem Eindringen und jeder Beschädigung zu schützen und um zu verhindern, daß der Friede der konsularischen Vertretung gestört oder ihre Würde beeinträchtigt wird“.91
Dementsprechend hätte der Empfangsstaat die Pflicht, konsularische Vertretungen gegen Störungen durch Privatpersonen zu schützen, die darauf abzielen, Embassy Voting zu verhindern. Vgl. diesbezüglich auch Art. 25 WDK. Art. 55 WKK – Beachtung der Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften des Empfangsstaats: „(1) Alle Personen, die Vorrechte und Immunitäten genießen, sind unbeschadet derselben verpflichtet, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften des Empfangsstaats zu beachten. Sie sind ferner verpflichtet, sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. (2) Die konsularischen Räumlichkeiten dürfen nicht in einer Weise benutzt werden, die mit der Wahrnehmung der konsularischen Aufgaben unvereinbar ist.“ Vgl. auch Art. 22 WDK. 89 Vgl. auch Art. 41 WDK. 90 Art. 31 WKK – Unverletzlichkeit der konsularischen Räumlichkeiten. Sogar der illegale Gebrauch von konsularischen Räumlichkeiten erlaubt es nicht, das Prinzip der Unverletzlichkeit der konsularischen Räumlichkeiten des Art. 31 WKK per se nicht zu beachten. Die einzige Ausnahme zu diesem Grundsatz der WKK betrifft Fälle höherer Gewalt, wie Feuer oder Naturkatastrophen (Art. 31 Abs. 2 WKK). Der Empfangsstaat hat also wenig Möglichkeit, auch illegale Wahlaktivitäten festzustellen. 91 Art. 31 WKK – Unverletzlichkeit der konsularischen Räumlichkeiten: „[…] (3) Vorbehaltlich des Absatzes 2 hat der Empfangsstaat die besondere Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die konsularischen Räumlichkeiten vor jedem Eindringen und jeder Beschädigung zu schützen und um zu verhindern, daß der Friede der konsularischen Vertretung gestört oder ihre Würde beeinträchtigt wird“. 87
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d) Grenzen der Pflichten des Empfangsstaates im Zusammenhang mit Embassy Voting Wie gezeigt, bieten weder einschlägige Wahlstandards noch das aktuelle Völkerrecht eine ausreichende Grundlage für eine allfällige Pflicht des Aufenthaltsstaates des im Ausland lebenden Bürgers, Embassy Voting zu ermöglichen. Bestenfalls kann die Pflicht zur Ermöglichung des Embassy Voting durch den Empfangsstaat im Einzelfall unter Bezugnahme auf völkerrechtliche Prinzipien wie Estoppel oder Reziprozitätserwägungen begründet oder ein mittelbarer Schutz über den notwendigen Verkehr von ausländischen Staatsbürgern mit ihren Vertretungsbehörden bewirkt werden. Allfällige Pflichten des Empfangsstaats in Bezug auf Embassy Voting (oder OCV ) sind aber jedenfalls begrenzt. Beispielsweise umfasst eine Duldungspflicht von Embassy Voting nicht die Pflicht, auch einen eventuellen Wahlkampf des ausländischen Staates zu akzeptieren. Auf dem Territorium eines anderen Staates Wahlkampf zu führen, wird generell als völkerrechtswidrig angesehen. Es ist mangels Zustimmung eine Verletzung der Gebietshoheit des anderen Staates,92 wie im Explanatory Report zur 1967 European Convention on Consular Functions betont: „[T]he Committee was unanimously of the opinion that this paragraph (b) [polling] could not in any way authorise the conduct of an electoral campaign within the receiving State; such an activity being considered contrary to the ordre public of the State. For this reason, it was decided not to introduce into this paragraph a phrase according to the terms of which the consular officer would have the right to „publish information“ concerning the electoral activities of the sending State.“93
Diese Position wird auch in einschlägiger Staatenpraxis bestätigt. Belgien forderte z.B. ausländische Vertretungen auf, „[to] refrain from making use of Belgian public media in the election campaign or for the elections themselves’ and to ‘take all possible precautions to avoid demonstrations or rallies around polling stations.“94
Demgemäß umfasst das Recht, in ausländischen Vertretungen im Empfangsstaat zu wählen, nicht das Recht, auf dem Territorium eines anderen Staates Wahlkampf zu führen. Darüber hinaus hat der Empfangsstaat natürlich das Recht, Embassy Voting aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu beschränken.95 Sollte es also etwa zu gewalttätigen Ausschreitungen oder Unruhen kommen, darf ein Empfangsstaat den Zugang zu den Räumlichkeiten der ausländischen Vertretung beschränken. Die Einschränkungen müssen allerdings vernünftig und verhältnismäßig sein.96 Zum Hintergrund des Verbots, Wahlkampf zu führen: Bauböck (Fn. 3). Explanatory Report (Fn. 67), Abs. 57. 94 Belgium’s Circular Note vom 15. Januar 2007. 95 Dies erst recht, wenn drohende Gefahren für öffentliche Sicherheit und Ordnung des Empfangsstaates in Vorgängen begründet sind, welche von der Vertretungsbehörde selbst ausgehen. (Vgl. dazu allgemein auch Ipsen, Völkerrecht, 2014, § 24 Rn. 26). 96 Dies ergibt sich zum einen aus der Pflicht des Empfangsstaates, den ungestörten Verkehr der ausländischen Staatsangehörigen mit der Vertretungsbehörde zu gewährleisten; gegebenenfalls aus der notwendigen Gewährung von Embassy Voting. (Vgl. auch Denza, Diplomatic Law – Commentary on 92 93
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4. Beurteilung des verhinderten Embassy Votings in der Ukraine Der konkrete Anlassfall, die Behinderung des Embassy Voting an russischen Vertretungsbehörden im März 2018 durch die Ukraine, zeigt die Schwierigkeiten einer umfassenden menschen- und völkerrechtlichen Beurteilung. Zunächst bieten menschenrechtliche Instrumente und das Recht auf politische Teilhabe eine nur unzureichende Grundlage für allfällige Pflichten der Ukraine, Embassy Voting zu ermöglichen.97 Bestenfalls könnte politisch auf die gemeinsame Teilnahme an Wertegemeinschaften, wie Europarat und OSZE, verwiesen werden, die sich zur pluralistischen Demokratie und den Menschenrechten bekennen.98 Auf dieser Basis erschiene zumindest eine moralisch-politische Pflicht argumentierbar, das Recht auf politische Teilhabe von Bürgern eines anderen Mitglieds der Wertegemeinschaft durch die Ermöglichung von Embassy Voting zu gewähren. Diese Grundlage für eine ukrainische Duldungspflicht ist allerdings vergleichsweise schwach. Auch das allgemeine Völkerrecht bietet nur eine unzureichende Basis für eine diesbezügliche Pflicht der Ukraine: weder die WKK noch eine spätere Übung iSd Art. 31 Abs. 3 b) WVK zur Berücksichtigung im Rahmen der Vertragsauslegung oder nachfolgendes Völkergewohnheitsrecht bieten eine ausreichende Grundlage. Auch ein auf Estoppel basierendes Argument erscheint schwierig, da sich die Ukraine schon während der russischen Parlamentswahlen 2016 gegen Embassy Voting ausgesprochen hat.99 Am tragfähigsten scheint noch der Verweis auf das Reziprozitätsprinzip: So hat die Ukraine 2014 selbst Wahlen in ihren Vertretungen in Russland durchgeführt,100 ohne dabei behindert worden zu sein. Dementsprechend wäre es auf Basis des Reziprozitätsprinzips geboten, Embassy Voting in den Vertretungen Russlands auf seinem eigenen Staatsgebiet zuzulassen. Dies umso mehr, als die Ukraine generell Embassy Voting in ihren Vertretungsbehörden im Ausland praktiziert. Eine entsprechende völ-
the Vienna Convention on Diplomatic Relations, 2016, 141.) Im Fall des Fehlens von konkreten Beweisen für Sicherheitsrisiken kann den Empfangsstaaten natürlich kein rechtmäßiges Interesse zugebilligt werden, sich auf Sicherheitsrisiken zu berufen. (Vgl. i.d.S. Bauböck (Fn. 3).) 97 Die Ukraine ist nicht Vertragspartei der CIS Convention, die eine solche Pflicht vorsehen würde. (Vgl. i.d.S. oben, Fn. 14.) 98 Siehe oben, Teil III.2. 99 Bei den russischen Parlamentswahlen 2016 (den ersten Wahlen in Russland nasch der Annexion der Krim), weigerte sich die Ukraine, den russischen Staatsangehörigen die Wahl zu ermöglichen, da diese auch auf dem Gebiet der Krimhalbinsel stattfanden. Russland führte jedoch dennoch Embassy Voting durch. In der Umgebung der russischen Botschaft in Kiev kam es zu Handgemengen und Protesten gegen russische Wähler („Rechtsnationalisten“ waren beteiligt). Im Vorfeld der Wahlen von 2016 in Russland protestierte die ukrainische Regierung offiziell gegen Russlands Pläne, die Wahlen auf der Krim abzuhalten. Die Sprecherin des ukrainischen Außenministers erklärte, dass die Teilnahme an russischen Wahlen in ihrem Land nicht gestattet sei, https://www.bbc.com/news/world-europe37382850, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/no-russian-presidential-elections-ukraine-cri mea-avakov-says.html, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. 100 Vgl. Webseite der ukrainischen Wahlkommission, abruf bar unter: http://www.cvk.gov.ua/ vnd_2012_en/skladcec/, zuletzt abgerufen am 17.01.2019. Siehe auch OSZE/ODIHR, Early Parliamentary Elections 26 October 2014, Final Report, 12, der sich auf 112 Wahllokale in 72 Ländern gemäß der Resolution Nr. 1651 der ukrainischen Wahlkommission vom 10. Oktober 2014 bezieht.
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kerrechtliche Pflicht der Ukraine, Embassy Voting in russischen Vertretungsbehörden zu dulden, erscheint insofern vor allem aus dem Reziprozitätsprinzip ableitbar. Eine solche Pflicht der Ukraine, Embassy Voting zuzulassen, umfasst aber nicht die Pflicht, auch einen etwaigen Wahlkampf zu dulden. Auch eine Berufung auf Sicherheitserwägungen seitens der Ukraine, um so notwendige Beschränkung von Embassy Voting auch bei Bestehen einer grundsätzlichen Duldungspflicht zu argumentieren, ist grundsätzlich denkbar. Allerdings ist ein entsprechender kausaler Zusammenhang zwischen Embassy Voting und der dadurch entstehenden Sicherheitsgefährdung deutlich zu machen; ebenso muss die Untersagung verhältnismäßig sein. Nur allgemein auf die Gefahr von Protesten zu verweisen, wie dies die Ukraine bei den Wahlen 2018 durch den Hinweis tat, dass die Wahlen in den russischen Vertretungsbehörden im Jahr 2016 zu Protesten und Unruhen in der Ukraine geführt hätten, erscheint unzureichend.101 Es bleibt aber diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum. Dementsprechend veranschaulicht die ukrainische Behinderung des Embassy Voting an russischen Vertretungsbehörden einleuchtend die Schwierigkeiten, die mit einer völkerrechtlichen Beurteilung von Embassy Voting verbunden sind, und zeigt auch wie komplex die diesbezüglichen Fragestellungen sind.
IV. Schlussbetrachtung Wählen außerhalb des Heimtlandes/OCV wurde in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger. Vor allem Embassy Voting wird zunehmend praktiziert und ist ein wichtiges Instrument, um OCV zu realisieren. In der Regel ist Embassy Voting vergleichsweise problemlos und wird ohne große Hürden und relativ unbemerkt in den ausländischen Vertretungsbehörden der betreffenden Staaten durchgeführt. Kommt es aber zu Spannungen, zeigt sich der diesbezüglich wenig ausgeprägte völker- und menschenrechtliche Rahmen. So hinken, wie die völkerrechtliche Bestandsaufnahme ergab, die anwendbaren völker- und menschenrechtlichen Standards der zunehmend praktizierten Praxis von OCV und, im konkreten Fall, von Embassy Voting hinterher. Dies zeigt sich gerade bei Problemen wie Behinderungen des durch russische Bürger in der Ukraine praktizierten Embassy Voting: dann nämlich, wenn der Aufenthaltsstaat Embassy Voting aus welchen Erwägungen auch immer nicht zulassen will. Diesfalls stehen menschen- und völkerrechtliche Standards und Commitments in gewisser Spannung und enthalten nur wenig einschlägige Anweisungen für staatliches Handeln. Ein generelles Spannungsfeld wird offenbar: So werden Wahlen als im Kernbereich der staatlichen Souveränität gelegen noch immer als primär nationale Angelegenheit betrachtet. Die Frage der Gebietshoheit, die am Begriff des (einen) Staatsbürgers festhält, trifft auf die zunehmend multiplen Zugehörigkeiten von Individuen in Zeiten der Globalisierung mit steigender Mobilität und Migration. Auch 101 Vgl. The Irish Times, Ukraine bars Russians from Voting over Crimean Dispute, 18. März 2018, https://www.irishtimes.com/news/world/europe/ukraine-bars-russians-from-voting-over-crimeadispute-1.3431933, zuletzt abgerufen am 17.01.2019; Kyiv Post, No Russian presidential elections in Ukraine because of Crimea, Avakov says, 17. März 2018, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ no-russian-presidential-elections-ukraine-crimea-avakov-says.html, zuletzt abgerufen am 17.01.2019.
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das Völkerrecht sollte dem diesbezüglichen Wandel im Rahmen einer Weiterentwicklung von Standards für OCV und Embassy Voting noch über die schon gemachten Anfänge hinaus Rechnung tragen.
Der Schutz des Wahlrechts durch regionale Menschenrechtsgerichtshöfe Ein Beitrag zu ausgewählten Fällen der jüngeren Rechtsprechung von
Dr. Frithjof Ehm, MLE.1 (Wien) Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 II. Regionale Menschenrechtsgerichtshöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 III. Die jüngere Rechtsprechung der regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe zum Wahlrecht . . . . . . . . . . 237 1. Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3. Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 III. Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
I. Einleitung Die über viele Jahrhunderte andauernde Indifferenz des Völkerrechts gegenüber den staatlichen Binnenstrukturen ist in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere seit Ende des Kalten Krieges, kontinuierlich geschrumpft. Diese Entwicklung hat zahlreiche Facetten im universellen und regionalen Völkerrecht. Eine dieser Facetten ist, dass sich das Völkerrecht zunehmend auch zu Herrschaftsformen, politischen Ordnungen oder politischen Systemen äußert und die Demokratie zusehends favorisiert. In diesem Zusammenhang hat Thomas M. Franck bereits 1992 auf ein „Emerging Right to Democratic Governance“ verwiesen.2 Dieser Aufsatz gelangte schnell zu einer gewissen Popularität und bewirkte eine große Zahl weiterer Publikationen mit ähnlicher Dieser Beitrag gibt nur die persönliche Meinung des Autors wieder. Franck, The Emerging Right to Democratic Governance, American Journal of International Law 86 (1992), 46 ff. 1 2
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Konnotation3 bis hin zu Vertretern, die von einem völkerrechtlichen Demokratiegebot sprechen, das sich an die Staaten dieser Welt richtet. Diese letztgenannte Position lässt sich nach Auffassung des Autors dieses Beitrages inzwischen dem universellen und teilweise auch dem regionalen Völkerrecht entnehmen.4 Unabhängig davon, wie man sich zu dieser Rechtsfrage positionieren mag, ist es eine Tatsache, dass die Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten in wachsendem Maße in völkerrechtlich relevante Dokumente Eingang gefunden hat. Eine vergleichende Betrachtung besonders zentraler Dokumente offenbart dabei sechs generelle Prinzipien, an denen sich eine demokratische Regierung messen lassen muss: (1) die Gewährleistung von elementaren Menschenrechten, (2) das regelmäßige Abhalten von freien und fairen Wahlen, (3) die Existenz von Rechtsstaatlichkeit, (4) das Bestehen eines Mehrparteiensystems, (5) Gewaltenteilung und (6) eine unabhängige Justiz.5 An dieser Aufzählung wird deutlich, dass das Wahlrecht jedenfalls ein fester Bestandteil, ja ein Kernelement der Demokratie ist.6 Seine überragende praktische Bedeutung folgt nach Meinung vieler zudem unter anderem daraus, dass seine Ausübung den nachhaltigsten Ausgangspunkt für eine demokratische Entwicklung bildet,7 da nur die gelebte Partizipation zu tragfähigen Veränderungen führen könne. Dazu passt, dass auch das Bundesverfassungsgericht das subjektive Wahlrecht als das wichtigste staatsbürgerliche Recht oder das „vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“ bezeichnet.8 Den Gegenpol zu dieser Sichtweise bildet der sog. Sequenzialismus, wonach Demokratisierungsprozesse stets langsam und stufenweise verlaufen und dies oftmals auch müssen. Danach ist das Abhalten von Wahlen zwar wichtig, den Ausgangspunkt sollten jedoch institutionelle Veränderungen im Rahmen autoritärer Strukturen bilden.9
Siehe lediglich die Nachweise in Binder, Die Legitimität internationaler Wahlstandards am Beispiel von EGMR-Rechtsprechung und OSZE-Wahlmissionen, Der Staat 56 (2017), 415 (415 f.). 4 Ehm, Das völkerrechtliche Demokratiegebot – Eine Untersuchung zur schwindenden Wertneu tralität des Völkerrechts gegenüber den staatlichen Binnenstrukturen, 2013. Mit einschränkender Unterstützung etwa Pippan, Buchbesprechungen/Book Reviews, Verfassung und Recht in Übersee 48 (2015), 426 (429), bei dem es heißt, dass sich dies „für die regionale Ebene (insbesondere in Bezug auf Europa, die beiden Amerikas sowie Afrika) sicher gut begründen [lässt], auf universeller Ebene sind derartige imperative Forderungen allerdings, jenseits rein politischer Bekenntnisse und Absichtserklärungen, nach wie vor kaum auszumachen.“ 5 Ehm/Walter (eds.), International Democracy Documents – A Compilation of Treaties and Other Instruments, 2015, 12 ff. 6 Bei Morlok, Das Verhältnis von Erst- und Zweitstimme aus juristischer Sicht, in: Oppelland (Hrsg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015, 91, heißt es etwa: „Das Wahlrecht ist das entscheidende Instrument für die Legitimationsübertragung und damit zur Realisierung der Volkssouveränität.“ Poier, Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht – rechts- und politikwissenschaftliche Überlegungen zu Fragen des Wahlrechts und der Wahlsystematik, 2001, 207, schreibt dagegen: „Das Wahlrecht ist das Kernstück der Demokratie. Es ist greif bares und begreif bares Mittel der Teilnahme der Bürger am politischen Prozess.“ 7 Golosov, Demokratie als System aus Institutionen und Praktiken: das dynamische Vermächtnis und die lebendigen Verpflichtungen zentraler OSZE-Dokumente, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), 2013, 311 (313). 8 Vgl. BVerfGE 1, 14 (33). Siehe auch BVerfGE 123, 267 (340). 9 Vgl. lediglich Carothers, How Democracies Emerge – The „Sequencing“ Fallacy, Journal of Democracy 1/2007, 12 ff. 3
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Auch diese (politologische) Frage soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft und entschieden werden, sie unterstreicht jedoch zusätzlich, wie zentral das Wahlrecht ist und dass es daher sehr gute Gründe gibt, es aus völkerrechtlicher Perspektive näher zu betrachten. Betrachtet werden soll dabei jedoch nicht das universelle Völkerrecht mit seiner inzwischen regelrecht unüberschaubaren Zahl an entsprechenden Dokumenten, sondern vielmehr die jüngere Rechtsprechung der regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe zu diesem Thema sowie die jeweils in Bezug genommen Dokumente. Daran wird sich zeigen, dass einige Dokumente, die mitunter als ästhetische Völkerrechtstheorie deklariert wurden, zusehends praktische Relevanz entfalten und sich sehr konkret in den Rechtsordnungen der betreffenden Mitgliedstaaten auswirken.
II. Regionale Menschenrechtsgerichtshöfe Regionale Gerichtshöfe für Menschenrechte sind in den vergangenen Jahrzehnten im Rahmen der drei kontinentalen Menschenrechtssysteme in Europa, Amerika und Afrika errichtet worden. Diese ergänzen und komplementieren die betreffenden nationalen Rechtssysteme. Am bekanntesten in dieser Reihe ist sicherlich der seit 1959 in Strasbourg bestehende Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Case-Law inzwischen knapp 60.000 Urteile umfasst.10 Seine Zuständigkeit folgt aus Artikel 32 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wo es heißt: „1. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs umfasst alle die Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffenden Angelegenheiten, mit denen er nach den Artikeln 33, 34, 46 und 47 befasst wird. [Hervorhebung ergänzt] 2. Besteht Streit über die Zuständigkeit des Gerichtshofs, so entscheidet der Gerichtshof.“
Darüber hinaus ist an dieser Stelle noch hervorzuheben, dass der EGMR lange Zeit das einzige internationale Gericht war, vor dem Individuen klagebefugt sind (Artikel 34 EMRK), was ihn in vielerlei Hinsicht einmalig macht. Ein weiterer regionaler Menschenrechtsgerichtshof ist der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACtHR) in San José, Costa Rica. Er findet seine Grundlage in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK),11 welche im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ausgearbeitet worden war. Seine Rechtsprechung schließt aktuell rund 2.000 Entscheidungen ein und liegt damit bereits deutlich unter dem EGMR.12 Hinsichtlich seiner Gerichtsbarkeit ist der seit 1979 bestehende IACtHR mit dem EGMR vergleichbar. So heißt es in Artikel 62 Abs. 3 AMRK: „The jurisdiction of the Court shall comprise all cases concerning the interpretation and application of the provisions of this Convention that are submitted to it, provided that the States https://hudoc.echr.coe.int/eng, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. Im Englischen: American Convention on Human Rights, in: OAS Treaty Series No. 36, 1144 U.N.T.S. 123, in Kraft seit 18. Juli 1978, abgedruckt in Basic Documents Pertaining to Human Rights in the Inter-American System, OEA/Ser.L.V/II.82 doc.6 rev.1 at 25 (1992). 12 http://www.corteidh.or.cr/cf/Jurisprudencia2, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 10 11
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Parties to the case recognize or have recognized such jurisdiction, whether by special declaration pursuant to the preceding paragraphs, or by a special agreement.“ [Hervorhebung ergänzt]
Der dritte gegenwärtig bestehende, klassische regionale Menschenrechtsgerichtshof ist schließlich der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker (ACHPR)13 im tansanischen Arusha. Dieser Gerichtshof ist durch ein Zusatzprotokoll (ZP) zur Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, auch „Banjul-Charta“ genannt, errichtet worden.14 Nach aktuellem Stand sind vor ihm bislang lediglich knapp 200 Verfahren anhängig gemacht worden.15 Die Gerichtsbarkeit des ACHPR folgt aus Artikel 3 seines ZP, in dem es heißt: „1. The jurisdiction of the Court shall extend to all cases and disputes submitted to it concerning the interpretation and application of the Charter, this Protocol and any other relevant Human Rights instrument ratified by the States concerned. [Hervorhebung ergänzt] 2. In the event of a dispute as to whether the Court has jurisdiction, the Court shall de cide.“
Der Gerichtshof hat seine Arbeit im Jahr 2006 aufgenommen. Ursprünglich war geplant, den ACHPR mit dem – bislang noch nicht eingerichteten – Gerichtshof der Afrikanischen Union16 zu verschmelzen und sodann lediglich ein einheitliches Gericht, den African Court of Justice and Human Rights, zu unterhalten.17 Das betreffende Protokoll18 ist bislang jedoch erst von sieben Staaten ratifiziert worden und daher noch nicht in Kraft getreten.19 In der Vergangenheit hat es immer wieder Bemühungen gegeben, auch in anderen Weltregionen regionale Gerichtshöfe dieser Art aufzubauen. So hat etwa im Jahr 2014 die Arabische Liga die Schaffung eines Arabischen Menschenrechtsgerichts hofes beschlossen. Dieser Prozess hat bislang jedoch noch zu keinen konkreten Ergebnissen geführt. Interessant festzustellen ist ferner, dass es inzwischen auch (sub-re gionale) Wirtschafts- und Integrationszonen gibt, deren Gerichte sich zu Menschenrechtsbeschwerden äußern und dabei von einem weiten Menschenrechtsverständnis ausgehen.20 Auch darauf soll weiter unten kurz eingegangen werden.
Im Englischen: African Court on Human and Peoples’ Rights. Im Englischen: Protocol to the African Charter on Human and Peoples’ Rights on the Establishment of an African Court on Human and Peoples’ Rights. Zum Status des ZP heißt es auf der Website der Afrikanischen Union (AU): Date of Adoption: June 10, 1998, date of last signature: February 08, 2016, date entry into force: January 25, 2004. Aktuell liegen 30 Ratifikationen für das ZP vor. 15 http://www.african-court.org/en/index.php/cases, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 16 Im Englischen: Court of Justice of the African Union. 17 Artikel 2 (Establishment of a single Court) lautet: „The African Court on Human and Peoples’ Rights established by the Protocol to the African Charter on Human and Peoples’ Rights on the Estab lishment of an African Court on Human and Peoples’ Rights and the Court of Justice of the African Union established by the Constitutive Act of the African Union, are hereby merged into a single Court and established as The African Court of Justice and Human Rights.“ 18 Im Englischen: Protocol on the Statute of the African Court of Justice and Human Rights. 19 https://au.int/en/treaties, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 20 Shelton, Performance of Regional Human Rights Court, in: Squatrito u.a. (Hrsg.), The Performance of International Courts and Tribunals, 2018, 114. 13 14
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III. Die jüngere Rechtsprechung der regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe zum Wahlrecht In der Reihenfolge der oben genannten Weltregionen soll im Folgenden nunmehr die jüngere Rechtsprechung der regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe zum Wahlrecht dargestellt werden. Behandelt werden dabei das subjektive und das objektive Wahlrecht, also das Recht des Einzelnen auf aktive und passive Teilnahme an der Wahl, aber auch Rechtsvorschriften, die das subjektive Wahlrecht und das Verfahren bei öffentlichen Wahlen regeln.
1. Europa Betrachtet man zunächst die Rechtsprechung des EGMR zum Wahlrecht, so ist der materiellrechtliche Ausgangspunkt Artikel 3 des 1. ZP zur EMRK (Recht auf freie Wahlen). Dieser lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“
Seit seinem Bestehen hat der EGMR bereits 615 Urteile mit einem Bezug zu Artikel 3 des 1. ZP zur EMRK (im Folgenden „Artikel 3 ZP-1“) gesprochen, 172 von der Großen Kammer und 443 von der Kammer.21 Von diesen 615 Urteilen hat der Gerichtshof selbst 306 als sog. Schlüsselfälle eingestuft.22 Eine Verletzung von Artikel 3 ZP-1 hat der EGMR dabei in 181 Fällen festgestellt, keine dagegen in 105 Verfahren. Interessant zu erwähnen ist ferner, dass folgende Staaten bislang mit den meisten Verfahren zu Artikel 3 ZP-1 konfrontiert waren: Türkei (114), Italien (62), Aserbaidschan (46), Griechenland (44), Vereinigtes Königreich (42).23 Die große Fülle der Rechtsprechung zu Artikel 3 ZP-1 verdeutlicht auch der betreffende Guide des EGMR zum Recht auf freie Wahlen.24 Veranschaulicht man sich nun nochmals den exakten Wortlaut von Artikel 3 ZP-1, so fällt unmittelbar auf, dass die Norm sehr vage formuliert ist. Sie legt den „Hohen Vertragsparteien“ eine Pflicht auf, der unter bestimmten Bedingungen entsprochen werden muss. Es wird also gerade nicht, wie in vielen anderen Artikeln der EMRK, ein explizites Recht „jeder Person“ normiert, womit die Norm vergleichsweise schwach formuliert ist.25 Es verwundert insofern nicht, dass der EGMR in seiner https://hudoc.echr.coe.int/eng, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. Auf der Website des EGMR heißt es zu dieser Qualifizierung: „Key cases: Judgments, decisions and advisory opinions delivered since the inception of the new Court in 1998 which have been published or selected for publication in the Court’s official Reports of Judgments and Decisions or, since 2016, selected as Key cases. The selection from 2007 onwards has been made by the Bureau of the Court following a proposal by the Jurisconsult.“ 23 https://hudoc.echr.coe.int/eng, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 24 Guide on Article 3 of Protocol No. 1 to the European Convention on Human Rights, Right to free elections, updated on 31 August 2018. 25 Siehe auch Marks, The European Convention on Human Rights and its ‘Democratic Society’, British Yearbook of International Law 56 (1995), 209 (221). 21
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frühen Rechtsprechung eher zurückhaltend war und den Artikel nicht sogleich als ein Recht auf freie Wahlen weiterentwickelt hat. Dies kommt etwa im Urteil Mathieu-Mohin and Clerfayt v. Belgium26 von 1987 zum Ausdruck, in dem der EGMR keine Verletzung von Artikel 3 ZP-1 festgestellt und stattdessen den weiten Ermessensspielraum Belgiens bei der Ausgestaltung des nationalen Wahlrechts betont hat. so heißt es in dem Urteil etwa: „En examinant le régime électoral en cause, on ne saurait en oublier le contexte global. Il ne se révèle pas déraisonnable si l’on a égard aux intentions qu’il reflète et à la marge d’appréciation de l’État défendeur dans le cadre du système électoral parlementaire belge, marge d’autant plus étendue qu’il s’agit d’un système inachevé et transitoire.“27 [Hervorhebung ergänzt]
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der, in der Einleitung bereits erwähnten, neuen Offenheit des Völkerrechts gegenüber der Demokratie hat der EGMR Artikel 3 ZP-1 jedoch zusehends dynamisch weiterentwickelt. Dabei lässt sich vermuten, dass gerade der nach 1990 schnell wachsende Kreis an Mitgliedstaaten des Europarats die Dynamisierung der Rechtsprechung des EGMR zu dieser Norm zusätzlich beflügelt hat. Denn alle diese Staaten haben sich im Rahmen ihres Beitritts ausdrücklich zu den Werten der Demokratie bekannt28 und waren zudem auch am KSZE/ OSZE-Prozess beteiligt, der auf den gleichen Werten basierte.29 Verdeutlichen lässt sich dies am besten anhand einiger Beispiele aus der jüngeren Rechtsprechung. Näher betrachtet werden sollen dabei lediglich solche Urteile, die in der öffentlichen Wahrnehmung größere Aufmerksamkeit erfahren haben. Überproportional viel Gehör in den Medien haben etwa Urteile des EGMR gefunden, wonach der pauschale und automatische Verlust des Wahlrechts von Gefangenen Artikel 3 ZP-1 verletzt.30 Die besondere Bedeutung dieser Fälle zeigt sich auch dar Mathieu-Mohin and Clerfayt v. Belgium, 2 March 1987, Series A No. 113. Siehe Paragraph 57, Unterabsatz 2. 28 In der zweiten Präambelerwägung der Satzung des Europarates heißt es: „Die Regierungen […] bestätigen ihre unerschütterliche Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker und von jeher die Quelle für Freiheit der Einzelperson, politische Freiheit und Herrschaft des Rechts sind, jene Prinzipien, welche die Grundlage jeder wahren Demokratie bilden.“ 29 Siehe etwa das Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990, in dem es in Absatz 6 heißt: „Die Teilnehmerstaaten erklären, dass der durch regelmäßige und unverfälschte Wahlen frei und gerecht zum Ausdruck gebrachte Wille des Volkes die Grundlage für die Autorität und Rechtmäßigkeit jeder Regierung bildet. Die Teilnehmerstaaten werden demnach das Recht ihrer Bürger achten, sich an der Führung ihres Landes entweder direkt oder durch in einem gerechten Wahlgang frei gewählte Vertreter zu beteiligen.“ Genauso bedeutsam wie das Kopenhagener Dokuments ist schließlich das Dokument des Moskauer Treffens der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE vom 3. Oktober 1991, das die angelegten Standards und Vorgaben weiter verfeinert hat. Seither sind die OSZE-Teilnehmerstaaten viele weitere Schritte gegangen, um die demokratischen Wahlstandards weiterzuentwickeln. Näher hierzu siehe nur Golosov, Demokratie als System aus Institutionen und Praktiken: das dynamische Vermächtnis und die lebendigen Verpflichtungen zentraler OSZE-Dokumente, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), 2013, 311 (311 ff.). 30 Beispiele sind etwa Hirst v. the United Kingdom (no. 2), [GC], no. 74025/01, ECHR 2005-IX; Scoppola v. Italy (no. 3), [GC], no. 126/05, 22 May 2012; Söyler v. Turkey, no. 29411/07, 17 September 2013; Frodl v. Austria, no. 20201/04, 8 April 2010; Dunn and Others v. the United Kingdom, (dec.), nos. 566/10 and 130 others, 13 May 2014; Greens and M.T. v. the United Kingdom, nos. 60041/08 and 60054/08, ECHR 2010; Anchugov and Gladkov v. Russia, nos. 11157/04 and 15162/05, 4 July 2013; 26 27
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an, dass der EGMR dem „Specific case of prisoners“ in der aktuellen Fassung seines Guides zum Recht auf freie Wahlen einen eigenen Unterabschnitt eingeräumt hat.31 Im Fall Söyler v. Turkey hatte der Verlust des Wahlrechts sogar eine besonders große Reichweite und Wirkung, weil er sich auch auf solche Personen erstreckte, die nicht oder nicht mehr inhaftiert waren. In konsequenter Fortführung seiner Rechtsprechung zu diesem Thema hat der EGMR daher in diesem Fall folgerichtig eine Verletzung von Artikel 3 ZP-1 festgestellt.32 Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang ist der Fall Anchugov and Gladkov v. Russia. Hier hat der Gerichtshof einerseits zur Kenntnis genommen, dass das Wahlverbot seine Grundlage in einer Verfassungsbestimmung hatte und diese daher nur durch ein komplexes Verfahren geändert werden konnte. Andererseits hat er deutlich darauf hingewiesen, dass es die Aufgabe der nationalen Behörden sei, die passenden Mittel zu finden, um die Gesetzgebung mit der EMRK in Einklang zu bringen. Weiter betonte er, dass den Regierungen grundsätzlich viele Möglichkeiten offen stünden, um die Einhaltung von Artikel 3 ZP-1 zu gewährleisten, unter anderem durch die Einleitung eines politischen Prozesses, aber natürlich auch durch eine EMRK-konforme Auslegung der Verfassung.33 Die Umsetzung dieses Urteils hat der russische Verfassungsgerichtshof im Dezember 2016 abgelehnt.34 Betrachtet man dieses Urteil aus dem Jahre 2013 nochmals genauer im Lichte des Urteils Mathieu-Mohin and Clerfayt v. Belgium, so wird abermals sehr deutlich, wie weit der EGMR Artikel 3 ZP-1 inzwischen weiterentwickelt hat. Die Tatsache, dass die Umsetzung des Urteils abgelehnt wurde, zeigt aber auch eine in jüngerer Zeit zunehmend zu beobachtende Entwicklung, die darin besteht, dass nicht alle Mitgliedstaaten des Europarats gleichermaßen an einem effektiven Funk tionieren des Gerichtssystems interessiert sind. Die Durchsetzung der EGMR-Urteile ist folglich immer wieder ein Problem und hat stets das Potential, zu einer politischen Frage zu werden. Gerade an diesem Fall musste der Gerichtshof auch erneut lernen, dass gerichtliche Interventionen in die demokratischen Prozesse von Mitgliedstaaten zu politischen Reaktionen führen können.35 Diese nationalen Reaktionen können naturgemäß dann besonders deutlich ausfallen, wenn sich die EGMRRechtsprechung gegen eine etablierte Regelung mit Verfassungsrang in einem Mitgliedstaat richtet. Es steht zu vermuten, dass die Reaktionen einzelner Staaten gegen die Rechtsprechung etwas zurückhaltender wären, wenn es sich bei Artikel 3 ZP-1 um eine klarere Regelung handeln würde. Dies ist aber nun einmal nicht der Fall. Moohan and Gillon v. the United Kingdom, (dec.), nos. 22962/15 and 23345/15, 13 June 2017. Zu diesen Fällen siehe insbesondere den Beitrag von Pildes, Supranational Courts and The Law of Democracy: The European Court of Human Rights, Journal of International Dispute Settlement 9 (2018), 154 (168 ff.). 31 Siehe Seite 9 f., Paragraph 24 ff. des Guides. 32 In Paragraph 47 des Urteils heißt es: „The Court concludes that the automatic and indiscriminate application of the harsh measure in Turkey on a vitally important Convention right must be seen as falling outside any acceptable margin of appreciation, and that there has been a breach of Article 3 of Protocol No. 1 in the present case.“ 33 Siehe Paragraph 111 des Urteils. 34 Siehe lediglich Binder, Die Legitimität internationaler Wahlstandards am Beispiel von EGMRRechtsprechung und OSZE-Wahlmissionen, Der Staat 56 (2017), 415 (425). 35 So auch Pildes, Supranational Courts and The Law of Democracy: The European Court of Human Rights, Journal of International Dispute Settlement 9 (2018), 154 (157).
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Ein weiteres Urteil, das größere Aufmerksamkeit erfahren hat, ist darüber hinaus der Fall Riza and Others v. Bulgaria.36 Gegenstand dieses Urteils ist die Annullierung von Wahlergebnissen etlicher Wahlstationen ohne die Möglichkeit einer Wahlwiederholung. In seinem Urteil hat der EGMR zunächst festgestellt, dass er nicht übersehen habe, dass die Durchführung neuer Wahlen in einem anderen souveränen Land, selbst in nur einer begrenzten Anzahl von Wahllokalen, großen diplomatischen oder organisatorischen Hindernissen begegnen könne und zudem mit zusätzlichen Kosten verbunden sei. Der Gerichtshof stellte dennoch fest, dass das Abhalten neuer Wahlen in einem Wahllokal, in dem es gravierende Verstöße auf Seiten des Wahlvorstands am Wahltag gegeben hatte, der richtige Weg gewesen wäre. Denn nur dadurch wäre das legitime Ziel der Annullierung der Wahlergebnisse, nämlich die Wahrung der Rechtmäßigkeit des Wahlprozesses, mit den Rechten der Wähler und der für die Wahl zum Parlament stehenden Kandidaten in Einklang gebracht worden.37 Dieses Urteil verdeutlicht, obgleich man für das pragmatische Vorgehen der bulgarischen Behörden ein gewisses Verständnis haben kann, dass in der Demokratie die Stimme jedes Einzelnen zählt und einen tatsächlichen Unterschied machen kann. Denn nur dadurch wird letztlich auch die größtmögliche Legitimation einer neuen Regierung sichergestellt. Aus der reichhaltigen Judikatur des EGMR zum Wahlrecht sei abschließend noch auf den Fall Davydov and Others v. Russia38 eingegangen, der sich auf die Zeit nach den Wahlen, einschließlich der Auszählung der Stimmen und der Aufzeichnung und Übermittlung der Ergebnisse bezieht. Konkreter Verfahrensgegenstand waren angebliche Anomalien bei föderalen und kommunalen Wahlen. Die Beschwerdeführer hatten an diesen Wahlen in unterschiedlicher Weise teilgenommen: Sie waren allesamt auf Wahllisten eingetragen, hatten sich selbst zur Wahl gestellt (womit der Fall folglich das aktive und das passive Wahlrecht betrifft) oder waren Mitglieder von Wahlkommissionen oder Wahlbeobachtern. Bezugnehmend auf Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarats (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass die Phase nach den Wahlen durch bestimmte Verfahrensgarantien bestimmt sein müsse. So müsse der Prozess etwa transparent und offen sein. Ferner müsse Beobachtern aller Parteien die Teilnahme gestattet sein, und zwar einschließlich Vertretern der Opposition. Der EGMR wies jedoch auch darauf hin, dass Artikel 3 ZP-1 nicht als Wahlgesetz in Kurzform gedacht sein könne und die Norm daher nicht alle Aspekte des Wahlprozesses regele. Primärer Prüfungsmaßstab des Gerichtshofes sei folglich die Fragestellung, ob das Recht auf freie Wahlen verletzt worden sei oder nicht. Folglich gelte für die technische Phase der Stimmenzählung und Tabellarisierung ein eher großzügiger Prüfungsmaßstab. Mithin, so der Gerichtshof, folge aus kleineren Fehlern oder Unregelmäßigkeiten in dieser Phase an sich keine Fehlerhaftigkeit der Wahlen, solange die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit, Transparenz, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von den betreffenden Wahlbehörden beachtet Nos. 48555/10 and 48377/10, 13 October 2015. Siehe die Zusammenfassung des Urteils in European Court of Human Rights/Information Note 189 – October 2015, Seite 51 f. 38 No. 75947/11, ECHR 2017. 36 37
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worden seien. Gewissermaßen im gleichen Atemzug hat der EGMR jedoch sodann betont, dass das Konzept der freien Wahlen allerdings dann gefährdet wäre, wenn (1) Anhaltspunkte für Verfahrensverstöße vorliegen, die die freie Meinungsäußerung der Bevölkerung behindern könnten, beispielsweise durch grobe Verzerrung der Absicht der Wähler, und (2) wenn ernstzunehmende Beschwerden auf nationaler Ebene nicht wirksam geprüft werden.39 Auf der Grundlage dieses Vorspanns kam der Gerichtshof in dem vorliegenden Fall zu einer Verletzung von Artikel 3 ZP-1. Er stellte fest, dass die Beschwerdeführer sowohl den nationalen Behörden als auch dem Gerichtshof glaubhaft dargelegt hätten, dass die Fairness der Wahlen gravierend durch das Verfahren der Nachauszählung der Stimmen untergraben worden sei.40 Es sei daher möglich, dass solche Unregelmäßigkeiten in allen betroffenen Wahlkreisen zu einer starken Verzerrung der Absicht der Wähler geführt haben. Keiner der von den Beschwerdeführern eingeschlagenen Wege gewährte ihnen jedoch eine Überprüfung, die ausreichende Garantien gegen Willkür bot.41 Blickt man nun nochmals auf diese jüngeren Urteile des EGMR, so wird deutlich, an welche Grenzen der Gerichtshof hier stößt. Denn Verfahren im Bereich des Wahlrechts sind per se stets konzeptionell komplex sowie hochgradig politisch aufgeladen42 und haben grundsätzlich, je nach Sachverhalt, das Potential, die Korrektheit von Wahlabläufen und damit auch die Legitimität von amtierenden Regierungen in Zweifel zu ziehen. Daher verfolgen die involvierten Staaten die Verfahren auch stets mit sehr großem Interesse. Die mit den Urteilen potentiell einhergehende Sprengkraft bedeutet für den EGMR wiederum, dass auch er die nötige Resilienz braucht, wenn seine Legitimation in Frage gestellt wird. Denn gerade supranationale Gerichte müssen ihre Legitimation, vor allem im Angesichte strittiger Urteile, immer wieder neu begründen. Gerade an der jüngeren Rechtsprechung zu Artikel 3 ZP-1 offenbart sich damit auch, dass der EGMR aufpassen muss, nicht zu überziehen. Denn es ist sicherlich mehr gewonnen, wenn sich alle Mitgliedstaaten weiterhin zu dem aktuellen Konsens bekennen können, statt sich, bezogen auf einzelne Mitgliedstaaten, wegen einer zu schnell voranschreitenden Dynamisierung grundlegend abzuwenden.43
2. Amerika Betrachtet man sodann die Rechtsprechung des IACtHR zum Wahlrecht, so ist zunächst festzustellen, dass es im dortigen System in der Konvention selbst, also in der AMRK und nicht in einem Zusatzprotokoll, eine mit dem gerade dargestellten Artikel 3 ZP-1 vergleichbare Regelung gibt. Diese ist Artikel 23 (Right to Participate in Government) Absatz 1 lit. a) und b), der folgenden Wortlaut hat: Siehe Paragraphen 283 ff. des Urteils. Siehe Paragraphen 310 f. des Urteils. 41 Siehe Paragraphen 336 f. des Urteils. 42 Siehe auch Pildes, Supranational Courts and The Law of Democracy: The European Court of Human Rights, Journal of International Dispute Settlement 9 (2018), 154 (154). 43 Siehe in diesem Zusammenhang auch Binder, Die Legitimität internationaler Wahlstandards am Beispiel von EGMR-Rechtsprechung und OSZE-Wahlmissionen, Der Staat 56 (2017), 415 (425). 39
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„(1) Every citizen shall enjoy the following rights and opportunities: a. to take part in the conduct of public affairs, directly or through freely chosen representatives; b. to vote and to be elected in genuine periodic elections, which shall be by universal and equal suffrage and by secret ballot that guarantees the free expression of the will of the voters.“
An dieser Stelle ist es bereits interessant festzustellen, dass Artikel 23 AMRK von einem Recht der Bürger spricht und nicht wie Artikel 3 ZP-1 den „hohen Vertragsparteien“ eine Pflicht auferlegt. Folglich geht diese Regelung eindeutig über die der EMRK hinaus. Daneben hat die OAS in den vergangenen Jahren sehr viele weitere Dokumente hervorgebracht, die sich mit dem Wahlrecht befassen.44 An allervorderster Stelle steht hier natürlich die Interamerikanische Demokratiecharta, die am 11. September 2001 auf einer Sondersitzung der Generalversammlung der OAS in Lima, Peru, verabschiedet wurde.45 Wichtig zu betonen ist an dieser Stelle, dass es sich bei diesem Instrument jedoch nicht um ein bindendes Vertragsinstrument handelt, das der AMRK gleichgestellt werden könnte.46 Ihr Artikel 3 lautet: „Essential elements of representative democracy include, inter alia, respect for human rights and fundamental freedoms, access to and the exercise of power in accordance with the rule of law, the holding of periodic, free, and fair elections based on secret balloting and universal suffrage as an expression of the sovereignty of the people, the pluralistic system of political parties and organizations, and the separation of powers and independence of the branches of government.“
Auf genau diesen Artikel wird unter anderem in dem, soweit ersichtlich, bislang einzigen Urteil des IACtHR mit Wahlrechtsbezug eingegangen. Dieses ist der Fall López Lone et al. v. Honduras,47 in dessen Zentrum allerdings die Unabhängigkeit der Justiz in Honduras steht. In seinem Urteil vom 5. Oktober 2015 hat der Gerichtshof festgestellt, dass Honduras durch die eingeleiteten Disziplinarverfahren und die schlussendliche Entlassung von drei Richtern und eines Beamten eine Reihe von Menschenrechten verletzt habe. Der IACtHR erklärte, dass die politischen Maßnahmen, wegen derer die vier Mitglieder der Justiz entlassen worden waren, gerechtfertigt gewesen seien, weil sie die Reaktion auf eine verfassungsrechtliche Unterbrechung (den Staatsstreich von 2009) gewesen seien.48 Angesichts dieser Umstände sei es für diese vier Personen angebracht gewesen, die Demokratie zu verteidigen.49 In diesem Zusammenhang berücksichtigte der Gerichtshof auch das Vorbringen der Kläger, dass sie in ihrer Eigenschaft als Staatsdiener gerade eine Pflicht gegenüber der 44 Näher dazu siehe Ehm/Walter (eds.), International Democracy Documents – A Compilation of Treaties and Other Instruments, 2015, 340 ff. 45 Siehe Ehm/Walter (eds.), International Democracy Documents – A Compilation of Treaties and Other Instruments, 2015, 338. 46 Näher dazu siehe Ehm/Walter (eds.), International Democracy Documents – A Compilation of Treaties and Other Instruments, 2015, 338. 47 Das Urteil ist abruf bar über folgende Website: http://www.corteidh.or.cr, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 48 Ehm, Das völkerrechtliche Demokratiegebot – Eine Untersuchung zur schwindenden Wertneu tralität des Völkerrechts gegenüber den staatlichen Binnenstrukturen, 2013, 132. 49 Siehe Paragraph 148 des Urteils.
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demokratisch gewählten Regierung zu diesem Verhalten gehabt hätten.50 Mit dieser Argumentation stärkt der IACtHR auch das Wahlrecht selbst, da er die Bedeutung seiner Ausübung für die Legitimation einer Regierung unterstreicht. Der IACtHR kam außerdem zu dem Schluss, dass das Justizsystem in Honduras kein korrektes Verfahren befolgt habe und auch nicht unparteilich und fair gewesen sei. Die Entscheidung des Obersten Gerichts von Honduras, die vier Personen aus dem Staatsdienst zu entlassen, habe daher die Unabhängigkeit der Justiz in dem zentralamerikanischen Land ernsthaft untergraben. Sagen lässt sich, dass der Fall López Lone et al. v. Honduras ein Beispiel für den Einfluss der Politik auf die Justiz ist und gleichzeitig für das Nachgeben der Justiz auf diesen Einfluss. Denn im Ergebnis wurden die oben genannten Personen wegen verschiedener politischer Äußerungen und Aktionen zugunsten der Demokratie entlassen. Das Urteil des IACtHR stärkt damit auch das Wahlrecht als solches, da es die durch seine Ausübung letztlich herbeigeführte Regierungskonstellation festigt.51
3. Afrika Abschließend soll schließlich auf die Rechtsprechung des ACHPR eingegangen werden. Wie oben dargestellt,52 bezieht sich die Gerichtsbarkeit dieses Gerichtshofs nicht etwa nur auf die „Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Proto kolle“ (EGMR) oder auf die „provisions of this Convention“ (IACtHR), sondern vielmehr auf die „Charter, this Protocol and any other relevant Human Rights in strument“. Damit sind die materiellrechtlichen Ausgangspunkte naturgemäß auch deutlich größer für den afrikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Mit den obigen Regelungen vergleichbar (Artikel 3 ZP-1 und Artikel 23 AMRK) ist Artikel 13 Abs. 1 der oben bereits erwähnten Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, der wie folgt lautet: „Every citizen shall have the right to participate freely in the government of his country, either directly or through freely chosen representatives in accordance with the provisions of the law.“
Der erste Fall, in dem der Gerichtshof eine Verletzung dieses Artikels festgestellt hat, ist die Sache Mtikila & Others v. Tanzania gewesen.53 In seinem Urteil vom 14. Juni 2013 befand der ACHPR, dass ein Gesetz, das unabhängige, also keiner Partei angehörige Kandidaten, nicht zu Wahlen zulässt, unter andrem gegen Artikel 13 der Banjul Charta verstößt.54 Dieses Urteil hat in der betreffenden Literatur be Siehe Paragraph 158 des Urteils. Zum Urteil siehe auch Rouche, López Lone et al. v. Honduras, Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Review Vol. 40.3 (2017), 1629 ff. 52 Siehe oben unter II. Regionale Menschenrechtsgerichtshöfe. 53 Siehe hierzu: (1) App. No. 011/2011 – Rev. Christopher R. Mtikila v. United Republic of Tanzania, (2) App. No. 0 09/2011 – Tanganyika Law Society and Legal and Human Rights Centre v. United Republic of Tanzania und (3) App. Nos. 009&011/2011 – Tanganyika Law Society and Legal and Human Rights Centre and Reverend Christopher R. Mtikila v. United Republic of Tanzania, http://en. african-court.org/index.php/cases, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 54 Siehe Paragraph 111 des Urteils, wo es heißt: „The Court therefore finds a violation of the right 50 51
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reits einige Aufmerksamkeit erhalten. Daher soll an dieser Stelle nicht weiter auf dieses Verfahren eingegangen, sondern lediglich auf die betreffenden Beiträge verwiesen werden.55 Festzustellen ist jedoch zunächst, dass auch im Protokoll des ACHPR daneben keine weiteren Regelungen ersichtlich sind, die für das Wahlrecht einschlägig wären. Damit stellt sich die Frage, ob es in anderen relevanten Menschenrechtsinstrumenten Bestimmungen gibt, die für die hier im Mittelpunkt stehende Frage von Bedeutung sind. Genau hierum geht es unter anderem in einem Urteil, das der ACHPR am 18. November 2016 gesprochen hat, und zwar in der Sache Actions pour la Protection des Droits de l’Homme (APDH) v. Côte d’Ivoire.56 In dem Verfahren hatte die ivorische Nichtregierungsorganisation APDH gegen ein Gesetz von Côte d’Ivoire geklagt, das die Zusammensetzung, Organisation, Aufgaben und Arbeit der Unabhängigen Wahlkommission (IEC)57 betraf. Im Kern heißt es im Vorbringen der Klägerin: „The Applicant contends that a majority of the members of the Ivorian electoral body represent personalities, groups and political parties; that since the latter have special interests to protect, their representatives cannot claim to be independent or impartial; that an agent is hardly independent of his superior from whom he receives the directives required to discharge his mandate; that this lack of independence is valid for all members of the IEC representing personalities or political parties.“58
In seinem ersten Urteil zu einem nationalen Wahlkörper befand der Gerichtshof darauf hin, dass Côte d’Ivoire unter anderem seine Pflicht verletzt hatte, eine unabhängige und unparteiliche nationale Wahlbehörde einzurichten, die für die Durchführung von Wahlen verantwortlich ist. In dem Urteil heißt es dem Wortlaut nach: „Rules that the Respondent State has violated its obligation to establish an independent and impartial electoral body as provided under Article 17 of the African Charter on Democracy and Article 3 of the ECOWAS Democracy Protocol, and consequently, also violated its obligation to protect the right of the citizens to participate freely in the management of the public affairs of their country guaranteed by Article 13 (1) and (2) of the African Charter on Human and Peoples’ Rights.“59
Der ACHPR kommt daher zu dem Schluss, dass das betreffende Gesetz (Nummer 2014-335 vom 18. Juni 2014) geändert werden müsse. Dieses Urteil ist in vielerlei Hinsicht beachtlich, setzt juristische Maßstäbe und ist ein Meilenstein für den Mento participate freely in the government of one’s country since for one to participate in Presidential, Parliamentary or Local Government elections in Tanzania one must belong to a political party. Tanzanians are thus prevented from freely participating in the government of their country directly or through freely chosen representatives.“ Keine Verletzung von Art. 13 hat der Gerichtshof dagegen in der Sache Nguza Viking and Johnson Nguza v. United Republic of Tanzania (App. No. 0 06/2015, Urteil vom 23. März 2018) festgestellt, vgl. Paragraph 147 des Urteils, http://en.african-court.org/ index.php/cases, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 55 Siehe etwa Windridge, A watershed moment for African human rights: Mtikila & Others v Tanzania at the African Court on Human and Peoples’ Rights, African Human Rights Law Journal 15 (2015), 299 ff. 56 http://en.african-court.org/index.php/cases, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 57 IEC steht für Independent Electoral Commission. 58 Siehe Paragraph 109 des Urteils. 59 Siehe Paragraph 153, Nummer 5 des Urteils.
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schenrechtsschutz in Afrika. Man kann es daher wohl schon jetzt als Grundsatzurteil des afrikanischen Demokratievölkerrechts bezeichnen. Festzuhalten ist zunächst, dass der Gerichtshof Beschwerden von NGOs und Individuen aus afrikanischen Staaten nur dann annehmen kann, wenn der betreffende Staat diesen Beschwerdeweg offiziell nach Artikel 34 Abs. 6 in Verbindung mit Ar tikel 5 Abs. 3 des ACHPR-Protokolls anerkannt hat. Diese Voraussetzung liegt im Falle von Côte d’Ivoire vor, womit die sogenannte personelle Gerichtsbarkeit des ACHPR gegeben ist.60 Darüber hinaus hat der Gerichtshof auch die materielle Gerichtsbarkeit hinsichtlich der AU Demokratie Charta wie auch des ECOWAS Demokratie Protokolls bejaht.61 Hierzu hat er zunächst Gutachten von der AU Kommission und dem Afrikanischen Völkerrechtsinstitut eingeholt und sodann, wie auch die obigen Einrichtungen, festgestellt, dass beide Instrumente als Menschenrechtsinstrumente zu qualifizieren sind, über die er Jurisdiktion besitzt und sie daher auch interpretieren und anwenden kann.62 Diese Feststellung hat grundsätzliche Bedeutung, da die AU Demokratie Charta das zentrale afrikanische Instrument für das Organisieren und Abhalten von Wahlen ist. Mit diesem Ergebnis eröffnet sich dem Gerichtshof, gerade im Vergleich zum EGMR, der sich hinsichtlich des vorliegenden Themas im Wesentlichen mit Artikel 3 ZP-1 begnügen muss, regelrecht ein materiellrechtlicher Fundus. Gleichzeitig reduziert sich aber natürlich auch die Notwendigkeit einer dynamischen Rechtsprechung, zu der etwa der EGMR nach 1990 in diesem Bereich aufgebrochen ist bzw. auf brechen musste. In der Sache selbst und hinsichtlich der in diesem Beitrag im Fokus stehenden Fragen hat der Gerichtshof befunden, dass eine Wahlbehörde nur dann wirklich unabhängig ist, wenn sie administrative und finanzielle Autonomie besitzt und gleichzeitig ausreichende Garantien vorhanden sind, dass die Mitglieder dieser Behörde unabhängig und unparteilich sind.63 Transparente, freie und faire Wahlen könnten nur von einer Einrichtung organisiert werden, die ihrerseits von ihren Mitgliedern her ausbalanciert sei. Dies vorausgeschickt hat sich der Gerichtshof sodann näher angeschaut, ob die Zusammensetzung der IEC diesen Anforderungen entspricht64 und festgestellt, dass die Regierung acht Mitglieder stellt und die Opposition dagegen nur vier.65 Der ACHPR hat ferner angemerkt, dass das strittige Gesetz in seinem Artikel 36 vorsieht, dass die IEC Zentralkommission ihre Entscheidungen mit einfa Siehe Paragraphen 43 ff. des Urteils. Näher zu diesen beiden vollwertigen völkerrechtlichen Verträgen siehe Ehm/Walter (eds.), International Democracy Documents – A Compilation of Treaties and Other Instruments, 2015, 253. 62 Siehe Paragraph 63 des Urteils, wo es heißt: „The Court therefore holds that the obligation on the part of State Parties to the African Charter on Democracy and to the ECOWAS Democracy Protocol to establish independent and impartial national electoral bodies is aimed at implementing the aforesaid rights prescribed by Article 13 of the Charter on Human Rights, that is, the right to participate freely in the Government of one’s country, either directly or through freely chosen representatives in accordance with the provisions of the law.“ Ferner heißt es in Paragraph 65: „In view of the foregoing, the Court, in conclusion, hold that the African Charter on Democracy and the ECOWAS Protocol on Democracy and Governance are human rights instruments within the meaning of Article 3 of the Protocol, and therefore that it has jurisdiction to interpret and apply the same.“ 63 Siehe Paragraph 118 des Urteils. 64 Siehe Paragraphen 125 f. des Urteils. 65 Siehe Paragraph 130 des Urteils. 60 61
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cher Mehrheit der anwesenden Mitglieder trifft.66 Damit zeige sich, dass dieser ivorische Wahlkörper nicht unabhängig und unparteilich sein könne.67 Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner, dass sich der ACHPR bei seiner Argumentation auch auf ein Urteil des EGMR zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Gerichten bezogen hat. So hat der Gerichtshof mit Sitz im französischen Straßburg in der Sache Findlay v. The United Kingdom 68 festgestellt, dass „in order to maintain confidence in the independence and impartiality of the court, appearances may be of importance“.69 Die „appearance“ der IEC hat beim ACHPR verständlicherweise zu dem Ergebnis geführt, dass diese die ihr zugedachte Funktion angesichts ihrer Zusammensetzung und ihrer Abstimmungsverfahren nicht objektiv ausüben könne.70 Interessant zu beobachten ist nun, dass es inzwischen in Afrika auch Gerichte regionaler Wirtschafts- und Integrationszonen gibt, die Verfahren zu Menschenrechtsund Demokratiefragen annehmen und in ihrer Rechtsprechung folglich auch auf die betreffenden Demokratiedokumente eingehen. Dies gilt, soweit ersichtlich, an erster Stelle für das Gemeinschaftsgericht der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), das 1991 eingerichtet wurde.71 Die Zuständigkeit dieses Gerichtshofs wurde durch ein Zusatzprotokoll im Jahr 200572 erheblich erweitert und umfasst seither auch Menschenrechtsfragen.73 Erwähnung finden soll hier lediglich ein Fall aus der jüngeren Vergangenheit. Dies ist ein Verfahren, in dem unter anderem die Hope Democratic Party gegen Goodluck Jonathan geklagt hat,74 der von 2010 bis 2015 Staatspräsident Nigerias war. In diesem Verfahren wurde vorgebracht, dass die Spendenaktion von Präsident Jonathan gegen die Wahlgesetze von Nigeria verstoßen und den Höchstbetrag überschritten habe. Dadurch sei dem Präsidenten und der Regierungspartei ein ungebührlicher Vorteil zum Nachteil der Kläger und anderer Kandidaten bei den Wahlen 2015 entstanden und unter anderem der oben bereits erwähnte Artikel 13 Abs. 1 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker verletzt worden.75 Der Gerichtshof hat in dieser Sache jedoch von einem Siehe Paragraph 131 des Urteils. Siehe Paragraph 133 des Urteils. 68 Siehe Application no. 22107/93, Urteil vom 25. Februar 1997. 69 Siehe Paragraph 76 des Urteils. 70 Zu diesem Urteil siehe auch Ayissi, Actions pour la Protection des Droits de l‘Homme (APDH) v. Republic of Côte d‘Ivoire (Afr. Ct. H.P.R.), International Legal Materials 56 (2017), 574 ff. Näher zu diesem Urteil siehe auch Nyarko/Jegede, Human rights developments in the African Union during 2016, African Human Rights Law Journal 17 (2017), 294 (308 f.). Zu dem Urteil siehe ferner die sog. Application No. 0 03/2017 for interpretation of the Judgment of 18 November 2016 in the matter of Actions pour la Protection des Droits de l‘Homme (APDH) v. Côte d’Ivoire, Judgment 28 September 2017. 71 ECOWAS steht für Economic Community of West African States. Siehe dazu auch Alter/Helfer/ McAllister, A New International Human Rights Court for West Africa: The ECOWAS Community Court of Justice, American Journal of International Law 107 (2013), 737 ff. 72 Siehe Supplementary Protocol A/SP.1/01/05 Amending the Preamble and Articles 1, 2, 9, 22 and 30 of Protocol A/P.1/7/91 relating to the Community Court of Justice and Article 4 Paragraph 1 of the English Version of the Said Protocol. 73 Artikel 9 ( Jurisdiction of the Court) Absatz 4 des Protokolls aus dem Jahr 2005 lautet: „The Court has jurisdiction to determine cases of violation of human rights that occur in any Member State.“ 74 Suit Number: ECW/CCJ/APP/04/2015, Judgment Number: ECW/CCJ/JUD/19/15, www. courtecowas.org, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 75 Siehe Paragraphen 6.9.4. und 9.3 des Urteils. Siehe auch Paragraph 6.1.16., wo es heißt: „The Defendants obligations to observe, protect and enforce the compliance to the regional laws and protocol 66 67
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Urteil abgesehen und das Verfahren für gegenstandslos erklärt, da Präsident Jonathan die Wahlen nicht gewonnen hat, die Niederlage gegen seinen Rivalen General Mohammedu Buhari auch eingeräumt habe und dieser schlussendlich auch vereidigt worden ist.76 Der Vollständigkeit halber erwähnt sei schließlich noch das Verfahren Omar Jallow and Amadou Scattred v. Republic of The Gambia,77 in dem ebenfalls unter anderem eine Verletzung des oben genannten Artikel 13 sowie von Artikel 1 Abs. 1 des ECOWAS Demokratie Protokolls78 geltend gemacht wurden. In dieser Sache hat sich der Gerichtshof jedoch am 10. Oktober 2017 für nicht zuständig erklärt.
III. Schlussfolgerungen und Ausblick Es ist ein Allgemeinplatz, dass Wahlen heutzutage nicht nur in Demokratien, sondern auch in vielen autoritären und semiautoritären Regimen stattfinden. Man mag die Staaten auch als gelenkte Demokratien oder smarte Diktaturen bezeichnen. Tatsächlich ist es so, dass der sogenannte elektorale Autoritarismus die am weitesten verbreitete Variante nichtdemokratischer Herrschaft in der heutigen Welt darstellt.79 Wie Golosov zu Recht schreibt, setzt der „elektoralistische Trugschluss“ Wahlen mit Demokratie gleich, was jedoch ein Irrtum ist, wenn es bei den Wahlen keinen echten Wettbewerb gibt und sie keinen Machtwechsel ermöglichen. Folglich ist nicht jedes gewählte politische Regime demokratisch.80 Es ist auch offenkundig, dass Demokratie ihre Bedeutung verliert, wenn Gesetze, die den in Wahlen zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes verkörpern, nicht greifen, da sie nur unzulänglich durchgesetzt werden können.81 Die Aufgabe regionaler Menschenrechtsgerichtshöfe ist es, sich den damit verbundenen Herausforderungen anzunehmen. Diese Aufgabe hat der EGMR angenommen und andere regionale Menschenrechtsgerichtshöfe sind dabei, dies zu tun. Dies ist ein überaus wichtiger Prozess, denn keine Demokratie
relating to the Plaintiffs human rights had been relegated, assaulted, violated and stripped bare to the humiliation and detriment of Plaintiffs right to participate on equal footing in the presidential election to enable voters in Nigeria to freely choose representatives to participate in the Government of Nigeria.“ 76 Siehe Paragraph 10.4. des Urteils, wo es heißt: „This present case is devoid of purpose since President Goodluck Jonathan and his PDP did not win the elections, hence this instant case has lost its meaning and is hereby ruled to be devoid of purpose, and rendered dismissible, and hereby dismissed.“ 77 Suit N°: ECW/CCJ/APP/33/16, Judgment N°: ECW/CCJ/JUD/06/17, www.courtecowas.org, zuletzt abgerufen am 26.02.2019. 78 Artikel 1 des ECOWAS Demokratie Protokolls beinhaltet sog. „Constitutional Convergence Principles“. 79 Vgl. Gandhi/Lust-Okar, Elections Under Authoritarianism, Annual Review of Political Science 2009, 403 ff. 80 Golosov, Demokratie als System aus Institutionen und Praktiken: das dynamische Vermächtnis und die lebendigen Verpflichtungen zentraler OSZE-Dokumente, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), 2013, 311 (320). 81 Golosov, Demokratie als System aus Institutionen und Praktiken: das dynamische Vermächtnis und die lebendigen Verpflichtungen zentraler OSZE-Dokumente, Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), 2013, 311 (323).
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kommt ohne freie und gerechte Wahlen aus. Dies zu schützen ist die Aufgabe aller drei Staatsgewalten, und zwar auch, wenn diese supranational verortet sind. Der Beitrag hat ferner gezeigt, dass die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 3 ZP-1 inzwischen überaus reichhaltig ist und der Gerichtshof tatsächlich aufpassen muss, dass er durch seine zu rasche Dynamisierung nicht die Gefolgschaft einzelner Mitgliedstaaten verliert. In den beiden anderen hier betrachteten Weltregionen befindet sich die Rechtsprechung zum Wahlrecht dagegen erst in der Entstehung. Es bleibt abzuwarten, ob und wie diese Rechtsprechung sich in Zukunft weiterentwickeln wird. Dies hängt im Falle des ACHPR natürlich auch davon ab, ob weitere AU-Mitgliedstaaten das den Gerichtshof betreffende Zusatzprotokoll bald ratifizieren werden82 und sich insbesondere für Beschwerden durch Individuen und NGOs öffnen.
Siehe dazu Fn. 14 oben.
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Abhandlungen und Aufsätze
Zukunft des Grundgesetzes von
Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas von Danwitz (Luxemburg) Inhalt I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. „Grundrechte als Verfassungsfundament“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Das Grundgesetz als „living instrument“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3. Die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Schutz der Menschenwürde im Zeitalter der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 4. Aufgabe des Grundgesetzes in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Die Einladung zu diesem Adenauer-Vortrag ist fraglos eine besondere Ehre und zudem persönlich eine große Freude, bietet sie doch Gelegenheit zur Erinnerung und Anknüpfung an die eigenen akademischen Anfänge und mehr noch an die Bonner Republik, deren besondere Prägung entscheidend dazu beigetragen hat, dass wir heute, immerhin und 70 Jahre nachdem der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 in feierlicher Sitzung im Museum König – also nur einen Steinwurf entfernt – eröffnet wurde, über die Zukunft des Grundgesetzes nachdenken können, das sodann unter Vorsitz von Konrad Adenauer in der Pädagogischen Akademie als Provisorium erarbeitet wurde, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“.1 So prägnant die Themenstellung, so groß die Herausforderung, die damit gestellt ist. Angesichts der spürbaren Verunsicherung unserer Gesellschaft, welche die tagesaktuellen staats- und verfassungspolitischen Diskussionen kennzeichnet und vor allem ein elementares Bedürfnis nach Orientierung zu erkennen gibt, erscheint diese Aufgabe umso schwieriger. Zu allem Überfluss ist sie einem deutschen Staatsrechtslehrer gestellt, der seit nunmehr zwölf Jahren als Richter am Präambel des GG, Ursprungsfassung.
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Gerichtshof der Europäischen Union Verfassungsrechtsfragen auf europäischer Ebene abzuwägen und zu entscheiden hat und von daher eine eigene Sicht auf die Zukunft des Grundgesetzes mitbringt. Mit den Veranstaltern bin ich jedoch der Meinung, dass in dieser wohldosierten Form der juristischen Distanzierung – ganz im Sinne Bertolt Brechts2 – die Chance liegt, den kritischen Blick zu schulen, und damit Wertungen jenseits des Bekannten und Bewährten ermöglicht werden.
I. „Zukunft braucht Herkunft“, auf diese Formel hat Odo Marquard 3 die Erkenntnis gebracht, dass – vereinfacht und mit meinen Worten ausgedrückt – moderne Gesellschaften auf Stabilität, Tradition und Erinnerung, ja auf vielfältige Verfahren der Orientierung und Selbstvergewisserung als Kompensation für die rasanten Entwicklungen angewiesen sind, je schneller sich unter den Bedingungen technischer Innovation und gesellschaftlichen Wertewandels ihre Lebensbedingungen ändern. Unter dem Druck der erheblichen Veränderungen, die heute mit Globalisierung, Digitalisierung und Migration schlagwortartig benannt seien, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Wertungssicherheit von öffentlicher Meinung, gesellschaftlichen Institutionen, politischen Parteien und Intellektuellen in der Beurteilung dieser Entwicklungen erkennbar abnimmt und mitunter sogar notleidend scheint. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die verzerrenden Bedingungen, unter denen soziale Medien zur Individualisierung und Fragmentierung der gesellschaftlichen Meinungsbildung beitragen. Oft wissen die Menschen angesichts der Veränderungen ihrer Lebenswirklichkeit und einer dramatisierenden Berichterstattung über diese Vorgänge kaum noch, welcher Meldung sie glauben sollen, was eigentlich geschieht und wie sie die Entwicklungen bewerten sollen. Es lohnt sich also, der Frage nachzugehen, ob Gesellschaft und staatliche Institutionen in Deutschland die in unserer Zeit so dringend benötige Stabilität, Orientierung und Selbstgewissheit nach wie vor aus der Kraft des vor 70 Jahren in Bonn erarbeiteten Grundgesetzes schöpfen können, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Denn dann wird die Herkunft des Grundgesetzes auch die Zukunft Deutschlands weisen können. In den Geburtstagsadressen zu seinem 60. Jubiläum hat die Staatsrechtslehre das Grundgesetz als besonderen Glücksfall4 und die mit ihm gemachten Erfahrungen einhellig als außerordentliche Erfolgsgeschichte5 gewürdigt. Ungeachtet der glücklichen Fügung der politischen und wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung Deutschlands, die den Deutschen ebenso wie ihrem Grundgesetz gleichsam als windfall profit zugefallen sind, besteht seither kein Anlass, dieses Urteil zu nuancieren oder gar zu revidieren. Mehr noch als die Einschätzung der Staatsrechtslehre bezeugt die dem 2 Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: ders. (Hrsg.), Schriften zum Theater, Band 7, 1964, 12 ff. (§§ 35–45). 3 Marquard, Zukunft braucht Herkunft: Philosophische Essays, 2015. 4 Kirchhof, Das Grundgesetz: ein oft verkannter Glücksfall, DVBl. 2009, 541 ff. 5 Hillgruber, Grundrechte als Verfassungsfundament: Die Grundrechtskonzeption des Parlamentarischen Rates, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz: eine geglückte Verfassung?, 2010, 9.
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Grundgesetz international bekundete Anerkennung als „Referenzmodell“ (Donald Kommers), dass das Grundgesetz ungleich mehr erreicht hat als manch andere, rechtsvergleichend höchst gelungen erscheinende Verfassung: Das Grundgesetz hat es vermocht, Grundlage und Legitimation für eine Entwicklung zu schaffen, die in der Verfassungsvergleichung ihres Gleichen sucht: Es hat einen Verfassungspatriotismus zu erwecken vermocht, der es den Deutschen gestattet, mit Stolz auf ihr 1949 gegründetes Gemeinwesen zu blicken.6 Doch was ist das Erfolgsrezept des Grundgesetzes? Welches ist die DNA des Grundgesetzes, die es ermöglicht, mit Zuversicht den Herausforderungen der Zukunft entgegen zu treten? Im Verfassungsleben gibt es keine magische Formel, deren bloße Replikation Erfolg verspricht. Vielmehr ist es, wie in andern Bereichen des Politischen auch, die Suche nach dem goldenen Schnitt, nach der Zuordnung von Wesensmerkmalen in einer Weise, die Gesellschaft und Staat zu einen vermag. Für das Bonner Grundgesetz ist es erstens das unbedingte Bekenntnis zur normativen Kraft einer Verfassung,7 die ihr Fundament in unveräußerlichen Menschenrechten als integrierende Wertordnung findet. Zweitens ist es ein Verständnis des Grundgesetzes als living instrument, das Raum für Verfassungsänderungen und einen stillen Verfassungswandel zulässt sowie vor allem gestaltende Verfassungsfortbildungen durch Staatspraxis und Verfassungsgerichtsbarkeit anerkennt,8 und schließlich ist es drittens die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit.9
1. „Grundrechte als Verfassungsfundament“10 Zu den für die Bundesrepublik wohl bedeutsamsten Grundsatzentscheidungen des Parlamentarischen Rates, mit der das Bonner Grundgesetz in eine neue Ära der Verfassungsstaatlichkeit eintrat, gehört die Entscheidung für einen mit normativer Verbindlichkeit gegenüber aller staatlichen Gewalt ausgestatteten Grundrechtskatalog. In ihr spiegelt sich der „Antwortcharakter“ (Horst Dreier) des Grundgesetzes auf den NS-Unrechtsstaat und die vielzitierten Weimarer Erfahrungen in besonderer Weise,11 ohne darüber jedoch zu vergessen, dass die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Erklärung der Menschenrechte manche Formulierung des Bonner Grundgesetzes inspirierte.12 War zunächst Sternberger, Verfassungspatriotismus, 1990. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959. 8 Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung: Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das Bundesverfassungsgericht, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz: eine geglückte Verfassung?, 2010, 97. 9 Statt vieler: Vogel, Die Verfassungsentscheidung für die internationale Zusammenarbeit, 1964; Erler/Thieme, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (1960), 7 (50 ff.); Kaiser/Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), 7 (34 ff.); Sommermann, §14 Deutschland, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band II, 2008, Rn. 3 ff.; Kotzur, Deutschland und die internationalen Beziehungen: „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz, JöR N.F. 59 (2011), 389 ff. 10 Hillgruber (Fn. 5). 11 Siehe Dreier/Wittreck (Hrsg.), Grundgesetz: Textausgabe, 2006, XIII. 12 Siehe Hillgruber (Fn. 5), 15. 6 7
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noch über ein bloßes Organisationsstatut ohne Grundrechtsteil nachgedacht worden,13 bestand bereits in den Berichten, welche die Arbeit des Parlamentarischen Rates einleiteten, Einigkeit über die Orientierung, dass der Schutz der Grundrechte die vornehmste Aufgabe eines jeden Staates und seiner Verfassung sei.14 Helene Weber (CDU), eine der vier Mütter des Grundgesetzes, forderte mit Blick auf eine mögliche Aushöhlung der Grundrechte durch den Gesetzgeber, dass die Grundrechte in der Verfassung zu garantieren sind, um „Vorsorge dagegen zu treffen, dass sie den Menschen in einer viel zu leichten Weise wieder abgesprochen werden können“.15 Die von Artikel 1 Abs. 3 GG angeordnete „Bindung“ von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ unter der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts stellte in dieser Konsequenz fraglos ein verfassungsrechtliches Novum dar, das auch nach nunmehr fast 70 Jahren bei kontroversen Entscheidungsgegenständen16 immer noch Anlass zu Diskussionen bietet. Zwar ist es richtig, dass das Grundgesetz keine Suprematie des Bundesverfassungsgerichts begründet hat und es zu seinen Pflichten gehört, die politischen Folgen und Wirkungen seiner Entscheidung in seine Erwägungen einzubeziehen.17 Doch eine überzogene Kritik an den Entscheidungsprärogativen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber verkennt, dass seine Befugnisse die Essenz dessen bilden, was das Anliegen des Parlamentarischen Rates bildete. So forderte bspw. Carlo Schmid (SPD), dass „die Grundrechte […] das Grundgesetz regieren“ müssen.18 Denn ohne eine gerichtliche Sanktionierung der Beachtung der Grundrechte wären diese allzu leicht zu einer bloßen Deklamation verkommen, gegen die sich der Parlamentarische Rat ausdrücklich ausgesprochen hatte.19 Vielmehr herrschte Konsens, dass die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht es dem einzelnen Betroffenen ermöglichen sollten, um ihre Beachtung „auch einen Prozess führen zu können“.20 Die kopernikanische Wende, die mit einer staatlichen Reorganisation auf der Grundlage der Grundrechte in der deutschen Verfassungstradition einherging, wird in ihrer ganzen Tragweite gegenwärtig, wenn man die schlichte Sprache in ihrer ganzen Kraft auf sich wirken lässt, die das eigentliche Anliegen des Grundgesetzes zum Ausdruck bringt: eine von Grundwerten geprägte Ordnung, die das Gegenteil 13 Siehe Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 1, 3. Aufl. 2003, § 8, Rn 55. 14 Adolf Süsterhenn (CDU), zitiert nach JöR N.F. 1 (1951), 42. 15 Siehe von Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949: Akten und Protokolle, Band 5/1 (2010), 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23.09.1948, 62 (69). 16 Siehe bspw. BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag; BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 93, 1 – Kruzifix. 17 Siehe dazu Höpker-Aschoff, in: Der Status des BVerfG: Material: Gutachten, Denkschriften und Stellungnahmen mit einer Einleitung von Gerhard Leibholz, JöR N.F. 6 (1957), 110 (201). 18 Siehe Der Parlamentarische Rat 1948–1949 (Fn. 15), Band 9 (2010), 2. Sitzung des Plenums vom 08.09.1948, 18 (37). 19 Siehe Carlo Schmid (SPD) in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949 (Fn. 15), Band 5/1 (2010), 2. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 16.09.1948, 2 (10). 20 Siehe Wilhelm Heile (DP), in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949 (Fn. 15), Band 5/1 (2010), 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 21.09.1948, 28 (43); Helene Weber (CDU), in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949 (Fn. 15), Band 5/1 (2010), 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23.9.1948, 62 (69).
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des totalen Staates verkörpert.21 So lautete Artikel 1 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs des Herrenchiemseer Verfassungskonvents in kaum zu überbietender Klarheit: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. Die statt seiner in Artikel 1 Abs. 1 dem Grundgesetz programmatisch vorangestellte Menschenwürdegarantie lässt in ihrer apodiktischen Eleganz auch keine Fragen offen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die historische und die internationale Dimension dieser Aussage spiegeln sich vortrefflich in dessen Abs. 2: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Und es ist die Ewigkeitsgarantie dieser Gewährleistung der Menschenwürde in Artikel 79 Abs. 3 GG, welche die Ernsthaftigkeit unterstreicht, mit der das Grundgesetz den Mensch in die Mitte seiner Ordnung stellt (Paul Kirchhof ).22 Schon in seiner frühesten Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte als Ausdruck einer „wertgebundenen Ordnung“ verstanden 23 und sodann betont, „dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat“, in der „eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt“.24 Im Zusammenspiel mit der Auslegung der in Artikel 2 Abs. 1 geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit als umfangreiches Auffanggrundrecht, das einen prinzipiell lückenlosen Freiheitsschutz gewährleistet,25 hat das Bundesverfassungsgericht, den grundlegenden Vorstellungen des Parlamentarischen Rates getreulich folgend, den Grundrechten praktische Wirksamkeit verliehen, gerade auch gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber.26 Damit wurde dem modernen Verfassungsstaat eine in Europa bisher unerreichte Dimension erschlossen. Mit Blick auf die Zukunft des Grundgesetzes sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass jenseits der ostentativen Betonung der Menschenwürde, der klassischen liberalen Grundrechte sowie der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes auch Grundrechte zum Wertesystem des Grundgesetzes gehören, die je nach Anschauung und politischer Großwetterlage als überaus „hinderlich“ empfunden werden können. Gleichwohl sind sie für einen demokratischen Rechtsstaat konstitutiv. Hierzu gehören fraglos die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und die besonderen Diskriminierungsverbote. Aus aktuellem Anlass verweise ich nur auf das Verbot der Benachteiligung wegen Abstammung, Rasse, Herkunft und religiösen oder politischen Anschauungen.27 Gleiches gilt für das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl, das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen 28 sowie für die Rundfunk- und die Pressefreiheit, wie die Konflikte der 60er Jahre um Adenauers BVerfGE 2, 1 (12) – SRP. Kirchhof (Fn. 4), 541 (545). 23 BVerfGE 2, 1 (12) – SRP. 24 BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth. 25 BVerfGE 6, 32 (40 f.) – Elfes; BVerfGE 80, 137 – Reiten im Walde. 26 Siehe Hillgruber (Fn. 5), 27, wonach das BVerfG durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genau das getan haben dürfte, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes erklärtermaßen gewollt haben. 27 Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG. 28 BVerfGE 48, 127 – Wehrpflicht. 21
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„Deutschland-Fernseh-GmbH“29 und den „Abgrund von Landesverrat“ in der Spiegelaffäre30 bald praktisch bezeugt haben. Wenn wir also von Werten des Grundgesetzes sprechen, sollten wir nicht vergessen, dass diese als Teil einer Werteordnung nicht der Beliebigkeit politischer Opportunität anheimgestellt sind.
2. Das Grundgesetz als „living instrument“ Zum Erfolgsrezept des Grundgesetzes gehört indes ganz maßgeblich auch, dass die Stabilität, die seine Werteordnung den Bürgern vermittelt, keinen Absolutheitsanspruch erhebt, der gegenüber gesellschaftlichem Wertewandel gleichsam immun wäre oder im Sinne einer originalistischen Verfassungsauslegung ohne kreative Antworten auf neuartige Herausforderungen bleiben müsste. So beachtlich die Anzahl der seit 1949 erfolgten Verfassungsänderungen ist, so wenig haben diese die Essentialia des Bonner Grundgesetzes modifiziert.31 In der Staatspraxis oblag es vielmehr dem Bundesverfassungsgericht, einen legislativ dokumentierten Wertewandel verfassungsrechtlich zu billigen32 oder erforderlich gewordene Entwicklungen sogar prätorisch zu vollziehen, über die in europäischen Nachbarländern politisch noch verbittert gestritten wurde.33 Insgesamt bezeugt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein waches Gespür für die Notwendigkeit, Stabilität und Entwicklungsoffenheit im Rahmen der grundgesetzlichen Werteordnung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. So zeigte sich die Rechtsprechung im Grundrechtsbereich gegenüber dem gesellschaftlichen Wertewandel überaus aufnahmefähig, sei es im Bereich der besonderen Diskriminierungsverbote34 und beim Schutz von Ehe und Familie,35 sei es durch die Entwicklung eigenständiger staatlicher Schutzpflichten gegenüber besonderen grundrechtlichen Gefahrenlagen36 und schließlich durch die Anerkennung neuer Grundrechte oder Grundrechtsgehalte wie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung37 und dem Recht auf Integrität informationstechnologischer Systeme.38 BVerfGE 12, 205 – 1. Rundfunkurteil. BVerfGE 20, 162 – Spiegelaffäre. 31 Seit 1949 wurden 62 verfassungsändernde Gesetze verabschiedet. Die beiden letzten Änderungen wurden am 13.07.2017 verabschiedet, vgl. BGBl. 2017 I, 2346 f. 32 BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II. 33 So bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, vgl. schon BVerfGE 105, 313 (345) und sodann die schrittweise Angleichung von gleichgeschlechtliche Partnerschaften an die Ehe über Art. 3 I GG in BVerfGE 124, 199 zur betrieblichen Hinterbliebenenversorgung; BVerfGE 126, 400 zur Erbschafts- und Schenkungssteuer; BVerfGE 131, 239 zum Familienzuschlag; BVerfGE 132, 179 zur Grunderwerbssteuer; BVerfGE 133, 59 zur Sukzessivadoption; BVerfGE 133, 377 zum Ehegattensplitting. 34 Siehe bspw. BVerfGE 5, 9 (11 f.) – Arbeitszeitbeschränkungen; BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot; BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrdienstpflicht; BVerfGE 109, 64 (89) – Mutterschutz. 35 Siehe bspw. BVerfGE 6, 55 (76) – Einkommenssteuer. 36 Siehe bspw. BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 46, 160 – Schleyer; BVerfGE 53, 30 – Mühlheim-Kärlich; BVerfGE 77, 170 – C-Waffen; BVerfGE 133, 241 – Luftsicherheitsgesetz. 37 BVerfGE 65, 1 – Volkszählung. 38 BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchungen. 29
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In einer strukturell vergleichbaren Weise, obgleich von einer maßvolleren Dynamik getragen, ist das Verhältnis von Regierung und Parlament im Zuge der Entfaltung des Gesetzesvorbehalts von Seiten des Bundesverfassungsgerichts einer nachhaltigen Neujustierung unterzogen worden, um den mit der Festigung der bundesdeutschen Demokratie gewachsenen Möglichkeiten und Erfordernissen demokratischer Kontrolle und Gestaltung angemessen Rechnung zu tragen.39 Neuland wurde insofern vor allem im Bereich der Auslandseinsätze der Bundeswehr betreten.40 Der Erfolg des Grundgesetzes ist damit auch ein Verdienst seiner, zwischen Prinzipienfestigkeit und Innovationsoffenheit oszillierenden, umsichtigen Anwendung und Fortentwicklung durch das Bundesverfassungsgericht.41 Nicht minder wichtig scheint jedoch die kluge Bereitschaft der politischen Staatsgewalten, wenngleich mitunter murrend, so im Ergebnis doch zu akzeptieren, dass der Schutz der Rechte wahlpolitisch irrelevanter Minderheiten,42 die Stärkung demokratischer43 und parlamentarischer44 Rechte der Opposition und die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundprinzipien45 so gewichtig sind, dass sie bisher der Versuchung einer weitreichenden Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit widerstanden haben, die andernorts und gerade aktuell für viel Verdruss sorgt.
3. Die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit Die Verfassungsentscheidung des Bonner Grundgesetzes für eine offene Staatlichkeit gehört schließlich zu den Weichenstellungen des Parlamentarischen Rates, die seinen Erfolg in besonderer Weise verbürgen.46 Die Westintegrationspolitik Adenauers wurde in ihrer epochalen Bedeutung für die Entwicklung der Bundesrepublik von der zeitgeschichtlichen Forschung bald allgemein anerkannt.47 Hingegen ist die dieser Politik zugrunde liegende Grundentscheidung des Bonner Grundgesetzes allgemein bisher nicht in gleicher Weise gewürdigt worden. Die Intensität, mit welcher der Parlamentarische Rat die Frage der offenen Staatlichkeit beraten hat, sowie die von ihm schlussendlich beschlossene Orientierung des Grundgesetzes zeigen indes deutlich, dass auch diese Richtungsentscheidung von großer Weisheit und einer 39 BVerfGE 33, 1 – Strafgefangene; BVerfGE 33, 125 – Facharzt; BVerfGE 47, 46 – Sexualerziehung; BVerfGE 49, 89 – Kalkar I; BVerfGE 68, 1 – Pershing. 40 BVerfGE 90, 286 – AWACS. 41 Collings, Democracy’s Guardians: A History of the German Federal Constitutional Court 1951– 2001, 2015. 42 BVerfGE 33, 1 – Strafgefangene. 43 BVerfGE 40, 296 – Abgeordnetendiäten; BVerfGE 44, 125 – Öffentlichkeitsarbeit; BVerfGE 62, 1 – Vertrauensfrage I; BVerfGE 95, 335 – Überhangmandate; BVerfGE 114, 121 – Vertrauensfrage II. 44 BVerfGE 67, 100 – Flick-Untersuchungsausschuss; BVerfGE 70, 324 – Haushaltskontrolle der Geheimdienste; BVerfGE 80, 188 – Wüppesahl; BVerfGE 84, 304 – PDS. 45 BVerfGE 71, 108 – Anti-Atomplakette; BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen; BVerfGE 97, 67 – Schiffsbauverträge. 46 Siehe Sommermann (Fn. 9), Rn. 5 ff.; Rensmann, Die Genese des „offenen Verfassungstaats“ 1948/49, in: Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, 37. 47 Vgl. statt vieler Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik, 2005, 108 ff.; Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, 2004, 75 ff.
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Weitsichtigkeit historischen Ausmaßes geprägt war. Es hieße die historische Nachkriegssituation grundlegend zu verkennen, wenn man das grundgesetzliche Bekenntnis seiner Präambel, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, das im Herrenchiemseer Entwurf noch nicht enthalten war, auf wenig mehr als eine situationsbedingte Einsicht in die Notwendigkeit reduzieren wollte. Vielmehr verbürgt gerade die weise Formel vom „gleichberechtigten Glied in einem vereinten Europa“48 nicht nur die Absage an ein erneutes Streben nach deutscher Überlegenheit, sondern verbürgt die Bereitschaft zur mitgliedstaatlichen Einordnung in ein vereintes Europa in rechtsverbindlicher Weise. Auch und vor allem der vom Parlamentarischen Rat in Artikel 24 beschlossene Mechanismus der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen durch einfaches Bundesgesetz spiegelt die besondere Offenheit für die Integration Deutschlands in ein vereintes Europa wider.49 Mit dieser Ermächtigung ging der Parlamentarische Rat deutlich über die in der französischen und der italienischen Verfassung vorgesehenen Bestimmungen der reziproken Beschränkung von Hoheitsrechten hinaus,50 die – wie es im Parlamentarischen Rat hieß – bewusst als „sehr schöne Antwort“ verstanden wurde auf das, was „die französische Republik in der Präambel ihrer neuen Verfassung sagt“.51 Dass sich der Parlamentarische Rat im Unterschied zum Herrenchiemseer Entwurf für eine Übertragung von Hoheitsrechten durch einfaches Bundesgesetz entschied, also ohne die Erforderlichkeit einer Zustimmung des Bundesrates oder qualifizierte Mehrheitserfordernisse vorzusehen, war Gegenstand intensiver und kontroverser Beratung und erfolgte in Ansehung ihrer historischen Bedeutung. Es sei gerade die „Pointe […], dass es durch einfaches Gesetz geschehen kann“,52 hieß es in den Beratungen. Überdies bezeugen diese, dass die fraglos unscharfe Bezugnahme auf „zwischenstaatliche Einrichtungen“ vor dem Hintergrund sehr konkreter Vorstellungen über eine internationale Behörde erfolgte, welche „den gesamten Kohlebergbau europäisch zu organisieren“ hätte,53 also die spätere Montanunion präzise in den Blick nahm. Angesichts der föderalen und durchaus weitreichenden Vorstellungen führender Mitglieder des Parlamentarischen Rates spricht nichts für eine restriktive Vorstellung der von dieser Übertragungsbefugnis erfassten Hoheitsrechte. Immerhin hatte Adenauer bereits zum Jahresende 1946 die künftige Gemeinschaft europäischer Staaten geradezu prophetisch „in der Schaffung eines gewaltigen Binnenmarktes in Westeuropa [gesehen], das heißt eines
48 Die vom Abg. von Mangoldt (CDU) in den Hauptausschuss eingeführte Wendung entstammte wohl dem Entwurf des Abg. Kroll (CSU), siehe Bermandseder, Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat, 1998, 138, 148 f. 49 Siehe namentlich die Stellungnahmen der Abg. Schmid (SPD), Seebohm (DP) und Wessels (Zentrum), zit. nach Bermannseder (Fn. 48), 131 ff., 135, 167, jeweils m.w.N. 50 Siehe Sommermann (Fn. 9), Rn. 9. 51 So der Abg. Dr. Eberhard (SPD), siehe von Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat, Band 14/1 (2010), 6. Sitzung des Hauptausschusses am 19.11.1948, Dokument Nr.6, 171 (173). 52 Siehe Abg. Katz (SPD), ebenda, 171 (172); siehe dazu erneut Bermannseder (Fn. 48), 145 f. 53 So Abg. Schmid (SPD), siehe von Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat, Band 5/I (2010), 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 15. Oktober 1948, Dokument Nr. 15, 313 (324 f.).
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einheitlichen Marktes, der England, Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg und Deutschland umfassen sollte“.54 Die effiziente Ausgestaltung der Übertragung von Hoheitsrechten ist mehr als nur ein beliebiger verfassungsrechtlicher Mechanismus. Dieser „Integrationshebel“55 hat die Europäische Einigung auch inhaltlich antizipiert. Denn nur durch die offene Staatlichkeit war es der Bonner Republik auf effiziente Weise möglich, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Daher gehört auch diese Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes zu dem, was Andreas Vosskuhle als seinen „Quellcode“ bezeichnet hat.56
II. Wenden wir uns also den Herausforderungen der Zukunft zu, die sich dem Grundgesetz stellen. Vermag die Prägung, die das Bonner Grundgesetz der frühen Bundesrepublik mitgegeben hat und die in nunmehr 70 Jahren zur verfassungsrechtlichen Identität des wiedervereinigten Deutschlands gereift ist, auch Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu geben?
1. Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit im 21. Jahrhundert Blicken wir heute auf die Zukunftsfragen, die das 21. Jahrhundert an das Grundgesetz richtet, so erscheint die staatsrechtliche Besonderheit, dass die Wiedervereinigung Deutschlands im Einvernehmen mit den alliierten Mächten und den Partnern Deutschlands in der Europäischen Union auf der Grundlage des Grundgesetzes herbeigeführt werden konnte, eben nicht nur als historischer Glücksfall internationaler Beziehungen. Denn aus der Rückschau war es eine geradezu „wunderbare“ Erfahrung, dass der revolutionäre Ruf nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, der die Völker von Mittel- und Osteuropa erfasste, gerade von den Werten beseelt war, die in der Wertordnung des Grundgesetzes ihren Niederschlag und in der strikten Beachtung der Rechtsstaatlichkeit ihren formalen Schutz gefunden hatten. Ungeachtet individueller Enttäuschungen und möglicher Fehleinschätzungen der Nachhaltigkeit erforderlicher Transformationsmaßnahmen verdient daher Hervorhebung, wie mutig die rechtsstaatliche Reorganisation in den Ländern Mittel- und Osteuropas vielerorts angegangen und das Bonner Grundgesetz immer wieder als Referenzmodell angesehen wurde, wie schon zuvor in den 70er Jahren in Portugal und in Spanien.57 54 Interview in: Die Welt v. 30.11.1946, zitiert nach Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, 1966, 791, Fn. 51. 55 Ipsen, Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, in: Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts: Europarechtliches Kolloquium 1964, 1965, 1 (26). 56 Voßkuhle (Fn. 8), 97 ff. 57 Stern, 50 Jahre Grundgesetz und die europäische Verfassungsentwicklung, 1999, 18 (21 ff.); Cruz Villalón, § 13 Vergleich, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Euro-
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Daher wird man heute die in so manchen europäischen und außereuropäischen Staaten erstarkten Bestrebungen, den freiheitlichen Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz und mit ihnen die praktische Wirksamkeit der gewährten Grundund Menschenrechte zu untergraben, als die wohl größte Herausforderung für die Wertordnung des Grundgesetzes anzusehen haben.58 Keinesfalls wird man sich in die Überheblichkeit der frommen Lüge flüchten dürfen, dass derartige Vorgänge in Deutschland nicht denkbar seien. Denn es geht um nicht weniger als die historische Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaates, die in besonderer Weise dem Erfahrungshorizont des Grundgesetzes entspricht. Sie zeichnet sich gerade durch eine wirksame Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Handelns der Regierung und des demokratisch legitimierten Parlaments aus und begegnet durch den Schutz von Grund-, Minderheiten- und Oppositionsrechten jedem Versuch, eine Diktatur der Mehrheit zu errichten. Vor allem sollten wir uns aber nicht in Sicherheit wähnen, solange die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit formal unangetastet bleibt. Denn auch in Deutschland hat so mancher politische Diskurs in der jüngsten Vergangenheit lange geachtete Hemmschwellen souverän genommen und – bewusst oder unbewusst – eine Gedankenwelt demokratisch hoffähig gemacht, die in flagrantem Widerspruch zu den Werten des Grundgesetzes steht. Wenn unabhängige Presseorgane oder gar Richter bei politischer Missliebigkeit als „enemies of the people“ diskreditiert werden, deren Entscheidungen man nur noch nach Maßgabe dessen zu achten bereit ist, was Volkes Stimme für gut und richtig hält, ist Gefahr für den Rechtsstaat im Verzug. Solche Kontinentalverschiebungen der Werte sind mit dem historischen Kernanliegen des Bonner Grundgesetzes schlicht unvereinbar. Gleiches gilt indes für all jene, die bestimmte Werte des Grundgesetzes wie die Gleichberechtigung von Frau und Mann, die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Abschaffung der Todesstrafe nicht akzeptieren wollen: Die rechts- und verfassungsstaatlichen Werte des Grundgesetz sind kein Angebot à la carte; vielmehr konstituieren sie eine wehrhafte Demokratie, die intolerant gegen Extremismus gleich welcher Couleur ist. Die Integrationsaufgabe des Grundgesetzes besteht gerade darin, den Citoyen davon zu überzeugen, dass sich der Schutz des Grundgesetzes gleichermaßen auf alle Werte und Freiheiten erstreckt, die den Deutschen gewährleistet sind.
2. Schutz der Menschenwürde im Zeitalter der Digitalisierung Eine zweite zentrale Herausforderung für die Wertordnung des Grundgesetzes ergibt sich aus der technologischen Revolution, die unter dem Schlagwort der Digitalisierung rubriziert wird. Diese seit geraumer Zeit stattfindende Entwicklung wirft in der Sache völlig neuartige Fragestellungen auf. Aus grundrechtlicher Perspektive lässt sie sich jedoch einer wohl bekannten Traditionslinie zuordnen, mit der das paeum, Band I, 2007, Rn. 30 m.w.N.; siehe hierzu umfassend: Häberle, Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz: eine geglückte Verfassung?, 2010, 173 ff. 58 Zur Situation in Polen vgl. Sanders/von Danwitz, Selecting Judges in Poland and Germany: Challenges to the Rule of Law in Europe and Propositions for a New Approach to Judicial Independence, in: German Law Journal 19 (2018), 770.
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Wertesystem des Grundgesetzes immer wieder auf neuartige technologische Entwicklungen zu reagieren hatte, so namentlich auf die friedliche Nutzung der Kern energie,59 die Einführung der Gentechnik60 oder die elektronische Datenverarbeitung.61 Gerade das in Reaktion auf die aus heutiger Sicht recht harmlose Volkszählung 1983 geschaffene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das an Wert und Würde der selbstbestimmten Person anknüpft,62 gewährleistet im Kern, dass der Einzelne grundsätzlich selbst über die Preisgabe und die Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmt. Im Zeitalter der Digitalisierung sieht sich dieses einfache Grundverständnis erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt, da sich die Möglichkeiten der Datenerhebung und –verarbeitung in unvorstellbarem Maße vermehrt haben und Geschäftsmodelle kreiert wurden, die auf einem völlig unterschiedlichen Grundverständnis beruhen und Daten als wirtschaftlichen Rohstoff des 21. Jahrhunderts verstehen wollen, über die Unternehmen frei verfügen möchten, so wie im 19. Jahrhundert über die als freie Güter angesehenen Umweltmedien. Vor allem die mit dieser Entwicklung einhergehende Erstellung von Persönlichkeitsprofilen unter Einsatz künstlicher Intelligenz wirft ebenso schwerwiegende Fragen auf wie die durch die Digitalisierung geschaffenen, neuartigen Überwachungsmöglichkeiten. Die „Nützlichkeit“ solcher Profile reicht von der Berechnung von Versicherungstarifen und gesundheitlichen Risiken zur Rentabilitätsberechnung von ärztlichen Heilbehandlungen bspw. am Ende des Lebens, über die Einstellung von Arbeitnehmern oder die Auswahl von Lebens- oder Sexualpartnern, bis zur Steuerung der Verbreitung wahlpolitisch relevanter Informationen, der Abschätzung von Kriminalitätsrisiken und der Einrichtung wirtschaftlicher oder staatlicher Systeme wie das chinesische Sozialkreditsystem,63 das sich konform verhaltende Bürger mit sozialen Leistungen belohnt. Dass diese Technologien von weltweit operierenden Unternehmen, mitunter mit staatlicher Unterstützung, vorangetrieben werden, die bis dato keiner nachhaltig wirksamen Regulierung unterworfen sind, akzentuiert die grundrechtliche Gefährdungslage. Angesichts der allseits bekannten Enthüllungen fällt die Analyse dieser Herausforderungen erneut nicht schwer, die Bewältigung der aufgezeigten Dilemmata lässt die Beobachter indes ratlos zurück: Eine konsequente Ausnutzung der ungeahnten Möglichkeiten, welche unsere neue digitale Welt bereithält, ließe von der Leitvorstellung des Grundgesetzes von Wert, Würde und Selbstbestimmung des Menschen in der Tat wenig über. Derartige Entwicklungen bergen auch ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotential für die Demokratie, wie sich mancherorts beobachten lässt. Diese Einsicht sollte uns verstehen lassen, dass es um mehr und um grundlegend anderes geht als um die Frage, ob Deutschland und Europa im Wettbewerb um die
BVerfGE 49, 89 – Kalkar; BVerfGE 53, 30 – Mülheim-Kärlich. BVerfGE 128, 1 – Gentechnik. 61 BVerfGE 65, 1 – Volkszählung. 62 BVerfGE 65, 1 (41 ff.) – Volkszählung. 63 Siehe nur Strittmatter: Augen auf, in: Süddeutsche Zeitung v. 02.02.2018, S. 3; Simeons: Die totale Kontrolle, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 06.05.2018, abruf bar unter: http://www.faz. net/aktuell/feuilleton/debatten/chinas-sozialkreditsystem-die-totale-kontrolle-15575861.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, zuletzt aufgerufen am 22.11.2018. 59
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wirtschaftlichen Möglichkeiten der Digitalisierung auf dem ersten, zweiten oder dritten Platz landen werden.
3. Globalisierung Im unmittelbaren Zusammenhang zur Digitalisierung steht die allgemeine Entwicklung der Globalisierung. Hinter dieser Chiffre verbirgt sich nicht weniger als die fundamentale Um- und Entwertung der mit dem klassischen Begriff von Souveränität verbundenen Vorstellung von der Machtfülle des Staatswesens und der Eigenständigkeit ihrer Wahrnehmung. Im Zeitalter der Globalisierung ist der moderne Staat einer Vielzahl faktischer und wirtschaftlicher Beschränkungen seiner Hoheitsbefugnisse und ihrer praktischen Anwendung unterworfen. Ob es uns gefällt oder nicht, gerade in Europa müssen sich „große“ Länder wie Deutschland oder Frankreich der Einsicht stellen, dass sie aus der Perspektive Bejings unvermeidlich auf die Größe Luxemburgs schrumpfen. Global gesehen wird es auf Sicht keine „kleinen“ und „großen“ Länder in Europa mehr geben. Damit einher geht die Frage nach einer sinnvollen Ausübung staatlicher Hoheitsbefugnisse. Wie und wo können bspw. global agierende Unternehmen für ihre im Internet verfügbar gemachten Dienstleistungen sinnvoll besteuert werden? Über welche tatsächlichen Möglichkeiten der Regulierung verfügt ein einzelner Nationalstaat gegenüber Unternehmen der globalen Wirtschaft, wenn ihre Ansiedlung allzu schnell zum Synonym für Zusagen über ein Minimum an Regulierung gerät? Wie ist unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung ein grundrechtliches race to the bottom, eine tatsächliche Aushöhlung der Wertordnung des Grundgesetzes vermeidbar, die diese als Muster ohne praktischen Wert historisch überholt?
4. Aufgabe des Grundgesetzes in der Europäischen Union Wie für die Bundesrepublik als Staatswesen, so führt der Weg zur Bewältigung einer Vielzahl dieser Herausforderungen auch für das Grundgesetz und seinen Geltungsanspruch über die konsequente Wahrnehmung der Möglichkeiten, welche die Europäische Union bietet. Gerade unter dem Eindruck der jüngsten Handelskonflikte reift fast überall die Gewissheit, dass ohne eine rechts- und regelgebundene Ordnung der internationalen Beziehungen kein dauerhaft friedliches Miteinander gewährleistet werden kann und ein Rückfall in das Spiel der Mächte überwunden geglaubter Zeiten droht, in der letztlich nur das Recht des Stärkeren gilt. Daher dürfte wohl Konsens darüber herrschen, dass Deutschland seine wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen international kaum auf sich alleine gestellt wird durchsetzen können; eine Erkenntnis, die erst recht für die Wertvorstellungen des Grundgesetzes und ihre praktische Einhaltung gelten dürfte. Angesichts dessen ist es indes erstaunlich, dass die Erkenntnis, allein die Europäische Union biete einen sinnvollen Rahmen, um unsere Interessen und Werte international kraftvoll vertreten und den Herausforderungen der Globalisierung regulatorisch begegnen zu können, nur zögerlich Anerkennung findet.
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Denn die Europäische Union ist als Rechtsgemeinschaft gegründet worden, die ihren Mitgliedstaaten und Bürgern den Schutz ihrer Rechte gewährleistet. Zugleich strebt sie danach, Identität und Unabhängigkeit Europas in der Welt zu stärken.64 Insbesondere verfolgt sie das Ziel, die Werte und Interessen der Union zu fördern, und trägt zum Schutz ihrer Bürger bei.65 Zum Beispiel die rasante technologische Entwicklung, welche neben vielfältigen Chancen typischerweise auch neue grundrechtliche Herausforderungen zu Tage treten lässt, kann nur im europäischen Rahmen einer sinnvollen Einhegung zugeführt werden. So dürfte bspw. wohl kaum ernsthaft erwogen werden, die mit dem autonomen Fahren verbundene Festlegung von Sicherheitsstandards und Versicherungsbedingungen den Mitgliedstaaten der Union zu überlassen, da die Setzung unterschiedlicher Standards den grenzüberschreitenden Warentransport im Binnenmarkt und den Reiseverkehr im Schengenraum nachhaltig beeinträchtigen oder ganz in Frage stellen würde. Angesichts der realen Vernetzung unserer Wirtschaft im europäischen Binnenmarkt – in Luxemburg zählen wir täglich über 160 000 Grenzpendler – erscheint die in der Rechtslehre geäußerte Idee, den Souveränitätsanspruch des Staates in Form lückenloser Grenzkontrollen ausleben zu wollen, ebenso naiv wie hilflos. Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es mancher Stimme ungleich wichtiger scheint, defensiv darauf zu achten, dass sich kein Jota an vorgrundgesetzlichen Souveränitätsvorstellungen ändern möge, statt die sich im Rahmen des europäischen Verfassungsverbundes bietenden Möglichkeiten ebenso konstruktiv wie selbstbewusst wahrzunehmen. Eine derartige Haltung erscheint heutzutage umso weniger verständlich, als das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über ein unbestreitbar hohes Ansehen in ganz Europa verfügen und die europäische Verfassungsentwicklung die in der Solange I-Entscheidung formulierten Kautelen vollständig eingelöst hat.66 Vor allem aber haben das Grundgesetz und das in ihm verbürgte Werteverständnis die europäische Grundrechtsentwicklung ganz maßgeblich geprägt. Entsprechend dem Grundverständnis des Grundgesetzes geht auch die Charta der Grundrechte davon aus, dass der Mensch im Mittelpunkt des Handelns der Union steht.67 In Übernahme der wirkmächtigen Symbolik des Grundgesetzes erklärt auch Artikel 1 der Charta die Würde des Menschen für unantastbar und statuiert entsprechende Schutzpflichten. Zudem enthält die Charta einen vollständigen Grundrechtskatalog, der keinerlei Schutzlücken gegenüber dem Grundgesetz aufweist. Als moderner Grundrechtskatalog geht sie in bestimmten Gewährleistungen sogar über die des Grundgesetzes hinaus, namentlich zum Schutz der Rechte des Kindes, älterer Menschen und bei der Integration behinderter Menschen sowie in einem eigenständigen Kapitel über Solidarität. Auf der Grundlage der mit dem Lissabonner Vertrag in Kraft getretenen Charta hat der Gerichtshof der Europäischen Union seine Rechtsprechung zum Schutz der Grundrechte kraftvoll zu entfalten vermocht68 und dafür gesorgt, dass die unter dem Stichwort „solange“ geführte Dis Präambel des Vertrages über die Europäische Union, Absatz 11. Artikel 3 Abs. 3 EUV. 66 Siehe BVerfGE 37, 271 – Solange I. 67 So Präambel, Abs. 2 , Satz 3. 68 Vergleiche nur EuGH v. 08.04.2014, verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 (Digital Rights Ireland und Seitlinger u.a.) = ECLI:EU:2014:238; EuGH v. 13.05.2014, Rs. C-131/12 (Google Spain und 64 65
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kussion um die Notwendigkeit einer Reservezuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Grundrechte seither verstummt ist. Angesichts dieser Zusammenhänge erscheint es mehr als nur naheliegend, die Verwirklichung der Werte des Grundgesetzes, die für Deutschland so heilsam gewirkt hat, auch im Rahmen der Charta der Grundrechte und der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union anzustreben, sofern es um nunmehr von der Europäischen Union wahrgenommene Politikbereiche geht. Es ist daher im gemeinsamen Interesse von Deutschland und Europa, dass das Verfahren der Vorabentscheidung im Geiste eines wirklichen Dialogs der Richter genutzt wird, um Werteund Rechtsvorstellungen des Grundgesetzes auch zu einer Entfaltung im Rahmen des Unionsrechts zu verhelfen. So sollte es vorrangig darum gehen, den reichen Erfahrungsschatz einer so anerkannten Verfassungsgerichtsbarkeit wie der des Bundesverfassungsgerichts als Ressource für die Kontrolle der Ausübung europäischer Hoheitsbefugnisse fruchtbar zu machen. Demgegenüber erscheint das gegenwärtig von mancher Stimme betonte Postulat der grundgesetzlichen Identitätswahrung überakzentuiert. Denn man wird der Wertvorstellung des Grundgesetzes fraglos nicht gerecht, wenn man diese in Zukunft auf die bloße Geltung in nationalstaatlichen Reservatsbereichen verweisen würde. Vor allem aber würde man den Gestaltungsanspruch der Wertvorstellungen des Grundgesetzes und seine historische Bedeutung grundlegend verkennen, wollte man diese Werte gegen die Europäische Union wenden und ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, einer fortschreitenden Integration Europas unüberwindliche Schranken zu ziehen. Denn der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist nicht als Gegenpol zur immer engeren Union der Völker Europas geschaffen worden, welche die Europäische Union erstrebt,69 die Werte der Europäischen Union und die des Grundgesetzes und der nationalen Verfassungen aller anderen Mitgliedstaaten sind ersichtlich zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die politische Lage des Jahres 2018 macht deutlicher als zuvor, dass die Herausforderungen, denen wir uns in Bezug auf die Achtung der Grund- und Menschenrechte sowie den Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegenübersehen, nur durch gemeinsame Anstrengungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gemeistert werden können. Angesichts dessen steht der Verbund ihrer Gerichtsbarkeiten vor einer wahrhaft historischen Bewährungsprobe, in der sie sich nicht gegeneinander in Stellung bringen lassen dürfen, sondern die sich stellenden Aufgaben in Kooperation bewältigen müssen.
Google) = ECLI:EU:C:2014:317; EuGH v. 06.10.2015, Rs. C-362/14 (Schrems I) = ECLI:EU:C:2015:650; EuGH v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/16 PPU (Aranyosi und Căldăraru) = ECLI: EU:C:2016:198; EuGH v. 21.12.2016, verb. Rs. C-203/15 und C-698/15 (Tele 2 Sverige) = ECLI:EU:C: 2016:970; EuGH v. 16.05.2017, Rs. C-682/15, (Berlioz Investment Fund) = ECLI:EU:C:2017:373; EuGH v. 26. Juli 2017, Gutachten 1/15,(PNR-EU/Kanada) = ECLI:EU:2017:592; EuGH v. 27.02.2018, Rs. C-64/16 (Associação Sindical dos Juìzes Portugueses) = ECLI:EU:2018:117; EuGH v. 24.04.2018, Rs. C-353/16 (MP) = ECLI:EU:C:2018:276; EuGH v. 19.06.2018, Rs. C-181/16 (Gnandi) = ECLI: EU:C:2018:465; EuGH v. 10.07.2018, Rs. 25/17 ( Jehovan todistajat) = ECLI:EU:C:2018:551. 69 Siehe Artikel 1 Abs. 2 EUV.
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III. Ich komme zum Schluss. So bravourös das Grundgesetz bisher seine Herausforderungen bestanden hat, so entscheidend dürfte es für die Bewältigung seiner zukünftigen Herausforderungen sein, die anstehenden Weichenstellungen mit viel Bedacht zu treffen. Namentlich die Zukunft des „grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates“ steht ganz im Zeichen größerer Veränderungen und beachtlicher Bewährungsproben. Dennoch bieten die Erfahrungswerte, über die wir nach annähernd 70 Jahren mit dem „Provisorium“ des Grundgesetzes verfügen, allen Anlass, auch diesen Herausforderungen mit Zuversicht zu begegnen. Denn in mannigfacher Hinsicht bieten die Richtungsentscheidungen des Grundgesetzes, vor allem aber die in ihm verkörperte Wertordnung, ein belastbares Fundament und eine klare Orientierung, um auch die Herausforderungen der Zukunft bestehen zu können. Es liegt aber an unserer Generation, ob wir den Lockrufen ökonomischer Effizienz einerseits und staatlichem oder parastaatlichem Paternalismus andererseits nachgeben oder ob wir den Mut und die Prinzipienfestigkeit aufzubringen, für die Wertordnung des Grundgesetzes einzustehen, um den demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat auch angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewahren. Doch – um es mit Wolf Biermann zu sagen – nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Das Grundgesetz wird seinen Anspruch, die Rechtswirklichkeit in Deutschland prägend zu gestalten, nur weiterhin aufrechterhalten können, wenn es gelingt, angemessene Antworten auf die Herausforderungen zu geben, die namentlich von der Globalisierung getragen oder verstärkt werden. Dazu gehört vor allem die Erkenntnis, dass die Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union kein Gegenspieler, sondern ein natürlicher Verbündeter im Geiste ist, wenn es darum geht, die Werte von Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte zu verteidigen, denn das sind die Werte, auf die sich die Union gründet, wie Artikel 2 EUV symbolträchtig zum Ausdruck bringt. Angesichts der erheblichen Gefahren für diese Werte, die in Deutschland ebenso wie innerhalb und außerhalb der Union drohen, darf diese Erkenntnis aber nicht nur der Gewissensberuhigung dienen oder zum Stoff für Sonntagsreden verkommen. Vielmehr bedarf es der Bereitschaft, für diese Werte zu streiten und sich auf den mitunter mühevollen Weg ihrer praktischen Durchsetzung zu begeben. Denn so elementar wie das Grundgesetz unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung auf die Dosierung der externen Herausforderungen durch die Europäische Union angewiesen ist, so fundamental ist die Europäische Rechtsgemeinschaft auf die Bereitschaft der Unionsbürger und der mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeiten angewiesen, ihre Wertvorstellungen in diese Rechtsgemeinschaft einzubringen, um eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft zu finden, die dem Wesen der Europäischen Union entspricht. Dass die Werte, die im Grundgesetz ihren so wirkmächtigen Ausdruck gefunden haben, gemeinsam mit den Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten ein für die Europäische Union unverzichtbares Fundament bilden, bedarf nach alledem keiner weiteren Hervorhebung. Gefordert ist hingegen die Bereitschaft, für diese Erkenntnis einzutreten; eine Sache, die jeden Einsatz wert ist.
Transformativer Konstitutionalismus und offene Staatlichkeit im regionalen Verfassungsvergleich mit Lateinamerika von
Dr. Michael Riegner, LL.M. (NYU) (Berlin) Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 II. Ius constitutionale commune en América Latina im Kontext der regionalen Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Verfassungsentwicklung in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Die Idee eines ius constitutionale commune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III. Transformativer Konstitutionalismus und offene Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Transformativer Konstitutionalismus als Typus von Verfassungsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Offene Staatlichkeit und regionaler Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 IV. Herausforderungen und Perspektiven der regionalen Verfassungsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Methoden und Skalen der Vergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 a) Die regionale Vergleichsperspektive als Erkenntnischance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 b) Methodische Herausforderungen intra- und transregionaler Vergleichung . . . . . . . . . . . . . . . 282 2. Sozialer Wandel durch Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 a) Herausforderungen des transformativen Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 b) Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 3. Demokratie und Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 a) Herausforderungen demokratischer Legitimation und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 b) Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
I. Einleitung Verfassungsvergleichung ist nicht mehr das, was sie einmal war. Sie hat sich geo grafisch globalisiert, methodisch diversifiziert und personell pluralisiert. Rechtsordnungen in Asien, Afrika und Lateinamerika erweitern den europäisch-nordamerikanischen Horizont der Disziplin. Kontextualistische, kritische und sozialwissenschaft-
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liche Methoden ergänzen den dogmatischen und funktionalistischen Kanon. Autorinnen und Autoren aus dem Globalen Süden und aus den Nachbardisziplinen sind hörbarer denn je. Dieser Wandel führt nicht zur bloßen Addition von Rechtsmaterial, Methoden und Stimmen, sondern stellt Orthodoxien der Verfassungsgeschichte, Verfassungstheorie und Verfassungsrechtsdogmatik in Frage. Vor diesem Hintergrund erscheint der liberale Konstitutionalismus, wie er in Europa und Nordamerika überwiegend verstanden wird, als einer von mehreren Typen von Verfassungsstaatlichkeit – ein wichtiger, ja dominanter, aber gleichwohl nur regionaler Typus.1 Dem entspricht eine zunehmende Zahl von Forschungsansätzen, die sich einem „Konstitutionalismus des Globalen Südens“ oder der regionalen Verfassungsentwicklung Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas widmen.2 Nimmt man die Zahl der englischsprachigen Neuveröffentlichungen als Maßstab, so entwickelt sich Lateinamerika zum neuen paradigmatischen Rechtsraum für die regionale Verfassungsvergleichung.3 Auch die deutsche Rechtswissenschaft ist hier prominent vertreten: Ein Kristallisationspunkt aktueller Debatten ist der Ansatz des „ius constitutionale commune en América Latina“, an dem das Max Planck Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg maßgeblich beteiligt ist. Der 2017 erschienene Band „Transformative Constitutionalism in Latin America: The Emergence of a New Ius Commune“ gibt nun einen englischsprachigen Einblick in den aktuellen Stand dieses Projekts.4 Der Band ist ein Türöffner für reichhaltige verfassungsvergleichende Debatten in der Region und bietet Anlass, die Verfassungsentwicklung Lateinamerikas im globalen Kontext zu reflektieren. Der vorliegende Beitrag ordnet das ius constitutionale commune in den verfassungsvergleichenden Diskurs ein und geht der Frage nach, inwieweit die Vergleichung in und mit Lateinamerika Einsichten birgt, die über die Region hinaus von allgemeinem Interesse sind. Lassen sich in Lateinamerika Experimente mit einem neuen Typus von Verfassungsstaatlichkeit beobachten, dem transformativen Konstitutionalismus? Beinhaltet dieser Typus eine spezifische Form offener Staatlichkeit? Welche Erkenntnischancen und methodischen Innovationen birgt die Vergleichung im regi Dann/Riegner/Bönnemann (Hrsg.), The Global South and Comparative Constitutional Law, 2019; Tushnet, ICON 14 (2016), 1; Schönberger, VRÜ 43 (2010), 6. 2 Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism of the global South, 2013; Vieira/Baxi/Viljoen (Hrsg.), Transformative constitutionalism, 2013. Zur regionalen Perspektive nur Fombad (Hrsg.), Separation of powers in African constitutionalism, 2016; Khilnani/Raghavan/Thiruvengadam (Hrsg.), Comparative Constitutionalism in South Asia, 2013. 3 Gargarella/Hübner Mendez (Hrsg.), Oxford Handbook of Constitutional Law in Latin America, 2019; Albert/Pulido/Zaiden Benvindo (Hrsg.), Constitutional Change and Transformation in Latin America, 2019; Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018; Brinks/Blass, The DNA of constitutional justice in Latin America, 2018; Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017; Gargarella/Gonzalez-Bertomeu, The Latin American Casebook, 2016; Ríos-Figueroa, Constitutional courts as mediators, 2016; Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015; Gargarella, Latin American constitutionalism, 1810–2010, 2013; Negretto, Making constitutions, 2013; Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012; Helmke/Ríos-Figueroa (Hrsg.), Courts in Latin America, 2011; Couso/Huneeus/Sieder (Hrsg.), Cultures of legality, 2010; Gargarella, The legal foundations of inequality, 2010. 4 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi/Piovesan/Soley (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017. Deutschsprachiger Überblick bei von Bogdandy, ZaöRV 75 (2015), 345. 1
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onalen Maßstab? Unter welchen Bedingungen lassen sich in Lateinamerika Einsichten gewinnen, die transregional relevant sind, also auch für Europa und in Deutschland? Der Beitrag geht diesen Fragen in drei Schritten nach. Zunächst führt er in die facettenreiche Verfassungsentwicklung Lateinamerikas ein und situiert den Ansatz des ius constitutionale commune en América Latina in diesem Kontext (II.). In einem zweiten Schritt vertieft er die zentralen inhaltlichen Debatten zu transformativem Konstitutionalismus und offener Staatlichkeit (III.). Der letzte Schritt markiert Herausforderungen und offene Forschungsfragen (IV.). Im Mittelpunkt steht dabei eine verfassungsvergleichende Auseinandersetzung mit den Thesen des ius constitutionale commune, die mit anderen Forschungsansätzen kontrastiert werden.
II. Ius constitutionale commune en América Latina im Kontext der regionalen Verfassungsentwicklung 1. Verfassungsentwicklung in Lateinamerika Lateinamerika blickt auf eine 200-jährige Verfassungsgeschichte zurück, die rund ein Drittel aller nationalstaatlichen Verfassungen seit 1789 hervorgebracht hat.5 Sie lässt sich mit dem argentinischen Verfassungsrechtler Roberto Gargarella in vier Phasen einteilen:6 Einer ersten Welle experimenteller Unabhängigkeitsverfassungen (1810– 1850) folgte eine Periode der Konsolidierung (1850–1917), die einen liberal-konservativen Verfassungstypus prägte. Dieser Typus entstand als Kompromiss zwischen liberalen Forderungen nach bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheiten und konservativen staatsorganisationsrechtlichen Idealen, insbesondere einer Machkonzentration in der Exekutive. Diese liberal-konservative Allianz wehrte radikalere Forderungen nach politischen Rechten breiter Bevölkerungsschichten ab. Eine dritte Phase des sozialen Konstitutionalismus leitete die mexikanische Verfassung von 1917 ein, die erstmals sozioökonomische Rechte bislang ausgeschlossener Bevölkerungsschichten verbürgte. Im Zuge der (Re-)Demokratisierung der 1980er und 1990er Jahre folgte eine vierte Welle menschenrechtlich und multikulturell geprägter Verfassungen.7 Die jüngere Verfassungsentwicklung ist von einer beträchtlichen Dynamik gekennzeichnet: Die Jahre 1978–2012 brachten insgesamt 16 neue Verfassungen und rund 350 Verfassungsänderungen hervor. Neue Verfassungen entstanden insbesondere in Brasilien (1988), Kolumbien (1991), Paraguay (1992), Peru (1993), Venezuela (1999), Ecuador (1998, 2008) und Bolivien (2009); zu bedeutenden Änderungen kam 5 Dixon/Ginsburg, Comparative constitutional law in Latin America: an introduction, in: Dixon/ Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 1 (3). Zu dieser 200jährigen Verfassungsgeschichte s.a. Duve, RG 16 (2010), 16 und die weiteren Beiträge in diesem Heft. 6 Hierzu und zum Folgenden Gargarella, Latin American constitutionalism (Fn. 3), 1 ff. 7 Gargarella, Latin American constitutionalism (Fn. 3), 148 ff. Siehe ferner Whitehead, Latin American Constitutionalism: Historical Development and Distinctive Traits, in: Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012, 123.
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es etwa in Costa Rica (1989), Argentinien (1994) und in Chile (1980, 1989, 2005).8 Diese Reformwelle wird als Ausdruck eines „neuen Konstitutionalismus“ in Lateinamerika gesehen. Der Begriff wird unterschiedlich verwendet: Eine weite Bedeutung (oft: „neoconstitucionalismo“) erfasst generell die Verfassungsreformen, die das Ende autoritärer Regime oder interner bewaffneter Konflikte markieren. Enger ist der „nuevo constitucionalismo“, der die neuen Verfassungen Venezuelas, Ecuadors und Boliviens charakterisiert.9 Wieviel Neues und wieviel Gemeinsames dieser neue Konstitutionalismus tatsächlich beinhaltet, ist Gegenstand aktueller Debatten. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die Verfassungstexte des neuen Konstitutionalismus vier Elemente gemeinsam haben. Dazu gehört zunächst die Stärkung der Judikative, insbesondere der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Einrichtung spezialisierter Verfassungsgerichte (Kolumbien 1991, Peru 1996, Bolivien 1999) oder durch die Ausweitung verfassungsrechtlicher Kompetenzen und Verfahren existierender Höchstgerichte (Brasilien 1988, Costa Rica 1989, Argentinien 1994, Mexiko 1994). Ein zweites Element ist die Expansion der Grundrechtskataloge, insbesondere durch neue politische, soziale und kollektive Rechte. Damit einher geht drittens die Öffnung der nationalen Rechtsordnungen für den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz, namentlich das interamerikanische System. Ein letztes Element ist die Anerkennung von multikulturellen Rechten der Minderheiten und von Rechtspluralismus. Weniger einheitlich stellt sich die Entwicklung des Staatsorganisationsrechts, insbesondere der Präsidialsysteme, und der Wirtschaftsverfassungen dar. Insbesondere die sog. „bolivarischen“ Verfassungen Venezuelas, Ecuadors und Boliviens gehen insoweit eigene Wege.10
2. Die Idee eines ius constitutionale commune Die regionale Dynamik hat auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Idee eines gemein-lateinamerikanischen Verfassungsrechts wiederbelebt.11 In diesem Kontext ist der Ansatz des ius constitutionale commune en América Latina (im Folgenden: ICCAL, ius commune) zu verorten. Der Begriff „ICCAL“ bezeichnet einen regionalen Ansatz transformatorischer Verfassungsstaatlichkeit, der auf den Wandel politischer und sozialer Realitäten durch die Stärkung von Menschenrechten, Rechtsstaatlich-
8 Nolte/Schilling-Vacaflor, Introduction: The Times they are a Changin’: Constitutional Transformations in Latin America since the 1990s, in: Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012, 3, 6 f. 9 Zu den Begrifflichkeiten von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi, Ius Constitutionale Commune en América Latina: A Regional Approach to Transformative Constitutionalism, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 3 (18); Nolte/SchillingVacaflor (Fn. 8), 22. Wiederum nicht zu verwechseln mit dem global gemeinten „new constitutionalism“ bei Hirschl, Towards juristocracy: The origins and consequences of the new constitutionalism, 2007. 10 Zum Vorstehenden Gargarella, Latin American constitutionalism (Fn. 3), 148 ff.; Nolte/SchillingVacaflor (Fn. 8); Uprimny, Texas Law Review 89 (2011), 1587. 11 Die Grundidee eines lateinamerikanischen ius commune formuliert schon Häberle, JöR 52 (2004), 581.
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keit und Demokratie abzielt.12 Er vereint Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler aus Lateinamerika und Europa, die einen verstetigten Austausch pflegen, insbesondere im Rahmen des Instituto Iberamericano de Derecho Constitucional in Mexiko-Stadt und im Coloquio Iberoamericano des Max-Planck-Instituts (MPI) in Heidelberg. Das MPI spielt dabei nicht nur die Rolle eines Diskursforums, sondern trägt auch inhaltlich zur Ausrichtung von ICCAL bei. Die mittlerweile zehnjährige Zusammenarbeit der Beteiligten hat dutzende Publikationen hervorgebracht, die überwiegend in spanischer Sprache erschienen sind.13 Der 2017 publizierte, englischsprachige Band entwickelt den Ansatz weiter und stellt insbesondere den titelgebenden Begriff des transformativen Konstitutionalismus in den Vordergrund.14 Gemeinsamer Ausgangspunkt des ius commune ist der Befund, dass die lateinamerikanischen Staaten bestimmte strukturelle Probleme teilen: soziale Ungleichheit, Exklusion breiter Bevölkerungsschichten und eine schwache rechtliche Normativität. Dagegen setzen die Vertreter des Ansatzes einen „rechtebasierten, überstaatlich abgesicherten und regional radizierten Konstitutionalismus, [der] Staatsrecht, Völkerrecht und Verfassungsrecht engst verbinde[t].“15 Den Fokus auf subjektive Rechte, und nicht etwa staatsorganisationsrechtliche Fragen, teilt das ius commune mit dem neoconstitucionalismo. Ein Alleinstellungsmerkmal ist demgegenüber die besondere Bedeutung, die dem interamerikanischen System des Menschenrechtsschutzes eingeräumt wird: Es stellt den „normativen Kern des ICCAL“ dar.16 Begründet wird diese Sonderstellung erstens mit dem innovativen Korpus transformativer Rechtsprechung, den der Interamerikanischer Gerichtshof und die Interamerikanische Kommission entwickelt haben.17 Dieser Korpus verdankt seine transformative Wirkung zweitens der Öffnung staatlicher Verfassungen für den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz. Diese Öffnung, so die These, ermöglicht einen ebenenübergreifenden Dialog und verleiht den nationalen Verfassungen eine gemeinsame normative Orientierung – ein Prozess, der treffend als „Interamerikanisierung“ bezeichnet wird.18 Verstärkt wird diese Konvergenz durch einen transnationalen rechtsvergleichenden Diskurs. Dessen Träger sind nicht nur aktivistische Gerichte, sondern auch die vergleichende Die folgende Charakterisierung des ICCAL beruht im Wesentlichen auf den Einleitungskapiteln des englischsprachigen Bandes von von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9); von Bogdandy, Ius Constitutionale Commune en América Latina: Observations on Transformative Constitutionalism, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 27. Für wörtliche Zitate wird zurückgegriffen auf den deutschsprachigen Text von von Bogdandy (Fn. 4). 13 Siehe insbesondere von Bogdandy/Morales Antoniazzi/Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), Ius constitutionale commune en América Latina: Textos basicos para su comprensión, 2017; von Bogdandy/Fix Fierro/Morales Antoniazzi (Hrsg.), Ius constitutionale commune en América Latina: Rasgos, potencialidades y desafíos, 2014. 14 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi/Piovesan/Soley (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017. 15 von Bogdandy, ZaöRV 75 (2015), 345 (346). 16 von Bogdandy (Fn. 15), 346. Dazu auch Piovesan, Ius Constitutionale Commune en América Latina: Context, Challenges, and Perspectives, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 49. 17 Eindrücklich entfaltet bei Soley, The Transformative Dimension of Inter-American Jurispru dence, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 337. 18 Morales Antoniazzi/Saavedra Alessandri, Inter-Americanization: Its Legal Bases and Political Impact, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 255. 12
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Rechtswissenschaft. Ihr soll ausdrücklich eine eigenständige normative Rolle bei der prinzipienorientierten Fortentwicklung der transformativen Elemente des ius commune zukommen. Zugleich wollen sich die Vertreter des ICCAL nicht mit bestimmten politischen Ideologien assoziiert wissen; sie setzen nach eigenem Bekunden nicht auf große politische Programme, sondern inkrementelle Transformation.19 ICCAL hat sich im Verlauf der letzten Dekade zu einer festen Größe im lateinamerikanischen Verfassungsdiskurs entwickelt und ist als feststehender Begriff in die Rechtsprechung eingegangen.20 Neben positive Resonanz hat der Ansatz auch wissenschaftliche Kritik erfahren: Skeptikern gilt er als zu fixiert auf subjektive Rechte, als zu homogenisierend, zu elitär, zu wenig dialogisch.21 Ob er sich in der Region durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Derzeit steht er neben einer Reihe anderer Strömungen in der wachsenden Literatur zum Verfassungsrecht in Lateinamerika, die kein gemeinsames Recht postulieren. So widmet sich das 2019 erstmals erscheinende Oxford Handbook schon vom Titel her dem Verfassungsrecht in Lateinamerika, nicht einem gemeinsamen lateinamerikanischen Verfassungsrecht.22 Auch andere Sammelbände verfolgen kein einheitliches normatives Konzept und zeichnen sich eher durch interdisziplinäre Zugänge aus.23 Einflussreiche monografische Vergleichsund Gesamtdarstellungen der letzten Jahre bedienen sich ebenfalls eher historischer und politikwissenschaftlicher Kontextualisierung als einheitsbildender Vergleichsmethoden.24 Diese alternativen Ansätze beurteilen auch die Rolle des Verfassungsrechts tendenziell ambivalenter. Kritische Perspektiven haben durch illiberale oder neoautoritäre Tendenzen in Venezuela oder jüngst in Brasilien Auftrieb erhalten.25 Aber auch von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 4–6. Zur Rezeption siehe etwa García Jaramillo, Co-herencia 13 (2016), 293. Der Begriff des ius constitutionale commune erscheint in IAGMR, Cabrera García and Montiel Flores v Mexico, Urt. v. 26.11.2010, Concurring Opinion Ferrer Mac-Gregor, para. 3, abruf bar unter http://www.corteidh.or.cr/docs/ casos/articulos/seriec_220_ing.pdf (zuletzt besucht 1.12.2018). Häufiger spricht der IAGMR von einem menschenrechtlichen „corpus iuris“. Ein verfassungsrechtliches „ius cogens“ erkennt Couso, VRÜ 41 (2008), 56. 21 Vgl. Arguelhes Werneck, ICON 17 (2019), i.E.; Rodiles, The great promise of comparative public law for Latin America: Towards ius commune americanum?, in: Roberts et al. (Hrsg.), Comparative International Law, 2018, 501; Alterio/Giménez, VRÜ 51 (2018), 115; Carvalho Veçoso/Villagrán Sandoval, Direito & Praxis 8 (2017), 1603; Gargarella, The „New“ Latin American Constitutionalism: Old Wine in New Skins, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 211. Zum Inhalt dieser Kritik näher unten, III. und IV. 22 Gargarella/Hübner Mendez (Hrsg.), Oxford Handbook of Constitutional Law in Latin America, 2019. 23 Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018; Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017; Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015; Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012. 24 Brinks/Blass (Fn. 3); Negretto (Fn. 3); Gargarella, Latin American constitutionalism (Fn. 3); Gargarella, Inequality (Fn. 3). 25 Zum „abusive constitutionalism“ u.a. in Venezuela Landau, U.C. Davis Law Review 47 (2013), 189 (203 ff.). Zu Brasilien Arguelhes/Pereira, What does a Bolsonaro Presidency mean for Brazilian Law?, Verfassungsblog, 24.10.2018, DOI: https://doi.org/10.17176/20181026-145255-0, https://verfassungs blog.de/what-does-a-bolsonaro-presidency-mean-for-brazilian-law-part-1-reforms-from-the-farright/ (zuletzt abgerufen 1.12.2018); Benvindo, The Rule of Law in Brazil: A Conceptual Challenge, 19
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Staaten wie Mexiko werden teils nicht als Fall des transformativen, sondern des „autoritären Konstitutionalismus“ eingeordnet.26 Ein Grund für diese Meinungsverschiedenheiten sind auch unterschiedliche Bewertungen des interamerikanischen Menschenrechtssystems, das oft in einem separaten, völkerrechtlichen Diskurs untersucht wird.27 Diese unterschiedlichen Perspektiven geben Anlass, zunächst einen genaueren Blick auf transformativen Konstitutionalismus und offene Staatlichkeit in Lateinamerika zu werfen, bevor Herausforderungen und Perspektiven der regionalen Vergleichung zu diskutieren sind.
III. Transformativer Konstitutionalismus und offene Staatlichkeit ICCAL kombiniert zwei Verfassungsideen unterschiedlicher Provenienz in innovativer Weise: den transformativen Konstitutionalismus, der mit den Verfassungen des Globalen Südens assoziiert ist (1.), und die Idee der offenen Staatlichkeit, die primär mit Blick auf Europa entwickelt wurde (2.). Diese beiden Ideen sind nicht notwendig verbunden, gehen aber in Lateinamerika eine fruchtbare Synthese ein.
1. Transformativer Konstitutionalismus als Typus von Verfassungsstaatlichkeit Ein zentrales Charakteristikum des lateinamerikanischen ius constitutionale commune ist, so die These, sein transformativer Gehalt. Schon im Titel des englischsprachigen Bandes nimmt das ICCAL-Projekt mit dem „transformativen Konstitutionalismus“ eine neue Kategorie der jüngeren Verfassungsvergleichung auf. Der Begriff be zeichnet einen konstitutionellen Typus, der verbreitet als Besonderheit der Verfassungsstaatlichkeit im Globalen Süden und als Gegenentwurf zum liberalen Konsti tutionalismus des Nordens gesehen wird.28 Diese Sichtweise erklärt sich zunächst genealogisch: Der Begriff verbreitete sich anfangs als Charakterisierung der postApartheid-Verfassung Südafrikas von 1996. In diesem Kontext wird er dem US-amerikanischen Rechtswissenschaftler Karl Klare zugeschrieben, der den transformativen Konstitutionalismus definierte als „an enterprise of inducing large scale social change through nonviolent political processes grounded in law.“29 Später wurde diese Idee als (Selbst-)Beschreibung weiterer Verfassungsordnungen mit aktivistischen GerichICON Blog, 2.5.2018, http://www.iconnectblog.com/2018/05/the-rule-of-law-in-brazil-a-concep tual-challenge/ (zuletzt abgerufen 1.12.2018). 26 Niembro Ortega, VRÜ 49 (2016), 339. 27 Haeck/Ruiz-Chiriboga/Burbano Herrera (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights, 2015; Burgorgue-Larsen et al. (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights, 2013; Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986. Zur Mehrebenenperspektive siehe Acosta Alvarado, Diálogo judicial y constitucionalismo multinivel, 2015; Góngora Mera, Inter-American judicial constitutionalism, 2011. 28 Baxi, Preliminary notes on transformative constitutionalism, in: Vieira/Baxi/Viljoen (Hrsg.), Transformative constitutionalism, 2013, 19; Bilchitz, Constitutionalism, the Global South, and Economic Justice, in: Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism of the global South, 2013, 41. 29 Klare, South African Journal on Human Rights 14 (1998), 146 (150). Einflussreich auch Verfassungsgerichtspräsident Langa, Stellenbosch Law Review 17 (2006), 351. Überblick m.w.N. bei Fowkes,
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ten und sozialgestaltendem Anspruch übernommen, namentlich in Indien, Kolumbien und Brasilien.30 Der indische Supreme Court stützte sein Grundsatzurteil zur Entkriminalisierung der Homosexualität 2018 ausdrücklich auf den transformativen Anspruch der Verfassung.31 In Lateinamerika führte der Rechtssoziologe Boaventura de Sousa Santos den Begriff als einer der ersten in den Verfassungsdiskurs ein, zunächst bezogen auf die bolivarischen Verfassungen.32 Neben der Entstehungsgeschichte werden auch inhaltliche Besonderheiten angeführt, die den transformativen Konstitutionalismus des globalen Südens ausmachen: Ein aktiver Staat, der soziale Wirklichkeit durch hoheitliche Intervention gestaltet; ein Grundrechtsverständnis, das Leistungsrechte, positive Handlungspflichten des Staates und horizontale Drittwirkung unter Privaten betont; eine aktivistische Rolle der (Verfassungs-)Gerichte; und eine antiformalistische Rechts- und Interpretationskultur, die auf dynamische Veränderung ausgerichtet ist.33 In ihrer Summe konturieren diese Elemente einen Typus des Konstitutionalismus, der sich von liberalen Verfassungen in Nordamerika und Europa unterscheidet, die auf Stabilität ausgerichtet sind, negative Abwehrrechte privilegieren und ein weniger interventionistisches Staatsverständnis pflegen. Zwar haben auch liberale Verfassungen den Anspruch, praktisch wirksam zu sein und die politische und soziale Realität zu gestalten, doch ist die tiefgreifende Umgestaltung der existierenden staatlichen und sozio-ökonomischen Ordnung nicht im gleichen Maße typusprägend.34 Allerdings wird zu Recht betont, dass einzelne dieser transformativen Elemente sehr wohl in Verfassungsordnungen des Nordens zu finden sind – insbesondere in sozialstaatlich geprägten wie dem deutschen Grundgesetz. Auch das Grundgesetz verfolgte das postautoritäre Anliegen einer demokratischen Transformation von Staat und Gesellschaft, und das Sozialstaatsprinzip verlangt nach einem aktiven, sozialgestaltenden Staat.35 Für die globale Vergleichung stellt sich daher die Frage, ob der Begriff des transformativen Konstitutionalismus kategoriale Differenzen zwischen „Nord“ und „Süd“ markiert oder vielmehr ein globales Phänomen mit graduellen Unterschieden beschreibt. Eine abschließende Antwort auf diese Frage wird dadurch erschwert, dass auch die transformativen Elemente in den Rechtsordnungen des globalen Südens unterschiedlich stark ausgeprägt und in Entwicklung begriffen sind; überdies koexistieren sie mit liberalen und konservativen Charakteristika. Die interne Heterogenität transformativer Verfassungsordnungen legt es daher nahe, nicht mit Transformative Constitutionalism and the Global South: The View from South Africa, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 97. 30 Vieira/Baxi/Viljoen (Hrsg.), Transformative constitutionalism, 2013; Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism of the global South, 2013. 31 Vgl. Bagchi, VRÜ 51 (2018), 367. 32 Santos, Refundación del Estado en América Latina, 2010, 71 ff. 33 Hailbronner, American Journal of Comparative Law 65 (2017), 527 (540 f.); Gibbs, Law, Culture & the Humanities (2017), 1 (9 f.); Vieira/Baxi/Viljoen, Some concluding thoughts on an ideal, machinery and method, in: Vieira/Baxi/Viljoen (Hrsg.), Transformative constitutionalism, 2013, 617 (620). 34 Zugleich unterscheidet sich der transformative Konstitutionalismus in vielerlei Hinsicht von sozialistischen Verfassungen, etwa im Hinblick auf genuin demokratische Verfahren, die Betonung subjektiver Rechte und unabhängiger Gerichte oder die prinzipielle Akzeptanz von Privateigentum und Marktwirtschaft, dazu sogleich und unten, IV.3. 35 Hailbronner (Fn. 33), 541 ff.
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Dichotomien von Nord vs. Süd, sondern zunächst auf einer regionalen Skala zu operieren, und sei es als Zwischenschritt für transregionale Vergleiche. Diesen Weg geht ICCAL und entwickelt ein eigenes Verständnis des transformativen Konstitutionalismus, das sich durch seine regionale Perspektive auszeichnet und damit ein innovatives Argument in die Debatte einführt. Die Besonderheit der lateinamerikanischen Variante, so das Argument, ist ihre Basis im regional konvergierenden Verfassungsrecht und -diskurs sowie im interamerikanischen System des Menschenrechtsschutzes. Die regionale Einbettung stützt die transformativen Elemente der nationalstaatlichen Verfassungen und begünstigt ihre Verwirklichung.36 Damit eröffnet sich eine Mehrebenenperspektive auf den transformativen Konstitutionalismus, der bislang primär im nationalen Verfassungsrecht verortet wurde. Auch darüber hinaus setzt ICCAL eigene Akzente: Zwar wird die Prinzipientrias von Grund- und Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie betont, doch liegt der Fokus auf den ersten beiden Prinzipien: Rechte und Gerichte sind die Triebkräfte der Transformation. Die eigentliche transformative Substanz liegt in den Grund- und Menschenrechten. Diese ermöglichen strategische Prozessführung, erstrittene Urteile begünstigen zivilgesellschaftliche Mobilisierung und stellen ein Vokabular für öffentliche Debatten bereit. Im Mittelpunkt stehen soziale Leistungsrechte, kollektive Grundrechtsdimensionen und ein materielles Gleichheitsverständnis.37 Ein in der Literatur häufig angeführtes Beispiel für die Judizialisierung sozialer Rechte ist die Rechtsprechung des kolumbianischen Verfassungsgerichts zum individuellen Existenzminimum („minimo vital“).38 In ähnlicher Weise entnehmen brasilianische Gerichte dem Recht auf Gesundheit einen individuellen Anspruch auf staatliche Behandlungsleistungen.39 Generell konvergieren die materiellen Prüfungsmaßstäbe bei der Auslegung sozialer Rechte in der Region; hier zeigt sich deutlich der Einfluss der Rechtsvergleichung unter nationalen Gerichten.40 Im transregionalen Vergleich gehen lateinamerikanische Gerichte weiter als die südafrikanische Rechtsprechung, die soziale Rechte weitgehend auf Verfahrensgarantien beschränkt.41 Zudem erinnert die Figur des Existenzminimums nicht zufällig an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die etwa in Kolumbien und Brasilien rezipiert wird.42 von Bogdandy (Fn. 4), 353 f.; Piovesan (Fn. 16), 49. von Bogdandy (Fn. 4), 33 f.; Piovesan (Fn. 16), 58 ff.; Salazar Ugarte, The Struggle for Rights and the Ius Constitutionale Commune, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 67; Aldao/Clérico/Ronconi, A Multidimensional Approach to Equality in the InterAmerican Context: Redistribution, Recognition, and Participatory Parity, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 83. 38 Rueda, Legal Language and Social Change during Colombia’s Economic Crisis, in: Couso (Hrsg.), Cultures of legality, 2010, 25 (34); Arango, VRÜ 42 (2009), 576. 39 Hoffmann/Bentes, Accountability for Social and Economic Rights in Brazil, in: Gauri/Brinks (Hrsg.), Courting social justice, 2008, 100. 40 Bernal, The constitutional protection of economic and social rights in Latin America, in: Dixon/ Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 325. Zur Rechtsprechung des IAGMR Piovesan (Fn. 16), 58–60; Ebert/Fabricius, Die neue WSK-Rechtsprechung des IAGMR, Völkerrechtsblog, 2.11.2018, DOI: 10.17176/20181106-100924-0, https://voelkerrechtsblog.org/dieneue-wsk-rechtsprechung-des-iagmr/ (zuletzt abgerufen am 1.12.2018). 41 Vgl. Fowkes (Fn. 29), 108. 42 Rueda (Fn. 38), 34 f.; Henning Leal, Die brasilianische Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen US36 37
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Mit dem Fokus auf subjektive Rechte geht eine veränderte Rolle der Gerichte einher. Waren diese traditionell kein eigenständiger Machtfaktor in Lateinamerika, kommt ihnen nun eine zentrale Funktion bei der Verwirklichung der transformativen Verfassungsversprechen zu. Tatsächlich haben viele Gerichte in der Region ihre erweiterten Kompetenzen aktiv genutzt und etwa die Justiziabilität sozialer Rechte konsequent vorangetrieben.43 Der gerichtliche Aktivismus impliziert einen Wandel der traditionell formalistischen Rechtskultur, der Gerichten größere Spielräume bei der Auslegung unbestimmter Verfassungsnormen und bei der Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse verschafft.44 Dies hat zu einer Judizialisierung von Bereichen geführt, die zuvor den politischen Institutionen oder dem Spiel der Märkte überlassen waren.45 Befördert wird diese Konstitutionalisierung durch den vergleichsweise breiten Zugang zu Gerichten, den das prozessuale Instrument des amparo (in Kolumbien auch tutela genannt) gewährt: Es ermöglicht Rechtssuchenden, sich in einem besonderen Verfahren unmittelbar gegen Grundrechtsverletzungen gerichtlich zur Wehr zu setzen. Dieser prozessuale Mechanismus gilt als verfahrensrechtlicher Kern des ius commune, ja als das „lateinamerikanischste Verfassungselement“ überhaupt.46 Allerdings zeigt gerade das Beispiel des amparo, dass weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen bestehen: Teils sind Gesetze tauglicher Beschwerdegegenstand im amparo-Verfahren, teils ist eine Normenkontrolle ausgeschlossen; teils sind nur natürliche Personen aktivlegitimiert, teils auch juristische Personen wie NGOs; teils sind nur Hoheitsträger passivlegitimiert, teils auch private Parteien wie z.B. Wirtschaftsunternehmen.47 Diese Unterschiede verdeutlichen, dass das Postulat eines transformativen ius commune keine Selbstverständlichkeit ist. So sehr die materielle Grundrechtsauslegung konvergiert, so sehr lassen sich in anderen Fragen Divergenzen ausmachen. Daher finden sich in der Literatur neben ICCAL auch andere Ansätze: Diese betonen interne Konflikte innerhalb nationaler Verfassungen, arbeiten intraregionale Unterschiede zwischen den Verfassungen heraus oder bilden Typologien regionaler Verfassungsentwicklung. So beschreiben jüngere Untersuchungen der Verfassungsgerichtsbarkeit, des Präsidentialismus oder des multikulturellen Pluralismus in Lateinamerika unterschiedliche Typen von Institutionen, die das transformative Gepräge der Verfassung jenseits der Grundrechtskataloge erheblich variieren.48 Vor allem die bolivaamerikanischer Institutionalisierung und deutschem Rechtsdenken, in: Kischel (Hrsg.), Der Einfluss des deutschen Verfassungsrechtsdenkens in der Welt, 2014, 27 (41–43). 43 Suárez Franco, Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte, 2010; Arango (Fn. 38). Zu verfassunsgerichtlichen Kompetenzen s.a. Landa, JöR 63 (2015), 607. 44 von Bogdandy (Fn. 12), 37 f.; Salazar Ugarte (Fn. 37); Couso, The transformation of constitutional discourse and the judicialization of politics in Latin America, in: Couso/Huneeus/Sieder (Hrsg.), Cultures of legality, 2010, 141. Eingehend López Medina, Teoría impura del derecho, 2004. 45 Helmke/Ríos-Figueroa (Fn. 3); Couso/Huneeus/Sieder (Fn. 3). 46 Brewer-Carías, The Amparo as an Instrument of a Ius Constitutionale Commune, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 171: „amparo proceedings may be the most Latin American of all constitutional law proceedings developed on the continent“. Siehe aber Kleinheisterkamp, Development of Comparative Law in Latin America, in: Zimmermann/ Reimann (Hrsg.), The Oxford handbook of comparative law, 2006, 261 (279) („amparo as fruit of comparative law in action“). 47 Brewer-Carías (Fn. 46), 181–185. 48 Brinks/Blass (Fn. 3), 31, unterscheiden vier Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit, von denen nur
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rischen Verfassungen Venezuelas, Boliviens und Ecuadors weichen teils erheblich von den Nachbarstaaten ab und zeigen in der Praxis unterschiedlich stark ausgeprägte illiberale Tendenzen.49 Ohne solche Unterschiede und Schwierigkeiten im Einzelnen zu leugnen setzt ICCAL einen anderen Schwerpunkt, indem es die einheitsstiftende Wirkung des interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems akzentuiert.
2. Offene Staatlichkeit und regionaler Menschenrechtsschutz Das Verhältnis zwischen nationalen Verfassungen und interamerikanischem System erfassen die Vertreter von ICCAL mit der Idee der offenen Staatlichkeit.50 Sie greifen damit eine Kategorie auf, die Klaus Vogel 1964 zunächst in Art. 24 GG verortete und die seitdem zur Beschreibung des Wandels von Staatlichkeit im europäischen Rechtsraum verwendet wird.51 In diesem Kontext verbinden sich mit offener Staatlichkeit Fragen nach der unmittelbaren Geltung und dem Vorrang des Unionsrechts, nach der Völkerrechtsfreundlichkeit und der menschenrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes sowie genereller nach Permeabilität, Jurisdiktionskonflikten und Grundrechtsföderalismus im europäischen Mehrebenensystem.52 Indem ICCAL die Begrifflichkeit auf den lateinamerikanischen Rechtsraum anwendet, erweitert der Ansatz den europäischen Horizont und eröffnet eine transregionale Vergleichsperspektive für den Wandel von Staatlichkeit in Mehrebenensystemen. Die Internationalisierung des Verfassungsrechts und die Konstitutionalisierung des Völkerrechts gewinnen mit dem transformativen Konstitutionalismus damit eine spezifische inhaltliche Orientierung.53 Die Öffnung des lateinamerikanischen Staates bezieht sich dabei primär auf einen regionalen Rechtsbestand. Gleichwohl will ICCAL hier nicht an die spezifische lateinamerikanische Tradition des Völkerrechts anknüpfen, die sich in Abgrenzung vom europäischen und universellen Völkerrechtsdenken definiert.54 Vielmehr gilt die Öffnung dem interamerikanischen System des Menschenrechtsschutzes, das seieiner zugleich autonom und einflussreich ist. Valadés, The Presidential System in Latin America, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 191 unterscheidet drei Typen von Präsidialsystemen, die unterschiedliche Demokratisierungstendenzen zeigen. Yrigoyen Fajardo, The panorama of pluralist constitutionalism, in: Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015, 157 beschreibt unterschiedliche Formen indigener Beteiligung, lokaler Selbstverwaltung und rechtspluralistischer Arrangements. 49 King, Neo-Bolivarian Constitutional Design, in: Galligan/Versteeg (Hrsg.), Social and political foundations of constitutions, 2013, 366; Landau (Fn. 25). 50 Morales Antoniazzi/Saavedra Alessandri (Fn. 18), 258 ff.; Piovesan (Fn. 16), 49; von Bogdandy (Fn. 4), 370 f. 51 Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. Aus jüngerer Zeit nur Heinig, Philosophische Rundschau 52 (2005), 191 m.w.N. 52 Siehe nur Kleinlein, Grundrechtsföderalismus, 2019; Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011; Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008. 53 Generell zu diesen beiden Wandlungsprozessen Bryde, Der Staat 42 (2003), 61. 54 Prägend Alvarez, AJIL 3 (1909), 269. Aus heutiger Sicht Keller-Kemmerer, Die Mimikry des Völkerrechts, 2018; Becker Lorca, Mestizo international law, 2014; Esquirol, Latin America, in: Fassbender/ Peters (Hrsg.), The Oxford handbook of the history of international law, 2012, 553; Obregón, Third World Quarterly 27 (2006), 815.
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nerseits in eine universelle Tradition des Völkerrechts gestellt wird.55 Mit dieser Ausrichtung ist zugleich ein markanter Unterschied des offenen Staates in Lateinamerika zu seinem europäischen Pendant benannt: Er zielt nicht auf wirtschaftliche und politische Integration in einer immer engeren Staatenverbindung. Charakteristisch ist vielmehr eine differenzierte Öffnung, die menschenrechtliche Einflüsse privilegiert und der kollektiven Selbstbestimmung in wirtschaftlichen Fragen einen größeren Stellenwert beimisst.56 Diese menschenrechtliche Rechtsprechung verleiht dem transformativen Konstitutionalismus in Lateinamerika sein regionaltypisches Gepräge und unterscheidet ihn sowohl von seinen nationalen Pendants in Südafrika und Indien als auch von offener Staatlichkeit in Europa. Das interamerikanische System des Menschenrechtsschutzes findet seinen normativen Kern in der Satzung der Organisation Amerikanischer Staaten von 1948 und in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) von 1969, in Kraft seit 1978. Seine Hauptorgane sind die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (seit 1959) und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR; seit 1979).57 Die Rechtsprechung hat sich mit der politischen Transition fortentwickelt: Standen anfangs massive Menschenrechtsverletzungen der Diktaturen im Vordergrund, ging es nach der Demokratisierung um Probleme von „transitional justice“ wie die menschenrechtliche (Un-)Zulässigkeit von Amnestien. Heute haben sich die Fälle diversifiziert; ein Schwerpunkt liegt bei strukturellen Problemen sozialer Ungleichheit und bei Rechten benachteiligter Gruppen wie indigener Völker.58 Im Unterschied zum EGMR folgt die Rechtsprechung des IAGMR dabei einer transformativen Logik, die darauf abzielt, die Rechtswirkungen eines Urteils über den konkreten Fall hinaus zu generalisieren. Dazu bedient sich der IAGMR beispielsweise sehr konkreter Abhilfeanordnungen, die positive Maßnahmen zugunsten besonders gefährdeter Gruppen fordern. Erleichtert wird dies dadurch, dass ein Großteil der Fälle im Wege strategischer Prozessführung vor den IAGMR gelangen und daher oft eine kollektive Dimension haben.59 Entscheidend für den transformativen Charakter dieser Rechtsprechung ist allerdings, dass sie ihre Wirkung auch innerstaatlich entfaltet. Diese innerstaatliche Wirkung ergibt sich aus zwei innovativen dogmatischen Figuren, dem sog. Verfassungsblock (bloque de constitucionalidad/block of constitutionality) und der Konventionsmäßigkeitskontrolle (controle de convencionalidad/conventionality control). Die Figur des Verfassungsblocks inkorporiert bestimmte völkerrechtliche Instrumente zum Schutz der Menschenrechte in die nationale Rechtsordnung und verleiht ihnen Verfassungs55 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 30; Salazar Ugarte (Fn. 37). Zur lateinamerikanischen Tradition der Menschenrechte Guardiola-Rivera, Human rights and Latin American Southern voices, in: Baxi/McCrudden/Paliwala (Hrsg.), Law’s Ethical, Global and Theoretical Con texts, 2018, 90; Sikkink, Sur – International Journal on Human Rights 12 (2015), 207; Glendon, Harvard Human Rights Journal 16 (2003), 27; Carroza, Human Rights Quarterly 25 (2003). 56 von Bogdandy (Fn. 4), 371. Ausführlich Morales Antoniazzi, Protección supranacional de la democracia en Suramérica, 2015. 57 Ragone, The Inter-American System of Human Rights, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 279; Cançado Trindade, ZaöRV 70 (2010), 629. 58 Piovesan (Fn. 16), 58–61; Ragone (Fn. 57), 292–295; Binder, ZaöRV 71 (2011), 1, 6 ff.; Abramovich, Sur – International Journal on Human Rights 6 (2009), 7. 59 Soley (Fn. 17), 341–353. S.a. Piovesan (Fn. 16), 64 f.
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rang. Diese Konstitutionalisierung stützt sich teils auf ausdrückliche Öffnungsklauseln in den nationalen Verfassungen, teils ergibt sie sich aus der Rechtsprechung der nationalen Verfassungsgerichte. Damit adaptieren die lateinamerikanischen Gerichte eine Idee aus der Rechtsprechung des französischen Conseil Constitutionnel und des spanischen Verfassungsgerichts, wonach die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 bzw. das Autonomiestatut spanischer Provinzen Teil des materiellen Verfassungsrechts ist.60 Die Konventionsmäßigkeitskontrolle ist ein völkerrechtliches Institut, das der IAGMR seit 2006 in ständiger Rechtsprechung den Art. 1(1), 2, 25, 29 und 68(1) AMRK entnimmt. Danach sind alle Staatsorgane der Vertragsparteien völkerrechtlich verpflichtet, ihr Handeln stets von Amts wegen auf Vereinbarkeit mit den interamerikanischen Menschenrechtsverträgen in der Auslegung des IAGMR zu überprüfen. Verstöße sind zunächst durch menschenrechtskonforme Auslegung, ansonsten durch Nichtanwendung nationalen Rechts zu vermeiden, soweit dies im Rahmen der innerstaatlichen Kompetenzordnung zulässig ist. Im Ergebnis kommt den interamerikanischen Menschenrechtsverträgen samt Rechtsprechung des IAGMR qua Völkerrecht innerstaatliche Wirkung zu. Damit rekonfiguriert der IAGMR das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht partiell, aber grundlegend: Nicht mehr das nationale Verfassungsrecht, sondern das Völkerrecht selbst regelt seine innerstaatliche Geltung.61 Dem europäischen Betrachter drängt sich ein Vergleich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf, der sich künftig vertiefen und differenzieren ließe. Offene Staatlichkeit in Lateinamerika steht mithin auf einem verfassungsrechtlichen und einem völkerrechtlichen Standbein. Zwar ist die völkerrechtliche Konventionskonformitätskontrolle durch die nationale Kompetenzordnung begrenzt; diese wurde jedoch ihrerseits in etlichen Staaten an die neuen Erfordernisse angepasst. So ist etwa Mexiko von einem konzentrierten zu einem diffusen System der Normenkontrolle übergegangen. Verfassungsblock und Konventionskonformitätskontrolle eröffnen überdies die Möglichkeit eines jurisprudenziellen Dialogs zwischen IAGMR und nationalen Rechtsanwendern. Diesem Dialog wird zugleich eine Legitimationsfunktion für die erheblich ausgeweitete Rolle des IAGMR zugeschrieben. Vor allem ermöglichen es die beiden Rechtsfiguren dem interamerikanischen System, gezielt menschenrechtsfreundliche Kräfte in den Mitgliedstaaten zu stärken.62 Dass diese vertiefte Permeabilität nationaler Rechtsordnungen auch Widerstände staatlicher Akteure hervorruft, überrascht nicht. Es ist daher in der Literatur umstritten, inwieweit das interamerikanische System tatsächlich zu Konvergenz führt. Der jüngst wiederbelebte Ansatz der Völkerrechtsvergleichung („comparative internatio Góngora-Mera, The Block of Constitutionality as the Doctrinal Pivot of a Ius Commune, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 235; Piovesan (Fn. 16), 62 f.; Cepeda, VRÜ 41 (2008), 61. 61 Ferrer Mac-Gregor, The Conventionality Control as a Core Mechanism of the Ius Constitutionale Commune, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 321 (327–334); Dulitzky, Texas International Law Journal 50 (2015), 45. 62 Zum Vorstehenden Ferrer Mac-Gregor (Fn. 61), 322–327. Zur Legitimation auch Huneeus, The institutional limits of Inter-American constitutionalism, in: Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 300; von Bogdandy (Fn. 4), 374; Soley (Fn. 17), 353 f. 60
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nal law“) verweist darauf, dass auch universelle Normen in nationalen Kontexten unterschiedlich verstanden und angewandt werden.63 So konstitutionalisieren zwar die meisten Verfassungen die interamerikanischen Menschenrechtstexte. Doch bei der für die Einheitsbildung entscheidenden Frage, ob nationale Verfassungsgerichte generell an die Auslegungen des IAGMR gebunden sind, gibt es Divergenzen. Selbst progressive Gerichte wie in Kolumbien haben hier im Verlauf der Zeit unterschiedliche Auffassungen vertreten, und die Gesamtentwicklung geht wohl nicht linear in Richtung verstärkter Bindung.64 Nationalen Gerichten scheint es leichter zu fallen, ihre Handlungsmöglichkeiten mittels völkerrechtlicher Prüfungsmaßstäbe zu erweitern als diese durch Bindung an überstaatliche Rechtsprechung einzuschränken. Dies erkennt die Konzeption von ICCAL auch prinzipiell an: Sie inkorporiert die Leitidee eines dialogischen Pluralismus, die das Verhältnis von IAGMR und nationaler Gerichtsbarkeit strukturieren soll.65 Auch hier eröffnen sich Vergleichsperspektiven mit Ansätzen zu gerichtlichem Dialog und konstitutionellem Pluralismus im europäischen Rechtsraum.66 Wie dialogisch dieser Pluralismus tatsächlich ist, wird wiederum von einer Gegenauffassung bezweifelt. Zwar zitieren nationale Gerichte die interamerikanische Rechtsprechung, doch neigt der IAGMR dazu, sich eher auf die bindende Wirkung seiner Entscheidungen zu berufen als die Überlegenheit seiner Auslegung argumentativ unter Beweis zu stellen – so jedenfalls die Kritik.67 Vor allem sieht sich das interamerikanische System in den letzten Jahren mit verstärkten Widerständen aus den Mitgliedstaaten konfrontiert, die Teil einer globalen Gegenbewegung („backlash“) gegen internationale Institutionen und Gerichte sind. So hat nicht nur Venezuela die AMRK gekündigt. Auch Brasilien zog seine Unterstützung zeitweise zurück, nachdem die Interamerikanische Kommission weitreichende Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gegen den umstrittenen Belo-Monte-Staudamm im Amazonasgebiet gewährt hatte. Der brasilianische Oberste Gerichtshof erhält bis heute ein kontroverses Amnestiegesetz aus der Zeit der Diktatur aufrecht, dass der IAGMR für konventionswidrig erklärt hat.68 Diese Widerstände sind für offene Staatlichkeit und transformativen Konstitutionalismus bedeutsam, insofern sie Ausdruck abweichender verfassungsrechtlicher Vorstellungen sind. Die bolivarischen Verfassungen, zu denen Venezuela zählt, stehen hier in einer langen Tradition Lateinamerikas, die das völkerrechtliche Prinzip der Nichtintervention besonders hochhält.69 Auch andere Verfassungstexte enthalten 63 Roberts/Stephan/Verdier/Versteeg (Hrsg.), Comparative International Law, 2018; Roberts, Is international law international?, 2017; Mattei/Mamyluck, Brooklyn Journal of International Law 36 (2011), 386. 64 Chethman, International Law and Constitutional Law in Latin America, in: Gargarella/Hübner Mendez (Hrsg.), Oxford Handbook of Constitutional Law in Latin America, 2019, i.E. 65 von Bogdandy (Fn. 4), 379 f. 66 Statt vieler Wendel, Staat 52 (2013), 339; Avbelj/Komárek, Constitutional pluralism in the European Union and beyond, 2012; Walker, Modern Law Review 65 (2002), 317. 67 Krit. Contesse, International Journal of Constitutional Law 15 (2017), 414; Rodiles (Fn. 21); Car valho Veçoso/Villagrán Sandoval (Fn. 21). 68 Arguelhes Werneck (Fn. 21); Soley/Steininger, International Journal of Law in Context 14 (2018), 237; Fernandes Carvalho Veçoso, Whose exceptionalism?, in: Engle/Miller/Davis (Hrsg.), Anti-impunity and the human rights agenda, 2016, 185. 69 Couso, Back to the future? The return of sovereignty and the principle of non-intervention in the
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neben Öffnungsklauseln Vorschriften, die die nationale Souveränität und den Vorrang der Verfassung betonen.70 Konflikte mit nationalen Gerichten sind besonders akut in Fällen, in denen es zu Kollisionen zwischen Grund- und Menschenrechten kommt, wie sie die Pflicht zur Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen auslöst.71 Diese Kollisionslagen multiplizieren sich in dem Maße, in dem der transformative Konstitutionalismus Interessenkonflikte grundrechtlich auflädt. Aus rechtsvergleichender Sicht besonders interessant ist die Argumentation des Verfassungstribunals der Dominikanischen Republik. In einer Entscheidung von 2013 mahnte das Tribunal eine stärker kontextualistisch-vergleichende Fundierung der interamerikanischen Rechtsprechung an: Wenngleich in den Mitgliedstaaten ähnliche Rahmenbedingungen herrschten, weise doch jeder Staat Besonderheiten auf, die der IAGMR in seiner Argumentation nicht ignorieren könne. Daher sei es angebracht, eine „margin of appreciation“-Doktrin einzuführen, wie sie der EGMR praktiziere. Nachdem dieser Appell unbeantwortet blieb, erklärte das Tribunal das nationale Gesetz, das die Gerichtsbarkeit des IAGMR anerkannt hatte, für verfassungswidrig.72 Die Kritik verweist auf die methodischen Herausforderungen, die eine intraregionale Vergleichung in Mehrebenensystemen bewältigen muss. Ob darüber hinaus europäische Rechtsfiguren wie die margin of appreciation als Modell taugen, ist eine noch anspruchsvollere Frage der transregionalen Rechtsvergleichung.73
IV. Herausforderungen und Perspektiven der regionalen Verfassungsvergleichung Die vorangegangene Diskussion verweist auf Erträge, aber auch Herausforderungen regionaler Vergleichung mit Lateinamerika. Diese lassen sich mit Blick auf drei allgemeine Felder rechtswissenschaftlicher Forschung aufzeigen: die Methoden und Skalen der Vergleichung (1.), die Möglichkeiten und Grenzen sozialen Wandels durch Recht (2.), sowie demokratie- und legitimationstheoretische Fragen (3.).
1. Methoden und Skalen der Vergleichung Regionale Vergleichsansätze wie ICCAL haben beträchtliche Erkenntnischancen. Allerdings bergen sie auch epistemische Herausforderungen, die mit hermeneutischen Methoden nicht vollständig zu bewältigen sind (unter a)). Vielmehr bedarf es internal affairs of the states in Latin America’s „radical constitutionalism“, in: Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018, 140. 70 Lizarazo Rodríguez/Lombaerde, International Constitutional Law Journal 11 (2017), 365. 71 Carvalho Veçoso/Villagrán Sandoval (Fn. 21), 1622–1629. 72 Tribunal Constitucional de la República Dominicana, TC-05-2012-0077, Sentencia TC/0168/13, 23.9.2013, paras 2.6-2.13; sowie TC-01-2005-0013, Sentencia TC/0256/14, 4.11.2014. Diskussion bei Carvalho Veçoso/Villagrán Sandoval (Fn. 21), 1630; Shelton/Huneeus, American Journal of International Law 109 (2015), 866 73 Eine lateinamerikanische „margin of appreciation“-Doktrin wird auch in der Literatur befürwortet, vgl. Contesse, Law and Contemporary Problems 79 (2016), 123. Zum Vergleichspotential Follesdal/ Tsereteli, International Journal of Human Rights 20 (2016), 1055.
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einer funktionalistischen und interdisziplinär kontextualisierten Vergleichung, die regionale Dogmatiken in ihre historischen, kulturellen, politischen und sozio-ökonomischen Kontexte einordnet (unter b)).
a) Die regionale Vergleichsperspektive als Erkenntnischance Eine erste, methodische Innovation des ICCAL-Ansatzes stellt die regionale Vergleichsperspektive dar. Mit ihr wird eine Denkweise fruchtbar gemacht, die sich bislang vor allem mit Blick auf den europäischen Rechtsraum als ertragreich erwiesen hat. Sie transzendiert die traditionelle Skala der Vergleichung einzelstaatlicher Rechtsordnungen, unterscheidet sich aber auch von neueren Ansätzen eines Konstitutionalismus des Globalen Südens. Dies birgt erhebliche Erkenntnischancen sowohl für die intraregionale Vergleichung in Lateinamerika als auch für die globale Verfassungsvergleichung insgesamt. Für die intraregionale Vergleichung hat die Konzeption von Lateinamerika als eigenständiger regionaler Rechtsraum den Vorteil, dass eine vorschnelle Zuordnung zu einem europäischen Rechtskreis oder zur US-amerikanischen Einflusssphäre vermieden wird.74 Zudem trägt eine solche Konzeption dem Umstand Rechnung, dass sich viele globale Entwicklungen bei näherer Betrachtung als sub-globale oder regionale Phänomene erweisen, stellt intraregionale Normdiffusion doch einen wichtiger Erklärungsfaktor für rechtliche Konvergenz dar.75 Was die Vergleichung insgesamt betrifft, so vergrößert die Einbeziehung der traditionell vernachlässigten lateinamerikanischen Rechtsordnungen zunächst den „Genpool“ an verfügbarem Vergleichsmaterial. Dies bietet die Chance, die Repräsentativität der Fallauswahl und damit die Verallgemeinerbarkeit rechtsvergleichender Aussagen zu erhöhen. So verringert sich das Problem, dass sich rechtsvergleichende Aussagen mit allgemeingültigem Anspruch zu oft auf europäische und nordamerikanische Fallstudien stützen, ohne deren Repräsentativität zu problematisieren.76 ICCAL selbst will ausdrücklich kein partikularistisches oder regionalwissenschaftliches Unterfangen sein: Es geht auch um europäische und globale Phänomene. Das Projekt will „den Universalitätsgehalt von Konzeptionen des Globalen Nordens […] prüfen“ und ergründen, ob „zentrale Begriffe der Verfassungsstaatlichkeit, die manchem besorgniserregend erschöpft erscheinen, aus ihrer aktuellen lateinamerikanischen Verwendung neue Energie gewinnen.“77 Dieser Anspruch eröffnet eine vielversprechende Perspektive für transregionale Vergleichung. Der europäische Rechtsraum und insbesondere die EU stellen sich nicht mehr als singuläres Phänomen dar, das ansonsten nur noch mit stärker integrierten Bundestaaten kontinentalen Aus74 Vgl. Kleinheisterkamp (Fn. 46), 262 f. Für eine Zuordnung Lateinamerikas zum weiteren europäischen Rechtskreis Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, 629 ff. 75 Cheibub/Elkins/Ginsburg, Still the Land of Presidentialism? Executives and the Latin American Constitution, in: Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012, 73. 76 Zum Problem der Fallauswahl und der Repräsentativität der Vergleichung Saunders, National Taiwan University Law Review 4 (2009), 1; Hirschl, American Journal of Comparative Law 53 (2005), 125. 77 von Bogdandy (Fn. 4), 349 mit Verweis auf die Kritik von Koskenniemi, Humanity 1 (2010), 47.
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maßes wie den USA oder auch Indien vergleichbar ist.78 Dies kann das Verständnis regionaler Integration auf beiden Seiten befruchten. Zwar unterscheiden sich das Unionsrecht und das lateinamerikanische ius commune in vielerlei Hinsicht; insbesondere spielt Wirtschaftsintegration in Lateinamerika keine vergleichbare Rolle. Diese Unterschiede schließen aber einen erkenntnisreichen Vergleich nicht aus, beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit schwacher Staatlichkeit und systemischen Rechtstaatsproblemen, wie sie in beiden Regionen anzutreffen sind.79 Auch transformative Elemente im europäischen Rechtsraum und im deutschen Grundgesetz treten im transregionalen Vergleich womöglich deutlicher hervor.80 Schließlich bietet der regionale Vergleich die Chance, Methoden regionaler Vergleichung fortzuentwickeln und auf diese Weise erkenntnishindernde methodologische Nationalismen zu überwinden. Insoweit räumt ICCAL der Vergleichung eine zentrale Rolle bei der Herstellung jener Gemeinsamkeiten ein, die es ausmachen: Wie das klassische europäische ius commune bezeichnet das lateinamerikanische Pendant positives Recht und einen darauf gerichteten wissenschaftlichen Diskurs. Dieser Diskurs ist es, der – neben den zentripetalen Kräften des interamerikanischen Systems – integrative Kraft entfalten soll.81 Hierauf ist auch das methodische Instrumentarium des Projekts ausgerichtet: Es geht um die systematische Ordnung rechtlicher Normen und die konzeptionelle Arbeit an gemeinsamen Begriffen.82 ICCAL verfolgt also einen hermeneutischen Ansatz, der die Bedeutung ausgewählter Normen erfassen und sie als gemeinsamen, transformativen Korpus rekonstruieren will.83 Allerdings verleiht die Zielsetzung, Exklusion und Ungleichheit zu überwinden, dem Projekt auch eine funktionalistische Tendenz: Es identifiziert gemeinsame soziale Probleme als tertium comparationis (Ungleichheit, Exklusion, Vollzugsdefizite) und bemüht sich, rechtliche Lösungen in den Vergleichsrechtsordnungen zu finden, die verallgemeinerbar sind.84 Dies führt zur wechselseitigen Verstärkung der funktionalistischen Tendenz, Ähnlichkeiten zu betonen, und des Anspruchs des ius commune, regionale Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Diese Vorgehensweise ist besonders geeignet, Konvergenzen im lateinamerikanischen Rechtsraum aufzuspüren. Sie birgt aber auch methodische und epistemische Herausforderungen.
78 Dann/Thiruvengadam (Hrsg.), Democratic Constitutionalism in Continental Polities: EU and India compared, 2019, i.E. 79 Dazu statt vieler Closa/Kochenov (Hrsg.), Reinforcing rule of law oversight in the European Union, 2016; von Bogdandy/Ioannidis, ZaöRV 74 (2014), 283. 80 Hailbronner, VRÜ 49 (2016), 253. 81 von Bogdandy (Fn. 15), 354 f. 82 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 5 f. mit explizitem Verweis auf Koselleck, Vergangene Zukunft, 2000, 119. Zur Methode s.a. von Bogdandy (Fn. 12), 27 f. 83 Für die hermeneutische Methode in Abgrenzung zu sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen auch von Bogdandy, VRÜ 49 (2016), 278. 84 Zu dieser Vorgehensweise allgemein Michaels, The Functional Method of Comparative Law, in: Zimmermann/Reimann (Hrsg.), The Oxford handbook of comparative law, 2006, 340. Eine funktionalistische Tendenz identifizieren bei ICCAL auch Carvalho Veçoso/Villagrán Sandoval (Fn. 21), 1614.
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b) Methodische Herausforderungen intra- und transregionaler Vergleichung Epistemische Fallstricke sind bereits mit dem Begriff „Lateinamerika“ verknüpft, der eine ambivalente Geschichte als Kategorie der Wissensproduktion hat. Er beschreibt nicht nur linguistische und historische Gemeinsamkeiten, die auf die spanische und portugiesische Kolonisierung zurückgehen.85 Die Verbreitung des Begriffs im 19. Jahrhundert, die dem französischen Kaiser Napoleon III zugeschrieben wird, hatte auch die geopolitische Funktion, die Region vom angelsächsischen Einfluss aus Nordamerika abzugrenzen.86 Postkoloniale Kritiker wie Walter Mignolo verweisen auf die anhaltenden epistemischen Probleme der Idee von „Lateinamerika“: Die Idee bezeichne keine ontologische Einheit, sondern ein eurozentrisches Konstrukt, das die kulturelle und ethnische Heterogenität der Region negiere, koloniale Hierarchien zwischen europäischen und indigenen Identitäten reproduziere und Lateinamerika als peripheren Ort kapitalistischer Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskraft kommodifiziere.87 Vor diesem Hintergrund hinterfragt die kritische Rechtsvergleichung auch die rechtliche Wissensproduktion über Lateinamerika als Region.88 So wird kritisiert, der Begriff diene der Abgrenzung Nordamerikas und Europas von Lateinamerika, das sodann als homogene Region „gescheiterten Rechts“ exotisiert werde.89 In dieser Region würden Verfassungen als Recht nicht ernst genommen, sondern als Form der Politik mit politikwissenschaftlichen, bestenfalls rechtsrealistischen Methoden beforscht. Wenn Lateinamerika rechtswissenschaftlich relevant sei, dann als Rezeptionskontext europäischen Rechts. Diese sekundäre Rolle betone der Verweis auf das „lateinische“ Erbe der Region, deren Recht Ergebnis funktionalistisch angeleiteter Transplantation ausländischen Rechts sei.90 Auf diese Weise werde Lateinamerika in eine globale Hierarchie von Rechtsordnungen und rechtswissenschaftlicher Produktion eingeordnet und zugleich – mangels Originalität – untergeordnet. Dass diese Hierarchie in Lateinamerika internalisiert worden sei, zeige sich daran, dass die Rechtsvergleichung mit prestigeträchtigeren Rechtsordnungen des Nordens wesentlich intensiver betrieben werde als der intraregionale Austausch unter Nachbarländern. Solange diese epistemische Hierarchie fortbestehe, sei eine Einbeziehung La Auf diese für ICCAL konstitutiven Gemeinsamkeiten stellt ab von Bogdandy (Fn. 4), 353 f. Valadés (Fn. 48), 192 schreibt den Begriff dem 1857 erschienenen Gedicht des kolumbianischen Dichter José María Torres Caicedo „Las dos Americas“ zu und verweist auf die gezielte Verbreitung durch Napoleon III. 87 Mignolo, The idea of Latin America, 2005. S.a. Braig, No hay reciprocidad. Lateinamerika und Europa – ungleiche Verflechtungen, in: Ertl/Komlosy/Puhle (Hrsg.), Europa als Weltregion, 2014, 198. 88 Generell zur kritischen Vergleichung Frankenberg, Comparative law as critique, 2016; Schacher reiter, VRÜ 49 (2016), 291. 89 Bonilla Maldonado/Crawford, Introduction, in: Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018, 1; Esquirol, American Journal of Comparative Law 56 (2008), 75. Exemplarisch für die kritisierte Sichtweise Rosenn, Univ. of Miami Inter-Am. Law Review 22 (1990), 1. 90 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte und Vergleichsmethoden Kleinheisterkamp (Fn. 46); Spector, Chicago-Kent Law Review 83 (2008), 129–145; Miller, American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839. Zur Rezeption europäischen Völkerrechts in Lateinamerika Keller-Kemmerer (Fn. 54); Becker Lorca (Fn. 54). 85
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teinamerikas in einen globalisierten Verfassungsdiskurs nicht wünschenswert.91 Damit greifen lateinamerikanische Autoren und Autorinnen die Forderungen kritischer und postkolonialer Vergleichung nach einer Provinzialisierung Europas und nach der Anerkennung alternativer Modernen außerhalb des Westens auf.92 Das ICCAL-Projekt ist sich dieser epistemischen Herausforderungen bewusst und positioniert sich zu ihnen letztlich in ambivalenter Art und Weise. Einerseits distanzieren sich die Hauptvertreter explizit von einer regionalen Hierarchisierung oder gar „Beratung“ Lateinamerikas durch Europa: Europäische Rechtsvergleicher nähmen keinen höheren, sondern schlicht einen anderen Standort ein.93 Dem entspricht es, dass ICCAL das lateinamerikanische Verfassungsrecht methodisch als Recht ernst nimmt und dogmatisch zu erfassen sucht. Andererseits bleibt das europäische Recht, dessen Erbe ausdrücklich nicht nur als Belastung verstanden wird, eine wichtige Folie für den Vergleich. Zwar werden inhaltliche Unterschiede zum europäischen Integrationsprojekt mit Blick auf Wirtschaftsintegration hervorgehoben – ein Bereich, in dem auch Lateinamerikas interne Heterogenität anerkannt wird.94 Doch reproduziert das ius commune auf der Ebene der Methoden und theoretischen Begriffe ein Verständnis, das tief im europäischen Rechtsraum verwurzelt ist, insbesondere der Dogmatik und Vergleichung eine normative, konvergenzstiftende Funktion zuweist.95 Dieses Verständnis ist schon in Europa nicht unumstritten.96 Auf Lateinamerika übertragen wirft es die Frage auf, ob die intraregionale Vergleichung von einem hinreichend breiten und tiefen Diskurs getragen wird, um eine solche zentrale Rolle zu spielen.97 Möglicherweise stärkt die europäische Idee des ius commune den intraregionalen Vergleich; denkbar ist aber auch, dass sie paradoxerweise die Orientierung des lokalen Diskurses nach Norden perpetuiert, soweit sie den epistemischen Rahmen des ius commune reproduziert.98 Dieser epistemische Rahmen birgt zudem das Risiko, die interne Heterogenität Lateinamerikas zu unterschätzen: Wie repräsentativ sind beispielweise die zahlreichen transformativen Entscheidungen des kolumbianischen Verfassungsgerichts, das als Vorreiter in der Region und auch des ius commu91 Bonilla Maldonado, The political economy of legal knowledge, in: Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018, 29; Esquirol, The geopolitics of constitutionalism in Latin America, in: Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018, 79. 92 Hoffmann, Knowledge production in comparative constitutional law, in: Dann/Riegner/Bönnemann (Hrsg.), The Global South and Comparative Constitutional Law 2019; Schacherreiter (Fn. 88); Frankenberg, Harvard International Law Journal 26 (1985), 411. 93 von Bogdandy (Fn. 4), 350. 94 von Bogdandy (Fn. 12), 28 (31). Kritisch zu Lesarten von Regionalintegration vor der europäischen Folie Botto, Realis 7 (2017), 77. 95 Vgl. Wendel, ICON 11 (2013), 981; von Bogdandy, ICON 7 (2009), 364. 96 Krit. Kumm, ICON 7 (2009), 401; Legrand, Journal of Comparative Law 1 (2006), 13. 97 Zum Problem abgeschlossener Diskursräume innerhalb Lateinamerikas auch von Bogdandy (Fn. 4), 355. Krit. zu „elitären“ und „überintellektualisierten“ Tendenzen Alterio/Giménez (Fn. 21), 119. 98 Zur Orientierung des brasilianischen Verfassungsdiskurses nach Europa und Nordamerika zu Lasten der Nachbarländer und des IAGMR Souza de Oliveira/Streck, JöR 63 (2015), 569; Daly, Brazilian ‘Supremocracy’ and the Inter- American Court of Human Rights: Unpicking an Unclear Relationship, in: Fortes et al. (Hrsg.), Law and Policy in Latin America, 2017, 3. Zu den Grenzen des rechtsvergleichenden „Dialogs“ Ruskola, Legal orientalism, 2013.
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ne gilt? Ändert sich der Blick auf die Region, wenn nicht Kolumbien, sondern beispielsweise Brasilien als paradigmatische Vergleichsordnung ausgewählt wird?99 Diese Schwierigkeiten machen einen regionalen Vergleichsansatz nicht unmöglich, erfordern aber einen aufgeklärten Umgang mit seinen epistemischen Herausforderungen und eine methodische Fortentwicklung des regionalen Vergleichsansatzes. Drei Gedanken zu einer solchen Fortentwicklung sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Eine erste Überlegung könnte sein, die intraregionale Vergleichung nicht a priori auf den Zweck auszurichten, Gemeinsamkeiten zu finden, sondern zunächst intraregionale Typologien zu bilden. Ein typologisches Vorgehen reduziert nicht nur das Problem der Homogenisierung, sondern bietet eine zusätzliche Erkenntnischance: Geht es darum, das relative Transformationspotential unterschiedlicher Rechtsinstitute zu beurteilen, ergibt sich gerade aus Unterschieden ein Laboreffekt, der durch einen vorschnellen Fokus auf Konvergenzen verloren ginge. Demnach wäre nicht Gemeinsamkeit, sondern Experimentalismus das Paradigma einer ersten Phase der Vergleichung.100 Dafür spricht auch ein zentrales methodisches Argument funktionalistischer Rechtsvergleichung, die Möglichkeit funktionaler Äquivalenz: Unähnliche Rechtsinstitute können ähnliche soziale Funktionen erfüllen.101 Beispielsweise kann breitenwirksamer Rechtsschutz nicht nur durch das amparo-Verfahren gewährleistet werden, sondern auch durch andere, funktionsäquivalente Instrumente, wie der IAGMR ausdrücklich anerkennt.102 Folgt man dem, muss sich ein transformativer Ansatz nicht auf regionale Konvergenz stützen, sondern kann im Sinne wertender Rechtsvergleichung aus der Pluralität von Lösungstypen schöpfen. Dies führt zu einer zweiten methodischen Überlegung: Anhand welchen Maßstabs ist zu beurteilen, wann eine Lösung die beste ist? Wenn sie die transformativsten Effekte zeitigt? Wie müssen rechtliche Institutionen konkret ausgestaltet sein, um die erwünschte transformative Wirkung in einem spezifischen Kontext zu entfalten? Die Frage nach der transformativen Wirkung wirft das Problem der Kontextabhängigkeit rechtlicher Institutionen auf: Wie kontextualistische Vergleichsstudien illu strieren, kann die Bedeutung, Funktion und Wirkung ähnlicher Rechtsinstitute in unterschiedlicher Kontexten erheblich variieren.103 Eine solche Sichtweise klingt im Rahmen von ICCAL bereits an, wenn etwa Diego Valadés betont, dass die tatsächli99 Dazu Arguelhes Werneck, Transformative Constitutionalism in Latin America: A view from Brazil, in: Dann/Riegner/Bönnemann (Hrsg.), The Global South and Comparative Constitutional Law, 2019. 100 Zu einem menschenrechtlichen Experimentalismus Búrca, American Journal of International Law 111 (2017), 277. 101 Michaels (Fn. 84), 356–359. 102 Vgl. Brewer-Carías (Fn. 46), 187, der sich aber ausdrücklich gegen die völkerrechtliche Zulässigkeit funktionaler Äquivalente zum amparo-Verfahren ausspricht. Zu den Grenzen des amparo-Mechanimus Pou Giménez, Judicial review and rights protection in Latin America, in: Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015, 235 (244). 103 Zum Kontextualismus siehe Frankenberg, International Journal of Constitutional Law 4 (2006), 439; Örücü, Methodology of Comparative Law, in: Örücü/Nelken (Hrsg.), Comparative law, 2007, 560. Zum komplexen Begriff des „Kontexts“ Wahl, Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, dann ist es nicht dasselbe: Verfassungsrecht in Kontexten, in: Grimm/Kemmerer/Möllers (Hrsg.), Rechtswege, 2015, 35; Weiß, Kontexte? Welche Kontexte? Ein hypothetischer Kontextbegriff für die inter- und transkulturelle Ideengeschichte, in: Klevesat/Zapf (Hrsg.): Demokratie – Kultur – Moderne. Perspektiven der politischen Theorie, 2011, 103.
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che Funktionsweise formal ähnlicher Präsidialsysteme mit dem Kontext variiert.104 Die transformative Wirkung von Rechtsinstituten lässt sich mit hermeneutischen Methoden allein nicht feststellen, und auch die funktionalistische Vergleichung stößt insoweit an ihre Grenzen.105 Umgekehrt bedarf es aber auch keiner „sozialwissenschaftlichen Runderneuerung“ der Vergleichung, wie sie derzeit unter dem Label der „comparative constitutional studies“ gefordert wird.106 Vielmehr sind hermeneutische und funktionale Überlegungen behutsam so zu kontextualisieren, dass der Vergleich zu interdisziplinär plausiblen Ergebnissen kommt, ohne die Eigenlogik des Rechts zu ignorieren. Es geht also um eine Kombination von Vergleichsmethoden im Sinne eines „kontextualisierenden Funktionalismus“.107 Eine stärkere Kontextualisierung des regionalen transformativen Konstitutionalismus kann auf unterschiedliche nachbarwissenschaftliche Forschungsbestände zurückgreifen: Die kulturwissenschaftliche Methode liefert rechtskulturelle Anhaltspunkte für prekäre Normativität108; eine historische Einordnung sieht mehr Kontinuitäten als Neues in den jüngsten Verfassungsreformen109; eine sozialwissenschaftliche Kontextualisierung identifiziert politische und sozioökonomische Determinanten der Wirkung von Recht und untersucht gesellschaftliche Bedingungen, unter denen Recht Teil des Problems ist, weil es Ungleichheit und soziale Hierarchien verschleiert oder perpetuiert.110 Je tiefenschärfer diese Analysen sind, desto schwieriger wird es allerdings, Verallgemeinerbarkeit und Gemeinsamkeit herzustellen. Umso wichtiger ist daher eine im sozialwissenschaftlichen Sinne reflektierte Auswahl der Fallstudien.111 Letztlich ist in der Verbindung des hermeneutischen Ansatzes des ius commune mit dem Paradigma des transformativen Konstitutionalismus aber eine methodologische Spannung angelegt, die sich nicht vollständig auflösen lässt. Eine letzte methodische Überlegung betrifft schließlich den transregionalen Vergleich zwischen Lateinamerika und anderen Weltregionen, insbesondere Europa. Insoweit ist eine kontextsensible Vergleichsmethode angesichts der unterschiedlichen Rahmenbedingungen erst recht angezeigt. Dies schließt den Vergleich zwischen Eu Valadés (Fn. 48), 207 mit Verweis auf Nohlen, El contexto hace la diferencia, 2003. Zu den Grenzen funktionalistischer Methoden für die wertende Rechtsvergleichung Michaels (Fn. 84), 373 f. 106 Programmatisch Hirschl, ICON 11 (2013), 1. Zu quantitativen Methoden Meuweese/Versteeg, Quantitative methods for comparative constitutional law, in: Adams/Bomhoff (Hrsg.), Practice and theory in comparative law, 2012, 230. Kritisch dazu von Bogdandy, Staat 55 (2016), 103. Zur Debatte auch Roux, Annual Review of Law and Social Science 13 (2017), 123; Möllers/Birkenkötter, ICON 12 (2014), 603. 107 Näher Riegner, VRÜ 50 (2017), 332, 354 ff. 108 García Villegas, Ineffectiveness of the law and the culture of noncompliance with rules in Latin America, in: Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015, 63. Allgemein Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Murswiek/Storost/Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung, 2000, 163; Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998. 109 Sabato, Republics of the New World, 2018; Gargarella, Latin American constitutionalism (Fn. 3), 148 ff. 110 Costa/Leite Gonçalves, Current Sociology 64 (2016), 311; Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015; Vilhena Vieira, Inequality and the subversion of the rule of law, in: Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015, 23; Esquirol, Yale Human Rights and Development Law Journal 16 (2013), 145. 111 Zu den methodischen Problemen Miller, Annual Review of Law and Social Science 14 (2018), 381; Linos, American Journal of International Law 109 (2015), 475; Hirschl (Fn. 76). 104 105
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ropa und Lateinamerika aber auch nicht aus. Das gilt schon deswegen, weil nicht nur rechtliche Institutionen, sondern auch normative Konzepte ohnehin migrieren, wie das Beispiele des transformativen Konstitutionalismus zeigt.112 Welchen Bedeutungsund Funktionswandel sie dabei erfahren, ist eine wichtige Frage für die transregionale Vergleichung. Für konzeptionelle Transplants gilt insofern nichts anderes als für das Recht selbst: Keine Transplantation ohne Transformation. Dies gilt es auch zu berücksichtigen, wenn Parallelen des deutschen Grundgesetzes zum transformativen Konstitutionalismus untersucht werden. Hinzu kommt, dass sich auch die relevanten Kontexte selbst wandeln. Zu ihnen zählen heute nicht nur lokale Bedingungen, sondern auch die vielfältigen historischen, politischen und ökonomischen Verflechtungen und Interdependenzen zwischen den Weltregionen: Auch der globale Kontext ist ein Kontext.113 Beispielsweise lassen sich soziale Ungleichheiten und populistische Bewegungen gegen offene Staatlichkeit nur im Kontext globaler Interdependenzen systematisch untersuchen und erklären.114 Die rechtlichen Dimensionen und Auswirkungen dieser Interdependenzen herauszuarbeiten ist Aufgabe einer transregionalen Vergleichung. Einer solchen Vergleichung geht es nicht primär darum, die Universalität normativer Phänomene zu belegen oder zu überprüfen, sondern transregionalen Verflechtungen nachzuspüren. Dem entspricht das methodische Paradigma der vergleichenden Regionalwissenschaften: Diese gehen von regionalwissenschaftlich gesättigten Kontextstudien aus, suchen aber gleichwohl, transregionale Interdependenzen und Verflechtungen herauszuarbeiten.115 Dieses Paradigma ist gemeint, wenn im vorliegenden Beitrag von transregionaler Vergleichung die Rede ist. Voraussetzung für eine solche transregionale Komparatistik ist jedoch eine kontextgesättigte intraregionale Vergleichung, die in den folgenden Abschnitten im Vordergrund steht.
2. Sozialer Wandel durch Verfassungsrecht Ein Verständnis des transformativen Konstitutionalismus, das auf die Veränderung sozialer Realitäten gerichtet ist, kann aus geschichts- und sozialwissenschaftlichen Debatten über die Möglichkeiten und Grenzen sozialen Wandels durch Recht schöpfen (unter a)). Ziel ist es, eine kontextsensible Dogmatik transformatorischer Rechtinstitute zu entwickeln, die interdisziplinär plausible Rechtswirkungen entfaltet (unter b)). Die interdisziplinäre Kontextualisierung verweist auch auf Grenzen rechtsund gerichtsbasierter Transformation, die Fragen nach den demokratischen Dimensionen des transformativen Konstitutionalismus aufwerfen.
112 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 8 verweisen zu Recht darauf, dass der transformative Konstitutionalismus selbst ein Transplantationsobjekt ist. 113 Dazu schon Riegner (Fn. 107), 360 f. 114 Campos Motta/Costa/Jelin (Hrsg.), Global entangled inequalities, 2018. 115 Ahram/Köllner/Sild (Hrsg.), Comparative Area Studies – Methodological Rationales and CrossRegional Applications, 2018.
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a) Herausforderungen des transformativen Konstitutionalismus Wenn sich der transformative Konstitutionalismus von anderen Verfassungstypen dadurch unterscheidet, dass er grundlegende soziale Veränderungen anstrebt, so wirft dies die Frage nach dem Endziel dieses Wandels auf. Muss das Telos der Transformation festgelegt sein, oder kann seine Finalität offenbleiben? Ein vereinzelt vertretenes, nicht-teleologisches Verständnis geht davon aus, dass es gerade charakteristisch für den transformativen Konstitutionalismus ist, dass seine Finalität verhandelbar bleibt.116 Folgt man dem, wäre überlegenswert, inwieweit sich hier interessante Parallelen zur Verfassung der EU auftun, die das Endziel der Integration ebenfalls offen lässt.117 Allerdings überwiegen in der verfassungsvergleichenden Literatur teleologische Deutungen des transformativen Konstitutionalismus, die Ziele und damit auch Erfolgsmaßstäbe für die Transformation definieren. Auch ICCAL geht davon aus, dass die Transformation zielgerichtet ist: Der Anspruch ist, die Ungleichheit, Exklusion und schwache Normativität zu überwinden und die sozialen Realitäten lateinamerikanischer Staaten zu transformieren.118 So verstanden ist ICCAL mit einer Grundfrage interdisziplinärer Rechtsforschung konfrontiert, nämlich die nach der Möglichkeit grundlegenden sozialen Wandels durch Recht und Gerichte. Zu dieser Frage hat sich in den USA und zunehmend auch in Europa eine reichhaltige, interdisziplinäre Literatur entwickelt, ohne dass sich ein Konsens über theoretische Grundlagen oder empirische Ergebnisse herausgebildet hätte.119 Die unterschiedlichen Ansätze werden auch in Lateinamerika aufgegriffen und kontrovers diskutiert.120 ICCAL vertritt insofern eine dezidiert optimistische Position: Trotz des vielfach beklagten Auseinanderfallens von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit wird dem Verfassungsrecht emanzipatorisches und egalitäres Potential zugeschrieben.121 Zur Begründung werden zunächst rechtsdogmatische Argumente angeführt: Die Rechtsprechung habe prozessuale und grundrechtsdogmatische Instrumente entwickelt, um die Umsetzung von Urteilen zu forcieren und benachteiligte Gruppen zu adressieren. Das Zusammenwirken nationaler und internationaler Rechtsprechung, so ein weiteres Argument, verschiebt die ge Gibbs (Fn. 33), 11–15. Vgl. Haltern, Finalität, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, 279. Selbstverständlich bestehen inhaltliche und dogmatische Unterschiede zwischen verfassungsrechtlicher „Transformation“ und europäischer „Integration“. Doch möglicherweise stellen sich für Rechtsordnungen, denen eine Veränderungsdynamik eingeschrieben ist, ähnliche rechtstheoretische Fragen. Zudem gewinnt der transformative Konstitutionalismus gerade in Lateinamerika eine überstaatliche Ebene und damit eine Parallele zur EU. 118 Dazu schon oben, II.2. 119 Aktueller Überblick bei Wrase, Rechtswirkungsforschung revisited, in: Boulanger/Rosenstock/ Singelnstein (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, 127. Aus der breiten US-amerikanischen Debatte siehe nur einerseits Rosenberg, The hollow hope, 2008; und andererseits McCann, Rights at work, 1994. 120 Rodriguez-Garavito, Constitutions in action: the impact of judicial activism on socioeconomic rights in in Latin America, in: Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015, 112; Nolte/Schilling-Vacaflor (Fn. 8), 26. Zur Wirkung des IAGMR auch Engstrom, Direito & Praxis 8 (2017), 1250. 121 von Bogdandy (Fn. 4), 359 f. 116 117
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sellschaftliche und politische Kräftebalance zugunsten progressiver Akteure.122 Dies gelte insbesondere dann, wenn man indirekte Wirkungen der Urteile mit einbeziehe, wie es soziologisch-konstruktivistische Wirkungstheorien tun.123 Im Unterschied dazu beklagen Skeptiker einen „Reformfetischismus“ und eine „reformitis constitucional“, getragen von dem naiven Glauben, dass Verfassungsreformen für sich schon politische Transformation bringen.124 Unterlegt wird dies mit historischen Einwänden: Der neue Konstitutionalismus sei nur der letzte in einer langen Reihe vergeblicher Versuche, sozialen Fortschritt in Lateinamerika durch Recht zu verwirklichen. Schon die republikanischen Reformer des 19. Jahrhunderts suchten egalitäre Ziele durch Verfassungsreformen und wirtschaftliche Umverteilung zu verwirklichen, scheiterten aber am Widerstand liberaler und konservativer Kräfte. Die aus jener Zeit stammende, zentralistische und hyperpräsidentielle Staatsorganisation sei bis heute nicht überwunden worden und hemme die Verwirklichung der ambitionierten Grundrechtskataloge des neuen Konstitutionalismus.125 Andere Kritiker verweisen auf das Scheitern der „Law and Development“-Bewegung der 1960er und 1970er Jahr: Diese versuchte vergeblich, Lateinamerika durch den Export liberaler, US-amerikanisch geprägter Rechtsvorstellungen zu modernisieren.126 Dennoch wirkten ihre Denkmuster bis heute im juristischen Blick auf Lateinamerika fort.127 Ein dritter Einwand stammt aus der Debatte über die egalitären Potentiale der Menschenrechte, die der US-amerikanische Historiker Samuel Moyn jüngst befeuert hat. Soziale Menschenrechte, so Moyn, hätten zwar das Potential, ein gewisses Existenzminimum zu gewährleisten und vor absoluter Armut zu schützen. Als Gleichheitsprojekt seien die Menschenrechte jedoch gescheitert, weil sie weder Reichtum wirksam begrenzt noch genuine Umverteilung bewirkt hätten.128 Dies entspricht sozialwissenschaftliche Kritiken, die Wirkung und distributive Effekte grund- und menschenrechtsbasierter Reformstrategien empirisch untersuchen.129 Neorealistische von Bogdandy (Fn. 4), 374; Soley (Fn. 17). Parra Vera, The Impact of Inter-American Judgments by Institutional Empowerment, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 357. 124 Vgl. Nolte/Schilling-Vacaflor (Fn. 8), 24 f. m.w.N. 125 Gargarella (Fn. 21). 126 Schon damals waren Ungleichheit, schwache Normativität und die sozialgestaltende Rolle von Gerichten wichtige Diskursmotive, vgl. nur Karst/Rosenn, Law and development in Latin America, 1975; Wiarda, American Journal of Comparative Law 19 (1971), 434. Zum Scheitern der Bewegung vgl. die klassische Kritik bei Trubek/Galanter, Wisconsin Law Review (1974), 1062. Rückblickende Einordnung bei Riegner/Wischmeyer, Der Staat 50 (2011), 436. 127 Esquirol (Fn. 89); Rodríguez Garavito, Remapping law and society in Latin America, in: Rodríguez Garavito (Hrsg.), Law and society in Latin America, 2015, 1 (14). Zur aktuellen Renaissance Trubek et al., Law and the new developmental state, 2014; Hill, Chicago-Kent Law Review 83 (2008), 3; Adelman, Institutions, property, and economic development in Latin America, in: Centeno (Hrsg.), The other mirror, 2001, 27. Speziell zur Rolle des Verfassungsrechts Bryde, VRÜ 41 (2008), 10. 128 Moyn, Not enough: Human rights in an unequal world, 2018. Moyns Einschätzung beruht auf einer Reihe von Vorannahmen, namentlich einem US-zentrischen und völkerrechtlich verengten Verständnis der Menschenrechte, die kritisiert werden, vgl. Búrca, International Journal of Constitutional Law (2019), i.E.; Dehm, Leiden Journal of International Law 31 (2018), 871; Slaughter, Human Rights Quarterly 40 (2018), 735. 129 Brinks/Gauri, Perspectives on Politics 12 (2014), 375. Klassisch Galanter, Law and Society Review 9 (1974), 95. 122
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Theorien, die für die Messung sozialen Wandels auf die unmittelbare Umsetzung von Urteilen abstellen, bewerten die Wirkung wegweisender Entscheidungen generell als gering.130 Zudem indizieren empirische Studien etwa zur praktischen Wirkung des Grundrechts auf Gesundheit in Brasilien problematische Verteilungseffekte: Dort führte die Judizialisierung primär dazu, dass erfolgreiche Kläger knappe Behandlungsleistungen nun vorrangig in Anspruch nehmen – vor all denjenigen, die nicht klagen wollten oder konnten. Dies habe zu einer Umverteilung öffentlicher Gesundheitsleistungen zugunsten der Mittelschicht geführt, ohne die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems zu verbessern.131 Ließen sich diese Ergebnisse verallgemeinern, würde eine rechtebasierte Transformationsstrategie jedenfalls für die untersten Gesellschaftsschichten problemverschärfend wirken.132
b) Forschungsperspektiven Die beschriebenen Einwände werfen Fragen für die künftige Forschung zum transformativen Konstitutionalismus in Lateinamerika und darüber hinaus auf. Zwei weiterführende Forschungsperspektiven seien im Folgenden angedeutet, eine methodische und eine konzeptionelle. Die erste betrifft die methodische Frage, inwieweit sich eine spezifische Dogmatik transformativer Rechtsinstitute und Prinzipien entwickeln lässt, deren praktische Wirkung auch sozialwissenschaftlich plausibel ist. Sollen Rechte und Gerichte zur Überwindung von Exklusion und Ungleichheit beitragen, setzt dies voraus, dass auch benachteiligte Gruppen von der gerichtlichen Rechtsdurchsetzung profitieren. Da dies gerade im Kontext sozialer Ungleichheit nicht selbstverständlich ist, bedarf es besonderer Aufmerksamkeit für die distributiven Konsequenzen rechtlicher Prinzipien und dogmatischer Konstruktionen. Dies hat Folgen beispielweise für die Konzeption des Rechtstaatsprinzips. Dessen kontextsensible Fortentwicklung muss einerseits vermeiden, dass die Betonung von Rechtsstaatlichkeit zur Stigmatisierung von Informalitätsphänomenen führt und damit Exklusion verstärkt.133 Andererseits muss sie dem Umstand Rechnung tragen, dass sich Exklusion gerade im Ausschluss aus dem formellen Rechtssystem manifestiert. Dies legt nahe, den Zugang zum Recht als ein zentrales, kontextspezifisches Element des Rechtstaatsprinzips zu verstehen und der dogmatischen und institutionellen Ausgestaltung von Zugangswegen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.134 Insofern ist nicht nur an individuelle Rechtsschutzverfahren à la amparo zu denken, sondern auch an potentiell effektivere, Klassisch Rosenberg (Fn. 119). Zur Diskussion Prado, The Journal of Law, Medicine & Ethics 41 (2013), 124; Ferraz, Texas Law Review 89 (2010), 1643. 132 Differenzierend zum empirischen Forschungsstand Lang ford, Annual Review of Law and Social Science 14 (2018), 69. 133 Zu den Problemen urbaner Informalität und ihrer ambivalenten Beziehung zu Illegalität Riegner, International Institutions and the City: Towards a Comparative Law of Glocal Governance, in: Aust/ Du Plessis (Hrsg.), The globalisation of urban governance, 2019, 39 (49); Eslava, Local Space, Global Life, 2015, 190 ff.; Fernandes/Varley (Hrsg.), Illegal cities, 1998. 134 Zu diesem Zusammenhang Vilhena Vieira (Fn. 110). Zur besonderen Bedeutung des Zugangs zum Recht in diesen Kontexten Bilchitz, Socio-Economic Rights and Expanding Access to Justice in 130 131
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funktionale Äquivalente wie Ombudsinstitutionen oder den sog. ministério publico, der auch kollektiven Rechtsschutz gewährt.135 Inwieweit ein zugangsbetontes Rechtstaatsverständnis von dem in Deutschland und Europa herrschenden abweicht, wäre eine Frage für künftige transregionale Vergleichung. Auch im Bereich der Grund- und Menschenrechte gibt es Anknüpfungspunkte für eine transformative Dogmatik, die benachteiligte Gruppen stärkt. Zu denken ist etwa an positive Fördermaßnahmen iSv. Affirmative Action.136 In Betracht kommt auch das – in Lateinamerika besonders ausgeprägte – Recht auf Informationszugang, das die informationellen Voraussetzungen für die gleichberechtigte Inanspruchnahme sozialer Leistungsrecht und demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten verbessern kann.137 Distributive Bedeutung haben auch dogmatische Figuren und Rechtsfolgenaussprüche, mit denen Gerichte Urteilswirkungen zu kollektivieren suchen. Ein Problem der brasilianischen Rechtsprechung ist insoweit, dass die Gerichte tendenziell ein einzelfallbezogenes Abhilfekonzept verfolgen, das nur dem jeweiligen Kläger individuelle Gesundheitsleistungen zuspricht.138 Ein Gegenbeispiel ist die Rechtsprechung des IAGMR: Diese hat positive Schutzpflichten für vulnerable Gruppen und strukturelle Abhilfeanordnungen entwickelt, die Urteilswirkungen gezielt auf benachteiligte Gruppen erstrecken.139 Diese Dogmatik adressiert distributive Probleme, nivelliert aber die Unterscheidung zwischen einzelfallbezogener Rechtsprechung und allgemeinverbindlicher Gesetzgebung.140 Das damit angesprochene Verhältnis von Dogmatik, Rechtsprechung und Gesetzgebung wirft die konzeptionelle Frage auf, inwieweit der transformative Konstitutionalismus bestimmte Akteure privilegiert. Für ICCAL spielt zunächst die Rechtswissenschaft eine treibende Rolle bei der vergleichenden Rekonstruktion einer transformativen Dogmatik.141 Diese Dogmatik verallgemeinert nicht nur die Judikatur einzelner Gerichte, sondern soll ihrerseits die Rechtsprechung in der gesamten Region beeinflussen. Dieser rechtspropositive Ansatz muss im lateinamerikanischen Kontext im Auge behalten, dass Verfassungstext, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft in ganz unterschiedlichem Maße transformativ sein können; auch diese Inkongruenzen innerhalb einzelner Rechtsordnungen gilt es herauszuarbeiten.142 South Africa, in: Bönnemann/Dann/Riegner (Hrsg.), The Global South and Comparative Constitutional Law, 2019, i.E. 135 Zu Ombudsinstitutionen Uggla, Journal of Latin American Studies 36 (1999), 423. Zum ministério publico, der in Brasilien einen Großteil der Sammelklagen gegen Hoheitsträger initiiert, Kleinheisterkamp (Fn. 46), 287. 136 Aldao/Clérico/Ronconi (Fn. 37); Moreira, American Journal of Comparative Law 64 (2016), 455. 137 Das Recht auf Informationszugang ist gerade in Lateinamerika menschen- und grundrechtlich besonders geschützt und wird auch als „power right“ oder „destabilization right“ eingeordnet, das gesellschaftlichen Ungleichheiten entgegenwirkt. Dazu Riegner (Fn. 107). Grundlegend zu dieser Einordnung von Rechten Hohfeld, Fundamental legal conceptions as applied in judicial reasoning, 1919; Unger, The critical legal studies movement, 2015, 127 ff. 138 Landau, Socioeconomic rights and majoritarian courts in Latin America, in: Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018, 188; Hoffmann/Bentes (Fn. 39). 139 Soley (Fn. 17). Zu ähnlichen Ansätzen in der kolumbianischen Rechtsprechung Rodriguez-Garavito (Fn. 120). 140 Zu den Legitimationsfragen unten, IV.3.a). 141 Dazu schon oben, II.2. und IV.1. 142 Zu dieser Differenzierung Arguelhes Werneck/Harmann, Annuaire International des Droits de
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Denn eine zentrale Frage ist und bleibt, ob Gerichte und Richter willens und fähig sind, transformativen Impulsen Breitenwirksamkeit zu verleihen, auch wenn dies auf den Widerstand politischer Machtakteure oder gesellschaftlicher Beharrungskräfte trifft.143 Während Gerichte durchaus Fortschritte beim Abbau extremer Exklusion erreichen, übersteigt eine spürbare Umverteilung oder ein Auf brechen gesellschaftlicher Hierarchien in vielen Fällen ihre politischen und legitimatorischen Ressourcen.144 Eine nachhaltige Reduzierung von Ungleichheit ergibt sich bestenfalls aus einem Zusammenspiel von rechtlichem, politischem und wirtschaftlichem System. Die Notwendigkeit eines solchen Zusammenspiels lässt Zweifel auf kommen, ob der transformative Konstitutionalismus auf Gerichte und Grundrechte verengt werden kann. Innerhalb seiner Prinzipientrias priorisiert ICCAL letztlich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte, wogegen das Demokratieprinzip am wenigsten ausgearbeitet und am konventionellsten bleibt. Diesen engen Fokus teilt ICCAL nicht nur mit der überwiegenden Literatur zum transformativen Konstitutionalismus, sondern auch mit weiten Teilen der rechtsvergleichenden Forschung insgesamt.145 Gegen eine solche Verengung sprechen aber gute Gründe. Um die politische Kräftebalance zugunsten transformativer Projekte zu verändern, benötigen aktivistische Gerichte Unterstützungsstrukturen in Politik und Zivilgesellschaft, die ihrerseits eine gewisse Dekonzentration von Macht voraussetzen.146 Daher hängt die gerichtliche Verwirklichung ambitionierter Grundrechtskataloge auch davon ab, ob das Staatsorganisationsrecht die Tür zum „Maschinenraum der Macht“ ein Stück weit öffnet. Diese Öffnung wird erschwert, wenn die Verfassung politische Macht in hyperpräsidentiellen Exekutiven zentralisiert.147 Dies spricht dafür, staatsorganisationsrechtlichen Fragen und den rechtlichen Strukturen des politikökonomischen Systems größere Aufmerksamkeit zu schenken. Hierfür lässt sich auch ein zweites, positivrechtliches Argument anführen: Es ist gerade ein Kennzeichen vieler neuer Verfassungen in Lateinamerika, dass sie demokratische Beteiligungsmechanismen erheblich ausbauen und repräsentative Verfah-
L’Homme 7 (2014), 15, die davor warnen, die brasilianische Rechtsprechung zu sehr durch die transformative Brille der progressiven Rechtswissenschaft zu interpretieren. Zu Unterschieden zwischen Brasilien und Kolumbien auch Vilhena Vieira, Ambitious constitutions: prominent courts, in: Dixon/ Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 253. 143 Zu den Grenzen rechte- und gerichtsbasierten sozialen Wandels in Lateinamerika Landau, Judicial roIe and the Iimits of constitutional convergence in Latin America, in: Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 227; Costa/Leite Gonçalves (Fn. 110). Zu konservativen Wurzeln des europäischen Menschenrechtssystems Duranti, The conservative human rights revolution, 2017. Dass beispielsweise auch der indische Supreme Court progressive Impulse aus der Gesellschaft nicht immer aufnimmt, thematisiert Herklotz, VRÜ 49 (2016), 148. 144 Differenzierte Antwort auf die Kritik rechtebasierten Wandels Vilhena Vieira (Fn. 110), 40 ff.; für den US-Kontext einflussreich Williams, Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review 22 (1987), 401. 145 Vgl. Fowkes (Fn. 29), 114 f.; Landau, Harvard International Law Journal 51 (2010), 319. 146 Grundlegend Epp, The rights revolution, 1998. Zu Lateinamerika Haddad, The hidden hands of justice, 2018, 84 ff.; Maia/Assis Lima, Direito & Praxis 8 (2017), 1419; Fogaça Vieira/Annenberg, Remarks on the role of social movements and civil society organisations in the Brazilian Supreme Court, in: Vieira/Baxi/Viljoen (Hrsg.), Transformative constitutionalism, 2013, 491. 147 Zum „Maschinenraum“-Argument Gargarella (Fn. 21). Siehe auch Parra Vera (Fn. 123), 374 f.
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ren durch direktdemokratische, partizipative und deliberative Elemente ergänzen.148 Auch der IAGMR bezieht in seine Rechtsprechung inzwischen das strukturelle Demokratiegebot ein, das die OAS in ihrer Charta, in Resolutionen und Deklarationen entwickelt hat.149 Berücksichtigt man all dies, erscheint der transformative Konstitutionalismus letztlich als gesamtstaatliche Aufgabe, bei deren Bewältigung sozialer Fortschritt auch nicht gegen demokratische Legitimation ausgespielt werden darf. Angesichts dessen gilt es, die transformativen Potentiale und Defizite des demokratischen Prozesses und politischen Systems rechtswissenschaftlich zu erfassen.
3. Demokratie und Legitimation Der transformative Konstitutionalismus wirft demokratietheoretische Fragen auf, die im Kontext der Repräsentationsdefizite der politischen Systeme Lateinamerikas zu sehen sind (unter a)). Diese Defizite verlangen nach größerer Aufmerksamkeit für die rechtlichen Strukturen politischer Institutionen und deren Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Akteuren und ökonomischen Prozessen (unter b)).
a) Herausforderungen demokratischer Legitimation und Repräsentation Diskussionen um demokratische Legitimation in Lateinamerika sind im Kontext einer Repräsentationskrise der politischen Systeme zu sehen. Trotz allgemeiner und gleicher Wahlen fällt es demokratischen Institutionen schwer, die Interessen breiter Bevölkerungsschichten zu repräsentieren und in staatliche Programme zu übersetzen. Vielmehr monopolisieren überkommene Eliten in vielen Fällen die politischen Institutionen und perpetuieren Ungleichheit und soziale Hierarchien. Daher, so auch die Vertreter von ICCAL, reproduziert sich das koloniale politikökonomische Modell, in dem wohlhabende Eliten die politischen Spielregen bestimmen und davon wiederum wirtschaftlich profitieren.150 Die Ursachen dieser Repräsentationskrise sind in der vergleichenden Politikwissenschaft und der politischen Soziologie beschrieben worden: wirtschaftliche und soziale Hierarchisierung der Gesellschaft; ein auf Ressourcenextraktion angelegtes Wirtschaftssystem; ein instabiles und nicht repräsentatives Parteiensystem, das Zugang zu staatlichen Ämtern monopolisiert; schwache Parlamente, die starke Exekutiven kaum zur Rechenschaft ziehen; eine konzentrierte bzw. polarisierte Medienlandschaft; und das Fehlen anderweitiger Kanäle, mit denen Bürgerinnen und Bürger ihre Interessen in das politische System einbringen können.151 Uprimny (Fn. 10), 1594 ff. García Ramírez, The American Human Rights Navigation: Toward a Ius Commune, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 301, 302; Schliemann, VRÜ 42 (2009), 320. 150 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 5–6, 14. 151 Vanden/Prevost, Politics of Latin America, 2015, 187; Kron/Costa/Braig (Hrsg.), Democracia y reconfiguraciones contemporáneas del derecho en América Latina, 2012; Nolte/Schilling-Vacaflor (Fn. 8), 22. 148 149
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In diesem Kontext kreist ein Teil der demokratietheoretischen Debatte um die Legitimation aktivistischer Gerichte: Rechtfertigen die Defizite des politischen Systems gerichtlichen Aktivismus und die Judizialisierung sozialer Grundrechte?152 Oder birgt die Judizialisierung die Gefahr, dass repräsentative Institutionen durch gerichtliche Machtakkumulation noch weiter geschwächt werden?153 ICCAL beruft sich insoweit auf die Theorie des US-amerikanischen Rechtswissenschaftlers John Ely, wonach Gerichte ihre Legitimation daraus beziehen, dass sie Repräsentationsdefizite des demokratischen Prozesses kompensieren.154 Dafür wird insbesondere die wechselseitige Abhängigkeit von Grundrechten und Demokratie angeführt, die sich etwa in Entscheidungen des IAGMR zur Meinungsfreiheit und Wahlrecht zeige.155 Dagegen wenden Kritiker ein, dass insbesondere soziale Rechte letztlich nicht zur Emanzipation der Rechtsträger führten, sondern zur (Selbst-)Ermächtigung der Justiz.156 Als demokratietheoretisch besonders problematisch wird es empfunden, wenn internationale Spruchkörper direktdemokratisch legitimierte Entscheidungen kassieren, wie es der IAGMR im Fall Gelman v Uruguay mit einem Amnestiegesetz getan hat, das zuvor durch zwei nationale Referenden bestätigt worden war.157 Die Kontroverse um den Gelman-Fall legt unterschiedliche demokratietheoretische Konzeptionen offen: Während die einen die Entscheidung als antimajoritären Sündenfall des interamerikanischen Systems sehen, kommen andere auf dem Boden deliberativer Demokratietheorien zu einer positiven Deutung: Die Intervention des IAGMR habe die deliberative Qualität demokratischer Verfahren gestärkt, indem sie Aspekte in die öffentliche Debatte über das Amnestiegesetz eingebracht habe, die zuvor zu kurz gekommen waren – insbesondere die Sichtweise der Opfer der Militärdiktatur.158 Das Paradigma der Deliberation verfolgen auch andere Ansätze, die Legitimation aus der deliberativen Leistungsfähigkeit nationaler Gerichte oder aus dem gerichtlichen Dialog mit politischen Institutionen und gesellschaftlichen Akteuren gewinnen wollen.159 All diese Ansätze werfen letztlich die Frage auf, inwieweit der transformative Konstitutionalismus auf eine verfassungstheoretische Neukonzeption der Gewaltengliederung hinausläuft: Nicht „checks and balances“ stehen dabei Pou Giménez (Fn. 102), 240 f.; Arango (Fn. 38). Kritisch insoweit Daly, The alchemists, 2017; Helmke/Ríos-Figueroa (Fn. 3). Theoretische Argumente sind aus der europäischen und nordamerikanischen Debatte bekannt, vgl. Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011; Waldron, Yale Law Journal 115 (2006), 1346; Bickel, The least dangerous branch, 1986. 154 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 12, unter Verweis auf Ely, Democracy and distrust, 1980. 155 Salazar Ugarte (Fn. 37), 68; García Ramírez (Fn. 149), 302 f.; Aldao/Clérico/Ronconi (Fn. 37), 94 f. S.a. Rocha Reis, Direito & Praxis 8 (2017), 1577. 156 Gargarella (Fn. 21), 231; Curcó Cobos, Canadian Journal of Latin American and Caribbean Studies 43 (2018), 212. 157 Kritisch Gargarella, AJIL Unbound 109 (2015), 115. Allgemein zur Debatte um internationale Gerichte von Bogdandy/Venzke, In wessen Namen?, 2014. 158 Zu letztgenannter Position Parra Vera (Fn. 123), 371 f., 374, 376. 159 Hübner Mendes, Constitutional courts and deliberative democracy, 2013; da Silva, International Journal of Concstitutional Law 11 (2013), 557. Zum Dialog auch Gargarella, Deliberative democracy, dialogic justice and the promise of social and economic rights, in: Alviar García/Klare/Williams (Hrsg.), Social and Economic Rights in Theory and Practice, 2014, 105; Lirio do Valle, Revista de Investigações Constitucionais 1 (2014), 59. 152
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im Vordergrund, sondern wechselseitige „pushs and pulls“, die Institutionenversagen begegnen.160 So wichtig die Diskussion über gerichtliche Legitimation ist, so wenig sollte sie allerdings den Blick auf weitere Fragen verstellen, die sich zum Verhältnis von Demokratie und transformativem Konstitutionalismus stellen. Vergleichsweise unterbelichtet in der rechtsvergleichenden Debatte ist die potentiell transformative Rolle des Rechts bei der Strukturierung politischer Prozesse. Auch dieses Recht entwickelt sich mit den neuen Verfassungstexten und der staatsorganisationsrechtlichen Rechtsprechung fort.161 Insoweit bietet der neue Konstitutionalismus in Lateinamerika reichhaltiges Anschauungsmaterial, etabliert er doch zahlreiche verfassungsrechtliche Mechanismen der direkten und partizipativen Demokratie, die das repräsentative und präsidentielle System ergänzen sollen. Angesichts dessen meinen Politikwissenschaftler gar, dass Lateinamerika die Demokratie neu erfinde.162 Auch in Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur wird diesen demokratischen Mechanismen eine grundlegende Bedeutung für den neuen Konstitutionalismus zugeschrieben: Dieser stelle nichts weniger dar als den Versuch, kollektive und individuelle Selbstbestimmung in gleichem Maße zur Geltung bringen. Dies unterscheide das Modell des neuen Konstitutionalismus von liberalen und republikanischen Verfassungstheorien, die eines der beiden Grundprinzipien privilegieren.163
b) Forschungsperspektiven Vor diesem Hintergrund eröffnet die demokratische Perspektive neue Forschungsansätze für den transformativen Konstitutionalismus. An erster Stelle gilt es, die rechtliche Strukturierung des demokratischen Prozesses und politischer Institutionen fest in den rechtsvergleichenden Blick zu nehmen. Während im Bereich der Grundrechtsjudikatur die Dogmatik mit interdisziplinären Einsichten anzureichern ist, stellt sich im Hinblick auf die politischen Systeme das umgekehrte Problem: Die reichhaltige sozialwissenschaftliche Literatur ist durch eine rechtsdogmatische Perspektive zu ergänzen, die die rechtliche Verfasstheit des politischen Systems und der demokratischen Repräsentationsprozesse ernst nimmt und in ihrer normativen Eigenlogik erfasst. Bislang schenkt die einschlägige Literatur zum transformativen Konstitutionalismus legislativem und exekutivem Handeln noch zu wenig Aufmerksamkeit, ja vernachlässigt die rechtsvergleichende Literatur insgesamt die politischen Institutionen und die staatsorganisationsrechtliche Rechtsprechung.164 160 Vgl. Farahat, Pushing for Transformation, Völkerrechtsblog, 20.7.2017, DOI: 10.17176/20170727142555, https://voelkerrechtsblog.org/pushing-for-transformation/ (zuletzt abgerufen 1.12.2018); Hailbronner (Fn. 80), 258 ff. 161 Zur unterschätzten Bedeutung der staatsorganisationsrechtlichen Rechtsprechung in der Rechtsvergleichung Landau, Alabama Law Review 67 (2016), 1069. 162 Fung, Perspectives on Politics 9 (2011), 857. 163 Gargarella, Constitutionalism in the Americas: a comparison between the U.S. and Latin America, in: Crawford/Bonilla Maldonado (Hrsg.), Constitutionalism in the Americas, 2018, 111; Uprimny (Fn. 10), 167 f. 164 So zum transformativen Konstitutionalismus auch Arguelhes Werneck (Fn. 21); Fowkes (Fn. 29),
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Gleichwohl sind neue Aufmerksamkeitsfelder bereits angelegt: Auch die Vertreter von ICCAL bemerken, dass Grundrechtskataloge nicht nur gerichtliche Prüfungsmaßstäbe sind, sondern auch Gesetzgebungsaufträge.165 Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf demokratische Repräsentations- und Entscheidungsprozesse, die zu oft im Schatten des lateinamerikanischen Präsidentialismus stehen. Wie sind legislative Prozesse verfassungsrechtlich strukturiert, und welche (Fehl-)Anreize für transformatives Handeln gehen von dieser rechtlichen Struktur aus?166 Welche Rolle spielen Wahlrecht und Parteiensystem?167 Unter welchen Bedingungen gelingt es, soziale Grundrechte in transformative legislative und administrative Programme zu übersetzen?168 Kurzum: Wie könnte ein „Recht der Demokratie“ des transformativen Konstitutionalismus aussehen?169 Mögliche Ansatzpunkte finden sich in lokalen und gesellschaftlichen Gegenpolen des präsidentiellen Zentralismus. Dezentralisierung und innovative Partizipationsmechanismen auf lokaler Ebene spielen für Praxis und Theorie der lateinamerikanischen Demokratie eine zunehmende Rolle.170 Für die Erbringung von sozialen Leistungen kann kommunalpolitische Repräsentation effektiver sein als die langwierige gerichtliche Durchsetzung von Leistungsrechten. Zudem eröffnet lokale Demokratie Zugänge zum politischen System für unterrepräsentierte Gruppen, zivilgesellschaftliche Reformkräfte und soziale Bewegungen. Für die rechtsvergleichende Forschung stellt sich insoweit die Frage nach einem transformativen Konstitutionalismus „von unten“, der die Rolle lokaler Akteure und gesellschaftlicher Bewegungen bei der verfassungsrechtlich angeleiteten Transformation stärker berücksichtigt.171 Die Rolle gesellschaftlicher Akteure erschöpft sich nicht in der Bereitstellung einer zivilgesellschaftlichen Unterstützungsstruktur für aktivistische Gerichte, die strate115. Generell Landau (Fn. 145); Landau (Fn. 161). Siehe auch das Symposium „It’s the Institutions, Stupid!“ eingeleitet von Hailbronner, International Journal of Constitutional Law 15 (2017), 849. 165 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 17. 166 Politikwissenschaftliche Ansatzpunkte bei Squire, The Evolution of American Legislatures, 2014; Fish/Kroenig, The handbook of national legislatures, 2011. 167 Aus politikwissenschaftlicher Sicht Langston, Democratization and authoritarian party survival, 2017; Molenaar, International Political Science Review 35 (2014), 324; Magaloni Kerpel, Voting for autocracy, 2006. 168 Vgl. zur Sozialgesetzgebung im Globalen Süden generell Kaltenborn/Dann, VRÜ 47 (2014), 3 und das entsprechende Themenheft. Zum Beispiel des brasilianischen Sozialprogramms Bolsa Familia Coutinho, VRÜ 47 (2014), 43; Hunter/Sugiyama, Perspectives on Politics 12 (2014), 829. Zur Bedeutung der Doktrin von der sozialen Funktion des Eigentums, die Umverteilung von Land primär durch die Legislative und Exekutive, nicht aber die Judikative zu ermöglichen sollte Brinks/Blass (Fn. 3), 6 f. 169 Erste allgemeine Überlegungen dazu bei Issacharoff, Comparative Constitutional Law as a Window on Democratic Institutions, in: Delaney/Dixon (Hrsg.), Comparative judicial review, 2018, 60. Modellhaft für das US-amerikanische System Issacharoff/Karlan/Pildes, The law of democracy, 2012. 170 Fung (Fn. 162); Avitzer, International Journal of Urban and Regional Research 30 (2006), 623; Campbell, The quiet revolution: Decentralization and the rise of political participation in Latin American cities, 2003. Zur vertikalen Staatsorganisation auch das Themenheft der VRÜ 2 (2019), i.E.; Eslava (Fn. 133). Zur unterschätzten Rolle der Untergerichte Pou Giménez (Fn. 102) 243; Ingram, Crafting courts in new democracies, 2016. 171 Zu den Grenzen eines transformatorischen Top-Down-Ansatzes Sonnevend, Preserving the Acquis of Transformative Constitutionalism in Times of Constitutional Crisis: Lessons from the Hungarian Case, in: von Bogdandy et al. (Hrsg.), Transformative constitutionalism in Latin America, 2017, 123.
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gische Prozessführung und die Umsetzung von Urteilen erleichtert. Vielmehr stellt sich die grundsätzlichere Frage, ob sich der transformative Konstitutionalismus auch jenseits der geschlossenen Gesellschaft der rechtsdogmatisch geschulten Verfassungsinterpreten abspielt.172 Kommt etwa sozialen Bewegungen eine rechtswissenschaftlich fassbare Rolle bei der Überwindung politischer Repräsentationsdefizite, bei der Verfassungsinterpretation und bei der Transnationalisierung des Verfassungsdiskurses zu?173 Jedenfalls gehen rechtssoziologische Beobachtungen aus Lateinamerika in diese Richtung.174 Ein ebenso anschauliches wie kontroverses Beispiel ist die Mobilisierung verfassungsrechtlicher Argumente durch die brasilianische Landlosenbewegung MST: Bei der Besetzung brach liegenden Landes beruft sie sich auf die verfassungsrechtlich verankerte soziale Funktion des Eigentums, um eine rechtliche Verfestigung der Landbesetzung zu erreichen.175 Mit der Eigentumsfrage ist eine weitere Dimension des transformativen Konstitutionalismus angesprochen, die ICCAL bislang weitgehend ausspart: die materielle Ordnung, die das Verfassungsrecht in Bestimmungen zu Wirtschaftssystem, Fiskalverfassung, Privatisierung und wirtschaftlicher Integration konturiert. In diesen Fragen vermeidet ICCAL explizit eine gemeinsame Positionierung: Regionale Wirtschaftsintegration sei kein Teil des gemeinsamen Projekts, und man habe unterschiedliche Auffassungen zu Umverteilung, Eigentum und Wirtschaftspolitik, teile aber das einende Ziel, Exklusion zu überwinden.176 Ob das Eine ohne das Andere zu haben ist, sei dahingestellt. Jedenfalls schließt ICCAL damit eine Dimension aus, die andernorts konstitutiv für den transformativen Konstitutionalismus ist: Wirtschaftliche Umverteilung, „ökonomische Gerechtigkeit“ und die „Demokratisierung der Wirtschaft“ sind zunehmend bedeutsame Motive nicht nur der südafrikanischen, sondern auch der rechtvergleichenden und lateinamerikanischen Debatte.177 Die jüngeren lateinamerikanischen Verfassungen enthalten vergleichsweise ausführliche Bestimmungen zur Wirtschaftsordnung. Diese zeichnen sich durch eine grundsätzliche Akzeptanz von Privateigentum und Marktwirtschaft aus, sehen aber 172 Krit. zur Expertifizierung der Verfassungsinterpretation allgemein Hailbronner, Der Staat 53 (2014), 425. Zur Rezeption von Häberles Idee der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Lateinamerika Henning Leal (Fn. 42). 173 Befürwortend Hailbronner (Fn. 80), 256 f.; Vieira/Baxi/Viljoen (Fn. 33), 620; Langa (Fn. 29). Allgemein Anderson, Indiana Journal of Global Legal Studies 20 (2013), 881. 174 Zur Rolle sozialer Bewegungen im Demokratisierungsprozess Benvindo, International Journal of Constitutional Law 15 (2017), 332; Leonel Júnior/Sousa Júnior, Direito & Praxis 8 (2017), 1008. Zur Transnationalisierung gesellschaftlichen Aktivismus Rodríguez Garavito (Fn. 127), 14 f.; Sousa Santos/ Rodriguez-Garavito (Hrsg.), Law and Globalization from Below, 2005. Aus politikwissenschaftlicher Sicht Stokke/Törnquist, Democratization in the Global South: The Importance of Transformative Politics, 2013. 175 Meszaros, Social Movements, Law and the Politics of Land Reform, 2013; Chalmers, Constituent power and the pluralist ethos, in: Loughlin/Walker (Hrsg.), The paradox of constitutionalism, 2007, 291, 303 ff. S.a. Alviar García, Looking beyond the Constitution: the social and ecological function of property, in: Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 176. 176 von Bogdandy/Ferrer Mac-Gregor/Morales Antoniazzi (Fn. 9), 6; von Bogdandy (Fn. 4), 357. Siehe aber jetzt von Bogdandy/Ebert, El Banco Mundial frente als constitucionalismo transformador latinoaméricano: Panorama general y pasos concretos, MPIL Working Paper, 2018. 177 Alviar García (Fn. 175); Rodríguez Garavito (Fn. 127), 12–15; Vieira/Baxi/Viljoen (Fn. 33) 617 (620); Bilchitz (Fn. 28); Langa (Fn. 29).
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auch Einschränkungen vor, die teils als konstitutionelle Form des Widerstandes gegen die Exzesse einer globalisierten, neoliberalen Wirtschaft gedeutet werden.178 Diese Deutung indiziert, dass die materielle Ordnung kein abgegrenzter besonderer Teil, sondern eine Querschnittsdimension des Verfassungsrechts ist, die Rückwirkungen auf allgemeine Verfassungsfragen und -prinzipien hat. So werden ökonomische Verteilung und Chancengleichheit zu Fragen des Demokratieprinzips und politischer Gleichheit, soweit sich die Konzentration wirtschaftlicher Ressourcen in politische Dominanz übersetzt.179 Die Verwirklichung sozialer Grundrechte wird durch die Einbindung in deregulierte Weltmärkte, durch Strukturanpassungskonditionalitäten und durch die Konstitutionalisierung von Austeritätsprogrammen behindert.180 Das Bestreben, nationale Selbstbestimmung über globalisierte wirtschaftliche Prozesse zurück zu gewinnen, motiviert die Konzentration von Staatsgewalt in starken Exekutiven als Gegengewicht zu privatwirtschaftlicher Machtakkumulation.181 Dieses Motiv beeinflusst auch die janusköpfige Gestalt offener Staatlichkeit in Lateinamerika: Der menschenrechtlichen Öffnung steht eine skeptischere Haltung gegenüber wirtschaftlicher Integration gegenüber. Diese Skepsis knüpft an eine lateinamerikanische Rechtstradition an, die ökonomische Selbstbestimmung gerade im Angesicht wirtschaftlicher Dependenz kontrafaktisch betont.182 Die Querschnittsdimension der materiellen Verfassungsordnung, die in Lateinamerika besonders deutlich wird, birgt interessante Fragen für die transregionale Vergleichung mit dem europäischen und deutschen Recht. Wie unterscheiden sich die verfassungsrechtlichen Reaktionen auf globale wirtschaftliche Verflechtungen? Erklären sich Unterschiede mit der zentralen oder peripheren Position im globalen Wirtschaftssystem und in transnationalen Wertschöpfungsketten?183 Kann die EU bei 178 González-Jácome, International Journal of Constitutional Law 15 (2017), 447; Rodríguez Garavito (Fn. 127), 14; Nolte/Schilling-Vacaflor (Fn. 8), 23; Wolff, New Constitutions and the Transformation of Democracy in Bolivia and Ecuador, in: Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012, 183; Bowen, Journal of Latin American Studies 43 (2011), 451. 179 Vgl. Aldao/Clérico/Ronconi (Fn. 37). Eine besondere Rolle spielt insofern die Landfrage, die auch zahlreiche Reformversuche nicht befriedigend gelöst haben und in extraktiven Wirtschaftsmodellen besonderes Konfliktpotential birgt, vgl. Riofrancos, Perspectives on Politics 15 (2017), 678; Kamphuis, Revista de Direito Internacional 14 (2017), 165; D’Ávila Lopes/Mont’Alverne Barreto Lima, VRÜ 44 (2011), 364. 180 Couso, The „economic constitutions“ of Latin America: between free markets and socioeconomic rights, in: Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative constitutional law in Latin America, 2017, 343; Müller-Hoff, How Does the New Constitutionalism Respond to the Human Rights Challenges Posed by Transnational Corporations? in: Nolte/Schilling-Vacaflor (Hrsg.), New constitutionalism in Latin America, 2012, 333. Zu den transregionalen Verflechtungen Radhuber, Extractive Processes global production networks and inequalities, Desigualidades Working Paper 89, 2015, http://www.desigualdades. net/Resources/Working_Paper/WP-89-Radhuber-Online.pdf (zuletzt aufgerufen 1.12.2018). Zum Verhältnis von ICCAL zu den internationalen Finanzinstitutionen von Bogdandy/Ebert, El Banco Mundial frente als constitucionalismo transformador latinoaméricano: Panorama general y pasos concretos, MPIL Working Paper, 2018. Zu den jüngsten Fiskalverfassungsreformen in Brasilien Albert, Yale Journal of International Law 43 (2018), 1 (40–42). 181 Couso (Fn. 69), 143. 182 Esquirol (Fn. 91); Obregón, Leiden Journal of International Law 31 (2018), 597; Couso (Fn. 69); Garcia-Mora, Marquette Law Review 33 (1950), 205. 183 Ansätze zu einer wirtschaftsgeografischen Kontextualisierung bei Dowdle, On the regualtory geography of modern capitalism: Putting „rule of law“ in its place, Oxford Centre for Socio-Legal
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der Bewältigung der sog. Eurokrise von den Erfahrungen profitieren, die Lateinamerika seit den 1980er Jahren mit Strukturanpassungsprogrammen gemacht hat?184 Wie verändert sich unser Verständnis von Regionalintegration und globaler Ordnung, wenn man nicht die EU, sondern die differenzierte Integration in Lateinamerika als Folie heranzieht?185 Wie Verfassungen mit transregionalen und thematischen Wechselwirkungen von ökonomischem, politischem und rechtlichem System umgehen, ist jedenfalls eine Zukunftsfrage nicht nur für den transformativen Konstitutionalismus, sondern für die Verfassungsvergleichung insgesamt.
V. Schluss Die jüngere Verfassungsentwicklung Lateinamerikas zeichnet sich durch eine einzigartige Verbindung von transformativem Konstitutionalismus und offener Staatlichkeit aus, deren Bedeutung weit über die Region hinausgeht. Diese Bedeutung für die Verfassungsvergleichung erschlossen zu haben ist ein zentrales Verdienst des ICCAL-Ansatzes. Damit eröffnen sich in Lateinamerika neue, fruchtbare Felder für die transregionale Verfassungsvergleichung. Diese birgt allerdings auch methodische Herausforderungen. Deren Bewältigung erfordert eine Kombination von Vergleichsmethoden, die darauf abzielt, eine kontextsensible Dogmatik transformativer Verfassungsinstitute zu entwickeln und transregionale Verflechtungen und Interdependenzen zu identifizieren. Inhaltlich legt die Auseinandersetzung mit Lateinamerika ein Verständnis des transformativen Konstitutionalismus nahe, das über Grundrechte und Gerichte hinausgeht und der rechtlichen Strukturierung demokratischer und wirtschaftlicher Prozesse größere Aufmerksamkeit schenkt. Für die künftige transregionale Vergleichung mit Europa und Deutschland drängen sich lohnenswerte Forschungsfragen auf. Diese betreffen nicht nur mögliche transformative Elemente der europäischen und deutschen Verfassungsordnung, sondern auch das Schicksal offener Staatlichkeit in Zeiten populistischer Gegenbewegungen und neuer Nationalismen.186 Ein derart anspruchsvolles Forschungsprogramm hat auch forschungsorganisatorische Implikationen: Es lässt sich vom einzelnen Rechtsvergleicher nicht mehr im Alleingang bewältigen, sondern bedarf der nachhaltigen Kollaboration von Forschenden aus unterschiedlichen Rechtsordnungen und Disziplinen. Solche Kooperationen brauchen Zeit und einen Rahmen, der einen verstetigten Austausch auf Augenhöhe ermöglicht. Auch insofern weist das ICCAL-Projekt, das sich aus einem nunmehr zehnjährigen Austausch im Coloquio Iberoamericano speist, einen forschungsStudies Discussion Series, Februar 2018, verfügbar unter https://www.law.ox.ac.uk/sites/files/oxlaw/ dowdle_putting_rule_of_law_in_its_place.pdf (zuletzt abgerufen 1.12.2018). 184 Zu dieser Pespektive Sousa Santos, A new vision of Europe: Learning from the South, in: Bhambra/Narayan (Hrsg.), European cosmopolitanism, 2017, 173. Zu verfassungsrechtlichen Fragen von Austeritätsprogrammen McBride, Global Policy 7 (2016), 5; Krajewski/Hoffmann, KJ (2012), 2. 185 Vgl. Botto (Fn. 94); Hummer, VRÜ 43 (2010), 100. Zur Rezeption der Rechtsprechung des EuGH in Lateinamerika Alter/Helfer/Saldías, American Journal of Comparative Law 60 (2012), 629. 186 Allgemein zur Rolle der Vergleichung in diesem Kontext Woo, Hastings International and Comparative Law Review 41 (2018), 1.
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organisatorischen Weg für diese Form der Vergleichung.187 Der deutschen Rechtsvergleichung wächst zunehmend die globale Rolle zu, solche Austauschforen bereitzustellen.188 Damit einher geht die Aufgabe, mit den epistemischen Herausforderungen dieser Rolle produktiv und selbstreflexiv umzugehen.
187 Zu forschungsorganisatorischen und -politischen Aspekten solcher Kooperationen generell Pineda/Streitwieser, Research Partnership Over Neocolonialism: Max Planck Society Policy in Latin America, in: Gregorutti/Svenson (Hrsg.), North-South University Research Partnerships in Latin America and the Caribbean, 2018, 259. 188 Dass diese Form der „slow comparison“ auch außerhalb von Max-Planck-Instituten möglich ist, zeigt das Indian-European Advanced Research Network, vgl. Dann/Thiruvengadam (Hrsg.), Democratic Constitutionalism in Continental Polities: EU and India compared, 2019.
Die Politik der Bundesrichterberufung Aus dem Inneren des Richterwahlausschusses nach Art. 95 Abs. 2 GG von
Fabian Wesselmann, B.A. (Münster) Inhalt I. Abseits des Scheinwerferlichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 II. Zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Rechtsdogmatischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a) Zusammensetzung und Verfahren des Richterwahlausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 b) Entscheidungsspielraum der Bundesministerin bzw. des Bundesministers . . . . . . . . . . . . . . . 307 c) Entscheidungskriterien bei der Bundesrichterberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Politikwissenschaftlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 a) Office-, policy- und vote-seeking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 b) Koalitionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 3. Forschungsleitende Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) „Long-term working majority“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 b) Policy-seeking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 III. Methodischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 1. Leitfadeninterviews als Mittel der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2. Durchführung der Befragung in zwei Erhebungsrunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 IV. Ablauf der Bundesrichterberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Auf der Suche nach Kandidatinnen und Kandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 a) Vorschläge der Mitglieder kraft Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Vorschläge der Mitglieder kraft Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Vorschläge der Vorsitzenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 d) „Initiativbewerbungen“ und „Bewerbungsgespräche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2. Beteiligung des Präsidialrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 3. „A“ und „B“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 a) A- und B-Runde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Koordinierende als zentrale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 c) Keine Änderungen in Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4. Überschaubarer Lobbyismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5. Vollzug in der Sitzung des Richterwahlausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
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6. Gesicherte Zustimmung der Bundesministerin bzw. des Bundesministers . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 V. Entscheidungskriterien bei der Bundesrichterberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 1. Fachliche Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 a) Examensnoten, dienstliche Beurteilungen und wissenschaftliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . 329 b) Abordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 c) Beruflicher Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 d) Fachgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 e) Fachliche Qualifikation als grundlegendes Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2. Stellungnahmen der Präsidialräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 3. Regionale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 4. Parteimitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 5. Rechtspolitische Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 6. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 7. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 8. Soziale Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 9. Soziales Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 10. Erfolglose Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 11. Religiöse Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 VI. Charakteristika der Politik der Bundesrichterberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 1. Ewige Große Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Bündel an Entscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3. Zwischen Gewaltenteilung, Föderalismus und Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 VII. Reformen erforderlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 1. Akzeptanz der Bundesrichterschaft unter den Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 2. Kritik am Berufungsverfahren und Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 a) Wahl in öffentlicher Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 b) Gesetzliche Entscheidungskriterien und Begründung der Berufungsentscheidung . . . . . . . . . . 354 c) Stellenausschreibungen oder Interessenbekundungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 d) Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 e) Beteiligung der Anwalt- und Richterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3. Diskussionsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
I. Abseits des Scheinwerferlichts Es ist wahrlich kein Vorgang, der regelmäßig die Titelseiten der Tageszeitungen füllt oder als Aufmacher in den Abendnachrichten zu sehen ist: Die Berufung der Richterinnen und Richter der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes1 – des Bundesge1 Die Richterinnen und Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes im Sinne des Art. 95 Abs. 1 GG werden im Folgenden verkürzt als Bundesrichterinnen und Bundesrichter bezeichnet. Betrachtet wird nur die Berufung der Berufsrichter/innen der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes, für die Art. 95 Abs. 2 GG einschlägig ist. Außen vor bleibt daher die Berufung der Richter/innen des Bundesverfassungsgerichts, des Bundespatentgerichts und der Truppendienstgerichte sowie generell der ehrenamtlichen Richter/innen, für die Art. 95 Abs. 2 GG (und auch das Richterwahlgesetz) nicht gilt; siehe BVerfGE 26, 186 (201 ff.) – Ehrengerichte [1969]; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 95 Rn. 17; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG III, 3. Aufl. 2018, Art. 95 Rn. 24, 27; Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG II, 6. Aufl. 2012, Art. 95 Rn. 10; Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz. Richterwahlgesetz. Kommentar, 6. Aufl. 2009, RiWG, Vorbemerkung Rn. 1 f., § 1 Rn. 1, 3 f.; Scholz, Die Wahl der Bundesrichter, in: FG 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, 151 (151); Staats,
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richtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesarbeitsgerichts, des Bundessozialgerichts und des Bundesfinanzhofs – geschieht in aller Regel abseits des Scheinwerferlichts2 und steht im Gegensatz zu der Aufmerksamkeit, die den Entscheidungen der deutschen Bundesgerichte zuteilwird. Zuletzt erweckten die Jahre 2015 und 2016 zwar den Anschein, dass die Bundesrichterberufung aus ihrem Schattendasein heraustreten könnte: Denn der Deutsche Bundestag debattierte über das Berufungsverfahren,3 in der Justizministerkonferenz wurden Reformvorschläge diskutiert,4 die Verwaltungsgerichtsbarkeit entschied über Konkurrentenklagen5 und das Bundesverfassungsgericht hat erstmalig ausführlich Stellung bezogen.6 Mittlerweile ist aber klar: Dieses – auch schon in der Vergangenheit immer mal wieder7 – lodernde Flämmchen ist längst erloschen. in: Nomos-BR, Erläuterung zum Richterwahlgesetz, 2003, Einleitung Rn. 5 f.; a.A. hinsichtlich ehrenamtlicher Richter/innen der obersten Gerichtshöfe des Bundes: Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG III, 7. Aufl. 2018, Art. 95 Rn. 32; Jachmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG VI, 63. EL Oktober 2011, Art. 95 Rn. 126; Dietrich, Richterwahlausschüsse und demokratische Legitimation, 2007, 147 ff. 2 So betont auch Schübel, Chancengleichheit beim Zugang zu den obersten Bundesgerichten?, NJW 2014, 1355 (1355): „Die Bundesrichterwahlen gehen seit Jahrzehnten fast geräuschlos über die Bühne.“; vgl. Grigoleit/Siehr, Die Berufung der Bundesrichter: Quadratur des Kreises? – Zur Frage der Vereinbarkeit von Bestenauslese und Wahlgrundsätzen –, DÖV 2002, 455 (455). 3 Dazu BT-Plenarprotokoll 18/176, 17370 ff. zur BT-Drs. 18/7548; vgl. Ebertz, Die Berufung der Bundesrichter – leise Verdrängung des Grundsatzes der Bestenauslese? Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20.09.2016 (2 BvR 2453/15), RiA 2017, 197 (197). 4 Vgl. Ebertz (Fn. 3), 197; Rath, Reform der Bundesrichterwahlen. Die Black Box knacken, taz.de v. 1.6.2016, http://www.taz.de/!5305140/ [abgerufen am 25.9.2018]; 86. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder, Beschluss. TOP I.14 Reform der Bundesrichterwahl, http://www. jm.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2015/fruehjahrskonferenz_15/TOP-I_14---Reform-der-Bundes richterwahl-_oA_.pdf [abgerufen am 25.9.2018]; Gärditz, Reformbedarf bei der Bundesrichterwahl?, ZBR 2015, 325 (325). 5 Siehe nur OVG Lüneburg, 10.12.2015, 5 ME 199/15 = NVwZ 2016, 786 – Bundesrichterwahl; OVG Lüneburg, 5.2.2015, 5 ME 211/14 = DÖD 2015, 189 – Bundesrichterwahl; VG Lüneburg, 16.10.2015, 1 B 52/15 = BeckRS 2016, 53411 – Bundesrichterwahl; Ebertz (Fn. 3), 197; Gärditz (Fn. 4), 325; Hipp, Richter gegen Richter, Der Spiegel v. 13.6.2015, 53; Rath, Konkurrentenklagen und Richterwahlausschuss. Richter klagen gegen die Richterwahl, lto.de v. 5.3.2015, https://www.lto.de/ recht/hintergruende/h/richterwahlausschuss-gerichte-konkurrentenklagen-nehmen-zu/ [abgerufen am 25.9.2018]. 6 BVerfGE 143, 22 – Bundesrichterwahl [2016]; siehe BVerfG, Dreier-Ausschuss des Zweiten Senats, 7.7.1969, 2 BvR 453/68 = HFR 1969, 455 = DB 1969, 2015 – Mitwirkung Bundesfinanzminister Bundesrichterberufung und zu Richterwahlausschüssen auf Landesebene BVerfGE 24, 268 – Richterwahlausschuss Hamburg [1968], BVerfGE 87, 68 – Rechtsweg Richterwahlausschussentscheidungen [1992] sowie BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, 4.5.1998, 2 BvR 2555/96 = NJW 1998, 2590 – Übernahme DDR-Richter; vgl. Ebertz (Fn. 3), 197; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bestellung der Bundesrichter, JuS 2017, 89 (90). 7 Zu der Sitzung des Richterwahlausschusses im Jahr 2001 nur OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 – Bundesrichterwahl; Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, 331 ff.; Scholz (Fn. 1), 151 ff., 167 f.; Arndt, Richterauswahl für die Obersten Bundesgerichte, RuP 2002, 23 ff.; Classen, Wahl contra Leistung? – Zu Wahlbeamten und Richterwahlen, JZ 2002, 1009–1020; Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 455 ff.; Rasehorn, Um die „Bestenauslese“ bei der Richterwahl. Eine Erwiderung, RuP 2002, 29 ff.; Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 (369 ff.); Staats, Defizitäres Recht der deutschen Richterbeförderung, DRiZ 2002, 338 ff.; Bull, Das Dilemma der Richterwahl, Betrifft Justiz 2001, 208 ff.; Goll, Die Reform der Rich terwahl. Ein Schritt zu mehr Transparenz und weniger Parteipolitik bei der Auswahl der Richter und
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Das Grundgesetz sieht in Art. 95 Abs. 2 vor, dass über die Berufung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter der/die für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister/in gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss entscheidet, der aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministerinnen und Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die vom Bundestag gewählt werden. Letztlich sind es also Politikerinnen und Politiker, die über die Berufung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter entscheiden. Zu Recht betont Voßkuhle daher: „Die Berufung hoher Richter ist und bleibt eine eminent politische Entscheidung.“8 Eine solche politische Entscheidung wirft zwangsläufig die Frage auf, nach welchen Prämissen sie erfolgt und wie die Politik mit ihren potenziellen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Judikative umgeht.9 In diesem Sinne soll im Mittelpunkt dieses Beitrages die Politik der Bundesrichterberufung stehen. Während die rechtsdogmatischen Aspekte der Bundesrichterberufung in der Rechtswissenschaft ausführlich untersucht werden, sind die politikwissenschaftlichen und rechtssoziologischen Aspekte der Bundesrichterberufung weitgehend unerforscht: So mangelt es generell an empirischen Untersuchungen zur Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern10 – erfreuliche Ausnahmen der jüngeren Vergangenheit stellen die Analysen von Rehder11 hinsichtlich des Bundesarbeitsgerichts, von Spellbrink12 hinsichtlich des Bundessozialgerichts und von Bohlander und Latour13 hinsichtlich des Bundesgerichtshofs dar. Der Mangel an empirischen Untersuchungen lässt sich jedoch nicht mit einem fehlenden Bedarf erklären:14 Stattdessen wird häufig auf Behauptungen mal besser informierter Insiderinnen und Insider, mal schlechter informierter Autorinnen und Autoren zurückgegriffen15 oder es werden Richterinnen der obersten Gerichtshöfe des Bundes, RuP 2001, 121–126; Lovens, Verfassungswidrige Richterwahl?, ZRP 2001, 465 ff.; Kramer, Was ist ein „guter Richter“?, Betrifft Justiz 2001, 68 ff.; Mackenroth, Die Qual der Wahl, DRiZ 2001, 214; Rasehorn, Kooptation – Zum Selbstverständnis des BGH-Präsidialrats, Betrifft Justiz 2001, 71 ff. 8 Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 41; ebenso Faissner, Die Gerichtsverwaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Frankreich und Deutschland, 2018, 318; Minkner, Die Gerichtsverwaltung in Deutschland und Italien. Demokratische versus technische Legitimation, 2015, 256 f. 9 Näher Machura, Der Einfluss der Parteien auf die dritte Gewalt, in: Staat im Wandel. FS für Rüdiger Voigt zum 65. Geburtstag, 2006, 263 ff. 10 Siehe Faissner (Fn. 8), 316; Tschentscher (Fn. 7 ), 329; Spellbrink, Das Bundessozialgericht aus dem Blickwinkel der Rechtssoziologie – oder Wie wird man Bundesrichter?, in: FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, 875 (877 f.); vgl. auch Baldschun/Welti, Initiativen zur Sozialgerichtsforschung, Betrifft Justiz 2018, 77 ff. 11 Rehder, Rechtsprechung als Politik. Der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, 2011. 12 Spellbrink, Wie sehen Bundesrichter ihren Karriereprozess und das Wahlverfahren? – Ergebnisse einer Umfrage am Bundessozialgericht –, DRiZ 2005, 23 ff.; Spellbrink (Fn. 10), 875 ff. 13 Bohlander/Latour, Zum Einfluß der politischen Parteien auf die Ernennungen zum Bundesgerichtshof. Zusammenfassung der ersten Ergebnisse einer Befragung der Richterinnen und Richter am BGH, ZRP 1997, 437–439. 14 Vgl. nur Faissner (Fn. 8), 312 ff.; Minkner (Fn. 8), 254 ff.; Towfigh, Das Parteien-Paradox. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien, 2015, 133 ff.; Machura (Fn. 9), 271 ff.; Tschentscher (Fn. 7 ), 327 ff. 15 Besser informiert offenkundig Schübel (Fn. 2), 1355 ff.; Scholz (Fn. 1), 151 ff.; schlechter informiert hingegen wohl Vultejus, Parteizugehörigkeit der Bundesrichter, DRiZ 1995, 393, angesichts der Reaktionen von May, Parteizugehörigkeit der Bundesrichter. – Zu Vultejus, DRiZ 1995, 393 –, DRiZ 1995, 480–481, Göhner, Stellungnahme zu Vultejus, „Parteizugehörigkeit der Bundesrichter“, DRiZ 1996,
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selbst solche Behauptungen aufgestellt,16 was indes aus wissenschaftlicher Sicht kein zufriedenstellendes Vorgehen bedeuten kann. Offen sind daher bis heute beispielsweise die von den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses verwendeten Entscheidungskriterien bei der Bundesrichterberufung geblieben.17 Aber auch für die seit Jahren geführte Debatte über erforderliche Reformen bedürfte es sinnvollerweise einer fundierten empirischen Grundlage. In diesem Beitrag soll deshalb nun die Frage beantwortet werden, wie sich die Politik der Bundesrichterberufung – insbesondere im Hinblick auf die Abläufe, Mehrheitsfindung und Entscheidungskriterien – empirisch charakterisieren lässt. Angesichts des Mangels an empirischer Forschung zu dieser Frage erscheint ein explorativ-deskriptives Vorgehen zielführend: Zunächst werden hierzu der rechtsdogmatische und politikwissenschaftliche Rahmen (II.) sowie die methodische Vorgehensweise erläutert (III.), worauf die qualitative Auswertung einer 28 Interviews umfassenden Befragung der an der Bundesrichterberufung Beteiligten im Hinblick auf die Abläufe der Bundesrichterberufung (IV.) und die Entscheidungskriterien bei der Bundesrichterberufung (V.) folgt. Abschließend werden die zentralen Befunde zur Politik der Bundesrichterberufung diskutiert (VI.) und mögliche Reformen beleuchtet (VII.).
II. Zwischen Recht und Politik Zwischen Recht und Politik, zwischen Rechts- und Politikwissenschaft – die Bundesrichterberufung liegt an einer Schnittstelle, die eine Annäherung von zwei Seiten sinnvoll erscheinen lässt: der Rechtsdogmatik und der Politikwissenschaft.
1. Rechtsdogmatischer Rahmen Über die Berufung der Richterinnen und Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes – gem. Art. 95 Abs. 1 GG der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht – entscheiden gem. Art. 95 Abs. 2 GG und § 1 Abs. 1, Abs. 2 RiWG der/die für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister/in gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss.
21–22, Wagner, Parteizugehörigkeit der Bundesrichter. Zu Vultejus, DRiZ 1995, 393, DRiZ 1996, 39, Gmach, Parteizugehörigkeit der Bundesrichter. Zu Vultejus, DRiZ 1996, 39 (1995, 393), DRiZ 1996, 302–303, und Spellbrink (Fn. 10), 877 f., sowie Vultejus, Nochmals: Parteizugehörigkeit. Mein Beitrag in DRiZ 1995, 393, DRiZ 1996, 39–40, selbst. 16 Siehe zu dieser Kritik Spellbrink (Fn. 10), 877 f. 17 So Bowitz, Zur Bedeutung des Votums des Präsidialrats bei der Bundesrichterwahl, DÖV 2016, 638 (639); Schübel (Fn. 2), 1357; vgl. ferner Faissner (Fn. 8), 316; Minkner (Fn. 8), 255 f.; Tschentscher (Fn. 7 ), 329.
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a) Zusammensetzung und Verfahren des Richterwahlausschusses Der Richterwahlausschuss ist als „selbständiges Gremium außerhalb des Parlaments“18 vom Grundgesetz unmittelbar vorgesehen und kann nicht Bundestag oder Bundesrat zugeordnet werden.19 Er besteht, so bestimmen es Art. 95 Abs. 2 GG und § 2, § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 RiWG, aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministerinnen und Ministern der Länder (Mitglieder kraft Amt) und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die vom Bundestag gewählt werden (Mitglieder kraft Wahl).20 Den Vorsitz im Richterwahlausschuss führt gem. § 9 Abs. 1 S. 1 RiWG der/ die jeweils zuständige Bundesminister/in, der/die selbst allerdings kein Stimmrecht hat, § 9 Abs. 1 S. 2 RiWG. Der/die für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister/in und die für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Landesministerinnen und -minister sind diejenigen Ministerinnen und Minister, denen die Geschäftsverteilung der jeweiligen Regierung die jeweilige Gerichtsbarkeit zuweist.21 Folglich hat der Richterwahlausschuss je nach Bundesgericht wechselnde Mitglieder und Vorsitzende.22 Zuständig ist auf Bundesebene für den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht und den Bundesfinanzhof die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz sowie für das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht der Bundesminister für Arbeit und Soziales.23 Auf Landesebene sind zwar in der Regel nur die Landesjustizministerinnen und -minister als Rechtspflegeministerien zuständig, vereinzelt liegt die Zuständigkeit für einzelne Gerichtsbarkeiten aber nicht beim Justizministerium.24 Die Zahl von 16 Mitgliedern kraft Wahl bedeutet ferner, dass zumeist jede Bundestagsfraktion mindestens einen Sitz im Richterwahlausschuss erhält.25 Einberufen wird der Richterwahlausschuss gem. § 8 Abs. 1 RiWG von der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz. Gem. § 10 Abs. 1 S. 1 RiWG können der/die zuständige Bundesminister/in und alle Mitglieder des Richter Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 4. Zutreffend Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 4, § 2 Rn. 1; vgl. Scholz (Fn. 1),
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Häufig ist auch von „geborenen und gekorenen Mitgliedern“ die Rede; so etwa Schübel (Fn. 2), 1356. 21 Siehe für die Landesminister/innen § 3 Abs. 1 RiWG; im Übrigen insgesamt hierzu Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 25 f.; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 33 f.; Schübel (Fn. 2), 1356; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 128, 130; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 1 Rn. 9 ff., § 3 Rn. 1; Staats (Fn. 1), § 1 Rn. 5 f., § 3 Rn. 1. 22 Dazu Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 25 f.; Fuchs, Verfassungsmäßigkeit und Umsetzbarkeit von Modellen für eine selbstverwaltete Justiz in Deutschland, 2013, 33 f.; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 2 Rn. 1; Dietrich (Fn. 1), 137; Scholz (Fn. 1), 158. 23 Vgl. § 125 Abs. 1 GVG; § 42 Abs. 1 S. 2 ArbGG; § 38 Abs. 2 S. 4 SGG; siehe Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 25; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 33 Fn. 11; Wolff, in: Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 95 Rn. 5; Schübel (Fn. 2), 1356; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 1 Rn. 10. 24 Das Extrembeispiel stellt Bayern mit insgesamt vier zuständigen Landesministerinnen und -ministern für die fünf Gerichtsbarkeiten dar; hierzu Fuchs (Fn. 22), 194 Fn. 700; Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, 305 f. 25 Der 19. Deutsche Bundestag hat sechs Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, vier Abgeordnete der SPD-Fraktion, jeweils zwei Abgeordnete der Af D- und der FDP-Fraktion sowie jeweils eine/n Abgeordnete/n von Linke und Grünen in den Richterwahlausschuss gewählt; hierzu BT-Plenarprotokoll 19/23, 2062, 2071 f.; BT-Drs. 19/1312; 19/1313; 19/1314; 19/1315; 19/1316; 19/1317. 20
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wahlausschusses Vorschläge für als Bundesrichter/in zu berufende Personen machen. Der Richterwahlausschuss prüft dann, ob die für ein Richteramt Vorgeschlagenen die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt besitzen, § 11 RiWG, und entscheidet mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, § 12 Abs. 1 RiWG. Wenn der/die zuständige Bundesminister/in der Entscheidung zustimmt, hat er/sie gem. § 13 RiWG die Ernennung der Gewählten beim Bundespräsidenten zu beantragen, der die Bundesrichterinnen und -richter gem. Art. 60 Abs. 1 GG und § 1 Abs. 1 RiWG ernennt.26 Das Richterwahlgesetz sieht einen Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verfahren vor: So sind die Sitzungen des Richterwahlausschusses gem. § 9 Abs. 2 RiWG nicht öffentlich und die Entscheidung über die zu berufenden Richterinnen und Richter fällt in geheimer Abstimmung, § 12 Abs. 1 RiWG.27 Nicht zuletzt sind gem. § 6 Abs. 2 S. 1 RiWG die Mitglieder des Richterwahlausschusses zur Verschwiegenheit verpflichtet.28
b) Entscheidungsspielraum der Bundesministerin bzw. des Bundesministers Art. 95 Abs. 2 GG und § 1 Abs. 1 RiWG sehen eine gemeinsame Berufung durch den Richterwahlausschuss und den/die zuständige/n Bundesminister/in vor, sodass gem. § 13 RiWG der/die zuständige Bundesminister/in die Ernennung der vom Richterwahlausschuss Gewählten beim Bundespräsidenten nur zu beantragen hat, wenn er/sie der Wahl des Richterwahlausschusses zustimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Spielraum des zuständigen Bundesministers bzw. der zuständigen Bundesministerin bei dieser Entscheidung jüngst stark eingeschränkt. Obwohl es von „einem faktischen Einigungszwang zwischen dem zuständigen Bundesminister und dem Richterwahlausschuss“29 ausgeht, „hat [der Minister] sich […] bei seiner Entscheidung den Ausgang der Wahl grundsätzlich zu eigen zu machen, es sei denn, die formellen Ernennungsvoraussetzungen sind nicht gegeben, die verfahrensrechtlichen Vorgaben sind nicht eingehalten oder das Ergebnis erscheint nach Abwägung aller Umstände und insbesondere vor dem Hintergrund der Wertungen des Art. 33 Abs. 2 GG nicht mehr nachvollziehbar.“30 Als Argument führt das Bundesverfassungsgericht an, dass andernfalls die Institution des Richterwahlausschusses konterkariert und letztlich doch die Exekutive entscheiden würde.31 Diese Rechtsprechung kann nicht vollständig überzeugen: Der Wortlaut des Art. 95 Abs. 2 GG enthält keinerlei Anhaltspunkte für ein Unterordnungsverhältnis der zuständigen Bundesministerin bzw. des zuständigen Bundesministers im Hinblick auf den Richterwahlausschuss, sondern geht von einem Gleichordnungsver26 Dazu v. Bernstorff, Die Gerichtsverwaltung in Deutschland und England, 2018, 147 f.; Detterbeck (Fn. 1), Art. 95 Rn. 16; Faissner (Fn. 8), 312; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 32; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 4 0; Ebertz (Fn. 3), 198; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 141 ff.; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 13 Rn. 3 f.; Wittreck (Fn. 24), 307; Scholz (Fn. 1), 167 f.; Goll (Fn. 7 ), 121. 27 Siehe Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 9 Rn. 4, § 12 Rn. 1 f. 28 Hierzu Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 6 Rn. 3 ff. 29 BVerfGE 143, 22 (33) – Bundesrichterwahl [2016]; ebenso Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 37 f. 30 BVerfGE 143, 22 (34) – Bundesrichterwahl [2016]; ebenso Detterbeck (Fn. 1), Art. 95 Rn. 14; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 38; vgl. auch Scholz (Fn. 1), 166 f.; Arndt (Fn. 7 ), 26. 31 So BVerfGE 143, 22 (34) – Bundesrichterwahl [2016].
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hältnis aus32 – auch wenn verfassungspolitisch etwas anderes wünschenswert wäre. Nichts anderes ergibt sich ferner aus der Entstehungsgeschichte.33 Daher hätte das Bundesverfassungsgericht dem/der zuständigen Bundesminister/in den gleichen Entscheidungsspielraum wie dem Richterwahlausschuss bei der Frage zugestehen sollen, ob er/sie der Berufung der vom Richterwahlausschuss Gewählten zustimmt.34 Dann wäre für eine erfolgreiche Berufung in der Tat „ein faktischer Einigungszwang“35 zwischen Richterwahlausschuss und Bundesminister/in festzuhalten – der/die Bundesminister/in hätte ein wahrhaftiges Vetorecht.36 Dadurch würde der Richterwahlausschuss auch nicht überflüssig,37 denn der/die zuständige Bundesminister/in wäre ebenso auf die Zustimmung des Richterwahlausschusses für seine/ ihre Kandidatinnen und Kandidaten angewiesen wie der Richterwahlausschuss auf die Zustimmung der Bundesministerin bzw. des Bundesministers.38 Beide könnten alleine keine eigenen Personalvorschläge durchsetzen.39 Dennoch ist zu begrüßen, dass durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts immerhin Klarheit über die – nun marginalisierte – Rolle der Bundesministerin bzw. des Bundesministers geschaffen wurde.40
Dazu OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 (3496 f.) – Bundesrichterwahl; VG Schleswig, 17.6.2002, 11 B 10/02 = NJW 2002, 2657 (2660) – Bundesrichterwahl; Ebertz (Fn. 3), 203 f.; Wagner, Das Prinzip der Bestenauslese im öffentlichen Dienst. Art. 33 II GG: Eine Untersuchung der materiell- und verfahrensrechtlichen Eigenheiten besonders gelagerter Anwendungsfälle, 2009, 112 f.; Staats (Fn. 1), § 12 Rn. 8; Lovens (Fn. 7 ), 466. 33 Zutreffend Ebertz (Fn. 3), 204. 34 Siehe OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 (3496 f.) – Bundesrichterwahl; VG Schleswig, 17.6.2002, 11 B 10/02 = NJW 2002, 2657 (2660) – Bundesrichterwahl; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 28; Ebertz (Fn. 3), 203 ff.; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 1 Rn. 7 f., § 13 Rn. 1 f.; Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 460. 35 Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 132; siehe Eckertz-Höfer, Die Stärkung des Leistungsgrundsatzes bei der Bundesrichterwahl, RuP 2017, 99 (100); Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 10. 36 Hierzu Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 37; Ebertz (Fn. 3), 205; Gärditz (Fn. 4), 333; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 132; Wittreck (Fn. 24), 308. 37 Vgl. jedoch BVerfGE 143, 22 (34) – Bundesrichterwahl [2016]. 38 Ebenso Ebertz (Fn. 3), 204 f.; vgl. ferner OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 (3496 f.) – Bundesrichterwahl; Wittreck (Fn. 24), 308. 39 Dazu OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 (3496 f.) – Bundesrichterwahl; Tschentscher (Fn. 7 ), 334; Wittreck (Fn. 24), 308. Darüber hinaus wird für eine freie Entscheidung der Bundesministerin bzw. des Bundesministers argumentiert, dass „[die] Entscheidung über die Ernennung […] einem dem Parlament gegenüber verantwortlichen Staatsorgan vorbehalten bleiben [muss]“; so Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 1 Rn. 8, unter Verweis auf BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, 4.5.1998, 2 BvR 2555/96 = NJW 1998, 2590 – Übernahme DDR-Richter; ebenso Ebertz (Fn. 3), 204; siehe auch Gärditz (Fn. 4), 326. 40 Gem. § 15 Abs. 2 lit. c GOBReg unterbreitet der/die zuständige Bundesminister/in seine/ihre Vorschläge für die Zustimmung im Übrigen der Bundesregierung zur Beratung ohne Beschlussfassung; dazu OVG Lüneburg, 10.12.2015, 5 ME 199/15 = NVwZ 2016, 786 (789) – Bundesrichterwahl; Wieland, Verfassungsfragen der Bundesrichterwahl, in: FS für Christian Kirchberg zum 70. Geburtstag am 5. September 2017, 2017, 213 (217); Wagner (Fn. 32), 114. 32
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c) Entscheidungskriterien bei der Bundesrichterberufung Die einfachgesetzlichen, inhaltlichen Vorgaben für die Auswahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter sind überschaubar:41 Gem. § 11 RiWG prüft der Richterwahlausschuss, ob die/der für ein Richteramt Vorgeschlagene die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt. Zu beachten sind dabei etwa die §§ 9, 10 DRiG.42 Nicht zuletzt müssen die Bundesrichterinnen und Bundesrichter mindestens 35 Jahre alt sein.43 Eine größere Relevanz kommt vor diesem Hintergrund den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG sowie der Art. 36 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zu. Umstritten ist dabei, wie sich das Verhältnis von Art. 33 Abs. 2 GG und Art. 95 Abs. 2 GG darstellt: Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass Art. 95 Abs. 2 GG den Grundsatz der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG nicht verdrängt, aber modifiziert.44 Auf die gemeinsame Bundesrichterberufung von Richterwahlausschuss und zuständigem/zuständiger Bundesminister/in sei Art. 33 Abs. 2 GG zwar grundsätzlich anzuwenden,45 jedoch „[erfordern] Wechselbezogenheit der Entscheidungen beider Akteure […] und Wahlelement […] eine Modifikation“.46 Der Gedanke des Art. 33 Abs. 2 GG, dass nur eine Entscheidung richtig sein könne, sei in dieser Form nicht mit der Wahl von Kandidatinnen und Kandidaten durch den Richterwahlausschuss vereinbar.47 Der Richterwahlausschuss „[müsse] sich […] von Art. 33 Abs. 2 GG leiten lassen“48 – hingegen entfalte Art. 33 Abs. 2 GG für den/die zuständige/n Bundesminister/in Bindungswirkung,49 was bereits der Richterwahlausschuss bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen habe.50 In prozeduraler Hinsicht erfordere Art. 33 Abs. 2 GG zum einen, dass dem Richterwahlausschuss alle für die Beurteilung notwendigen Unterlagen zur Verfügung stünden.51 Zum anderen müsse der/die Bundesminister/in die Verweigerung der Zustimmung zu einer/einem vom Richterwahlausschuss Gewählten sowie die Zustimmung zu ei41 Über eine eigene Geschäftsordnung verfügt der Richterwahlausschuss auch nicht; so Scholz (Fn. 1), 158 f.; Staats (Fn. 1), Einleitung Rn. 9, § 9 Rn. 4; Lovens (Fn. 7 ), 466. 42 Zutreffend BVerfGE 143, 22 (33) – Bundesrichterwahl [2016]; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 11 Rn. 3, 6. 43 § 125 Abs. 2 GVG; § 15 Abs. 3 VwGO; § 42 Abs. 2 ArbGG; § 38 Abs. 2 S. 2 SGG; § 14 Abs. 2 FGO; dazu BVerfGE 143, 22 (33) – Bundesrichterwahl [2016]; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 11 Rn. 5. 44 Diese Auffassung bei BVerfGE 143, 22 (29 ff.) – Bundesrichterwahl [2016]; Detterbeck (Fn. 1), Art. 95 Rn. 14; Gärditz, Richterwahl im Vergleich: Polen und Deutschland, DRiZ 2018, 20 (21); Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 38; ähnlich auch bereits Gärditz (Fn. 4), 326 ff.; Lovens (Fn. 7 ), 467. Vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde hingegen überwiegend vertreten, dass Art. 95 Abs. 2 GG den Art. 33 Abs. 2 GG „weder verdrängt noch modifiziert“: dazu Ebertz (Fn. 3), 199 f.; Bowitz (Fn. 17), 641; Minkner (Fn. 8), 255 Fn. 1401; Goll (Fn. 7 ), 121; weiterhin dieser Auffassung: v. Bernstorff (Fn. 26), 147; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 29. 45 So BVerfGE 143, 22 (29 f.) – Bundesrichterwahl [2016]. 46 BVerfGE 143, 22 (32) – Bundesrichterwahl [2016]. 47 Siehe BVerfGE 143, 22 (33) – Bundesrichterwahl [2016]; hierzu auch Gärditz (Fn. 4), 327 f. 48 BVerfGE 143, 22 (33) – Bundesrichterwahl [2016]; siehe Wieland (Fn. 4 0), 223; Gärditz (Fn. 4), 326 f. 49 So BVerfGE 143, 22 (33 ff.) – Bundesrichterwahl [2016]; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 38. 50 Dazu BVerfGE 143, 22 (33 f.) – Bundesrichterwahl [2016]; Gärditz (Fn. 4 4), 21; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 38. 51 Hierzu BVerfGE 143, 22 (35) – Bundesrichterwahl [2016]; vgl. auch Lovens (Fn. 7 ), 467.
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nem/einer nach den Beurteilungen (etwa des Präsidialrates) als Bundesrichter/in ungeeigneten Gewählten begründen – keinerlei Begründungspflichten träfen hingegen den Richterwahlausschuss.52 Zustimmung verdient die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, dass Art. 95 Abs. 2 GG den Grundsatz der Bestenauslese aus Art. 33 Abs. 2 GG zwar nicht verdrängt, jedoch modifiziert. Auch die vom Bundesverfassungsgericht vorgesehenen prozeduralen Anforderungen können überzeugen. Zweifelhaft erscheint es jedoch, im Hinblick auf Art. 33 Abs. 2 GG unterschiedliche Maßstäbe für die Beteiligten, also den Richterwahlausschuss und den/die zuständige/n Bundesminister/in, anzulegen.53 Die Konsequenz wäre normalerweise die Gefahr einer Blockade, weil der/ die an Art. 33 Abs. 2 GG gebundene Bundesminister/in möglicherweise bestimmten Gewählten nicht zustimmen dürfte und gleichzeitig keinerlei Spielraum für eine Einigung mit dem Richterwahlausschuss hätte.54 Das Bundesverfassungsgericht löst diesen Konflikt durch eine Marginalisierung der Bundesministerin bzw. des Bundesministers,55 die deren/dessen Bindung an Art. 33 Abs. 2 GG56 nicht in prozeduraler, aber in inhaltlicher Hinsicht de facto wieder aufweicht. Es wäre möglicherweise einfacher und zielführender gewesen, zwar eine Bindung des Richterwahlausschusses und der Bundesministerin bzw. des Bundesministers an Art. 33 Abs. 2 GG anzunehmen und gleichzeitig die Modifikation dieser Bindung durch Art. 95 Abs. 2 GG dergestalt vorzusehen, dass sowohl der Richterwahlausschuss als auch der/die Bundesminister/in über einen im Vergleich zu sonstigen Personalentscheidungen der Exekutive deutlich größeren Entscheidungsspielraum verfügen.57 Strittig ist ferner, ob auch Art. 36 Abs. 1 S. 1 GG, wonach bei den obersten Bundesbehörden Beamtinnen und Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden sind, für die Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern heranzuziehen ist. Teilweise wird das abgelehnt,58 weil die Spruchkörper der Bundesgerichte keine Behörden seien59 und „den Länderinteressen […] bereits durch die Beteiligung von Landesministern […] hinreichend Rechnung getragen wird“.60 Andere plädieren für eine „[direkte] oder [analoge] Anwendung von Art. 36 GG“61 So BVerfGE 143, 22 (35 ff.) – Bundesrichterwahl [2016]; siehe auch BVerfGE 24, 268 (276 f.) – Richterwahlausschuss Hamburg [1968]; Lovens (Fn. 7 ), 467. 53 Siehe Staats (Fn. 1), § 11 Rn. 13; Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 459. 54 Dazu Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 459, sowie BVerfGE 143, 22 (34) – Bundesrichterwahl [2016]. 55 Siehe BVerfGE 143, 22 (33 ff.) – Bundesrichterwahl [2016]. 56 Hierzu BVerfGE 143, 22 (33) – Bundesrichterwahl [2016]. 57 Näher VG Schleswig, 17.6.2002, 11 B 10/02 = NJW 2002, 2657 (2659 f.) – Bundesrichterwahl; vgl. Ebertz (Fn. 3), 201 ff.; Wieland (Fn. 4 0), 223. 58 Diese Auffassung etwa bei Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG II, 3. Aufl. 2015, Art. 36 Rn. 11 f.; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 133; kritisch auch Mackenroth (Fn. 7 ), 214. 59 Hierzu Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 133, „da sie jedenfalls nicht Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen (funktioneller Behördenbegriff ), sondern Recht sprechen“; ebenso Nordmann, Modernisierung der Bundesrichterwahl mit Frauenquote, ZRP 2012, 139 (140). 60 Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 133; ebenso Nordmann (Fn. 59), 140. 61 Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 29. Diese Auffassung auch bei v. Bernstorff (Fn. 26), 147; Faissner (Fn. 8), 313 f.; Graefen, Probleme der Richterwahl, in: v. Arnim (Hrsg.), Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie. Beiträge auf der 14. Speyerer Demokratietagung vom 6. bis 7. Dezember 2012 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, 2014, 125 (127, 131); Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 11; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, §12 Rn. 9; Spellbrink (Fn. 12), 27; Spellbrink (Fn. 10), 894; 52
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als Hilfskriterium bei der Bundesrichterberufung: Eine angemessene Berücksichtigung der Herkunft der Bundesrichterinnen und Bundesrichter kann jedenfalls sicherstellen, dass die Erfahrungen aus und mit der Rechtsprechung in den Bundesländern Eingang in die obersten Gerichtshöfe des Bundes finden.62 Ferner können ebenfalls hilfsweise im Falle einer gleichen Eignung gem. Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG das Geschlecht63 oder gem. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG eine Behinderung 64 als Kriterien herangezogen werden. Ein Rechtsschutz kann im Übrigen nur gegen die Entscheidung der zuständigen Bundesministerin bzw. des zuständigen Bundesministers erreicht werden, wodurch allenfalls eine inzidente Kontrolle der Wahl des Richterwahlausschusses möglich wird – in der Praxis besteht allerdings kaum Aussicht auf Erfolg.65
2. Politikwissenschaftlicher Rahmen Die Politikwissenschaft hat verschiedene Ansätze entwickelt, wie sich das politische Handeln von Parteien erklären lässt, die als Grundlage für einige Vorüberlegungen dienen sollen.
a) Office-, policy- und vote-seeking Eine klassische Unterscheidung der Motivation von Parteien stellt das sogenannte office-, policy- und vote-seeking dar: Als vote-seeking lässt sich das vordringliche Ziel der Maximierung des Stimmenanteils bei der nächsten Wahl bzw. der „Maximierung der parlamentarischen Repräsentation“66 beschreiben, denn „[politicians] […] are motivated by the desire for power, prestige, and income“ und „their primary objective is to be elected.“67 Dagegen ist unter office-seeking die „Maximierung der Staats (Fn. 1), Einleitung Rn. 10, § 11 Rn. 5; besonders großzügig Scholz (Fn. 1), 160 ff., der jedoch zu weit geht, wenn er annimmt, dass „die Regelung des Art. 36 Abs. 1 Satz 1 GG […] durchaus geeignet ist, im Einzelfall auch andere Maßstäbe als die des Art. 33 Abs. 2 GG wirksam werden zu lassen“; so Scholz (Fn. 1), 161. Siehe ferner VG Schleswig, 17.6.2002, 11 B 10/02 = NJW 2002, 2657 (2659) – Bundesrichterwahl; Gärditz (Fn. 4), 328; Wittreck (Fn. 24), 308. 62 Vgl. dazu nur Bauer (Fn. 58), Art. 36 Rn. 8; Hense, in: BeckOK, GG, 38. Ed. 15.8.2018, Art. 36 Rn. 1. 63 Zutreffend v. Bernstorff (Fn. 26), 147; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 29; Gärditz (Fn. 4), 328; Schübel (Fn. 2), 1356 f.; Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 11; Nordmann (Fn. 59), 140; vgl. BVerfGE 143, 22 (38) – Bundesrichterwahl [2016]; Eckertz-Höfer (Fn. 35), 101; Schübel, Frauen in die Roten Roben – was bleibt, djbZ 2017, 138 (139 f.); a.A. Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 133; kritisch auch Mackenroth (Fn. 7 ), 214. 64 So v. Bernstorff (Fn. 26), 147; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 29; Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 11; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 133. 65 Dazu nur BVerfGE 143, 22 (33, 35 f.) – Bundesrichterwahl [2016]; Morgenthaler, in: BeckOK, GG, 38. Ed. 15.8.2018, Art. 95 Rn. 11; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 31; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 39; Ebertz (Fn. 3), 207; Steiner, Der dienstrechtliche Konkurrentenstreit im Fokus des Bundesverfassungsgerichts, BayVBl. 2017, 505 (509); Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 20.9.2016 – 2 BvR 2453/15, NJW 2016, 3429. 66 Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, 2000, 226. 67 Downs, An Economic Theory of Democracy, 1957, 30; siehe Buzogány/Kropp, Koalitionen von Parteien, in: Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, 2013, 261 (264); Müller, Warum Gro-
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Chance, Regierungsämter einzunehmen oder zu behalten“,68 zu verstehen. Eine Partei mit der Motivation policy-seeking indes „seeks to maximize its impact on public policy“,69 sodass es ihr um die „Maximierung einer bestimmten Politik-Option“70 geht. Da es wenig Erfolg verspricht, den politischen Akteur „Partei“ generell als entweder vote-, office- oder policy-seeker zu charakterisieren, bedarf es einer alle drei Ansätze vereinenden Betrachtung, die Offenheit für Differenzierungen zeigt.71 Insofern soll in diesem Beitrag analysiert werden, ob und wie sich in einem bestimmten Politikfeld – nämlich der Bundesrichterberufung – die Zielsetzungen des vote-, office- oder policy-seeking zeigen. Dazu müssen allerdings ihre Definitionen angepasst werden: Vote-seeking soll im Rahmen der Bundesrichterberufung die Entscheidungskriterien der Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses beschreiben, die darauf abzielen, die Wahlergebnisse der eigenen Partei zu maximieren. Office-seeking charakterisiert dann Kriterien, die darauf abzielen, Richterposten mit Mitgliedern der eigenen Partei zu besetzen und policy-seeking soll Kriterien beschreiben, die darauf abzielen, Richterposten mit Personen, die ähnliche rechtspolitische Überzeugungen haben, zu besetzen.
b) Koalitionstheorie Basierend auf den Konzepten des vote-, office- und policy-seeking ergeben sich gängige Koalitionstheorien, wobei zunächst auf einige dem office-seeking zuzuordnende Koalitionsvorhersagen eingegangen werden soll: „Minimal winning“ bedeutet, dass eine Koalition zustande kommt, die eine Mehrheit auf sich vereinigt und in der jedes ihrer Mitglieder für diese Mehrheit benötigt wird.72 Unter „minimum winning“-Koalitionen sind Koalitionen aus Parteien zu verstehen, die eine Mehrheit und gleichzeitig die dafür notwendige kleinstmögliche Summe an Sitzen im Parlament inne haben.73 Bei „minimum number of parties“-Koalitionen handelt es sich dagegen um Mehrheitskoalitionen mit der kleinstmöglichen Summe an Parteien.74 Ausgehend von der ße Koalitionen? Antworten aus koalitionstheoretischer Sicht, ZSE 2008, 499 (504); Kropp/Schüttemeyer/ Sturm, Koalitionen in West- und Osteuropa. Theoretische Überlegungen und Systematisierung des Vergleichs, in: diess. (Hrsg.), Koalitionen in West- und Osteuropa, 2002, 7 (13); Nullmeier (Fn. 66), 226; Strøm/Müller, Political Parties and Hard Choices, in: Müller/Strøm (Hrsg.), Policy, Office, or Votes? How Political Parties in Western Europe Make Hard Decisions, 1999, 1 (8 f.). 68 Nullmeier (Fn. 66), 226; dazu Buzogány/Kropp (Fn. 67), 262 f.; Müller (Fn. 67), 504; Kropp/Schüttemeyer/Sturm (Fn. 67), 9; Strøm/Müller (Fn. 67), 5 f. 69 Strøm/Müller (Fn. 67), 7. 70 Nullmeier (Fn. 66), 226; hierzu Buzogány/Kropp (Fn. 67), 263; Müller (Fn. 67), 504; Kropp/Schüttemeyer/Sturm (Fn. 67), 10. 71 Zutreffend Nullmeier (Fn. 66), 226 f. Beispielhaft sei nur auf Strøm, A Behavioral Theory of Competitive Political Parties, AJPS 1990, 565–598, und Strøm/Müller (Fn. 67), 1 ff., hingewiesen. 72 Siehe Buzogány/Kropp (Fn. 67), 262 f.; Müller (Fn. 67), 502; Müller, Koalitionstheorien, in: Helms/ Jun (Hrsg.), Politische Theorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionenforschung, 2004, 267 (269); Kropp/Schüttemeyer/Sturm (Fn. 67), 12 f. 73 Dazu Buzogány/Kropp (Fn. 67), 263; Müller (Fn. 67), 503; Müller (Fn. 72), 269 f.; Kropp/Schüttemeyer/Sturm (Fn. 67), 12 f. 74 Hierzu Buzogány/Kropp (Fn. 67), 263; Müller (Fn. 67), 502 f.; Müller (Fn. 72), 270.
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These des policy-seeking sind etwa die Theorien des „ordinal minimal range“ und „interval minimal range“ zu nennen, die unterschiedlich exakt die Bildung einer Koalition aus den Parteien, die eine Mehrheit auf sich vereinen und deren „ideologische Bandbreite“75 alle anderen möglichen Mehrheitskoalitionen nicht überschreitet, prognostizieren.76 Eine „minimal connected winning“-Koalition ist so zu definieren, dass „sie aus benachbarten Parteien besteht und keinen größeren ‚policy‘-Bereich hat als jede andere verbundene Mehrheitskoalition.“77 Auf den Einfluss des vote-seeking auf Koalitionserwägungen sei nur insoweit eingegangen, als dass es beispielsweise Minderheitsregierungen erklären kann.78 Ein aus einem pragmatischen Blickwinkel überzeugender Ansatzpunkt ist die Überlegung, dass die Parteien bei der Bildung von Mehrheitskoalitionen aufgrund von Informationsdefiziten jedenfalls eine „working majority“, also „Koalitionen mit arbeitsfähiger Mehrheit“,79 anstreben und deshalb andere als ursprünglich vorhergesagte Koalitionskonstellationen wählen.80 Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Bildung von neuen Koalitionen stets aufwendig ist und aufgrund dieser „Transaktionskosten“81 auf der einen Seite eine Fortführung der bestehenden Koalition im Einzelfall attraktiver als die Aushandlung eines neuen Bündnisses erscheinen mag – ebenso können aber auf der anderen Seite auch Konflikte in einer Koalition gerade Transaktionskosten erzeugen, die für ein neues Bündnis streiten.82
3. Forschungsleitende Annahmen Aufgrund des explorativ-deskriptiven Charakters der Untersuchung sollen keine (gar quantifizierbaren) Hypothesen, sondern nur forschungsleitende Annahmen formuliert werden, die die explorativ-deskriptive Vorgehensweise begleiten, aber nicht beschränken.
a) „Long-term working majority“ Im Hinblick auf die Mehrheitsfindung bei der Bundesrichterberufung fällt die besonders komplizierte Zusammensetzung des Richterwahlausschusses auf: Nicht nur, dass es zu jedem Zeitpunkt wechselnde Vorsitzende und Mitglieder kraft Amt gibt – vielmehr werden auch im Laufe einer Legislaturperiode auf Bundesebene die Mitglieder kraft Amt und ihre Parteibindung durch die unterschiedlich terminierten Landtagswahlen teilweise ausgetauscht. In Kombination mit den Mitgliedern kraft Müller (Fn. 72), 274. Siehe Müller (Fn. 72), 274 f.; de Swaan, Coalition Theories and Cabinet Formations. A study of formal theories of coalition formation applied to nine European parliaments after 1918, 1973. 77 Müller (Fn. 72), 275; vgl. Müller (Fn. 67), 506. 78 Dazu Buzogány/Kropp (Fn. 67), 265; Kropp/Schüttemeyer/Sturm (Fn. 67), 13. 79 Müller (Fn. 67), 509. 80 Hierzu m.w.N. Müller (Fn. 67), 509; Müller (Fn. 72), 271. 81 Müller (Fn. 67), 520. 82 Siehe nur Müller (Fn. 67), 520 f.; Müller (Fn. 72), 272. 75 76
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Wahl entsprechend der Fraktionsgrößen im Bundestag ergibt sich so eine Konstellation, in der die Zusammensetzung kaum über mehrere Jahre hinweg absehbar ist. Nicht zuletzt entscheidet der Richterwahlausschuss gem. § 12 Abs. 1 RiWG in geheimer Abstimmung, sodass Abweichler nicht identifiziert werden können. Vor diesem Hintergrund schiebt sich die Frage nach einer Koalition mit einer „working majority“ in den Vordergrund: Die Vermutung, dass diese Suche nach einer „working majority“ im Richterwahlausschuss auf eine Große Koalition zwischen CDU/ CSU und SPD hinauslaufen wird, liegt nahe. Zwar dürften die Transaktionskosten in einer Großen Koalition größer als in einer kleinen Koalition sein,83 aber das Risiko, sich gegebenenfalls sogar jährlich neue Bündnispartner suchen zu müssen, dürfte die höheren Transaktionskosten in der Großen Koalition überwiegen. Die Ungewissheit über die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in zukünftigen Sitzungen lässt also erwarten, dass eine über lange Sicht hinweg konstant bleibende Mehrheit angestrebt wird – man könnte sie als „long-term working majority“ bezeichnen. Die forschungsleitende Annahme lautet daher, dass sich bei der Bundesrichterberufung zur Erreichung einer „long-term working majority“ eine Koalition aus CDU/CSU und SPD bildet.
b) Policy-seeking Es ist zunächst davon auszugehen, dass vote-seeking bei den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses keine Rolle spielen wird. Schließlich erscheint es kaum schlüssig, dass sich durch die Bundesrichterberufung direkt Wahlen beeinflussen lassen. Auch ein office-seeking ist nicht zu prognostizieren, da es nicht die Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses selbst sind, die die Richterposten übernehmen wollen, sodass für die Bundesrichterberufung eine Kernmotivation – nämlich das Eigeninteresse der handelnden Politikerinnen und Politiker an Ämtern – entfällt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass die Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses versuchen, Richterposten mit Personen, die ähnliche rechtspolitische Überzeugungen haben, zu besetzen. Die zweite forschungsleitende Annahme geht daher davon aus, dass die Entscheidungskriterien der Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses bei der Bundesrichterberufung als policy-seeking einzuordnen sind.
III. Methodischer Zugang Der vollständige Ausschluss der Öffentlichkeit von dem Entscheidungsprozess des Richterwahlausschusses macht die Analyse der tatsächlichen Praxis nicht eben einfacher.
Vgl. Müller (Fn. 67), 521.
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1. Leitfadeninterviews als Mittel der Wahl Mehrere Gründe sprechen für die Durchführung von Leitfadeninterviews mit den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses – im Sinne einer mündlichen und persönlichen Befragung unter Zuhilfenahme eines teilstrukturierten Fragebogens: Zum Ersten kann in Leitfadeninterviews besonders angemessen die Bandbreite der individuellen Beweggründe der Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses erfasst werden.84 Zum Zweiten ist auch für die Erfassung der Abläufe des Richterwahlausschusses die Befragung der Beteiligten unumgänglich, da eine teilnehmende Beobachtung nicht möglich ist und durch die Auswertung zahlenmäßig ausreichend vieler Beteiligten immerhin eine „Beobachtungssituation zweiter Ordnung“85 entstehen kann. Zum Dritten kann im persönlichen Gespräch eine Atmosphäre entstehen, die bei einem durchaus heiklen Thema valide Forschungsergebnisse ermöglicht. Bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner wurde sich auf die Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses konzentriert, deren Mitgliedschaft im Richterwahlausschuss noch nicht allzu lange zurückliegt und – bei den Mitgliedern kraft Amt und den Vorsitzenden – die Mitglied bzw. Vorsitzende/r des Richterwahlausschusses für den Bundesgerichtshof sind oder waren.86 Daneben soll aber ergänzend und zur Absicherung der Ergebnisse auf der anderen Seite auch die Perspektive der bereits berufenen Bundesrichterschaft zumindest in einem gewissen Umfang einfließen.87 Angesichts des zu erwartenden Termindrucks der Interviewpartnerinnen und -partner wurde der für die Befragung verwendete Interviewleitfaden für eine Gesprächsdauer von 30 bis 45 Minuten konzipiert.88 Der Interviewleitfaden in teilstrukturierten persönlichen Interviews dient dabei klassischerweise „nur“ als Leitlinie, besteht weitgehend aus offenen Fragestellungen und wurde dabei in „Schlüsselfragen“89 und „Eventualfragen“90 aufgeteilt.91 Im Hinblick auf die Befragung wurde 84 Dazu Schnell/Hill/Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, 10. Aufl. 2013, 378; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl. 1990, 226. 85 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, 2010, 67. 86 Beide Aspekte, sowohl die zeitliche Definition (Zurückliegen der Amtszeit) als auch die inhaltliche Definition (Richterwahlausschuss für den Bundesgerichtshof ), lassen die Stichprobe zu einer bewussten Auswahl werden, die ohne Zufallselement generiert wurde. 87 Auch bei den Bundesrichterinnen und Bundesrichtern wurde eine bewusste Auswahl getroffen, die ohne Zufallselement generiert wurde; insgesamt zum Sampling bei qualitativer Forschung siehe Przyborski/Wohlrab-Sahr, Forschungsdesigns für die qualitative Sozialforschung, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2014, 117 (126 f.). 88 Beim Interviewleitfaden wurde teilweise auch auf die von Spellbrink (Fn. 12), 23 ff., sowie Spellbrink (Fn. 10), 875 ff., gestellten Fragen zurückgegriffen. 89 Friedrichs (Fn. 84), 227; ebenso Schnell/Hill/Esser (Fn. 84), 378. 90 Friedrichs (Fn. 84), 227; ebenso Schnell/Hill/Esser (Fn. 84), 378. 91 Schlüsselfragen sind die Fragen, die aufgrund ihrer Relevanz in jedem Interview gestellt werden sollen, wohingegen Eventualfragen je nach den zeitlichen Kapazitäten der Befragten und dem Verlauf des Gesprächs gestellt werden; dazu Schnell/Hill/Esser (Fn. 84), 378; Friedrichs (Fn. 84), 227. Teilweise wurden weitere Fragen ergänzt, die Bezug auf die persönliche Biografie der Befragten nahmen. Vgl. ferner Helfferich, Leitfaden- und Experteninterviews, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2014, 559 (560, 565 ff.).
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angesichts des vom Gesetzgeber vorgegebenen Ausschlusses der Öffentlichkeit, einer inhaltlichen Brisanz des Themas und der Tatsache, dass die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner eine Vielzahl von Terminen und Aufgaben zu bewältigen haben, nur eine geringe Interviewbereitschaft erwartet. Unabdingbar erschien es daher, eine vollständige Anonymität bei der Verwendung der Interviews anzubieten.
2. Durchführung der Befragung in zwei Erhebungsrunden In zwei Erhebungsrunden – von Juli bis September 2014 sowie von Februar bis März 2018 – wurden vom Verfasser insgesamt 28 Interviews92 geführt: Dabei waren die Interviewpartner/innen zum Zeitpunkt der Befragung 22 aktuelle oder ehemalige Mitglieder oder Vorsitzende des Richterwahlausschusses, ein/e Staatssekretär/in und fünf Bundesrichter/innen, wobei 24 persönliche Interviews, drei schriftliche Interviews93 und ein telefonisches Interview94 geführt wurden.95 Alle bis auf einen mündlichen Interviewpartner waren mit der Audio-Aufzeichnung des Interviews einverstanden96 – im Anschluss an die Interviews wurde eine Transkription bzw. ein Gesprächsvermerk erstellt.97 Unter den Befragten finden sich aktuelle und ehemalige Mitglieder des Richterwahlausschusses von CDU/CSU, SPD, FDP, Linke und Grüne, aktuelle und ehe malige Bundestagsabgeordnete, aktuelle und ehemalige Landesjustizminister/innen, ehemalige Bundesjustizminister/innen und aktuelle Bundesrichter/innen von vier 92 In der ersten Erhebungsrunde wurden 21, in der zweiten Erhebungsrunde sieben Interviews geführt. 93 Die schriftlichen Interviews waren zunächst nicht vorgesehen, wurden jedoch aufgrund des jeweiligen Angebots der Kontaktierten durchgeführt. Der Leitfaden für die schriftlichen Interviews war auf ein Minimum an Fragen reduziert, um den durch die schriftliche Befragung höheren Arbeitsaufwand der Befragten im Rahmen zu halten und komplette Ausfälle zu vermeiden. 94 Ein Interview wurde aus logistischen Gründen telefonisch geführt, wobei ein leicht verkürzter Fragebogen verwendet wurde. 95 Als Gründe für die erwarteten zahlreichen Absagen wurden Verschwiegenheitsverpflichtungen, mangelnde zeitliche Möglichkeiten und mangelndes Interesse genannt. 96 Für die Vorteile dieses Vorgehens sei nur auf Friedrichs (Fn. 84), 229 f., verwiesen. 97 Siehe zunächst zur Transkription von Interviews im Allgemeinen nur Kuckartz/Rädiker, Datenauf bereitung und Datenbereinigung in der qualitativen Sozialforschung, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2014, 383 (390 ff.). Vorliegend ergeben sich allerdings durch die spezielle Gruppe der Befragten Besonderheiten: Den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern wurde die Möglichkeit der Autorisierung ihrer Aussagen angeboten, was angesichts der entsprechenden Praxis in der deutschen Politik unumgänglich erschien und überwiegend in Anspruch genommen wurde. Um bei diesem Vorgang erwartete, umfangreiche inhaltliche Veränderungen der Transkriptionen durch die Befragten zu vermeiden, wurde bereits vor Autorisierung vom Verfasser eine leichte, ausschließlich sprachliche Glättung vorgenommen und auch auf die Transkription von Lautstärken, überflüssigen Füllwörtern, Betonungen und Ähnlichem verzichtet. Trotzdem wurden im Einzelfall von Befragten noch gravierende Änderungen an den Transkriptionen vorgenommen – bis hin zur vollständigen Untersagung von wörtlichen Zitaten, was aber aufgrund von ähnlichen Aussagen anderer Gesprächspartnerinnen und -partner im Ergebnis den Beitrag nicht beeinträchtigt. Der wissenschaftlichen Angreif barkeit einer sprachlichen Glättung und Autorisierung ist sich der Verfasser sehr bewusst. Um allerdings nicht noch mehr Interviews im Nachgang „zu verlieren“, erschien diese Vorgehensweise noch vertretbar.
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der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes.98 Dieser verhältnismäßig breiten Streuung steht die Einschränkung gegenüber, dass die Interviewbereitschaft der ehemaligen Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses deutlich größer als die der aktuellen war: Zum Zeitpunkt der Befragung waren 16 Befragte aus dem Rich terwahlausschuss ausgeschieden, während sechs Befragte zum Zeitpunkt der Befragung im Richterwahlausschuss tätig waren – letztere Interviews wurden ferner allesamt in der ersten Erhebungsrunde geführt. Dies birgt die Gefahr einer mangelnden Aktualität der Aussagen, erscheint aber angesichts der, so viel darf vorweggenommen werden, großen Konstanz der Abläufe bei der Bundesrichterberufung verkraftbar. Letztlich stehen für die qualitative Auswertung, die unter Verwendung der Software MAXQDA erfolgte, die Erfahrungen von Mitgliedern des Richterwahlausschusses bis ins Jahr 2016 zur Verfügung.
IV. Ablauf der Bundesrichterberufung Von der Suche nach Kandidatinnen und Kandidaten bis zur letztlichen Zustimmung der zuständigen Bundesministerin bzw. des zuständigen Bundesministers zeigt sich ein diffiziles Verfahren.
1. Auf der Suche nach Kandidatinnen und Kandidaten Für eine Sitzung des Richterwahlausschusses braucht es neben zu besetzenden Richterposten auch Vorschläge für eben diese Posten. Jedes Mitglied sowie die/der Vorsitzende des Richterwahlausschusses haben gem. § 10 Abs. 1 S. 1 RiWG ein Vorschlagsrecht und von diesem Recht wird in der Praxis rege Gebrauch gemacht. Auf Bundesebene erfolgt weder eine Ausschreibung der zu besetzenden Stellen noch ein Interessenbekundungsverfahren – anders jedoch teilweise auf Landesebene.99 Nach den Schätzungen der Befragten stammt die große Mehrheit der Vorschläge von den Mitgliedern kraft Amt, eine Minderheit von den Mitgliedern kraft Wahl und ein noch kleinerer Teil von der/dem Vorsitzenden.100 „Nach meiner persönlichen Erinnerung überwiegt also die Zahl von Vorschlägen der Länder. Vorschläge von Abgeordneten und in einer deutlich geringeren Zahl […] Vorschläge aus dem Bundesjustizministerium gibt es weniger.“ (Interview Nr. 13) Allerdings waren nur acht der 28 Interviewten weiblich. Dies gilt beispielsweise laut Schübel (Fn. 2), 1357, für die Arbeitsgerichtsbarkeit im Land Berlin und das Land Schleswig-Holstein; siehe auch Schübel (Fn. 63), 139; zur verfassungsrechtlichen Bewertung des Fehlens einer Bewerbungsmöglichkeit vgl. auch Gärditz (Fn. 4), 329 f.; siehe ferner OVG Lüneburg, 5.2.2015, 5 ME 211/14 = DÖD 2015, 189 – Bundesrichterwahl. Mittlerweile übertrifft im Übrigen die Anzahl der Vorschläge, über die abgestimmt wird, die Anzahl der zu besetzenden Stellen, wie auch einhellig von den Befragten berichtet wird; dazu Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 4, 12. Zur Zurückziehung von Vorschlägen: OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 – Bundesrichterwahl; Wieland (Fn. 4 0), 216; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 10 Rn. 9 ff.; Arndt (Fn. 7 ), 23 f.; Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 460 f.; Goll (Fn. 7 ), 123; Lovens (Fn. 7 ), 467. 100 Dazu Gärditz (Fn. 4), 330; Schübel (Fn. 2), 1357. 98
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Die Art und Weise, wie die Mitglieder kraft Wahl, Mitglieder kraft Amt und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses ihre Vorschläge generieren, unterscheidet sich dabei stark voneinander.101
a) Vorschläge der Mitglieder kraft Amt Die Mitglieder kraft Amt generieren ihre Vorschläge in aller Regel über die jeweiligen Präsidentinnen und Präsidenten der (Ober-)Gerichte in ihrem Bundesland und stehen mit diesen in einem engen Austausch, wobei naturgemäß auch den Personalabteilungen der Landesjustizministerien eine zentrale Rolle zukommt.102 „Das kommt von den Präsidenten der Obergerichte […]. Die sagen einem: ,Das wäre jemand, der in Frage käme.‘ […] Die Kandidaten, von denen ich weiß – die wir befördert haben, die wir unterstützt haben, die wir als Ministerium da votiert haben – sind allesamt vorgeschlagen gewesen von den Präsidenten der [Obergerichte].“ (Interview Nr. 22)
Von einem (ehemaligen) Mitglied kraft Amt wird auch über „Fachseilschaften“ der Justizverwaltungen spekuliert, die zu Vorschlägen führen können – einige andere befragte (ehemalige) Justizministerinnen und -minister haben das hingegen für ihre Häuser ausgeschlossen. „Deswegen habe ich immer das Gefühl nicht unterdrückt, dass es auch Absprachen zwischen den jeweiligen Justizverwaltungen gibt. Es war manchmal so, dass zum Beispiel ein [Bürger des Bundeslands der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] vom Bundesjustizministerium vorgeschlagen wird. Da habe ich mir schon meine Gedanken gemacht und mich gefragt, wie das Bundesjustizministerium jetzt dazu kommt, einen [Bürger des Bundeslands der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] vorzuschlagen? Ich habe aber nie nachgefragt, weil mir das so klar war, wie das abläuft. […] Das ist da gar nicht so parteipolitisch. Das ist dann diese Ebene der Fachseilschaften.“ (Interview Nr. 14)
b) Vorschläge der Mitglieder kraft Wahl Ein ebenso einheitliches Muster, wie die Mitglieder kraft Wahl zu ihren Vorschlägen gelangen, ist nicht erkennbar.103 Ein (ehemaliges) Mitglied kraft Wahl ging systematisch vor und suchte den Kontakt zu Landespolitikerinnen und -politikern der eigenen Partei. „Ich habe […] an die [Partei der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] Rechtspolitiker der Länder geschrieben: ,In drei Monaten stehen Wahlen an. Habt ihr aus eurer landespolitischen Sicht Leute aus dem Justizbereich, die ihr fördern und an die obersten Gerichte bringen wollt? Es müssen allerdings Leute sein, die das auch von der Form her auch bieten können.‘ Siehe auch Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 10 Rn. 1 f. Vgl. Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 27; Rath, „Nicht alle haben die gleiche Chance“, DRiZ 2016, 258 (258); Schübel (Fn. 2), 1357; Brückner, Länderquote statt Frauenquote? Frauenquote statt Länderquote!, DRiZ 2012, 44 (44 f.); Spellbrink (Fn. 12), 24 f.; Spellbrink (Fn. 10), 887 ff. Im Einzelfall ergänzt dann noch die individuelle Herangehensweise der Landesjustizministerinnen und -minister das Vorgehen, wenn sich beispielsweise mit den Universitäten ausgetauscht wird. 103 Dazu auch Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 10 Rn. 2 . 101
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[…] Und so habe ich von den Ländern Vorschläge bekommen. Ich kannte die persönlich gar nicht.“ (Interview Nr. 17)
Aber auch ein/e Befragte/r einer anderen Partei deutet an, Vorschläge über parteipolitische Verbindungen zu generieren. „Ich bin nicht gefragt worden, jemanden mit einem anderen Parteibuch vorzuschlagen. Es sind natürlich die eigenen Leute, die auch dieselbe politische Farbe teilen, die fragen. Insofern wird geschaut, welches eigene Personal zur Verfügung steht.“ (Interview Nr. 13)
Relevant sind im Übrigen auch die rechtspolitischen Arbeitskreise der Parteien. „Wir haben [einen rechtspolitischen Arbeitskreis der Partei der Interviewpartnerin/des Interviewpartners], wo gesagt wird: ,Das ist aber ein Richter, den müsst ihr mal im Auge behalten.‘ Das gibt es schon, und wenn die nachher auf der Liste sind, ist es ja auch in Ordnung. Wenn sie nicht auf der Liste sind, dann kann es auch schon mal sein, dass dort entsprechende Interventionen erfolgen.“ (Interview Nr. 3)
c) Vorschläge der Vorsitzenden Die Vorschläge der Vorsitzenden generieren diese grundsätzlich, soweit sie überhaupt Personen vorschlagen, aus den Bundesministerien. Die wenigen Vorschläge seitens der Vorsitzenden begründet ein/e ehemalige/r Bundesjustizminister/in wie folgt: „Das Justizministerium selbst hat nur ganz sparsam Vorschläge gemacht. Es war immer meine Politik, dass wir uns da ganz zurückhalten und nicht selbst Richter aus den Ländern oder andere Persönlichkeiten vorschlagen, weil das die Sache der Landesjustizminister oder der Abgeordneten ist. […] Wenn das Bundesjustizministerium jemanden vorgeschlagen hat, dann waren es Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen aus dem Justizministerium oder vielleicht mal aus dem Innen- oder Finanzministerium. […] Insgesamt ist mein Eindruck […] auch der, dass man im Richterwahlausschuss eigentlich auch nicht möchte, dass von der Bundesregierung viele Vorschläge kommen.“ (Interview Nr. 18)
d) „Initiativbewerbungen“ und „Bewerbungsgespräche“ Obwohl es kein formales Bewerbungsverfahren gibt, kommt es vor, dass interessierte Richterinnen und Richter sich selbst ins Spiel bringen und Kontakt mit Mitgliedern des Richterwahlausschusses aufnehmen.104 Ein/e (ehemalige/r) Bundestagsabgeordnete/r begrüßt das ausdrücklich: „Vermehrt nicht, aber einmal ist es schon so gewesen, dass ein Richter sich auch zu erkennen gab und sagte: ,Ich bin [Partei der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] oder [Partei der 104 So schildert auch ein/e befragte/r Bundesrichter/in, der/die von einem/einer Bundestagsabgeordneten vorgeschlagen wurde: „Ich habe das als Wahlkampf aufgeführt. Man muss sich bekannt machen bei den richtigen Leuten. Das ist dann der Fall, wenn Sie nicht das Glück haben, dass Sie ein besonders gutes Verhältnis zu dem [Gerichtspräsidenten des vorherigen Gerichts der Interviewpartnerin/ des Interviewpartners] haben […].“ (Interview Nr. 24); vgl. auch Faissner (Fn. 8), 314; Minkner (Fn. 8), 255; Tschentscher (Fn. 7 ), 327 f.; Arndt (Fn. 7 ), 24 f.; Mahrenholz, Justiz – eine unabhängige Staatsgewalt? Festvortrag beim Deutschen Richtertag, DRiZ 1991, 432 (434).
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Interviewpartnerin/des Interviewpartners]-nahe und hätte auch Interesse, mal von euch benannt zu werden.‘ […] [Aber] es ist natürlich auch wichtig und sinnvoll, dass sie so etwas tun, weil wir ja auch gar nicht wissen, wo diese Personen überall sitzen.“ (Interview Nr. 1)
Aber auch ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in kann davon berichten: „Oder dass sich auch mal jemand selber ins Gespräch bringt, ist ja nicht ehrenrührig.“ (Interview Nr. 28)
Teilweise sehen Befragte eine direkte „Initiativbewerbung“ allerdings auch kritisch. Ganz unterschiedlich handhaben es die Mitglieder des Richterwahlausschusses, ob sie mit Kandidatinnen und Kandidaten vorher persönlich sprechen. „Ich habe mit keinem gesprochen. Das muss man auch nicht, weil ich durch ein solches Gespräch nicht über die Qualifikation, Bundesrichter zu werden, entscheiden kann.“ (Interview Nr. 2) „Regelmäßig – wenn es mehrere waren, eigentlich möglichst jedes Mal – habe ich vorher ein Gespräch mit den Kandidaten geführt. Die habe ich gebeten, zu mir zu kommen und ich habe mich mit ihnen unterhalten, wie intensiv sie das denn unbedingt möchten und andere Dinge, um sich einen Eindruck zu machen.“ (Interview Nr. 22)
2. Beteiligung des Präsidialrates Gesetzlich zwingend vorgesehen105 ist die Einbindung der Präsidialräte der obersten Gerichtshöfe des Bundes:106 Gem. § 54 Abs. 1 S. 1 DRiG wird bei jedem obersten Gerichtshof des Bundes ein Präsidialrat errichtet, der aus der Präsidentin bzw. dem Präsidenten, ihrer/seiner ständigen Vertretung sowie beim Bundesgerichtshof zwei vom Präsidium aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern und drei weiteren Mitgliedern und bei den übrigen Gerichtshöfen einem vom Präsidium aus seiner Mitte gewählten Mitglied und zwei weiteren Mitgliedern besteht, § 54 Abs. 1 S. 3 DRiG.107 So auch Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 10 Rn. 13, 17. Zur Beteiligung der Präsidialräte siehe VGH Mannheim, 6.6.2018, 4 S 756/17 = BeckRS 2018, 14356 – Präsidialratsstellungnahme; v. Bernstorff (Fn. 26), 141 f.; Faissner (Fn. 8), 315 f.; Wieland (Fn. 40), 216 f., 222 f.; Bowitz (Fn. 17), 638 ff.; Gärditz (Fn. 4), 330 f., 333; Minkner (Fn. 8), 247 f.; Schübel (Fn. 2), 1356; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 10 Rn. 13 ff.; Tschentscher (Fn. 7 ), 323 ff.; Wittreck (Fn. 24), 292 ff.; Scholz (Fn. 1), 162 ff.; Arndt (Fn. 7 ), 23 ff.; Goll (Fn. 7 ), 122; Wagner (Fn. 15), 39. 107 Gem. § 54 Abs. 1 S. 5 DRiG werden die weiteren Mitglieder von den Richterinnen und Richtern des Gerichts, bei dem der Präsidialrat errichtet ist, geheim und unmittelbar gewählt. Die Wahl von Präsidialratsmitgliedern schildert ein/e Bundesrichter/in: „Leute, die hier noch was werden wollen und kurz davor sind, werden nicht mehr gewählt und gerne gewählt werden Vorsitzende, die quasi schon fertig sind, aber auch sonst nichts mehr wollen. […] Sehr ungern werden auch sehr Junge gewählt. […] Und dann gibt es da dann schon, glaube ich, auch einen Versuch, eine gewisse politische Balance herzustellen – ein Rechter, ein Linker.“ (Interview Nr. 25) Kritisch zur Wahl von weiteren Vorsitzenden Richterinnen und Richtern in den Präsidialrat – auch angesichts der Mitgliedschaft von Präsident/in und Vizepräsident/in: „Die alte Tradition, dass ganz überwiegend Vorsitzende Richter in den Präsidialrat gewählt werden, hat man zu Recht aufgegeben, weil die Vorsitzenden oft auch wegen des Generationenabstands die jungen Kolleginnen und Kollegen, die jetzt auf der Kandidatenliste stehen, weniger gut kennen und man hier ja nicht als Vorsitzender anfängt […].“ (Interview Nr. 26) Kritisiert wird zudem der zu geringe Frauenanteil in den Präsidialräten (so Schübel (Fn. 2), 1356; siehe BT-Drs. 17/6067, 4). Vgl. im Übrigen zu Wahlen auf Landesebene BVerfGE 41, 1 – Präsidialratswahlen [1975]. 105
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Der Präsidialrat des jeweiligen Gerichtshofs, an den die/der Vorgeschlagene berufen werden soll, ist gem. § 55 S. 1 DRiG vor jeder Wahl einer Richterin oder eines Richters zu beteiligen: Dabei gibt der jeweilige Präsidialrat eine schriftlich begründete Stellungnahme über die persönliche und fachliche Eignung der Kandidatin bzw. des Kandidaten ab, § 57 Abs. 1 S. 1 DRiG.108 Dazu werden neben der Auswertung der Personalunterlagen (§ 56 Abs. 1 S. 2–3 DRiG) beispielsweise Arbeitsproben angefordert und ein Gespräch mit den Kandidatinnen und Kandidaten geführt.109 Die Ausgangssituation für dieses Gespräch kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem ob der eher „klassische Weg“ über eine vorherige Abordnung als wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in110 an das Bundesgericht und ein anschließender Vorschlag durch ein Mitglied kraft Amt oder der eher „alternative Weg“ über die Mitglieder kraft Wahl auf die Vorschlagsliste geführt hat: „Bei mir war es damals im Präsidialrat sehr lustig oder witzig die Situation, dass die Menschen, die damals da saßen, bei denen war ich allen [wissenschaftliche/r] [Mitarbeiter/in]. Die kannten mich. […] Ich denke, bei mir war es halt wirklich so, dass ich da reinkam: ,Aha, eins, zwei, drei, vier, fünf, alle gekannt.‘ Es war von daher auch, wenn man so will, ein Heimspiel.“ (Interview Nr. 25) „Da ich außerhalb der typischen Schienen lief, weil ich mich ja um diesen Posten selber bemüht habe und nicht artig durch den [Gerichtspräsidenten] und das Ministerium. […] [Die/ Der] [Präsident/in] des [Bundesgerichtes der Interviewpartnerin/des Interviewpartners], […], [die/der] mich begrüßte: ,Wie sind Sie denn auf die Liste gekommen?‘ Dann haben wir aber das fachliche Gespräch geführt und ich bin als geeignet eingestuft worden.“ (Interview Nr. 24)
Vor diesem Hintergrund weist ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in darauf hin, dass auch die Frage, ob eine Abordnung an das Bundesgericht der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit oder an das Bundesverfassungsgericht erfolgt, nicht ganz unerheblich ist: „Deswegen ist es auch ein Gesichtspunkt: Will man sich ans Bundesverfassungsgericht abordnen lassen oder an eine dieser Fachgerichtsbarkeiten? Weil wenn man Richter am BGH werden will, dann will man dort bekannt werden und nicht am Bundesverfassungsgericht.“ (Interview Nr. 22)111
Neben der Stellungnahme des Präsidialrates kommt es offenbar auch vor, dass Präsidentinnen bzw. Präsidenten der Bundesgerichte noch einmal ausdrücklich ihre Wünsche hinsichtlich der Berufung einzelner Personen äußern.112 „Es gab ja auch die Besonderheit, dass man als Mitglied des Richterwahlausschusses noch kurz vor der Wahl mit einem ,Brandbrief ‘ von den Präsidenten der Bundesgerichte darauf Gem. § 57 Abs. 3 DRiG darf ein/e Richter/in erst gewählt werden, wenn die Stellungnahme des Präsidialrats vorliegt oder die in § 57 Abs. 2 DRiG vorgesehene Frist von einem Monat verstrichen ist; hierzu Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 10 Rn. 13 ff. 109 Hierzu v. Bernstorff (Fn. 26), 142; Faissner (Fn. 8), 315; Bowitz (Fn. 17), 641; Minkner (Fn. 8), 247; Schübel (Fn. 2),1356 f.; Tschentscher (Fn. 7 ), 328; Wittreck (Fn. 24), 293 f. 110 Zu den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den Bundesgerichten nur Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 149. 111 Vgl. auch Steiner (Fn. 65), 508 Fn. 46. 112 Dazu Scholz (Fn. 1), 163; Arndt (Fn. 7 ), 24. 108
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hingewiesen wurde, welche Personen auf Grund ihrer ,besonders herausragenden Fähigkeiten‘ in jedem Fall gewählt werden sollten.“ (Interview Nr. 12)
3. „A“ und „B“ Die zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung im Vorfeld nehmen die sogenannten A- und B-Runden, sei es als persönliche Treffen oder Telefonkonferenzen, sowie die Abstimmungsgespräche zwischen A- und B-Seite ein.113
a) A- und B-Runde Mitglieder der A-Runde sind in erster Linie die SPD-Landesjustizministerinnen und -minister sowie SPD-Bundestagsabgeordnete, Mitglieder der B-Runde hingegen die CDU/CSU-Landesjustizministerinnen und -minister sowie CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete. Die Landesjustizministerinnen und -minister der übrigen Parteien stoßen in aller Regel zur A-Runde, wenn sie in dem jeweiligen Land mit der SPD koalieren, und zur B-Runde, wenn sie in dem jeweiligen Land mit der CDU/ CSU koalieren. Die Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP werden teilweise ebenfalls zu den A- bzw. B-Runden eingeladen, wobei diese Konvention schwammig zu sein scheint, denn einige Befragte der beiden Parteien wurden eingeladen, andere wiederum nicht.114 Die Treffen und Telefonkonferenzen der A- und B-Runden zeichnen sich durch eine informelle Atmosphäre und Entscheidungsfindung aus. „Sehr informell. […] Das ist ja kein formalisiertes Gremium. Das ist ja ein privates Treffen. Trinkt man Kaffee und […] unterhält sich miteinander, macht sich bekannt, soweit man noch nicht bekannt ist. Dann ergreift [die/der] [Wortführer/in] das Wort und sagt: ,Jetzt hört auf zu quatschen. Jetzt müssen wir mal arbeiten. Das ist die Liste. Das ist der Vorsitzende Richter XY aus [Bundesland A]. Der ist mir empfohlen worden von dem oder jenem. Hat da irgendjemand was dazu zu sagen?‘ […] Also, so wird die Liste abgearbeitet. Das ist sehr informell. Das ist ja ein privates Treffen.“ (Interview Nr. 17)
Dabei werde versucht eine Einigkeit, einen Konsens herzustellen, sodass es nicht zu förmlichen Abstimmungen kommt, wobei naturgemäß auch die Größe eines Landes über seine Bedeutung bestimme. „Nach meiner Erinnerung haben wir auch mal abgestimmt, z.B. in der Form, dass man fragt: ,Können alle damit leben oder hat jemand damit Probleme? Dann möchte er das bitte jetzt sagen?‘ Denn man kann einen Verhandlungsführer nicht zu einer anderen Delegation schicken, wenn er nicht sicher weiß, wie die eigene Mannschaft steht.“ (Interview Nr. 11)
Mehrere Befragte weisen darauf hin, dass die A- und B-Runden nicht den Anspruch erheben, alle zur Wahl stehenden Richterstellen mit ihren Vorschlägen zu besetzen. Siehe Wieland (Fn. 4 0), 217; Bowitz (Fn. 17), 639; Rath (Fn. 102), 259; Schübel (Fn. 2), 1356; Scholz (Fn. 1), 164 ff.; Leonardy, Parteien im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland. Scharniere zwischen Staat und Politik, ZParl 2002, 180 (187). 114 Vgl. auch Scholz (Fn. 1), 164. 113
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Stattdessen werde darüber verhandelt, wie viele Richterposten jeder Seite zustehen würden, was sich an der Anzahl der Sitze im Richterwahlausschuss orientiere.115 „Und in der Regel dann auch so ist, dass, wenn man vier hat, aufgeteilt wird: ,Zwei dürft ihr vorschlagen, zwei dürfen wir vorschlagen.‘ Das teilt sich ungefähr so auf. Das spiegelt so die Mehrheitsverhältnisse auch im Richterwahlausschuss so ungefähr wider.“ (Interview Nr. 5) „Wer die Mehrheit hat, kann natürlich ein bisschen mehr einfordern. Aber manchmal hatte vielleicht die eine Seite einen besonders brillanten Vorschlag und dann war die andere Seite sicherlich bereit zu sagen: ,Gut, dann bekommt ihr dieses Mal einen mehr, dafür erwarten wir das nächste Mal dann ein bisschen Entgegenkommen.‘ Wie es eben beim Verhandeln ist: Man muss mal nachgeben und Kompromisse schließen.“ (Interview Nr. 11)
Zusätzlich könne es, so wird vereinzelt angemerkt, noch „neutrale“ Plätze geben, auf denen sich beispielsweise sehr konservative Kandidatinnen und Kandidaten aus einem A-Land wiederfinden könnten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen unter den Befragten hinsichtlich der Frage, ob die Entscheidungen vor allem von Union und SPD getroffen werden oder ob die kleinen Parteien gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung mitwirken. Letzteres attestiert ein/e Befragte/r: „Vielleicht sogar ein bisschen überproportional, weil die müssen auch immer bedacht werden und wie sich das im Moment entwickeln wird, vermag ich nicht zu sehen.“ (Interview Nr. 22)
Überwiegend ist die Meinung, gerade unter den kleinen Parteien, jedoch eine andere, wobei die Landesminister/innen und Bundestagsabgeordneten differenziert zu betrachten sind. Eine zentrale Weichenstellung bei der Beurteilung des Einflusses einer kleinen Partei erfolgt insofern bei der Frage, ob die kleinen Parteien Justizministerinnen oder Justizminister stellen. Denn die Entscheidungen der Landesjustizministerinnen und -minister über die Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern werden, so jedenfalls berichten es die Befragten, überwiegend ohne konkrete Einflussnahme der jeweiligen Koalitionspartner auf Landesebene getroffen, sodass die Bestimmung der Politik der Bundesrichterberufung eines Bundeslandes in der Hand der jeweils zuständigen Landesministerinnen und -minister liegt. „Wenn also eine kleine Partei gar keinen Justizminister hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass da irgendein von einer kleinen Partei protegierter Mensch Bundesrichter/Bundesrichterin wird, sehr gering.“ (Interview Nr. 2)
Wenn nun aber eine kleine Partei Justizministerinnen und Justizminister stellt, werden diese Ministerinnen und Minister nicht nur zu den A- und B-Runden eingeladen, sondern deren Kandidatinnen und Kandidaten ebenso berücksichtigt. „Deswegen finde ich es auch richtig, dass es eine Tradition gibt, dass auch die Justizminister von kleineren Parteien die Chance haben – aufgrund von Tradition, nicht von Mehrheitsverhältnissen – eigene Leute durchzubringen. […] Wenn man nur nach Mehrheitsverhältnissen ginge, dann würde man nie einen Menschen berücksichtigen, der von einem Justizminister einer kleineren Partei vorgeschlagen wird. Und das ist nicht so. Die kommen auch durch.“ (Interview Nr. 2)
Dazu Rath (Fn. 102), 259; Schübel (Fn. 2), 1356.
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Ohnehin gebe es mit Blick auf Bundesrat und Justizministerkonferenz einen Austausch zwischen den Justizministerinnen und Justizministern von A- und B-Seite, sodass die Zusammenarbeit bei der Bundesrichterberufung auch keine Besonderheit darstelle. Folglich wollen sich die Landesjustizministerinnen und -minister der kleinen Parteien auch nicht über eine mangelnde Berücksichtigung beschweren – anders als die Bundestagsabgeordneten der kleinen Parteien, die sich, soweit sie überhaupt an der A- oder B-Runde beteiligt werden, von der Gunst von Union und SPD abhängig fühlen. Über den Einfluss der Bundestagsabgeordneten der kleinen Parteien dürften letztlich insbesondere zwei Faktoren entscheiden: zum einen, ob ihre Partei Teil der regierenden Koalition auf Bundesebene ist und durch diese Koalition von Union oder SPD besonders berücksichtigt wird sowie zum anderen, ob eine persönliche Ebene mit Mitgliedern des Richterwahlausschusses von Union oder SPD besteht. „Es geht ja fast immer um Union und SPD, weil die anderen Parteien letztendlich kaum Einfluss haben, nur über ihre Koalition.“ (Interview Nr. 18) „Und weil ich eben gut verhandelt habe – sage ich mal so, ja – und die Personen, um die es da geht, die Menschen, persönlich kenne und da eine Wertschätzung genossen habe und genieße über meine […] fachliche Qualität, habe ich einen Zugang auch gefunden zu vielen, mit denen ich reden konnte.“ (Interview Nr. 17)
Der Grund für die Abhängigkeit von der Gunst der beiden großen Parteien ist letztlich wohl darin zu finden, dass die kleinen Parteien angesichts einer stets komfortablen Mehrheit von Union und SPD regelmäßig schlicht über kein Druckmittel verfügen. „Das war vorher auch schon so, dass CDU und SPD zusammen die notwendigen Stimmen haben und deswegen, wenn die wollen, jeden durchkriegen, auf den sie sich das jeweilige Lager verständigt hat. Und da haben kleine Parteien überhaupt gar keine Möglichkeit, Druck auszuüben, weil es auf sie einfach nicht ankommt. Punkt.“ (Interview Nr. 2)
b) Koordinierende als zentrale Akteure Die Koordinator/innen (oder: Obleute) von A- und B-Seite führen die Ergebnisse der beiden Runden zusammen und versuchen, eine Einigung zu erzielen – in Gestalt der berühmt-berüchtigten „Paketlösungen“.116 Als Koordinierende fungieren beispielsweise Justiziarinnen und Justiziare der Bundestagsfraktionen, stellvertretende Fraktionsvorsitzende oder andere Personen von herausgehobener rechtspolitischer Bedeutung von Union und SPD.117 „An einem von diesen komischen Gesprächen zwischen [Koordinator/in B-Seite] und [Koordinator/in A-Seite] habe ich teilgenommen. Da geht es auch nicht mit Keifern zu, sondern es sind ganz nüchterne Abwägungen und da muss man irgendwie eine Lösung finden.“ (Interview Nr. 14) Rasehorn (Fn. 7 ), 31; ebenso Wittreck (Fn. 24), 308; ähnlich Bowitz (Fn. 17), 639; Gärditz (Fn. 4), 329; Schübel (Fn. 2), 1356; siehe auch Minkner (Fn. 8), 256; Tschentscher (Fn. 7 ), 328; Scholz (Fn. 1), 165; Rüthers (Fn. 7 ), 370 f. 117 Vgl. Scholz (Fn. 1), 164. 116
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De facto gibt es sowohl für die A- als auch für die B-Seite ein informelles Vetorecht, das eingesetzt werden kann, um für eine Seite inakzeptable Kandidatinnen und Kandidaten der jeweils anderen Seite zu verhindern. Ist nun aber ein solcher Vorschlag ein besonderes Anliegen der vorschlagenden A- oder B-Runde, stellt sich die Frage, was zur Erzielung eines Kompromisses angeboten werden kann. „Es gab sicherlich schon auf beiden Seiten ,Kröten‘, die die anderen nicht schlucken wollten – aus welchen Gründen auch immer.“ (Interview Nr. 11)
Die Verhandlungen der Koordinierenden dürfen insofern als entscheidender Part im Berufungsverfahren angesehen werden. Eine überschaubare Bedeutung haben hingegen die gem. § 10 Abs. 3 RiWG vorgesehenen Berichterstatter/innen.118
c) Keine Änderungen in Sicht Das beschriebene Vorgehen widersteht allem Anschein nach nahezu jeder Veränderung der regierenden Koalition auf Bundesebene, was durchaus bemerkenswert ist. „Ich glaube, wenn man in Deutschland untersuchen würde, in welchen Bereichen noch eine so traditionelle Bindung jenseits der Wahlergebnisse zu finden ist, wird man nicht viele weitere Beispiele finden.“ (Interview Nr. 12)
Obwohl die Organisation von Mehrheiten im Richterwahlausschuss jenseits entweder von Union oder SPD theoretisch immer wieder möglich gewesen wäre, werden von den Befragten einhellig entsprechende Versuche verneint. Zu Zeiten einer Großen Koalition sei die Zusammenarbeit zwischen CDU/CSU und SPD allerdings noch enger. „[In] der Zeit der [Großen] Koalition von 2005 bis 2009 haben die beiden großen Fraktionen noch mehr allein unter sich ausgemacht. Aber auch ansonsten muss man sich nicht vormachen, dass die beiden Koordinatoren von SPD und CDU das Wesentliche nicht unter sich ,ausgekungelt‘ hätten.“ (Interview Nr. 7)
Prägend für den Richterwahlausschuss ist also unter dem Strich eine primäre Zusammenarbeit von CDU/CSU und SPD, die von den kleinen Parteien ergänzt wird.119
4. Überschaubarer Lobbyismus Im Hinblick auf die Interessengruppen, die sich in den Entscheidungsprozess einbringen, wird insbesondere das Engagement des Deutschen Juristinnenbundes120 von vielen Befragten genannt. Ebenso Bowitz (Fn. 17), 639. Siehe Rasehorn (Fn. 7 ), 29; Rüthers (Fn. 7 ), 370 f. 120 Näher Schübel (Fn. 63), 138 ff.; Schübel (Fn. 2), 1355 ff.; Schübel, Frauen in Roben – auf dem Weg nach oben, djbZ 2014, 116–119; Schübel, djb-Initiative bringt mehr „Frauen in die Roten Roben“, djbZ 2013, 86–87. 118 119
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„Aber z.B. der Deutsche Juristinnenbund hat natürlich ein Interesse daran, dass möglichst die Quote der weiblichen Führungskräfte ausgeweitet wird. Sie haben sich allerdings auch große Mühe gegeben, qualifizierte Kolleginnen vorzuschlagen.“ (Interview Nr. 11)
Im Übrigen werden Kontaktaufnahmen etwa von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften angedeutet. „Natürlich gibt es zum Beispiel beim Bundesarbeitsgericht Bemühungen von den Gewerkschaften usw. auch ihre Leute durch zu kriegen. Die Arbeitgeberverbände machen dasselbe. Die Arbeitgeberverbände versuchen auch, Personen, von denen sie wissen, dass sie die Gewerkschaften protegieren, zu verhindern.“ (Interview Nr. 2)
Die Kontaktaufnahmen werden durchaus begrüßt, weil sie ein legitimes Anliegen repräsentieren würden. Insofern würde man diese Hinweise zur Kenntnis nehmen und davon unabhängig selbst entscheiden. „Es wird einem natürlich immer mal ein Name zugerufen. Man begegnet sich auf Veranstaltungen: am Juristentag, Anwaltstag, bei Seminaren, Festivitäten, usw. Ich nehme das gerne auf. Ich finde es in Ordnung[,] wenn einem ein Anliegen vorgetragen wird. Das war für mich und für meine Entscheidung nie ausschlaggebend und deshalb auch keine Beeinflussung.“ (Interview Nr. 18)
Insgesamt scheint sich der Lobbyismus bei der Bundesrichterberufung allerdings eher auf einem niedrigen Niveau zu bewegen.
5. Vollzug in der Sitzung des Richterwahlausschusses In der üblicherweise einmal im Jahr im Frühjahr stattfindenden Sitzung des Rich terwahlausschusses selbst, idealerweise zur Wahl aller erforderlichen Bundesrichterinnen und Bundesrichter bis zur nächsten Sitzung,121 werden die im Vorfeld getroffenen Entscheidungen nur noch umgesetzt.122 „Die ist viel weniger spektakulär als viele glauben, denn es ist eigentlich nur ein formaler Akt, der dort vollzogen wird.“ (Interview Nr. 18)
Daher würden die Sitzungen des Richterwahlausschusses auch nicht sehr lange dauern – in der Regel maximal 30 bis 60 Minuten.123 Es gebe normalerweise auch keine Diskussionen über die zur Wahl stehenden Kandidatinnen und Kandidaten.124 Nach der Begrüßung durch den/die Bundesjustizminister/in würden die neuen Mitglieder des Richterwahlausschusses vereidigt und anschließend die Wahlzettel verteilt, in
Siehe Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 4, § 8 Rn. 1. Gegebenenfalls finden weitere Sitzungen statt. Die (erste) Sitzung des Richterwahlausschusses im Jahr 2018 fand hingegen im Juli statt; dazu Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Neue Bundesrichterinnen und Bundesrichter gewählt, Pressemitteilung v. 6.7.2018, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/070618_Bundesrichterwahl.html [abgerufen am 25.9.2018]. 122 Vgl. Schübel (Fn. 63), 140; Schübel (Fn. 2), 1356. 123 Dazu ein/e Befragte/r: „Die Sitzung des Richterwahlausschusses dauert im Regelfall eine halbe bis eine dreiviertel Stunde.“ (Interview Nr. 12) 124 So auch Schübel (Fn. 63), 140; Bowitz (Fn. 17), 639. 121
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geheimer Wahl angekreuzt, wieder eingesammelt, ausgezählt und die Ergebnisse verkündet. „Auf die Sitzung habe ich mich überhaupt nicht vorbereitet, weil in der Sitzung ja nichts passiert. […] Die Wahl findet schon statt durch Ankreuzen auf den Wahlzetteln. Aber ansonsten findet nichts statt. Es gibt keine Aussprache, es gibt keine Diskussion, es gibt keine Personaldebatte.“ (Interview Nr. 17)
Die Ergebnisse seien dabei immer äußerst eindeutig, da sich an die im Vorfeld getroffenen Absprachen gehalten würde.125 „Ich würde eher 90 % sagen. Es gab wirklich wenige Abweichungen und die kann ich mir auch nur so erklären, dass es da persönliche Ressentiments gegeben hat, die eigentlich nach den Verhandlungen nicht wirklich zu erklären waren. Es hätten eigentlich ZK-Ergebnisse sein müssen.“ (Interview Nr. 11) „Dann gab es noch ein paar so Ressentiments, so einzelne, die noch ausgebrochen sind, aber bewegte sich dann immer so zwischen 26 und 30 Stimmen […].“ (Interview Nr. 19)
Ergebnisse von mehr als 80 Prozent für die Gewählten sollten in der Vergangenheit insofern die Regel gewesen sein, wobei die diesbezüglichen Auswirkungen der Mitgliedschaft der Af D im Richterwahlausschuss abzuwarten sind.126
6. Gesicherte Zustimmung der Bundesministerin bzw. des Bundesministers In der Praxis üben die Bundesministerinnen und -minister ihre Rolle bei der Berufung der Bundesrichterinnen und -richter eher zurückhaltend aus,127 wie die Befragten einhellig, aber mit unterschiedlichen Nuancen, betonen. Einige Mitglieder des Richterwahlausschusses halten eine Ablehnung einer/eines vom Richterwahlausschuss Gewählten durch den/die zuständige/n Bundesminister/in für generell unrealistisch. „Reine Theorie. Graue, graueste aller grauen Theorien. Kommt nicht vor.“ (Interview Nr. 17)
Andere Mitglieder des Richterwahlausschusses nehmen eine etwas differenziertere Sicht ein und betonen, dass gegebenenfalls auftretende Differenzen im Vorfeld informell bereinigt werden. Zu einem formalen Veto komme es daher nicht.128
Ebenso Schübel (Fn. 63), 140; siehe ferner Rath (Fn. 102), 259. Eine Ausnahme dürften daher die Wahlen des Richterwahlausschusses in den Jahren 2001 und 2002 darstellen, wo ein Gewählter 24 von 32 Stimmen bzw. 17 von 31 Stimmen erhielt; siehe OVG Schleswig, 15.10.2001, 3 M 34/01 = NJW 2001, 3495 (3496) – Bundesrichterwahl; VG Schleswig, 17.6.2002, 11 B 10/02 = NJW 2002, 2657 (2658) – Bundesrichterwahl. Ein/e Befragte/r äußert den Konsens auch durchaus als Ziel im Richterwahlausschuss: „Sondern es kam darauf an, im Hinblick auf die Wahl und auf die Eignung für dieses Amt einen gemeinsamen Konsens zu erzielen.“ (Interview Nr. 3); siehe Scholz (Fn. 1), 165. 127 Dazu Wieland (Fn. 4 0), 217; Fuchs (Fn. 22), 34; Wittreck (Fn. 24), 308; Scholz (Fn. 1), 166 f.; Staats (Fn. 1), § 12 Rn. 8 f. 128 Siehe Scholz (Fn. 1), 167. 125
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„Es ist schon so, dass es manchmal Diskussionen gegeben hat – das ist wahr. Aber nach einem gewissen Diskussionsprozess gab es dann auch eine entsprechende Einigung. Ich habe bisher noch nicht erlebt […], dass es zu einer solchen Situation gekommen ist.“ (Interview Nr. 3) „Natürlich war [er/sie] tonangebend. [Er/Sie] hatte ja auch als [Bundesminister/in] die meisten Kontakte und viel Erfahrung, aber es ist nicht so, dass sich jemand unterbuttern lassen musste.“ (Interview Nr. 11)
Im Übrigen müssten die Vorsitzenden des Richterwahlausschusses nicht weniger für ihre Kandidatinnen und Kandidaten argumentieren und streiten, als die Mitglieder kraft Amt und kraft Wahl.129 Die zurückhaltende Rolle der Bundesjustizminister/ innen betonen diese auch selbst: „Als [Bundesminister/in] der Justiz war ich [Vorsitzende/r] des Richterwahlausschusses, hatte allerdings kein Stimmrecht[,] sondern nur die Aufgabe, die Sitzung zu leiten und bei den vorbereitenden Gesprächen mitzuwirken. Diese Gespräche waren sowohl mit den Bundesländern als auch mit den Obleuten der anderen Fraktionen. […] In meiner Amtszeit gab es keinen Fall des Vetorechts.“ (Interview Nr. 9) „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Vetorecht jemals angewandt worden ist, weil es natürlich einen Meinungsbildungsprozess mit Beurteilungen gibt. Man sitzt da nicht als [ Justizminister/in] und sagt: ,Nein, also, der geht gar nicht‘. Was [der/die] [ Justizminister/in] machen kann, betrifft gerade die Vorsitzendenstellen von Senaten […].“ (Interview Nr. 18)
Im Übrigen gibt es auch keine Anhaltspunkte, dass die im Rahmen der Erhebungen nicht befragten Bundesminister/innen für Arbeit und Soziales weniger zurückhaltend sind. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die zuständigen Bundesministerinnen und -minister die vom Richterwahlausschuss Gewählten niemals formal ablehnen. Die differierenden Einschätzungen zur Rolle der Bundesministerinnen und -minister mögen auch mit der jeweiligen Person verknüpft sein, sodass man annehmen kann, dass die Bundesjustizministerinnen und -minister sich je nach ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrer politischen Stärke auf informellem Wege in die Diskussionen einbringen. Wenn der Richterwahlausschuss aber eine Person gewählt hat, ist die Zustimmung durch den/die zuständige/n Bundesminister/in politisch gesichert.
V. Entscheidungskriterien bei der Bundesrichterberufung Bei der Bundesrichterberufung findet eine Vielzahl an Entscheidungskriterien Anwendung.
1. Fachliche Qualifikation Die aktuellen und ehemaligen Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses haben für ihre persönliche Entscheidung die fachliche Qualifikation der Kandidatinnen und Kandidaten als wichtigstes Kriterium angegeben,130 wobei sie Dazu Scholz (Fn. 1), 159. Ebenso Göhner (Fn. 15), 21, der die fachliche Qualifikation allerdings auch als „alleiniges Krite-
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eine entsprechende Prioritätensetzung bei anderen Mitgliedern gleichwohl immer wieder anzweifelten. Höchst unterschiedlich gestaltet sich allerdings die Operationalisierung dieses Kriteriums.
a) Examensnoten, dienstliche Beurteilungen und wissenschaftliche Tätigkeit Zentral sind für die Beurteilung der fachlichen Qualifikation zunächst die im Laufe des Berufslebens angesammelten dienstlichen Beurteilungen der Richterinnen und Richter sowie die später gesondert zu betrachtenden Stellungnahmen der Präsidialräte.131 Während für einige Befragte auch die Examensnoten noch eine gewisse Rolle spielen, halten andere diese aufgrund der beruflichen Weiterentwicklung der Kandidatinnen und Kandidaten für weniger relevant.132 „Zentrale Kriterien waren die Ergebnisse der Staatsexamen und die Beurteilungen, wobei es für mich immer wichtig war, die Entwicklung der dienstlichen Beurteilungen, die sich aus den Personalunterlagen ergab, auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.“ (Interview Nr. 12) „Von Staatsexamensnoten würde ich persönlich absehen, weil das ein Kriterium ist, das bei der Einstellung in den Richterdienst eine Rolle spielt. Nach Jahren, wenn jemand schon Praxiserfahrung hat, um sich für ein Bundesrichteramt zu bewerben, sollte das keine Rolle mehr spielen. Für mich sind die dienstlichen Beurteilungen entscheidend […].“ (Interview Nr. 11)
Kontroverse Auffassungen werden hinsichtlich der Frage vertreten, ob minimale Unterschiede beim Vergleich von dienstlichen Beurteilungen eine seriöse Entscheidungsgrundlage bilden oder nur eine künstliche Differenzierung darstellen. „Da gibt es Nuancen in den Beurteilungen, die allemal da sind. Man mag von Beurteilungen halten, was man will. Das ist nicht unbedingt die größte Weisheit. Aber sie ist nun mal da, wie sie ist, und da gibt es Nuancen.“ (Interview Nr. 22) „Bei uns ist das Beurteilungssystem […] schon durch die Rechtsprechung so auf die Spitze getrieben, dass es närrisch ist.“ (Interview Nr. 28)
Zudem wird angemerkt, dass dienstliche Beurteilungen als Eignungskriterium auch problematisch sein können, wenn Beurteilte/r und Beurteilende/r offensichtlich einen Konflikt austragen.
rium“ für die Mitglieder der Union angibt; vgl. ferner Spellbrink (Fn. 12), 24 ff.; Spellbrink (Fn. 10), 887 ff. 131 Dazu sogleich V.2. 132 Auch ein/e befragte/r Bundesrichter/in findet, dass die Examensergebnisse noch eine Rolle spielen sollen: „Die fachliche Qualifikation halte ich tatsächlich für eine Basisfrage, die kann – sollte aus meiner Sicht – auch in Examensergebnissen zum Ausdruck kommen. Das ist nicht jetzt die These, dass man nur mit Spitzenexamina hier erfolgreich sein kann. Ich habe solche, aber das ist keine prinzipielle Voraussetzung. Umgekehrt finde ich aber auch, wenn beide Examina in keiner Weise eine ansatzweise überdurchschnittliche Qualifikation belegen, würde ich jedenfalls erwarten, dass genauer hingeguckt wird, woraus diese sich denn nunmehr ergeben soll.“ (Interview Nr. 26) Siehe ferner Bohlander/Latour (Fn. 13), 438 f.
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„Und weil er Zoff hat, wird er herunter geschrieben. Jetzt habe ich doch als [Abgeordnete/r] das Recht und die Pflicht, wenn ich das rieche aus der Akte, mir dazu meine Gedanken zu machen.“ (Interview Nr. 17)
Dass angehende Bundesrichterinnen und Bundesrichter eine wissenschaftliche Tätigkeit vorweisen können müssen, betonen mehrere Befragte.133 Das findet auch Zustimmung bei einem/einer befragten Bundesrichter/in: „Ich finde, die wissenschaftliche Neigung und Befähigung der Kollegen, die gewählt werden sollen, wichtig. […] Wir, die obersten Gerichte, sind ganz eng – jedenfalls in unserem […] Bereich – mit den aktuellen Fragen der Wissenschaft verbunden und wenn man sich da überhaupt nicht zu Hause fühlt, hat man es nicht ganz leicht, in den Kontext reinzukommen.“ (Interview Nr. 26)
b) Abordnungen Häufig in den Lebensläufen von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern anzutreffen sind vorherige Abordnungen als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter insbesondere an die fünf obersten Gerichtshöfe und an das Bundesverfassungsgericht (sowie an Landes- und Bundesministerien).134 Fallen solche Abordnungen erfolgreich aus, gilt das zu Recht als Türöffner. „Also die Abordnungen zu Bundesgerichten spielen als Eignungskriterium eine ganz erhebliche Rolle. Da hat sich dann jemand schon mal an so einem Revisionsgericht oder am Bundesverfassungsgericht bewährt – unter ganz anderen Bedingungen. […] Weil man weiß schon mal, der kommt also mit der schriftlichen und kommunikativen Anforderung halbwegs klar, der hat eine realistische Vorstellung von den Arbeitsbedingungen da.“ (Interview Nr. 8)
Insofern sieht auch ein/e Bundesrichter/in in der Abordnung eine zentrale Weichenstellung für die eigene Berufung als Bundesrichter/in: „Also die Abordnung ist, glaube ich, gut gelaufen. Das hat schon wesentlichen Ausschlag gegeben.“ (Interview Nr. 23)
Gleichzeitig stellt eine vorherige Abordnung an das jeweilige Bundesgericht kein zwingendes Erfordernis dar, variieren Abordnungen gegebenenfalls in ihrer Bedeutung je nach Gerichtsbarkeit und – diese Schlussfolgerung liegt jedenfalls nahe – letztlich dürften sie eventuell für die Beurteilung durch den Präsidialrat eine größere Rolle spielen als für die Einschätzung der Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses. Denn gerade die Mitglieder des Präsidialrats kennen dann möglicherweise die bereits zuvor abgeordneten Kandidatinnen und Kandidaten persönlich aus ihrer Tätigkeit am Bundesgericht.135
Hierzu Schübel (Fn. 2), 1357. Dazu Schübel (Fn. 2), 1357; Rehder (Fn. 11), 287 ff.; Spellbrink (Fn. 12), 24 ff.; Spellbrink (Fn. 10), 882 f., 887, 889 ff. 135 Insofern betont ein/e Bundesrichter/in: „Wenn man nicht wissenschaftlicher Mitarbeiter war oder auch danach, dann, meine ich, ist bei uns wichtig, wie man sich in der Fachlichkeit – das heißt in der Gerichtsbarkeit an sich – bekannt macht.“ (Interview Nr. 24) Vgl. ferner Steiner (Fn. 65), 508 Fn. 46. 133
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„Aber da sind ja fast keine dabei, die das nicht mal waren. […] Das sind ja oft nicht die schlechtesten Leute, die ein bisschen beweglicher sind, die sich abordnen lassen […]. […] Es ist auch kein ,nur wer da mal war, kann es werden‘. Aber es ist bei vielen der Fall.“ (Interview Nr. 28) „Ein [Richter am Bundesgericht der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] ist heutzutage nicht zwangsläufig wissenschaftlicher Mitarbeiter. […] Natürlich würden die [Präsidenten des Bundesgerichts der Interviewpartnerin/des Interviewpartners], glaube ich, grundsätzlich natürlich gerne wissenschaftliche Mitarbeiter mehr haben.“ (Interview Nr. 24)
c) Beruflicher Werdegang Es werden vom Richterwahlausschuss zwar in der Regel (Landes-)Richterinnen und Richter gewählt, aber auch die Berufung von Personen beispielsweise aus Ministerien und Rechtsanwaltschaft kommt immer wieder vor.136 Dass die Kandidatinnen und Kandidaten ohnehin nicht selten bereits berufliche Erfahrungen in einem Landesministerium gesammelt haben und sich so dort bekannt machen konnten, betont ein/e (ehemalige/r) Bundestagsabgeordnete/r:137 „Es fällt auf, dass es überwiegend immer Personen sind, die eine größere Zeit in den Justizministerien verbracht haben und den vorschlagenden Landesministern bekannt sind. Es gibt also eher Länderkarrieren als Bundeskarrieren.“ (Interview Nr. 13)
Einige Befragte sehen Erfahrungen in der Verwaltung auch grundsätzlich positiv, wie die Schilderung eines (ehemaligen) Mitglieds kraft Amt von Erfahrungen auf Landesebene belegt: „Es gibt Fälle, in denen jemand, der eine Zeit lang in der Verwaltung gearbeitet hat, für eine Führungsfunktion in einem Gericht ausgewählt worden ist, worauf hin es dann Konkurrentenklagen mit der Begründung gab, dass der ausgewählte Kollege ja nicht die ganze Zeit beim Gericht, sondern lange Zeit in der Verwaltung war und es ihm dadurch an richterlicher Erfahrung fehle. Das ist aus meiner Sicht ganz falsch, weil es wichtig ist, verschiedene Erfahrungswelten mit einzubringen – gerade auch, wenn man als Richter tätig ist.“ (Interview Nr. 11)
Ein (ehemaliges) Mitglied kraft Wahl setzt hingegen andere Prioritäten – möglicherweise auch vor dem Hintergrund, dass, je nach Gerichtsbarkeit, grundsätzlich wohl viele Bundesrichterinnen und Bundesrichter aus der Rechtsmittelinstanz berufen werden.138 „Ich habe auch Kandidaten bevorzugt, die vorrangig Tatsachenrichter waren, während Richter, die aus der Rechtsmittelinstanz oder Ministerium vorgeschlagen wurden, nicht so sehr im Fokus meiner Wahlentscheidung standen. Gerade bei denjenigen, die aus den Ministerien kamen und die häufig überhaupt keine richterliche Erfahrung hatten, war ich sehr skeptisch.“ (Interview Nr. 12) 136 Dazu nur Schübel (Fn. 63), 140; Wieland (Fn. 4 0), 218; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 9, § 1 Rn. 6; Scholz (Fn. 1), 159. 137 Sehr kritisch hierzu Giesen, Das 4. Staatsexamen: Bewährte Praxis oder Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit?, DRiZ 2012, 375–377. 138 Siehe Spellbrink (Fn. 10), 882; vgl. ferner Schübel (Fn. 63), 140.
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Ferner wird darauf hingewiesen, dass nicht zuletzt die Besetzung von Führungsfunktionen in der Landesjustiz mit der Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern zu koordinieren ist und beispielsweise manch ein/e herausragende/r Jurist/in mit Managementfähigkeiten nicht bloß „einfache/r Bundesrichter/in“ werden, sondern allenfalls als Präsident/in des Bundesgerichts die Landesjustiz verlassen solle.139 „Diejenigen, die Justizmanager sind, […] habe ich viel lieber als Landgerichts- oder Oberlandesgerichtspräsidenten.“ (Interview Nr. 14)
Eine mangelnde Vielfalt in den beruflichen Werdegängen der Bundesrichterinnen und Bundesrichter stößt allerdings teilweise auch auf Kritik: „Haben Sie sich mal angesehen, wer gewählt wird? Die Karriere von den Leuten ist immer gleich. Gute Noten, Richter geworden, Assistent irgendwo an einem OLG oder am BGH geworden, zurückgegangen, gute Bewertungen, weil im Prozedere unauffällig. Alles eben sehr ähnlich. Die Bewerber kennen die Rechtsprechung in- und auswendig.“ (Interview Nr. 7)
Daher wünscht sich diese/r Befragte mehr Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als Bundesrichterinnen und Bundesrichter, was jedoch an den Beurteilungen des Präsidialrats gescheitert sei. „Ich habe, auch um eine andere Perspektive in die Senatsentscheidungen einzubringen, mehrfach versucht, Anwälte, die bereit waren, zum obersten Bundesgericht zu gehen, die ordentliche Noten hatten, die manchmal sogar ganz tolle Noten hatten, dorthin zu bekommen und immer kam eine Ankündigung eines ,nicht geeignet‘, teilweise mit der simplen Begründung, man habe keine richterliche Erfahrung. Wollen wir nur oberste Bundesrichter, die nur Richter waren?“ (Interview Nr. 7)
Ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in ist hingegen der Auffassung, dass die Berufung von geeigneten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten eher daran scheitert, dass diese das Bundesrichteramt – wirtschaftlich – nicht ausreichend attraktiv fänden. „Ein Rechtsanwalt am BGH verdient ein Vielfaches von Richtern am BGH. Ich kenne ein paar von diesen Anwälten am Bundesgerichtshof. Ich weiß von keinem, der lieber Richter am Bundesgerichtshof wäre.“ (Interview Nr. 22)
d) Fachgebiet In der Literatur wurde teilweise Kritik am Richterwahlausschuss geübt, „dass der BGH dringend Ziviljuristen sucht, aber Strafjuristen gewählt werden.“140 Einige Be139 Auch ein/e Bundesrichter/in weist auf einen Zusammenhang zwischen Stellenbesetzung auf Landes- und Bundesebene hin: „Ich mache aber deutlich, dass dem Vorschlag des Landes […] in meinem konkreten Fall auch eine Bewerbung von mir um eine Stelle vorangegangen ist, für die mich das Land erkennbar nicht vorgesehen hatte, sodass der Vorschlag des Landes einerseits Ausdruck von einer gewissen Wertschätzung meiner bisherigen Tätigkeit war, andererseits auch Teil einer Absprache, dass ich die andere Bewerbung nicht weiter verfolgen sollte.“ (Interview Nr. 26) 140 Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 10.
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fragte wehrten sich gegen diese Kritik und betonen, dass die gewählten Richterinnen und Richter in der Lage wären, sich in beide Bereiche einzuarbeiten. „Jemandem, der für sich das Niveau in Anspruch nimmt, Bundesrichter zu sein, muss ich auch abverlangen, dass er in der Lage ist, in beiden Bereichen tätig zu werden. Es ist kein gutes Zeichen, wenn man sagt: ,Ich bin Strafrichterin oder Strafrichter und ich mache nur das.‘ Dann hat man sich aus meiner persönlichen Sicht eigentlich schon selbst ins Abseits gestellt.“ (Interview Nr. 2)
Andere Befragte gaben hingegen an, (zumindest teilweise) darauf geachtet zu haben, ob Kandidatinnen und Kandidaten eine zivil- oder strafrechtliche Prägung hätten und wie das mit den Bedürfnissen des Bundesgerichtshofs korrespondiert. „Es gibt Richterinnen und Richter, die in ihrem richterlichen Leben praktisch nur im Bereich des Strafrechts gearbeitet haben. Für die ist es schon eine gewaltige Herausforderung, wenn sie dann beim Bundesgerichtshof in einem Zivilsenat eingesetzt werden. Im Regelfall sind das gute Juristen, die auch über das nötige Abstraktionsvermögen verfügen und sich auch seriös einarbeiten können. Aber das ist schon eine erhebliche Belastung für die betreffenden Richter und zudem eine gehörige Ressourcenverschwendung, weil die Einarbeitungsphase erheblich länger dauert als bei Richtern mit einer zivilrichterlich geprägten Lauf bahn. Ich weiß, dass der Präsident des Bundesgerichtshofes sich darüber häufig beklagt hat und habe dafür auch Verständnis gehabt.“ (Interview Nr. 12)
Zudem gibt es aber offenbar immer wieder Situationen, in denen die Bundesgerichte sich einen Experten bzw. eine Expertin für ein spezielles Rechtsgebiet wünschen.141 Diesem Wunsch wird dann, nach den Auskünften der Befragten, durchaus mit Wohlwollen begegnet.142 So geht auch ein/e befragte/r Bundesrichter/in davon aus, dass seine/ihre Fachkenntnisse in einem speziellen Rechtsgebiet, in dem zum Zeitpunkt der Wahl Bedarf am Bundesgericht bestand, für die Berufung bedeutsam war:143 „Eine ausgewiesene fachliche Qualifikation in dem Gebiet, in dem gerade hier ein Mangel war, hat richtig genützt. Der Staatssekretär hat mir die Urkunde […] mit dem Satz übergeben: ,Ach, Sie mussten wir wählen wegen [Rechtsgebiet des Senates der Interviewpartnerin/des Interviewpartners]!‘“ (Interview Nr. 26)
e) Fachliche Qualifikation als grundlegendes Kriterium Die fachliche Qualifikation ist insofern das zentrale Kriterium, als in der Regel – Ausnahmen mag es geben – nur Personen, die hochqualifiziert sind, von den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses überhaupt als Bundesrichterinnen und Bundesrichter in Betracht gezogen werden.144 Gleichsam fällt auf, dass die Unterschiede in der fachlichen Qualifikation an Bedeutung verlieren, wenn eben jenes hohe Niveau von einer Kandidatin oder einem Kandidaten erreicht wird – die Dazu Scholz (Fn. 1), 162 f. So auch Scholz (Fn. 1), 163. 143 Vgl. jedoch Spellbrink (Fn. 12), 24 f.; Spellbrink (Fn. 10), 887, 889 f. 144 So ferner Wieland (Fn. 4 0), 218. 141
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Differenzen zwischen den vorgeschlagenen Personen werden dann zwar nicht irrelevant, aber in diesem Moment kommen weitere Kriterien ins Spiel.145 „Erst einmal müssen sie alle hervorragend qualifiziert sein, sonst darf man sich gar nicht damit beschäftigen. Wir haben Gott sei Dank in jedem Bundesland sicherlich etliche Richter, die für oberste Gerichte in Betracht kommen. Natürlich ist das noch mal ein Unterschied, wenn es um ein ganz spezielles Gericht wie den Bundesfinanzhof geht. […] Aber beim Bundesgerichtshof hat man natürlich einen anderen Fundus, aus dem man wählen kann. […] Wenn man dann die Besten hat, hat man immer noch viel mehr als man dort auf den Schild heben kann.“ (Interview Nr. 2)
2. Stellungnahmen der Präsidialräte Die Stellungnahmen der Präsidialräte sind in keiner Weise bindend für den Richterwahlausschuss und den/die zuständige/n Bundesminister/in.146 Sie werden allerdings ernsthaft in die Abwägungen einbezogen und stellen ein wichtiges Kriterium dar.147 „Wir haben das schon sehr ernst genommen. Was wir eigentlich nicht wollten, war, dass wir Personen, wo wir den Eindruck hatten, dass die entgegen ihrer Qualifikation nach oben geschoben wurden, unterstützen.“ (Interview Nr. 21)
Gleichzeitig werden die Inhalte der Stellungnahmen aber überwiegend und parteiübergreifend nicht unkritisch gesehen, weil den Präsidialräten der Bundesgerichte eine eigene Agenda unterstellt wird.148 Dies gilt erstens in der Hinsicht, dass die Präsidialräte für das Gericht möglichst unkomplizierte Personen bevorzugen würden. „Sie waren für uns nicht immer nachvollziehbar. […] Diese Vermerke sind wichtig, sie geben Hinweise darauf, ob Probleme in der Zusammenarbeit zu befürchten sind. […] Weil ich der Auffassung bin, dass die Präsidialräte vielleicht zu stark die Situation des Gerichts im Blick haben, z.B. keinen Streit haben wollen, keine unbequemen Personen da hinein haben wollen, keine exponierten Persönlichkeiten suchen. Wir kannten auch die Gerichtspräsidenten, ihre Vorlieben und Abneigungen.“ (Interview Nr. 11)
Zweitens nimmt ein/e (ehemalige/r) Bundestagsabgeordnete/r an, dass die Präsidialräte „formale Kriterien“ zu hoch gewichten. „Ich glaube, dass so ein Präsidialrat sehr auf formale Kriterien achtet, z.B. ob die Kandidat/ innen beim Oberlandesgericht oder beim Landgericht waren. Ich schaue eher danach, was die Siehe Wieland (Fn. 4 0), 218. Ganz h.M.: BVerfGE 143, 22 (34 f., 37) – Bundesrichterwahl [2016]; VGH Mannheim, 6.6.2018, 4 S 756/17 = BeckRS 2018, 14356 (Rn. 34) – Präsidialratsstellungnahme; OVG Lüneburg, 10.12.2015, 5 ME 199/15 = NVwZ 2016, 786 (791) – Bundesrichterwahl; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 33; Wieland (Fn. 4 0), 222; Bowitz (Fn. 17), 641 f.; Gärditz (Fn. 4), 330 f.; Fuchs (Fn. 22), 35; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 127, 133; Wittreck (Fn. 24), 294; Lovens (Fn. 7 ), 467. 147 Ebenso Scholz (Fn. 1), 165; a.A. Schübel (Fn. 2), 1356, die kritisiert, „[der] Wahlausschuss nimmt die Stellungnahmen der Präsidialräte zur Eignung der Kandidierenden kaum zur Kenntnis“, aber auch feststellt: „Wer als nicht geeignet beurteilt wird, hat keine Chance, gewählt zu werden.“; vgl. ferner Bowitz (Fn. 17), 644. 148 Hierzu Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 12; Wittreck (Fn. 24), 294 f.; Arndt (Fn. 7 ), 24 f. 145
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Personen inhaltlich vertreten, weil manche Querdenker möglicherweise eine schlechtere Beurteilung haben, aber meiner Meinung nach innovative Ansätze vertreten.“ (Interview Nr. 6)
Ganz grundsätzlich wird aber auch drittens das Selbstverständnis der Präsidialräte scharf kritisiert, die nach Ansicht mehrerer Befragter gerne selbst die Auswahl der zukünftigen Bundesrichterinnen und Bundesrichter übernehmen würden.149 „Ich würde das mit dem Wort umschreiben: Das ist der Versuch der Inzucht.“ (Interview Nr. 14)
Ein/e Befragte/r will schon rechtlich fragwürdige Stellungnahmen der Präsidialräte ausgemacht haben. „Ich habe schon Eignungsbeurteilungen gesehen, wo ich gesagt habe: ‚Die würden die rechtliche Kontrolle beim Verwaltungsgericht nicht überstehen.‘ Weil die Begründungen abseitig waren. […] Also man muss da auch ein bisschen vorsichtig sein.“ (Interview Nr. 8)
Allerdings üben andererseits auch einige Befragte Kritik an der überwiegenden Haltung im Richterwahlausschuss und würden die Stellungnahmen der Präsidialräte gerne stärker berücksichtigt sehen. „Und wenn, obwohl es mehrere mit ,voll ausgezeichnet‘, also der besten Note gibt, einer gewählt wird, der ,geeignet‘ ist[,] dann geht es nicht nur nach Leistungskriterien.“ (Interview Nr. 18)
Nach der ersten Erhebungsrunde, der diese Aussagen entstammen, wurde das Verfahren geändert: Differenzierten die Präsidialräte vorher auf einer mehr als zweistufigen Skala, etwa von „besonders geeignet“ mit mehreren Abstufungen bis „nicht geeignet“,150 beurteilen die Präsidialräte mittlerweile nur noch zwischen „geeignet“ und „nicht geeignet“.151 Auf diese zweistufige Unterscheidung reduzierte der überwiegende Teil des Richterwahlausschusses im Wesentlichen wohl auch schon zuvor die Stellungnahmen – diese Neuerung trifft indes in der Bundesrichterschaft auf ein differenziertes Echo. „Man hat dann eben jemanden, dem man nunmehr […] die Eignung oder Nichteignung auszusprechen hat. Das, denke ich, kann man anhand von Akten und einem kurzen Kennenlernen garantieren. Mehr aber auch eigentlich nicht. So gesehen ist es richtig, dass man das mit den Noten abgeschafft hat.“ (Interview Nr. 24) „Das scheint mir den fachlichen Anteil, den der Präsidialrat ja in dieses gesamte Verfahren einzuspeisen hat, eher nicht gerecht zu werden und führt auch nur dazu, dass diese Bewertungen statt in einem Gesamturteil offen ausgewiesen zu werden, eher in die Einzelbeurteilungen einfließen.“ (Interview Nr. 26)
Eine Beurteilung der Präsidialräte eines Kandidaten oder einer Kandidatin als „nicht geeignet“ für das Amt der Bundesrichterin bzw. des Bundesrichters führt in aller
Dazu Minkner (Fn. 8), 248; Arndt (Fn. 7 ), 24 f. Hierzu Faissner (Fn. 8), 315; Wieland (Fn. 4 0), 216 f.; Bowitz (Fn. 17), 643; Tschentscher (Fn. 7 ), 328; Wittreck (Fn. 24), 294; Scholz (Fn. 1), 162; Goll (Fn. 7 ), 122. 151 So Wieland (Fn. 4 0), 216 f., 222 f.; siehe auch Rath (Fn. 102), 258 f. 149
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Regel dazu, dass diese Person vom Richterwahlausschuss nicht weiter berücksichtigt wird.152 „Dann gibt es auch noch die Note ,der/die ist nicht geeignet‘ und dieses ,nicht geeignet‘ ist schon ziemlich ,tödlich‘. Man könnte natürlich darüber hinweggehen und sagen, dass die Beurteilung parteilich ist. Dafür müssten aber schon deutliche Hinweise bestehen.“ (Interview Nr. 2)
Gleichzeitig wird aber auch die Gefahr einer Beeinflussung durch eine solche Praxis gesehen.153 „Selbst die Bewertung als ,nicht geeignet‘ ist auch nicht ganz ohne, weil die Präsidialräte bei den Bundesgerichten wissen: Wenn sie jemanden als ,nicht geeignet‘ beurteilen, ist der aus dem Rennen.“ (Interview Nr. 8)
Letztlich sind die Stellungnahmen der Präsidialräte insofern ein zentrales Kriterium als eine von den Präsidialräten festgestellte fehlende Eignung regelmäßig einen Ausschlussgrund darstellt und darüber hinaus die Stellungnahmen relevantes, aber nicht allein entscheidendes Abwägungsmaterial für die Entscheidung der Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses liefern.
3. Regionale Herkunft Dass die regionale Herkunft ein sehr großes Gewicht bei der Entscheidung über die zukünftigen Bundesrichterinnen und Bundesrichter einnimmt, wird in fast allen Interviews deutlich.154 Wenig überraschend messen die befragten (ehemaligen) Landesjustizministerinnen und -minister für ihre persönliche Suche nach Kandidatinnen und Kandidaten der regionalen Herkunft eine deutlich höhere Bedeutung bei, was sich dadurch manifestiert, dass sie nur Kandidatinnen und Kandidaten aus ihrem Bundesland vorschlagen. „Ich kann ja nur die vorschlagen, wo ich weiß, die arbeiten in meinem Geschäftsbereich seit 10, 20 Jahren erfolgreich in ihrem Bereich […].“ (Interview Nr. 5)
Durch den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses zur Verfügung gestellte vergleichende Berechnungen über die jedem Bundesland bei den Bundesgerichten „zustehende“ und tatsächliche Anzahl an Bundesrichterinnen und Bundesrichtern wird darauf geachtet, dass die Bundesländer an den obersten Gerichtshöfen zwar nicht exakt, aber doch in einem angemessenen Verhältnis zu ihrer jeweiligen Größe vertreten sind.155 „Und wo man sehr darauf achtet, ist der Länderproporz. Wir bekommen immer so Listen auch im Vorfeld, wo drin steht: Nach seinem Bevölkerungsanteil müsste [Bundesland der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] beim BGH, sagen wir mal [Zahl] Richter haben, 152 Ebenso Eckertz-Höfer (Fn. 35), 101; Wieland (Fn. 4 0), 217; Bowitz (Fn. 17), 644; Schübel (Fn. 2), 1356; Scholz (Fn. 1), 163. 153 Vgl. Arndt (Fn. 7 ), 24. 154 Siehe auch Schübel (Fn. 2), 1356; Brückner (Fn. 102), 45 f.; Nordmann (Fn. 59), 140; Spellbrink (Fn. 12), 24 ff.; Spellbrink (Fn. 10), 887 ff., 894. 155 Dazu BVerfGE 143, 22 (24) – Bundesrichterwahl [2016]; Scholz (Fn. 1), 160 ff.
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[…] haben aber aktuell besetzt nur [Zahl] oder so. Das heißt ,-[Zahl]‘. […] Dann gibt es andere Bundesländer, vielleicht [Bundesland A], die haben dann zwei mehr als ihnen eigentlich zusteht. So und dann schaut man natürlich, dass – wenn das Verhältnis so ist – dass man dann nicht noch einen aus [Bundesland A] wählt, sondern einen aus [Bundesland der Interv iew partnerin/des Interviewpartners], um diesen Länderproporz ungefähr gleichmäßig hinzubekommen.“ (Interview Nr. 5)
Eine staatstheoretische Begründung für diese Vorgehensweise führt ein/e Befragte/r an: „Weil wir sind ein Bundesstaat und ein Bundesstaat hat eine hohe Integrationskraft. Und die Kraft muss sich auch in den Bundeseinrichtungen und auch in den Bundesgerichten niederschlagen […]. Der Zusammenhalt, der drückt sich auch in zusammengesetzten Personalkörpern aus.“ (Interview Nr. 8)
Eine gewisse Relativierung eines strengen Regionalproporzes zeigt sich insbesondere an vier Stellen: So wünschen sich erstens kleine Bundesländer naturgemäß, dass sie nicht übergangen werden.156 „Es spricht auch einiges dafür, dass jedes Land vertreten sein sollte. […] Wenn man 16 Länder hat und es gibt mehr als 16 Richter, dann ist es vernünftig, dass da jedes Land auch da vertreten ist.“ (Interview Nr. 8)
Zweitens sehen sich die Bundestagsabgeordneten im Richterwahlausschuss, für die das Kriterium der regionalen Herkunft eine etwas geringere Bedeutung hat, in einer anderen Rolle als die Mitglieder kraft Amt. Wie viel geringer die Bedeutung der regionalen Herkunft für die Bundestagsabgeordneten ist, scheint dabei von ihren individuellen Überzeugungen abzuhängen. „Eigentlich ist es so, dass die Ländervertreter natürlich zunächst einmal ihre Kandidaten aus den Bundesländern im Auge haben. Das ist, denke ich, auch legitim. Wir, von Seiten der Bundestagsfraktion, haben natürlich das übergeordnete Interesse zu sehen.“ (Interview Nr. 3)
Dass drittens die Zuordnung von Kandidatinnen und Kandidaten zu einem Bundesland nur auf dem Papier einfach ist, aber für die Praxis möglicherweise nur begrenzte Aussagekraft hat, veranschaulicht ein/e (ehemalige/r) Bundestagsabgeordnete/r: „Ich habe Personen, die wohnen in [Bundesland A] und sind in [Stadt im Bundesland der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] am Gericht. Sie sind damit [Bundesland der Interviewpartnerin/des Interviewpartners]-Richter. Aber eigentlich sind sie [Bürger des Bundeslandes A]. Sie sind auch z.B. parteipolitisch in [Bundesland A] aktiv. Wer da zu wem zählt, wer woher kommt, ist dann immer so eine Frage, denn Geburtsort oder die Frage, woher meine Familie kommt[,] spielen keine Rolle.“ (Interview Nr. 7)
Viertens ist ferner zu beachten, dass es dem Bundesland, in dem ein Bundesgericht seinen Sitz hat, sowie gegebenenfalls dessen Nachbarbundesländern in der Regel leichter fallen wird, für einen Wechsel zur Verfügung stehende Kandidatinnen und Kandidaten zu finden – zumal auch vorherige Abordnungen an das jeweilige Bundesgericht oder, bei den südlichen Bundesländern, an das Bundesverfassungsgericht
Vgl. Mackenroth (Fn. 7 ), 214.
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weniger aufwendig sind.157 Hingegen ist es für die nördlichsten Bundesländer tendenziell eine größere Herausforderung, Personen vorzuschlagen. „Was man sehen muss, ist, dass es zum Teil gar nicht so leicht ist, Personen zu finden, die bereit sind, an solch ein Bundesgericht zu gehen, weil selbst qualifizierte Richter sich natürlich überlegen, ob es für sie eigentlich interessant ist, sich dann noch einmal örtlich zu verändern. […] [Wenn] man berücksichtigt, dass man dann die ganze Zeit immer von der Familie entfernt ist und hin- und herfahren muss, ist das ja auch nicht so besonders attraktiv. Das ist nicht so leicht und dazu kommt, dass es eigentlich ganz wichtig ist, dass die Richter vorher entsprechend abgeordnet waren. […] Zu diesen Abordnungen muss man die Leute aber erst mal bringen. […] Da spielt die räumliche Distanz auch eine große Rolle […].“ (Interview Nr. 21)
Im Ergebnis bleibt es aber trotz dieser Einschränkungen dabei, dass die angemessene Berücksichtigung der Bundesländer eines der zentralen Kriterien des Richterwahlausschusses darstellt.
4. Parteimitgliedschaft Vielfältig und kontrovers wird seit langem der mögliche Einfluss einer Parteimitgliedschaft oder der politischen Einstellung der Kandidatinnen und Kandidaten auf ihre Berufung als Bundesrichterinnen und Bundesrichter diskutiert.158 Goll ist etwa überzeugt, „daß bei den Auswahlentscheidungen […] nicht immer Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Kandidaten, sondern immer wieder parteipolitische Überlegungen den Ausschlag geben.“159 Zahlreiche Befragte bestreiten vehement, dass eine übereinstimmende Parteimitgliedschaft für sie bei der Auswahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter eine Rolle spielt – mit Blick auf die anderen Mitglieder des Richterwahlausschusses wird allerdings auch hier wieder teilweise das Gegenteil vermutet – und grenzen dabei die Berufung der Richterinnen und Richter der obersten Gerichtshöfe von der Wahl der Bundesverfassungsrichterinnen und -richter ab. Dabei wird vereinzelt auch darauf hingewiesen, dass sich die Landesjustizverwaltungen nicht mit zwar parteipolitisch übereinstimmenden, aber fachlich 157 Dazu ein/e Bundesrichter/in: „Es ist immer so, dass die Gerichtsbarkeiten, die nah an dem Standort des obersten Bundesgerichts sind – wo einfach auch ein stärkerer gesellschaftlicher Austausch stattfindet – potenziell stärker berücksichtigt sind. […] Dessen muss man sich bewusst sein.“ (Interview Nr. 26) 158 Siehe dazu nur v. Bernstorff (Fn. 26), 144 ff.; Faissner (Fn. 8), 312 ff.; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 30; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 41; Bowitz (Fn. 17), 639; Bülow, Qualitätssicherung als Herausforderung in der Sozialrechtsprechung. – 47. Richterwoche des Bundessozialgerichts vom 3. bis 5.11.2015 –, VersR 2016, 163 (164); Gärditz (Fn. 4), 325 ff.; Minkner (Fn. 8), 255 ff.; Towfigh (Fn. 14), 133 ff.; Schübel (Fn. 2), 1355 ff.; Brückner (Fn. 102), 45; Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 11, 20; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 5 ff.; Tschentscher (Fn. 7 ), 327 ff.; Wittreck (Fn. 24), 308 f.; 312; Spellbrink (Fn. 12), 24 ff.; Spellbrink (Fn. 10), 883 f., 887 ff.; Scholz (Fn. 1), 151 ff.; Arndt (Fn. 7 ), 23 ff.; Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 455 ff.; Rasehorn (Fn. 7 ), 29 ff.; Rüthers (Fn. 7 ), 369 ff.; Staats (Fn. 7 ), 338 ff.; Goll (Fn. 7 ), 121 ff.; Mackenroth (Fn. 7 ), 214; Bohlander/Latour (Fn. 13), 437 ff.; Baer, Ergebnisse einer Fallstudie zur richterlichen Unabhängigkeit, Zf RSoz 1996, 105 (110); Gmach (Fn. 15), 302 f.; Göhner (Fn. 15), 21 f.; Vultejus, Nochmals (Fn. 15), 39 f.; Wagner (Fn. 15), 39; May (Fn. 15), 480 f.; Vultejus, Parteizugehörigkeit (Fn. 15), 393; Mahrenholz (Fn. 104), 434. 159 Goll (Fn. 7 ), 122.
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ungeeigneten Bundesrichterinnen und Bundesrichtern selbst diskreditieren wollen – es sei insofern „eine Frage der Ehre“. Im Übrigen wird von den Befragten betont, dass erstens ihnen meistens eine etwaige Parteimitgliedschaft gar nicht bekannt und zweitens der Anteil an Parteimitgliedern unter den für eine Berufung in Betracht kommenden Kandidatinnen und Kandidaten ihres Erachtens ohnehin eher gering sei.160 „Überhaupt: Ich wusste nie, ob die einer Partei angehören, was ja auch gar nicht so häufig ist in der Justiz, dass jemand von den Richtern einer Partei angehört. Gibt es, aber es ist nicht die Regel.“ (Interview Nr. 22)
Teilweise, so geben vereinzelt Befragte an, interessiere sie die Parteimitgliedschaft, um eine ausgewogene Besetzung der Bundesgerichte zu erreichen.161 „Sicherlich spielt es auch eine Rolle, wenn man für eine gewisse Ausgewogenheit sorgen will. Es soll sich ja auch das Spiegelbild der Gesellschaft darin wiederfinden, aber es war – jedenfalls bei mir – nie ausschlaggebend, ob jemand sich in einer Partei bzw. meiner Partei befindet, sondern für mich war vielmehr […] die persönliche und fachliche Qualifikation ausschlaggebend.“ (Interview Nr. 11)
Gleichzeitig lassen die Äußerungen einzelner Befragter aber auch erkennen, dass eine übereinstimmende Parteimitgliedschaft bei ansonsten gleicher Eignung von Kandidatinnen und Kandidaten den Ausschlag geben kann. „Deswegen ist es schon so, dass die Qualität das Primäre ist. Wenn man dann jemanden hat, der der eigenen Partei nahesteht, dann kommt das sicherlich bei dem einen oder anderen noch dazu. Wenn man drei gute Leute hat und man hat einen aus der eigenen Partei, dann hat er sicherlich die Nase vorn. Aber der These, dass die politische Zugehörigkeit das Entscheidende ist, kann ich nicht zustimmen.“ (Interview Nr. 2)
Die Bundestagsabgeordneten generieren ihre Vorschläge ferner nicht selten über Parteiverbindungen, weshalb die parteipolitische Orientierung der Kandidatinnen und Kandidaten durchaus von Relevanz sein kann. „Insofern wird geschaut, welches eigene Personal zur Verfügung steht. Natürlich steht dahinter die Vorstellung, dass sich ein gewisses Weltbild auch in einem gewissen Blick auf gewisse Dinge widerspiegelt. Das ist so.“ (Interview Nr. 13)
Annahmen, dass es nach profansten Parteilogiken gehen könnte, wird indes mit Verweis auf die Komplexität des Verfahrens widersprochen. „Sie sehen, dass der Abgeordnete an der Stelle mitnichten in diesem sehr austarierten System so frei ist, dass er sagt: ,Jetzt will ich den!‘ oder ,Der hat mal zehn Plakate gehängt, deswegen wird er jetzt Bundesrichter!‘ Das funktioniert nicht in einem austarierten Verfahren.“ (Interview Nr. 13)
Auch die eigene Ministerialverwaltung wäre im Übrigen eine Hürde, falls ein/e Landesjustizminister/in die Parteimitgliedschaft zu hoch gewichten wolle. „Und wenn ich dem Personalmenschen oder dem Abteilungsleiter jetzt gesagt hätte: ,Aber hier, diese [Partei der Interviewpartnerin/des Interviewpartners]-Pappnase, die muss aber das Hierzu Baer (Fn. 158), 110; Gmach (Fn. 15), 302. Kritisch dazu Staats (Fn. 7 ), 341.
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nächste Mal beim Bundesgerichtshof dabei sein.‘ Der hätte das anders gemacht. Der hätte nie gesagt: ,[…], Sie sind ein Arschloch.‘ Aber er hätte sich so verhalten.“ (Interview Nr. 14)
Darauf, dass eine Parteimitgliedschaft nicht zwingend mit einer Übereinstimmung der rechtspolitischen Ansichten einhergehen muss, verweist ein/e andere/r Befragte/r: „Nur weil jemand in meiner Partei ist, muss der ja nicht automatisch in Rechtsfragen meinen Standpunkt vertreten. Ich kann mich ganz dunkel daran erinnern, dass der Amtsrichter […] mal für die [Partei der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] kandidiert hat. Der hat z.B. im Jugendstrafrecht Positionen vertreten, wo ich gedacht habe, dass die Hauptsache ist, dass der Mann nicht in den Bundestag kommt. Schlimm genug, dass der Kandidat ist.“ (Interview Nr. 6)
Dass in der Vergangenheit ausgeübte, niedrigere Parteiämter oder kommunalpolitische Mandate, gleich in welcher Partei, jedoch nicht nachteilig sein sollen, betonen zahlreiche Befragte. „Wenn Sie beispielsweise Abgeordneter in einem Kreistag sind, ist damit ein sehr hoher persönlicher Aufwand verbunden. Warum soll das jemandem zum Nachteil gereichen? Egal, welcher Partei er angehört, mit Ausnahme von Rechts- und Linksextremen.“ (Interview Nr. 13)
Ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in erläutert, dass für ihn/sie vergangene Parteiämter oder kommunalpolitische Mandate bei der Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern insofern auch nicht von Interesse gewesen seien – anders als bei der Besetzung führender Funktionen in der Landesjustiz. „Ich gebe zu, dass es mich bei den Bundesrichtern nicht interessiert hat. Mich hat es schon interessiert, wenn jemandem Führungsaufgaben der [Bundesland der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] Justiz übertragen werden sollten […]. Dann hat mich das schon interessiert, aber beim Bundesrichter nicht.“ (Interview Nr. 14)
Als Ergebnis der Befragung hinsichtlich des Kriteriums der Parteimitgliedschaft ist festzuhalten, dass diesem Kriterium keine besonders große Bedeutung zukommt, was nicht zuletzt auch an der Zurückhaltung vieler Richterinnen und Richter hinsichtlich einer Parteimitgliedschaft liegt. Bei der Suche nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten spielt es im Einzelfall bei den Bundestagsabgeordneten im Vergleich zu den Landesjustizministerinnen und -ministern – auf einem niedrigen Niveau – eine etwas größere Rolle und eine übereinstimmende Parteimitgliedschaft mit der/dem Vorschlagenden kann sowohl bei den Bundestagsabgeordneten als auch bei den Landesjustizministerinnen und -ministern nützen. Ebenso kann eine deutlich widersprechende Parteimitgliedschaft im Vergleich zum Vorschlagsberechtigten den Weg auf die Liste der Kandidatinnen und Kandidaten erschweren. Werden nun in seltenen Ausnahmefällen profilierte Parteipolitikerinnen und -politiker als Bundesrichterinnen und Bundesrichter vorgeschlagen, hängen deren Erfolgschancen auch davon ab, wie sehr sie der parteipolitischen Gegenseite widerstreben und ob die parteipolitisch übereinstimmende Seite in dem Fall möglicherweise bereit ist, für die Durchsetzung der Person der Gegenseite etwas anzubieten.
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5. Rechtspolitische Ausrichtung Den Aussagen zahlreicher Befragter lässt sich entnehmen, dass für sie die rechtspolitischen Ansichten einer Kandidatin oder eines Kandidaten eine Rolle spielen. So betont ein (ehemaliges) Mitglied des Richterwahlausschusses kraft Wahl: „Natürlich schaut man – das bestreite ich nicht – bei diesen ganzen Gebieten, ob eine juristisch fundierte Position, die der eigenen politischen Grundeinstellung nahekommt, zur Kandidatur für ein Richteramt steht. Natürlich schaut man danach. Es wäre auch absurd, das zu bezweifeln.“ (Interview Nr. 6)
Gerade beim Bundesarbeitsgericht162 ist die Frage, ob ein/e Kandidat/in eher als arbeitnehmer- oder arbeitgeberfreundlich einzuordnen ist, häufiger Gegenstand der Abwägungen. „Es wurde, z.B. was die Arbeitsgerichtsbarkeit angeht, schon betrachtet, wie das Bundesarbeitsgericht sich in seiner Rechtsprechung ausgerichtet hat und da wurden natürlich Befürchtungen oder Wünsche geäußert, inwieweit sich die Auswahl einer Person auf die künftige Rechtsprechung auswirken würde.“ (Interview Nr. 11)
Aber auch mit Blick auf die Sozialgerichtsbarkeit wird die rechtspolitische Ausrichtung thematisiert. „Wenn ich jetzt weiß: Das ist jetzt ein [strenger Verfechter einer bestimmten politischen Richtung], der das auch noch dann – vielleicht durch Zufall – durch ein entsprechendes Parteibuch zum Ausdruck bringt, aber dann ist das Kriterium nicht das Parteibuch, sondern vielleicht seine [politische Richtung] Einstellung, wo ich sage: ,Das passt dann vielleicht für ein Sozialgericht doch nicht so. […]‘“ (Interview Nr. 5)
Ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in sieht die politische Ausrichtung von Kandidatinnen und Kandidaten unterschiedlich priorisiert bei Mitgliedern kraft Wahl und Mitgliedern kraft Amt – nämlich stärker bei Ersteren und schwächer bei Letzteren. „Sie spielt auf alle Fälle auch eine Rolle, aber wie gesagt, unter sechs Kriterien ist sie bei den Justizverwaltungen eines. Bei den Bundestagsabgeordneten habe ich das Gefühl, da ist sie Priorität eins und zwei zusammen.“ (Interview Nr. 14)
Gleichzeitig wird aber auch eingeschränkt, dass das Verhalten als Bundesrichterin oder Bundesrichter selten prognostizierbar und bereits die politische Ausrichtung immer wieder nicht bekannt sei. Anderer Auffassung ist ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in jedenfalls hinsichtlich letzterer Feststellung mit Blick auf die Arbeitsgerichtsbarkeit: „Die sind bei der Arbeitsgerichtsbarkeit alle irgendwie identifiziert; wie auch immer das dann tatsächlich funktioniert, weil Urteile ja auch mal so oder mal so ausfallen. Aber sie sind es.“ (Interview Nr. 21)
162 Siehe May (Fn. 15), 480, der ein höheres „[politisches] Interesse“ an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und Bundesfinanzhofs annimmt; vgl. im Übrigen Rehder (Fn. 11).
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Schließlich äußern sich (ehemalige) Bundestagsabgeordnete ganz unterschiedlicher Parteien kritisch zu Richterinnen und Richtern, die ihres Erachtens bei der Auslegung über das Gesetz hinausgehen. „Natürlich gibt es auch Aufsätze und Entscheidungen, wo ich z.B. sage, dass die meinem Grundverständnis relativ nahekommen. Aber sie sind trotzdem juristisch nicht durch argumentiert. Oder wo ich für mich sage: ,Da wird das Recht aber ganz schön gedehnt.‘ Ich bin [Formalist/in] und sage: ,Das ist zwar eine schöne Idee, aber da müsste man vielleicht doch eher das Gesetz ändern als es so auszulegen.‘“ (Interview Nr. 6)
Dabei wird die institutionelle Prägung von Mitgliedern des Richterwahlausschusses kraft Wahl als Teil der Legislative deutlich, die die politischen Überzeugungen in bestimmten Politikfeldern „überspielen“ kann. „Man vermutet vielleicht, dass die [Partei der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] sagen würden, dass sie keine [arbeitgeber/arbeitnehmer]freundlichen Richter wolle, liegt damit aber falsch. Nein, es war eher eine andere Sache, die ich bei Richtern sehr schwierig finde. Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung. Wir haben einerseits die zunehmende Tendenz, dass Politik die schwierigen Fragen gerne den Gerichten überlässt. Aber es gibt auch Gerichte, die sagen, wir machen die Rechtsfortbildung, weil wir sie machen wollen, obwohl es dafür eigentlich keinen Anhaltspunkt im Gesetz gibt. Das halte ich für sehr, sehr gefährlich. Gewaltenteilung beruht auf einer klaren Erkennbarkeit auch der Verantwortlichkeit.“ (Interview Nr. 7)
Unter dem Strich ähneln die Schlussfolgerungen hinsichtlich der rechtspolitischen Ansichten von Kandidatinnen und Kandidaten den Ausführungen zum Kriterium der Parteimitgliedschaft – mit dem Unterschied, dass die rechtspolitische Ausrichtung eine deutlich größere Rolle als die Parteimitgliedschaft spielt. Insofern kann eine übereinstimmende politische Ausrichtung nützen, wie eine widersprechende politische Ausrichtung schaden kann – der Einzelfall bestimmt, wie sehr. Eindrücklich berichtet aus den Vorabsprachen innerhalb und zwischen der A- bzw. B-Runde ein/e (ehemalige/r) Landesjustizminister/in: „Und dann war es manchmal auch so gewesen, dass das auch das Argument war der Gegenseite, den nicht mitzutragen, […] weil zu [politische Richtung]lastig oder so. […] Genauso wie wir natürlich bei bestimmten Leuten gesagt haben: ,Oh, die sind auch relativ ganz [politische Richtung].‘ Aber da hat man sich dann auch geeinigt. […] Es gab dann manchmal auch so ,freie‘ […] Kandidaten. Also es gab […] ein bestimmtes Quorum für die A-Seite manchmal und für die B-Seite und dann noch […] ,freie‘ Kandidaten, auf die man sich so im Kräftespiel einigen konnte noch zusätzlich. Also die jetzt nicht direkt […] von der politischen Seite jeweils nominiert worden sind.“ (Interview Nr. 19)
Trotz der höheren Relevanz der rechtspolitischen Ausrichtung als der Parteimitgliedschaft kann auch dieses Kriterium aber keinesfalls als entscheidend bezeichnet werden.
6. Geschlecht Umstritten ist unter den Befragten die Frage, welche Rolle das Geschlecht bei der Auswahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter spielen soll. Die Relevanz dieser
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Frage ergibt sich nicht zuletzt aus einer eklatanten Unterrepräsentanz von Frauen an den Bundesgerichten, die gerade im letzten Jahrzehnt erhebliche Diskussionen und Kritik ausgelöst hat.163 Zum Ende des Jahres 2016 betrug der Frauenanteil am Bundesarbeitsgericht 41,0 Prozent, am Bundessozialgericht 33,3 Prozent, am Bundesgerichtshof 30,8 Prozent, am Bundesverwaltungsgericht 27,3 Prozent und am Bundesfinanzhof nur 27,1 Prozent.164 So zogen zahlreiche Befragte von SPD, Grünen und Linken aus dem momentanen Ungleichgewicht die Konsequenz, Frauen – bei gleicher Eignung – bevorzugt zu wählen. „Sie werden viele Richterinnen im Eingangsamt finden, teilweise sogar über 50 Prozent. Aber je höher sie dann gehen und wenn Sie sich die Führungspositionen anschauen, wird die Luft deutlich dünner. Und auch da denke ich, dass es wichtig ist, dass Frauen in solche Positionen kommen, weil eine Geschlechterbalance immer von Vorteil ist.“ (Interview Nr. 11)
Andere Befragte von Union und FDP machen sich wiederum bei einer bevorzugten Wahl von Frauen Sorgen um die Fairness im Berufungsverfahren. „Nur Qualifikation, Befähigung, aber gleichzeitig Frauen fördern ,bei gleicher Eignung und Befähigung‘ ist ein Widerspruch in sich.“ (Interview Nr. 7)
Aus diesem teilweisen Dissens dürfte sich auch ergeben, dass das Geschlecht zwar ein wichtiges Kriterium darstellt, aber noch nicht die Bedeutung der regionalen Herkunft erreicht hat.
7. Alter Während der Gesetzgeber bei der Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern nur eine Vollendung des 35. Lebensjahres vorgeschrieben hat,165 gibt es im Berufungsverfahren offenbar immer wieder Diskussionen über das Alter von Kandidatinnen und Kandidaten, wobei eine eindeutige Tendenz nicht auszumachen ist.166 Einerseits wird zwar vereinzelt mit jüngeren Personen die Hoffnung auf ein besseres Verständnis rasanter Entwicklungen in Wirtschaft und Technik verbunden, anderer163 Siehe v. Bernstorff (Fn. 26), 144 f.; Eckertz-Höfer (Fn. 35), 99 ff.; Schübel (Fn. 63), 138 ff.; Wittreck, Dritte Gewalt im Wandel – Veränderte Anforderungen an Legitimität und Effektivität?, VVDStRL 74 (2015), 115 (129 f.); Schübel (Fn. 2), 1355 ff.; Brückner, Netzwerke für Juristinnen – von Anfang an, djbZ 2013, 191 (193 f.); Brückner (Fn. 102), 44 ff.; Nordmann (Fn. 59), 139 ff.; Evers-Vosgerau, Frauen in Förderungsämtern der Justiz – Ein Problem für Frauen oder für Mütter?, DRiZ 2011, 341–342; Meier-Göring, Familienförderung statt Frauenförderung!, DRiZ 2011, 343–345; Spellbrink (Fn. 12), 26 f.; Spellbrink (Fn. 10), 881 f., 892 ff. Kritisiert wird teilweise auch der zu geringe Frauenanteil unter den Mitgliedern des Richterwahlausschusses kraft Wahl; dazu Schübel (Fn. 63), 138 f.; Schübel (Fn. 2), 1356. In der Tat beträgt dieser unter den vom 19. Deutschen Bundestag gewählten Mitgliedern nur 25 Prozent – nur vier von 16 Mitgliedern kraft Wahl sind weiblich; dazu BT-Plenarprotokoll 19/23, 2062, 2071 f.; BTDrs. 19/1312; 19/1313; 19/1314; 19/1315; 19/1316; 19/1317. 164 Die Werte basieren auf den Arbeitskraftanteilen und nicht auf den Kopfzahlen; dazu Bundesamt für Justiz, Zahl der Richter, Richterinnen, Staatsanwälte, Staatsanwältinnen und Vertreter, Vertre terinnen des öffentlichen Interesses in der Rechtspflege der Bundesrepublik Deutschland am 31. Dezember 2016, https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/Justizstatistik/Rich terstatistik_2016.pdf ?__blob=publicationFile&v=2 [abgerufen am 25.9.2018]. 165 Siehe Fn. 43. 166 Vgl. ferner Schübel (Fn. 2), 1357; Spellbrink (Fn. 10), 880 f.
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seits aber die Sorge geäußert, dass es für diese Richterinnen und Richter dann bereits in jungen Jahren kaum noch weitere Sprossen auf der Karriereleiter gebe. „Das Alter ist ja auch eine Frage: Wie alt soll jemand sein, damit er noch über einen angemessenen Zeitraum auf Bundesebene wirken kann? Andererseits sollte die Person aber auch nicht zu jung sein. Denn bei 15 Jahren ,vor der Brust‘ wäre schon zu überlegen, ob immer noch genügend Motivation vorhanden ist.“ (Interview Nr. 11)
Dass eine Bewertung als „zu jung“ insofern noch nicht das endgültige Scheitern einer Person für das Bundesrichteramt bedeutet, wird auch betont. „Wenn der Kollege dann gesagt hat: ,Der ist gut, den wollen wir haben!‘ Und alle anderen sagen: ,Ok, aber der ist zu jung!‘ Dann haben wir den zwei Jahre später gewählt.“ (Interview Nr. 14)
8. Soziale Kompetenz Viele (ehemalige) Mitglieder und Vorsitzende des Richterwahlausschusses messen der sozialen Kompetenz und damit der Fähigkeit, sich in die Spruchkörper der obersten Gerichtshöfe des Bundes konstruktiv integrieren und einbringen zu können, große Bedeutung bei. „Der soziale Aspekt ist wichtig, denn es geht um eine Tätigkeit in einem Gremium, in einem Kollegium. Das heißt, Teamfähigkeit ist gefordert. […] Jemand, der ein exzellenter Jurist ist, muss nicht unbedingt auch ein exzellenter Richter an einem höchsten Gericht sein.“ (Interview Nr. 18)
Unter den Eindrücken der Auseinandersetzungen am Bundesgerichtshof – die erste Erhebungsrunde fand im Jahr 2014 statt und insofern waren sie nicht selten Gegenstand der Gespräche – verwundert es nicht, dass die befragten (ehemaligen) Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses häufig die Zusammenarbeit innerhalb der Spruchkörper und des Gerichts als Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der sozialen Kompetenz nahmen. Dass die soziale Kompetenz aber bei Richterinnen und Richtern noch sehr viel mehr Facetten aufweist, wurde teilweise auch deutlich: „Die soziale Kompetenz umfasst das Eingehen auf die Streitparteien oder auch den Angeklagten. Sie zeigt sich an dem Stellenwert, der einer mündlichen Verhandlung beigemessen wird, in der durch eine geschickte Verhandlung auch der Streithintergrund ermittelt wird und gegebenenfalls auch eine Streitbeilegung erfolgen kann. Aber auch innerhalb eines Spruchkörpers zeigt sich soziale Kompetenz daran, wie sich jemand in ein solches Kollegialorgan einfügt und einbringt.“ (Interview Nr. 11)
9. Soziales Engagement Für viele Befragte stellt auch ein soziales Engagement von Kandidatinnen und Kandidaten als Beleg für die Fähigkeit zum „Blick über den Tellerrand“ einen relevanten Pluspunkt bei der Wahlentscheidung dar. Im Übrigen wird ebenso ein partei- oder kommunalpolitisches Engagement von einigen Befragten in diesem Sinne als ehrenamtliches Engagement für Gesellschaft und Demokratie interpretiert.
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„Wenn jemand neben den richterlichen Tätigkeiten gerade im sozialen Bereich ehrenamtliche Tätigkeiten ausübt, hat das auch eine Rolle gespielt, weil ein Richter mit beiden Beinen im Leben stehen muss. […] Allerdings war es für mich auch bedeutsam, dass das soziale Engagement mit entsprechenden Aussagen über die Sozialkompetenz in den Beurteilungen korrespondierte.“ (Interview Nr. 12)
Warum das soziale Engagement hingegen nur ein weniger stark zu gewichtendes Kriterium sein solle, erläutert ein (ehemaliges) Mitglied des Richterwahlausschusses kraft Amt: „Das ist ein wichtiges Kriterium […] bei der Proberichterernennung oder Lebenszeitverrichterung, aber […] [wir] reden hier von Personen, die in aller Regel zwischen 45 und 55 sind und deshalb schon Persönlichkeiten sind und nicht von irgendwelchen unbedarften Mitzwanzigern, die gerade mal Pfadfinder gewesen sind.“ (Interview Nr. 14)
10. Erfolglose Wahlen Zudem spielt es, so berichten vereinzelt Befragte, eine Rolle, wie häufig eine Kandidatin oder ein Kandidat vom Richterwahlausschuss noch nicht gewählt worden ist. Das auch als „ewige Liste“ bezeichnete Verfahren sehe vor, dass nicht gewählte Kandidatinnen und Kandidaten aus den vorherigen Sitzungen zunächst auf der Vorschlagsliste verbleiben, wenn der Vorschlag oder die Bereitschaft zur Kandidatur nicht zurückgezogen wird. Spätestens nach der dritten erfolglosen Sitzung des Rich terwahlausschusses wird es allerdings offenbar deutlich schwieriger, überhaupt noch gewählt zu werden.167 „Es ist also nicht so, dass man einmal auf der Liste ist und dass man dann, wenn man nicht ausgewählt wird, weg ist. Wenn man es aber beim ersten Mal nicht schafft und ein zweites Mal auf der Liste steht, sollte man dann möglichst schon ausgewählt werden. Beim dritten Mal kann eine Kandidatin oder Kandidat schon ziemlich ,abgehangen‘ sein. Beim vierten Mal wird es ganz schwer. Dann ist man sozusagen ,verbrannt‘. Insofern ist es auch noch mal ein zeitlicher Prozess, der eine Rolle spielt.“ (Interview Nr. 2)
11. Religiöse Orientierung Nahezu alle Befragten verneinen einen Einfluss der Religionszugehörigkeit auf ihr Stimmverhalten168 – lediglich ein befragtes (ehemaliges) Mitglied kraft Wahl der Unionsparteien deutet an, dass die religiöse Orientierung als persönliches Kriterium, obschon keinesfalls eine entscheidende, eine gewisse Rolle spielt. Dabei dürfte es sich jedoch um eine absolute Ausnahme handeln. „Wenn einer schreibt, er sei Atheist – darauf achte ich schon. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Da schaue ich schon. […] In unserem Grundgesetz steht: In der ,Verantwortung vor Gott und den Menschen‘[.] Wer das nicht hat? Das ist für mich ein Kriterium.“ (Interview Nr. 3)
Vgl. insgesamt dazu Scholz (Fn. 1), 165. Siehe Spellbrink (Fn. 10), 885.
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VI. Charakteristika der Politik der Bundesrichterberufung Wie lässt sich nun die Politik der Bundesrichterberufung charakterisieren?
1. Ewige Große Koalition Gegen die Annahme, dass sich bei der Bundesrichterberufung zur Erreichung einer „long-term working majority“ eine Koalition aus CDU/CSU und SPD bildet, spricht im Wesentlichen, dass die kleineren Parteien sehr wohl in die Entscheidungsfindung eingebunden sind. Die Befragung hat ergeben, dass sich die Landesjustizministerinnen und -minister und, soweit eingeladen, die Bundestagsabgeordneten der kleineren Parteien in den A- und B-Runden respektabel behandelt fühlen. Es ist beileibe nicht so, dass die Bundesrichterberufung unter Ausschluss der kleineren Parteien stattfindet, sondern in einem gewissen Rahmen werden auch die Vorschläge der kleineren Parteien, auf jeden Fall der Mitglieder kraft Amt, berücksichtigt. Dass sich die Mitglieder kraft Amt der kleineren Parteien dann in aller Regel und teilweise auch die Mitglieder kraft Wahl der kleineren Parteien an die von den Koordinierenden der A- und B-Runde getroffenen Absprachen halten und so für eindeutige Wahlergebnisse im Richterwahlausschuss sorgen, darf als gewichtigstes Argument gegen die Annahme einer Großen Koalition gelten. Allerdings ist es auch ansonsten in Koalitionen üblich, den Versuch zu unternehmen, weitere Parteien einzubinden, um größere Mehrheiten zu realisieren. Dass das im Richterwahlausschuss relativ gut gelingt, sollte nicht davon ablenken, dass die wesentlichen Entscheidungen von den Mitgliedern der beiden großen Parteien in der Person ihrer jeweiligen Koordinierenden getroffen werden. Im Übrigen entscheiden Union und SPD auch darüber, ob – neben der üblichen Beteiligung der Landesjustizministerinnen und -minister der kleinen Parteien an den A- bzw. B-Runden – die Bundestagsabgeordneten der kleineren Parteien berücksichtigt werden und die Abhängigkeit von dem Wohlwollen der beiden großen Parteien führte teilweise bei den Mitgliedern der kleineren Parteien zu einer gewissen Bescheidenheit. Zudem gibt es zwei weitere klassische Kriterien von Koalitionen, die im Richterwahlausschuss nur die Zusammenarbeit zwischen CDU/CSU und SPD erfüllt: So haben CDU/CSU und SPD jeweils ein informell etabliertes Vetorecht, das sie auch in Anspruch nehmen können, wenn ihre Sitze im Richterwahlausschuss nicht für ein formales Veto in der Abstimmung reichen würden. Diese Vereinbarung, dass beide Koalitionspartner einverstanden sein müssen, wird ebenso als eine klassische Eigenschaft von Koalitionen wie der gemeinsame Ausschluss von wechselnden Mehrheiten gehandelt.169 Ferner sei darauf hingewiesen, dass es zwischen Union und SPD im Richterwahlausschuss keinen tatsächlichen politischen Wettstreit gibt, sondern Einigkeit über ein gemeinsames Vorgehen in der Form der Zuteilung von Kontingenten für die beiden Parteien besteht. Mit Blick auf „ihre“ Kontingente haben die beiden Seiten einen Spielraum, solange sie die andere Seite nicht mit einem Vorschlag so unzufrieden 169 Vgl. Müller (Fn. 72), 289; Kranenpohl, Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 bis 1994, 1999, 261.
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stimmen, dass diese ihr Veto einlegt. Zwar ist es in der jahrzehntelangen Geschichte des Richterwahlausschusses einige Male vorgekommen, dass eine der beiden großen Parteien diese Zusammenarbeit auf kündigte170 und sich eine andere Mehrheit suchte, aber es ist die Ausnahme. Insgesamt ist nicht abzusehen, dass sich an der jahrelangen Praxis etwas ändern könnte, sodass die Annahme der Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD zur Erreichung einer „long-term working majority“ im Richterwahlausschuss aufrecht zu erhalten ist.
2. Bündel an Entscheidungskriterien Für eine Bestätigung der Annahme, dass die Entscheidungskriterien des Richterwahlausschusses bei der Bundesrichterberufung als policy-seeking einzuordnen sind, müsste die rechtspolitische Ausrichtung der Kandidatinnen und Kandidaten bei der Bundesrichterberufung entscheidend sein. Auffällig war jedoch, dass die Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses auf eine Vielzahl von individuellen Kriterien zurückgreifen – es kristallisierten sich insgesamt elf verschiedene heraus – und diese zudem sehr unterschiedlich operationalisieren und gewichten. Die Aussagen der Befragten, dass die fachliche Qualifikation das wichtigste Kriterium für sie persönlich sei, erscheinen glaubwürdig, wenn man sie zum einen vor dem Hintergrund einordnet, dass ein objektiver Maßstab der fachlichen Qualifikation für das Bundesrichteramt nicht eben einfach zu definieren ist und das persönliche Verständnis von fachlicher Qualität differiert.171 Zum anderen dient die hohe fachliche Qualifikation als „Eintrittskarte“, um überhaupt für eine Berufung in Betracht gezogen zu werden und stellt in der Tat das wichtigste Kriterium dar, weil sie die Grundvoraussetzung für eine Berufung ist. Andererseits ist offenbar geworden, dass der Richterwahlausschuss nicht davon ausgeht, dass es stets nur eine „richtige“ Entscheidung – nämlich für die oder den am höchsten Qualifizierte/n – gibt, sondern dass ab einem bestimmten Niveau die fachlichen Unterschiede gar nicht mehr erkennbar sind oder zugunsten anderer Kriterien vernachlässigt werden dürfen.172 Diese Bewertung lässt sich insofern auch auf die Stellungnahmen der Präsidialräte übertragen, als der Richterwahlausschuss vor allem an der Einschätzung der Präsidialräte interessiert ist, ob aus deren Sicht die Eignung für das Bundesrichteramt grundsätzlich vorliegt oder nicht. Die Beurteilung als „geeignet“ durch den Präsidialrat ist folglich eine weitere Grundvoraussetzung, die nur in Ausnahmefällen übergangen wird. Dem Kriterium der regionalen Herkunft wird von den Mitgliedern des Richterwahlausschusses, insbesondere den Landesjustizministerinnen und -ministern, sehr große Bedeutung beigemessen – es ist neben der fachlichen Qualifikation und den Stellungnahmen der Präsidialräte zentral. Der Gedanke liegt nahe, dass einige Landesministerinnen und -minister es bei der Bundesrichterberufung als ihre wichtigste Aufgabe ansehen, speziell Personen aus ihrem Bundesland den Weg zu ebnen. Ver Dazu nur Tschentscher (Fn. 7 ), 334; Wittreck (Fn. 24), 309; Scholz (Fn. 1), 165 f.; Goll (Fn. 7 ), 122; Löffler, Richterwahl in Disharmonie, DRiZ 1986, 149. 171 Ebenso Wieland (Fn. 4 0), 218. 172 Dazu Wieland (Fn. 4 0), 218. 170
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stünde man office-seeking insofern nicht aus einer parteipolitischen, sondern aus einer regionalen Perspektive, spräche jedenfalls einiges für eine Feststellung desselben bei einigen Landesministerinnen und -ministern. Definiert man office-seeking jedoch so, wie es in diesem Beitrag geschehen ist, kann davon bei den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses kaum eine Rede sein: Zwar gibt es gewisse Tendenzen bei einzelnen Befragten, stärker bei den Bundestagsabgeordneten als bei den Landesministerinnen und -ministern, aber es scheint doch eine untergeordnete Bedeutung zu haben, ob ein/e Kandidat/in Mitglied der „richtigen“ Partei ist – auch wenn die Befragung zu einer möglichen Parteienpatronage sicherlich am heikelsten ist und mit einer dementsprechenden kritischen Distanz betrachtet werden sollte. Hingegen fällt auf, dass die rechtspolitischen Ansichten der Kandidatinnen und Kandidaten regelmäßig von Bedeutung sind und – wenn diese die fachliche Qualifikation vorweisen, ihnen die Eignung durch den Präsidialrat attestiert wurde und sie aus einem passenden Bundesland kommen – eben genau das Quäntchen sein können, das den Ausschlag für oder gegen eine Kandidatin oder einen Kandidaten gibt – insofern ist durchaus ein policy-seeking festzustellen. Dies sollte aber nicht dazu verleiten, dieses Kriterium als besonders herausragend anzusehen. Denn insgesamt ist das Bild sehr differenziert: So ist die rechtspolitische Ausrichtung der Kandidatinnen und Kandidaten zwar bei manchen Richterwahlausschussmitgliedern entscheidend, weil insbesondere die anderen Kriterien bei zu vielen Kandidatinnen und Kandidaten als erfüllt anzusehen sind, während sie für andere nur ein Kriterium unter mehreren gleichrangigen Kriterien ist oder auch überhaupt keine Rolle spielt. Indes sind die bisher gemachten Feststellungen nicht das Alleinige, das deutliche Zweifel an einer Einordnung des Verhaltens der Mitglieder des Richterwahlausschusses als policy-seeking auf kommen lässt, sondern hinzu kommen noch viele weitere Kriterien, die für die Komplexität der Kriterienstruktur des Richterwahlausschusses, aber nicht für eine Annahme des policy-seeking sprechen. Man könnte vielleicht noch argumentieren, dass auch die religiöse Einstellung und das Geschlecht Kriterien des policy-seeking seien – gerade bei dem Kriterium Geschlecht zeigten sich auch deutliche Unterschiede zwischen A- und B-Seite, die auf eine Politisierung dieser Frage hinwiesen. Aber es wurde auch ermittelt, dass das Alter, die Anzahl erfolgloser Wahlen, das soziale Engagement und die soziale Kompetenz, die man auch als Teil der fachlichen Qualifikation auffassen könnte, eine Rolle spielen, was nun nicht mehr mit policy-seeking in Verbindung zu bringen ist. Unter dem Strich ist also die zweite Annahme dahingehend zu modifizieren, dass sich die Kriterien der Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses als bemerkenswert vielfältig und individuell darstellen und nur teilweise als policyseeking einordnen lassen.173 Festzuhalten ist insofern, dass bei der Bundesrichterberufung weder der Vorwurf der Auswahl allein nach parteipolitischen Erwägungen noch die Behauptung, allein die fachliche Qualifikation entscheide, haltbar erscheinen.
173 Eine Verhaltenstendenz, die sich dem vote-seeking zuordnen lassen könnte, war – wie erwartet – in keinem einzigen Fall auszumachen.
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3. Zwischen Gewaltenteilung, Föderalismus und Parteien Bei der Bundesrichterberufung treffen derart viele Perspektiven aufeinander, wie es im politischen System der Bundesrepublik nur an wenigen Stellen zu beobachten ist: Bund und Länder, verschiedene Parteien, Exekutive, Legislative und Judikative. Dass es parteipolitische Trennlinien und eine Art Bildung von – im Wesentlichen zwei großen – Fraktionen im Richterwahlausschuss gibt, kann angesichts der Parteimitgliedschaft fast aller Mitglieder und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses nicht überraschen. Stärker als in der Sitzung des Richterwahlausschusses selbst wirken sich diese Trennlinien allerdings bei der Vorbereitung aus. Nicht zu übersehen sind aber auch die gravierenden Trennlinien zwischen Bund und Ländern sowie den Gewalten und die institutionelle Prägung der beteiligten Akteure. Die Bundestagsabgeordneten nehmen als Mitglieder des Richterwahlausschusses kraft Wahl grundsätzlich die Perspektive des Bundes ein und gleichzeitig offenbart sich bei ihnen auch ihr Selbstverständnis als Vertreterinnen und Vertreter der Legislative, die sich ihren Einfluss sowohl gegenüber der Exekutive als auch gegenüber der Judikative erhalten möchten. „Aber ich warne davor, die Gewaltenteilung, bei der das Parlament inzwischen sowieso schon der schwächere Teil ist, noch mehr zu Lasten des Parlamentes zu verringern. Denn im Endeffekt habe ich ja jetzt schon eine gewisse ,Inzucht‘, indem man nämlich durch die Beurteilung der Präsidialausschüsse schon die nimmt, die so sind, wie man selber ist.“ (Interview Nr. 7)
Ferner sind die Bundestagsabgeordneten diejenigen Mitglieder des Richterwahlausschusses, die sich stärker in einer politischen Rolle sehen. „Damit wird so getan, als ob die Wahl nach parteipolitischen Gesichtspunkten etwas Schlechtes wäre und die Wahl nach Eignung usw. etwas Gottgegebenes, Objektives, Richtiges. Das ist doch alles Kokolores.“ (Interview Nr. 17)
Die befragten Mitglieder des Richterwahlausschusses kraft Amt begreifen sich hingegen im Wesentlichen als Vertreterinnen und Vertreter ihres Bundeslandes.174 Ihnen geht es in erster Linie darum, dass ihr Bundesland unter den Bundesrichterinnen und Bundesrichtern angemessen vertreten ist. „Das waren dann meistens dieser eine Fall oder zwei Fälle, die dann immer wieder erzählt worden sind. Die Frage war dann: ,Ist das ein [Bürger aus dem Bundesland der Interview partnerin/des Interviewpartners]? Nein? Ist mir egal. Sagt mir nachher, wie ich abstimmen soll, in dem Konzert aller.‘“ (Interview Nr. 14)
Gleichzeitig sind die Justizministerinnen und -minister aber nicht nur durch ihre Landesperspektive, sondern auch durch ihre Rolle als Teil der Exekutive geprägt. Insofern sehen einige Mitglieder kraft Amt auch die größere Expertise bei sich als bei den Mitgliedern kraft Wahl.175
Hierzu auch Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 11, § 10 Rn. 2; Scholz (Fn. 1),
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159 f.
Ebenso Scholz (Fn. 1), 159 f.
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„In meinen […] Jahren ist jedenfalls bei mir gespeichert, dass nicht eine ,Lusche‘ von den Landesjustizverwaltungen vorgeschlagen worden ist, aber eine Reihe von ,Luschen‘, die nicht in meinen Topf kämen, von Bundestagsabgeordneten. Und leider sind davon auch ein, zwei, drei, vier oder x, jedenfalls unter zehn, gewählt worden.“ (Interview Nr. 14)
Mit ihrer Justizverwaltung im Hintergrund und der Nähe zu potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten prägen die Landesjustizministerinnen und -minister den Richterwahlausschuss jedenfalls besonders stark – stärker als die Bundestagsabgeordneten oder die Bundesminister/innen, sofern diese nicht gerade die Rolle der Koordination von A- oder B-Seite übernommen haben.176 Die Bundesjustizminister/innen sehen sich nämlich, so legen es die Ergebnisse der Befragung jedenfalls nahe, überwiegend eher als Moderatorinnen und Moderatoren, als Notarinnen und Notare,177 als Geschäftsstelle178 des Richterwahlausschusses. „Das alles bereitet das Bundesjustizministerium vor, das quasi die Geschäftsstelle für den Richterwahlausschuss ist.“ (Interview Nr. 18)
Gleichzeitig hängt dieses Selbstverständnis auch besonders stark von den einzelnen Personen ab. Denn das wurde auch deutlich, wenn die Anwendung von theoretischen Konzepten der Politikwissenschaft wie des office-, policy- und vote-seeking schlicht an der Individualität der Akteure scheitert: Die individuelle Ebene von Politik sollte niemals unterschätzt werden – schließlich wird Politik von Politikerinnen und Politikern gemacht, deren Präferenzen und Verhalten nicht so einfach generalisiert werden können. Daraus ergibt sich auch, trotz aller methodischen Probleme, der Wert von Leitfadeninterviews, um diese auf persönlichen Wertungshorizonten basierende Ebene von Politik ausreichend einzufangen. Die Bedeutung dieser Perspektive auf Politikerinnen und Politiker als Individuen zeigt sich ferner, wenn man annimmt, dass es regelmäßig für eine erfolgreiche Berufung in die Bundesrichterschaft einer persönlichen Fürsprecherin oder eines persönlichen Fürsprechers bedarf – eines Mitglieds des Richterwahlausschusses, das die Berufung unbedingt erreichen möchte.179 „Man braucht irgendeinen, der das dann auch so zu seiner eigenen Sache macht.“ (Interview Nr. 23)
VII. Reformen erforderlich? Der Konstanz der Bundesrichterberufung steht eine Konstanz an Reformforderungen gegenüber, die sich allerdings nie durchzusetzen vermochten.180
Siehe Schübel (Fn. 2), 1357. Dazu ein/e Befragte/r: „Sie verstehen sich regelmäßig lediglich als ,notarieller‘ Beurkunder der Entscheidung des Richterwahlausschusses.“ (Interview Nr. 12) 178 Siehe auch Staats (Fn. 1), Einleitung Rn. 8. 179 Hierzu Spellbrink (Fn. 12), 24–26; Spellbrink (Fn. 10), 887–891. 180 Vgl. nur Gärditz (Fn. 4), 325 ff.; Jachmann (Fn. 1), Art. 95 Rn. 135; Goll (Fn. 7 ), 123 ff. 176
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1. Akzeptanz der Bundesrichterschaft unter den Beteiligten In der Literatur wird teilweise argumentiert, „[die] Bilanz des Verfahrens ist jedenfalls weit besser als sein öffentlicher Ruf “:181 Aber wie bewerten die Befragten die berufene Bundesrichterschaft und die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes? Grundsätzlich wird den Bundesgerichten dabei von vielen Befragten und parteiübergreifend eine hohe Qualität attestiert. „Das sind […] hochqualifizierte Juristen. Also, das kann man überhaupt nicht in Abrede stellen.“ (Interview Nr. 19)
Andere Befragte nehmen eine etwas kritischere Position ein: „Ich glaube, man sollte und muss sich als Politikerin oder als Politiker sehr mit Richterschelte und Richterlob zurückhalten […]. Natürlich ist es immer mal so, dass man sagt, dass die eine Entscheidung nachvollziehbar ist und die andere weniger nachvollziehbar ist. Die eine ist juristisch absurd, die andere ist weniger juristisch absurd. Da gibt es Licht und Schatten.“ (Interview Nr. 6)
Zudem wird in der Literatur der Wunsch nach pluralistischen Bundesgerichten geäußert.182 Von einigen Befragten werden die Bundesgerichte – auch im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht – allerdings als konservativ wahrgenommen. „Die Frage ist ja immer: Wie weit wird gesellschaftlicher Wandel vollzogen? Da muss man – wenn man sich die Rechtsprechung anschaut – sehen, dass der gesellschaftliche Wandel erst durch das Bundesverfassungsgericht vollzogen wird, das dann auch gelegentlich den Bundesgerichten sagt, wo es langgeht und eher nicht so häufig durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes.“ (Interview Nr. 21)
Ein/e befragte/r Bundesrichter/in sieht hingegen durchaus eine breite Vielfalt an politischen Einstellungen unter den Kolleginnen und Kollegen: „Wir haben […] eine Bandbreite, die sicherlich von sehr konservativ bis deutlich links geht […].“ (Interview Nr. 23)
Neben der bereits erläuterten Kritik hinsichtlich einer möglicherweise zu geringen Vielfalt der an den Bundesgerichten vertretenen beruflichen Werdegänge183 und des zu geringen Anteils an Frauen in der Bundesrichterschaft184 wünschen sich einige Befragte auch mehr Bundesrichterinnen und Bundesrichter mit einem Migrationshintergrund.185 „Was ich bemerkenswert finde, dass, wenn ich nicht ganz falsch liege, keiner der dreihundert Kollegen ernsthaften Migrationshintergrund hat, was sich dringend ändern muss, weil das ja eine breite Entwicklung in der Gesellschaft ist.“ (Interview Nr. 26) Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 9. So Gärditz (Fn. 4), 332; Arndt (Fn. 7 ), 26; vgl. allerdings auch Mackenroth (Fn. 7 ), 214; siehe im Übrigen zum Bundesverfassungsgericht Landfried, Die Wahl der Bundesverfassungsrichter und ihre Folgen für die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, 369 (371 f., 374 ff.). 183 Oben V.1.c. 184 Oben V.6. 185 Vgl. ferner Wittreck (Fn. 163), 130. 181
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Die befragten Bundesrichter/innen reflektieren auch darüber hinaus selbstkritisch die soziale Zusammensetzung der Richterschaft:186 „Ich glaube, was nicht abgebildet ist, ist […] die gesellschaftliche Zusammensetzung. […] Also wo kommen die Leute her? Welcher Einkommens-, Bildungs-, Vermögensschicht gehören sie an? […] Welchen familiären Hintergrund haben sie? Da ist […] [das Bundesgericht der Interviewpartnerin/des Interviewpartners] sicherlich […] viel, viel homogener als jetzt die Gesellschaft insgesamt. […] Das sind Leute, die klassischerweise […] der oberen Mittelschicht entstammen […].“ (Interview Nr. 23)
Ebenso wird angemerkt, dass es an Bundesrichterinnen und Bundesrichtern, die in den neuen Bundesländern geboren sind, mangele. „Wir haben, glaube ich, jetzt [den/die] [allererste/n] [Richter/in] aus dem Osten, [der/die] auch dort geboren ist. Das ist natürlich historisch gewachsen. Die Richter, die aus den neuen Bundesländern kommen, sind damals Richter gewesen, die dorthin abgeordnet waren oder sich haben versetzen lassen. Die werden jetzt pensioniert. Das heißt, dieser ganze Bereich wird jetzt peu à peu erst kommen.“ (Interview Nr. 24)
Hinsichtlich sexueller Orientierungen vermag ein/e Bundesrichter/in – wie in der Gesellschaft – einen deutlichen Wandel festzustellen: „Für Schwule war das früher sicher schwierig. […] Ich glaube, das hat sich, wie die Gesellschaft insgesamt, sehr liberalisiert. Ich denke, früher – bis etwa zur Jahrtausendwende, würde ich schon noch sagen – gab es noch eine ziemliche Prämie auf das normale Modell. […] Es gibt hier Leute – von manchen weiß ich es –, die ganz klare sexuelle Orientierungen haben, die nicht Mainstream sind. Da wird auch nicht drüber gesprochen. Das funktioniert einfach. Die Gesellschaft hat sich einfach verändert und das spiegelt sich hier schon wider.“ (Interview Nr. 25)
Insofern ist die Akzeptanz der Ergebnisse der Bundesrichterberufung unter den Befragten – gerade mit Blick auf die fachliche Qualität der Bundesgerichte – hoch, während noch Potenzial insbesondere im Hinblick auf eine pluralistischere Zusammensetzung der Bundesrichterschaft gesehen wird. Zu Recht wird daher eine Frauenquote bei der Bundesrichterberufung gefordert.187 Allerdings dürfte es nicht weniger wichtig sein, bereits bei den Gerichten der Länder, Staatsanwaltschaften und Ministerien Frauen den Weg auf klassische „Sprungbrettstellen“188 zu ebnen.189 Noch früher wird man beginnen müssen, um den Anteil an Personen mit Migrationshintergrund und aus Arbeiterhaushalten überhaupt erst einmal unter den Studierenden der Rechtswissenschaft, den Richterinnen und Richtern der Länder sowie den Bundesrichterinnen und -richtern signifikant zu erhöhen.
Hierzu Spellbrink (Fn. 10), 884 f. Näher Schübel (Fn. 63), 139 f.; Nordmann (Fn. 59), 141 f. 188 Meier-Göring (Fn. 163), 345. 189 Dazu Schübel (Fn. 63), 138 ff.; Schübel (Fn. 2), 1357 f.; Brückner (Fn. 102), 45; Evers-Vosgerau (Fn. 163), 341 f.; Meier-Göring (Fn. 163), 344 f.; siehe auch Gärditz (Fn. 4), 334; Wittreck (Fn. 163), 129 f. 186 187
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2. Kritik am Berufungsverfahren und Reformüberlegungen Werden die Ergebnisse der Bundesrichterberufung weitgehend akzeptiert, sieht sich das Berufungsverfahren selbst Kritik ausgesetzt. Immer wieder wird etwa eine mangelnde Transparenz kritisiert,190 was verschiedene Reformüberlegungen nahelegt. „Woran man arbeiten muss, ist eher an der Transparenz.“ (Interview Nr. 21)
a) Wahl in öffentlicher Sitzung Festzuhalten ist, dass bei der Bundesrichterberufung sowohl der formelle als auch der informelle Entscheidungsprozess vollständig nicht öffentlich stattfinden. Insofern sollte – entgegen der Auffassung vieler Befragter – zur Steigerung der Transparenz zumindest die Wahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter in öffentlicher Sitzung angestrebt werden.191 Ein möglicherweise mangelndes Interesse der Öffentlichkeit ist kein tragfähiges Gegenargument,192 weil aktuell für die Öffentlichkeit kaum die Möglichkeit besteht, die Bundesrichterberufung nachzuvollziehen. Auch die Bedenken einiger Befragter, dass die Öffentlichkeit keinen Erkenntnisgewinn durch öffentliche Wahlen erlange oder es zu Schaufensterdebatten komme, können nicht überzeugen. Das ferner angeführte Argument, dass sich die Berufungsentscheidung dann noch weiter in informelle Strukturen im Vorfeld verschiebt, greift nicht, da das kaum noch weitergehend möglich ist. Den von befragten Mitgliedern des Richterwahlausschusses geäußerten Bedenken, dass nicht gewählte Kandidatinnen und Kandidaten beschädigt würden, wenn ihr Name öffentlich bekannt würde,193 ist entgegen zu treten: So dürfte es erstens bereits an der Realität vorbeigehen, dass es sich tatsächlich um eine Beschädigung handelt. Ganz im Gegenteil wird man bereits den Vorschlag für eine Bundesrichterberufung als Anerkennung der bisher geleisteten Arbeit zu bewerten haben. Wenn ein/e Kandidat/in gezielt beschädigt werden soll, wird das, so argumentiert auch ein/e Befragte/r zu Recht, selten an einer Nichtöffentlichkeit der Abstimmungen des Richterwahlausschusses scheitern. Zweitens handelt es sich bei den Vorgeschlagenen um gestandene Persönlichkeiten, die für höchste Richterämter kandidieren. Man wird den Vorgeschlagenen nicht gerecht, wenn man ihnen nicht zutraut, vor der Öffentlichkeit zu bestehen. Zwei Bundesrichter/innen äußern sich dazu wie folgt: 190 So Schübel (Fn. 63), 140; Schübel (Fn. 2), 1355 ff.; Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 12, 20; Mackenroth (Fn. 7 ), 214; Bohlander/Latour (Fn. 13), 439; Vultejus, Nochmals (Fn. 15), 40; siehe ferner Rebehn, „Wir brauchen mehr Transparenz und Chancengleichheit“, DRiZ 2017, 54 (54); Rath (Fn. 102), 259; Tschentscher (Fn. 7), 328; Spellbrink (Fn. 12), 26 f.; Spellbrink (Fn. 10), 892; Scholz (Fn. 1), 151 f.; Goll (Fn. 7 ), 124 ff. 191 Ein/e Befragte/r argumentiert hierfür: „Die Richterinnen und Richter sollen ja schließlich im Namen des Volkes Recht sprechen. Warum soll das Volk nicht beim Auswahlprozess dabei sein?“ (Interview Nr. 12); für öffentliche Anhörungen der Kandidatinnen und Kandidaten: Nordmann (Fn. 59), 141; Vultejus, Nochmals (Fn. 15), 40. 192 So aber Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 12. 193 Dazu beispielsweise ein/e Befragte/r: „Die Diskussion von Personalien in die Öffentlichkeit zu tragen, führt auch dazu, dass die Personen, die kandidieren wollen, auch schnell ,verbrannt‘ werden.“ (Interview Nr. 2)
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„Wenn man es schafft auf die Liste zu kommen, dann ist das doch in der Regel ein Zeichen, dass man nicht der schlechteste Richter bis dahin ist.“ (Interview Nr. 24) „Wer eine so empfindliche Seele ist, dass er nicht möchte, dass sein Name öffentlich in so einem Auswahl- und Bewerbungsverfahren genannt wird, ist hier sowieso falsch. Das muss man aushalten. Wenn man eines der höchsten Richterämter, was das Land zu vergeben hat, ausübt, dann muss man sich auch bekennen dazu.“ (Interview Nr. 26)
b) Gesetzliche Entscheidungskriterien und Begründung der Berufungsentscheidung Ferner könnte man eine einfachgesetzliche Ausformulierung von Entscheidungskriterien für die Bundesrichterberufung in Erwägung ziehen.194 Dagegen wird zum einen vorgebracht, dass eine stärkere Konkretisierung der Kriterien schwer umzusetzen sei.195 Zum anderen sei es an den Stellen, wo es möglich wäre – „etwa die […] mehrjährige Erfahrung […] in einer Rechtsmittelinstanz“196 –, nicht zielführend.197 Ein/e Bundesrichter/in führt im Übrigen an: „Verrechtlichung hat immer zwei Seiten. Man hat natürlich das Gefühl, dass man es beherrschbarer machen kann, berechenbarer. Auf der anderen Seite gibt man auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit, letztlich auch wieder Juristen, ein nicht unerhebliches Maß an Macht.“ (Interview Nr. 25)
Soweit eine Konkretisierung der Auswahlkriterien vorgenommen wird, sollte also äußerst behutsam vorgegangen und sich im Wesentlichen auf die Kriterien beschränkt werden, die momentan bereits ungeschrieben berücksichtigt werden: Mögliche Beispiele stellen etwa die Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten oder langjährige Erfahrungen auf dem Rechtsgebiet des jeweiligen Bundesgerichts dar. Verhindert werden sollte, dass durch eine Ausformulierung der Entscheidungskriterien die Bundesgerichte nicht mehr so pluralistisch wie bisher besetzt werden können. Zu begrüßen ist hingegen die Forderung nach einer obligatorischen Begründung der Entscheidungen von Richterwahlausschuss und zuständiger/zuständigem Bundesminister/in.198 Gärditz argumentiert überzeugend, dass auch in anderen Fällen Kollegialorgane in der Lage seien, ihre Entscheidungen zu begründen.199
194 Ferner werden „Anforderungsprofile“ diskutiert; vgl. insgesamt dazu Rebehn (Fn. 190), 54 f.; Schübel (Fn. 63), 139; Bülow (Fn. 158), 164; Gärditz (Fn. 4), 332; Schübel (Fn. 2), 1356; Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 12; Scholz (Fn. 1), 161 f.; Arndt (Fn. 7 ), 26 f.; Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 462; Voßkuhle/Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, JZ 2002, 673 (677 Fn. 50); Goll (Fn. 7 ), 124 f.; Mackenroth (Fn. 7 ), 214. 195 So Gärditz (Fn. 4), 332; siehe auch Wieland (Fn. 4 0), 217 f. 196 Gärditz (Fn. 4), 332. 197 Diese Auffassung bei Gärditz (Fn. 4), 332; ähnlich Lovens (Fn. 7 ), 468. 198 Näher Gärditz (Fn. 4), 332 f., 335; kritisch hingegen Arndt (Fn. 7 ), 27. 199 Siehe Gärditz (Fn. 4), 332 f.; vgl. ferner Classen (Fn. 7 ), 1016, 1019; Staats (Fn. 7 ), 344; a.A. hinsichtlich der Begründbarkeit der Entscheidungen eines Richterwahlausschusses: BVerfGE 24, 268 (276 f.) – Richterwahlausschuss Hamburg [1968].
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c) Stellenausschreibungen oder Interessenbekundungsverfahren Häufig vorgetragen wird die Forderung nach Stellenausschreibungen oder Interessenbekundungsverfahren im Rahmen der Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern.200 Als einer der gravierendsten Mängel ist in der Tat das Fehlen eines geordneten Verfahrens zur Generierung von Vorschlägen zu sehen, wodurch geeignete Kandidatinnen und Kandidaten möglicherweise nicht vorgeschlagen werden, weil sie dem Richterwahlausschuss schlicht unbekannt sind.201 Als Beispiel sei eine/e Richter/in genannt, der/die über ein konfliktreiches Verhältnis zur/zum jeweiligen Präsidentin/Präsidenten des aktuellen Gerichts verfügt.202 Da die Mitglieder des Richterwahlausschusses kraft Amt ihre Vorschläge über die jeweiligen Gerichtspräsidentinnen und -präsidenten und auch nur in ihrem Bundesland generieren, wird eine solche Person regelmäßig unter dem Radar der Mitglieder kraft Amt bleiben. Soweit sie dies nicht durch persönliche oder politische Verbindungen ausgleichen kann, sind die Aussichten für eine Berufung als Bundesrichter/in schlecht.203 Gleichzeitig dürften Interessenbekundungsverfahren auch eine größere Akzeptanz bei potenziellen (und insbesondere erfolglosen) Kandidatinnen und Kandidaten hervorrufen 204 und die Bedeutung von persönlichen oder parteipolitischen Netzwerken abmildern,205 wodurch die Vorschläge von Bundestagsabgeordneten gegebenenfalls auch weniger in der Kritik stünden. „Im Übrigen gilt es nach wie vor, dass Vorschläge der Länder so ein bisschen das Image der höheren Qualität haben als Vorschläge von Abgeordneten, wo man oft gar nicht weiß, woher
200 So Schübel (Fn. 2), 1358; Nordmann (Fn. 59), 141; Rasehorn (Fn. 7 ), 31; Staats (Fn. 7 ), 344; Goll (Fn. 7 ), 124; Mackenroth (Fn. 7 ), 214; siehe auch OVG Lüneburg, 5.2.2015, 5 ME 211/14 = DÖD 2015, 189 – Bundesrichterwahl; Bülow (Fn. 158), 164; Rath (Fn. 102), 259; Gärditz (Fn. 4), 333 f.; Wittreck (Fn. 24), 309; Spellbrink (Fn. 12), 26 f.; Spellbrink (Fn. 10), 892 f. Kritisch zu Ausschreibungen SchmidtRäntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 11; Scholz (Fn. 1), 170 f.; vgl. Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 461 f. 201 Ein/e befragte/r Bundesrichter/in merkt an: „[Aber] so ein Interessebekundungsverfahren […] wäre, glaube ich, nicht schlecht, damit die Justizverwaltung möglicherweise jemand auf den Schirm bekommt, der das gerne machen würde, aber […] wo das irgendwie keiner richtig auf dem Zettel hat.“ (Interview Nr. 23); vgl. ferner Schübel (Fn. 2), 1355. 202 Zutreffend stellt ein/e Bundesrichter/in in Frage: „Wie komme ich auf die Liste, wenn ich mit dem Präsidenten nicht kann? […] Oder dann im Ministerium irgendwie vielleicht der eine oder andere das Problem hat, dass die vielleicht politischer über solche Sachen nachdenken als das fachlich geboten ist.“ (Interview Nr. 24) Ein anderes Problem skizziert ein/e weitere/r Befragte/r, der/die letztlich dennoch vom Landesjustizministerium vorgeschlagen wurde: „Das war zum Beispiel in meiner eigenen Biographie so, dass eben der Präsident des [vorherigen Gerichts der Interviewpartnerin/des Interv iew partners] und dass die Spitze des Justizministeriums total divergent waren. Die entscheidenden Personen konnten sich nicht leiden und waren auch parteipolitisch unterschiedlich – also von daher eine relativ schwierige Situation. Wenn mich zum Beispiel mein Präsident vorgeschlagen hätte, hätte ich gar nicht weiter probieren brauchen.“ (Interview Nr. 25) 203 Überzeugend eine Einschätzung aus der Bundesrichterschaft: „Mir scheint die Dunkelstelle am stärksten da zu sein, wo nicht ganz klar ist, wie es zu Landesvorschlägen kommt. Da bieten die Vorschläge der Bundestagsabgeordneten keinen guten Ausgleich, denn nicht jeder, der in seinem Land aus bestimmten Gründen nicht vorgeschlagen wird, kennt direkt einen Abgeordneten, der bereit ist, ihn vorzuschlagen.“ (Interview Nr. 26) 204 Dazu Gärditz (Fn. 4), 333 f. 205 Siehe Gärditz (Fn. 4), 334.
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kennt eigentlich der Abgeordnete […] den Kollegen eigentlich, außer dass sie sich offenbar parteipolitisch nahestehen.“ (Interview Nr. 26)206
Vor diesem Hintergrund wäre die Etablierung eines Interessenbekundungsverfahrens zu empfehlen, das entweder beim Bundesjustizministerium oder beim jeweils zuständigen Bundesministerium angesiedelt werden könnte.207 Die Unterlagen der Interessierten werden dann allen Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses zur Verfügung gestellt, die aus diesem Pool ihre Vorschläge generieren können.208 Damit ein solches Interessenbekundungsverfahren tatsächliche Relevanz erhält, sollten Vorschläge auch nur noch aus diesem Pool möglich sein.209 Dafür bedürfte es natürlich einer standardisierten Auf bereitung aller potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten durch das Bundesministerium.210
d) Anhörungen Diskutiert wird auch die persönliche Anhörung von Vorgeschlagenen durch den Richterwahlausschuss,211 was vereinzelt bei den Befragten Zuspruch findet. Kritisch sehen das hingegen andere Befragte, weil nach ihrer Ansicht beispielsweise fähige Selbstdarsteller/innen so an Chancen gewinnen würden.212 „Am Ende, denke ich auch, […] die Papierlage […] hat eben doch ein anderes Gewicht, als ob jemand da eine Stunde angehört wird und da irgendwie eine tolle Figur macht.“ (Interview Nr. 23)
Nicht zuletzt wird eine persönliche Anhörung des Präsidialrates im Richterwahlausschuss diskutiert.213 Grundsätzlich erscheinen entsprechende Anhörungen sinnvoll, um dem Richterwahlausschuss eine breitere Entscheidungsgrundlage zu bieten. Gerade bei der Anhörung von Kandidatinnen und Kandidaten ist aber Vorsicht gebo206 In der Praxis seien Unterschiede allerdings nicht langfristig zu spüren: „Wir wissen das voneinander und im ersten Jahr der Tätigkeit hier mag das auch schon mal eine Rolle spielen. […] Aber spätestens nach einem Jahr kommt es darauf an, wie der Kollege arbeitet, ob er fleißig ist, ob er präsent ist, ob er auch mal eine Aufgabe übernimmt, für die man nicht berühmt wird, ansonsten sich kollegial verhält und was sehr selten vorkommt, man den Eindruck hat, bei seinen Voten säße verdeckt ein Geist mit am Tisch. Wenn das der Fall ist, dann macht er sich unmöglich. Das habe ich in dieser krassen Form bisher nicht beobachtet.“ (Interview Nr. 26) 207 Dass ein Bewerbungsverfahren federführend auf der Bundesebene angesiedelt werden sollte, betont auch Gärditz (Fn. 4), 334 f.; siehe ferner Rebehn (Fn. 190), 54 f. 208 Vgl. Gärditz (Fn. 4), 334. 209 Andernfalls droht die praktische Irrelevanz eines solchen Interessenbekundungsverfahrens; zutreffend Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, Vorbemerkung Rn. 11; vgl. auch Grigoleit/Siehr (Fn. 2), 461. Dies wäre entgegen Scholz (Fn. 1), 170, auch mit der aktuellen Fassung des Art. 95 Abs. 2 GG vereinbar, da es von der notwendigen Ausgestaltung der gemeinsamen Berufung eine sinnvolle Möglichkeit darstellt, für die im Übrigen auch Art. 33 Abs. 2 GG als Argument angeführt werden kann. 210 Hierzu Gärditz (Fn. 4), 334. 211 Siehe Rebehn (Fn. 190), 55; Gärditz (Fn. 4), 334; Nordmann (Fn. 59), 141; Rasehorn (Fn. 7 ), 31; Vultejus, Nochmals (Fn. 15), 40. 212 Dazu Gärditz (Fn. 4), 334; differenziert: Rasehorn (Fn. 7 ), 31. 213 Hierzu Bülow (Fn. 158), 164; Lovens (Fn. 7 ), 468; kritisch Arndt (Fn. 7 ), 26; für ein Anhörungsrecht des Präsidialrats bei dem/der zuständigen Bundesminister/in nach der Wahl einer/eines aus Sicht des Präsidialrats ungeeigneten Kandidatin bzw. Kandidaten: Goll (Fn. 7 ), 125.
Die Politik der Bundesrichterberufung
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ten, damit der persönliche Kontakt die umfassenden schriftlichen Informationen zu den Vorgeschlagenen nicht ersetzt. So gibt etwa ein/e (ehemalige/r) Bundestagsabgeordnete/r an, dass es ihm/ihr zeitlich gar nicht möglich sei, alle Unterlagen zu lesen – andere Befragte sehen das teilweise aber auch anders. „Jeder Abgeordnete bekommt einen Kopiensatz von 80, 100 Personalakten, das heißt bei mir im Büro landen dann vier Umzugskartons voller Personalakten. Und damit kann ich machen, was ich will, weil ich [freie/r] [Abgeordnete/r] bin. […] Jetzt ist die Teilnahme am Bundesrichterwahlausschuss keine Fulltime-Aufgabe und ich habe dafür keine Freistunden. Ich bin [vollbeschäftigte/r] [Bundestagsabgeordnete/r] mit einem überreichen Aufgabenfeld und dann warten auf mich diese Sachen zum Lesen, ja? Absurd. Ja, also ich weiß nicht, wer das liest.“ (Interview Nr. 17)
Bei den Landesjustizministerinnen und Landesjustizministern ist auch bei der Vorbereitung eine Fixierung auf ihre eigenen Vorschläge zu beobachten – bei Kandidatinnen und Kandidaten aus anderen Bundesländern wird teilweise auf die Einschätzungen der Amtskolleginnen und -kollegen sowie die Zuarbeit aus dem eigenen Ministerium zurückgegriffen. „Man hat Unterlagen […]. Die hat man, die guckt man auch durch, aber zugegeben: Ich habe nicht jeden Kandidaten, der aus [Bundesland A] oder [Bundesland B] oder so kommt, bis ins letzte Zipfelchen angeguckt, weil so eine Aktenlage zur Grundlage zu machen hat eigentlich auch nicht so schrecklich viel Wert. Da habe ich mich lieber verlassen auf das Votum der Kollegen. Manche Kollegen kennt man ja auch. […] Dann weiß man, da kann man sich darauf verlassen. Dann gibt es natürlich auch welche, von denen man denkt: ,Na gut, ob das wohl so stimmt?‘ Das gibt es natürlich auch.“ (Interview Nr. 22)
Anhörungen der Kandidatinnen und Kandidaten könnten zumindest die Gefahr bergen, dass die Aktenlage von den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses weniger beachtet wird als bisher und sich darauf verlassen wird, bei der Anhörung die notwendigen Eindrücke zu gewinnen.214 Dies erschiene allerdings fatal, wobei es letztlich auch nicht darum gehen kann, eine Anhörung zur Disziplinierung des Richterwahlausschusses zu verweigern oder dem Richterwahlausschuss nicht zuzutrauen, zwischen Kompetenz und Selbstdarstellung zu unterscheiden. Trotzdem bleibt ein gewisser Zwiespalt.215
e) Beteiligung der Anwalt- und Richterschaft Die häufiger vorgetragene Forderung, auch Vertreterinnen und Vertreter der Richter- und der Anwaltschaft im Richterwahlausschuss vorzusehen,216 ist nur zu begrüßen, wenn auch diese Mitglieder über eine „ununterbrochene Legitimationskette“217 Dazu Gärditz (Fn. 4), 334. Ebenso Gärditz (Fn. 4), 334. 216 Siehe Rath (Fn. 102), 259; Rasehorn (Fn. 7 ), 31; Mackenroth (Fn. 7 ), 214; Vultejus, Parteizugehörigkeit (Fn. 15), 393; vgl. Spellbrink (Fn. 12), 26 f.; Spellbrink (Fn. 10), 892 f., 896; Scholz (Fn. 1), 169 f.; May (Fn. 15), 481. 217 BVerfGE 107, 59 (87) – Lippeverband [2002]; hierzu ferner nur BVerfGE 83, 60 (72 f.) – Ausländerwahlrecht II [1990]; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, 429 (438), § 24 214
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für die Mitgliedschaft im Richterwahlausschuss verfügen.218 Momentan wählt der Bundestag im Allgemeinen Mitglieder aus seiner Mitte zu Mitgliedern des Richterwahlausschusses219 – was nach dem eindeutigen Wortlaut jedoch nicht erforderlich wäre:220 Gem. § 4 Abs. 1 RiWG müssen die Mitglieder kraft Wahl nur zum Bundestag wählbar und im Rechtsleben erfahren sein.221 Insofern könnte der Bundestag bereits heute Vertreterinnen und Vertreter der Anwaltschaft in den Richterwahlausschuss entsenden. Hinsichtlich der Richterschaft ist dies umstritten: Nach überzeugender Ansicht wäre angesichts des momentanen Ausschlusses durch § 4 Abs. 1 DRiG zuvor eine ausdrückliche, gesetzliche Regelung notwendig.222 Dann obläge es dem Bundestag, nicht nur Mitglieder aus seiner Mitte, sondern auch eine Vertretung der Richter- und Anwaltschaft in den Richterwahlausschuss zu wählen.223 Jedoch spielt die Überlegung, keine Bundestagsabgeordneten zu wählen, nach den Auskünften der Befragten nur eine geringe Rolle. „Eigentlich war von Anfang an klar, dass es Abgeordnete sein sollen. Ich glaube, das Parlament hat dafür die entsprechende Verantwortung und dann ist es meines Erachtens von der Sache her auch klug – zumal wir viele Kolleginnen und Kollegen haben, die eben Juristen sind und Sachkenntnisse haben.“ (Interview Nr. 3)
In Betracht mögen manche einen Systemwechsel zur Kooptation der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Rahmen eines Modells der Selbstverwaltung der Justiz ziehen: Je nach Ausgestaltung des konkreten Modells wäre dies zwar mit dem Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG unvereinbar,224 gleichzeitig aber dem verfassungsändernden Gesetzgeber mit Blick auf Art. 79 Abs. 3 GG nicht grundsätzlich verwehrt.225 Unabhängig davon wäre ein solcher Systemwechsel jedoch weder erfolgversprechend noch wünschenswert.226 So führt auch ein/e befragte/r Bundesrichter/in an: „Ich bin auch gar kein so großer Freund der Selbstverwaltung der Justiz mehr. Wenn wir hier Präsidiumswahlen machen oder irgendwelche Wahlen oder andere Dinge, wo wir wirklich Rn. 16 ff.; vgl. bereits Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl. Dargestellt anhand der Gesetzentwürfe zur Einführung der Richterwahl in Nordrhein-Westfalen, 1974, 73 ff. 218 Dazu Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 12; Göhner (Fn. 15), 21 f. 219 Ebenso Gärditz (Fn. 4), 328; Wittreck (Fn. 24), 303; siehe jedoch Scholz (Fn. 1), 158; Arndt (Fn. 7 ), 25. 220 Ganz h.M.: Detterbeck (Fn. 1), Art. 95 Rn. 12; Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 35; Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 26; Gärditz (Fn. 4), 328; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 4 Rn. 3. 221 Siehe Schulze-Fielitz (Fn. 1), Art. 95 Rn. 26; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 4 Rn. 1–3. 222 Vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 2 DRiG; ebenso Voßkuhle (Fn. 1), Art. 95 Rn. 35; Schmidt-Räntsch (Fn. 1), RiWG, § 4 Rn. 3; Staats (Fn. 1), § 4 Rn. 3; a.A. Dietrich (Fn. 1), 140–143; Wittreck (Fn. 24), 306; Vertreter beider Ansichten verweisen dabei auf BVerwGE 70, 270 (272 ff.) – Richterwahlausschuss Berlin [1984]; in sich widersprüchlich Scholz (Fn. 1), 156, 169 Fn. 33. 223 Kritisch hierzu May (Fn. 15), 481. Im Übrigen sind aber natürlich unter den Mitgliedern und Vorsitzenden des Richterwahlausschusses ehemalige Richterinnen und Richter sowie ehemalige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte bzw. Bundestagsabgeordnete, die neben dem Bundestagsmandat als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte tätig sind, zahlreich vertreten; vgl. ferner Arndt (Fn. 7 ), 25. 224 Dazu Gärditz (Fn. 4 4), 22; Wittreck (Fn. 24), 131 f., 662 ff.; vgl. Voßkuhle/Sydow (Fn. 194), 677. 225 Siehe Wittreck (Fn. 24), 669 f.; vgl. Minkner (Fn. 8), 309 f. 226 Ebenso Gärditz (Fn. 4 4), 22; Wittreck (Fn. 24), 131 f., 674 ff.; Voßkuhle/Sydow (Fn. 194), 677; vgl. ferner Spellbrink (Fn. 12), 26 f.; Spellbrink (Fn. 10), 892 f.; Arndt (Fn. 7 ), 24.
Die Politik der Bundesrichterberufung
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autonom wählen, sind wir auch keine besseren Menschen. Das ist auch nicht anders als in jedem Verein oder in jedem Hühnerzüchterklub. Es gibt Fraktionen und was weiß ich. Ich weiß nicht, warum es dadurch besser werden sollte.“ (Interview Nr. 25)227
3. Diskussionsbedarf Die Konstruktion der Berufung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter durch das Grundgesetz und den Gesetzgeber hat ein Verfahren geschaffen, das sich im Verborgenen und nach ganz eigenen Regeln abspielt. Dieses Verfahren wird weiterhin umstritten bleiben und Diskussionen hervorrufen. Dabei zeigt der Blick auf die Details, dass theoretische Annahmen und empirische Befunde nicht unbedingt übereinstimmen: Ist etwa die These des policy-seeking bei der Auswahl von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern auch schnell geäußert, so zeigt sich in der Realität ein deutlich komplexeres Bild von Politik, das diese These jedenfalls in ihrer Undifferenziertheit nicht stützt und überhaupt einer Einordnung als policy-, office- oder voteseeking widerstrebt. Dieser Beitrag ist folglich auch als Plädoyer dafür zu verstehen, die Diskussionen über die Berufung von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern als Chance zu begreifen und außerhalb der Fachwelt aufzunehmen. Es ist bemerkenswert, wie wenig Aufmerksamkeit die (Bundes-)Richterberufung in der allgemeinen Öffentlichkeit erhält, wobei von den Befragten als Erklärungen die Akzeptanz der Bundesgerichte, mangelndes Interesse und die institutionelle Perspektive in Deutschland auf die Gerichte228 angeführt werden. Mit überzeugenden Argumenten tendiert ein/e befragte/r Bundesrichter/in vor diesem Hintergrund eher zu dem Wunsch nach einer breiteren Debatte in der Öffentlichkeit über die Berufung von Richterinnen und Richtern: „[Weil] ich glaube, dass wir schon aufpassen müssen, dass wir unter Umständen in der Justiz auch etwas härtere Zeiten kriegen könnten. Dann muss man wissen, wen man […] wählt. Es darf also nicht passieren, dass die Juristen dann meinen, wie in der Weimarer Zeit, man könnte sich aus dem Ganzen raushalten und nur fachlich über das Ganze entscheiden. […] Man muss auch Richterschelte aushalten können. Man muss auch wissen, dass man Leute […] wählt, die aus dem Volk insoweit kommen, als dass sie die Bandbreite haben und nicht, dass sie ein Elfenbeinturmleben haben.“ (Interview Nr. 24)
An die Politik ist insofern auf der einen Seite zu appellieren, dass sie sich um eine angemessene Resonanz der Bundesrichterberufung bemüht und ihre Überzeugungen zum Gegenstand einer – natürlich sachlichen – Debatte macht. Gleichsam wäre es aber naturgemäß auch wünschenswert, wenn auf der anderen Seite auch die Bevölkerung und die Medien der Rechtspolitik im Allgemeinen sowie der Berufung von Richterinnen und Richtern im Besonderen ein größeres Interesse widmen würden. Nicht zuletzt ist in wissenschaftlicher Hinsicht der Wunsch zu äußern, dass die Sozialwissenschaften ihre Distanz ebenso zur Dritten Gewalt wie zur Rechtswissen Vgl. Meyer (Fn. 1), Art. 95 Rn. 12; Arndt (Fn. 7 ), 24; siehe auch Fuchs (Fn. 22), 173 ff. Dazu Lepsius, La Cour, c’est moi. Zur Personalisierung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit im Vergleich Deutschland – England – USA, JöR N.F. 64 (2016), 123 ff. 227
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schaft verlieren.229 Denn jede weitere Perspektive wird zu einem besseren Verständnis des für die Demokratie und den Rechtsstaat so bedeutsamen Vorgangs der Berufung von Richterinnen und Richtern beitragen.
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Siehe Baldschun/Welti (Fn. 10), 77.
Debatte: Perspektivenerweiterung durch Genderforschung in der Rechtswissenschaft
Gleichheit, realistisch von
Prof. Catharine A. MacKinnon (Michigan) im Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. (Michigan, Hasselt, Luzern) Susanne Baer (Berlin) Was ist der Kern einer „feministischen“ Rechtswissenschaft? Welche Themen sind zentral – und auf welche Herausforderungen treffen Arbeiten, die sich mit ihnen befassen, und Forschende, die das tun? Zudem: Welche Fragen müssten uns künftig – in der Rechtswissenschaft und in der juristischen Praxis – beschäftigen, wenn wir – nicht ausschließlich, aber auch nicht zuletzt – Rechtsschutz von Frauen insbesondere gegen Gewalt ernst nehmen? Catharine MacKinnon ist die meistzitierte, einflussreichste – und damit wohl auch umstrittenste – Rechtswissenschaftlerin und Anwältin, die in den USA und international im Themenfeld feministische Rechtswissenschaft arbeitet. Kennzeichnend für ihre Arbeit ist die – gerade in den USA eher ungewöhnliche –, fortlaufend die akademische Tätigkeit begleitende und erkennbar fundierende Arbeit als Anwältin und Beraterin, neben der Professur an der Law School der Universität von Michigan und der regelmäßigen Gastlehre an der Harvard Law School, lange Zeit auch an der University of Chicago. MacKinnon vertrat Opfer sexueller Belästigung vor Gericht,1 überzeugte kanadische Gerichte durch strategische Prozessführung mit der Organisation LEAF von einem materiellen Verständnis des Gleichheitsgrundrechts,2 betrieb vor US-amerikanischen Gerichten ein Verfahren gegen den bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić wegen der Vergewaltigungen bosnischer Frauen,3 und unterstützte die als Linda Lovelace weltbekannte Porno-Darstellerin, sich gegen die Verbreitung des pornografischen Films zu wehren, der von ihrem Miss1 Diese Verfahren sind der Hintergrund für das erste, nach wie vor aktuelle Buch: MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women, 1979. 2 Der Women’s Legal Education and Action Fund ist eine Nichtregierungsorganisation, die seit 1985 u.a. durch strategische Prozessführung ein substantielles Verständnis des Grundrechts auf Gleichheit vertritt, das der Supreme Court in der Entscheidung über den Zugang eines Anwalts zum Beruf erstmals prominent – und in Abgrenzung sowohl zu den USA wie auch zum deutschen Nationalsozialismus aufgenommen hat, in Andrews v Law Society of British Columbia, [1989] 1 SCR 143. 3 Vgl. Kadic v Karadzic, 70 F.3rd 232 (2 nd Cir. 1995), Rehearing Denied, 74 F.3rd 377 (2 nd Cir.
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Catherine A. MacKinnon und Susanne Baer
brauch lebt und ihn ständig wiederholt.4 Jenseits Nordamerikas hat MacKinnon die Europäische Kommission ebenso wie Regierungen zahlreicher Staaten und Akteure der Frauenbewegungen zum Vorgehen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz beraten, insbesondere in Schweden auch zu Strategien gegen Prostitution. Sie hat darüber hinaus in der Arbeit des UN-Tribunals zu Jugoslawien und am Internationalen Strafgerichtshof ein Verständnis von sexueller Gewalt implementiert, das sowohl materiell-rechtlich wie im Verfahren wirkt. Ihre Forschung ist in zahlreiche Sprachen übersetzt, liegt aber in deutscher Sprache bislang nur rudimentär vor.5 Auch deshalb erscheint dieses Gespräch nicht im englischen Original, sondern übersetzt. Die ergänzten Hinweise auf die Schriften sollen die Möglichkeit eröffnen, das Angesprochene zu vertiefen. Susanne Baer (SB): Dieses Jahrbuch für Öffentliches Recht wird 40 Jahre nach der Veröffentlichung von „Sexual Harassment of Working Women“ im Jahr 19796 erscheinen. Anlässlich der Premiere des autobiografischen Films „RBG“ bezeichnete die Richterin des U.S. Supreme Court Ruth Bader Ginsburg das Buch 2018 als „Offenbarung“. Was hat das Buch offenbart? Catharine MacKinnon (CAM): Es hat beschrieben, dass unerwünschter sexueller Druck im Kontext ungleicher Machtbeziehungen sowohl endemisch als auch epidemisch ist, also ebenso häufig wie ansteckend. Und das war wohl, so scheint es, für manche überraschend. Dazu kommt: Dieser Druck ist geschlechtsspezifisch, verletzt also Gleichheitsrechte und trifft insbesondere Frauen in all ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch schwule Männer, Trans*personen und manche Männer ganz unabhängig davon, welche Sexualität sie sich ausgesucht haben. Das Buch hat außerdem aufgedeckt, dass die meisten Opfer die im jeweiligen sozialen Kontext untergeordnete Rasse und Ethnizität teilten. Neu war sowohl die Methode – rechtswissenschaftliche Theorie erfahrungsbasiert zu entwickeln – als auch der Inhalt – zu verstehen, dass sexueller Missbrauch auf Geschlecht beruht. Damals war das Grundrecht auf Gleichheit noch nie auf sexuellen Missbrauch angewendet worden. Vielmehr galt sexueller Missbrauch bis dahin einzig als Verstoß gegen die moralistische Norm der Gemeinschaft. Dies ist letztlich auch der Grund dafür, dass gegen sexuelle Gewalt nie etwas getan worden war. Und da bisher kein einziges Land seine strafrechtlichen Verbote sexueller Ausbeutung und sexuellen 1996) Cert. Denied 518 U.S. 1005 (1996). Zum Hintergrund MacKinnon, Are Women Human?, 2006, Teil 3. 4 Der Film „Deep Throat“ wird nicht selten als „Klassiker“ in Bezug genommen; den Missbrauch schildert das Buch Lovelace, Ordeal, 1980. Eine verfassungsrechtliche Debatte dazu findet sich in Abrams (ed.), Friend of the Court: On the Front Lines with the First Amendment, 2013, 25 ff. 5 In deutscher Übersetzung erschienen sind: MacKinnon, Feminismus, Marxismus, Methode und der Staat: ein Theorieprogramm, in: List/Studer (Hrsg.), Denkverhältnisse, 1989, 86 ff.; dies., Auf dem Weg zu einer feministischen Jurisprudenz, STREIT 1993, 4 ff.; dies., Auf dem Weg zu einer neuen Theorie der Gleichheit, KritV 77 (1994), 363 ff.; dies., Nur Worte, 1994; dies., Geschlechtergleichheit: Über Differenz und Herrschaft, in: Nagl-Docekal/Pauer-Studer (Hrsg.), Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität, 1996, 140 ff. 6 Fortsetzungen noch lange vor #metoo finden sich in MacKinnon/Siegel (eds.), Directions in Sexual Harassment Law, 2004.
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Missbrauchs auf Gleichheit stützt,7 jenseits vom Recht gegen sexuelle Belästigung, wird bis heute gegen diese Gewalt wenig oder überhaupt nichts unternommen. SB: Ich muss hier auch zugunsten der Übersetzung des Begriffs „race“ nachfragen: Feministische Rechtstheorie war und ist bei Dir immer ein Ansatz, Geschlecht (sex) und race und weitere Ungleichheiten in ihrer Verbindung miteinander zu verstehen. Im Deutschen ist sehr umstritten, ob der Begriff „Rasse“, mit dem race zu übersetzen wäre, überhaupt noch Verwendung finden darf. Dagegen spricht, dass dann zumindest begrifflich eine natürliche Differenz behauptet wird, die es so kategorial nicht gibt, aber die Grundlage für Rassismus liefert. Die Alternative ist daher nicht etwa, statt von „Rassen“ nun von „Ethnien“ zu sprechen. Ich beziehe mich, wenn nicht Rechtstexte wie Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zu zitieren sind, auch deshalb nicht auf „Rasse“, sondern direkt auf Rassismus, um die Kategorien der Ungleichheit nicht zu fixieren, sondern die problematische Hierarchisierung zu bezeichnen. Das gilt meines Erachtens allerdings auch für den Umgang mit dem Begriff Geschlecht. Zwar heißt es oft, dass entsprechende Probleme über die Unterscheidung zwischen sex als biologistischer Dichotomie und gender als nur sozialer Differenz gelöst würden. Doch liegt darin ein Kurzschluss, denn Gender bezeichnet im deutschen und englischen wissenschaftlichen Sprachgebrauch auf dem Stand der heutigen Genderforschung, ernst genommen, Geschlecht als mehrdimensional markierte Ungleichheit.8 „Geschlecht“ als Rechtsbegriff bleibt aber anders als „Rasse“ dennoch meist unhinterfragt. Wenn in Deinen Arbeiten nun der Begriff race auftaucht – wie ist das gemeint? CAM: Es gibt race. Dann gibt es racism. Und dann gibt es white supremacy. Jeder Mensch hat einen racial Hintergrund. Racism ist Bigotterie. White supremacy ist die Form, die diese Bigotterie üblicherweise annimmt. Jeder Begriff sollte daher auch so übersetzt werden. Also: Es gibt Rasse, dann Rassismus und dies meist in der Form weißer Vorherrschaft. „Wegen der Rasse“ ist eine juristische Begriffsverwendung, auch wenn die Realität, auf die sich das bezieht, tatsächlich „wegen des Rassismus“ so ist, typischerweise, wenn auch nicht ausschließlich, in der Form weißer Vorherrschaft. Und es müsste dieselbe Diskussion um die Begriffe sex und sexism geben: In der Realität gibt es ein Verhalten „wegen des Geschlechts“, das tatsächlich „wegen des Sexismus“ stattfindet. Und das ist wiederum typischerweise, wenn auch nicht immer, männliche Dominanz. SB: Deine Arbeit setzte immer und setzt auch aktuell direkt bei den realen Erfahrungen von Frauen an, insbesondere bei der sozialen Realität von Black women, Schwarzen Frauen.9 Das wird von Vielen immer noch und leider so verstanden, als sei dieser Ansatz nicht mehr als die besonders detailreiche Aufmerksamkeit für den konkreten MacKinnon, A Sex Equality Approach to Sexual Assault, Annals of the New York Academy of Sciences 989 (2003), 265; dies., Rape Redefined, Harvard Law and Policy Review 102 (2016), 431 ff. 8 Im juristischen Kontext Baer, Wozu und was macht Gender? Notwendige Erweiterungen der Governance-Perspektive, in: Botzem u.a. (Hrsg.), Governance als Prozess, 2009, 99 ff. Zu den aktuelleren Denunziationen von „gender“ Hark/Villa (Hrsg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, 2015. 9 “Black“ und „Farbig“ sind hier bewusst nicht als Adjektive klein, sondern substantiviert groß gesetzt, um politische Identitäten und Konzepte zu markieren. Auch dies ist eine umstrittene Textpraxis. s.a. Liebscher/Remus/Bartel, Rassismus vor Gericht, Kritische Justiz 47 (2014), 135. 7
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Catherine A. MacKinnon und Susanne Baer
Fall – hier: von Gewalt gegen Frauen –, ohne theoretischen Mehrwert. Du verstehst das jedoch als eine epistemologische und methodologische Verschiebung, mit weit größerer theoretischer, dogmatischer, politischer und praktischer Bedeutung.10 Die Einschätzung, ein Text sei „detailliert“ oder „praktisch“ oder ein Argument „empirisch“, wertet rechtswissenschaftliche Arbeit gemeinhin ab, weil sie keinem theoretischen Anspruch genüge. Das delegitimiert seit jeher die Bedeutung rechtsrealistischer Analyse, ist aber besonders gängig, wenn die Erkenntnisse feministischer Arbeit abgewehrt werden. Nicht zufällig werden da tradierte und ideologisierte Unterscheidungen aufgerufen: Behauptet wird implizit, Theorie und Praxis des Juristischen ließen sich „sauber“ unterscheiden, was zugleich tradierte vergeschlechtlichte und damit hierarchisierte Zuordnungen auf den Plan ruft, in denen „Kultur“ der „Natur“ oder Rationalität der Emotion nicht nur gegenüberstehen, sondern als das je männliche (Gehirn) dem je weiblichen (Körper) überlegen sind, das Andere „beherrschen“. Deine Arbeiten werden zwar weltweit rezipiert, treffen aber dennoch auch auf solche Abwertungsstrategien. Jede neuerliche Erläuterung der Dinge, die seit langem gelesen werden könnten, ist damit auch eine durchaus großzügige und geduldige Geste, sie nochmals zu erklären: Was ist die zentrale theoretische These Deiner Arbeit? CAM: Es gibt viele Thesen, die für diese Arbeit von Bedeutung sind. Eine der wichtigsten Erkenntnisse – und das ist gerade keine Annahme – liegt darin, dass Ungleichheit als Machthierarchie verstanden werden muss, die zuerst substanziell ist, bevor sie abstrakt wird. Die Realität formt unsere Vorstellungen, einschließlich der rechtlichen Konzepte, und diese Vorstellungen bemächtigen sich dann der Realität. Zum Umgang mit der Bezeichnung „feministisch“ und Deinem Verweis auf die Marginalisierung von Machtkritik in der Rechtswissenschaft ließe sich noch hinzufügen: Meine männlichen Kollegen werden grundsätzlich nicht als „führende liberale Rechtstheoretiker“ oder „wichtige konservative rechtswissenschaftliche Denker“ oder „maskulinistische Theoretiker“ bezeichnet, obwohl diese Bezeichnungen den politischen Hintergrund ihrer Arbeit durchaus zutreffend beschreiben würden. Wenn sie ihre Forschung vorstellen, wird auch nicht angenommen, dass man ihre politische Position teilen müsse, um ihre rechtswissenschaftlichen Analysen ernst nehmen zu können. Wenn ihre Arbeit dann praktische Wirkung entfaltet, beziehen sich Lob und Kritik auch einzig und allein auf den praktischen Erfolg der Arbeit. Wenn hingegen das Publikum präventiv bereits eingegrenzt und die Bedeutung und Tragweite der Arbeit beschränkt wird, die Geschlecht zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht hat, und die damit Fragen behandelt, die tatsächlich vorrangig Frauen betreffen, ebenso wie schwule Männer und lesbische Frauen und transsexuelle Menschen und auch andere Männer, signalisiert das letztlich: „Ihr müsst diese Arbeit nicht ernst nehmen, wenn ihr Euch nicht sowieso schon in diesem politischen 10 Vgl. die Sammlung der Beiträge in MacKinnon, Feminism Unmodified: Discourses on Life and Law, 1987. Theoretisch grundlegend dann dies., Feminism, Marxism, Method, and the State: An Agenda for Theory, Signs 7 (1982), 515 [auf deutsch oben Fn. 5], ausgebaut in dies., Toward a Feminist Theory of the State, 1989, und dazu aktuell dies., Response to Five Philosophers: Toward a Feminist Theory of the State Some Decades Later, Feminist Philosophy Q. 3 (2017), Article 6, 1; dies., Introduction to Symposium on Toward a Feminist Theory of the State, Law & Inequality 35 (2017), 255.
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Lager verortet“. So wird minimiert, was diese Arbeit bedeutet und was sie erreicht, sowohl für die Rechtswissenschaft wie auch für das Recht in der Welt. Meines Erachtens ist Forschung entweder zutreffend oder sie liegt falsch, und das gilt für die Arbeit aller. SB: #metoo und #metwo, die aktuellsten (aber nicht die einzigen) Onlineforen, in denen Diskriminierungserfahrungen von Frauen und mit Alltagsrassismus geteilt werden, hat mehr Aufmerksamkeit auf die Themen sexueller und rassistischer Belästigung gelenkt. Das deutsche Wort „Belästigung“ klingt allerdings eher nach einem Ärgernis als nach Diskriminierung. So ist sexuelle Belästigung in der Erwerbsarbeit als Diskriminierung sogar verboten, und im deutschen Recht wird – im Gegensatz zu den USA, in denen sie weithin als Meinungsfreiheit geschützt ist – auch Hassrede als strafrechtlich relevanter Tatbestand behandelt. Doch gibt es eine wirkmächtige Alltagsüberzeugung, sexuelle Belästigung als belanglos abzutun, gern auch als mehr oder minder unbeholfenen Versuch eines Flirts. Aufwind bekommt das auch durch eine populistische Politik, die nicht nur romantisierte Versionen des Patriarchats preist, sondern auch „politische Korrektheit“ beenden will (ein Kampf begriff rechtskonservativer Kulturkritik!) und „endlich mal sagen können“ möchte, was die Leute „wirklich denken“, wozu dann regelmäßig grober Sexismus und Rassismus und auch Antisemitismus gehören. Du hast mit Deinen juristischen Analysen den Weg gebahnt, um das besser zu verstehen. Was bedeutet sexuelle Belästigung heute, bezogen auf die Gleichheit der Geschlechter insgesamt, sowohl gesellschaftlich wie auch juristisch? CAM: Tatsächlich bedarf es eines ganzen Buchs oder sogar mehrerer Bücher, um diese Frage wirklich zu beantworten. Es lässt sich jedenfalls beobachten, dass sexuelle Belästigung viele weitere Formen des Missbrauchs von Frauen und Kindern umfasst oder eine Parallele zu diesen darstellt oder diese auf den Plan ruft. Das reicht von der schlichten Diskriminierung bis zu anderen Formen des Missbrauchs von Autorität, Vertrauen oder Macht. So geht sexuelle Belästigung wie sexueller Missbrauch in der Kindheit mit der Manipulation von Vertrauen und Abhängigkeitsverhältnissen einher und mit dem institutionellen Verrat an denjenigen, die davon berichten. Tatsächlich ist sexuelle Belästigung auch weit davon entfernt, nur „lästig“ zu sein, wie es das deutsche Wort suggeriert: Sexuelle Belästigung beinhaltet häufig Vergewaltigungen; sie bringt alle Problematiken sexueller Interaktionen mit sich, die in ungleichen Machtbeziehungen hingenommen werden. Gerade im Kontext von Erwerbsarbeit verwandelt sexuelle Belästigung tatsächlich jede Arbeit, die Frauen ausüben, in eine Form der Prostitution: Erwerbsarbeit wird so ein erzwungener Tauschhandel zwischen sexuellem Zugriff und ökonomischem Überleben. Und das ist der Kern von Prostitution, per definitionem. In seiner grundlegenden Dynamik macht sexuelle Belästigung damit die tatsächliche Arbeitsleistung zu einem Ableger des Handels mit Sex. Dieser Imperativ des Tauschs von sexuellen Handlungen gegen (potentielles) Überleben beherrscht die Ungleichheit von Frauen, und damit ihr Leben, weltweit. In der Prostitution werden Frauen und Mädchen praktisch alle Optionen außer der einen verwehrt, und damit wird ihr Einverständnis,11 ihre freie Entscheidung oder ihre Wahl betrügerisch und Der englische Begriff ist „consent“, was je nach Rechtslage Einverständnis, Einwilligung oder
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illusorisch, genauso wie ein Einverständnis mit sexueller Belästigung in einer realen Arbeitssituation betrügerisch und illusorisch ist. Frauen, die angeblich Menschenrechte haben,12 was eigentlich Gleichheitsrechte in der Erwerbsarbeit und auch in der Ausbildung umfasst, werden auf die unterste Stufe des Status von Frauen reduziert, wenn sexuelle Belästigung weithin toleriert wird. Die Erbringung sexueller Dienste irgendeiner Form, von der Verdinglichung bis zur Vergewaltigung, wird so zu einer Voraussetzung für bezahlte Arbeit, einschließlich bezahlter Hausarbeit, wo sexuelle Ausbeutung besonders weit verbreitet ist. Und dasselbe gilt dann für die Aufstiegs chancen in der Ausbildung oder im Beruf. Genau das ist es, was die #MeToo-Bewegung heute weithin ablehnt: Einfach gefasst ist Prostitution die unterste Stufe der Ungleichheit von Frauen, und sexuelle Belästigung reduziert Frauen aller Positionierungen nach Rasse und Klassenzugehörigkeit auf genau diese Stufe. Ganz grundlegend verleiht erst das sexueller Belästigung als politischem Thema und als rechtlichem Tatbestand seine transkulturelle und transhistorische Reichweite und damit auch globale Bedeutung. SB: In den 1980er Jahren verlagerte sich der Fokus Deiner Forschung von sexueller Belästigung zu Pornografie. Mit der Aktivistin und Autorin Andrea Dworkin hast Du einen zivilrechtlichen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich gegen sexualisierte Gewalt in und durch Pornografie richtet.13 Das zentrale Argument lautet, dass Pornografie weder „nur Worte“14 sind noch „nur Bilder oder Fantasie“. In Deutschland wurde ein nur sehr grob daran orientierter, im Kern strafrechtlicher Entwurf eines Gesetzes gegen Pornografie in der Zeitschrift „Emma“ veröffentlicht, der bis heute die andere, für das deutsche Recht adaptierte Version Eures Gesetzentwurfs überschattet, der Pornografie nicht moralisch definiert und gerade nicht strafrechtlich ansetzt. Der neue Ansatz wurde, obwohl er zivilrechtlich funktioniert, deshalb oft unwissend mehrheitlich als „prüde“ und Versuch der „Zensur“ abgelehnt. Damit bleiben bislang juristisch weiter nur strafrechtliche Tatbestände, um diesem Missbrauch zu begegnen. Dazu kommen wiederkehrende Versuche, Kinderpornografie zu stoppen, wo Einige verstanden haben, dass es sich um Kindesmissbrauch handelt, der auch als Film verkauft wird. Weithin ist aber nach wie vor tabuisiert, Pornografie als Missbrauch zu verstehen. Sowohl in den USA als auch in Deutschland löst die Kritik an Pornografie sogar eine Form der Ablehnung aus, die ich in anderen Kontexten nicht wahrgenommen habe: Gegenargumente sind besonders aggressiv und respektlos, fast immer auch persönlich und sehr häufig sexualisiert. Woran liegt das? Was ist der Status von Pornografie in der feministisch-rechtswissenschaftlichen Forschung und in der Rechtspraxis heute, und was bedeutet es, wenn Pornografie verteidigt oder als irrelevant abgetan wird? Zustimmung bedeuten kann, im vorliegenden Zusammenhang aber jedenfalls immer markiert, es habe eine autonome Entscheidung gegeben, die sexuelle Handlungen legitimiere. 12 Ausführlicher in MacKinnon, Are Women Human? And Other International Dialogues, 2006. 13 Mehr in MacKinnon/Dworkin, Pornography and Civil Rights: A New Day for Women’s Equality, 1988. Ein Versuch, dies in deutsches Zivilrecht zu übertragen, findet sich bei Baer/Slupik, Kritische Justiz 1988, 171 ff.; kritisch dazu jüngst Holzleitner, in: Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 2018, 251. 14 MacKinnon, Only Words, 1993 [auf deutsch oben Fn. 5].
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CAM: Pornografie ist ein Ableger von Prostitution, eine technisch hochentwickelte Form des Sex-Handels.15 Das bedeutet nach den international geltenden rechtlichen Definitionen, dass Dritte andere Menschen als und für Sex an andere verkaufen. Und nun gibt es drei Gründe für die Attacken gegen Personen, die Pornografie in Frage stellen. Erstens ist die pornografische Erfahrung für Männer eine sexuelle Erfahrung. Das bedeutet, dass mit der Infragestellung der Pornografie gleichsam auch die Erektionen und Orgasmen in Frage gestellt werden, für die im Konsum die in der Pornografie dargestellten Personen benutzt werden. Zweitens ist Pornografie finanziell extrem lukrativ, da sie süchtig macht, und ihre Zuhälter sich damit teure Unterstützung und Vertuschung leisten können, einschließlich der Dienste von Medienagenturen und der besten Anwaltskanzleien am Markt. Drittens ist Pornografie tatsächlich legal, auch wenn es gegenteilige Gesetze gibt, die aber nur solange existieren, wie sie absolut ineffektiv bleiben. Dadurch erhält diese Industrie einen legitimen Anstrich, was offensichtlich viele Menschen zu täuschen vermag. Weil diejenigen – die Wenigen, die Mutigen –, die Pornografie aufgrund des Schadens in Frage stellen, den sie tatsächlich verursacht, alle empirischen Beweise auf ihrer Seite haben,16 bleibt der Industrie als einzige Waffe der Verteidigung, zu lügen und zu diffamieren: Lügen über das, was die Beweise zeigen, fälschlich zu behaupten, die Beweise seien nicht eindeutig, und diejenigen persönlich zu diffamieren, die es wagen, in Frage zu stellen, dass der Fortbestand der Pornografie offensichtlich wertvoller ist das Leben und Wohlergehen derjenigen, die dafür ausgebeutet und verletzt werden. Es ist besonders interessant, dass diejenigen, die Pornografie als eine Form der sexuellen Befreiung verteidigen, dann eben gerade Pornografie aus den Menschen machen, die das ablehnen, um unsere Glaubwürdigkeit zu zerstören. SB: Da es hier um sexuelle Verletzung und Missbrauch geht, müssen wir auch über Prostitution sprechen. Du hast Prostitution als eine Form der, wie Überlebende das nennen, „seriellen Vergewaltigung“ analysiert, und wendest Dich gegen die vollständige Entkriminalisierung und Legalisierung. Dein Vorschlag steht hinter dem, was seit den Reformen in Schweden im Jahr 1990 das „Nordische Modell“ genannt wird. Was sind die wichtigsten Elemente dieses Ansatzes? Warum ist dieser Ansatz der Entkriminalisierung überlegen? Und was lässt sich entgegnen, wenn Menschen verteidigen, was sie als „Sexarbeit“ („sex work“) bezeichnen, und sich gegen jedwede Maßnahme wenden, die der Polizei und Gesundheitsbehörden Befugnisse verleiht, mit denen sie Frauen kontrollieren können? CAM: Diejenigen, die Prostitution als „Sexarbeit“ bezeichnen, sollten berücksichtigen, dass es sich in der sozialen Realität weder um Sex noch um Arbeit handelt. Sex beinhaltet, wenn frei entschieden wird, ihren eigenen Gewinn und ist keine kommerzielle Transaktion. Sex ohne Gegenseitigkeit, Wechselseitigkeit oder gleichermaßen geteilte Intimität und Lust erreicht diesen Maßstab nicht. Prostitution ist tatsächlich, was Überlebende beschrieben haben: „serielle Vergewaltigung.“ Einer verge Vertiefend MacKinnon, Pornography as Trafficking, Michigan Journal of International Law 26 (2005), 993. 16 Die Beiträge zu den Anhörungen der Legislative dokumentiert MacKinnon/Dworkin (eds.), The Harm‘s Way. The Pornography Civil Rights Hearings, 1987. 15
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waltigten Frau Geld hinterherzuwerfen, verwandelt ihre Verletzung nicht in Arbeit. Das gilt auch jenseits dessen, dass der allergrößte Teil des Geldes, das in der Prostitution verdient wird, an Zuhälter oder Frauenhändler geht, und über 90% der Prostituierten von Zuhältern kontrolliert werden. Nach der völkerrechtlichen Definition des Palermo Protokolls17 wird jede, die durch einen Zuhälter kontrolliert wird, tatsächlich gehandelt, solange die Position der Macht oder der Zustand der Verletzlichkeit für kommerziellen Sex von Dritten ausgenutzt wird. Wenn Menschen in die Prostitution gezwungen werden, ist beides wirksam: Da gibt es die allgemeine ökonomische Entbehrung, Rassismus und geschlechtsbezogene Diskriminierung sowie auch Minderjährigkeit – und es gibt andere Menschen, die solche Situationen ausnutzen. Die meisten Menschen kommen als Kinder in die Sex-Industrie. Die Bedingungen des Zwangs machen Prostitution weder frei noch gleich. In der Prostitution zu sein ist das Gegenteil dessen, was es bedeutet, Menschenrechte zu haben: Es ist eine Menschenrechtsverletzung. Diejenigen, die sich in diesem Zusammenhang dagegen wehren, „den Staat zu ermächtigen“, wenden sich vor allem gegen die allgemein-flächendeckende Legalisierung der Prostitution, die Zuhälter, Menschenhändler und Freier wie auch prostituierte Frauen dem Zugriff staatlicher Regelung unterwirft. Wenn Prostitution legalisiert wird, wird es jedoch vom Staat betrieben, was den Staat ermächtigt, die Lebens- und Krankheitsgeschichte derjenigen zu bestimmen, die prostituiert werden. Tatsächlich gibt es dann die Registrierungspflicht und diverse Regeln, die befolgt werden müssen, um die versprochenen Wohltaten zu erhalten. Das ist auch ein wesentlicher Grund dafür, warum nur 4% derjenigen, die in den Niederlanden prostituiert werden, im dortigen System registriert sind: Sie wollen nicht, dass Prostitution ein offizieller Teil ihrer Lebensgeschichte ist. Zumindest ein wesentlicher Grund dafür, sich an einem staatlichen System der Regulierung nicht zu beteiligen, liegt darin, dass ein großer Teil der Frauen, die in der Prostitution benutzt werden, aus dem Ausland nach Holland gehandelt werden, weil die Legalisierung wie ein Magnet auf den Frauenhandel wirkt, mit Prostitution als Ziel. Es wird im Übrigen auch selten verfochten, dass der Staat nicht ermächtigt werden sollte, gegen Zuhälterei und Frauenhandel vorzugehen, obwohl das die wichtigsten Folgen der Dekriminalisierung sind. Demgegenüber entmachtet das Nordische Modell den Staat insofern, als dass er die Befugnis verliert, gegen Menschen vorzugehen, die prostituiert werden. Tatsächlich liegt sogar ein ganz wesentlicher Gewinn dieses Ansatzes darin, dass der Staat den Frauen endlich nicht mehr im Nacken sitzt. Ein anderer Teil dieses Ansatzes besteht darin, diejenigen ernsthaft zu bestrafen, die Menschenrechte verletzen, wäh Zusatzprotokoll vom 15. November 2000 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, in Kraft seit dem 25. Dezember 2003, in Deutschland seit 14. Juli 2006. Im Europarat gilt das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 3. Mai 2005 (CETS No.197), in Kraft seit dem 1. Februar 2008, in Deutschland seit 19. Dezember 2012 (mit einem Vorbehalt). In der EU gilt insbesondere die „Menschenhandelsrichtlinie“, RL 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. vom 15. April 2011, L 101/1. Dazu Krieg, Multilevel Regulation against Trafficking in Human Beings, 2014. 17
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rend sie die Industrie am Laufen halten: die Käufer. Das ermächtigt nicht etwa den Staat, die Frauen zu kontrollieren, die in der Prostitution benutzt werden. Ganz im Gegenteil: Nicht nur beseitigt das Nordische Modell alle Strafen für prostituierte Menschen. Es ermächtigt sie zudem, indem Mittel zur Verfügung gestellt werden, die denjenigen den Ausstieg aus der Prostitution ermöglichen, die ihn wünschen – was über 90% so bekunden, da sie dieses Leben hinter sich lassen wollen –, und was es zudem denjenigen, die in der Prostitution bleiben, ermöglicht, Nutzer anzuzeigen, die den Sicherheitsregeln nicht folgen, die für prostituierte Menschen gelten, deren Durchsetzung sonst nur eine Fantasie wäre. Währenddessen hält die Gewalt, die der Prostitution innewohnt, im Rahmen der Legalisierung an – was auch Deutschland offiziell anerkannt hat –, ebenso wie die Herrschaft der organisierten Kriminalität über die Sex-Industrie. Die wichtigsten Elemente des Nordischen Modells sind also, Menschen in der Prostitution vollständig zu entkriminalisieren und Käufer streng zu bestrafen, also Zuhälter und Frauenhändler sowie Freier. Das ist in Schweden seit 1999 in Kraft. Der Frauenhandel wurde weitgehend eliminiert und Studien zeigen, dass Prostitution um etwa 85% zurückgegangen ist. Und nein: Sie ist nicht in den Untergrund getrieben worden. Wenn Freier die Frauen finden können, kann auch die Polizei die Freier finden, und das tut sie. Und nein: Die Lügen, dass dies das Leben der Frauen in der Prostitution gefährlicher gemacht habe, sind reine Erfindungen der Zuhälter-Lobby und ihrer Helfer. In der Zeit, in der das Nordische Modell in Schweden in Kraft war, ist eine Frau in der Prostitution von ihrem Zuhälter ermordet worden, in einem schrecklichen Akt häuslicher Gewalt durch ihren Ehemann, aber über 50 Frauen sind in Deutschlands legalen Bordellen zu Tode gekommen. Währenddessen haben Norwegen, Island, Irland, Nordirland, Kanada und Frankreich sowie in wesentlichen Teilen auch Israel das Nordische Modell übernommen, gegen die gut finanzierten Versuche der internationalen Sex-Industrie, das zu verhindern. SB: Deine Arbeit hat sich seit den 1990er Jahren darüber hinaus darauf konzentriert, sexuelle Gewalt als Kriegswaffe zu verstehen. Du hast darauf aufmerksam gemacht, wie in den Nürnberger Prozessen mit sexuellem Missbrauch umgegangen wurde, und das Konzept der „gender crimes“ als geschlechtsbezogenen Verbrechen entwickelt, die international strafrechtlich verfolgt werden. Dieses Konzept basiert auf Erfahrungen, zunächst in der Arbeit als Anwältin für bosnische Frauen, mit denen Du die Idee für das Jugoslawien Tribunal entwickelt hast. Du hast sie Madeleine Albright bei den Vereinten Nationen vorgestellt, die wohl wiederum Bill Clinton dafür gewinnen konnte. Die größte Sorge war damals, dass ein Tribunal den Auf bau eines Internationalen Strafgerichtshofs stören könne, aber Du hast argumentiert, dass mit dem Tribunal deutlich werden würde, dass internationale Strafjustiz funktionieren kann und den Weg für einen dauerhaften Gerichtshof ebne, was dann so auch eingetreten ist. Nach dem Genozid in Ruanda wurde das dortige Tribunal nach dem Modell Jugo slawien installiert. Du hast dann die Position der ersten in den Regeln selbst vorgesehenen Gender-Beraterin für die Verfolgungsbehörde („Gender Adviser to the Prosecutor“) des Internationalen Strafgerichtshofs übernommen, die Du vier Jahre lang innehattest.
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Das entscheidende Konzept der „gender crimes“ beruht wieder auf dem analytischen Verständnis von sexueller Gewalt als geschlechtsbezogener Ungleichheit;18 es zwingt dazu, auch strafrechtliche Regelungen zu verändern, die diese Verletzungen angemessen erfassen wollen. Was sind die Kernelemente des Konzepts? Was bedeutet es, auf der Ebene internationalen Rechts zu bearbeiten, was in den meisten Rechtsordnungen dem nationalen Strafrecht zugeordnet wird? Wo stehen wir heute als Angehörige von Nationen, die sich gerade zu dem Zweck – in den VN – „vereinigt“ haben, unteilbare Menschenrechte zu schützen und zu verteidigen, was also auch die geschlechtsbezogene Gleichheit umfasst? CAM: Das Konzept besteht darin, Strafrecht gegen sexuelle Gewalt so zu fassen, dass internationale Menschenrechte implementiert werden, in diesem Fall also Gleichheit. Das Recht der Vergewaltigung19 wurde bislang, wie anfangs erwähnt, nicht am Gleichheitsmaßstab gemessen, weder in nationalen noch in internationalen Rechtsordnungen. In der sozialen Wirklichkeit sind diese Handlungen jedoch gender crimes – also Verbrechen der Ungleichheit wegen des Geschlechts, wieder oft kombiniert mit Rasse, Ethnizität, Religion, Alter und Behinderung, da das Geschlecht damit eben zusammenhängt. Die Annahme, die üblicherweise in das Recht der Vergewaltigung eingebaut wird, dass frühere Taten (prior bad acts) oder Beweise im Vergleichsfall (like kind evidence) im Wesentlichen Leumundsbeweise (character evidence) seien, die ausgeschlossen sind oder sehr eng gefasst werden müssen, ist daher einem fundamentalen Irrtum geschuldet. Beweise dafür, dass andere Menschen derselben Geschlechtsgruppe von demselben Täter sexuell angegriffen worden seien, sind vielmehr von zentraler Bedeutung. Auch andere Tatbestandsmerkmale im Recht sexueller Gewalt sind fehlerhaft konzipiert, wie die Annahme, das Opfer habe den Gewalthandlungen eigentlich doch zugestimmt oder in sie eingewilligt (consent). Das kann – je nach lokaler Rechtsprechung – alles umfassen, was sich von Begehren über Verzweiflung zu Überwältigung bis hin zum Tod erstreckt, und konzentriert sich letztlich auf eine Duldung unter Bedingungen relativer Machtlosigkeit (acquiescence under conditions of relative powerlessness). Jenseits dessen sollte vor allem zur Kenntnis genommen werden, dass in Ungleichheit nicht jedes Mal eingewilligt wird, wenn sie nicht auf Widerstand trifft. Den halben Lohn zu akzeptieren macht ihn nicht gleich. Unter Bedingungen der Ungleichheit zu überleben, wenn gleiche Alternativen keine Option sind, ist keine Gleichheit. Wenn Vergewaltigungsmythen und Geschlechterstereotype in sexuellen Interaktionen mobilisiert werden und wenn physische Aggression eingesetzt wird, wird Ungleichheit erzwungen. Die grundlegende Struktur dieses Verständnisses von sexueller Gewalt ist im Völkerrecht im Zusammenhang mit dem Genozid entwickelt worden, einem Extrem der Ungleichheit. Zweifelsohne haben viele Menschen einvernehmlich Sex, wenn Genozide verübt werden, und zwar auch über die Linien des Konflikts hinweg. Was 18 MacKinnon, Women’s September 11th: Rethinking the International Law of Conflict, Harvard International Law Journal 47 (2006), 1. 19 Im Englischen heißt es: „rape law“. Eine Übersetzung als „Recht gegen Vergewaltigung“ würde suggerieren, dass Recht so intendiert sei oder tatsächlich gegen sexuelle Gewalt wirke. Nach der Analyse MacKinnons ist genau das aber nicht ohne weiteres der Fall. Vielmehr perpetuiert danach auch Strafrecht „gegen“ sexuelle Gewalt geschlechtsbezogene Ungleichheit, solange es nicht neu gefasst wird und die Bedingungen der Ungleichheit systematisch berücksichtigt.
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Vergewaltigung dann genozidal macht, ist, wenn es ein Instrument des Genozids selbst wird, und das ist eine empirische Beweisfrage. Ähnlich verhält es sich, insofern Menschen einvernehmlich Sex haben, unter Bedingungen der geschlechtlichen Ungleichheit (sex inequality). Erzwungen wird er genau dann, wenn die Ungleichheit selbst benutzt wird, um den Sex zu bekommen. Daher ist die im Fall Akayesu20 an erkannte Definition von Vergewaltigung – „ein physischer Angriff sexueller Natur unter Bedingungen des Zwangs“ (a physical assault of a sexual nature under circumstances which are coercive) – an die Bedingungen angepasst, unter denen nicht offiziell Krieg herrscht. Derzeit ist die Welt so beschaffen, dass dies im Wesentlichen in internationalen Zusammenhängen anerkannt ist, soweit es um Strafrecht geht, aber nirgendwo im nationalen Recht. Ein Zivilrecht sexueller Belästigung, das Menschenrechte mit kriminellen Handlungen verbindet, ist letztlich das entgegengesetzte Manöver, und das anerkennt das Konzept im Kern. SB: Es gibt noch viele weitere Themen, die in den Arbeiten zu Sex Equality konkret behandelt werden, nicht nur im US-amerikanischen Recht, sondern auch im internationalen Recht und aus rechtsvergleichender Perspektive. Dennoch hat es lange gedauert, bis die bekanntesten und damit tonangebenden Universitäten in den USA akzeptierten, dass Geschlechtergleichheit und Antidiskriminierungsrecht als Gegenstand der Rechtswissenschaft wichtig sind. Auch heute sind diese Themen immer noch weit davon entfernt, breit tatsächlich auf Zustimmung und wissenschaftliches Interesse zu stoßen. In Deutschland gibt es dazu bislang nur sehr wenige Studienangebote an Juristischen Fakultäten. Dein Fall- und Studienbuch, das Casebook Sex Equality, 2016 in der dritten Auflage, ist so breit angelegt, dass es sich hier keinem juristisch-dogmatischen Fach zuordnen ließe. Das ist allerdings kein Grund dafür, diese Ansätze nicht zu rezipieren. Vielfach zeigt sich – oder steckt hinter den „Schwierigkeiten“ – schlicht kognitiver Widerstand. Er hält gerade auch junge Forschende davon ab, solchen Fragen weiter nachzugehen. Geschlechtergleichheit und feministische Rechtswissenschaft im Allgemeinen scheinen nirgendwo zu passen oder sie werden als abseitig gebrandmarkt. Tatsächlich sind rechtswissenschaftliche Curricula an deutschen Hochschulen insgesamt nicht darauf ausgerichtet, Lebenserfahrungen und Lebenswelten systematisch zu berücksichtigen. Das System lebt von der Abstraktion, nicht von den Bedürfnissen auch der Rechtsuchenden; viele meinen sicher auch, dass ein rechtsrealistischer Ansatz überhaupt keine Systembildung erlaube. Dahinter steht die Vorstellung, es gebe universal überzeugende theoretische Konzepte, die das Öffentliche Recht vom Strafrecht und dieses vom Zivilrecht trennen, das wiederum in Vertragsrecht und Deliktsrecht, Handelsrecht, Wettbewerbsrecht und Arbeitsrecht unterteilt ist. Die skandinavische Feministin und Rechtswissenschaftlerin Tove Stang Dahl hat dazu einmal eine Alternative vorgelegt: Sie hat die Rechtswissenschaft in Bereiche unterteilt, die anhand der Lebenserfahrungen gerade auch von Frauen strukturiert sind. Dann Dies ist die Grundsatzentscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda vom 2. September 1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96/4. Dazu MacKinnon, Defining Rape Internationally: A Comment on Akayesu, Columbia Journal of Transnational Law 44 (2006), 940; Schwarz/Suhr, Archiv des Völkerrechts 56.2 (2018), 229 ff.; Simic/Olivera, Silenced Victims of Wartime Sexual Violence, 2018. 20
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gäbe es Intimitätsrecht, Geburtenrecht und Betreuungsrecht, Haushaltsrecht und Öffentlichkeitsrecht und Arbeitsrecht, Mobilitätsrecht usw.21 Wenn nun eine rechtswissenschaftliche Fakultät einer Universität Catharine Mac Kinnon bitten würde, das Curriculum zu entwerfen – wie sähe das aus? Und, um realistisch zu bleiben: Gibt es Rechtsgebiete, in denen feministische Interventionen eine größere Bedeutung haben als in anderen, und wenn ja, warum? Wenn wir uns insbesondere das Öffentliche Recht anschauen, mit Verfassungs-, und Verwaltungsrecht, Völker- und Europarecht: Gibt es hier Teilbereiche oder Themen, die für ein feministisches Rechtsverständnis besonders entscheidend sind, auch um „Gleichheit realistisch“ zu erreichen? CAM: Ich würde damit anfangen, in alle Fächer ein Verständnis von der Rolle zu integrieren, die Geschlechterungleichheit in jeweiligen Rechtsgebiet spielt, so wie es derzeit konstruiert ist – und zwar nicht nur die rechtswissenschaftliche Arbeit im Fach, sondern das Rechtsgebiet selbst. Genau das ist der Ansatz des Lehrbuchs Sex Equality, und das wäre mit einigen Kursen zu verbinden, in denen diese Kritik am Recht als eigener Forschungsbereich bearbeitet wird. Ich habe versucht, auf diese Frage in einem Vortrag in Japan zu „Mainstreaming Feminism in Legal Education“ detaillierter zu antworten.22 Dem würde ich nun das Umweltrecht hinzufügen, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen, die der Klimawandel auf die Geschlechterungleichheit hat, und hinsichtlich der Wirkung, die Geschlechterungleichheit auf eine erhöhte Verletzbarkeit durch den Klimawandel und auf die spezifischen Schwierigkeiten hat, gegen ihn anzugehen. SB: Seit 1979, und seit dem Anti-Pornografie-Gesetz, seit Deiner erfolgreichen Prozessführung in Kanada,23 seit Deinem Beitrag zum Kampf gegen Prostitution und dem damit verbundenen Menschenhandel von Frauen in Schweden, hat das internationale Strafrecht begonnen, geschlechtsbezogene Verbrechen angemessen zu konzeptualisieren. Zudem sind feministische Ansätze in der Rechtswissenschaft vielfältiger geworden und zumindest etwas weiter verbreitet. Allerdings ist Geschichte eben nie linearer Fortschritt, sondern eine Kombination aus Gewinnen und Verlusten, Versagen und Erfolg. Es gibt diese Erfolge, aber auch immer noch den beschriebenen Widerstand gegenüber den Fragen, die Du stellst, und gegenüber einer aktiven Auseinandersetzung mit den Theorien und Argumenten, die Du vorschlägst. Was sind die seit 1979 wichtigsten Entwicklungen in der feministischen Rechtswissenschaft, wieviel Widerstand oder Verweigerung gibt es da und wodurch werden sie genährt? CAM: Einige wissenschaftliche Arbeiten, weithin nicht aus den USA, berücksichtigen wichtige Fragen, die Frauen betreffen. Allerdings werden die zentralen Probleme sexueller Verletzung meist gemieden. Es lohnt sich, die Frage zu stellen, warum das so ist. Auf ganz ähnliche Art und Weise wird Gleichheit als solche typischerwei21 Stang Dahl, Frauenrecht. Eine Einführung in feministisches Recht, 1992; kurz in STREIT 4 (1986), 115. 22 Abgedruckt in MacKinnon, Butterfly Politics, 2017. 23 MacKinnon, Substantive Equality Past and Future: The Canadian Charter Experience, in: Albert/ Cameron (eds.), Comparative Constitutional Law and Policy, 2018, 227.
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se nicht mit einem Verständnis von Ungleichheit als hierarchischem Verhältnis angegangen. Warum ist das wohl so? Letztlich nichts adressiert in einem juristischen Zusammenhang sexuellen Missbrauch als Ungleichheit, obwohl er als solches im Völkerrecht anerkannt ist. Auch hier lohnt es sich, zu fragen, warum das so ist. Eine Ausnahme ist allerdings Kimberlé Crenshaws Konzept der Intersektionalität.24 Es beruht auf den Analysen, Wahrnehmungen, Methoden und politischen Einstellungen, die auch meine Arbeit prägen.25 Crenshaw erfasst in ihrer Theorie auf brillante und einzigartige Art und Weise das Verhältnis von Race und Klasse zu Geschlecht. Arbeiten, die darauf auf bauen, haben wirklich Bewegung in die Wissenschaft und in die Gesellschaft gebracht. Erwähnen möchte ich auch das großartige Buch des Politologen Ross Cheit, The Witch-Hunt Narrative, von 2014. Es dokumentiert die Verschleierungen, Lügen und Falschdarstellungen von sexuell missbrauchten Kindern in der Presse, in der Wissenschaft und in Gerichten, die dazu führen, dass die juristische Verfolgung solcher Fälle nahezu vollständig versagt. Daneben waren einige im nationalen und auch im internationalen Recht angesiedelte Arbeiten zu häuslicher Gewalt produktiv und wurden gebraucht. Und selbstverständlich ist jeder Beitrag zu jedem Thema, das Frauen betrifft, positiv, angesichts dessen, dass wir als Frauen jede Unterstützung gebrauchen können. Doch sind die Themen, die in der Rechtswissenschaft gelehrt oder über die geschrieben wird, ganz überwältigend an Maßstäben ausgerichtet, die der Liberalismus setzt, und an Lösungen auf Grundlage geltenden Rechts. Sie sind zwar manchmal am Rande hilfreich, aber am fundamentalen Status der Geschlechter ändert sich deshalb eben nichts. Zwar hat eine gewisse Aufmerksamkeit für geschlechtsbezogene Themen zumindest ein Stück weit Eingang in das Verfassungsrecht und Völkerrecht gefunden.26 Aber auch hier wurden nur die Themen eingebaut, die sich gut in bestehende Strukturen integrieren lassen. Zumeist läuft dann alles weiter wie bisher, als würden wir nicht existieren und hätten nicht schon längst auf die Dinge aufmerksam gemacht, die systematisch fehlen. Das führt dazu, dass Jurastudierenden heute in der Lehre weiterhin die Nicht-Existenz von Frauen vermittelt und als vollumfängliche Bildung verkauft wird. Es ist, als hätten wir die ganze Zeit gegen eine Wand geredet. Was das Ganze zusätzlich befeuert, ist die weiße männliche Dominanz in ihrer genialen Fähigkeit, ihre Anhänger subtil, aber effektiv zu belohnen, und ihre Herausforderer zu bestrafen, ohne dass diese merken, wie sie manipuliert werden. Wenn man bedenkt, wie erfolgsorientiert die meisten ambitionierten Rechtswissenschaftler *innen sind, ist es folgerichtig, dass sie sehr gut auf die Machtdynamiken eingestellt werden, die darüber entscheiden, was akzeptiert und als erstrebenswerter Forschungsschwerpunkt verstanden wird, und was nicht. Bisher zählt dazu in aller Regel nichts, was auf die Lebenswelten von Frauen ausgerichtet ist. Das gilt insbesondere dann, wenn es wirkmächtig ist, und es 24 Crenshaw, Demarginalizing the intersection of race and sex: A black feminist critique of antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics, The University of Chicago Legal Forum (1989), 139; reprint in Bartlett (ed.), Feminist legal theory, 2018, 57. 25 Mehr dazu in MacKinnon, Intersectionality as Method: A Note, Signs 38 (2013), 1019. 26 MacKinnon, Gender in Constitutional Law, 1–3, 2018; dies., Gender in Constitutions, in: Rosenfeld/Sajó (eds.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, 397.
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wird eben noch weniger akzeptiert, wenn es sich gegen sexuellen Missbrauch richtet. Jüngere Forschende scheinen allerdings dennoch bereit zu sein, die wirklichen Probleme auch tatsächlich anzugehen. Ihren Beiträgen sehe ich entgegen. SB: In Deutschland waren US-amerikanische Beiträge in den 1980er und 1990er Jahren sehr wichtig und einflussreich, und US-amerikanische Gender Studies haben immer noch eine große Bedeutung, wie man exemplarisch an den gerade in Deutschland sehr lebhaft geführten Diskussionen um Intersektionalität erkennen kann.27 Trotzdem ist der Status von Arbeiten aus den USA in der Welt immer auch kompliziert, da sie sich mit der Vermutung des „kolonialen Blicks“ konfrontiert sieht, neben den Einseitigkeiten des dominanten englischsprachigen Verlagswesens und den Tücken kultureller Hegemonie. Was bedeutet das für Deine Arbeit? Was müssen Europäer *innen berücksichtigen, wenn wir die US-amerikanischen Entwicklungen auch in dem hier interessierenden Bereich betrachten? CAM: Mit Blick auf meine Arbeiten und die von Kimberlé Crenshaw kann niemand ernsthaft annehmen, dass dies von einer US-amerikanischen kulturellen Hegemonie unterstützt wird. Wenn man sich anschaut, wie ich bis heute in den USA behandelt werde, durch alle US-Medien, mit über einem Jahrzehnt faktischer Arbeitslosigkeit und anhaltenden Publikationsschwierigkeiten, liegt schon in der Andeutung, dass die Macht dieser Kräfte hinter meiner Arbeit stünde, ein Versuch, die Wirkung dieser Arbeit zu zerstören. Wenn sich die Frage auf die vielen Arbeiten bezieht, die sich selbst in den USA lauthals als „feministisch“ bezeichnen, wohl um ein wenig auf der Welle der Glaubwürdigkeit mitzuschwimmen, die wir etablieren konnten, indem wir Menschen repräsentiert haben, die wirklich für Gleichheit kämpfen, dann hoffe ich, dass die meisten Menschen in Europa mit genug Wissen ausgestattet sind, um diesen Betrug zu durchschauen. SB: Feminismus und feministische Rechtswissenschaft könnten vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Rückschläge, die Frauen und Minderheiten gerade wieder erleben, wieder relevanter werden. Was ist die größte Herausforderung einer solchen Arbeit heute und welche Richtungen sind für die Rechtswissenschaft zielführend? CAM: Die größte Herausforderung auf dem Weg, die weiße männliche Dominanz zu durchbrechen, ist seit Ewigkeiten dieselbe: Die institutionalisierte Macht weißer männlicher Dominanz. Ich sehe die aktuellen Entwicklungen gar nicht als Rückschlag, sondern als Bestätigung dessen, was wir immer schon vor uns hatten; es zeigt nur, dass wir noch nicht gewonnen haben. Übrigens benutze ich den Ausdruck „Minderheit“ nicht, weil es impliziert, dass Machtlosigkeit durch zahlenmäßige Unterlegenheit begründet sei. Wenn Zahlen wirklich Macht bedeuteten, dann würden Farbige Frauen und ihre Kinder die Welt regieren. Und die markanteste quantitative Minderheit in den USA sind weiße heterosexuelle Männer.
27 M.w.N. Baer/Bittner/Göttsche, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, 2010; Kerner, Feministische Studien 1 (2009), 36.
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Die Richtungen, von denen ich meine, dass man sich ihnen zuwenden sollte, bearbeiten nach wie vor das Thema sexueller Missbrauch, der in Geschlechterhierarchien gründet: sexueller Kindesmissbrauch, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Prostitution/Sex-Handel und Pornografie. Solange diese Themen nicht flächendeckend bearbeitet werden, wird sich nicht wirklich etwas bewegen. Die #MeToo-Bewegung adressiert genau diesen Missbrauch, und zwar ohne besondere Hilfe der Rechtswissenschaft oder vieler sogenannter Feministinnen. Die #MeToo-Bewegung spricht die Wahrheit über die Lebensrealität von Frauen 28 (was Trans*frauen einschließt), und sie spricht über die Lebensrealitäten einiger von sexueller Gewalt betroffener Männer. Das ist, wie gehabt, der Weg, den wir einschlagen sollten.
28 Zur regelmäßig angezweifelten Glaubwürdigkeit von Opfern sexueller Gewalt (und nicht nur der Glaubhaftigkeit einer Aussage) vgl. MacKinnon, Voice, Heart, Ground, in: Richards/Greenberg (eds.), I Still Believe Anita Hill: Three Generations Discuss the Legacies of Speaking Truth to Power, 2013, 71.
Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht von
Prof. Dr. Ute Sacksofsky, M.P.A. (Harvard) (Frankfurt a.M.)* Inhalt I. Einführung oder das misogyne Erbe des Öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 II. Zum verfassungsrechtlichen Grundmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 III. Perspektive der Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1. Herkömmliche Geschlechterordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 2. Dekonstruktion von Natürlichkeit und Normalität durch die Geschlechterforschung . . . . . . . . . . 381 IV. Zentrale Themen der Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 1. Ausarbeitung der besonderen Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 a) Präponderanz der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 b) Traditionell: Differenzierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 c) Begründung materieller Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 d) Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 2. Explikation freiheitsrechtlicher Grundrechtsgehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 a) Ausgangspunkt: heteronormative Geschlechterordnung als Verfassungsvoraussetzung . . . . . . . 391 b) Schutz für „Kranke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 c) Anerkennung des Schutzes geschlechtlicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 3. Private Macht als Herausforderung für Grundrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 a) Familie als rechtsfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 b) Schutz vor Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 c) Grundrechtsbindung Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 4. Autonomie relational denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 a) Bedingungen von Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 b) Assistierte Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 c) Anklänge in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
* Der Beitrag stellt die ausgearbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen der Münchener Gespräche zur Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, gehalten am 25.6.2018, dar.
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I. Einführung oder das misogyne Erbe des Öffentlichen Rechts „Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung.“1 Dieses Zitat stammt nicht etwa von einem Gegner Angela Merkels, sondern aus Hegels Rechtsphilosophie. Zitate mit ähnlichen Aussagen und entsprechendem Gehalt lassen sich bei vielen Philosophen finden, die noch heute die staatsrechtliche Philosophie und Verfassungstheorie prägen.2 Sie zeigen, wie misogyn das philosophische und (staats)theoretische Erbe ist, gegen das Geschlechterforschung gerade im Öffentlichen Recht antreten muss. Die Theorie des Öffentlichen Rechts fußte auf traditionellen Geschlechtervorstellungen. Damit wurde schon die Fähigkeit zu denken geschlechtlich verteilt konzipiert. Die herkömmliche Geschlechterordnung konnotiert das Männliche mit dem Rationalen, dem Abstrakten, dem Allgemeinen und der öffentlichen Sphäre; Frauen hingegen werden verbunden mit dem Emotionalen, dem Konkreten und dem Besonderen, verortet im privaten Bereich.3 Frauen und die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht passen nach dieser Vorstellung überhaupt nicht zusammen. Wenn Frauen schon in der Wissenschaft kein Platz zugestanden wird, so gilt dies in noch schärferer Form für die – dem abstrakten Denken besonders verbundene – Rechtswissenschaft. Hinzu tritt der Gegenstand, von dem Frauen traditionell ausgeschlossen waren: das Staatliche. Die Sphäre des öffentlichen Lebens war lange als frauenfreie Zone imaginiert. Der Staat selbst ist deswegen männlich konnotiert.4 Das Konzept des Staatsbürgers orientiert sich an demjenigen, der bereit ist, sein Leben für den Staat einzusetzen, dem Soldaten; und vom Militär waren Frauen ebenfalls traditionell ausgeschlossen. Ähnliches gilt für das Konzept von Allgemeinwohl: Weil Frauen – siehe Hegel – „auf Subjektivität“ gehen, ist der „Staat verdorben“, das Gemeinwohl verfehlt, wenn Frauen agieren.5 Dieser Logik folgt der lange währende Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht.6 Diese Ausschlüsse von Frauen bestehen zunächst in personeller Hinsicht, indem Frauen als Personen ganz basal ausgeschlossen sind. Erst im Jahr 1969 habilitierte sich Ilse Staff 7 als die erste Frau in Deutschland im Öffentlichen Recht, und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kamen nur elf weitere Frauen hinzu.8 Diese Ausschlüsse haben zudem inhaltliche Folgen: Frauen, deren Lebensrealitäten und die Perspektive der Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 166 Zusatz. Eine reichhaltige Zusammenstellung solcher Zitate finden sich beispielsweise bei Okin, Women in Western Political Thought, 1992; Wapler, RPhZ 2016, 115 ff. 3 Grundlegend Hausen, in: Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, 363 ff. 4 Überblick bei: Schmidt, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, 74 ff., m.w.N.; aus politikwissenschaftlicher Perspektive: Sauer, Die Asche des Souveräns, 2001, insbes. 11 ff.; Kreisky, in: dies./Sauer (Hrsg.), Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft, 1995, 203 ff. 5 Hegel (Fn. 1). 6 Multiperspektivisch die Beiträge in Richter/Wolff (Hrsg.), Frauenwahlrecht, 2018. 7 Zur ausführlichen Beschreibung ihres Lebens: Sacksofsky, in: FS 100 Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt, 2014, 185 ff. 8 Im Einzelnen aufgezählt bei Sacksofsky (Fn. 7 ), 185 f. 1 2
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Geschlechterforschung haben im traditionellen Öffentlichen Recht keinen Platz. Zwar wird Geschlechterforschung nicht zwingend nur von Frauen betrieben; inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Männern, die sich mit Themen der Geschlechterforschung befassen.9 Doch historisch gesehen – und dies ist keineswegs zufällig – ist die Wissenschaftsperspektive der Geschlechterforschung überwiegend von Frauen entwickelt worden. Die schon insofern mangelnde Diversität stellt sich bis heute als äußerst problematisch dar.10 Hier sollen nicht die personellen Verhältnisse, sondern inhaltliche Fragen im Vordergrund stehen. Schlaglichtartig soll aufgezeigt werden, in welchen Bereichen des Öffentlichen Rechts sich Legal Gender Studies als besonders produktiv erwiesen haben und noch erweisen können. Der Beitrag geht in drei Schritten vor. Zunächst wird das traditionelle Idealmodell verfassungsrechtlichen Denkens rekonstruiert (II.). Sodann werden schlaglichtartig Perspektiven der Geschlechterforschung erläutert (III.). Schließlich geht es um vier zentrale Themen im Öffentlichen Recht, bei denen jeweils die Kritik des traditionellen Modells aus der Perspektive der Geschlechterforschung beschrieben und Lösungsmöglichkeiten sowie Veränderungen skizziert werden (IV.).
II. Zum verfassungsrechtlichen Grundmodell Das deutsche verfassungsrechtliche Denken geht von der Freiheit des Einzelnen aus.11 Der Einzelne wird als autonomes Wesen gedacht, dessen Selbstbestimmung möglichst weitgehend durch Grundrechte gesichert werden soll. Vielfach wird die Freiheit als natürlich, dem Staat vorausliegend, verstanden. Eine klare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird vorausgesetzt. Aufgabe des Staates ist es nach diesem Verständnis primär, die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Zugleich ist der Staat, bei dem das Gewaltmonopol liegt, wegen seiner Machtfülle derjenige, der die Freiheit der Einzelnen am stärksten gefährdet.12 Gerade gegenüber dem Leviathan muss grundrechtlicher Schutz gewährleistet werden. Symptomatisch findet diese Vorstellung vom Verhältnis Staat – Bürger in dem Verständnis von Grundrechten als Abwehrrechten ihren Ausdruck. Abwehrrechte verteidigen dem Staat vorausliegende Freiheitssphären gegenüber ungerechtfertigten Eingriffen. Bis heute ist das abwehrrechtliche Verständnis der Grundrechte der Ausgangspunkt grundrechtlichen Denkens. Dies kommt besonders deutlich in Formulierungen zum Ausdruck, die standardmäßig in der Literatur wie in der Rechtspre Siehe z.B. Laqueur, Auf den Leib geschrieben, 1992; Voß, Making Sex Revisited, 3. Aufl. 2011. Für eine empirische Auswertung des Frauenanteils in der Rechtswissenschaft siehe Sacksofsky/ Stix, Daten und Fakten zur Repräsentanz von Frauen in der Rechtswissenschaft, 2018, https://www. jura.uni-frankfurt.de/73251138/Repraesentanz-Frauen_Sacksofsky_Stix_2018.pdf (letzter Zugriff: 14.11.2018); sich auf die Suche nach Gründen begebend: Schultz/Böning/Peppmeier/Schröder, De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018. 11 Beispielhaft Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 4, der den inhaltlichen Kanon der Verfassung als „um der Freiheit der Bürger willen“ gekennzeichnet beschreibt. 12 Siehe beispielsweise „Danach ist die Freiheit prinzipiell unbegrenzt, die Staatseinwirkung prinzipiell begrenzt“: Merten, in: ders./Papier (Hrsg.), HGR II, 2006, § 27 Rn. 19; die „Freiheitlichkeit als Selbstbeschränkung des Staates“: Kirchhof, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR I, 2004, § 21 vor Rn. 4. 9
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chung des Bundesverfassungsgerichts zu finden sind: Grundrechte seien „in erster Linie“ Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.13 Die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht lässt sich freilich nicht länger auf ein solchermaßen rekonstruiertes Grundmodell reduzieren. Die Beschreibungen und Problemsichten sind differenzierter geworden; das Öffentliche Recht hat in den siebzig Jahren bundesrepublikanischen Verfassungsrechts einen erheblichen Lernprozess durchgemacht. Die hier vorgestellten Grundannahmen sind jedoch sehr wirkmächtig; sie lassen grundlegende strukturelle Widersprüche prägnant hervortreten. In manchen Bereichen sind Kritikpunkte, welche die Geschlechterforschung seit vielen Jahren beschäftigen, allerdings im Mainstream – oder immerhin in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – angekommen. Dennoch lässt sich an diesem sehr sparsam gezeichneten Modell nachvollziehen, welch tiefgreifende Veränderungen und Komplexitätssteigerungen die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht schon erlebt hat – und noch erleben wird.
III. Perspektive der Geschlechterforschung Grundthema der Geschlechterforschung ist die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und Vorgänge anhand der Kategorie Geschlecht. Geschlecht ist ein Strukturmerkmal, welches Gesellschaften zutiefst geprägt hat und auch heute noch prägt. Die deutsche Gesellschaft bildet da keine Ausnahme. Ich möchte diesen Gedanken in zwei Schritten entfalten: Zunächst werden Genese und Kennzeichnung der herkömmlichen Geschlechterordnung (1.), sodann zentrale Kritikpunkte durch die Genderforschung vorgestellt (2.).
1. Herkömmliche Geschlechterordnung Die herkömmliche Geschlechterordnung in den westlichen Industriestaaten lässt sich knapp durch vier Maximen kennzeichnen:14 1. Die Geschlechterordnung ist binär strukturiert. Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter: männlich und weiblich. 2. Welchem Geschlecht eine Person angehört, ist biologisch/körperlich vorgegeben. 3. Das Geschlecht einer Person ist unveränderlich. 4. Das sexuelle Begehren richtet sich auf eine Person des jeweils anderen Geschlechts. Ein solches Verständnis erschien über lange Zeit und erscheint sicherlich auch heute noch vielen Menschen als „natürliche Ordnung“. Ob ihrer wissenschaftlichen, biologischen Grundlage wurde diese Geschlechterordnung als objektiv, zeitlos und uni13 St. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (204); siehe etwa: BVerfGE 65, 1 (43); BVerfGE 68, 193 (205); BVerfGE 111, 147 (158); BVerfGE 115, 320 (358); zur Genese der Grundrechte als Abwehrrechte und ein reflexives Abwehrrechtsverständnis entwickelnd: Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003. 14 Eine ausführlichere und teils abweichende Fassung dieser Maximen findet sich bei Kessler/McKenna, Gender, 2001, 1 ff.
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versal postuliert. Die Geschlechterforschung hat jedoch gezeigt, dass der postulierte Objektivitäts- und Allgemeingültigkeitsanspruch nicht aufrechterhalten werden kann.15 Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass Vorstellungen über Geschlecht kulturell unterschiedlich und historisch gesehen erheblichen Wandlungen unterworfen sind.16 Die binäre Vorstellung, die kategoriale Unterschiede zwischen Männern und Frauen behauptet und als fundamentalen Unterschied zuspitzt, ist, so verdeutlicht historische Forschung, letztlich ein Produkt der Auf klärung. Gerade weil die Gleichheit aller Menschen zum Ausgangspunkt des Denkens der Auf klärung wurde, war es notwendig, die Ungleichbehandlung von Frauen besonders gut, d.h. wissenschaftlich, zu begründen. Als unangreif bar erschienen insbesondere Begründungen, die sich auf naturwissenschaftliche Tatsachen stützen konnten. In den Worten von Thomas Laqueur: „Man erfand zwei biologische Geschlechter, um dem sozialen eine neue Grundlage zu geben.“17 Wird der Unterschied zwischen Männern und Frauen aber in ihrer unterschiedlichen körperlichen Konstitution begründet, führt dies notwendigerweise zur Fundamentalisierung des Geschlechtsunterschieds.18 Denn auf Biologie gestützte Begründungen erscheinen als universell, objektiv und zeitlos.
2. Dekonstruktion von Natürlichkeit und Normalität durch die Geschlechterforschung Die verschiedenen Schritte zur Entlarvung des Mythos der Biologie und damit der Widerlegung der „Objektivität“ und Universalität dieses Modells können hier nicht im Detail nachgezeichnet werden.19 Hinweisen möchte ich nur auf zwei grundlegende Argumentationsstränge. Seit den 1970er Jahren wurde die Ableitung des sozialen Geschlechtsunterschieds aus der Biologie widerlegt: Die Trennung von sex und gender war gewissermaßen das Motto der zweiten Frauenbewegung. Die stets beschworenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen beruhen demnach in weiten Teilen auf Sozialisation, sind also nicht rein biologisch bedingt, sondern anerzogen. Nicht länger schien gerechtfertigt, dass aus biologischen auch soziale Unterschiede abgeleitet werden sollten. Diese Einsicht hat sich inzwischen weit über die Geschlechterforschung hinaus durchgesetzt. 15 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991; Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995; Engel, Wider die Eindeutigkeit, 2002; Knapp, in: Frankfurter Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, 1994, 262 ff.; Wobbe/Lindemann (Hrsg.), Denkachsen, 1994; Schirmer, Geschlecht anders gestalten, 2010; Knapp/Wetterer, Achsen der Differenz, 2003; Villa, Sexy Bodies, 4. Aufl. 2011; Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, 2012. 16 Zur historischen Perspektive für Europa besonders interessant: Laqueur (Fn. 9); Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, 1991; Duden, Geschichte unter der Haut, 1987. 17 Laqueur (Fn. 9), 173. 18 Maihofer (Fn. 15), 21 ff. 19 Zur Einführung in die Gender Studies siehe beispielsweise: Beasley, Gender and Sexuality, 2005; Bußmann/Hof (Hrsg.), Genus, 2005; v. Braun/Stephan (Hrsg.), Gender-Studien, 2. Aufl. 2006; BeckerSchmidt/Knapp, Feministische Theorien, 4. Aufl. 2007; Degele, Gender/Queer Studies, 2008; Schößler, Einführung in die Gender Studies, 2010; Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2018, https://link.springer.com/referencework/10.1007/978-3-658-12500-4 (letzter Abruf: 14.11.2018).
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Seit den späten 1980er Jahren ging die Geschlechterforschung indes über diesen Schritt noch einmal deutlich hinaus. Die Annahme der „Natürlichkeit“ von kategorial unterschiedlichen biologischen Vorgegebenheiten von Männern und Frauen musste selbst hinterfragt werden.20 Zentral ist diese Debatte mit den Arbeiten von Judith Butler verknüpft. Sie konnte zeigen, dass nicht nur das soziale Geschlecht als konstruiert und insofern veränderbar anzusehen war, sondern der Körper selbst als Teil der Konstruktion von Geschlechtsidentität zu verstehen ist: „Da das Geschlecht eine politische und kulturelle Interpretation des Körpers ist, gibt es keine Unterscheidung anatomisches Geschlecht (sex)/ Geschlechtsidentität (gender) gemäß den Linien der Konventionen. Die Geschlechtsidentität ist bereits in das Geschlecht eingebaut, und das anatomische Geschlecht ist (…) schon von Anfang an Geschlechtsidentität.“21 Die Herstellung dieser Geschlechtsidentität erfolgt danach durch wiederholende Zuschreibungen und performative Handlungen.22 Mit Performativität ist die Wirkung von Diskursen gemeint, zu denen auch das Recht gehört, durch ständige Wiederholungen das (biologische) Geschlecht überhaupt erst herzustellen (zu materialisieren). Materiale Körper werden also in sozialen Praktiken erst lesbar und verständlich, sie werden stets als geschlechtliche Körper gelesen. Diese zentrale Rolle von Handlungspraxen ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Erstens wird deutlich, dass die „Natürlichkeit“ der Geschlechterordnung und die mit ihr verbundenen Zuschreibungen (Zweigeschlechtlichkeit, Heteronormativität, Kongruenz von Körper und Identität) überhaupt erst hergestellt werden müssen und daher keineswegs natürlich sind. Zweitens wird deutlich, dass die Geschlechterordnung in ihrer Normativität durchaus zwangsweise in verschiedenen Praktiken des Alltags wie des Rechts hergestellt wird.23 Kurz: Es geht um „Konstruiertheit und Zwang“.24 Selbst wer Butler nicht in vollem Umfang folgen will – und gerade innerhalb der Gender Studies gibt es hierüber intensive Diskussionen 25 –, muss anerkennen, dass die Geschlechterforschung die Gewissheit von „Natürlichkeit“ oder „Objektivität“ der gesellschaftlichen Geschlechterordnung nachhaltig erschüttert hat. Hieran zeigt sich exemplarisch, dass eine kritische Analyse sozialer und rechtlicher Strukturen aus der Perspektive der Geschlechterforschung notwendig und ertragreich ist, weil sie offenlegt, was an impliziten und unzutreffenden Annahmen über Geschlecht in die Gesellschaft und damit auch das Recht eingeschrieben ist.
Zur Darstellung der Debatte vgl. insbesondere Maihofer, in: Institut für Sozialforschung (Fn. 15), 168 (174 ff.). 21 Butler (Fn. 15), 169; ähnlich auch: Gildemeister/Wetterer, in: Knapp (Hrsg.), TraditionenBrüche, 2. Aufl. 1995, 201 ff. 22 Butler, Körper von Gewicht, 2014, 31 f. 23 Zum „Doing gender“ im Recht Baer, in: Koreuber/Mager (Hrsg.), Recht und Geschlecht, 2004, 19 ff., 27 ff.; Greif, Doing Trans/Gender, 2005. 24 Butler, in: Institut für Sozialforschung (Fn. 15), 101 ff. 25 Duden, Feministische Studien, 1993, 24 ff.; Landweer, Feministische Studien, 1993, 34 ff. 20
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IV. Zentrale Themen der Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht Diese Perspektiven der Geschlechterforschung wirken sich nun im Öffentlichen Recht spezifisch aus.26 Insoweit ist eine reichhaltige Forschungslandschaft entstanden, die sich hier nicht vollständig abbilden lässt.27 Wesentliche Aspekte lassen sich aber an vier zentralen verfassungsrechtlichen Fragestellungen exemplarisch aufzeigen: besondere Gleichheitssätze (1.), freiheitsrechtlicher Schutz von Menschen, die nicht in die binäre, heteronormative Geschlechterordnung „passen“ (2.), Schutz vor Gefährdungen durch Private (3.) und Autonomie (4.). Dabei spielen jeweils zwei Ebenen eine Rolle: Zum einen gibt es die Kritik der Geschlechterforschung an der traditionellen Behandlung dieses Themas durch die Staatsrechtslehre. Zum anderen hat sich das staatsrechtliche Denken in den letzten Jahrzehnten – und hier: seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und damit in den letzten siebzig Jahren – verändert. Als Beleg für Veränderungen im verfassungsrechtlichen Denken des Mainstream werden Änderungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herangezogen. Zwar ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht „Staatsrechtslehre“ im eigentlichen Sinne, doch ist der Konnex eng. Werden Entscheidungen des Gerichts auch vielfach von Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrern kritisiert, so erstarken doch die Grundaussagen der Entscheidungen, zumal nachdem sie zu ständiger Rechtsprechung werden, zum Ausgangspunkt der meisten staatsrechtlichen Betrachtungen; für die öffentlich-rechtlichen Literaturgattungen „Kommentar“ und „Lehrbuch“ liegt dies ohnehin nahe.28 Einen aussagekräftigen Indikator, ob bestimmte Kritikpunkte der Geschlechterforschung inzwischen im öffentlich-rechtlichen Mainstream angekommen sind, bietet die Rechtsprechung des Gerichts somit allemal.
1. Ausarbeitung der besonderen Gleichheitssätze Für die Geschlechterforschung sind die besonderen Gleichheitssätze von großer Bedeutung. In der deutschen Staatsrechtslehre spielten die besonderen Gleichheitssätze hingegen lange kaum eine Rolle (a). Dominant blieb über lange Jahre ein Verständ Zur rechtstheoretischen Dimension der Legal Gender Studies: Baer/Elsuni, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 270 ff.; Elsuni, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl. 2008, 157 ff. 27 Zur Herangehensweise der Geschlechterforschung im Recht allgemein siehe beispielsweise: Sacksofsky, ZRP 2001, 412 ff.; Holzleithner, Recht, Macht und Geschlecht, 2002; Sacksofsky, in: Bußmann/Hof (Fn. 19), 402 ff.; Baer, in: v. Braun/Stephan (Fn. 19), 149 ff.; Greif/Schobesberger, Einführung in die Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2007; Rudolf (Hrsg.), Geschlecht im Recht, 2009; Büchler/Cottier, Legal Gender Studies, 2012; Foljanty/Lembke (Fn. 4); Holzleithner, juridikum 2015, 471 ff.; Greif/Ulrich, Legal Gender Studies und Antidiskriminierungsrecht, 2017; Sacksofsky, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Fn. 19), https://doi.org/10.1007/978-3-658-12500-4_128-1 (letzter Abruf: 14.11.2018). 28 Es ist nicht Ziel des vorliegenden Beitrages, über das Verhältnis von Staatsrechtswissenschaft und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu reflektieren oder gar den vielfach beklagten „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ zu kritisieren oder zu verteidigen. Siehe dazu Schlink, JZ 2007, 157 ff. 26
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nis formaler Gleichheit (b). Die Geschlechterforschung hat hingegen gezeigt, dass ein materielles Verständnis der besonderen Gleichheitssätze vonnöten ist, um Diskriminierung real zu bekämpfen (c). Ein solches materielles Verständnis hat inzwischen auch Niederschlag in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gefunden (d).
a) Präponderanz der Freiheit Die deutsche Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz beschäftigte sich primär mit der Entfaltung der Freiheitsrechte. Diese wurden dogmatisch durchgearbeitet und ausgeformt. Wenn über Grundrechtstheorie oder allgemeine Grundrechtslehren gesprochen wird, geht es fast ausschließlich um Freiheitsrechte.29 Demgegenüber blieb die Diskussion um Gleichheitsrechte über Jahrzehnte eher blass.30 Nachdem der Weimarer Streit um den Gleichheitssatz, an dem sich der Methodenstreit entzündet hatte, im Grundgesetz zugunsten einer Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz entschieden worden war, ließ das Interesse an der Befassung mit der Gleichheit nach. Erst in den 1980er Jahren erwachte wieder das Interesse am allgemeinen Gleichheitssatz, ausgelöst weniger durch wissenschaftliche Untersuchungen als durch die „Neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts.31 Noch schlechter stand es um die besonderen Gleichheitssätze, die – bis in die späten 1980er Jahre – ein Schattendasein in der Wissenschaft führten.32 Doch Gleichheit wurde nicht nur ignoriert, sondern auch bewusst restriktiv behandelt. Teile der Staatsrechtslehre sahen große Gefährdungen der Freiheit durch die Gleichheit. Symptomatisch sind etwa Forsthoffs Ausführungen zur „Verunsicherung des Verfassungsrechts“ durch die Auslegung des Gleichheitssatzes, die die „Logik der rechtsstaatlichen Verfassung“ verlasse.33 Dies entspricht einem traditionellen Ansatz der deutschen Staatsrechtslehre, wonach Freiheit und Gleichheit in einem Spannungsverhältnis gesehen werden: Maßnahmen zur Förderung der Gleichheit werden als Freiheitsbeschränkungen thematisiert. Besonders deutlich trat die Betonung des Vorrangs der Freiheit vor der Gleichheit in den Diskussionen um die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes 29 Die Präponderanz der Freiheit zeigt sich schon in der Anlage der Handbücher: Im Handbuch der Grundrechte wird der Freiheit in Band II („Allgemeine Lehren I“) im 3. Teil „Bedeutung der Grundrechte“ ein eigener Anschnitt zugestanden, die Gleichheit tritt hingegen nur als eines der drei mit der Freiheit im Spannungsfeld stehenden Konzepte in § 34 „Freiheit und Gleichheit“ auf (Merten/Papier, 2006 [Fn. 12]). Im Handbuch des Staatsrechts wird den Freiheitsrechten nicht nur ein ganz eigener Band VII gewidmet, sondern deren Bearbeitung nimmt auch im Band VIII noch größeren Raum ein als die Behandlung der Gleichheitsrechte in diesem Band (Isensee/Kirchhof, HStR VII und VIII, 3. Aufl. 2009, 2010. 30 Dies ebenfalls kritisierend: Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 4 04. 31 BVerfGE 55, 72 (88). Diese wurde dann wieder wissenschaftlich verarbeitet, etwa auf der Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Der Gleichheitssatz“: Zippelius und Müller, VVDStRL 47 (1989), 7 ff. bzw. 37 ff. 32 Die Habilitationsschrift von Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, 1987, befasste sich als erste größere wissenschaftliche Untersuchung mit ihnen. 33 Forsthoff, in: FG Schmitt, 1968, 185 (188).
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zutage.34 Inzwischen hat sich die Debatte insoweit beruhigt; das Unionsrecht hat sie überholt. Bei dieser Problembeschreibung wird häufig übersehen, dass Antidiskriminierungsmaßnahmen nur dann als Freiheitsbeschränkungen verstanden werden können, wenn man die Perspektive der gesellschaftlich Dominanten einnimmt. In der Tat wird deren Privatautonomie durch Diskriminierungsverbote beschränkt. Stellt man sich indes auf die Position der von Diskriminierung Gefährdeten, zeigt sich, dass Gleichstellungsmaßnahmen ihre Freiheitsspielräume nicht nur nicht gefährden, sondern im Gegenteil sogar vergrößern. Ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit besteht also nur für bestimmte Personengruppen, für andere hingegen laufen Freiheit und Gleichheit parallel. Es ist kein Zufall, dass in der Staatsrechtslehre die Perspektive der dominanten Gruppe vorherrschte.
b) Traditionell: Differenzierungsverbot Bis zum Beginn der 1990er Jahre bestand weitgehende Einigkeit in Staatsrechtslehre und bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung über die Auslegung besonderer Gleichheitssätze.35 Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 3 Abs. 3 GG wurden im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht als gleichbedeutend angesehen. Sie wurden als Differenzierungsverbot verstanden: „Dieses Verfassungsgebot verbietet grundsätzlich und ein für alle Mal die Differenzierung nach dem Geschlecht“.36 Das Bundesverfassungsgericht deutete die besonderen Gleichheitssätze als „Konkretisierung“ des allgemeinen Gleichheitssatzes. Während im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes nur die Einhaltung äußerster Grenzen verlangt werde, unterliege die Befolgung der besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG der uneingeschränkten Nachprüfung durch das Gericht. Hier finde die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ihre „feste Grenze“.37 Bis 1992 hielt das Bundesverfassungsgericht an dieser Deutung als Differenzierungsverbot dem dogmatischen Anspruch nach unverändert fest: Die Begründung jeder Entscheidung wurde mit ähnlichen Worten wie den oben vorgestellten eingeleitet. Freilich begrenzte das Gericht das grundsätzliche Verbot der Anknüpfung an das Merkmal Geschlecht seit jenen ersten Entscheidungen; im Hinblick auf die „objektiven biologischen oder funktionalen Unterschiede“ erlaubte es Differenzierungen zwischen Männern und Frauen.38 Die Frage nach den objektiven biologischen oder funktionalen Unterschieden wurde zum Hauptprüfungskriterium, dem Dreh- und Angelpunkt jeder Entscheidung. Auch wenn die abstrakten dogma34 v. Münch, NJW 1999, 260 ff.; Ladeur, German Law Journal 3 (2002), Nr. 5, http://www.german lawjournal.com/volume-03-no-05/?rq=ladeur (letzter Zugriff: 14.11.2018): „an act of legal vandal ism“; Hillgruber, VVDStRL 64 (2005), 423 f.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 100: „durchaus prekär“ und Art. 2 Abs. 1Rn. 63: „Überspannung“; aus zivilrechtlicher Perspektive: Säcker, ZRP 2002, 286 ff.: „Beginn eines neuen puritanischen Tugendregimes“, „semantischer Erziehungsdiktatur“, „jakobinisches Tugendwächtertum“; Picker, JZ 2003, 540 (542): „Überwachungs- und Inquisitionskomitees von wahrhaft Robespierre’schem Charakter“. 35 Ausführlich Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996. 36 BVerfGE 37, 217 (244). 37 BVerfGE 21, 329 (343); BVerfGE 31, 1 (4). 38 BVerfGE 3, 225 (242).
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tischen Sätze über mehr als vierzig Jahre konstant blieben, veränderte sich inhaltlich durchaus Einiges. Der Bereich, in dem „objektive“ biologische oder funktionale Unterschiede anerkannt wurden, verengte sich immer mehr.39 In dieser Herangehensweise lag indes schon von Anfang an ein immanenter Widerspruch begründet. Wenn einerseits die „feste Grenze“ des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers betont wird, andererseits aber „objektive biologische und/oder funktionale Unterschiede“ eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können sollen, war dem Differenzierungsverbot seine Grundlage entzogen: Was, wenn nicht biologische oder funktionale Unterschiede sollte denn den Geschlechtsunterschied kon stituieren?
c) Begründung materieller Gleichheit Besondere Gleichheitssätze als Differenzierungsverbote zu verstehen, scheint auf den ersten Blick naheliegend:40 Gleichheit meint die Zuordnung derselben Rechte oder Pflichten für alle Menschen. Geschwister werden gleich behandelt, wenn der Kuchen in gleich große Stücke geteilt wird. Doch Gleichbehandlung bedeutet nicht immer formal gleiche Behandlung. Bereits Aristoteles unterschied ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit als verschiedene Erscheinungsformen.41 Es gibt zahlreiche Konstellationen, in denen eine rein formale Gleichbehandlung ungerecht und damit im Ergebnis doch ungleich ist. Ein Beispiel hierfür ist die Kopfsteuer, bei der jeder Mensch die absolut gleiche Summe an Steuern bezahlt; sie verstößt offensichtlich gegen den aktuellen Begriff von Steuergerechtigkeit, die sich an der Leistungsfähigkeit orientiert. Gleichheit darf daher nicht mit identischer Behandlung im Sinne rein formaler Gleichbehandlung verwechselt werden. Gerade weil konkrete Menschen unterschiedlich sind, kann formale Gleichbehandlung zu erheblich unterschiedlichen Auswirkungen und damit zu Ungerechtigkeit führen, wie es schon in dem berühmten Satz von Anatole France zum Ausdruck kommt, der die „majestätische Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“ karikiert.42 Wendet man diese Überlegungen in eine Antidiskriminierungsperspektive, wird deutlich, dass es zwei Formen eines Rechts auf Gleichheit gibt.43 Die erste Form ist das Recht auf gleiche Behandlung, d.h. das Recht auf eine gleiche Verteilung einer Chance, Ressource oder Last. Die zweite Form umfasst das Recht, als ein Gleicher behandelt zu werden. Eine Behandlung als Gleicher bedeutet, auf dieselbe Weise mit Achtung und Rücksicht behandelt zu werden wie jeder andere. Auch die Perspektiven und Interessen der durch eine Rechtsnorm unterschiedlich behandelten Personen müssen berücksichtigt werden. Marginalisierten Gruppen wird gerade dieser Aspekt von Gleichheitsrechten häufig verweigert, da ihre Sichtweisen im Gesetzge Sacksofsky (Fn. 35), 79–95. Vorüberlegungen zum Folgenden Sacksofsky, in: Opfermann (Hrsg.), Unrechtserfahrungen, 2007,
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Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, übers. v. Gigon, neu hrsg. v. Nickel, 2001, 119 ff. France (1894), Die rote Lilie, 1964, 71. 43 Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, 227. 41
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bungsprozess unterrepräsentiert sind oder ihnen nicht hinreichendes Gewicht beigemessen wird. Durch ein Verständnis besonderer Gleichheitssätze als Differenzierungsverbote kann formale Gleichstellung erreicht werden. Ideal und Ergebnis ist eine Rechtsordnung, die auf die verpönten Merkmale keinen expliziten Bezug nimmt. Für das Merkmal Rasse oder ethnische Herkunft ist dies in Deutschland schon seit der Gründung der Bundesrepublik, für das Merkmal Geschlecht inzwischen weitgehend erreicht. Als Differenzierungsverbote verstanden hat sich die Funktion der besonderen Gleichheitssätze heute erledigt. Gleichberechtigungssätze sind dann nur noch traditioneller Inhalt der Verfassung, ohne aktuelle Relevanz. Angesichts der erheblichen Benachteiligungen, die auch heute noch für Frauen (und andere benachteiligte Gruppen) bestehen, kann ein solches limitiertes Verständnis inhaltlich allerdings nicht überzeugen. Dem Verständnis als (formelles) Differenzierungsverbot wurde daher ein materielles Gleichheitsverständnis gegenüber gestellt: Es kann als Dominierungsverbot bezeichnet werden.44 Dieses versteht Diskriminierung nicht als quasi-willkürliche, vorurteilsbehaftete Bewertung des Einzelnen aufgrund eines Merkmals, welches eigentlich keine Rolle spielen dürfte, sondern bezieht den gesellschaftlichen Kontext, insbesondere die historische Erfahrung,45 mit ein. Dadurch rückt die strukturelle Natur von Diskriminierung in den Blick. Gesellschaften sind von den Interessen, Perspektiven und Lebenserfahrungen dominierender Gruppen geprägt. Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Regelungsstrukturen und Institutionen als auch auf die Denkweise der Einzelnen. Diskriminierung ist danach nicht die bewusste Ausgrenzung eines Einzelnen, sondern eine häufig unbewusste, tief verinnerlichte, gewissermaßen automatische Reaktion auf bestimmte Gruppenzugehörigkeiten. Diskriminierung wird strukturell begriffen: nicht mehr als Vorwurf an den einzelnen Täter, sondern als Erfahrung der Ausgrenzung oder geringeren Berücksichtigung bei der Verteilung von Ressourcen. Diese Formen von Diskriminierung knüpfen nicht explizit an ein verpöntes Merkmal an, sondern beziehen alle Formen von Benachteiligung – insbesondere von Gruppen mit einer langwährenden Diskriminierungsgeschichte – als potentiell ungerechtfertigt in den „Schutzbereich“ des besonderen Gleichheitssatzes ein. Dabei ist es keineswegs zwingend, dass solche Gruppen nur anhand eines der verpönten Merkmale binär codiert sind. Im Gegenteil verschränken sich häufig mehrere „Achsen der Differenz“46: Frauen mit Behinderung erfahren andere Diskriminierungen als Frauen ohne Behinderung,47 streng religiöse muslimische Frauen andere als säkulare oder christliche Frauen.48 In der Genderforschung wird für diese mehr44 Grundlegend: MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women, 1979; dies., Feminism Unmodified, 1987; dies., Toward a Feminist Theory of the State, 1991; dies., in: Nagl-Docekal/Pauer-Studer (Hrsg.), Politische Theorie, Differenz und Lebensqualität, 1996, 140 ff.; Sacksofsky (Fn. 35); ähnlich das Hierarchisierungsverbot von Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995. 45 Zur Geschichte der Frauenbewegung, insbesondere auch ihrer Rechtskämpfe: Gerhard, Unerhört, 1990; dies., Gleichheit ohne Angleichung, 1990; mit dem Fokus auf Frauen-Rechtsgeschichte: dies. (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997. 46 Knapp/Wetterer (Fn. 15). 47 Hierzu insbesondere Zinsmeister, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2007. 48 Dies zeigt sich insbesondere an der Debatte um das Kopftuch; siehe z.B. Berghahn/Rostock (Hrsg.),
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dimensionale Diskriminierung häufig der Begriff der Intersektionalität verwendet.49 Da ein materielles Verständnis von Gleichheit auf Machtstrukturen blickt und sie im jeweiligen Kontext analysiert, können auch mehrdimensionale Benachteiligungen gleichheitsrechtlich bearbeitet werden.50 Ein materielles Verständnis von Diskriminierungsverboten hat in zweifacher Hinsicht erhebliche Folgen.51 Zum einen werden Fördermaßnahmen, die an ein verpöntes Merkmal anknüpfen (affirmative action), nicht automatisch als verboten angesehen, sondern können gerechtfertigt werden und damit zulässig sein. Maßnahmen, die eine stärkere Inklusion und Partizipation von Angehörigen benachteiligter Gruppen bezwecken, dienen der Verwirklichung materieller Gleichheit und sind daher anders zu behandeln als Maßnahmen zur Ausgrenzung bestimmter Gruppen. Es kann nicht überzeugen, Maßnahmen, die Chancengleichheit erhöhen und damit der Verwirklichung von Gleichheit dienen, für unter Gleichheitsgesichtspunkten im selben Maße problematisch zu halten wie Maßnahmen, die diskriminierenden Charakter haben. Zum anderen ermöglicht ein Verständnis materieller Gleichheit die Bekämpfung struktureller Diskriminierung. Hierin liegt der materielle Gehalt der Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung.52 Da sich massive und historisch verfestigte Diskriminierungen in den Strukturen der Gesellschaft abbilden, prägen sie auch die Rechtsordnung. Ein Konzept formaler Gleichheit kann diese Strukturen nicht beseitigen, weil es die unterschiedlichen Auswirkungen von Maßnahmen außer Acht lässt. Mittelbare Benachteiligung hat nichts mit bewusster Diskriminierung zu tun; sie ist im Gegenteil die (häufig unbewusste) Marginalisierung und Ausschließung bestimmter Gruppen. Es geht nicht um die Bekämpfung moralisch verwerflichen Handelns. Mittelbare Benachteiligung beurteilt Diskriminierung aus der „Opferperspektive“, stellt also auf den Effekt bestimmter Vorgehensweisen oder Kriterien ab.53 Das Verbot mittelbarer Benachteiligung fragt nicht nach Schuld, es geht nicht einmal um Wissen (der Handelnden) von den diskriminierenden Auswirkungen. Wird schon bei unmittelbarer Benachteiligung keine Diskriminierungsabsicht verlangt, gilt dies natürlich erst recht für mittelbare Benachteiligung. Es reicht für den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung aus, dass sich eine Regelung „in besonderer Weise“ zum Nachteil einer durch eines der Merkmale konstituierten Gruppe auswirkt. Mittelbare Benachteiligung hat daher ein „fundamentales transformatives Potential“.54 Der Stoff aus dem die Konflikte sind, 2009; Schiek/Chege (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law, 2009; Sacksofsky, DVBl. 2015, 801 ff.; Payandeh, DÖV 2018, 482 ff. 49 Der Begriff wurde geprägt von Crenshaw, The University of Chicago Legal Forum, 1989, 139 ff. Zur Rezeption in den Sozialwissenschaften siehe Lutz/Vivar/Supik, Fokus Intersektionalität, 2. Aufl. 2013. 50 Dazu Mangold, RPhZ 2016, 152 ff. 51 Die dogmatischen Folgen in Kommentarform dargestellt bei Baer/Markard (Fn. 30), Art. 3 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3; Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG I, 2002, Art. 3 Abs. 2 , Abs. 3 S. 1. 52 Ausführlich dazu: Sacksofsky, in: Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, 63 (82 ff.); Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2019 i.E., 177 ff. 53 In diese Richtung auch: Baer, ZRP 2002, 290 (293). 54 Mangold (Fn. 50), 177.
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d) Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich inzwischen einem materiellen Verständnis der besonderen Gleichheitssätze angenähert, wenn es auch ein Verständnis als Differenzierungsverbot nie ganz aufgegeben hat.55 Den entscheidenden Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung stellt die Nachtarbeitsverbotsentscheidung aus dem Jahr 1992 dar.56 Kurz zuvor waren mehrere Werke aus dem Bereich der Legal Gender Studies publiziert worden, die ein formales Gleichheitsverständnis kritisierten.57 Zum einen verabschiedete sich das Gericht von der Ausnahme der objektiven biologischen und funktionalen Unterschiede und erkannte Anknüpfungen an das Merkmal Geschlecht nurmehr unter sehr engen Voraussetzungen an. Vor allem aber spricht das Gericht dem Art. 3 Abs. 2 GG einen über das Diskriminierungsverbot hinausreichenden Regelungsgehalt zu: Er stelle ein Gleichberechtigungsgebot auf und erstrecke dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Das Gericht hat damit die 1994 erfolgte Aufnahme des Verfassungsauftrags in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG vorweggenommen und bezeichnete diese Verfassungsänderung dann später treffend als „Klarstellung“.58 In den beiden entscheidenden Punkten hat das Gericht somit materielle Elemente in die Prüfung aufgenommen. Es hat zum einen ausgeführt, dass Fördermaßnahmen, die an das Merkmal Geschlecht anknüpfen, in Abwägung mit „kollidierendem Verfassungsrecht“ gerechtfertigt werden können; zu solchem kollidierenden Verfassungsrecht zählt das Gericht explizit den Verfassungsauftrag zur Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung.59 Auch das Verbot mittelbarer Benachteiligung hat das Gericht inzwischen verfassungsrechtlich anerkannt.60 Damit ist es auch möglich, strukturelle, neutral erscheinende Diskriminierung zu bekämpfen.
e) Fazit Die deutsche Staatsrechtslehre hat von Anfang an den engen Bezug zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit hervorgehoben.61 Für erste philosophische Ansätze der Idee der Gleichheit aller Menschen wird vielfach auf die Antike verwiesen.62 Der Verweis 55 Zur Begründung, warum es sinnvoll ist, nicht vollkommen vom Differenzierungsverbot Abstand zu nehmen: Sacksofsky (Fn. 35), 309 ff. 56 BVerfGE 85, 191. 57 Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, 1988; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1. Aufl. 1991; Raasch, Frauenquoten und Männerrechte, 1991. 58 BVerfGE 92, 91 (109). 59 BVerfGE 92, 91 (109); BVerfGE 85, 191 (207, 209). 60 Signifikant: BVerfGE 97, 35 (43 ff.). 61 Siehe beispielsweise Kaufmann, VVDStRL 3 (1926), 2; über die Rechtsidee begründend: Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. 1959, 72 ff.; mit weiteren Nachweisen: Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2018, Rn. 3 ff. 62 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 2; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 1; Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2018, Art. 3 Rn. 45.
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auf die Antike übersieht indes, dass das entscheidende Fundament der menschenrechtlichen Gewährleistung von Gleichbehandlung erst am Beginn der Neuzeit liegt. Denn für ein menschenrechtliches Verständnis ist die Idee der Ausstattung aller Menschen qua ihres Mensch-Seins mit gleichen Rechten zentral. Diese wurde insbesondere in der Philosophie der Auf klärung entwickelt und fand ihren Niederschlag in der Französischen und Amerikanischen Revolution. Die Behauptung der gleichen Rechte aller Menschen galt zur Zeit der großen Proklamationen freilich nur für bestimmte Personengruppen. In den USA wurde die Sklaverei eindeutig – wenn auch nur implizit – in der Verfassung anerkannt.63 In Frankreich und in den USA – sowie generell in der Philosophie der Auf klärung – wurden Frauen gleiche Rechten vorenthalten. Das generische Maskulinum („man“/ „homme“) ist in beiden Sprachen ambivalent; es ist nicht klar, wann Frauen „mitgemeint“ sind. Doch das Versprechen der Gleichheit geht über diese historischen Ausschlüsse hinaus: Es richtet sich an alle Menschen. Der Gleichheitssatz kann als Motor für Emanzipationsbewegungen dienen. Ausgeschlossene und marginalisierte Gruppen fordern im Namen der Gleichheit, ihre Diskriminierung zu beenden. In Frankreich wurde der Ausschluss der Frauen bereits unmittelbar zu Zeiten der Revolution thematisiert: Olympe de Gouges setzte 1791 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte die Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne entgegen. In den USA kann mit der 1848 in Seneca Falls verabschiedeten Declaration of Sentiments der Beginn der amerikanischen Frauenbewegung verortet werden; beide Erklärungen knüpfen vielfältig an Formulierungen der jeweiligen Pendants an. Es ist daher kein Zufall, dass die Kämpfe um Anerkennung gerade auch im Namen der Gleichheit erfolgten. In den besonderen Gleichheitssätzen finden diese Kämpfe ihren je spezifischen, kontextbezogenen Niederschlag. Durch den Grundgedanken der wechselseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche als Bedingung gesellschaftlichen Zusammenlebens steht die Garantie der Gleichheit in untrennbarem Zusammenhang mit der Akzeptanz gleicher menschlicher Würde. Dies ist auch der tiefere Grund, weshalb die rechtliche Garantie der Gleichbehandlung inzwischen zum Kernbestand moderner Verfassungen und Menschenrechtspakte gehört. In der Anfangszeit der Bundesrepublik führte das traditionelle Verständnis dazu, dass – trotz hehrer Gerechtigkeitsrhetorik – die Gleichheitskontrolle in der tatsächlichen Anwendung mit Gerechtigkeit nur wenig zu tun hatte. Durch das dogmatische Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Willkürverbot fand praktisch nur eine Rationalitätskontrolle statt. Dies hat sich inzwischen geändert. Das Gericht stellt in seiner Fortentwicklung der sog. neuen Formel auf einen gleitenden Maßstab der Gleichheitsprüfung ab. In (inzwischen) ständiger Rechtsprechung führt es aus, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 GG unterschiedliche Grenzen ergeben, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.64 Es benennt den Bezug von Gleichheitsrechten und der Diskriminierungsbekämpfung explizit: „Die Anforderungen an die Rechtfertigung einer ungleichen Zur historischen Entwicklung ausführlicher Sacksofsky (Fn. 35), 214 ff.; Mangold (Fn. 52), 131 ff. BVerfGE 133, 377 (407 Rn. 74).
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Behandlung von Personengruppen sind umso strenger, je mehr sich die zur Unterscheidung führenden personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen annähern, das heißt je größer die Gefahr ist, dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt.“65 Damit hat das Bundesverfassungsgericht auch den Weg geebnet, die Diskriminierung von Personengruppen verfassungsrechtlich zu bekämpfen, die zur Zeit des Erlasses des Grundgesetzes nicht durch einen besonderen Gleichheitssatz erfasst worden waren. In der bundesrepublikanischen Praxis hat dieser Gesichtspunkt insbesondere zum Abbau der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung, konkret hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Lebenspartnerschaft gegenüber der (heterosexuellen) Ehe, geführt.66 Eine solche Dynamisierung der gleichheitsrechtlichen Inhalte wird von Teilen der Staatsrechtslehre bis heute misstrauisch beäugt,67 doch ist sie von Anfang an dem Gleichheitsversprechen, welches sich an alle Menschen richtet, immanent.68
2. Explikation freiheitsrechtlicher Grundrechtsgehalte Für die traditionelle Geschlechterordnung gab es keinen Grund, freiheitsrechtlichen Schutz im Hinblick auf geschlechtliche Identität oder die Kategorisierung nach dem Geschlecht zu verbürgen. Da das Geschlecht als natürlich vorgegeben, d.h. angeboren und unveränderlich, konzipiert wurde, war freiheitsrechtlicher Schutz kaum vorstellbar. Insbesondere das Personenstandsrecht, welches eine Eintragung des Geschlechts einer Person in der Geburtsurkunde verlangte, schien völlig unproblematisch.
a) Ausgangspunkt: heteronormative Geschlechterordnung als Verfassungsvoraussetzung In der Frühzeit der Bundesrepublik wurden Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts allenfalls im Hinblick auf die Benachteiligung von Frauen thematisiert. Geradezu erscheint es, als habe der (männliche) Staatsbürger gar kein Geschlecht, sein Geschlecht ist eben Normalität. Die Probleme, die für Menschen bestehen, die in die binäre, heterosexuelle Grundordnung nicht passten, wurden nicht als freiheitsrechtliche Problematik erkannt. Hinzu kommt ein Zweites: Selbst wenn man den Leidensdruck dieser Personengruppe verstanden hätte, hätte man deren Schutzwürdigkeit verneint. Die binäre, heteronormative Geschlechterordnung wurde auch als dem Verfassungsrecht immanent angesehen, war in diesem Sinne „Verfassungsvoraussetzung“. Besonders deutlich kommt dieser Ausgangspunkt in der Homosexuellen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957 zum Ausdruck. Damals, also be BVerfGE 133, 377 (408 Rn. 77). BVerfGE 124, 199; BVerfGE 126, 400; BVerfGE 131, 239; BVerfGE 133, 59; BVerfGE 133, 377; dazu: Mangold, Blätter für deutsche und internationale Politik 2015, 111 ff. 67 Siehe z.B. Germann, VVDStRL 73 (2013), 257 ff. 68 Zum Versprechen der Gleichheit und seiner Dynamik Sacksofsky, VVDStRL 68 (2009), 3 (29); Mangold (Fn. 52), 132 ff.; Mangold, in: Zucca-Soest/Herbst (Hrsg.), Legitimität, 2019 (i. E.). 65
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reits unter Geltung des Grundgesetzes, billigte das Bundesverfassungsgericht die Kriminalisierung männlicher Homosexualität.69 Die Entscheidung ist geprägt von der Vorstellung, dass „gleichgeschlechtliche Betätigung“ „eindeutig gegen das Sittengesetz“ verstoße. So konnte das Gericht den Eingriff als gerechtfertigt ansehen, obwohl es durchaus anerkannte, dass zu dem Bereich der in Art. 2 Abs. 1 GG als Grundrecht gewährleisteten freien Entfaltung der Persönlichkeit auch das „Gebiet des Geschlechtlichen“70 gehört.
b) Schutz für „Kranke“ Ein gewisses Auf brechen der verkrusteten Strukturen der „heteronormativen Zwangsmatrix“71 brachte die erste Transsexuellen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sie stammt aus dem Jahr 1978 und war wegweisend. In einer Situation, in der ein Geschlechtswechsel in Deutschland überhaupt nicht möglich war, verlangte das Gericht, die Eintragung des neuen Geschlechts im Geburtenbuch nach einer genitalverändernden Operation zu ermöglichen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gebiete, „den Personenstand des Menschen dem Geschlecht zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört“.72 Das Bundesverfassungsgericht setzte sich in seinem Verständnis der Geschlechterordnung deutlich von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ab, gegen den sich die Verfassungsbeschwerde wandte. Der BGH hatte sich auf „Grunderfahrungen“ berufen: Jeder Mensch sei alternativ entweder in die Kategorie „männlich“ oder „weiblich“ einzuordnen und das Geschlecht eines Menschen sei „aufgrund körperlicher Geschlechtsmerkmale bestimmbar und auch zu bestimmen, ihm angeboren und unwandelbar“.73 Das Bundesverfassungsgericht hielt demgegenüber die These von der „Unwandelbarkeit des Geschlechts“ für nicht länger haltbar.74 Die Vorstellung, dass das Geschlecht eines Menschen wegen seiner körperlichen Geschlechtsmerkmale bestimmbar, ihm angeboren und unwandelbar sei, sei „ernsthaft in Frage gestellt“.75 Das Bundesverfassungsgericht nutzte verschiedene Argumentationsstrategien, um diesen geradezu revolutionären Schritt argumentativ abzufedern. So stützte sich das Gericht erstens stark auf die medizinische Wissenschaft;76 der „Grunderfahrung“ des BGH wurde der objektive Stand der Wissenschaft entgegengehalten. Die Berufung auf die Medizin diente zweitens dazu, Transsexualität als Krankheit zu definieren.77 Die Pathologisierung führte schließlich dazu, dass drittens die heteronormative Ordnung letztlich nicht selbst in Frage gestellt werden musste: Transsexualismus habe BVerfGE 6, 389. BVerfGE 6, 389 (432). 71 Butler (Fn. 15), 22 ff. 72 BVerfGE 49, 286 (298). 73 BGHZ 57, 63 (67 f.). 74 BVerfGE 49, 286 (298). 75 BVerfGE 49, 286 (299). 76 Insgesamt beruft sich das Gericht über zehn Mal auf die medizinische Wissenschaft: BVerfGE 49, 286 (287–300). Konkrete Nachweise bei Sacksofsky, in: FS für Renate Jäger, 2011, 685 ff. 77 Konkrete Nachweise bei Sacksofsky (Fn. 76), 686. 69
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„nichts mit Homosexualität oder Fetischismus zu tun“ und könne „von den psychosexuellen Anomalien und Perversionen klar getrennt werden“.78 Bezeichnenderweise betonte das Gericht, dass die Mann-zu-Frau-Transsexuelle nach einer erfolgreichen genitalverändernden Operation auch in der Lage sei, mit einem männlichen Partner geschlechtlich normal zu verkehren,79 und hob hervor, dass die Beschwerdeführerin in jeder Hinsicht als Frau erscheine.80
c) Anerkennung des Schutzes geschlechtlicher Identität Diese Anfänge hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen hinter sich gelassen.81 In den letzten Jahrzehnten ist das Bundesverfassungsgericht den Weg des grundrechtlichen Schutzes der geschlechtlichen Identität weiter gegangen. Es hat sich in gewissem Umfang von einer Sichtweise auf Transsexualität als Krankheit gelöst und den Konnex von Körper und Geschlecht zunehmend gelockert. In der Entscheidung, die die bisherige Voraussetzung der Unfruchtbarkeit für den Personenstandswechsel entfallen ließ, kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck.82 Vor allem aber veränderte das Gericht den Blick auf Geschlecht und heteronormative Ordnung.83 Schon deutlich vor der Einführung der „Ehe für alle“ hatte es Transsexuellen das Recht auf rechtlich gesicherte Partnerschaft zugestanden, auch wenn dies bedeutete, dass es zu einer Ehe von zwei personenstandsrechtlich klassifizierten Frauen kam.84 In seiner jüngsten Entscheidung zum Geschlechtseintrag für Intersexuelle ging das Gericht sogar noch einen Schritt weiter. Denn das Gericht erkennt jetzt die grundrechtliche Problematik an, die durch die Kategorisierung nach dem Geschlecht für Personen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität besteht.85 Das Gericht formuliert ausdrücklich, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht die geschlechtliche Identität auch jener Personen schützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. Die geschlechtliche Identität sei regelmäßig ein konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit. Der Zuordnung zu einem Geschlecht komme für die individuelle Identität unter den gegebenen Bedingungen herausragende Bedeutung zu; sie nehme typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen werde. Den staatlichen Eingriff sieht das Gericht darin, dass das geltende Personenstandsrecht einerseits dazu zwinge, das Geschlecht zu registrieren, andererseits aber keinen anderen Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulasse. An mehreren Stellen betont das Gericht, es stehe dem Gesetzgeber offen, BVerfGE 49, 286 (287). BVerfGE 49, 286 (300). 80 BVerfGE 49, 286 (299): Es fehle „jeder äußerlich erkennbarer Hinweis auf ein männliches Geschlecht“. Auch sei das soziale Verhalten dem einer Frau angepasst; dafür spreche „auch seine berufliche Tätigkeit als Krankenschwester“. 81 Zur Entwicklung der Rechtsprechung Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011, 111 ff.; Sacksofsky (Fn. 76), 687 ff. 82 BVerfGE 128, 109. 83 Signifikant: BVerfGE 115, 1 (22). 84 BVerfGE 121, 175. 85 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16. 78
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ganz auf die Registrierung des Geschlechts zu verzichten.86 Über die Frage, ob der Verzicht auf die Kategorisierung nach dem Merkmal Geschlecht die sinnvollste Lösung ist, ist eine lebhafte Diskussion entstanden.87
d) Fazit Es war ein weiter Weg, den das Bundesverfassungsgericht zurücklegen musste von der heteronormativen Zwangsordnung hin zu einer Anerkennung grundrechtlichen Schutzes für die geschlechtliche Identität aller Menschen.88 Die Geschlechterforschung hat hierfür die theoretischen Grundlagen in der Problematisierung der Kategorie Geschlecht gelegt.
3. Private Macht als Herausforderung für Grundrechtstheorie Die Spaltung zwischen privat und öffentlich ist für das (heutige) deutsche Recht zentral.89 Dies zeigt schon die Trennung von öffentlichem und privatem Recht als zentralen dogmatischen Fächern in der Rechtswissenschaft. Die Geschlechterforschung kritisiert die Spaltung von öffentlich und privat seit langem. Die Skepsis der Geschlechterforschung reicht dabei tiefer als die bloße, schon angesprochene geschlechtliche Konnotation und Zuordnung der beiden Sphären, die Frauen den Bereich des Privaten und Männern den Bereich des Öffentlichen zuweist.90 Denn letztlich bildet erst diese Spaltung den Nährboden dafür, in den Gesellschaftsvertragstheorien, die als Legitimationsmodelle auch heute noch vielfach zur Rechtfertigung des liberalen Staates herangezogen werden, die gesamte Problematik der reproduktiven Arbeit ins Private zu verlagern und damit der philosophischen Betrachtung zu ent BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 – Rn. 50, 52, 65. Siehe dazu: Völzmann, Postgender im Recht, JZ 2019 (i.E.) mit weiteren Nachweisen; hellsichtig zur rechtlichen Kategorisierung nach dem Merkmal Geschlecht bereits vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Plett, in: Thiessen (Hrsg.), Feministische Forschung – Nachhaltige Einsprüche, 2003, 323; Büchler/Cottier, Freiburger FrauenStudien 17 (2005), 115; Elsuni, in: Behmenburg/Berweger/Gevers/Nolte/Sänger/Schnädelbach (Hrsg.), Wissenschaf(f )t Geschlecht, 2007, 133; Holzleithner, in: Rudolf (Fn. 27), 37 ff.; Kolbe, Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, 2010, 97 ff.; Adamietz (Fn. 81), 150 ff.; Baer, RZ-EÜ 2014, 5; Brachthäuser/Remus, NJW 2016, 2885; Gössl, NZFam 2016, 1122; Schmidt, in: Schochow/Gehrmann/Steger (Hrsg.), Inter * und Trans*Identitäten, 2016, 231; Röthel, JZ 2017, 116, 122. 88 Hornung, Grundrechtsinnovationen, 2015, 261 f., der die Entwicklung neuer Grundrechtsgehalte zentral bearbeitet hat, sieht im Schutz für geschlechtliche Identität freilich keine Innovation. 89 Diese Trennung hat sich historisch entwickelt und ist für andere Rechtsordnungen als die deutsche nicht in gleicher Weise wirksam – dazu Stolleis, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, 41–61; Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968. 90 Siehe dazu schon: Taub/Schneider, in: Kairys (Hrsg.), The Politics of Law, 1982, 117; Olsen, Harvard Law Review 1983, 1497; MacKinnon, 1989 (Fn. 4 4); Pateman, The Disorder of Women, 1989; Boyd, Challenging the Public/Private Divide, 1997; zur neueren Diskussion: Sauer und Ludwig, in: Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin (Hrsg.), Grenzziehungen von „öffentlich“ und „privat“ im neuen Blick auf die Geschlechterverhältnisse, 2017, 12 und 72. 86 87
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ziehen.91 Die Ignoranz der traditionellen Philosophie gegenüber dem, was sie als das Private ausmacht, ist zudem deshalb verwunderlich, weil sie gleichzeitig die Familie als „Keimzelle“ des Staates idealisierte.92 Es ist daher eine seit langem erhobene Forderung der Geschlechterforschung, über Bedeutung, Ort und Organisation der Reproduktionsarbeit auch in der Sozialphilosophie neu nachzudenken.93 Drei Punkte seien genannt, in denen sich die Spaltung zwischen öffentlich und privat insbesondere für das Öffentliche Recht problematisch auswirkt.
a) Familie als rechtsfreier Raum Zum ersten galt das Private, insbesondere der Bereich der Familie, lange als gegenüber dem Staat in besonderer Weise geschützter Bereich, in dem sich die natürliche, dem Staat vorausliegende Freiheit ungestört entfalten können sollte. Staatliche Eingriffe in diese Freiheit der Familie waren daher nur unter erhöhten Anforderungen zu rechtfertigen. Dieser Blick auf „die Familie“ als Einheit verhinderte, Machtstrukturen innerhalb der Familie wahrzunehmen; die Einheit der Familie wurde durch ihr Oberhaupt, den Mann, repräsentiert. Erst durch feministische Analysen wurde dieser patriarchalisch geprägte Blick offengelegt. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion um das Ehegattensplitting, bei dem die Befürworter die Freiheit innerhalb der Familie hochhalten,94 während Kritikerinnen auf die nachteiligen Auswirkungen für Frauen insbesondere bei Scheidung oder Tod des Ehepartners hinweisen.95 Zudem wurde übersehen, dass die Verhältnisse innerhalb der Ehe keineswegs „natürlich“ oder vorstaatlich waren. Im Gegenteil war die Ehe als Institution durch das Recht mitkonstituiert. Das Familienrecht verleiht Rechtsmacht – der heftige Streit um die Anpassung des patriarchalischen Familienrechts des BGB an den Gleichberechtigungssatz des Grundgesetzes in den 1950er Jahren und in einer zweiten Welle in den 1970er Jahren ist gerade Ausdruck dessen, dass Recht für die Institution bedeutsam ist. Um einem potentiellen Missverständnis vorzubeugen: Konsequenz dieser Ausführungen ist nicht etwa, dass es nichts Privates mehr geben sollte, welches besonderen Schutzes vor staatlichen Eingriffen bedürfte. Doch muss das Private neu gedacht werden.96 Die Rechtsmacht über Andere und tatsächliche Herrschaftsausübung können nicht als „privat“ begriffen und dem rechtlichen Zugriff entzogen werden. Dass es bis zum Jahr 1997 dauerte, um die Vergewaltigung in der Ehe ins Strafgesetzbuch aufzunehmen, zeigt, wie wirkmächtig die Vorstellungen von Ehe als Freiraum für das „Familienoberhaupt“ waren. Pateman, The Sexual Contract, 1988. Dazu Okin, Justice, Gender and the Family, 1999. 93 Wapler (Fn. 2), 129 ff. 94 Siehe beispielsweise Vogel, Steuer und Wirtschaft 1999, 201; Kirchhof, Familie Partnerschaft Recht 2003, 387. 95 Mennel, in: Gerhard/Schwarzer/Slupik (Hrsg.), Auf Kosten der Frauen, 1988, 79 ff.; Vollmer, Das Ehegattensplitting, 1998; Sacksofsky, NJW 2000, 1896 ff.; Wersig, Der lange Schatten der Hausfrauen ehe, 2013. 96 Grundlegend: Rössler, Der Wert des Privaten, 2001. 91
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b) Schutz vor Privaten Zum zweiten führt die Trennung zwischen öffentlich und privat dazu, dass der zentrale Gehalt von Grundrechten im Schutz vor staatlichen Eingriffen gesehen wird.97 Der Staat erscheint wegen seines Gewaltmonopols als derjenige, vor dem der Einzelne geschützt werden muss. Danach werden Grundrechte primär als Abwehrrechte verstanden. Für Frauen stellt sich eine der für sie wichtigsten Gefährdungssituationen aber typischerweise anders dar. Gerade im privaten Bereich, in Ehe und Familie, drohen ihnen Gewalt, Übergriffe und Unterdrückung.98 Wird dieser Bereich grundrechtlich ausgeblendet, haben Grund- und Menschenrechte für typische Gefährdungssituationen von Frauen kaum Bedeutung. Eine Antwort auf dieses Dilemma ist die Anerkennung von grundrechtlichen Schutzpflichten. Pikanterweise hat das Bundesverfassungsgericht diese in seinen frauenfeindlichsten Entscheidungen99 „erfunden“ und fortentwickelt, aber inzwischen sind Schutzpflichten weithin anerkannt. Dies ist auch zwingend, wenn man die Gewährleistung von Sicherheit als eine der zentralen Staatsaufgaben ansieht. Der Schutz von Leben und Gesundheit kann aber nur dann gesichert werden, wenn auch seine Gefährdung durch Dritte staatliche unterbunden wird.100 Freilich ist der Prüfstandard bei Schutzpflichten wesentlich geringer als bei staatlichen Eingriffen; das Untermaßverbot101 reicht an das Niveau des Übermaßverbotes nicht heran. Eine parallele Diskussion ist im internationalen Recht zu beobachten: Wenn Menschenrechte nur auf staatliche Verfolgung bezogen werden, bleiben Bedrohungen der Rechte von Frauen unberücksichtigt.102 Das für Frauen fatale Zusammenspiel von menschenrechtlichem Diskurs und grundrechtlichem Schutz prägte lange auch das Verständnis des Asylrechts. Das Bundesverfassungsgericht betonte die Bedeutung staatlicher Verfolgung für die Gewährleistung von Asyl: „Eine notwendige Voraussetzung dafür, daß eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, daß sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also – im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung – einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist.“103 Frauen hatten daher über lange Jahre Diese Funktion aus traditioneller Perspektive darstellend, zugleich aber kritisch einordnend: Vesting, Die Verwaltung 2001, 21 (36 f.); Lepsius, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, 53 (68 ff.); Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, 289 ff. 98 Studien zeigen, dass Frauen, wenn sie Opfer von Gewalt werden, am häufigsten Opfer eines ihnen bekannten, mit ihnen verwandten, mit ihnen zusammenlebenden männlichen Gewalttäters sind: Schweikert, Gewalt ist kein Schicksal, 2000, 51. Siehe auch: Oberlies, Streit 2002, 129. 99 Den beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch: BVerfGE 39, 1 und 88, 203. 100 Grundlegend: Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987. 101 BVerfGE 88, 203 (254). 102 Charlesworth/Chinkin/Wright (1991), in: Olsen (Hrsg.), Feminist Legal Theory Bd. II, 1995, 247; Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht, 2006; Elsuni, Geschlechtsbezogene Gewalt und Menschenrechte, 2011; Lembke (Hrsg.), Menschenrechte und Geschlecht, 2014; aus politikwissenschaftlicher Sicht: Schmidt-Häuer, Menschenrechte – Männerrechte – Frauenrechte, 2000. 103 BVerfGE 80, 315 (333 f.). 97
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deutlich weniger Chancen als Asylberechtigte anerkannt zu werden.104 Frauenspezifische Verfolgung wurde erst dann anerkannt, als gesehen wurde, dass auch die Versagung von Schutz für Personengruppen asylrechtlich relevant ist.105
c) Grundrechtsbindung Privater Zum dritten und schließlich geht es um die Grundrechtsbindung von Privaten. Dies ist ein Thema, welches die Staatsrechtslehre schon in der Frühzeit der Bundesrepublik beschäftigt hat. Diskutiert wurde es zunächst unter dem Schlagwort „Drittwirkung“, ausgelöst durch eine Entscheidung des BAG, welches eine unmittelbare Drittwirkung angenommen hatte.106 Mit dem Lüth-Urteil fand dann die mittelbare Drittwirkung Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.107 Die normative Grundlage, auf der die mittelbare Drittwirkung gründet, ist bis heute umstritten.108 Zweifelhaft ist insbesondere, ob die – ohnehin umstrittene – „objektive Wertordnung des Grundgesetzes“, auf die das Gericht die verfassungskonforme Auslegung zivilrechtlicher Normen zunächst stützte,109 dafür taugen kann. Vielversprechender ist an der Einsicht anzusetzen, die oben schon für den Bereich der Familie beschrieben wurde, dass die Privatrechtsordnung eben nicht quasi-natürlich vorgegeben ist, sondern staatlich geschaffenes Recht darstellt. Dann wird nämlich sichtbar, dass es Aufgabe des Staates ist, die Privatrechtsordnung so zu gestalten, dass sie grundsätzlich allen Individuen freie Entfaltung ermöglicht. Geschlechterforschung im Recht verlangt eine Analyse der strukturellen Prägungen des jeweiligen Kontextes. Damit ist jedenfalls dann, wenn Konstellationen durch ein starkes Machtungleichgewicht geprägt sind, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auch auf das Privatrecht zu beachten. Das Bundesverfassungsgericht hat dies inzwischen anerkannt. In seiner Entscheidung zum Stadionverbot führt es aus: „Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt dabei von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich ist, dass die Freiheitssphären der Bürgerinnen und Bürger in einen Ausgleich gebracht werden müssen, der die in den Grundrechten liegenden Wertentscheidungen hinreichend zur Geltung bringt. Dabei können insbesondere auch die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle spielen“.110 104 Zum historischen Fehlen des Fluchtgrundes „Geschlecht“ in der Genfer Flüchtlingskonvention siehe Markard, Kriegsflüchtlinge, 2012, 226 ff. (spezifisch zur Auswirkung der Dichotomie von öffentlich und privat 228). 105 Zur strukturell sehr ähnlichen Diskussion im Hinblick auf die Genfer Flüchtlingskonvention: Markard (Fn. 104) und Lehnert, in: Lembke (Hrsg.), Menschenrechte und Geschlecht, 2014, 160 ff. 106 BAGE 1, 185 (191, 193). 107 BVerfGE 7, 198. 108 Ausführlich Poscher (Fn. 13), 245 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 61 ff. 109 BVerfGE 7, 198 (205). 110 BVerfG v. 11.4.2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 33. Dazu: Ruffert, Verf Blog 30.4.2018, https:// verfassungsblog.de/common-sense-statt-strikte-dogmatik-zutreffendes-aus-karlsruhe-zu-stadionver
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Dass der Schutz vor Diskriminierung unter Privaten auch demokratietheoretisch begründet werden kann, hat jüngst Anna Katharina Mangold herausgearbeitet. Sie versteht Antidiskriminierungsrecht als „Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen“.111 Bezieht man tatsächliche Ungleichheiten und exkludierende Strukturen in die Betrachtung ein, wird deutlich, dass das Privatrecht bei der Bekämpfung von Diskriminierung nicht außen vor bleiben kann.112 Es ist im Gegenteil Aufgabe allen demokratisch gesetzten Rechts, einschließlich des Privatrechts, an einer Annäherung auch tatsächlicher demokratischer Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger mitzuwirken.
4. Autonomie relational denken In engem Zusammenhang mit der Vorstellung vorstaatlicher Freiheit und damit der Grundlage der Privatrechtsordnung, die eben beleuchtet wurde, steht das autonome Subjekt. Autonomie der Person ist Fundament unseres staatsphilosophischen Denkens.113 Die traditionelle Konzeption von Autonomie ist jedoch in den letzten Jahrzehnten aus verschiedenen Perspektiven unter Druck geraten. So bezweifelt beispielsweise die Hirnforschung die Möglichkeit der Selbstbestimmung auf neurologischer Basis,114 und die Kommunitaristen stellen dem liberalen Staat eine Verbundenheit in Gemeinschaft gegenüber.115 Die Kritik der Geschlechterforschung setzt dagegen an der Vorstellung des auf sich selbst gestellten, quasi autarken Individuums an. Seyla Benhabib hat herausgearbeitet, wie stark sich die traditionelle Vorstellung von Autonomie auf Vorstellungen vom Naturzustand und damit auf die Botschaft gründet: „am Anfang war der Mann allein“.116 Sie exemplifiziert dies an einem Bild von Thomas Hobbes, der die Menschen betrachten wollte, „als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprießt und gleich Pilzen plötzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift wären“.117 Konsequenz dieses Denkens ist das souveräne Ich, welches durch die Begegnung mit Anderen gestört wird. In die Sprache von Grundrechten übersetzt: Ausgangspunkt ist die Freiheit des Einzelnen, die Anderen erscheinen lediglich als Grenze dieser Freiheit. Aus der Perspektive der Geschlechterforschung ist ein solches Bild von Autonomie inadäquat. Eine solche Vorstellung kann überhaupt nur auf kommen, solange allein boten/ (letzter Zugriff: 14.11.2018) sowie Grünberger, Verf Blog 1.5.2018, https://verfassungsblog.de/wa rum-der-stadionverbots-beschluss-weit-mehr-ist-als-nur-common-sense/ (letzter Zugriff: 14.11.2018). 111 So der Untertitel ihrer Habilitationsschrift: Mangold (Fn. 52): Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen. 112 Grundlegend aus privatrechtlicher Perspektive: Grünberger, Personale Gleichheit, 2013; siehe auch schon Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000. 113 Aktuell aus privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Perspektive: Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht, 2017. 114 Zur Diskussion um die Herausforderung des Konzepts der Selbstbestimmung aus der Perspektive der Hirnforschung: grundlegend: Libet/Gleason/Wright/Pearl, Brain, 1983, 623 ff.; Libet, Mind time, 2005; aus der aktuelleren Forschung: Nagel, in: Erbguth/Jox (Hrsg.), Angewandte Ethik in der Neuromedizin, 2017, 13 ff. 115 Einen Überblick über die Debatte bietet: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 3. Aufl. 1995. 116 Benhabib, in: List/Studer (Hrsg.), Denkverhältnisse – Feminismus und Kritik, 1989, 454 (464). 117 Zit. aus Benhabib (Fn. 116).
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der gesunde, junge, erwachsene Mann betrachtet wird.118 Sonst wird offensichtlich, dass sich dieses freie und autonome Wesen erst durch Zuwendung und Versorgung seitens anderer Personen, typischerweise Frauen, überhaupt hat entwickeln können. Kein Mensch wird frei, autonom und unabhängig geboren, sondern von einer Frau auf die Welt gebracht, und ist nach der Geburt noch lange Jahre von anderen Menschen elementar abhängig. Doch nicht nur Kindheit, Alter und Krankheit bestimmen das Verhältnis zu anderen Menschen. Jeder Mensch lebt in einem Geflecht von Beziehungen, welches sein oder ihr Sein, Denken und Handeln mitprägt. Eine isolierte Betrachtung des Individuums greift daher deutlich zu kurz. Auch aus der Perspektive der Geschlechterforschung ist Selbstbestimmung über das eigene Leben ein zentraler Wert. Autonomie ist unverzichtbar, wenn nicht dem Kollektiv die Macht über die Einzelnen gegeben werden soll. Das Konzept von Autonomie muss freilich neu gedacht werden. Einen wichtigen Ansatz für eine solche Neukonzeption von Autonomie bietet Jennifer Nedelsky, die ein relationales Verständnis von Autonomie entwickelt.119 Sie betont, dass Autonomie nicht gleichgesetzt werden kann mit Unabhängigkeit oder Kontrolle. Stattdessen müssen die Beziehungen zu Anderen in das Konzept von Autonomie eingebunden werden. Allerdings ist in der bundesrepublikanischen Verfassungslehre die Autonomie des Subjekts nie auf völlige Autarkie reduziert worden. Im Gegenteil hat das Bundesverfassungsgericht schon früh das soziale Wesen des Menschen, die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums, betont.120 Auch sind einige Grundrechte offensichtlich nur in Gemeinschaft mit anderen auszuüben, wie etwa die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, oder sind auf andere Menschen ausgerichtet: Die Kundgabe einer Meinung ist uninteressant, wenn es niemanden gibt, der sie hört. Doch auch die Anerkennung des Sozialbezugs von Menschen greift noch zu kurz. Denn es reflektiert nicht die elementaren Abhängigkeiten, die zu anderen Menschen bestehen. Das autonome Subjekt ist nicht „einfach da“ und wendet sich dann anderen Menschen zu, sondern schon die Konstitution des autonomen Subjekts kann nur situiert, innerhalb seiner oder ihrer jeweiligen Lage erfolgen. Daher greift auch die Kritik der Kommunitaristen am liberalen Staat zu kurz. Denn die kommunitaristischen Alternativmodelle lassen die Geschlechterfrage ganz überwiegend unberücksichtigt. Sie beziehen sich auf je gelebte Gemeinschaften einschließlich ihrer jeweiligen Traditionen. Je stärker die konkret gegebenen Traditionen, die patriarchal geprägt sind, als Leitlinien für das gute Leben dienen, desto mehr geht emanzipatorisches Potential verloren.121 Die herrschende Grundrechtstheorie reflektiert ein relationales Denken noch nicht hinreichend. Sie denkt primär in Gefährdungen von Autonomie, in der Begrenzung der Freiheit des Einzelnen durch die Freiheitsausübung Anderer, existentielle Abhängigkeiten, überhaupt Beziehungen, kommen nicht vor. Wie Autonomie, relational gedacht, in Grundrechtstheorie zu überführen ist, muss weiter ausgearbeitet und erforscht werden. Doch zwei Ansatzpunkte möchte ich bereits hier hervorheben. 118 Siehe etwa: Held, in: MacCormick/Bankowski (Hrsg.), Enlightenment, Rights and Revolution, 1989, 214 ff. 119 Nedelsky, Law’s Relations, 2011. 120 Entwickelt in BVerfGE 4, 7 (15 f.). 121 Okin (Fn. 92), 41 ff.
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a) Bedingungen von Autonomie Zum ersten gilt es, die Vorstellung zu verabschieden, Autonomie sei binär kodiert, in dem Sinne, dass Autonomie entweder vorliegt oder nicht vorliegt. Durch die Einbindung in soziale Kontexte ist kein Mensch jemals vollkommen autonom. Autonomie muss stattdessen als graduelles Konzept verstanden werden: Ein Mensch handelt mehr oder weniger autonom. Die verschiedenen Faktoren, die menschliches Handeln beeinflussen, können so stark werden, dass sie zum (faktischen) Zwang werden. Ökonomischer Druck oder Verantwortung für Andere können die „Willensfreiheit“ stark beeinflussen. Elisabeth Holzleithner definiert drei Bedingungen für das Vorliegen von Autonomie: Erstens muss ein angemessener Bereich von Lebens- und Handlungsmöglichkeiten vorliegen; zweitens die emotional-intellektuellen wie auch die körperlichen Fähigkeiten bestehen, solche Möglichkeiten zu erkennen und daraufhin zu agieren, und drittens müssen Zwang und Manipulation – relativ – abwesend sein.122 Ziel der Gewährleistung von Autonomie ist das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu gehört auch, dass die Strukturen, die diesen Möglichkeiten der Selbstbestimmung entgegenwirken, zur Kenntnis genommen und analysiert werden. Staatliche Aufgabe ist es dann, Bedingungen dafür zu schaffen, dass Selbstbestimmung gut gelebt werden kann.123 Dies verlangt – wiederum – einen Blick auf tatsächlich gelebte Praxen und Bedingungen und kann nicht dabei stehen bleiben, Entscheidungen formal dann als „autonom“ zu deklarieren, wenn sie nicht durch nötigenden Zwang getroffen worden sind.
b) Assistierte Autonomie Zum zweiten ist auch die Vorstellung zu verabschieden, dass Autonomie gleichbedeutend mit Autarkie sei. In den Disability Studies124 wurde das Konzept der „assistierten Autonomie“ entwickelt.125 Ganz ähnlich wie dies für die Geschlechterforschung bezogen auf die heteronormative, binäre Geschlechterordnung gezeigt worden ist, gehen die Disability Studies davon aus, dass auch Behinderung kein objektiv
Holzleithner, in: Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen, 2017, 31 (36–40) (bezogen auf sexuelle Autonomie); grundlegend zu Bedingungen, Verständnissen und Dimensionen von Autonomie auch: Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, 346 ff. 123 So eine zentrale These von Völzmann, in: Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 2018, 319 ff.; diesbezüglich sehr klar auch bereits Holzleithner, 2015 (Fn. 27), 479; siehe ebenfalls: Lembke, in: Baer/Sacksofsky (Fn. 123), 275 (281 f., 284). 124 Einführend dazu: Waldschmidt/Schneider (Hrsg.), Disability Studies und Soziologie der Behinderung, 2007 und Goodley, Disability Studies, 2011; aus dezidiert feministischer Perspektive: Hall (Hrsg.), Feminist Disability Studies, 2011; mit dem Fokus auf der Selbstbestimmung kranker und behinderter Menschen: Waldschmidt, Selbstbestimmung als Konstruktion, 2012; zum Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung: Zinsmeister (Fn. 47); grundsätzlich zu Rechten behinderter Menschen: Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, 2005. 125 Ausführlich dazu Degener, in: Baer/Sacksofsky (Fn. 123), 61 ff., auf die sich die folgenden Ausführungen stützen. Grundlegend auch: Graumann, Assistierte Freiheit, 2011. 122
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vorgegebenes, sondern ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept ist: Behinderung ist die Abweichung von der sozial konstruierten Normalität.126 Dieses neue Konzept von Autonomie hat seinen Niederschlag vor allem in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gefunden.127 Die Behindertenrechtskonvention überwindet die Spaltung von Körper und Geist und spricht Autonomie allen Menschen zu, d.h. auch denjenigen, die kognitiv oder psychosozial beeinträchtigt sind. Das Konzept von Autonomie in der Behindertenrechtskonvention setzt also nicht länger Nichtbehinderung voraus. Nach Art. 12 UN BRK haben Menschen mit Behinderung das Recht, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden. Dies hat zur Folge, dass Systeme der Vormundschaft und stellvertretenden Betreuung nicht länger bestehen können. Sie müssen ersetzt werden durch ein System der unterstützten Entscheidung. Diese Unterstützung kann unterschiedliche Formen haben, wie beispielsweise persönliche Assistenz, assistierte Kommunikation oder leichte Sprache. Das Konzept von unterstützter Autonomie ist nicht auf Menschen mit Behinderung zu beschränken. Degener weist zu Recht darauf hin, dass fast alle Menschen Unterstützung erfahren und in Anspruch nehmen, wenn sie autonome Entscheidungen treffen:128 Menschen lassen sich typischerweise bei wichtigen Entscheidungen von Lebensgefährtinnen oder Lebenspartnern beraten, sie sprechen mit Freundinnen oder Freunden oder nehmen professionelle Hilfe in Anspruch. Kaum ein Mensch trifft zentrale Entscheidungen vollkommen allein. Dies zeigt wiederum, dass ein Konzept von gradueller Autonomie weit überzeugender ist als ein binär kodiertes.
c) Anklänge in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ansatzpunkte für ein differenzierteres Denken über Autonomie lassen sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden. In einer ganzen Reihe von Entscheidungen129 hat sich das Gericht von der Vorstellung gelöst, dass allein der Umstand, dass Verträge von Erwachsenen ohne Nötigung geschlossen worden sind, als Ausdruck von Autonomie zu verstehen ist. Es hat daher die Privatautonomie beschränkt und Verträge beispielsweise einer Inhaltskontrolle unterzogen, wenn es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlte: „Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.“130 Besonders deutlich ist die Einbeziehung der jeweiligen Umstände auch in der Bürgschaftsentscheidung.131 Eine gerade erwachsen gewordene Tochter hatte eine Bürg Degener, KJ 2000, 425 f. m.w.N. Dazu insbesondere: Degener/Diehl (Hrsg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, 2015. 128 Degener, in: Baer/Sacksofsky (Fn. 123), 61 (63). 129 Neben den sogleich genannten siehe zum Beispiel auch die grundlegende Ehevertragsentscheidung: BVerfGE 103, 89 (100 f.) sowie die Entscheidung zur Übertragung des Bestands von Lebensversicherungsverträgen: BVerfGE 114, 1 (34 f.); zur Rechtmäßigkeit der Begrenzung der Vertragsfreiheit durch das Urheberrechtsgesetz, um sozialen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichten entgegenzuwirken: BVerfGE 134, 204. 130 BVerfGE 81, 242 (255). 131 BVerfGE 89, 214. 126 127
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schaftserklärung gegenüber einer Bank für einen Kredit ihres Vaters übernommen. Das Gericht betont das fehlende eigene wirtschaftliche Interesse der Beschwerdeführerin, ihre Vermögenslosigkeit, die ungewöhnlich hohe Summe, die fehlende Begrenzung der gesicherten Geschäftsverbindlichkeiten sowie die Abbedingung bürgschaftsrechtlicher Schutzvorschriften. Zudem hatte der Angestellte des Kreditinstituts zum Abschluss des Vertrages gedrängt und behauptet, sie gehe keine große Verpflichtung ein.132 Das Bundesverfassungsgericht hob daher die Entscheidung des BGH auf, der den Vertrag für gültig erklärt hatte. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidungen nicht mit einem Konzept relationaler Autonomie begründet. Doch hat es wichtige Ansatzpunkte eines komplexeren Autonomiebegriffs aufgenommen. Indem es die Machtverhältnisse und strukturellen Bedingungen der Situation in die verfassungsrechtliche Analyse einbezogen hat, löst es sich vom traditionellen Konzept der Autonomie, welches all diese Faktoren für irrelevant erklärt.
V. Fazit Die Geschlechterforschung stellt in vielfacher Hinsicht Grundlagen des Öffentlichen Rechts in Frage. Die rechtswissenschaftliche Geschlechterforschung begnügt sich nicht damit, öffentlich-rechtliche Kategorien und Institutionen zu dekonstruieren, sondern bietet vielfach (re-)konstruktive Lösungsansätze an. Gerade dadurch, dass traditionelle Konzepte herausgefordert werden, kann es gelingen, diese angemessen zu reflektieren und neu zu konzipieren. Als ich vor etwa zwanzig Jahren meine Frankfurter Antrittsvorlesung zum Thema „Was ist feministische Rechtswissenschaft?“ hielt, stützte ich mich in vielem auf US-amerikanische Autorinnen, denn in der deutschen Rechtwissenschaft waren Gender Studies kaum vorhanden.133 Dies hat sich inzwischen verändert,134 auch wenn die institutionelle Verankerung der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft noch weitgehend fehlt.135 Der Beitrag konnte zeigen, dass das Denken im Öffentlichen Recht viele der Impulse und Kritikpunkte der rechtswissenschaftlichen Geschlechterforschung aufgenommen hat. Doch dies sind nur erste Ansätze. Um sich vollständig von seinen misogynen Grundlagen zu emanzipieren, reicht es nicht aus, lediglich alle offensichtlich geschlechtsdiskriminierenden Überlegungen durch (scheinbar) neutrale Konzepte zu ersetzen. Anne Phillips forderte daher: „Der Geschlechtsunterschied muß in die Theorie selbst Eingang finden, und das könnte bedeuten, daß wir einen Großteil der Arbeit noch einmal tun müssen.“136
BVerfGE 89, 214 (234 f.). Sacksofsky, 2001 (Fn. 27). 134 Siehe z.B. die vielfältige Überblicks- und Einführungsliteratur zu Legal Gender Studies: Fn. 27. 135 Nach einer aktuellen Erhebung weisen nur insgesamt fünf Professuren an deutschen Universitäten und Hochschulen eine Voll- oder eine Teildenomination für Frauen- und Geschlechterforschung auf, siehe dazu mit näheren Informationen: Sacksofsky/Stix (Fn. 10), 36. 136 Phillips, Geschlecht und Demokratie, 1995, 14. 132 133
Die Position der Dritten Objektivität im bürgerlichen Recht von
Prof. Dr. Eva Kocher (Frankfurt/Oder)* Inhalt I. Das leere Zentrum des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 II. Objektivität im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 1. Figuren des eingebildeten Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 2. Der Dritte empirisch und/oder normativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 III. Wer oder wie ist die Dritte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 1. Anstandsgefühl und Volksgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 2. Bildungshintergrund und bürgerliche Tugenden des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 3. Vernunft, homo oeconomicus oder doch lieber das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 4. Der objektive Dritte = eine Denkaufgabe für die unabhängige Richterin . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 IV. Die Erkenntnis des Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 1. Empirie und Alltagserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 2. Die Gesichts- und Körperlosigkeit des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 3. Richterpersönlichkeit, Judiz und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 V. Die Dritte als Substrat von Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 1. Gesellschaftlich-historische Verortung des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 2. Politik und Offenlegung gesellschaftlicher Konflikte statt „Objektivität“? . . . . . . . . . . . . . . . . 419 3. Die konkrete andere Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 4. Situiertes Wissen und Positionalität als Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 VI. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Rechtspraxis ohne Zentrum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 2. Selbstreflexive und kritische Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 3. Ausbildung für kritische Objektivität als Positionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 4. Zusammenfassendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
* Mit Dank an mein Lehrstuhlteam, das einen Entwurf mit mir diskutiert hat und damit (wie ich glaube) erheblich zur Schärfung des Gedankengangs beigetragen hat.
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„Jeder von uns hat vielleicht früher ‚Die Bürgschaft‘ von Schiller gelesen.“1 „Only the god trick is forbidden.“2
Unabhängigkeit, Neutralität und Objektivität sind zentrale Begriffe im Selbstverständnis von Jurist*innen. Empirisch betrachtet sind Jurist*innen allerdings offensichtlich Menschen und damit auch gesellschaftlich bestimmte Körper. So haben (einer Studie von 2010 zufolge) die Tageszeit und der Abstand zur Mittagspause Einfluss darauf, wie gerichtliche Entscheidungen ausfallen.3 Ebenso wenig bewusst wirken gesellschaftliche Prägungen und Verortungen z.B. in Bezug auf Geschlecht oder soziale Herkunft; die feministische Rechtswissenschaft kritisiert jedenfalls schon seit langem den „ideologischen“ und „männlichen“ Bias der „Objektivität“.4 Die Vorstellung, die juristische Ausbildung befähige dazu, autonom und unabhängig die richtigen oder zumindest passenden Entscheidungen für Streitfälle zu finden, stellt jedenfalls wohl eine „Illusion“ dar. Sie ist allerdings „feldspezifisch“, also notwendig.5 Es liegt deshalb nahe, nach Wegen zu suchen, dieser Norm so nahe wie möglich zu kommen. Wie diese Suchbewegung aussehen könnte, wird im Folgenden am Beispiel des Zivilrechts gezeigt, und zwar am Begriff der Objektivität und damit demjenigen Begriff, der die Juristin auffordert, aktiv aus dem Fallmaterial einen Maßstab zu entwickeln und die „neutrale“ Position positiv zu bestimmen. Er ist insofern für alle Rechtsgebiete von Bedeutung. Besonderes Augenmerk liegt im Folgenden auf „dem eingebildeten Dritten“ als „Argumentationsfigur im Zivilrecht“.6 An ihm zeigt sich auch, welchen Mehrwert eine geschlechtertheoretisch kompetente Analyse in der Rechtswissenschaft über die theoretische Reflektion hinaus bis in die Rechtspraxis haben könnte.
I. Das leere Zentrum des Rechtssystems Rechtsprechung soll unabhängig und neutral, das Recht soll objektiv sein – diese Vorstellungen stehen im Zentrum des Selbstverständnisses von Jurist*innen. Leitbild der juristischen Tätigkeit (und damit der juristischen Ausbildung) ist deshalb nicht zu fällig die richterliche „Gewalt“, die „durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt“ wird (§ 1 GVG; siehe auch Art. 92, 1. Hs. und Art. 97 GG). Unabhängigkeit, Neutralität und Objektivität sind aufeinander bezogen, benennen aber unterschiedliche Aspekte dessen, was dem Recht und richterlicher Ent1 Franz Merz im Gespräch mit Rudolf Gerhardt (ZRP-Redaktion), ZRP 1991, 307 (308); zum Kontext siehe unten bei Fn. 68. 2 Haraway, Feminist Studies 14 (1988), 589 f.; zum Kontext siehe unten bei Fn. 158 ff. 3 Danziger/Levav/Avnaim-Pesso, PNAS 108 (17) (April 2011), 6889–6892; vgl. Klein/Mitchell (Hrsg.), The Psychology of Judicial Decision Making, 2010. 4 Zum Beispiel: Baer, KritV 77 (1994), 154 (157); Limbach, in: Gerhard/Limbach (Hrsg.), Rechtsalltag von Frauen, 1988, 169 (173 ff.); Sacksofsky, ZRP 2001, 413; Lembke, Jura 2005, 236. 5 Vgl. Kocher, Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 2 (2017), 153– 180. 6 Damit handelt es sich auch um eine – verspätete – Rezension zu Elena Barnerts Monographie von 2008.
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scheidungstätigkeit zugeschrieben wird. „Unabhängigkeit“ ist ein negativer Begriff, der die Freiheit von wirtschaftlichen, politischen, institutionell-organisatorischen und persönlichen Abhängigkeiten bezeichnet. „Neutralität“ bezeichnet, ebenfalls in negativer Form, eine inhaltliche Orientierung, nämlich die emotionslose Behandlung eines Problems, ohne Berücksichtigung persönlicher Bindungen oder institutioneller Abhängigkeiten. „Objektivität“ ist demgegenüber ein Versuch, diese Per spektiven positiv zu formulieren als eine Betrachtung allein nach Maßstäben des Rechts und der Sache. Weshalb diese Grundsätze so wichtig sind, lässt sich verfassungsrechtlich oder philosophisch begründen, aber auch rechtssoziologisch erklären; und dafür muss man sich nicht einmal für einen bestimmten gesellschaftstheoretischen Zugang entscheiden. Ob man mit Max Weber das Recht der modernen Gesellschaft als eine Form der Rationalisierung und Entpersönlichung von Herrschaft beschreibt,7 mit Niklas Luhmann die spezifische operative Geschlossenheit und Autonomie des Rechtssystems als Konsequenz seiner Funktion der kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen,8 oder mit Sonja Buckel die Verselbständigung sozialer Verhältnisse in der Rechtsform als relationale Autonomie gegenüber der ökonomischen und politischen Form9: Die Autonomie des Rechtssystems spielt in der Beschreibung eine zentrale Rolle; ihrer Gewährleistung dienen Unabhängigkeit, Neutralität bzw. Objektivität. Die Rechtssoziologie hat den unabhängigen Richter gleichzeitig längst „durchschaut“,10 Hand in Hand mit Rechtstheorie und Methodenreflektionen, die festgestellt haben, „dass Methoden nicht binden“.11 Dem Material und den Reflektionen, die Dieter Simon 1975 zur „Unabhängigkeit des Richters“ gesammelt hat, ist seither im Kern wenig hinzugefügt worden: In der Debatte geht es um den Schutz der Unabhängigkeit, aber weniger darum, wie das komplementäre Konzept der Objektivität in der richterlichen Praxis gefüllt wird. Nach wie vor ist das Bild des Richters deshalb hehr, blass und leer. Es entspricht rechtlichen Konstruktionen, mit denen es in einem Zitat von 1957 nicht zu Unrecht parallel geführt wird: „die Idee des Richters, die Vision des Richters – eine Vorstellung, die sich ebenso wenig in einen Gesetzeswortlaut bannen läßt wie andere Rechtswirklichkeiten: der Staatsmann, der Vater, der Ehegatte, der Beamte, der nach Treu und Glauben handelnde Vertragspartner im sozialen Leben“.12 Die zuletzt genannte Figur des zivilrechtlichen „homo juridicus“13 soll im Folgenden der Ausgangspunkt für eine Analyse der Konstrukte sein, hinter denen sich im bürgerlichen Recht der unabhängige Richter verbirgt. In einer Collage zivilrichter7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 5. Aufl. 1980, 17 f.; 181 ff.; 122 f.; 125 ff.; zur Herrschaftstypologie 541 ff. 8 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993; Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl. 2009, 53. 9 Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, 2007, 235 ff. 10 Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, 146 ff. 11 Simon (Fn. 10), 68. 12 Arndt, Das Bild des Richters, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 2. November 1956, 1957, 4. 13 Hutter/Teubner, in: Fuchs/Göbel (Hrsg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, 1994, 110 (113).
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licher Urteile, wissenschaftlicher Konzeptionalisierungen und feministischer Theorieansätze wird gefragt, ob und wie das objektive Urteil in diesen Figuren gebunden ist und gebunden werden kann. Im Folgenden wird also die Figur des objektiven Dritten im Zivilrecht rekonstruiert und kritisch reflektiert, bevor nach Perspektiven gefragt wird, die eine Vielfalt gesellschaftlicher Konflikt angemessen in den Blick nehmen könnten.
II. Objektivität im Zivilrecht Zu Beginn ein Beispiel: Der BGH entschied 1985 über den Schadensersatzanspruch eines Klägers, der in der Neujahrsnacht 1981/82 in der Nähe seines Hauses von einem Gegenstand unterhalb des rechten Auges getroffen und verletzt worden war. Dieser hatte behauptet, die Verletzung sei durch eine der beiden Silvesterraketen verursacht worden, die um diese Zeit von den Beklagten etwa 17,5 Meter von seinem Standort entfernt abgefeuert worden waren. Eine der beiden Raketen, die zusammen in eine Sektflasche gesteckt worden waren, habe ihre Flugbahn nicht eingehalten, sei zur Erde zurückgekommen und habe ihn verletzt. Der BGH wies die Klage ab, wobei er davon ausging, dass „an die Voraussicht und Sorgfalt derjenigen Personen, die ein Feuerwerk veranstalten bzw. entzünden, […] grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen [sind]. Der Verkehrssicherungspflichtige habe […] die Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein vernünftiger Angehöriger eines bestimmten Verkehrskreises erwarten darf.“ Im vorliegenden Fall ergebe sich daraus: „Benützt der Zünder eines Feuerwerks erlaubnisfreie Raketen, und schießt er diese ordnungsgemäß ab, funktionieren die Raketen auch einwandfrei und kann der später Verletzte die Person des Zünders beim Abfeuern der Raketen beobachten und sich damit auf etwaige Gefährdungen durch diese Raketen einstellen, so hat der Zünder der Raketen die ihm dem Verletzten gegenüber in der Silvesternacht gebotenen Sicherungspflichten erfüllt.“ Denn: „Jeder vernünftige Mensch, der dem Silvesterfeuerwerk zuschaut, richtet sich auf [bestimmte] Gefährdungen selbst ein, sofern sie nicht aus Richtungen kommen, aus denen er sie nicht zu erwarten braucht, oder aufgrund anderer besonderer Umstände das Maß der normalerweise zu erwartenden Gefahr übersteigen.“14 Der vernünftige Dritte entscheidet hier den Fall: Das Gericht stellt sich eine Position vor bzw. denkt sich in eine Figur hinein, die außerhalb des Geschehens steht. Der Dritte kommt hier sogar doppelt, nämlich auf beiden Seiten vor: Einerseits als „der Zünder eines Feuerwerks“; andererseits als „der Verletzte“, der den Maßstab „vernünftiger Mensch“ erfüllen sollte, will er später Schadensersatz geltend machen können.15 Das Amtsgericht Berlin-Mitte hat die Maßstäbe für „das bloße vorschriftsmäßige Abbrennen von nichterlaubnispflichtigen Feuerwerkskörpern in der Silvesternacht in einer dicht besiedelten Großstadt in der Nähe von anderen Menschen“ etwas anders gesetzt. Dies sei „als sorgfaltspflichtwidrige Handlung einzustufen, die eine deliktische Haftung nach sich zieht“: „[Eine Zuschauerin, die] sich beim Abbrennen eines BGH, 9.7.1985 – VI ZR 71/84, NJW 1986, 52 f. BGH, 9.7.1985 – VI ZR 71/84, NJW 1986, 52 f.
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privaten Silvesterfeuerwerks auf einer Berliner Hauptstraße in einer Entfernung von 4 bis 5 Metern auf hält, trifft jedoch eine Mitverschuldensquote in Höhe von 50%, wenn [sie] durch den Fehlstart einer Rakete eine Brandverletzung erleidet“.16
1. Figuren des eingebildeten Dritten Dies ist ein ganz gebräuchliches Vorgehen: Wenn Fahrlässigkeits- und Sorgfaltsmaßstäbe entwickelt, eine Willenserklärung ausgelegt, der Inhalt eines Vertrags festgelegt, wenn die Maßstäbe von Treu und Glauben und der guten Sitten bestimmt werden müssen, dann stoßen wir im Zivilrecht auf Maßstäbe des „Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden“ oder des „objektiven Empfängerhorizonts“, die sich in der Tradition des „bonus pater familias“ verorten lassen.17 Die Begriffe und Maßstäbe haben sich allerdings erheblich ausdifferenziert,18 auf der Suche nach „verständlichen und sachentsprechenden Maßstäben“.19 Jutta Limbach fand schon 1977 in 34 der 824 Urteile, die in BGHZ 51 bis 64 veröffentlicht waren, Figuren des „verständigen Rechtsgenossen“;20 Jörn Eckert stellte für die Jahre 1951–1980 Vorkommen des „objektiven Beobachters“ aus Entscheidungssammlungen zusammen.21 Und Elena Barnert systematisierte 2008 kongenial die unterschiedlichen Aufgaben, für die Figuren des „eingebildeten Dritten“ verwendet werden – Bildung von Maßstäben für „Handlung“ (Fahrlässigkeit und Sorgfalt), „Verständnis“ (Auslegungsmaxime), „Wille“ (objektiver Empfängerhorizont) und „Gefühl“.22 Daher wissen wir, dass es in Gesetzen und Rechtsprechung den „umsichtigen Menschen“ gibt, den „ordentlichen Kaufmann“ (§ 347 HGB) bzw. „Geschäftsmann“ (§ 43 GmbHG), den „gewissenhaften Geschäftsleiter“ (§ 93 AktG), den „durchschnittlichen“ oder „durchschnittlich verständigen“ oder „durchschnittlich aufmerksamen Verbraucher“,23 den „verständigen Arbeitgeber“,24 den „durchschnittlich gut ausgebildeten Fachmann“,25 die „besonnene und gewissenhafte Hausfrau“26, den „unvoreingenommenen Durchschnittsleser“,27 den „objektiven eBay-Nutzer“28 oder AG Berlin-Mitte, 9.7.2002 – 25 C 177/01, BeckRS 2002, 11851. Vgl. auch die Entwicklung im französischen Zivilrecht, wo 2014 der Begriff des „bon père de famille“ explizit durch „raisonnable“ ersetzt wurde (Art. 26 LOI n° 2014-873 du 4 août 2014 pour l‘égalité réelle entre les femmes et les hommes); siehe unten bei Fn. 147. 18 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 1970, 57. 19 So noch § 144 des ersten Entwurfs des BGB, der für die Definition von Fahrlässigkeit auf die „Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters“ verwies. 20 Limbach, Der verständige Rechtsgenosse, 1977, 18 ff. 21 Eckert, Der „objektive Beobachter“ in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, Diss. 1982 (der allerdings Limbach nicht zitiert). 22 Barnert, Der eingebildete Dritte, 2008. 23 Dazu siehe unten Fn. 135 f. 24 BAG, 30.9.1993 – 2 AZR 268/93, BAGE 74, 281, 285. 25 Klett, GRUR 2001, 549 ff. 26 OLG Düsseldorf, 23.7.1974 – 4 U 20/74, NJW 1975, 171. 27 BGH, 16.11.2004 – VI ZR 298/03, NJW 2005, 279 (281 f.). 28 AG Erlangen, 26.5.2004 – 1 C 457/04, NJW 2004, 3720 f. 16 17
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den „durchschnittlichen Nutzer des Internet“29 und ähnliche „Archetypen der Jurisprudenz“30 – unterschiedliche Versionen des “ordentlichen Verkehrsteilnehmers“ als „technisches Zeitmodell des klassischen ‚bonus pater familias‘“.31
2. Der Dritte empirisch und/oder normativ Auch wenn Beschreibungen des Verhaltens und der Erwartungshorizonte von Dritten den Eindruck erwecken, hier werde auf empirisch vorfindbare Verhaltensweisen in der Gesellschaft, tatsächliche Erwartungen eines Marktes oder außerrechtliches „Wissen“ Bezug genommen:32 Der objektive Dritte verfügt über eine nur „virtuale soziale Identität“.33 Er bildet eine Brücke, „mit dessen Hilfe das abstrakte Recht an das konkrete Leben gebunden wird“34, eine „Einbruchstelle“ und „Sollbruchstelle“35, ein „Hinaustreten aus einem Individual- und Partikularhorizont“36 bzw. eine „Quellenangabe“37 bei der „kasuistischen Kontaktnahme mit den außerrechtlichen Vorstellungen“38. Der Dritte ist die zentrale Gestalt bei der kasuistischen „Präzision des Rechtssatzes“39 im Zivilrecht; er vermittelt in Fällen, in denen Maßstäbe in einem Flimmern zwischen Sachverhalt und Norm gefunden werden sollen.: „Wenn das normativ Gebotene selbst von den konkreten Umständen abhängt, welche sich zum vorneherein nicht abschließend übersehen lassen, so wird Maß genommen an einer idealen Person.“40 Was sich oberflächlich nach einer empirischen Kategorie anhört, ist eigentlich eine normative Kategorie.41 Mit dem „Dritten“ wird kein „Menschenbild“42 formuliert, sondern ein Leitbild, ein „Standard“ zwischen Norm und Empirie.43 Gesucht wird nicht nach dem maßgeblichen tatsächlichen Verhalten, sondern einem normativen Verhaltensstandard, der aus dem empirischen Material entwickelt wird – der Dritte pflegt also ein „kritisches Verhältnis zur Realität“,44 wie es z.B. das OLG Düsseldorf BGH, 4.10.2007 – I ZR 143/04, NJW 2008, 1384 ff. Klett (Fn. 25), 549 ff. 31 Esser (Fn. 18), 56 f. 32 Vgl. Voithofer, juridikum 2018, 264 (266). 33 Ogorek, in: Freundesgabe für Friedrich Kübler, 1997, 3–20; Barnert (Fn. 22), 2; vgl. auch Dreher, JZ 1997, 167–178. 34 Barnert (Fn. 22), 242. 35 Barnert (Fn. 22), 41; vgl. Hutter/Teubner (Fn. 13), 113 und passim: „Eine Akteursfiktion, die strukturelle Kopplungen mit anderen Sozialsystemen herstellt“. 36 Limbach (Fn. 20). 37 Barnert (Fn. 22), 41. 38 Esser (Fn. 18), 169. Für die Gute-Sitten-Klausel konkretisiert Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971 die Funktionen dieses Kontakts als Rezeption, Transformation und Delegation. 39 Limbach (Fn. 20), 22. Vgl. auch die umfassende Untersuchung von Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 196 ff., wo die „verständige Beurteilung“ als „Beurteilungsrelation“ in eine Systematik der Normkonkretisierung eingeordnet wird. 40 Klett (Fn. 25). 41 Ogorek (Fn. 33), 10. 42 Barnert (Fn. 22), 68 ff. 43 Limbach (Fn. 20), 11; Teubner (Fn. 38), 46 ff., jeweils unter Bezug auf Esser (Fn. 18), 56 f. 44 So die Zusammenfassung des Meinungsstands in der damaligen Literatur bei Limbach (Fn. 20), 13. 29
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illustriert, wenn es sich auf einen „Teil auch sorgfältiger Hausfrauen“ beruft, der die Wohnung während des [Maschinen-]Waschvorgangs verlassen zu können meine, jedoch gleichfalls „allgemein durchaus das Bewußtsein“ habe, für einen eventuellen Schaden auf kommen zu müssen.45 Im „eingebildeten Dritten“ führt das jeweilige Gericht außerrechtliches Wissen, außerrechtliche Wertungen und deren rechtliche Anerkennung zusammen. Die Formulierung „ein verständiger Mieter musste die Vertragsklausel so verstehen, daß …“ bedeutet insofern nichts anderes als „die Vertragsklausel ist so zu verstehen, daß …“.46 Allerdings ist die „Bildersprache“47 des „verständigen Mieters“, also der Verweis auf „ausfüllungsbedürftige außerpositive Maßstäbe, die auf verkehrsmäßig vorhandenen, konventionalen Maßstäben auf bauen,“48 d.h. der Verweis auf Standards keineswegs überflüssig: Die beiden Stilformen ergeben jeweils eine andere Atmosphäre.49 Anders ausgedrückt: Mit einem plötzlichen Sprung auf den Sollenssatz machte man sich genauso angreif bar wie umgekehrt durch ein empirisch leicht widerlegbares „jedermann weiß“.50 Mit der Verwendung der Figur eines eingebildeten Dritten „zwischen Deskription und Präskription“51 kann hingegen das normative Moment der Entscheidung überspielt werden. Die Kritik, dass Figuren des Dritten die Begründung kurzschließen und sowohl Feststellungen wie normative Wertung verschleiern,52 ist deshalb berechtigt. Das Phänomen lässt sich rechtssoziologisch aber erklären. So meint z.B. Luhmann, die „Aufweichung von Kriterien, mit denen man argumentiert, bis hin zu Gesichtspunkten, die noch Appellfunktionen haben, sich aber zur Begründung von Rechtsentscheidungen nicht mehr eignen“, könne eine Strategie der „De-Thematisierung“ von Recht sein.53 Die Verwandlung oder Verkleidung von normativen Fragen in empirischen Fragen kann ebenfalls die Thematisierung von Recht in Konfliktsituationen erleichtern, was in der Kommunikation von Vorteil sein kann. Denn die binäre Struktur des Rechts, in der „man in spezifischen Hinsichten nur entweder im Recht oder im Unrecht sein kann“, wirkt als „Thematisierungsschwelle im Kommunikationsprozessen“: „Mit Rechtsbehauptungen ist man eben stärker identifiziert als mit Tatsachenbehauptungen, die man immer noch als Irrtum revidieren kann.“54 Oder, in den Worten von Dieter Simon: Präskriptive haben im Vergleich mit deskriptiven Formulierungen den Nachteil, dass sie implizit „Begründungserwartungen [wecken] und dadurch die Basis für Evidenzüberzeugungen und eine traditionalistische Wertevermittlung [schmälern].“55 Elena Barnert drückt es etwas weniger angriffslustig aus: Mit der deskriptiv klingenden Begrifflichkeit des eingebildeten OLG Düsseldorf, 23.7.1974 – 4 U 20/74, NJW 1975, 171. Barnert (Fn. 22), 98 ff. 47 Barnert (Fn. 22), 98 ff. 48 Esser (Fn. 18), 56 f. 49 Barnert (Fn. 22), 98 ff. 50 Barnert (Fn. 22), 26. 51 Barnert (Fn. 22), 23. 52 Klett (Fn. 25); Eckert (Fn. 21). 53 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1981, 53; 71 f. 54 Luhmann (Fn. 53), 57. 55 Simon (Fn. 10), 1: zur Formulierung von Art. 97 GG (deskriptiv). 45
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Dritten „signalisiert [der Richter] Folgebereitschaft, ohne das Heft aus der Hand zu geben.“56
III. Wer oder wie ist die Dritte? Wie bestimmen und ermitteln die Gerichte aber nun den Horizont der Objektivität? Wer oder wie ist der Dritte im Zivilrecht?
1. Anstandsgefühl und Volksgeist Eine Methode des Hineindenkens in einen eingebildeten Dritten ist die Suche nach einem gesellschaftlichen Maßstab, einem Anstandsgefühl, Rechtsgefühl, Anstandsund Rechtsgefühl, oder Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl57 – mehr oder weniger moderne Umschreibungen für die Suche nach dem „Volksgeist“, wie ihn sich die historische Rechtsschule zu finden vorgenommen hatte,58 und an den aktuelle Beschwörungen eines allgemeinen „Rechtsempfindens der Bevölkerung“59 erinnern. Diese Methode wird heute kaum noch verwendet. Man war sich bei ihrer Verwendung in der Regel der Tatsache durchaus bewusst, dass man „nur einen Ausschnitt, nicht einen Querschnitt befragt“.60 Schon dem Reichsgericht war klar, dass es unterschiedliche Gefühle und Empfindlichkeiten in Volk (bzw. Gesellschaft) geben mag. Es explizierte deshalb, als Maßstab für die „guten Sitten“ und das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ komme es auf das „herrschende Volksbewußtsein“ an, bzw. „die Sittenanschauung eines bestimmten Volkskreises, wenn sich in ihr die herrschende Sitte ausprägt“ – abzugrenzen von der aufgekommenen Unsitte oder den „Machenschaften“.61 Die nötige Mischung zwischen dem Bezug auf gesellschaftliches Wissen und gesellschaftliche Meinung bestimmter Kreise stellen auch andere Begriffe her wie z.B. beim BGH in den 1950er Jahren die „Anschauungen der in Betracht kommenden beteiligten Kreise“, konkret „die der ehrbaren Kaufmannschaft […], wobei das Durchschnittsmaß von Redlichkeit und Anstand zugrunde zu legen ist“.62
Barnert (Fn. 22), 53. Barnert (Fn. 22), 219 ff., Rn. 2; 18 f. (zur Rechtsprechung zu § 138 BGB); vgl. auch Rehbinder, JZ 1982, 1–5. 58 Säcker, NJW 2018, 2377, 2375. Die erwähnten Begriffe enthalten auch Anklänge zum „gesunden Volksempfinden“ (z.B. § 2 des StGB von 1935), der als nationalsozialistische Begrifflichkeit heute nicht mehr gebraucht wird; siehe auch die Entschuldigung des Richters am Landgericht Meyer, NJW 1993, 3124 für die Verwendung des Begriffs in einem von ihm verfassten landgerichtlichen Zivilurteil. 59 NRW-Innenminister Herbert Reul in der „Rheinischen Post“ vom 16.8.2018, der dieses den Gerichten als Leitlinie empfahl (https://rp-online.de/nrw/panorama/sami-a-muss-nach-deutschland-zurueckgeholt-werden_aid-24401713, Abruf 27.10.2018). 60 Barnert (Fn. 22), 19. 61 RG, 11.4.1901 – VI 448/00, RGZ 48, 114, 124. 62 BGH, 28.9.1955 – VI ZR 28/53, BeckRS 1955, 31199219. 56 57
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2. Bildungshintergrund und bürgerliche Tugenden des Dritten Formeln vom „Rechtsgefühl“ werden allerdings heute kaum noch verwendet: „Die contradictio in adjecto eines intellektuellen Gefühls“ gab offenbar zu denken, „daß hier etwas nicht stimmen kann.“63 Es gibt aber andere Methoden, um den relevanten gesellschaftlichen Ausschnitt zu bestimmen. So ist lange Zeit z.T. ein Leitbild bürgerlicher Gewissenhaftigkeit und Verantwortung beschworen worden, das in der Tradition des bonus pater familias zu stehen scheint, also eines Menschen, „welcher über die Seinigen und das Seine mit Gewissenhaftigkeit und Treue wacht“,64 der „den von ihm betriebenen Geschäften […] völlig gewachsen ist, der ferner seine Kräfte auch anwendet, damit seine Geschäfte ihre guten Fortgang nehmen und zugleich in seinem Wirkungskreise auf Ordnung hält“; der „auf der Skala der Lebenslagen besonnen, rechtschaffen, integer und stets achtsam handeln könne“,65 eine Tugendhaftigkeit, die in einer „Epoche weithin homogener Bürgerlichkeit“ entstanden war66: „[…], das ganze Korsett der Vorschriften für ordentliches, propres, solides, vorauskalkulierbares Verhalten – […] integraler Bestandteil [des] bürgerlichen Kosmos.“67 Einen ungefähren Eindruck vom Bildungshintergrund des Dritten, der dem 9. Zivilsenat des BGH bei seiner Rechtsprechung zur Familienbürgschaft vorschwebte, gab z.B. dessen Vorsitzender Franz Merz anlässlich der Verteidigung dieser Rechtsprechungslinie (die später nach dem Bürgschaftsurteil des BVerfG grundlegend geändert werden musste): „Bei der Bürgschaft haben wir immer daran festgehalten, daß jeder Mensch weiß, daß eine Bürgschaft ein außerordentlich risikoreiches Geschäft ist. Das steht übrigens schon in der Bibel in den Sprüchen Salomonis …“; „jeder von uns hat vielleicht früher ‚Die Bürgschaft‘ von Schiller gelesen.“68 Im Urteilstext selbst wird das so umgesetzt: „Die Beklagten waren bei Abgabe der Bürgschaftserklärung volljährig (§ 2 BGB); denn die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein. Ein Volljähriger ist im Geschäftsverkehr im allgemeinen auch ohne besondere Erfahrung in der Lage zu erkennen, daß die Abgabe einer Bürgschaft ein riskantes Geschäft ist. Das muß auch für die Beklagten nach ihrem Bildungsstand als Student bzw. Abiturient […] gelten.“69 Ein anderes Beispiel, das ebenfalls Elena Barnert ausgegraben hat, und bei dem es darum ging, ob mit dem Ausfall des Landausflugs auf die Galapagosinsel Baltra der Höhepunkt einer 26-tägigen Seekreuzfahrtreise entfallen sei:70 Dies sah das Landgericht Hamburg 1998 anders als der damalige Kläger: „Auf dieser Hauptinsel Baltra ist aber, wie durch Literatur, Presse, Film und Fernsehen nach §§ 291, 523 ZPO bekannt Rehbinder (Fn. 57), 1, 3. Otto von Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889, 39, zur Begründung (Motive I, 279) von § 144 des Entwurfs, der für die Definition von Fahrlässigkeit auf die “Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters“ verwies. 65 Barnert (Fn. 22), 121; 124. 66 Barnert (Fn. 22), 61. 67 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 1995, 138, zitiert bei Barnert (Fn. 22), 60. 68 Merz (Fn. 1). 69 BGH, 16.3.1989 – IX ZR 171/88, aufgehoben durch BVerfGE 89, 214 – Bürgschaftsentscheidung (vgl. auch BGH, 19.1.1989 – IX ZR 124/88, BGHZ 106, 269). 70 LG Hamburg, 27.11.1997 – 302, S 78/79, NJW-RR 1998, 708 f.; Barnert (Fn. 22), 25, Rn. 59. 63
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ist, in bezug auf die Tierwelt der Galapagosinseln nur die sog. Darwin-Station mit ‚lonesome George‘ zu sehen, also nur jene männliche Riesenschildkröte zu besichtigen, die aufgrund der Tatsache, daß Artgenossinnen ausgestorben sind, einsam = lonesome ihr betagtes Leben fristet. Im übrigen befinden sich auf der Hauptinsel Baltra nur Hotels, Geschäfte und sonstige Zivilisationseinrichtungen, die mit der Einzigartigkeit der Natur der übrigen Galapagosinseln nichts zu tun haben, wie jedermann durch Literatur, Presse, Film und Fernsehen weiß oder wissen sollte.“ (Man sieht, das LG Hamburg sicherte das leicht widerlegbare „jedermann weiß“71 dann doch lieber durch ein Evozieren des objektiven Dritten („oder wissen sollte“) ab.)
3. Vernunft, homo oeconomicus oder doch lieber das Grundgesetz Der objektive Dritte wird in neuerer Zeit in der Regel allerdings durch die stärker normativ geprägte Einschränkung konkretisiert, er müsse „verständig“ oder „vernünftig“ sein (vgl. der „seriöse und vernünftige Kreditgeber“72), oder auch „raisonnable“73 bzw. „reasonable“. Die Umschreibung „rational handelnd“74 legt Barnert nicht zu Unrecht die Vermutung nahe, dahinter könnte eine Vorstellung von ökonomischen Rationalitäten stehen. Der vernünftige Dritte – ein homo oeconomicus?75 Ob rational, vernünftig oder verständig: Damit wird dem objektiven Dritten so viel Normatives angeheftet, dass das Rechtsgefühl noch durch einen zusätzlichen „Normenfilter“76 laufen kann. Mit der „Verständigkeit“ hat der „Mustermensch den Sprung von den Sekundärtugenden der Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit zu den Kardinaltugenden des Wohlwollens und der Gerechtigkeit gewagt“.77 Es geht in diesen neueren Verwendungen nun oft auch um Interessenausgleich und Abwägung.78 So stellte der BGH 1992 bei der Frage der Zumutbarkeit von Froschquaken „nicht auf das Empfinden eines ‚normalen‘, sondern auf das eines verständigen Durchschnittsmenschen ab“ – dabei seien „das veränderte Umweltbewusstsein und der im Naturschutzgesetz verankerte Artenschutz bei Fröschen“ zu berücksichtigen.79 Ähnlich das OLG Köln 1998 für Geräusche, die behinderte Menschen machten: „Im Lichte des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG muß von einem verständigen Durchschnittsmen Vgl. Barnert (Fn. 22), 26. BGH, 25.1.2005 – XI ZR 28/04, NJW 2005, 973, 975. 73 Vgl. oben Fn. 17. 74 BGH, 25.1.2005 – XI ZR 325/03, NJW 2005, 973, 975. 75 Barnert (Fn. 22), 26 f.; 34 ff.; Limbach (Fn. 20), 50 ff. Dafür spricht auch die Umsetzung von Art. 2 Abs. 2 d), Abs. 3, Abs. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG („vernünftig“) mit einem Bezug auf den Markt (§ 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB) (Gesetzentwurf zur Schuldrechtsreform, BT-Drs. 14/6040, 214). 76 Rehbinder (Fn. 57), 1, 3. 77 Limbach (Fn. 20), 20. 78 Röthel (Fn. 39), 197: Es handelt sich um einen Beurteilungsmaßstab in Gestalt einer „Beurteilungsrelation“. 79 BGH, 20.11.1992 – V ZR 82/91, BGHZ 120, 239 ff.; vgl. Barnert (Fn. 22), 231 ff.; siehe auch zu dem, was das „Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen“ an Kinderlärm aushält OLG Düsseldorf, 11.10.1995 – 9 U 51/95, NJW-RR 1996, 211 ff.; BGH, 5.2.1993 – V ZR 62/91, BGHZ 121, 248 ff. 71
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schen im nachbarschaftlichen Zusammenleben mit behinderten Menschen eine erhöhte Toleranzbereitschaft eingefordert werden.“80 Der Appell an den verständigen Bürger und Nachbar, der sich vom “‘normalen‘ Durchschnittsmensch“ unterscheide, half im konkreten Fall dann allerdings doch nicht, den behinderten Menschen zu längeren Aufenthalten im Garten zu verhelfen. Am Ende gab das OLG Köln den festgestellten Störgefühlen der Nachbarschaft den Vorrang und meinte berücksichtigen zu müssen, „daß Lautäußerungen geistig schwer behinderter Menschen auch von solchen Bürgern als sehr belastend empfunden werden können, die sich gegenüber Behinderten von der gebotenen Toleranz leiten lassen.“81 Die Möglichkeit der Empfindung siegte über deren Legitimität – das Gericht selbst bestätigt, „daß die [im Urteil] zitierten Äußerungen [der Nachbar *innen] die gebotene Toleranz teilweise vermissen lassen“. Es ahnte übrigens auch, dass der „unmittelbare persönliche Kontakt […] ein wichtiges Mittel ist, emotionale Abwehrhaltungen abzubauen oder erst gar nicht entstehen zu lassen“, und fand am Ende dennoch, dass der Kontakt mit Behinderten etwas sein darf, zu dem man sich qua Beruf freiwillig entscheiden muss.82 Mit ein bisschen mehr Wertorientierung, Grundrechten und „Empfinden-dürfen“ statt „Empfinden-können“ hätte man hier leicht anders entscheiden können83 (etwa analog zur sorgfältigen Hausfrau, die weiß, wann sie auf eigenes Risiko handelt84). Die Entscheidung zeigt also sehr gut, wie die Grenze zwischen Empfindung und Überempfindlichkeit (dem „Los, das jeder selbst tragen muss“85) durch ein Flimmern zwischen Wissen der Beteiligten, Wertungen der Beteiligten, Wissen des Gerichts und Wertungen des Gerichts im Einzelfall bearbeitet wird. In anderen Entscheidungen werden die Wirkungen der gerichtlichen Konstruktionen auf gesellschaftliche Beziehungen expliziter reflektiert. So vermuten Zivilgerichte bei „Volks- und Gemeindefesten, traditionellen Umzüge, [… die] für den Zusammenhalt der örtlichen Gemeinschaft von großer Bedeutung sein können, dabei auch die Identität dieser Gemeinschaft stärken und für viele Bewohner einen hohen Stellenwert besitzen“, dass „die mit ihnen verbundenen Geräuschentwicklungen von einem verständigen Durchschnittsmenschen […] in der Regel in höherem Maß akzeptiert werden.“86 Deshalb setzt der BGH „in der Silvesternacht […] die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht beim Abbrennen von Feuerwerks-
OLG Köln, 8.1.1998 – 7 U 83/96, NJW 1998, 763 ff. OLG Köln, 8.1.1998 – 7 U 83/96, NJW 1998, 763 ff. (im Original nicht kursiv); Sachs, JuS 1998, 1061 f. ist sogar zu einer Abstraktion in der Lage, die den entscheidungserheblichen „Lärm“ von der angeblich nicht relevanten „Behinderung“ trennt (so dass Art. 3 Abs. 3 GG nicht passe). 82 Anders bei Kindern und Jugendlichen: BGH, 5.2.1993 – V ZR 62/91, BGHZ 121, 248 ff. („Interesse der Allgemeinheit an einer kinder- und jugendfreundlichen Umgebung“). 83 Gegen die Entscheidung: Lachwitz, NJW 1998, 881 ff.; Klose, NZM 1998, 652 ff.; fraglich: Caspar, EuGRZ 2000, 135 ff.; der Entscheidung zustimmend: Schneider, MDR 1998, 278 f. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde aus formalen Gründen zurückgewiesen (BVerfG 28.5.1998 – 1 BvR 329/98). 84 OLG Düsseldorf, 23.7.1974 – 4 U 20/74, (s.o. Fn. 26). 85 Erman-Lorenz, 15. Aufl. 2017, § 9 06 BGB, Rn. 17. 86 BGH, 26.9.2003 – V ZR 41/03, NJW 2003, 3699 ff. 80 81
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körpern herab.“87 In Stuttgart „gilt [gleiches] für den Abend des 1. Januar eines jeden Jahres.“88 Das BAG kann es sogar nachvollziehen, wenn ein Arbeitgeber nicht entlang der (vom gleichen Gericht aufgestellten) Leitplanken für den Kündigungsschutz handelt. Neben der rechtsunwirksamen, der sozial ungerechtfertigten und der sozial gerechtfertigten Kündigung gibt es deshalb noch die rechtswidrige Kündigung, die ein „verständiger“ Arbeitgeber „ernsthaft in Erwägung ziehen [darf ]“, weil aus seiner Sicht die rechtlichen Voraussetzungen für eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung gegeben seien. Nicht das positive, sondern das gefühlte Recht des „verständigen Arbeitgebers“ ist danach maßgeblich, wenn es darum geht, ob die Drohung mit einer Kündigung widerrechtlich ist.89
4. Der objektive Dritte = eine Denkaufgabe für die unabhängige Richterin Insgesamt bringt die Verwendung der Figur eines eingebildeten Dritten also bestimmte Anforderungen an die Entscheidungstätigkeit mit sich: Die Konstruktion eines „normativen Modellmenschen“90, von kategorischen Imperativen, symbolisiert einen „reflexiven Denkprozess“.91 Diese „Betrachtungs- und Empfindungsperspektive“,92 der „Denkstil“93 „[dient] dem Richter als Hilfsmittel für das Denken über die Wirklichkeit.“ Indem „der Richter eine allen Juristen gemeinsame Sprach- und Vorstellungsebene aufsucht, den Bereich persönlicher Ansicht und Empfindung also verläßt“94 und eine „Technik des Verfremdens“95 anwendet, sollen „individuelle Besonderheiten und subjektive Empfindlichkeiten […] ausgeblendet“96 werden können. Die Figur des Dritten zeigt, „wie das Allgemeine von dem Individuellen abgehoben und darüber hinaus das Übliche zum Vorbildlichen verfeinert werden kann“.97 Sie leitet also die unabhängige Richterin an, wie diese unabhängig entscheiden kann. Den Streitbeteiligten und Parteien wird gleichzeitig die Beurteilung entzogen.98 Sie werden im Gegenzug herausgefordert, ebenfalls eine „Haltung des verallgemeinerten Anderen gegenüber sich selbst einzunehmen“.99
BGH, 9.7.1985 – VI ZR 71/84, NJW 1986, 52 f. OLG Stuttgart, 20.3.2008 – 10 U 219/07, BeckRS 2008, 17317. 89 BAG, 6.12.2001 – 2 AZR 396/00, NJW 2002, 2196 ff. Das LAG Köln (7.5.2018 – 4 Sa 482/13) hat diesen Maßstab zuletzt auch für die Bestimmung des Belästigungs-/Mobbingwerts einer Abmahnung verwendet. 90 Barnert (Fn. 22), 239. 91 Limbach (Fn. 20), 76. 92 Röthel (Fn. 39), 188. 93 Limbach (Fn. 20), 99. 94 Eckert (Fn. 21), 13. 95 Limbach (Fn. 20), 86 f. 96 Röthel (Fn. 39), 189. 97 Limbach (Fn. 20), 2. 98 Eckert (Fn. 21), 118; 127 f. 99 Limbach (Fn. 20), 89; 99. 87
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IV. Die Erkenntnis des Allgemeinen Der Dritte formuliert also eine „Denkaufgabe mit mehreren Unbekannten“,100 der sich die Richter *innen mit unterschiedlichen Mitteln und ebensolchem Erfolg gerecht zu werden mühen.
1. Empirie und Alltagserfahrung Da wäre zunächst der Versuch, mit Hilfe empirischer Nachforschungen festeren Boden unter die Füße zu bekommen, angeregt von einem „gewissen Unbehagen“, z.B. darüber, dass Richter *innen „ohne weiteres aus der gewonnenen Lebenserfahrung [schließen], dass etwa eine Hausfrau Schafswolle von Baumwolle nicht unterscheiden könne, weil ihr der kaufmännisch geschärfte Blick fehle“.101 Zum Teil wurden demoskopische Umfragen oder andere empirische Umfragen vorgeschlagen, um das Verhalten oder die Meinungen des durchschnittlichen Publikums tatsächlich und nicht nur aus der Sicht des Gerichts festzustellen.102 Solche Umfragen und Untersuchungen sind allerdings nicht immer zugänglich und aufwändig zu erstellen.103 Der „sachkundige und unbefangene Beurteiler“ erfüllt ja auch gerade die Funktion, den Sachverständigen zu erübrigen.104 Da zudem die unmittelbar Betroffenen nicht als ausreichend objektiv gelten, werden die Aussagen von Zeug *innen gern noch durch unmittelbare Eindrücke des unabhängigen Gerichts abgesichert. So hatten die Zivilgerichte erster und zweiter Instanz in einem Fall, bei dem es in den 1990er Jahren um die Lärm- und Geruchsbelästigung eines Jugendzeltplatzes ging, zusammen immerhin 33 Zeug *innen vernommen – was dem BGH nicht objektiv genug erschien: „Gerade in Grenzbereichen ist der Tatrichter […] gehalten, sich durch einen Ortstermin einen eigenen Eindruck […] zu verschaffen.“105 Auch das OLG Köln sicherte in der Entscheidung zu den Gartenaufenthalten behinderter Menschen die Zeugenvernehmung der Nachbar *innen durch das eigene „Abhören von Tonbandaufzeichnungen“ ab.106
Limbach (Fn. 20), 99. Klett (Fn. 25), 549 ff. 102 Für die Schweiz Klett (Fn. 25), 549 ff. Zur Debatte auch schon Teubner (Fn. 38), 13 ff.; Hans-Joachim Koch Rechtstheorie 4 (1973), 183 (206), für eine Überprüfung der „Alltagstheorien“ von Richter *innen mit Hilfe wissenschaftstheoretischer und methodologischer Standards. 103 Klett weist auch auf das Problem hin, „dass die Ergebnisse der Meinungsforschung nur insoweit sinnvoll beigezogen werden können, als die Juristen die richtigen Fragen zu stellen in der Lage sind“; vgl. Limbach, in: FS für Ernst E. Hirsch, 1968, 77–98, zur Schwierigkeit, die richtige Ermittlungsmethode für eine normativ geprägte Praxis zu finden. 104 Eckert (Fn. 21), 100 f. 105 BGH, 5.2.1993 – V ZR 62/91, BGHZ 121, 248. 106 OLG Köln, 8.1.1998 – 7 U 83/96, NJW 1998, 763 ff. 100 101
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2. Die Gesichts- und Körperlosigkeit des Dritten Meist wird aber der Erkenntnis- und Entscheidungsprozess zum eingebildeten Dritten nicht offengelegt. Die Verwendung des eingebildeten Dritten bietet viele Möglichkeiten der Argumentation, verhindert gleichzeitig aber auch, dass die zugrunde gelegten Annahmen rational überprüf bar und kritisierbar werden:107 Nach herkömmlicher juristischer Dogmatik sind Rechtsauffassungen richtig oder falsch, Tatsachen wahr oder unwahr; „was der Dritte tut, will oder denkt,“ ist als „Sediment einer Rechtsauffassung“ keins von beiden – es ist plausibel oder unplausibel.108 Die Figur kann den Anspruch der „Versachlichung und damit der Nachvollziehbarkeit der Beurteilung“109 also i.d.R. nicht erfüllen, weil sie dazu genutzt wird, Begründungen durch Behauptungen zu ersetzen.110 Die Überzeugungsarbeit wird abgebrochen, die Begründung wandelt sich „von einer Rechtfertigungs- in eine Immunisierungsstrategie“. Es wird apodiktisch und suggestiv; „eine Widerlegbarkeit des Ausspruchs ein objektiver, ein verständiger Mensch hätte, würde, wäre… ist nicht vorgesehen.“111 Der unabhängige Richter verbirgt sich hinter dem objektiven Dritten.112
3. Richterpersönlichkeit, Judiz und Ethik Wer angesichts dieses Befundes noch an die Sache des Rechts und der Gerechtigkeit vor dem Zivilgericht glauben mag, muss Vertrauen in die Person der Richter *innen setzen: „Die mangels eines präzisen wissenschaftlichen Instrumentariums nur unzulänglich erfaßten ‚Entscheidungskräfte‘ [können] nicht anders als durch den Rekurs auf eine erträumte ‚Richterpersönlichkeit‘ legitimiert und gemeistert werden“.113 Herkömmlich wird die Grundlage dieses Vertrauens über den Begriff des Judizes zu begründen gesucht. Die Lösung der Denkaufgabe sei dem „‚erfahrenen‘ richterlichen Urteil“,114 dem „professionellen (Vor-)Urteil“, dem „sensus juridicus“115 anvertraut. Das Judiz helfe der Richterin, unter Verwendung der Denkfigur des Objektiven zu ihrem Urteil zu finden: Die Formeln dienten dem Richter dazu, „seine Probleme auf der Basis des „gesunden“ Menschenverstandes zu lösen“; der verständige Dritte ist die „Personifikation des richterlichen Judizes“.116
Barnert (Fn. 22), 38 ff. Barnert (Fn. 22), 51. 109 Röthel (Fn. 39), 188. 110 Eckert (Fn. 21), 79 f.; 92; 100 f.; 109; 127 f. 111 Barnert (Fn. 22), 13 (kursiv im Original); für die übrigen Zitate Limbach (Fn. 20), 40; 93 f. (für gesellschaftliche Konfliktlagen). 112 Barnert (Fn. 22), 38 ff.; Eckert (Fn. 21), 131. Vgl. auch Teubner (Fn. 38), 42 ff. zum in der Generalklausel enthaltenen Normbildungsauftrag an die Gerichte. 113 So die Kritik von Simon (Fn. 10), 68 ff. Vgl. auch Eckert (Fn. 21), 131, wonach der Richter seine „notwendig persönlichen“ Überzeugungen als die eines „objektiven Beobachters“ ausgebe. 114 Esser (Fn. 18), 56 f. 115 Joachim (Fn. 116), 345. 116 Limbach (Fn. 20), 86. Die Verbindung von „Judiz“ und „gesundem Menschenverstand“ findet sich auch bei Joachim, ZVglRWiss 93 (1994), 343–351. 107
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Aber woher kommt das Judiz, ist es etwas Individuelles oder etwas Kollektives? Beschwörungen des Judizes bzw. des „Rechtsgefühls“ als „Gradmesser der Sozialisation“ zur Juristin117 deuten auf letzteres hin: Judiz und „Richterpersönlichkeit“ sind nichts anderes als Ausprägungen des Habitus von Jurist*innen – der zweiten Natur, die historisch und sozial in konkreten Gruppen der Gesellschaft verortet ist bzw. in den Personen durch „ständige und konsequente Erziehung zur Selbstdisziplin“118 verkörpert wird: „Die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen der sozialen Welt eingesetzten kognitiven Strukturen sind inkorporierte soziale Strukturen. Wer sich in dieser Welt ‚vernünftig‘ verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen […], mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ‚Klassen‘ hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten.“119 Gesellschaft, der Staat, das Rechtssystem verlassen sich allerdings nicht darauf, dass dieser Habitus in der sozialen Praxis entsteht oder von den einzelnen aus der sozialen Praxis des Bürgertums in den Jurist*innenberuf mitgebracht wird. Der Jurist*innenausbildung kommt in der Ausbildung des Habitus einiges an Bedeutung und Verantwortung zu: „[Die richterbezogene Ausbildung] ist in einer multikulturellen Gesellschaft mit immer weniger stabilen Traditionen und gemeinsamen Überzeugungen die beste Vorbereitung auf den juristischen Beruf “, und ihr gelingt es zumindest nach Meinung einiger der Beteiligten „im Großen und Ganzen durch jahrelange Schulung, subjektive Meinungen und schlimme Vorurteile von Studierenden zu neutralisieren und zu trennen von dem objektiven Streben nach einer gerechten Entscheidung“.120 Wo das nicht hinreichend funktioniert oder wo man darauf nicht mehr vertrauen will, muss „Ethik für Jurist*innen“ ran. Nicht nur die Richter *innen des Bundesverfassungsgerichts haben sich Verhaltensleitlinien gegeben, die helfen sollen, Ansehen des Gerichts, die „Würde des Amtes“ sowie Vertrauen in seine Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und „Integrität“ zu sichern.121 Auch anderswo wird „die innere Unabhängigkeit des Richters“ zunehmend „als berufsethische Herausforderung“ entdeckt122 – und ein aufwändiges Programm von Tugenden formuliert: Rechtstreue, Fairness, innere Unabhängigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Sorgfalt, Disziplin, Mut, zugewandte Distanz, Mäßigung, etc.123 Anders scheint die Objektivität des „eingebildeten Dritten“ nicht zu gewährleisten zu sein. Rehbinder (Fn. 57), 1, 5. Joachim (Fn. 116), 349. 119 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 8. Aufl. 1996, 730. 120 Säcker NJW 2018, 2375, 2379. Vgl. auch Simon (Fn. 10), 82, zur Bedeutung der Juristenausbildung für die Bindung des Richters. 121 Verhaltensleitlinien der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts, November 2017. 122 Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, 2017, 333 ff.; vgl. Eckertz-Höfer, „Vom guten Richter“: Ethos, Unabhängigkeit, Professionalität, 2009, 25 ff.: „Distanz zur Sache und innere Neutralität“ als „richterliche Gegenstrategie zu einer durch Subjektivismus und Beliebigkeit, also durch externe Faktoren mitbestimmten Entscheidungspraxis“. 123 Schneider (Fn. 122), 494 ff. 117
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V. Die Dritte als Substrat von Gesellschaft In den Sozial- und Geistes- bis hin zu den Naturwissenschaften steht die neutrale Beobachter *innenposition schon seit langem grundsätzlich in Frage – die Erkenntnistheorie hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Und auch in der kritischen, wissenschaftlichen Reflektion des Rechts ist die Vorstellung, man könne das Recht oder das Richtige objektiv erkennen, als fragwürdig entlarvt worden.124 Für die Rechtspraxis (und die ihr dienende Rechtsdogmatik) gilt jedoch immer noch, was Luhmann feststellte: Man „bewohnt […] die geräumige, etwas altmodisch eingerichtete erste Etage eines Hauses, ohne sicher zu sein, ob das Fundament und das Dach noch in Ordnung sind.“125 Im Folgenden soll eine Überprüfung des Gebäudes vorgenommen werden. Kann eine haltbarere Konstruktion gefunden werden? Lassen sich die Unbekannten in der Denkaufgabe des eingebildeten Dritten genauer bestimmen?
1. Gesellschaftlich-historische Verortung des Dritten Essers „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ war einer der Katalysatoren der Debatte um eine konstruktive Wendung der hermeneutischen Kritik. Esser nahm die „Geschichtlichkeit des Verstehens“ und die „Befangenheit des Interpreten in seiner geschichtlichen Situation“ in den Blick.126 Im Untertitel versprach Esser Auf klärung über „Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis“. Er meinte, das erkenntnistheoretische Problem ließe sich durch hermeneutische Methoden lösen: Die juristische Interpretin solle sich als „Vermittler zwischen gesellschaftlichem Bewusstsein und dogmatischer Ordnungstradition im System seines Rechts“ verstehen;127 „eine jede Zeit“ solle ihre Maßstäbe anzuerkennender Erwartungen in das Recht einbeziehen.128 Um eine Verbindung zum Gerechtigkeitsdenken129 herzustellen, beschwört auch Esser die „traditionell in der Rechtswissenschaft bemühten naturrechtlichen Leerformeln [Sachlogik, Natur der Sache]“.130 Ihm geht es vor allem um bessere Begründungen und eine Verbindung mit der tatsächlichen Entscheidungspraxis: „Dogmatisches Denken [wird] irrational, wenn es seine Abhängigkeit vom fall- und lebensbedingten Vorverständnis sowohl der Konfliktsfrage als auch der positiven Norm nicht bewußt macht“.131 Die dogmatische Technik müsse deshalb „durchlässig“ bleiben „für die wirklich maßgebliche Gerechtigkeitstendenz, d.h. für die abwägenden Argumente, welche die Entscheidung tragen“.132 Simon (Fn. 10), 86 ff.; Ogorek (Fn. 33). Luhmann (Fn. 8), 187 f. 126 Simon (Fn. 10), 75 f. 127 Esser (Fn. 18), 137 ff. 128 Esser (Fn. 18), 159 ff; 161. 129 Esser, AcP 172 (1972), 97, 100. 130 Koch (Fn. 102), 183, 197 ff. 131 Esser (Fn. 129), 101. 132 Esser (Fn. 129), 113 f. 124
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In Esser Berufung auf den Konsens, in dem sich das „gesellschaftliche Bewusstsein“ ausdrücken soll, fehlt aber eine Vorstellung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Unterschieden.133
2. Politik und Offenlegung gesellschaftlicher Konflikte statt „Objektivität“? Wollte man anstelle der „Immunisierung“ des Rechts „durch die Figur eines Mustermenschen“ die gesellschaftlichen Konflikte, die sich in zivilrichterlichen Entscheidungen verbergen, offenlegen bzw. gestalten, wäre zunächst die Existenz gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Konflikte anzuerkennen.134 Eine solche Politisierung von Leitbildern hatte im Verbraucherrecht in den 1990er Jahren stattgefunden. Dort trat eine Vorstellung vom „unaufmerksamen“ und/oder „schwachen Personen“, die in einem rechtspolitischen Zusammenhang mit sozialstaatlichem Schutz stand,135 gegen das Leitbild des „mündigen“ Verbrauchers an, das mit der Idee einherging, ein angemessener Interessenausgleich könne über Markt und Wettbewerb gewährleistet werden.136 Am Ende setzte sich überwiegend der vor allem vom europäischen Recht vorangetriebene marktorientierte Schutz durch.137 Auch die erwähnte Entscheidung über die Gartenaufenthalte behinderter Menschen hat eine deutlich politisierte Diskussion ausgelöst; sie wurde am Ende aber nicht mehr über das Leitbild geführt.138 Hier spielte die Einbeziehung grundrechtlicher Wertungen (hier: Art. 3 Abs. 3 GG) eine wichtige Rolle in der „Neutralisierung“ der Politisierung. Sie ermöglichte es insbesondere, die Interessen der behinderten Menschen besser zu verstehen und rechtlich zu konzeptionalisieren. Die wichtige Frage des gesellschaftlichen Kontakts und Verhältnisses zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen wurde jedoch auch im grundrechtlichen Kontext nicht explizit thematisiert.
3. Die konkrete andere Dritte In der Regel findet die Entscheidungstätigkeit der Zivilgerichte jedoch außerhalb politisierter oder grundrechtlich thematisierter Kontexte statt.139 Um mit der Denk-
Koch (Fn. 102), 201. So liest Barnert (Fn. 22), 34 ff., die Thesen von Limbach (Fn. 20), dort 40 ff. 135 Weitnauer, Der Schutz der Schwächeren im Zivilrecht, 1975, 15 ff.; Reifner, Neue Formen der Verbraucherrechtsberatung, 1988, 20 ff.; zur Debatte vgl. auch Dick, Das Verbraucherleitbild in der Rechtsprechung, 1995; Kocher, VuR 2000, 83 ff. 136 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher – Systemkonforme Weiterentwicklung oder Schrittmacher der Systemveränderung?, 1983; Groener/Köhler, Verbraucherschutzrecht in der Marktwirtschaft, 1987. 137 Siehe auch die Nachzeichnung bei Barnert (Fn. 22), 185 ff. 138 Zur Diskussion m.w.N. siehe oben Fn. 80 ff. Vgl. auch Wassermann, Nicht das Urteil ist der Skandal, sondern der Aufruf zum Widerstand, NJW 1998, 730 ff. 139 Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Simon (Fn. 10), 170 f., eine „offenkundige Unsicherheit über die Aufgabendefinition der ordentlichen Gerichte“ diagnostizierte. 133
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figur der Objektivität „Begründungen offen[zulegen]“140 oder durch „bessere Informationsverarbeitung“ vielleicht „kein rationales Ergebnis [zu] garantieren, aber eine gewisse Durchsichtigkeit [zu] gewinnen“,141 müsste man jeweils genauer wissen, wo Begründungen liegen können, welche Informationen also von Interesse sein könnten. Die feministische Rechtstheorie hat hier Denkangebote zu machen. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, konkret nach Nachteilen und Exklusion aufgrund des Geschlechts zu suchen. Solche Analysen werden bei der „unterkomplexen“,142 weit von öffentlich ausgetragenen gesellschaftlichen Konflikten entfernt stattfindenden Konstruktion zivilrechtlicher Objektivität schwer fallen. Anzuknüpfen wäre vielmehr an feministischen Strategien der Hinterfragung von Objektivität, wie sie in Bezug auf die Rechtswissenschaft einerseits und das Rechtssubjekt andererseits formuliert worden sind.143 Jenseits einer „geschlechtsspezifischen Standpunkttheorie“144 steht dabei meist die Kritik an der Figur eines autonomen Rechtssubjekts, das von gesellschaftlichen Bedingungen und persönlichen Beziehungen abstrakt gedacht wird, im Mittelpunkt145 – einer Figur, die historisch in Abgrenzung zur Figur der von ihrem Körper abhängigen Frau entwickelt wurde.146 Das französische Gesetz zur tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter von 2014 greift also zu kurz, wenn es den „bon père de famille“ schlicht durch „raisonnable“ ersetzt.147 Vielmehr wäre genauer nach dem zu fragen, was verloren geht, wenn nicht nur Rechtssubjekte, sondern auch die Figur der verallgemeinerten „eingebildeten“ Dritten abstrakt statt konkret gedacht werden.148 Die Frage, wie konkrete gesellschaftliche Beziehungen Eingang in solche abstrakten Konzepte finden könnten, erinnert an die Kritik Otto von Gierkes an der Figur des „ordentlichen Hausvaters“; es sei eine „seltsame Zumutung“, vom „Studierenden auf der Universität“, vom „Gesellen in der Werkstatt“ zu verlangen, sich „zum Vater [zu] träumen“: „Mit der Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters muß die Schauspielerin ihren Engagementsvertrag erfüllen, die Ballettänzerin tanzen, die Köchin kochen und die Markteinkäufe besorgen.“149 Müsste diese Kritik nicht weiter getrieben und auch gegen andere Begriffe des objektiven und eingebildeten Dritten gerichtet werden? Eckert (Fn. 21), 131. Simon (Fn. 10), 118 f. 142 Derleder, KJ 2009, 99. 143 In Bezug auf die Rechtswissenschaft insbesondere schon Limbach (Fn. 4), 169 ff.; Baer in: Kreuzer (Hrsg.), Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, 9; Mangold, Positionalität in der Rechtsphilosophie, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, November 2017. 144 So der (kritisch verwendete) Begriff von Baer, KritV 77 (1994), 154 (156). Für eine Zusammenfassung der möglichen Kritikperspektiven siehe Bartlett, Harvard Law Review 103 (1989), 829 ff. Vgl. auch Kocher, ad legendum 2017, 280 ff. 145 Baer (Fn. 143), 9, 13 ff. 146 Ausführlich Maihofer, Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, 1995, 109 ff.; Benhabib/Cornell (10 ff ) und Young (67 ff.), in: Benhabib/Cornell (Hrsg.), Feminism as Critique, 1987. 147 Art. 26 Loi n° 2014-873 du 4 août 2014 pour l’égalité réelle entre les femmes et les hommes. 148 Benhabib, in: List/Studer (Hrsg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, 1989, 454 ff.; vgl. auch Sacksofsky, ZRP 2001, 413 (416). 149 von Gierke (Fn. 64), 39, zu § 144 des Entwurfs. 140 141
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Dass auch ein objektiver Maßstab gesellschaftlich differenzieren kann, ist an sich keine neue Erkenntnis. Auch das Reichsgericht meinte schon, für den „einfachen Bierbrauer auf dem platten Lande“ müssten andere Anforderungen für den Umgang mit Wertpapieren gelten als zwischen Kaufleuten und Bankiers.150 Kathrin Klett hat gezeigt, dass die Schweizerischen Gerichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die späten 1940er Jahre recht subjektiv-konkrete Beschreibungen des allgemeinen Publikums entwickelten: „Die Detailkäufer würden [z.B.] in der großen Mehrzahl aus Hausfrauen, Kindern und Dienstboten bestehen, an deren Unterscheidungsvermögen nicht allzu große Anforderungen gestellt werden könnten, die gewohnt seien, auf ein Stichwort hin ihre Einkäufe zu machen.“151 In der bundesdeutschen Rechtsprechung lässt sich ähnliches nachweisen.152 So meinte das LG Berlin anlässlich der Bewertung eines Schuldanerkenntnisses zwischen einem Richter und einem ordentlichen Professor an der Juristischen Fakultät der Universität P., es sei „nahezu undenkbar, dass derart qualifizierte Urheber, mögen sie auch überwiegend auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts tätig sein, irgendwelche Fehlvorstellungen mit dem Begriff Schuldanerkenntnis verbinden bzw. umgekehrt nicht in der Lage gewesen wären, eine Tilgungsanweisung oder deren Bestätigung mit der erforderlichen Eindeutigkeit schriftlich abzufassen.“153 Mag es der Zivilkammer eines Landgerichts nur wenig abverlangen, sich in zwei Öffentlich-Rechtler hineinzuversetzen – bei dem Versuch, die „Verständnismöglichkeit des Durchschnittsarbeitnehmers“154 oder ähnlicher Bevölkerungsgruppen zu erfassen, kommen auf die Rechtsanwender *innen evtl. größere Herausforderungen zu. Dieser stellen sich einige Zivilgerichte durchaus. So erlaubte das AG Ibbenbüren im Jahre 2005 einem Vater von zwei Kindern die Anfechtung des Kaufs eines Brockhaus-Lexikons. Auch das Amtsgericht verrät uns zwar nichts darüber, woher es die „Lebenserfahrung“ hat, die dafürspreche, dass es „nicht ohne manipulativen Eingriff in die Willensbildung […] gelungen sein kann“, „einem Türken, der nur sehr gebrochen Deutsch spricht und dessen Kinder die Haupt- oder Realschule besuchen, ein 18-bändiges Lexikon [zu verkaufen].“ Es nutzt diese aber mit detailreicher Sach verhaltsbewertung zur Entwicklung einer Figur des „gutwilligen, aber völlig sach unkundigen Vaters“.155
4. Situiertes Wissen und Positionalität als Strategie Das wirksamste und gefährlichste „Attentat“ auf den „neutralen Beobachter“156 hat die postmoderne Soziologie unternommen. Sie steht u.a. für die Erkenntnis, dass es immer nur lokales, kontextgebundenes Wissen, nur „kleine Erzählungen“ geben RGZ 95, 16. Klett (Fn. 25). 152 Barnert (Fn. 22), 161 ff. 153 LG Berlin, 17.11.2004 – 28 O 59/04, NJW 2005, 993 f. 154 BAG, 22.3.2017 – 5 AZR 425/16, BeckRS 2017, 120605. 155 AG Ibbenbüren, 25.2.2005 – 3 C 514/04, NJW 2005, 2464. 156 So die verschwörungstheoretisch angehauchte Abwehr durch Sloterdijk, Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, 2010, 141. 150 151
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könne.157 Nicht nur in den „großen Erzählungen“ abstrakter Gerechtigkeit, sondern auch in alternativen Gegenentwürfen zu diesen, lässt sich danach immer Macht und Politik erkennen; alle Perspektiven lassen sich so als „power moves“ interpretieren.158 Daran anknüpfend hat Donna Haraway für die Wissenschaftstheorie die Konzeption „situierter Wissensbestände“ herausgearbeitet.159 Dass sie damit am Anspruch einer (feministischen) Objektivität festhält, macht ihren Ansatz für die Rechtswissenschaft besonders interessant. Um Objektivität „situiert“ verwirklichen zu können, bedürfe es einer Fähigkeit, Wissensbestände in sehr unterschiedlichen (und ungleich mit Macht ausgestatteten) kollektiven/gesellschaftlichen Zusammenhängen („communities“) zu erahnen und für die jeweils anderen zu übersetzen.160 Dies sei nicht Ausdruck von Relativismus, sondern einer präzisen Verortung von Wissen in konkreten Körpern („accountable objectivity“). Zur machtsensiblen Kommunikation gehöre auch, dass die Objekte des Wissens als Akteure vorgestellt werden.161 Katharina T. Bartlett, die diese Grundsätze unter dem Begriff der Positionalität für die Rechtswissenschaft weiterentwickelt hat, betont ebenfalls die Notwendigkeit des selbstkritischen Hinterfragens, der Vorläufigkeit und Erfahrungsbasiertheit jeder Wahrheit.162 Wenn Positionalität allerdings im Feld der Rechtspraxis und damit der Entscheidung wirksam werden soll, muss die Reflektion aus der Rolle der Beobachterin163 in die der Teilnehmerin geführt werden. Dann geht es nicht mehr in erster Linie um Fragen des Wissens und der Wahrheit, sondern um Normativität und um die Ausübung von „Gewalt“, die Personen „anvertraut“ ist (§ 1 GVG; Art. 92, 1. Hs. GG). Während der Ansatz der Positionalität davon ausgeht, unterschiedlich situierte Wissens- (und Wollens-)Bestände ließen sich nebeneinander setzen, impliziert jede Entscheidung eine Entscheidung für eine Position. Normative Diskurse, die auf Entscheiden orientieren, enthalten deshalb anders als Wahrheitsdiskurse auch das Abwägen zwischen Positionen, Entscheidungen zwischen Alternativen, die Hierarchisierung von Werten.164 Das Konzept der Positionalität müsste für die Rechtspraxis also reformuliert und übersetzt werden.
157 Kritisch aus feministischer Sicht Benhabib, Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, 1995, 223 ff. in ihrer Auseinandersetzung mit Lyotards Abhandlung „Das postmoderne Wissen“. Vgl. Kocher (Fn. 5). 158 Haraway (Fn. 2), 575, 576, die dies als „verlockende Sichtweise“ beschreibt, aber dagegen auf einer „feministischen Version von Objektivität“ bestehen will (578). 159 Haraway (Fn. 2), 581: „Feminist objectivity means quite simply situated knowledges“; 583: „partial perspective“. 160 Haraway (Fn. 2), 580. 161 Haraway (Fn. 2), 590 ff. 162 Bartlett, Harvard Law Review 103 (1989), 829 ff.; vgl. Mangold (Fn. 143). 163 Vgl. die Kritik von Benhabib (Fn. 157), 230, Fn. 22 an Lyotards Begründung der Postmoderne. 164 Schweitzer, Zf RSoz 35 (2015), 201 (215).
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VI. Schlussfolgerungen 1. Rechtspraxis ohne Zentrum? Um die Machtverhältnisse und Abhängigkeiten, die mit der Behauptung von Objektivität und Neutralität notwendig verbunden sein müssen, aufzudecken, bedarf es einer machtkritischen und machtsensiblen Perspektive, die gleichzeitig anerkennt, dass gesellschaftliche Positionen beweglich sind: „Being a ‚woman‘ is to take up a position within a moving historical context and to be able to choose what we make of this position and how we alter this context“165 – dieser Satz gilt für jegliche gesellschaftliche Perspektive. Ein umfassender transformativer Anspruch setzt aber wohl eine grundlegend andere Rechtspraxis voraus – eine Praxis, die eine Vielheit von nebeneinanderstehenden Entscheidungen ermöglichen müsste. Der „Situiertheit“ von Wissen und Positionen kann die Rechtspraxis ohne den „god trick“ nur gerecht werden, wenn sie sich nicht als Gegenüber, sondern als (autonomen) Teil von gesellschaftlichen Prozessen verstünde, und wenn sie gesellschaftliche Vielfalt in der Vielfalt der Entscheidungen repräsentieren und verhandeln könnte – „pluralistische kollektive Rechtsauslegung“ in „diskursiven Verfahren“, wie sie den Fluchtpunkt z.B. von Daniel Loicks Rechtskritik bildet.166 Eine Rechtspraxis ohne Zentrum für das Bürgerliche Recht – wie ist das vorstellbar? In der Praxis der alternativen Konfliktlösung, in der transnationalen Rechtsentwicklung, in den unterschiedlichsten Arenen des privaten Rechtspluralismus werden aktuell inkrementell Maßstäbe für die Konfliktlösung entwickelt, die auf ein Zentrum verzichten.167 Allerdings: Diese Verfahren sind in unterschiedlicher Art und Weise selbst an gesellschaftliche Machtverhältnisse rückgebunden;168 es ist deshalb eher zweifelhaft, ob sie tatsächlich einen Ausgangspunkt für die Entwicklung reflexiver und transformativer Ansprüche darstellen können. Sie zeigen aber, wie ein Verzicht auf den „god trick“ in einer pluralen Rechtspraxis jedenfalls denkbar werden könnte.
2. Selbstreflexive und kritische Rechtspraxis Für die existierende Rechtspraxis hingegen ist der „god trick“ der objektiven Beobachterin eng mit dem Anspruch von Neutralität und Unabhängigkeit verbunden. Die Figur der Dritten stellt dabei – wie in den Überlegungen der „Soziologie des Dritten“ – den „missing link“ zwischen Interaktion und Institution dar; sie ermög Alcoff, Signs. Journal of Women in Culture and Society 13 (1988), 405 (435). Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, 2017, 326 ff.; 35; vgl. auch Kapur, Gender, Alterity and Human Rights. Freedom in a Fishbowl, 2018. 167 Merry, Law and Society Review 22 (1988), 869–896; Teubner, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255–290; Zumbansen, Transnational Legal Pluralism, in: Transnational Legal Theory, 2010, 141 ff.; Calliess/Zumbansen, Rough Consensus and Running Code. A Theory of Transnational Private Law, 2010; Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, 2015. 168 Siehe die Nachweise in der vorigen Fußnote oder die Beispiele bei Zajak/Kocher, KJ 2017, 310. 165
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licht es, Regeln von den involvierten Akteuren und ihre Perspektiven abzulösen und so zu institutionalisieren.169 Aber wie kann mit Hilfe dieser Figur das Postulat der Positionalität umgesetzt werden? Allein mit der Verwendung eines etwas komplexeren Bildes menschlichen Verhaltens, wie es die moderne Verhaltensökonomie vorschlägt,170 wird die fundamentale gesellschaftliche Hohlheit des eingebildeten Dritten schließlich nicht gefüllt werden können: Das von den Dritten „inspirierte Lösungsmuster“ ist „zu grobmaschig und grobschlächtig“,171 „zu schwach, um die konfliktverarbeitenden Begründungen kundzutun“.172 Etwas leistungsfähiger als die bürgerlichrechtlichen Kategorien sind die Grundrechte – jedenfalls soweit es um „Anforderungen und Bewertungen unmittelbar aus der Sozialverfassung“ geht.173 Eine grundrechtliche Debatte, die in der Lage wäre, eine große Vielfalt gesellschaftlicher Positionen in ihrer Dynamik zu thematisieren, setzt aber ein hohes Maß an Verständnis gesellschaftlicher Prozesse voraus – also die (Selbst‑)Reflexivität, die für Positionalität „im Kontext“ erforderlich wäre. Wie aber unterscheidet sich diese Reflexivität von einer allgemeinen gesellschaftlich-historischen Verortung des Dritten unter Bezug auf gesellschaftliche Konfliktlagen? Schon Esser hatte ja ein „Reflexivwerden des Wertens“ in „mehreren Ebenen der Entscheidung“ eingefordert; dies beziehe die „Vorstellungen aus der Komplexität des Erwartungszusammenhangs“ ein und erkenne die Eigenverantwortlichkeit der Wertung an.174 Auch die strukturierende Rechtslehre, die Erkenntnisse kulturwissenschaftlicher Forschung für die Rechtsdogmatik fruchtbar zu machen sucht, hat solche Ansprüche gesellschaftlicher Reflexivität formuliert und methodisch konkretisiert:175 „Die strukturierende Methode bietet dem Rechtsarbeiter […] die Möglichkeit, seine Arbeit mit ihrer Hilfe kritisch zu reflektieren und sie unter Berücksichtigung seiner Aufgabe im demokratischen Rechtsstaat zu strukturieren.“176 Eine Verortung von Selbstreflexivität „im Kontext“ und mit Hilfe von Positionalität bringt jedoch darüber hinaus einen kritischen Blick auf gesellschaftliche Konflikte, Macht- und Hegemonieverhältnisse mit sich – den Blick auf die sozial strukturierenden und organisierenden Praktiken u.a. der Vergeschlechtlichung und die Rolle des Rechts in diesem Kontext.177 Sie können dem „elitären Missverständnis“ entgegen gehalten werden, man könne aus dem moralischen Anspruch des „verständigen Rechtsgenossen“ „dessen Fähigkeit ableiten, im Falle widerstreitender Wertan Unter Berufung auf Georg Simmels Soziologie des Dritten: Fischer (131–160) und Bröckling (161– 183), in: Bedorf/Fischer/Lindemann (Hrsg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, 2010, 144 ff.; 166 f. 170 Vgl. die Hinweise von Barnert (Fn. 22), 27. 171 Limbach (Fn. 20), 95. 172 Derleder, KJ 2009, 99 in der Rezension von Barnerts Buch. 173 Siehe schon Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, 1965, 8 ff. 174 Esser (Fn. 18), 194 f. 175 Laudenklos, KJ 1997, 143. Zur Strukturierenden Rechtslehre siehe auch unten Fn. 185. 176 Laudenklos (Fn. 175), 152 – im Unterschied zur Topik, die lediglich „die Vielzahl der bei der Entscheidungstätigkeit eingeführten ‚unjuristischen‘ ‚Topoi‘ ans Licht zerrt“ (Simon (Fn. 10), 77 f.). 177 Lorber, Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 2004, 9 ff., zitiert bei Büchler/ Cottier, Legal Gender Studies. Eine kommentierte Quellensammlung, 2012, 416 ff.; vgl. auch Baer, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 2015, § 4, Rn. 200 f. 169
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sichten gesellschaftlicher Gruppen den Weg zu einem Einverständnis […] zu ebnen“.178 Eine dynamisch und transformativ verstandene Positionalität müsste auch Entwicklungen und mögliche Bewegungen in der gesellschaftlichen Konstruktion sozialer Verhältnisse sichtbar machen.179
3. Ausbildung für kritische Objektivität als Positionalität Der Denkaufgabe der Objektivität muss sich jede Rechtspraxis stellen. Auf die hierfür erforderliche kritische Reflexivität sind allerdings weder die juristische Ausbildung noch Rechtswissenschaft oder Rechtspraxis vorbereitet. Und weder in Ausbildung und Prüfung ist auch nur das eingelöst, was schon Esser formuliert hatte: „auch der schulmäßig zu lösende Fall muß genügend Spielraum für Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitsüberlegungen lassen und deutlich machen, daß der Bearbeiter nicht hilflos auf begrifflichen Zwang reagieren muß.“180 Die Monokultur der leeren Objektivität überlässt die tatsächlichen Entscheidungsfindungsprozesse einem unreflektiert bleibenden „Judiz“. Auch heute noch lohnt sich zu betonen: „[N]ur eine breite, an rechtlich relevanten Sozialkonflikten orientierte und wissenschaftstheoretisch fundierte sozialwissenschaftliche Ausbildung kann den Richter herausführen aus der Position des hilflos und unzufrieden eingeklemmten Staatsdieners zwischen Gutachten, Lehre und Rechtsprechung und einer unverstandenen Sozialwelt.“181 Ausreichend ist dies jedoch nicht. Die behauptete Homogenität gesellschaftlicher Perspektiven in Positionalitäten aufzulösen, wird umso schwieriger, je höher die soziale Homogenität des Personals des Rechtssystems ist – je geringer also die Vielfalt gesellschaftlicher Positionen ist, die von denjenigen Menschen, die im Rechtssystem Macht ausüben, erfahren wurde. Die unverstanden bleibenden Selektionsprozesse von Studium182 und Prüfung183 deuten darauf hin, dass diese Homogenität auch in der Ausbildung hergestellt wird – und diese Prozesse stellen die gesellschaftliche Legitimität der Rechtspraxis dramatisch in Frage. Umso wichtiger wäre es, Methoden zu entwickeln, die es ermöglichen, eine Vielfalt möglicher Perspektiven zu entdecken und zu finden.
Limbach (Fn. 20), 98. Benhabib (Fn. 157), 223 ff., 270. 180 Esser 172 (1972), 97, 127. 181 Simon (Fn. 10), 124 ff. 182 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider, Die Ursachen des Studienabbruchs in den Studiengängen des Staatsexamens Jura, DZHW Projektbericht September 2017. 183 Glöckner/Towfigh/Traxler, Abschlussbericht „Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2016“ für das Ministerium der Justiz in Nordrhein-Westfalen, 7. Dezember 2017; dies., ZDRW 2018, 115 ff. 178
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4. Zusammenfassendes Fazit Dieser Text sammelte mit dem Hilfsmittel der Collage die Anregungen, die der (Zivil‑)Justiz aus einer Kritik der Figur des eingebildeten Dritten erwachsen, mit der sie ihre Entscheidungen immunisiert. Er geht davon aus, dass wie das Konstrukt des homo juridicus auch sein kritischer Gegenentwurf nicht der Wissenschaft, sondern der Praxis dienen muss.184 Ausgangspunkt der Kritik war deshalb die Methode der tatsächlichen Entscheidungspraxis.185 Und deren Analyse zeigt, dass die Leistungsfähigkeit des eingebildeten Dritten, die Barnert so virtuos beschreibt,186 sich in der Rechtspraxis nicht verwirklichen kann, da es an einer „vertiefte[n] Reflexion, wer wie über was schreibt“,187 fehlt. Die feministische Rechtswissenschaft kann Anregungen dazu liefern, was es heißen könnte, Praktiken einer selbstreflexiven Positionalität zu entwickeln.
Hutter/Teubner (Fn. 13), 117 begründen dies systemtheoretisch. So auch Esser (Fn. 173), 3: „die Methode der Praxis analysieren und begreifen.“; Esser 172 (1972), 97, 108. Zu entsprechenden Anliegen der Strukturierenden Rechtslehre siehe Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997; Müller/Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. Berlin 2013, 46 ff. 186 Barnert (Fn. 22), 242: „lebenstüchtig und von großem Nutzen“; „erlaubt es […] (wenigstens theo retisch), gleichartige Fälle gleich zu behandeln.“ 187 So die Umschreibung von Positionalität in der Rechtswissenschaft bei Mangold (Fn. 143). 184 185
Politische Gleichheit: demokratietheoretische Überlegungen1 von
Prof. Dr. Friederike Wapler (Mainz) Inhalt I. Politische Gleichheit als Gleichheit in der demokratischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 1. Gleiche Mitwirkung an politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen . . . . . . . . . 429 2. Demokratische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 3. Formale politische Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 4. Formale Gleichheit und tatsächliche Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 5. Repräsentation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 II. Verwirklichung politischer Gleichheit durch faire Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 1. Non-pluralistische Repräsentationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 2. Der Gedanke der Spiegelbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 3. Kritik an spiegelbildlichen Repräsentationskonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 4. Repräsentation jenseits der Spiegelbildlichkeit: Meinungen, Interessen, Wertvorstellungen, Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 5. Repräsentation als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 6. Repräsentationsdefizite und Strategien zu ihrer Beseitigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 III. Gleiche Chancen auf politische Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 1. Demokratische Öffentlichkeit als Kommunikationsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 2. Plurale öffentliche Räume und „Gegenöffentlichkeiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 3. Öffentliche und private Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 4. Freiheit, keine Pflichten zur Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 5. Ungleiche Partizipationschancen und aktive Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 IV. Fazit: Pluralistische Öffentlichkeit(en) als zukunftsoffenes Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
1 Für die Diskussion früherer Versionen dieses Beitrags danke ich Susanne Baer, Elisabeth Holzleithner und Daniela Schweigler.
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„Fordert das Stimmrecht“, riet Hedwig Dohm den deutschen Frauen im Jahr 1876, „denn nur über das Stimmrecht geht der Weg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau.“2
Dohm, neben Minna Cauer und Anita Augspurg eine der Wortführerinnen der Bewegung für das Frauenstimmrecht in Deutschland, war der Zusammenhang zwischen Freiheit und politischer Gleichheit wohl bewusst. Immer wieder spornte sie die Frauenbewegung an, nicht nur mehr Bildung und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen zu fordern, sondern die Gleichstellung in den staatsbürgerlichen Rechten. Denn: „Die Gesetze, an denen sie [die Frauen] am meisten interessiert sind, sind gegen sie, weil ohne sie.“3
Die Forderung nach Gleichheit in den staatsbürgerlichen Rechten galt innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung als radikal.4 Das Wahlrecht zu verlangen, zielte auf den wesentlichen Grundpfeiler der Teilhabe am Gemeinwesen und rüttelte damit auch an der traditionellen Beschränkung der Frauen auf die private Sphäre. Die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland vor 100 Jahren war denn auch eine staats- und demokratietheoretische Zäsur, die im vergangenen Jahr zu Recht vielfach öffentlich gewürdigt wurde. Umso mehr erstaunt, wie wenig die Auseinandersetzungen der feministischen Rechts- und Geschichtswissenschaft bis heute in der allgemeinen verfassungsrechtlichen und rechtshistorischen Literatur rezipiert werden.5 Das Spannungsfeld, das sich auch, aber nicht nur in Deutschland bis in das 20. Jahrhundert auftat zwischen einer auf einen einheitlichen Volkswillen ausgerichteten Vorstellung demokratischer Repräsentation einerseits und den Realitäten ungleicher politischer Teilhabe andererseits,6 lässt nicht nur vergangene Widersprüche demokratietheoretischer Begründungsmuster erkennen. Die „Frauenfrage“,7 die Dohm und andere im Kampf um das Stimmrecht stellten, ist keine historische Marginalie – immerhin betrifft sie gut die Hälfte der Bevölkerung –, sondern ein paradigmatisches Beispiel für die vielfältigen Machtfragen, die sich in jeder Demokratie stellen, in der es Mehrheiten und Minderheiten sowie lautere und leisere Stimmen gibt, die um politischen Einfluss ringen.8 Bis heute muss sich eine Theorie der politischen Mitwir Dohm, Der Frauen Natur und Recht, 1876, 183. Dohm, Der Jesuitismus im Hausstande, 1873, 166. 4 Vgl. Wapler, Die Geschichte der Frauen im Recht, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 17, 21. 5 Nw. bei Wapler (Fn. 4), § 1 Rn. 2; siehe aber grundlegend Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: dies. (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997, 509 ff.; Cress, Feministische Repräsentationskritik: (Dis-) Kontinuitäten von den ersten Frauenbewegungen bis in die Gegenwart, femina politica 2018, 25 (28 ff.). Anlässlich des Jubiläums im Jahr 2018 sind auch in einigen juristischen Zeitschriften Überblicksdarstellungen erschienen, etwa Martens, Kurze Geschichte der Frau im Recht, Jura 2018, 1191 ff.; Hähnchen/ Behrenbrink, Von Scherzfragen, hübschen Larven und männerzerfleischenden Bestien, NJW 2018, 3363 ff. 6 Neben dem Wahlrecht sind hier vor allem Ausschlüsse von der höheren Bildung und Erwerbstätigkeit, insbesondere auch den juristischen Berufen, zu nennen, vgl. Wapler (Fn. 4), § 1 Rn. 22. 7 Siehe auch die Äußerung von Augspurg, die „Frauenfrage“ sei „in allererster Linie […] Rechts frage“, vgl. dies., Gebt acht, solange noch Zeit ist!, in: Die Frauenbewegung 1 (1885), 4. 8 Zur Verallgemeinerungsfähigkeit vieler Erkenntnisse der (auch juristischen) Geschlechterfor2 3
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kungsrechte der Frage stellen, was Gleichheit angesichts vielfältiger Lebensverhältnisse bedeutet, und unter welchen Umständen speziell die politische Gleichheit als verwirklicht gelten kann.
I. Politische Gleichheit als Gleichheit in der demokratischen Öffentlichkeit Der Begriff der politischen Gleichheit bezieht sich auf gleiche Mitwirkungsmöglichkeiten an der öffentlichen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Als wesentliches Merkmal einer demokratischen politischen Ordnung kann sie auch als „demokratische Gleichheit“ bezeichnet werden.
1. Gleiche Mitwirkung an politischen Meinungsbildungsund Entscheidungsprozessen Der Anspruch auf politische Gleichheit ergibt sich staatstheoretisch unmittelbar aus der allgemeinen Menschengleichheit, die im Ausgangspunkt als Gleichordnung und damit als Freiheit von Unterwerfung gedacht werden muss. So beschrieb etwa John Locke die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen als „[…] jenes gleiche Recht eines jeden auf seine natürliche Freiheit, ohne dem Willen oder der Autorität eines anderen Menschen unterworfen zu sein.“9
Aus dieser ursprünglichen Gleichordnung der Menschen folgt in der Tradition der auf klärerischen Philosophie das Postulat der Volkssouveränität, d.h. der maßgeblichen Entscheidung des Volkes über seine Regierung sowie über die Gesetze, denen es sich unterwirft.10 Wie auch immer man die demokratische politische Ordnung im Einzelnen ausgestaltet, so verlangt sie doch jedenfalls den gleichen Zugang zu und gleiche Teilhabe an den Verfahren der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.11 Verfassungsrechtlich konkretisiert sich dieser Grundgedanke in dem allgemeinen aktiven und passiven Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1, 2 GG), der Parteienfreiheit (Art. 21 GG) sowie in Grundrechten wie der Meinungs- und Pressefreiheit schung auf andere Differenz- und Machtverhältnisse siehe z.B. Baer, Inklusion und Exklusion. Perspektiven der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft, in: Verein ProFRI (Hrsg.), Recht Richtung Frauen. Beiträge zur feministischen Rechtswissenschaft, 2001, 33 (44 f.); s.a. die Einleitung in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 21 (22 f.), sowie Holzleithner, Recht Macht Geschlecht. Einführung in die Legal Gender Studies, 2002; mit öffentlich-rechtlichem Schwerpunkt Rudolf, Feministische Staatswissenschaft?, in: dies. (Hrsg.), Geschlecht im Recht, 2009, 63 ff. 9 Locke, Über die Regierung (1690), übers. v. Tidow, hrsg. v. Meyer-Tasch, 1992, § 54. 10 Vgl. Locke (Fn. 9), §§ 136, 141; Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762), übers. und hrsg. v. Brockard und Pietzecker, 1986, Buch II, Kap. 6, 39 ff.; Kant, Metaphysik der Sitten (1797/1798), Werkausgabe VIII, hrsg. v. Weischedel, 1977, § 46, A 166, B 196. 11 Aus demokratietheoretischer Perspektive Phillips, The Politics of Presence. The Political Representation of Gender, Ethnicity, and Race (1995), Nachdr. 2003. Für das deutsche Verfassungsrecht vgl. die st. Rspr. d. BVerfG, s. z.B. BVerfGE 120, 82 (102); 121, 266 (295); 123, 267 (341).
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(Art. 5 Abs. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), die neben dem Aspekt der individuellen Entfaltung gerade auch den kommunikativen demokratischen Prozess schützen.12
2. Demokratische Öffentlichkeit Politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung sind öffentliche Vorgänge in mehrfachem Sinne: Sie betreffen Angelegenheiten der politischen Gemeinschaft und unterscheiden sich dadurch von privaten Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen. Zudem finden sie in öffentlichen oder halböffentlichen Foren statt und sind insofern etwas anderes als private Diskussionen, auch wenn diese ebenfalls politische Gegenstände betreffen können. Wie ein solcher Raum der öffentlichen Kommunikation in einer Demokratie theoretisch zu denken ist, wer Zugang zu ihm hat, welche Themen verhandelt werden und welche Regeln dort gelten (sollen), wird am Ende dieses Beitrags noch ausführlich zu erörtern sein (unten III). Für den Moment bleibt festzuhalten, dass sich der Begriff der politischen Gleichheit wesentlich auf Gleichheitsansprüche in der demokratischen Öffentlichkeit13 bezieht.
3. Formale politische Gleichheit Politische Gleichheit als Gleichheit in der demokratischen Öffentlichkeit verwirklicht sich – wie der allgemeine Gleichheitsanspruch auch14 – zuallererst in der formalen Gleichheit aller vor dem Gesetz, insbesondere im aktiven und passiven Wahlrecht, aber auch in dem gleichen Recht, Parteien zu gründen und sich in ihnen zu engagieren, sowie den bereits erwähnten kommunikativen Grundrechten.15 In der Demokratiegeschichte war und ist die formale Wahlrechtsgleichheit weltweit umkämpft. Bis heute haben Frauen in Saudi-Arabien ein Wahlrecht nur für die Kommunalwahlen.16 Nicht übersehen werden sollte auch, dass das preußische Dreiklassenwahlrecht mit seiner eklatanten Ungleichbehandlung aufgrund des sozialen Status ebenfalls bis 1919 galt.17 Rechtsvergleichend sind vor allem die Ausschlüsse der indi12 St. Rspr. d. BVerfG, vgl. nur die Leitentscheidungen BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth (Meinungsfreiheit); BVerfGE 69, 315 (347) – Brokdorf (Versammlungsfreiheit); BVerfGE 144, 20, Rn. 511 ff. – NPD-Verbot (Parteienfreiheit); BVerfGE 123, 167 (340) – Lissabon (Wahlrecht); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 20 Rn. 76 ff.; Kotzur, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG II, 182. Akt. 2018, Vor Art. 38–49 Rn. 42. 13 Zu diesem Begriff siehe Ingold, Digitalisierung demokratischer Öffentlichkeiten, Der Staat 56 (2017), 491 (498 ff.). 14 Vgl. hierzu Wapler, Gleichheit angesichts von Vielfalt im philosophischen und juristischen Diskurs, VVDStRL 78 (2019), 53 (60), i.E. 15 Siehe die Nw. in Fn. 12. 16 Eingeführt 2015; im Vatikan wird der Papst als Staatsoberhaupt bis heute ausschließlich von den Kardinälen unter 80 Jahren gewählt. Vgl. zu internationalen Entwicklungen auch Bock, 100 Jahre Frauenwahlrecht. Deutschland in transnationaler Perspektive, ZfG 66 (2018), 395 ff. 17 Vgl. Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, 2017, 237 ff.
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genen und der afroamerikanischen Bevölkerung in der Geschichte der USA, aber auch in anderen von Kolonialherrschaft und Sklaverei geprägten Staaten zu nennen.18 Auch heute wird die formale Wahlrechtsgleichheit in Deutschland beschränkt: Ausgeschlossen bleiben die meisten Minderjährigen und ausländischen Staatsangehörigen sowie diejenigen Erwachsenen, die vollständig unter Betreuung stehen (§ 13 Nr. 2 BWahlG). Alle diese Einschränkungen betreffen die politische Gleichheit unmittelbar: Der Status der ausländischen Staatsangehörigen bezieht sich auf die Voraussetzungen, unter denen jemand als dem Volk und damit dem Subjekt demokratischer Repräsentation zugehörig gedacht wird. Die Einschränkungen aufgrund von Minderjährigkeit und Betreuung werfen die Frage auf, welches Maß an rationalem Urteilsvermögen für die Wahlentscheidung vorauszusetzen ist, und ob diese Fähigkeit bestimmten Personengruppen pauschal abgesprochen werden darf.19 Hier besteht ein politischer Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum, der unterschiedlich genutzt wird: Mit dem kommunalen Wahlrecht der Unionsbürger/innen wird die Beschränkung auf deutsche Staatsangehörige durchbrochen (Art. 22 Abs. 1 AEUV, Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG).20 Weitergehende Überlegungen, zugewanderte Personen auch ohne die Einbürgerung an Wahlentscheidungen zu beteiligen, haben sich bislang nicht durchgesetzt.21 Viele Bundesländer haben den in Art. 38 Abs. 2 GG kategorischen Ausschluss aller Minderjährigen durch abgesenkte Altersgrenzen bei den Kommunal- und Landtagswahlen entschärft.22 Ein Wahlrecht „ab Geburt“, das stellvertretend durch die Eltern auszuüben wäre, wird wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit („one man, one vote“) hingegen zu Recht weithin abgelehnt.23 Nach Kritik des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen werden im Bundestag derzeit mehrere Gesetzentwürfe diskutiert, die auch den bisher ausgeschlossenen Menschen, die in allen Angelegenheiten unter Betreuung stehen, das Wahlrecht einräumen sollen.24 18 Sacksofsky, Wer darf eigentlich wählen? Wahlberechtigung in den USA und Deutschland, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 79. Geburtstag, 2013, 313 ff. Zur Entwicklung des Wahlrechts in den USA siehe auch Richter (Fn. 17). 19 Siehe hierzu zuletzt BVerwG NJW 2018, 3328, juris Rn. 14; BVerfG, 29.1.2019, Az. 2 BVC 62/14. 20 Krit. zu dem Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, JZ 1989, 257 ff.; Foljanty, Demokratie und Partizipation, in: dies./Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, § 13 Rn. 7; Hanschmann, „Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende“ – eine rechtliche (Neu-)Bewertung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige, ZParlR 2009, 74 ff. 21 Die Beschränkung des Wahlrechts auf deutsche Staatsangehörige entspricht der st. Rspr. d. BVerfG, vgl. die beiden Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht BVerfGE 83, 37 (50) und BVerfGE 83, 60 (74 f.). Zu alternativen Modellen demokratischer Partizipationsrechte siehe die Nw. in Fn. 20 sowie ausf. Farahat, Progressive Inklusion, 2014, 247 ff., 362 ff., insb. 363. 22 Die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht zu den Landtagswahlen liegt in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein bei 16 Jahren. Für die Kommunalwahlen haben neben diesen Ländern auch Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt. Zur Verfassungsmäßigkeit der abgesenkten Altersgrenze bei den Kommunalwahlen BVerwG NJW 2018, 3328. 23 Vgl. Sacksofsky (Fn. 18), 327 f.; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im deutschen Recht, 2015, 550 ff. 24 BT-Drs. 19/3171 (FDP); 19/4560 (Grüne/Linke) sowie Lang, Inklusives Wahlrecht – ein Update,
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4. Formale Gleichheit und tatsächliche Ungleichheit Soweit das Recht die Menschen formal gleichbehandelt, führt dies nicht notwendig zu tatsächlicher Gleichheit. Im Gegenteil kann formal gleiches Recht immer dann, wenn es auf eine ungleiche Wirklichkeit trifft, tatsächliche Ungleichheit unberührt lassen oder verfestigen.25 Die faktischen Wirkungen formal gleichen Rechts dürfen darum in rechtlichen und auch in demokratietheoretischen Überlegungen nicht außer Acht gelassen werden. So wie jedes Recht nicht nur auf dem Papier stehen, sondern verwirklicht bzw. durchgesetzt werden soll, sind auch die Gleichheitsrechte auf ihre tatsächliche Umsetzung und damit auf materiale Gleichheit ausgerichtet.26 Materiale Gleichheit in diesem Sinne zielt darauf ab, Menschen als Gleiche zu behandeln, nicht aber notwendig auf gleiche Güterverteilung oder gar auf die substanzielle Angleichung von Eigenschaften.27 Denn „Gleichheit“ ist nicht dasselbe wie „Identität“: Menschen „als Gleiche“ zu behandeln, setzt weder identische Eigenschaften voraus, noch müssen die Individuen zwangsläufig identisch behandelt werden. Im Gegenteil verlangt eine Behandlung „als Gleiche“ gerade, bestehende Differenzen in Eigenschaften und Lebenslagen zu berücksichtigen. Materiale Gleichheit als „Gleichheit ohne Angleichung“28 in diesem Sinne dient darum in erster Linie dem gleichberechtigten Freiheitsgebrauch. Um diesen zu gewährleisten, können indessen materielle Voraussetzungen zu erfüllen sein. Wo die formale Gleichheit vor dem Gesetz auf ZRP 2018, 19 ff.; Palleit, Gleiches Wahlrecht für alle? Menschen mit Behinderungen und das Wahlrecht in Deutschland, Policy-Paper Nr. 8 des Deutschen Instituts für Menschenrechte, 2. Aufl., 2011. Zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen siehe auch Degener in diesem Band. Nach Fertigstellung dieses Beitrags hat das BVerfG die Regelung in § 13 Nr. 2 BWahlG für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, vgl. Beschl. v. 29.1.2019, Az. 2 BVC 62/14. 25 BVerfGE 49, 148 (165); 85, 191 (206 f.); aus der neueren Rechtsprechung BVerfG JZ 2018, 351, Rn. 60; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 4 01, 418 ff.; Grünberger, Das „generische Maskulinum“ vor Gericht, JZ 2018, 719 (721). Zu der tatsächlichen Durchsetzung der formalen Gleichheit siehe auch Sacksofsky und MacKinnon in diesem Band. 26 Deutlich betont das die Rechtsprechung z.B. in BVerfGE 97, 332 (347 f.); 104, 373 (393); 113, 1 (15); siehe im Übrigen auch die 1994 eingeführten Regelungen in Art. 3 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Zum Verhältnis von formaler und materialer Gleichheit auch Baer/Markard in: von Mangoldt/ Klein/Starck (Fn. 25), Art. 3 Rn. 362, 401, 418 ff.; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Hofmann/ Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 35; Rüfner in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG II, 182. Akt. 2018, Art. 3 Rn. 54; König/Peters in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK, GG, 2006, Kap. 21 Rn. 75 ff.; ausf. Baer, Würde oder Gleichheit, 1995, 235 ff. 27 Die in diesem Zusammenhang verbreiteten Ausdrücke „materielle“, „materiale“, „faktische“ oder „substanzielle“ Gleichheit werden uneinheitlich verwendet. Sie können sich sowohl auf die tatsächliche Übereinstimmung im Hinblick auf bestimmte Güter oder Merkmale oder aber auf die Ermöglichung gleichen Freiheitsgebrauchs beziehen. Zum Begriff der materialen Gleichheit im Sinne der Bedingungen der Möglichkeit gleichberechtigten Freiheitsgebrauchs, wie ich ihn hier verstehe, vgl. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Auflage, 1996, 351; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2019 (i.E., zit. n. Manuskript), 134 ff., sowie dies., Mehrdimensionale Diskriminierung. Potentiale eines materialen Gleichheitsverständnisses, ZRPhil 2016, 152 (161 f.); Zinsmeister, Gleichheit – Gerechtigkeit – Inklusion. Die Bildung in der Waagschale der Justitia, in: Ottersbach/ Platte (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten als Herausforderung für inklusive Bildung, 2016, 79 (81); siehe auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 67; Boysen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG I, 6. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 49 sowie Wapler (Fn. 14), 66 f. 28 So die mittlerweile klassische Formulierung von Gerhard, vgl. dies., Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, 1990.
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eklatant ungleiche Lebens- und Entfaltungschancen trifft, muss strukturellen Ungleichheiten aktiv entgegengewirkt werden. Die Gleichheitsrechte stellen damit immer auch die Frage nach den materiellen Bedingungen der Möglichkeit freier Entfaltung für alle Menschen. Über die formale Rechtsgleichheit hinaus ist daher zu fragen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Menschen ihre Rechte und Freiheiten in gleicher Weise wie alle anderen nutzen können. Dieser Zusammenhang besteht auch bei den politischen Freiheitsrechten: Verleiht Art. 38 Abs. 2 GG allen deutschen Staatsangehörigen über 18 Jahren das gleiche Recht, wählen zu gehen, so dürfen sie jedenfalls nicht aktiv daran gehindert werden, dieses Recht auch auszuüben, etwa indem man sie das Wahllokal nicht betreten lässt. Haben alle Menschen das gleiche Recht, sich wählen zu lassen, so muss der Weg zu einem politischen Mandat oder in ein politisches Amt allen in gleicher Weise offenstehen. (Formale) politische Gleichheit setzt also notwendig auch (material) gleiche Chancen voraus, sich an politischen Prozessen zu beteiligen und in politische Ämter gewählt zu werden. Betrachtet man die Zusammensetzung der deutschen Parlamente, scheinen Zweifel an der Durchsetzung dieses grundlegenden Gebots politischer Gleichheit nicht unberechtigt: Im aktuellen deutschen Bundestag sind 30,9 % der Abgeordneten Frauen. Dieser Anteil liegt immerhin deutlich über den 9,6 % nach den ersten Wahlen zur Nationalversammlung im Jahr 1919,29 ist im Verhältnis zu der vorangegangenen Legislaturperiode (36,5 %) aber spürbar zurückgegangen und erreicht nicht den Bevölkerungsanteil der Frauen von knapp 51 %.30 In den Parlamenten der Bundesländer bewegt sich der Frauenanteil zwischen 21,8 % in Sachsen-Anhalt und 39,8 % in Brandenburg.31 Kaum und erst recht nicht entsprechend ihres Bevölkerungsanteils vertreten sind u.a. auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte, mit einem niedrigen Bildungsabschluss und mit einer Behinderung.32 Allerdings ist es nicht unproblematisch, von dem Ergebnis der Verteilung auf eine Benachteiligung der weniger Begünstigten zu schließen. Dies gilt ganz besonders für die Ergebnisse von Wahlen. Denn grundsätzlich ist es Aufgabe und freie Entscheidung der politischen Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten für die Wahlen in demokratischen Verfahren aufzustellen, und die ebenfalls freie Wahl der Stimmberechtigten, aus diesem Angebot die Personen auszuwählen, die sie repräsentieren sollen. Das Ziel der Wahl ist die politische Mehrheit, nicht aber ein bestimmter Verteilungsschlüssel oder die Auswahl anhand konkreter Leistungskriterien. Gleichzeitig wäre naiv, wer in der numerischen Unterrepräsentanz kein Problem sehen wollte, 29 Jedoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein höherer Anteil als diese 9,6 % in der Bundesrepublik erst 1983 erreicht wurde, als die damals neue Partei der Grünen mit ihren quotierten Wahlvorschlagslisten in den Bundestag einzog (9,8 %), s. Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, 1990, 333. 30 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch, 2018, 26 (Frauenanteil in der Bevölkerung); zur Geschlechterverteilung im Bundestag siehe https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/mdb_ zahlen_19/frauen_maenner/529508, zuletzt abgerufen am 28.01.2019. 31 Vgl. Abels/Ahrens/Blome, 100 Jahre Frauenwahlrecht – der unvollendete Weg zu geschlechtergerechter Repräsentation, femina politica 2018, 9 (16 f.), dort auch zu international vergleichenden Daten. 32 Überblick unter https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordnetenfehlen-e291979/, zuletzt abgerufen am 28.01.2019; siehe auch Jenichen, Muslimische Politikerinnen in Deutschland: Erfolgsmuster und Hindernisse politischer Repräsentation, femina politica 2018, 70–82.
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wenn sie ausgerechnet diejenigen Personengruppen betrifft, die gesellschaftlich über weniger Macht, Einfluss und ökonomisches Potenzial verfügen.33 Die Parallelen zwischen numerischer Präsenz und den klassischen Diskriminierungsmerkmalen des Geschlechts, der Behinderung und der Herkunft sowie die erkennbare sozio-ökonomische Schieflage in den deutschen Parlamenten müssen darum zumindest auf horchen lassen. Sie mit dem Hinweis auf die formalen Gleichheitsrechte schlicht für unbeachtlich zu erklären, greift zu kurz.34
5. Repräsentation und Partizipation Die gleichheitsrechtliche Debatte kreist in Fragen der politischen Gleichheit insbesondere um drei Annahmen, die im Folgenden näher betrachtet werden: Zunächst könnte politische Gleichheit in einer Demokratie grundsätzlich voraussetzen, in Parlamenten und anderen politischen Entscheidungsgremien die Zusammensetzung der Bevölkerung möglichst maßstabsgetreu abzubilden. Sodann könnte die numerische Unterrepräsentanz bedeuten, dass die Belange der betroffenen sozialen Gruppen in der politischen Diskussion nicht hinreichend zur Geltung kommen, die numerische also mit einer sachlichen Unterrepräsentanz einhergeht. Beide Annahmen hängen davon ab, wie der Begriff der Repräsentation zu verstehen ist (unten II). Schließlich könnten die Vertreterinnen und Vertreter der numerisch unterrepräsentierten Gruppen im Verfahren der Kandidatenaufstellung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu eben diesen Gruppen diskriminiert und damit in ihren demokratischen Partizipationsrechten verletzt werden (unten III).
II. Verwirklichung politischer Gleichheit durch faire Repräsentation Der Begriff der Repräsentation bezeichnet in einem politischen Sinne einen Vorgang, in dem eine politische Gemeinschaft anstelle des Individuums handelt und entscheidet und diese Entscheidungen für die Mitglieder der politischen Gemeinschaft verbindlich werden.35 Da sich in einem Gemeinwesen niemals alle Individuen gleichzeitig an jeder Entscheidung beteiligen können, ist die Repräsentation ein notwendiges Merkmal politischen Handelns unabhängig von der Staats- und Regierungsform.36 In einer demokratischen Gesellschaft wird sie zu einem theoretisch an Phillips (Fn. 11), 53 f. Zur Dethematisierung der Gleichheitsproblematik in der deutschen Staatsrechtslehre vgl. Röhner, Relationale Demokratie. Das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip und gerechte Staatlichkeit in Deutschland, femina politica 2018, 40 (41) m.N. 35 Vgl. von der Pfordten, Politik und Recht als Repräsentation, in: Joerden/Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, 2004, 51 (63): „Repräsentation soll hier also verstanden werden als die sozial zugerechnete Ersetzung, Einschränkung oder Ergänzung unserer Handlungen als individuell handelnde Individuen durch die Gemeinschaft.“ 36 Von der Pfordten (Fn. 35), 51 ff.; bezogen auf demokratische politische Ordnungen Dreier, Das Problem der Volkssouveränität, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, 37 (39); ders. Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille, AöR 113 (1988), 450 (482). 33
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spruchsvollen Konzept, weil der Gedanke der Volkssouveränität verlangt, in der Gesetzgebung die Belange aller Bürgerinnen und Bürger angemessen zu repräsentieren.37 Es wird also eine besondere Beziehung zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten verlangt, die das Handeln der Repräsentierenden bzw. des Repräsentationsorgans im Ganzen an den Willen, die Entscheidungen und die Interessen der Repräsentierten rückbindet.38 Mit „fairer“ Repräsentation meine ich im Folgenden einen Zustand, in dem die Repräsentierten gleiche Chancen haben, ihre Belange in demokratischen Verhandlungsprozessen berücksichtigt zu sehen.39
1. Non-pluralistische Repräsentationstheorien Die deutsche Staatsrechtslehre blickt auf eine insbesondere von Schmitt und Leibholz geprägte Tradition im Verständnis demokratischer Repräsentation zurück, die deutliche antipluralistische Züge trägt.40 In ihr vermischen sich zwei Gedanken, die bei näherer Betrachtung in einem veritablen Widerspruch stehen: Einerseits wird eine Identität zwischen Repräsentierten und Repräsentierenden postuliert, indem Repräsentation als ein geradezu mystisch grundierter Vorgang der „Präsentmachung des Repräsentierten“41 dargestellt wird, durch den die Repräsentierten eine „Duplizität der personellen Existenz“ erleben.42 Gleichzeitig aber führt dies nicht zu einer Situation, in der die unterschiedlichen und möglicherweise divergierenden Interessen der Repräsentierten im Repräsentationsorgan aufeinandertreffen und konzeptionell zu berücksichtigen sind. Im Gegenteil: Die Repräsentierenden verkörpern nach diesen Verständnissen ein überindividuelles Gemeinwohl oder Gesamtinteresse. Die Formulierung, die Abgeordneten seien „dem ganzen Volk“ verpflichtet (heute Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, siehe aber schon Art. 21 S. 1 WRV) wird interpretiert als Verantwortung gegenüber einem vorfindlichen Gesamt- oder Gemeinwillen. Bei Schmitt liest sich dieser Vorgang als eine Art Veredelungsprozess, der das Volk als Gesamtheit in ein „höheres Sein“43 überführt. Wird auch die pseudo-religiöse Überhöhung politischer Repräsentation im heutigen Schrifttum kaum mehr gepflegt, bleibt doch die Vorstellung präsent, Repräsentation bringe einen einheitlichen Willen des Volkes als einer Gesamtheit zum Ausdruck. Exemplarisch für die Lebendigkeit dieses Verständnisses steht eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs aus dem März 2018.44 Sie betrifft eine Popularklage, mit der das bayerische Landeswahlgesetz als gleichheitswidrig gerügt wurde, weil es den Parteien nicht vorschreibt, ihre Wahlvorschlagslisten nach dem Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2017, Art. 38 Rn. 6. Dreier, Volkssouveränität (Fn. 36), 45 f.; Magiera, in: Sachs (Fn. 37), Art. 38 Rn. 6. 39 Vgl. Phillips (Fn. 11), 27 ff. 40 Zur Geschichte des Repräsentationsbegriffs siehe Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wortund Begriffsgeschichte, 3. Aufl. 1998, 15 ff.; Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991, 55 ff. 41 Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, 209. 42 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, 28. 43 Schmitt (Fn. 41), 210. 44 BayVerfGH NVwZ-RR 2018, 457. 37
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Geschlecht zu quotieren. Begründet wurde der Antrag mit der im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil geringen Zahl weiblicher Abgeordneter in den repräsentativen Vertretungen auf Landes- und Kommunalebene. Dadurch würden die Perspektiven und Interessen der Frauen nicht hinreichend repräsentiert. Zudem würden Frauen bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten strukturell benachteiligt. Der Freistaat käme insoweit seinem Auftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG, auf die tatsächliche Gleichheit von Männern und Frauen hinzuwirken, in verfassungswidriger Weise nicht nach. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof wies den Antrag ab. Die tragende Begründung der ablehnenden Entscheidung bezieht sich auf den Repräsentationsbegriff des Grundgesetzes, wie der Gerichtshof ihn versteht: Das freie Mandat, das Abgeordnete nicht an Aufträge und Weisungen bindet, befähige sie dazu, „an dem Integrationsprozess der Herausbildung eines überindividuellen Gemeinwillens mitzuwirken“.45 Damit, so die Folgerung, erteile das Grundgesetz jeder Form einer gruppenbezogenen Ausgestaltung des Wahlrechts eine Absage. Nach dieser Konzeption dient Repräsentation dem Zweck, einen homogenen Volkswillen aufzufinden und mit diesem Vorgang die Individuen in einer höheren Volkseinheit aufgehen zu lassen – ein im Kern zutiefst antidemokratischer und anti pluralistischer Gedanke. Mit ihm wird ein einheitliches Volksinteresse imaginiert, das mit der Realität einer freiheitlichen, pluralistischen und notwendig von Interessenkonflikten geprägten politischen Gemeinschaft nicht vereinbar ist.46 Repräsentation unter den Bedingungen einer solchen Gesellschaft begrifflich zu fassen, muss die gesellschaftlichen Konfliktlagen als letztlich unauflösbar oder jedenfalls immer nur vorläufig lösbar verstehen. Entscheidungen eines demokratischen Repräsentationsorgans finden keinen vorgängigen Gesamtwillen des Volkes in einer überindividuellen Sphäre vor, sondern bringen temporäre Mehrheitsverhältnisse zum Ausdruck. Parlamente treffen Mehrheitsbeschlüsse, die zwar für alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft bindend sind, dadurch aber nicht wie durch Zauberhand auch in der Sache unkontrovers werden.47 Die Bezeichnungen „Staatswille“48 (im Sinne eines der politischen Gemeinschaft zugeschriebenen Willens) oder „demokratischer Wille“49 treffen die Sache insofern besser, jedenfalls sofern man auch sie als Ausdrücke eines prozesshaften Geschehens mit stets nur vorläufigen und revidierbaren Ergebnissen versteht. Gegenüber der Imagination eines einheitlichen Volkswillens wird auch nicht viel gewonnen, wenn man, wie es in neueren Überlegungen zum Repräsentationsbegriff vertreten wird, die Abgeordneten jeweils in ihrer Verschiedenheit zu Repräsentant/in45 BayVerfGH NVwZ-RR 2018, 457, Rn. 112; die Formulierung zitiert Klein, Status des Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts III, 3. Aufl. 2005, § 51 Rn. 3. 46 Siehe nur Dreier (Fn. 36), 455 f.; von der Pfordten (Fn. 35), 66, sowie Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, 59 (61). 47 Vgl. Foljanty (Fn. 20), § 13 Rn. 4; Ingold, Das Recht der Oppositionen. Verfassungsbegriff – Verfassungsdogmatik – Verfassungstheorie, 2015, 331; Röhner (Fn. 34), 43. 48 Dreier, Volkssouveränität (Fn. 36), 52; s.a. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., 1929, Nachdruck 2018, 44: „Parlamentarismus ist: Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, also demokratisch gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehrheitsprinzip.“ 49 Möllers, Demokratie: Zumutungen und Versprechen, 3. Aufl., 2012, These 32.
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nen eines einheitlichen Gesamtwohls erklärt. Der Transformationsprozess wird dadurch nur zeitlich einen Schritt nach hinten verlagert: Zwar bringt der Wahlakt nach diesen Modellen noch eine Vielfalt an Individuen und politischen Programmen in die Parlamente. Einmal dort eingezogen jedoch werden die Abgeordneten als ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet betrachtet50 oder, poetischer, mit der Aufgabe versehen, das Volk als Gesamtheit zu „vergegenwärtigen“51 bzw. das „Selbst des Volkes“52 zu finden und auszudrücken. Auch hinter diesen Formulierungen verbergen sich realitätsferne Vorstellungen eines vorfindlichen Gemeinwohls, das von den Mandatsträger/innen nur aufgefunden werden muss. Nicht nur werden damit tatsächliche Mehrheits- und Machtverhältnisse verleugnet, sondern auch der Zweck demokratischer Repräsentation verkannt. Verleiht die politische Gleichheit allen Menschen das Recht, ihre eigenen Belange in den demokratischen Willensbildungsund Entscheidungsprozess einzubringen, dann hat demokratische Repräsentation die Aufgabe, eben diese unterschiedlichen und miteinander im Widerspruch stehenden Interessen der Repräsentierten in die parlamentarischen Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren einzuspeisen und Konflikte nach fairen Regeln zu lösen.53 Diese Prozesse lassen sich als Suche nach einem für alle akzeptablen Gemeinwohl beschreiben,54 sollten aber keineswegs als Herstellung des Gemeinwohls a posteriori verstanden werden.55 Denn auch darüber, ob eine demokratisch zustande gekommene – und deswegen zu akzeptierende – Entscheidung in der Sache dem Gemeinwohl dient, kann anhaltende Uneinigkeit bestehen.
2. Der Gedanke der Spiegelbildlichkeit Wie aber kann es gelingen, die Vielfalt der Meinungen, Wertvorstellungen, Bedürfnisse, Perspektiven und Lebenslagen der Bevölkerung so umfassend in die Parlamente zu tragen, dass diejenigen, die von einer politischen Entscheidung betroffen sind, sich dort in ihren Interessen angemessen vertreten sehen? Aus verfassungsrechtlicher wie demokratietheoretischer Perspektive wird diese Frage in Deutschland bislang überwiegend am Beispiel des Geschlechts diskutiert, obwohl, wie erwähnt, die Zusammensetzung der Repräsentationsorgane in Bund, Ländern und Kommunen auch in anderer Hinsicht problematisch erscheint. Im Zentrum der Debatte steht dabei aktuell das Instrument der geschlechterquotierten Wahlvorschlagslisten. Parteiinterne Verteilungskriterien bei der Verteilung von Ämtern und der Nominierung von Kandidat/innen sind relativ üblich: Mehr oder weniger offen diskutiert werden etwa informelle Mechanismen, wonach unterschiedliche Regionen eines 50 BayVerfGH NJW 2018, 457, Rn. 112; Böckenförde, Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungsgeschichte und zum Verfassungsrecht, 1991, 379 (400). 51 So die Formulierung bei Magiera, in: Sachs (Fn. 37), Art. 38 Rn. 6, der auch den von Leibholz geprägten Gedanken der „Duplizität“ teilt (s.o. bei Fn. 42). 52 Böckenförde (Fn. 50), 398. 53 Dreier, Volkssouveränität (Fn. 36), 50 f.; Kotzur, in: Bonner Kommentar (Fn. 12), Vor Art. 38–49 Rn. 41; Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, 302. 54 Kotzur, in: Bonner Kommentar (Fn. 12), Vor Art. 38–49 Rn. 43. 55 Wie hier Wefelmeier (Fn. 4 0), 128.
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Bundeslandes innerhalb eines Landesverbandes gleichmäßig zu berücksichtigen sind.56 Bezogen auf das Geschlecht haben einige Parteien in ihren Statuten mehr oder weniger bindende Quotenregelungen geschaffen.57 Solche internen Regelungen sind Ausdruck der Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG und von daher verfassungsrechtlich nicht bedenklich.58 Schwieriger zu beurteilen sind Vorschläge, die auf eine gesetzliche Verpflichtung aller Parteien ausgerichtet sind, ihre Wahlvorschlagslisten geschlechterparitätisch zu besetzen. Vorbild für diese Initiativen ist das französische Parité-Gesetz aus dem Jahr 2000, nach dem Parteien, die ihre Wahlvorschlagslisten nicht geschlechterparitätisch gestalten, die öffentliche Förderung gekürzt wird.59 Vorausgegangen war diesem Gesetz eine Verfassungsänderung.60 Art. 1 Abs. 2 der französischen Verfassung enthält nunmehr die staatliche Pflicht, den gleichen Zugang von Frauen und Männern zu Mandaten und politischen Ämtern zu fördern. Art. 4 Abs. 2 verpflichtet die Parteien, zur Verwirklichung dieses Grundsatzes beizutragen. Vergleichbare (einfachgesetzliche) Regelungen werden aktuell in mehreren Bundesländern diskutiert, und auch die erwähnte Verfassungsklage in Bayern war auf eine gesetzliche Verpflichtung der Parteien ausgerichtet.61 Begründet werden diese Initiativen insbesondere damit, der im Vergleich zum Bevölkerungsanteil niedrige Anteil der weiblichen Abgeordneten in deutschen Parlamenten und anderen Gremien sei sowohl unter gleichheitsrechtlichen als auch unter Gesichtspunkten der Legitimität der entsprechenden Organe und Gremien problematisch.62
56 Siehe auch das allgemeine Bekenntnis zur Diskriminierungsfreiheit bei der Partei „Die Linke“ (§ 9 der Satzung der Bundespartei auf dem Stand v. 10.06.2018), das die Berücksichtigung sozialer, ethnischer und kultureller Minderheiten, Berufstätiger sowie von Menschen, die Kinder erziehen oder Angehörige pflegen und Menschen mit Behinderungen anmahnt. 57 Vgl. z.B. § 11 Abs. 5 der Satzung von Bündnis 90/die Grünen, 2018; § 10 der Satzung der Bundespartei der Linken, 2018 ( jeweils 50 %-Quoten für Frauen und Männer), § 15 der Satzung der CDU, 2016 (Soll-Bestimmung hinsichtlich eines Anteils von einem Drittel Frauen bei öffentlichen Mandaten und in Parteigremien); § 8 Abs. 2 der Satzung der CSU (Soll-Bestimmung hinsichtlich eines Anteils von mindestens 40 % Frauen in Parteiämtern). 58 BVerfG, Beschl. v. 01.04.2018, Az. 2 BvR 3058/14; s.a. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 21 Rn. 137: „Eine Partei darf auch bei der Ausgestaltung ihres Innenlebens Partei ergreifen.“; ähnlich Müller, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl 2018, Art. 38 Rn. 160; Oebbecke, Quotierung auf Landeslisten, JZ 1988, 176 (179 ff.); ablehnend aber noch Nieding, Politische Wahlen und Frauenquoten, NVwZ 1994, 1171 ff. 59 Art. L 265 des Code Electoral in der Version der Loi n° 2000-493 du 6 juin 2000 tendant à favoriser l’égal accès des femmes et des hommes aux mandats électoraux et fonctions électives, mit Änderung durch Gesetz v. 31.01.2007 (Loi Nr. 2007-128 du 31 janvier 2007). 60 Loi constitutionelle No 99-569 du 8 juillet relative à l’égalité entre les femmes et les hommes, JORF No 157 v. 08.07.1999. 61 Vgl. das jüngst in Brandenburg verabschiedete Zweite Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes (Parité-Gesetz) v. 12.2.2019, GVBl. 2019 I, 1. In Berlin Antrag v. 28.02.2018, LT-Drs. 18/0868; siehe auch Laskowski, Wann bekommt Deutschland ein Parité-Gesetz?, Streit 2015, 51, und bereits Eulers, Frauen im Wahlrecht, 1990, 107 ff. 62 Brandenburg LT-Drs. 6/8210, 2 ff.; Laskowski (Fn. 61), 54 f.; Röhner, Unitäres Volk oder Parität? Für eine materiale Perspektive auf die Demokratie, Verf Blog v. 01.04.2019, https://verfassungsblog.de/ unitaeres-volk-oder-paritaet-fuer-eine-materiale-perspektive-auf-die-demokratie/, zuletzt abgerufen am 28.01.2019.
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Hinter dieser Argumentation verbirgt sich im Kern ein ebenfalls auf Identität gerichteter Repräsentationsbegriff, der auch als „spiegelbildlich“, „ersetzend“63 oder „deskriptiv“64 bezeichnet wird. Übernommen wird der Gedanke, die Repräsentierenden müssten die Repräsentierten „abbilden“, mit ihnen also in irgendeiner Hinsicht identisch oder ihnen jedenfalls ähnlich sein. Abgeändert wird jedoch der Gegenstand der Repräsentation: Die spiegelbildliche Repräsentation soll keinen homogenen Willen, sondern spezifische Belange zur Geltung bringen. Es geht also um eine Vertretung von Gruppeninteressen durch Angehörige dieser Gruppen. Von weiblichen Abgeordneten etwa wird erwartet, dass sie die Interessen der Frauen besonders gut vertreten können und dies auch tun.65 Daneben wird auch mit der Sichtbarkeit der (numerisch) unterrepräsentierten Gruppen argumentiert: Die gewählten Vertretungen des Volkes müssten den gesellschaftlichen Pluralismus auch in ihrer Zusammensetzung widerspiegeln.66 Abweichungen werden als Teilhabedefizit gedeutet.67 Das Argument der Sichtbarkeit zielt auf eine symbolische Vertretung ab, die sich in der Ähnlichkeit von Repräsentierenden und Repräsentierten äußert. In gruppenbezogenen Repräsentationskonzepten werden die inhaltliche und die symbolische Ebene indes nicht immer klar auseinandergehalten. In der politischen Praxis sind gruppenbezogene Repräsentationsformen nicht unüblich. So gilt in Schleswig-Holstein die allgemeine 5 %-Sperrklausel bei den Landtagswahlen nicht für die dänische Minderheit (§ 3 Abs. 1 S. 2 des Landeswahlgesetzes).68 Ähnliche Ausnahmen von allgemeinen Sperrklauseln gibt es in Europa z.B. in Polen für die deutsche und in Rumänien für die ungarische Minderheit. In anderen Staaten wird ethnischen oder religiösen Minoritäten eine bestimmte Anzahl an Sitzen im Parlament reserviert, so etwa den Maori in Neuseeland,69 einigen religiösen Minderheiten im Iran70 und den sozial benachteiligten Kasten in Indien.71 Insbesondere in islamisch geprägten Staaten gibt es reservierte Sitze auch für Frauen, etwa in Pakistan und Afghanistan.72 Meist aber betreffen diese Maßnahmen autochthone oder nationale Minderheiten, also solche, die bereits seit Generationen in einem Land 63 Orig. „surrogate representation“: Mansbridge, Rethinking Representation, American Political Science Review 97 (2003), 515 ff. 64 Orig. „descriptive representation“: Pitkin, The Concept of Representation, 1967. 65 Anschaulich wird diese Erwartung bei Laskowski (Fn. 61), 52 und passim. 66 Eulers (Fn. 61), 69. 67 Röhner (Fn. 62). 68 Zu Ausnahmen von Sperrklauseln zugunsten nationaler Minderheiten BVerfGE 6, 84 (98); zu der schleswig-holsteinischen Regelung hat das Bundesverfassungsgericht in der Sache bislang nicht entschieden, vgl. aber BVerfG NVwZ 2005, 205 und BVerfGK 5, 96 (2005). 69 Eingeführt durch den bis 1967 geltenden Act to Provide for the Better Representation of the Native Aboriginal Inhabitants of the Colony of New Zealand v. 10.10.1867 (Maori Representation Act); aktuelle Rechtsgrundlage Art. 45 des Electoral Act 1993. Bei den letzten Parlamentswahlen waren sieben Sitze für Angehörige der Maori reserviert. Die wahlberechtigten Maori können sich aussuchen, ob sie sich in den allgemeinen oder den für Maori vorgesehenen Wahlbezirken registrieren lassen („Maori-Option“, Art. 76 des Electoral Act 1993). 70 Gem. Art. 64 Abs. 2 der iranischen Verfassung v. 01.04.1979 sind je ein Sitz für Angehörige der zoroastrischen und jüdischen Religion sowie insgesamt drei Sitze für Christ/innen reserviert. 71 Art. 330 der indischen Verfassung v. 26.11.1949. Die Zahl der reservierten Sitze richtet sich nach dem Bevölkerungsanteil. 72 Krook, Quotas for Women in Politics, 2009; Young, Inclusion and Democracy, 2000, 140 ff.
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leben, sich aber durch ethnische, sprachliche oder kulturelle Merkmale von den übrigen Staatsangehörigen unterscheiden.73
3. Kritik an spiegelbildlichen Repräsentationskonzepten Der Gedanke der Spiegelbildlichkeit öffnet den Repräsentationsbegriff für die pluralistische Gesellschaft. Den grundsätzlichen Widerspruch aller Abbildtheorien – die Fiktion der Präsenz des Nicht-Präsenten74 – löst er jedoch nicht auf. Das Individuum und die sozialen Gruppen, denen es angehört, sind nicht identisch.75 Um soziale Gruppen überhaupt wahrnehmen und bezeichnen zu können, müssen die Menschen anhand bestimmter Merkmale (z.B. Alter, Herkunft, Geschlecht) oder geteilter Interessenlagen (z.B. Beruf, politische Ziele) kategorisiert werden. Dabei konzentriert sich der Vergleich notwendig auf bestimmte Merkmale und lässt andere außer Acht. Soziale Gruppen werden darum meist als homogener wahrgenommen als sie tatsächlich sind. Ihre Mitglieder können ganz unterschiedliche, auch gegenläufige Interessen haben.76 Hinzu kommt, dass die Individuen nicht in einem umfassenden Sinne selbst entscheiden können, wie sie sich in das soziale Gefüge der Gesellschaft einordnen, noch, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Manche Zugehörigkeiten können sie selbst gestalten, etwa indem sie Mitglied einer Partei werden, die für bestimmte politische Ziele steht. Andere werden ihnen von außen zugeschrieben, und daran hat das Recht einen erheblichen Anteil. So wird beispielsweise ein junger Mensch, der sein Leben selbst in die Hand nehmen möchte, durch die rechtliche Kategorie des „Minderjährigen“ an so mancher eigenen Entscheidung gehindert, und eine transgeschlechtliche Person findet sich unter Umständen personenstandsrechtlich dem falschen Geschlecht zugeordnet. Gesetze können bestehende gesellschaftliche Kategorien aufgreifen – etwa die von Mann und Frau – oder aber ganz eigene kreieren. Bayern etwa hat im Jahr 2013 in seinem Integrationsgesetz die bis dato unbekannte Kategorie der „Deutschen mit besonderem Integrationsbedarf “ geschaffen, in die deutsche Staatsangehörige fallen können, sofern ihre Eltern oder Großeltern nach Deutschland eingewandert sind.77 Deutschen mit Einwanderungsgeschichte wird damit eine prekäre Integrationslage unterstellt, die mit ihrem Selbstbild in vielen Fällen nicht übereinstimmen dürfte.78 73 Zu dieser Kategorisierung Jarass in: ders., Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 21 Rn. 21; siehe auch die Selbstdefinition in der „Charta der autochthonen, nationalen Minderheiten/ Volksgruppen in Europa“ der „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEN), 2006. 74 Pitkin (Fn. 64), 9. 75 Vgl. von der Pfordten (Fn. 35), 66. 76 Vgl. Young, Fünf Formen der Unterdrückung, in: Nagl-Docekal/Pauer-Studer (Hrsg.), Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität, 1996, 99 (107, 111 f.); Mangold, Demokratische Inklusion (Fn. 27), 139; Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, 2007, 16 ff.; Baer, Rechte und Regulierung. Das Problem des Gruppismus für die Grund- und Menschenrechte, in: Dennerlein/Frietsch/Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – entschleierter Okzident?, 2012, 23 (32, 38 ff.). 77 Art. 2 Abs. 3 des Bayerischen Integrationsgesetzes v. 13.12.2016 (GVBl. 2016, 335). 78 Siehe exemplarisch das Interview mit der deutschen Journalistin Amirpur, in dem sie berichtet, wie ihre Tochter in der Schule einen Lesewettbewerb gewann und dafür als „Kind aus einer Migran-
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Auch mit Eigenschaften, die ein Individuum für sich selbst bejaht, können im Übrigen stereotype Fremdbilder verbunden sein. So kann sich ein Mensch als weiblich beschreiben, zugleich aber die diesem Merkmal stereotyp zugeschriebenen Vorstellungen (etwa: sie könne deswegen nicht einparken und interessiere sich nicht für abstrakte Gerechtigkeitsüberlegungen),79 keineswegs als für sich gültig akzeptieren. Denn soziale Kategorien, die Individuen nach bestimmten Merkmalen zu Gruppen verbinden, sind zu einem erheblichen Grad nicht natürlicherweise vorgegeben, sondern konstruiert, also wesentlich durch soziale Praktiken und Deutungsmuster geprägt.80 In diesem Sinne sind weder „die Frauen“ noch „die Männer“ noch ein „drittes Geschlecht“81 homogene Gruppen mit einheitlichen Interessen. Gleiches gilt für Migrantinnen und Migranten, Homosexuelle, Angehörige der gehobenen Mittelschicht und andere soziale Gruppen, auf die Gesellschaft, Politik und Wissenschaft sich beziehen. Damit nicht genug: Innerhalb kulturell geschlossener sozialer Gruppen kann es nicht nur unterschiedliche Interessenlagen, sondern auch erhebliche Machtunterschiede geben, die intern zu Dominanzverhältnissen führen und gleichen Zugang zu demokratischen Verfahren erschweren.82 Auch ein vermeintlich spiegelbildliches Repräsentationskonzept schafft darum nicht notwendig gleichen Zugang für alle zu den Verfahren der demokratischen Willensbildung. Wer in einer Gesellschaft aus welchen Gründen „sprachlos“ bleibt, lässt sich als Frage und theoretische wie politische Herausforderung auf diese Weise nicht überwinden.83 Schließlich gehören die Mitglieder einer komplexen politischen Gemeinschaft nicht jeweils nur einer sozialen Gruppe an, sondern haben eine Vielzahl an sozialen Bezügen, zwischen denen es Schnittmengen, aber auch Widersprüche geben kann – ein Umstand, der in der feministischen und postkolonialen Theorie unter dem Stichwort „Intersektionalität“ diskutiert wird.84 Das Leben einer mit einem Mann verheirateten und in Deutschland aufgewachsenen Unternehmerin hat mit dem einer tenfamilie“ besonders gelobt wurde: „Ich weiß: Das war ja nett gemeint. […] Aber diese ‚Migrantenfamilie‘ lebt in der dritten Generation in Deutschland. Mein Gott, ja, das Kind hat dunkle Haare und heißt nicht so, wie man in Deutschland normalerweise so heißt. Aber wenn es einen Lesewettbewerb gewinnt, dann ist das für die Schule kein Anlass zum Stolz, sondern sollte etwas Stinknormales sein. Stattdessen werden wir beglückwünscht, dass wir nach 60, 70 Jahren in Deutschland doch tatsächlich in der Lage sind, unfallfrei zu sprechen und gerade Sätze zu schreiben.“ Zitiert nach: „Wir laden das Kopftuch ideologisch zu sehr auf “, Frankfurter Rundschau v. 07.08.2018, https://www.fr.de/kultur/ wir-laden-kopftuch-ideologisch-sehr-auf-10955001.html, zuletzt abgerufen am 28.01.2019. 79 Zu Letzterem siehe die auf Gilligan zurückgehenden, von dieser indes nicht in einem essentialistischen Sinne verstandenen Untersuchungen zu einer „weiblichen Moral“: Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, 1984. 80 Young (Fn. 76), 102; rechtstheoretisch Schweigler, Leitbilder im Recht, ARSP 2018, 362; verfassungsrechtlich Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung. Verfassungsrechtliche Grenzen statistischer Diskriminierung, 2008, 197. 81 Das Bundesverfassungsgericht fordert in seiner Entscheidung vom 10.10.2017 (BVerfGE 145, 1) gerade nicht die Anerkennung eines nach einheitlichen Merkmalen bestimmbaren „dritten Geschlechts“, sondern bemängelt die Ausschlusswirkung der beiden vorhandenen personenstandsrechtlichen Kategorien „männlich“ und „weiblich“ gegenüber der Vielfalt derjenigen Menschen, die sich keiner von ihnen zugehörig fühlen. Siehe hierzu auch den Beitrag von Holzleithner in diesem Band. 82 Moller Okin, Is Multiculturalism Bad for Women?, 1999, 12; Foljanty (Fn. 20), § 13 Rn. 18. 83 Grundlegend Spivak, Can the Subaltern Speak? (1985), dt. Übers. hrsg. v. Steyerl, 2008. 84 Begriffsprägend Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist
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polyamourösen Performance-Künstlerin deutlich weniger zu tun als mit dem eines männlichen Unternehmers. Darüber hinaus kann niemand vorhersagen, ob die Unternehmerin im Wahlakt an das Geschlecht der Repräsentierenden überhaupt einen Gedanken verschwendet, ob ihr stattdessen die wirtschaftlichen Interessen der mittelständischen Wirtschaft wichtiger sind oder ob sie auch diese nicht reflektiert, sondern aus reiner Gewohnheit für die Partei stimmt, die sie schon immer gewählt hat. In der repräsentativen Demokratie müssen die Wählerinnen und Wähler über die Kriterien ihrer Entscheidung keine Rechenschaft ablegen. Repräsentationskonzepte, die an individuelle Eigenschaften anknüpfen, laufen aus all diesen Gründen Gefahr, essentialistische Vorstellungen sozialer Homogenität (z.B. über „die Interessen der Frauen“) zu transportieren und damit Vorurteile zu bestätigen statt ihnen entgegenzuwirken. Für eine soziale Bewegung kann die Erfahrung, die eigene politische Zielgruppe in eine Pluralität von Individuen und Teilgruppen mit vollkommen unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen, Interessenlagen, Wünschen und Zielen aufgelöst zu sehen, ernüchternd sein und die Frage virulent werden lassen, „für wen“ man sich eigentlich noch engagiert.85 Doch bietet genau diese Erkenntnis die Grundlage für theoretische Annäherungen an die Komplexität der Lebensverhältnisse in einer pluralistischen Gesellschaft, die darauf verzichten können, Lebensweisen zu essentialisieren. Denn dann wird das Problem deutlich, das jedes gruppenbezogene Denken und Argumentieren aufwirft und das als „Dilemma der Differenz“ beschrieben wird:86 Um Interessen wirksam zu vertreten, müssen sich die Einzelnen mit anderen verbünden. Gemeinsame Erfahrungen von Marginalisierung, Exklusion und Diskriminierung sind wirkmächtige Anlässe für solche Bündnisse, die sich dann zwangsläufig auf genau die Fremdzuschreibungen beziehen, gegen die man agiert. Indem soziale Bewegungen Gleichheit für bestimmte Gruppen wie „die Frauen“ oder „die Menschen mit Behinderung“ fordern, möchten sie bestehende Ungleichbehandlungen und Vorurteile aufgrund dieser Merkmale überwinden und produzieren zugleich die Wahrnehmung dieser Gruppen als „anders“ und damit eben nicht „gleich“. Verzichten sie darauf, ein Gruppeninteresse zu formulieren, kommt ihnen die Möglichkeit abhanden, geteilte Erfahrungen und strukturelle Ungleichheiten zur Sprache zu bringen. Gruppenbezogene Rechte und Repräsentationskonzepte bergen mithin eine Vielzahl an Schwierigkeiten. Das macht sie jedoch nicht von vornherein illegitim. Politische und gesellschaftliche Umstände können die faire Repräsentation sozialer Gruppen einschränken oder unmöglich machen. In diesen Fällen ist es gerechtfertigt, sie mit politischen und rechtlichen Mitteln zu fördern und dabei auch gegenüber anderen ungleich zu behandeln. Welche Kriterien bei dieser Bewertung eine Rolle spielen können und
Critique of the Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, Chicago Legal Forum 1989, 139 ff., und dazu in diesem Band ua. MacKinnon. 85 Siehe hierzu immer noch instruktiv Gerhard (Fn.28). 86 Begriff nach Minow, Making all the Difference, 1990; vgl. zur Rezeption in Deutschland Baer, Dilemmata im Recht und Gleichheit als Hierarchisierungsverbot – Der Abschied von Thelma und Louise, Kriminologisches Journal 1996, 242; dies., Der problematische Hang zum Kollektiv und ein Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert/Aleksander/Kriszio (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjektkritik, 2013, 47 (55).
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welche Mittel zulässig sind, lässt sich im Rahmen pluralistischer Repräsentationskonzepte erörtern und aushandeln.87
4. Repräsentation jenseits der Spiegelbildlichkeit: Meinungen, Interessen, Wertvorstellungen, Perspektiven Ein pluralistisches Repräsentationskonzept verlangt zunächst, sich von der Vorstellung zu verabschieden, der Vorgang der Repräsentation bestehe darin, die Repräsentierenden ersetzten mit ihrer Präsenz die repräsentierten Individuen.88 Ein Individuum kann nicht gleichzeitig anwesend und abwesend sein. Wohl aber können die Belange 89 der Repräsentierten durch andere zur Geltung gebracht werden und in Diskussionen und Entscheidungen einfließen. Da Interessenvertretung in einer politischen Gemeinschaft nur gemeinsam mit anderen möglich ist, sind zumindest temporäre Bündnisse entlang gemeinsamer Interessen notwendiger Bestandteil demokratischer Willensbildung. Geht es im demokratischen Prozess gerade darum, Lösungen für widerstreitende Interessenlagen zu finden, so sind es nicht die Individuen in ihrer personalen Identität, die sich in den Repräsentierenden spiegeln sollen, sondern ihre jeweils im Konflikt stehenden Belange. Diese Erkenntnis ist fundamental, darf aber nicht zu der vorschnellen Schlussfolgerung führen, persönliche Eigenschaften, Gruppenzugehörigkeiten und soziale Erfahrungen seien für die Auswahl der Repräsentierenden unerheblich. Für Individuen und soziale Gruppen kann es durchaus wichtig sein, sich gerade von „ihren“ Vertretern in Parlamenten repräsentiert zu sehen. Auch wenn die Angehörigen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen möglicherweise keine spezifischen Gruppeninteressen vertreten, können sie durch ihre bloße Anwesenheit dennoch deutlich machen, dass die Parlamente tatsächlich allen offenstehen. Die Botschaft, dass sich auch für Angehörige historisch unterrepräsentierter Gruppen politisches Engagement lohnen kann, legitimiert das Interesse daran, gesellschaftliche Vielfalt in den politischen Repräsentationsgremien sichtbar zu machen.90 Nachdem die Frauenbewegung in Deutschland das Wahlrecht erkämpft hatte, war es das verständliche nächste Ziel, Kandidatinnen aufzustellen und in das Parlament zu bringen, um den eingeforderten Einfluss der Frauen auf die Politik zu verwirklichen. Als in den jüngsten Mid-Term-Wahlen in den USA zum ersten Mal in der Geschichte des Landes 87 Für einen Überblick siehe Dovi, Political Representation, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2018, online verfügbar unter https://plato.stanford.edu/entries/political-representation/, zuletzt abgerufen am 28.01.2019; Foljanty (Fn. 20), § 13 Rn. 15. 88 Young (Fn. 72), 143. 89 Die Ausdrücke „Belange“ und „Interessen“ verwende ich im Anschluss an die normative Ethik von der Pfordtens synonym als Oberbegriffe für die Wünsche, Ziele, Bedürfnisse und Strebungen von Individuen, vgl. von der Pfordten, Normative Ethik, 2010, 57 ff.; Wapler (Fn. 23), 315 ff. 90 Dieser Wunsch ist zu unterscheiden von dem identitätspolitischen Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung der eigenen Lebensweise, vgl. Young (Fn. 72), 146: „Groups do not deserve special representation in inclusive decision-making bodies just so they can express their culture in public discussion or be recognised in their distinctiveness.“ Sie wendet sich damit im Wesentlichen gegen primär anerkennungstheoretische Repräsentationsvorstellungen, wie sie etwa bei Taylor anklingen, vgl. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2009.
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Musliminnen und Vertreterinnen der native americans in den Kongress gewählt wurden, wurde dies weithin als historisches Ereignis wahrgenommen.91 Wurden besondere Lebenslagen und Interessen einer sozialen Gruppe in der Vergangenheit ignoriert oder marginalisiert und verbindet diese Erfahrung die Angehörigen der Gruppe, dann ist Präsenz ein Weg, um die eigenen Belange überhaupt im demokratischen Prozess verhandelbar zu machen.92 Sie kann gleichzeitig dazu beitragen, andere Personen mit ähnlichen Interessen zu politischer Aktivität zu ermutigen. Auch hier geht es also weniger um eine Ähnlichkeit in Eigenschaften und Merkmalen, sondern um vergleichbare biographische und soziale Erfahrungen. Iris Marion Young beschreibt diesen Gesichtspunkt als die „soziale Perspektive“:93 Unabhängig davon, welche Meinungen und Interessen sie im Einzelnen vertreten, teilen die Angehörigen sozialer Gruppen doch häufig eine vergleichbare Sicht auf die Welt, weil sie unter ähnlichen Umständen leben oder aufgewachsen sind und dadurch in ähnlicher Weise geprägt wurden. Menschen, die niemals Geldsorgen hatten, können sich möglicherweise in ein Leben in Armut empathisch hineinversetzen, ihnen fehlt aber die unmittelbare Erfahrung der konkreten Herausforderungen, mit denen mittellose Menschen konfrontiert sind. Individuen, die eine soziale Perspektive teilen, können nach Young ganz unterschiedliche Konsequenzen aus den geteilten Erfahrungen ziehen und darum politisch auch divergierende Ziele verfolgen. Jedoch steigt die Wahrscheinlichkeit, die gesellschaftliche Vielfalt im Wege der Repräsentation einzufangen, mit der Vielfalt der repräsentierten sozialen Perspektiven.94 Spricht auch vieles für die Plausibilität dieser Annahme, gilt dennoch für soziale Perspektiven letztlich nichts anderes als das oben zu den sozialen Gruppen Gesagte: Auch sie sind nicht klar abgrenzbar und intern ihrerseits divers. Das Individuum, das in aller Regel nicht nur einer, sondern mehreren sozialen Gruppen angehört oder zugeordnet wird, kann die Welt aus mehreren sozialen Perspektiven betrachten und sich zwischen ihnen entscheiden. Wie ein Mensch sich dagegen auflehnen kann, einer sozialen Gruppe zugeordnet zu werden, kann er sich auch weigern, eine bestimmte soziale Perspektive einzunehmen, selbst wenn sie ihn geprägt hat. Der französische Soziologe Didier Eribon beschreibt in seinem biographischen Roman „Rückkehr nach Reims“ anschaulich, wie er seine soziale Perspektive als homosexuell lebender Mensch zum Angelpunkt nicht nur seiner Lebensweise, sondern auch seiner Forschung gemacht hat, seine Herkunft aus der französischen Arbeiterschicht hingegen über Jahrzehnte verleugnete.95 Auch wenn sich die soziale Prägung nie ganz wird 91 Vgl. Zraick, Night of the First. Diverse Candidates Make History in Mid Term Elections, New York Times v. 07.11.2018. 92 In diesem Sinne Phillips (Fn. 11), 155; vgl. auch Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, 1996, 144 ff. 93 Young (Fn. 72), 133 ff. Siehe auch den Gedanken der unvermeidlichen Situiertheit („rootedness“) des individuellen Urteils bei Zerilli, Toward a Feminst Theory of Judgment, Signs 34 (2009), 295 (297). 94 In diese Richtung argumentiert z.B. Röhner (Fn. 62). 95 Eribon, Rückkehr nach Reims, 2016, 22: „Neben der typischen Entwicklung eines jungen Schwulen, der sich in der Großstadt in neue gesellschaftliche Netzwerke begibt, der sein eigenes Schwulsein zusammen mit einer ganzen schwulen ‚Welt‘ entdeckt und sich selbst nach ihr formt, verfolgte ich auch eine andere, soziale Entwicklung, den Weg eines ‚Aufsteigers‘, den man auch als ‚sozialen Überläufer‘ bezeichnen kann. Denn ich war gewissermaßen klassenflüchtig, auf mehr oder weniger bewusste Weise mehr oder weniger permanent darauf bedacht, meine soziale Herkunft abzustreifen, sie
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abschütteln lassen – auch das ist Thema des Romans –, können die Menschen doch bewusst oder unbewusst gegen sie agieren und repräsentieren sie dann mutmaßlich jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem soziale Bewegungen es sich wünschen. Wichtig ist angesichts dieser komplizierten Gemengelage, die Kategorien, mit denen in Politik und Recht agiert wird, als offen, veränderlich und diskutierbar zu begreifen. In Anlehnung an Gayatri Spivak wird in diesem Zusammenhang von „strategischem Essentialismus“ gesprochen,96 womit eine Strategie beschrieben wird, nach der man sich aus taktischen Gründen der vorhandenen Kategorien bedient, um überhaupt eine Grundlage dafür zu haben, sie zu überwinden. Spivak selbst verwendet diesen Ausdruck allerdings selbst mittlerweile aus guten Gründen nicht mehr.97 Denn in der Sache geht es in demokratischen Aushandlungsprozessen gerade nicht um ontologische Wahrheiten über das So-Sein von Menschen, sondern um strategische Interessenbündnisse und punktuelle Gemeinsamkeitserfahrungen, durch die sich Teile einer Gesellschaft für unterschiedlich lange Zeit und in mehr oder weniger Facetten ihres Lebens als verbunden verstehen können. Festzuhalten ist an dieser Stelle dreierlei: (1) Repräsentation hat (nicht nur, aber auch) einen symbolischen Gehalt, der sich in dem Wunsch äußern kann (aber nicht muss), durch Angehörige des eigenen Milieus („eine von uns“) repräsentiert zu werden. Eine derartige politische Strategie geht zumeist mit dem Anliegen einher, strukturelle Ungleichheiten in der politischen Einflussnahme erkennbar zu machen und abzubauen und ist insofern (auch) eine Form der Interessenvertretung. (2) Mit der pluralen Zusammensetzung eines Repräsentationsorgans oder -gremiums erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass unterschiedliche Interessen, Überzeugungen, Erfahrungshintergründe und Perspektiven zur Sprache kommen. Soziale und programmatische Vielfalt in den Repräsentationsorganen ist darum in einer pluralistischen Gesellschaft wünschenswert, wenngleich ein einfacher Rückschluss von Eigenschaften oder Gruppenzugehörigkeiten der Repräsentierenden auf politische Programme nicht gezogen werden kann. (3) Die Freiheit der Wahl umfasst auch die freie Entscheidung des Individuums, nach welchen Kriterien es seine Wahl trifft. Die Wahlberechtigten können Personen wählen, die sie für besonders klug oder durchsetzungsstark halten oder die ihre individuellen Interessen, Wertsysteme oder Vorstellungen vom Gemeinwohl besonders gut zu vertreten versprechen. Sie können und dürfen auch emotional und irrational entscheiden. Denkt man den demokratischen Gedanken und den Charakter des Wahlrechts als individuelles Freiheitsrecht weiter, so ist nicht nur mit einem Pluralismus der Werte, Meinungen und Interessen zu rechnen, sondern auch mit einer Vielfalt der Repräsentationsgegenstände, -ziele und -formen. Der Wunsch, von einer Person mit bestimmten Eigenschaften – etwa von einer Frau und nicht von einem Mann oder einem jungen und keinem alten Menschen – im Parlament vertreten zu von mir fernzuhalten und dem Milieu meiner Kindheit zu entfliehen.“ Ein anderes verbreitetes Beispiel sind Frauen in Führungspositionen und politischen Ämtern, die es ausdrücklich ablehnen, ihr Geschlecht in irgendeiner Form zu thematisieren. 96 Begriffsprägend Spivak (Fn. 83); einführend Mackenthun, Essentialismus, strategischer, in: Göttsche/Dunker/Dürbeck (Hrsg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, 2017, 142 ff. 97 Siehe Spivak, Outside in the Teaching Machine, 1993.
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werden, hat dann im Hinblick auf die politische Gleichheit zunächst einmal dieselbe Berechtigung wie der Wunsch, unabhängig von den persönlichen Eigenschaften der einzelnen Kandidat/innen ein bestimmtes politisches Programm zu unterstützen.
5. Repräsentation als Prozess Ist die individuelle Wahlentscheidung von unterschiedlichen Motiven getragen, so wird man auch bei den Repräsentierenden damit rechnen müssen, dass sie ihren Auftrag unterschiedlich verstehen. Ob sie sich eher als Vertreter/innen bestimmter Interessen oder eines wie auch immer zu bestimmenden Gemeinwohls verstehen, ob sie eher regieren oder opponieren möchten und ob sie ihre Person als Identifikationsangebot oder ihr Programm in den Vordergrund stellen, sind jeweils legitime Strategien politischen Handelns, die sich im Zeitverlauf auch verändern können. Alle diese Entscheidungen sind von der Freiheit der Mandatsausübung umfasst. Die Entfremdung zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten, die mit dem freien Mandat einhergeht, wird in der Demokratie durch die in periodischen Wahlen gewährleistete Kontrolle und durch die Verankerung der Abgeordneten in einer Partei und/oder sozialen Bewegung bzw. in einem Wahlkreis abgemildert. Repräsentation wird dadurch zu einer prozesshaften Angelegenheit.98 Im besten Fall kommt es zu einem fortdauernden Austausch zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten. Die in letzter Zeit häufig erhobene Klage, die Abgeordneten verlören den Kontakt zum Volk, bezieht sich, ob berechtigt oder nicht, auf den Wunsch nach eben dieser kommunikativen Beziehung. Repräsentation erweist sich in diesem Sinne als pragmatisches Verhältnis der Arbeitsteilung zwischen der Bevölkerung und den von ihnen gewählten Vertreterinnen und Vertretern. Die Abgeordneten werden dafür gewählt, partikulare Interessen zu vertreten und sind auch als „Vertreter des ganzen Volkes“ dazu legitimiert. Das freie, nicht an Aufträge und Weisungen gebundene Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) verpflichtet die Abgeordneten nicht, ihr politisches Programm in einem vorfindlichen Gemeinwohl aufgehen zu lassen, sondern gibt ihnen die Freiheit, die Politik anzustoßen und zu fördern, die sie für richtig halten.99 Sie haben damit auch die Freiheit, ihre Standpunkte in der Diskussion mit anderen zu relativieren und sich auf Kompromisse einzulassen.
6. Repräsentationsdefizite und Strategien zu ihrer Beseitigung Denkt man Repräsentation in diesem Sinne plural, können faktische Defizite identifiziert und benannt werden: Eine gesellschaftliche Gruppe kann in politischen Organen und Gremien unsichtbar bleiben, gesellschaftliche Interessen können nicht angemessen vertreten werden, und beides kann zusammenfallen. Eine Gruppe kann zu 98 Vgl. Young (Fn. 72), 143; Dreier, Volkssouveränität (Fn. 36), 46 aus verfassungsrechtlicher Sicht Magiera, in: Sachs (Fn. 37), Art. 38 Rn. 6; Morlok, in: Dreier (Fn. 58); Müller, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Fn. 58), Art. 38 Rn. 19. 99 BVerfGE 5, 85 (233 f.); 131, 316 (341 f.); in diese Richtung auch Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG II, 182. Akt. 2018, Art. 38 Rn. 49.
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klein sein, um wahlrechtliche Sperrklauseln zu überwinden, sie kann tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten haben, sich politisch zu organisieren oder zu artikulieren, oder ihre Interessen können aufgrund gesellschaftlicher Vorurteile weniger ernst genommen werden als andere. Alle diese Umstände stellen die faire Repräsentation in Frage. Jedoch sind gewählte politische Gremien notwendig von Ungleichheiten geprägt, weil sie eben nicht nach abstrakten Proportionalitätsgrundsätzen zusammengesetzt werden, sondern durch die freie, unkontrollierte Wahlentscheidung der Individuen, die zwangsläufig Mehrheiten und Minderheiten erzeugt. Ob numerische Unterrepräsentanz ein Defizit darstellt, worin genau es besteht und wie ihm abgeholfen werden kann, ist darum jeweils gründlich zu analysieren. Vieles spricht dafür, den Befund ungleicher numerischer Unterrepräsentanz zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu nehmen, nicht aber die numerische Gleichverteilung ohne Weiteres zum politischen Ziel zu erklären. Wichtiger scheint, das Vorfeld der Wahl in den Blick zu nehmen. Denn in dem Moment, in dem die Wahlvorschläge vorliegen, beginnt die Freiheit der Wahlentscheidung. Die Ausübung des Wahlrechts ist höchstpersönlich und nicht an inhaltliche Vorgaben gebunden – in diesem Sinne ist die Wahlrechtsgleichheit tatsächlich rein formal. Versuche, die Wählerinnen und Wähler subtil dazu zu drängen, ihre Wahlentscheidung unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten zu überdenken, sind daher weder ethisch noch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Die inzwischen wieder aufgehobene Klausel im rheinland-pfälzischen Kommunalwahlgesetz, wonach auf den Stimmzetteln auf die numerische Unterrepräsentanz von Frauen hingewiesen werden sollte, ist daher zu Recht als verfassungswidrig beurteilt worden.100 Nicht unproblematisch ist auch die Strategie der reservierten Sitze für Minderheiten, weil sie einerseits einen Verteilungsschlüssel zumindest partiell vorgibt und andererseits kulturelle Gruppenzugehörigkeiten zu essentialisieren droht. Angesichts des oben skizzierten Dilemmas der Differenz können sie als strategisches Instrument aber unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein, etwa wenn wie in Neuseeland ein vormals kolonialisierter Teil der Bevölkerung gute Gründe hat, gegenüber der Mehrheitsbevölkerung misstrauisch zu sein und/oder eine vollständige oder teilweise Selbstregierung zu verlangen.101
III. Gleiche Chancen auf politische Mitwirkung Bleiben die Voraussetzungen fairer Repräsentation bei einer ergebnisorientierten Betrachtung nach dem bisher Gesagten einigermaßen unklar, ist umso mehr das Vorfeld der Wahl zu betrachten und im Hinblick auf die Bedingungen der Möglichkeit politischer Gleichheit zu untersuchen. Politische Gleichheit verlangt danach neben dem allgemeinen Recht, zu wählen und gewählt zu werden, faire Chancen auf Mitwirkung an demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen.102 Po VerfGH RLP, 13.06.2014, Az. VGH N 14/14, VGH B 16/14. Vgl. die Nw. in Fn. 72 sowie Kymlicka (Fn. 92), 151. 102 Als Anspruch auf demokratische Teilhabe in BVerfGE 123, 267 (340); vgl. auch Kotzur, in: Bonner Kommentar (Fn. 12), Vor Art. 38–49 Rn. 42. 100 101
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litische Gleichheit erfordert dementsprechend gleiche Zugänge und Partizipationsmöglichkeiten in der demokratischen Öffentlichkeit. Aus der Perspektive der Wahlberechtigten besteht zudem ein Interesse daran, dass wichtige gesellschaftliche Belange nicht auf dem Weg durch die parteiinternen Auswahlprozesse verloren gehen und dadurch für sie „nicht zur Wahl stehen“.
1. Demokratische Öffentlichkeit als Kommunikationsgeschehen In der demokratietheoretischen Diskussion begegnet uns demokratische Öffentlichkeit häufig in der Metapher des „öffentlichen Raums“.103 Der öffentliche Raum steht für eine Sphäre der Kommunikation, eine „Arena diskursiver Meinungsbildung“,104 in der die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft Themen von allgemeinem Interesse diskutieren (können). Der öffentliche Raum ist in Teilen virtuell, indem die Beteiligten über Medien wie Bücher, Zeitungen, Fernsehen und Internet miteinander in einem Diskussionszusammenhang stehen.105 Als demokratische Öffentlichkeit muss ein so verstandener öffentlicher Raum durch faire Kommunikationsregeln strukturiert sein, wie sie etwa Jürgen Habermas in seiner Diskurstheorie entwickelt,106 die als Vorbild für zahlreiche Spielarten deliberativer Demokratietheorien dient, aber auch kommunitaristisch grundierte Ansätze wie den von Charles Taylor beeinflusst hat. Der öffentliche Raum erscheint in vielen dieser Konzeptionen als eine metaphorische Agora, auf der sich „alle“ versammeln, ihre Meinungen auf Augenhöhe austauschen, in einen Dialog mit der Regierung treten und dadurch zu einer gemeinsamen öffentlichen Meinung bzw. rational begründbaren Ergebnissen finden.107 Im Hinblick auf die politische Gleichheit wird demokratische Öffentlichkeit in zweierlei Hinsicht differenzierter betrachtet: Zum einen wird die Vorstellung eines einheitlichen Raumes, in dem alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft auf Augenhöhe miteinander sprechen, als unrealistisch zurückgewiesen (unten 2), und zum anderen wird der Begriff der öffentlichen Angelegenheit aus gleichheitsrechtlicher Perspektive problematisiert (unten 3).
2. Plurale öffentliche Räume und „Gegenöffentlichkeiten“ Der erste Einwand bezieht sich auf die Idee einer demokratischen Öffentlichkeit als einheitlicher und (im Idealfall) herrschaftsfreier Sphäre. Als philosophisches Gedankenexperiment und kritischer Maßstab mag die Idee des herrschaftsfreien Diskurses aufschlussreich sein. Die reale demokratische Öffentlichkeit darf hingegen weder 103 Vgl. insb. Taylor, Liberale Politik und Öffentlichkeit, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, 2002, 93 (96). 104 Fraser, Neue Überlegungen zur Öffentlichkeit, in: dies., Die halbierte Gerechtigkeit, 2001, 107 (132). 105 Taylor (Fn. 103), 99; Young (Fn. 72), 167. 106 Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 1983, 99; ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992. 107 Taylor (Fn. 103), 103 f.; Habermas (Fn. 106), 359 f. und passim.
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machtfrei noch kulturlos gedacht werden. Die Mitglieder der polititischen Gemeinschaft können ihre soziale Stellung in der Gesellschaft, ihre kulturelle Identität und ihre biographischen Erfahrungen nicht außen vor lassen, wenn sie am demokratischen Meinungsbildungsprozess teilnehmen. Was sie bewegt, ob und wie sie sich artikulieren und auch, wo sie dies tun, hängt entscheidend von diesen lebensprägenden Umständen ab.108 Begibt man sich in den öffentlichen Diskurs, gerät man nicht auf wundersame Weise unter einen Schleier des Nichtwissens im Rawlsschen Sinne, sondern äußert sich als konkrete Person in einer konkreten Lebenssituation mit einem bestimmten Habitus und häufig auch an einem bestimmten (physischen) Ort.109 Gerade Minderheitenauffassungen benötigen, so schließen viele daraus, ihre eigenen Foren, um sich ihrer Anliegen zunächst einmal zu vergewissern und sie von dort aus in die Diskussion der Mehrheitsgesellschaft einzubringen. Demokratische Öffentlichkeit wird damit zu einer komplexen Struktur von Teilöffentlichkeiten,110 was uns abermals auf die Frage stößt, wie mit dem dann zwangsläufig sich ergebenden Spannungsfeld zwischen Individual-, Gruppen- und Allgemeininteresse umzugehen ist. Die Annahme eines einheitlichen Kommunikationsraums ist eine Fiktion, die dazu tendiert, die Vielfalt der Interessen und Meinungen nicht umfassend zur Kenntnis zu nehmen.111 Der grundsätzlich plausible Gedanke der Teil-, Neben- und Gegenöffentlichkeiten birgt indes seinerseits die Gefahr, gesellschaftliche Zersplitterung zu befördern sowie soziale und kulturelle Frontstellungen zu vertiefen. Sich in Kreisen Gleichbetroffener oder Gleichgesonnener über die eigenen Positionen auszutauschen und sich mit diesem Rückhalt dann der Diskussion mit anderen zu stellen, ist eine Form demokratischer (Selbst-)Vergewisserung und politischer Mobilisierung. In den eigenen „Filterblasen“ oder „Echokammern“ zu verbleiben und gegenläufige Positionen nicht mehr zur Kenntnis oder auch nur nicht mehr ernst zu nehmen, verhindert jedoch den demokratischen Austausch. Demokratische Öffentlichkeit muss, will sie Verständigung und Kompromisse möglich machen, darum beides ermöglichen: vielfältige Foren des Meinungsaustauschs, aber auch Orte der Begegnung, in denen die unterschiedlichen Perspektiven aufeinandertreffen und miteinander ins Gespräch kommen. Demokratietheoretisch betrachtet, gilt für die demokratische Partizipation nichts grundsätzlich anderes als für die Repräsentation: Homogenisierende Konzepte eines einheitlichen Diskussionsraumes werden der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Pluralismus der Meinungen, Wertvorstellungen und Interessenlagen nicht gerecht, son108 Fraser (Fn. 104), 132 f.; im Anschluss an sie auch Habermas (Fn. 106), 373 f.; allg. zur Rezeption im deutschsprachigen Raum Holland-Cunz, Öffentlichkeit und Intimität – demokratietheoretische Überlegungen, in: Biester (Hrsg.), Demokratie oder Androkratie? Theorie und Praxis demokratischer Herrschaft in der feministischen Diskussion, 1994, 226–246. 109 Fraser (Fn. 104), 121 ff.; Young (Fn. 72), 168; Zerilli (Fn. 93), 297. 110 Zu einem Konzept pluraler demokratischer Öffentlichkeiten vgl. Ingold (Fn. 13), 523 ff.; zu dem in diesem Zusammenhang auch verwendeten Ausdruck der „Fragmentierung“ Vesting, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten, AöR 122 (1997), 337 (352 ff.); zu einer Theorie der „Gegenöffentlichkeiten“ Fraser (Fn. 104). 111 Young, Polity and Group Difference: A Critique of the Ideal of Universal Citizenship, Ethics 99 (1989), 250 (257); siehe auch schon Arendt, Vita Activa (1972), 2016, 73: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.“
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dern tendieren dazu, wichtige gesellschaftliche Belange als unwichtig oder unpolitisch auszuklammern. Ähnliches gilt für Vorstellungen, in der demokratischen Debatte werde ein rationaler Diskurs geführt oder eine „öffentliche Vernunft“ praktiziert.112 Im demokratischen Austausch dürfen auch Themen aufgebracht und Argumente vorgetragen werden, die eine gesellschaftliche Mehrheit als abseitig, emotional oder irrational bewertet. Wichtig ist, inklusive Verfahren zu entwickeln, die niemanden von vornherein ausschließen und einen kritischen Austausch ermöglichen. Weniger eine objektiv verstandene Vernunft ist hierfür entscheidend, sondern die Bereitschaft, den eigenen Standpunkt tatsächlich zur Diskussion zu stellen. Demokratische Diskussion in diesem Sinne verlangt zum einen, den eigenen Standpunkt zu übersetzen, um ihn intersubjektiv verständlich zu machen, und zum anderen, ihn zu überdenken, wenn Gegenargumente vorgebracht werden.113
3. Öffentliche und private Themen Die Vorstellung einer einheitlichen Öffentlichkeit, in der Themen „von allgemeinem Interesse“ verhandelt werden, birgt nach Seyla Benhabib die weitere Gefahr, den Bereich der „öffentlichen“ Themen statisch zu konstruieren und dabei insbesondere solche Fragen auszuschließen, die den privaten Lebensbereich betreffen.114 Der Begriff der Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang insofern nicht unproblematisch, als die traditionelle Trennung des Privaten und des Öffentlichen eine geschlechterdifferente Komponente hat. Die öffentliche Sphäre war nach dem bis in die liberale Demokratietheorie der Neuzeit und bis in die Kämpfe um die staatsbürgerliche Gleichheit der Frauen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hinein vorherrschenden Verständnis Männern – indes keineswegs allen Männern115 – vorbehalten, die dort über die Angelegenheiten der politischen Gemeinschaft berieten und entschieden und dabei, so die Theorie, die Frauen, Kinder und Bediensteten ihres Hausstandes als pater familias vertraten. In der privaten Sphäre war der als „natürlich“ verstandene Ort der Frau zu finden, der Ort der privaten Versorgung, der Kindererziehung und – für den pater familias – ein Rückzugsraum. Über das Alleinvertretungsrecht des Mannes in der Öffentlichkeit und sein Herrschaftsrecht im Privaten war in die Trennung der Sphären die Hierarchie der Geschlechter strukturell eingelagert.116 112 Zu einem gehaltvollen Begriff der öffentlichen Vernunft („public reason“) siehe Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, 2006, § 26. Zu der Vorstellung, die Diskussion unter fairen Regeln führe notwendig zu vernünftigen Ergebnissen, vgl. Taylor (Fn. 103), 103 f. Kritik bei Zerilli, Value Pluralism and the Problem of Judgment: Farewell to Public Reason, Political Theory 40 (2012), 6 ff. 113 Zerilli beschreibt diese Bedingung demokratischen Austauschs als „outsidedness“, vgl. dies. (Fn. 93), 314: „Outsidedness as a condition of judging, then, entails a willingness to allow the encounter with others to raise questions about our own norms and practices.“ 114 Benhabib, Modelle des öffentlichen Raums: Hannah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Habermas, Soziale Welt 42 (1991), 147 (160 f.); ähnlich Zerilli (Fn. 112), 9. 115 Siehe bereits oben unter I. 3. Zu einer theoretischen Begründung, die aktive Staatsbürgerschaft auf wirtschaftlich unabhängige Männer zu begrenzen, vgl. Kant (Fn. 10), § 46, A 166, B 196. 116 Siehe zu diesen Zusammenhängen gerade auch in der liberalen Theorietradition Wapler, „Die
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Nicht nur aus diesem Grund ist die Unterscheidung öffentlicher und privater Bereiche der Gesellschaft in der Frauenbewegung und der feministischen Theorie immer wieder scharf kritisiert worden. In den 1970er Jahren („Das Private ist politisch“) richtete sich die Kritik auch gegen die Vorstellung einer vermeintlich staatsfreien Privatsphäre, die Frauen und Kinder nur unzureichend vor Gewalt und sexuellen Übergriffen schützte.117 In der Tat muss ein Staat, der individuelle Würde und Freiheit in den Mittelpunkt seiner politischen Ordnung stellt, die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger auch in ihren privaten Beziehungen vor Verletzungen schützen. Gleichzeitig verlangen eben diese Rechte und Freiheiten aber auch, die Intim- und Privatsphäre der Individuen zu respektieren. Denn erst dadurch wird es den Einzelnen möglich, sich allein und in sozialen Beziehungen frei zu entfalten, und dies wiederum ist die Grundlage für die vielen unterschiedlichen Lebens-, Beziehungs- und Familienformen, die wir heute kennen. Politische Gleichheit als Gleichheit in der demokratischen Öffentlichkeit zu begreifen, begrenzt sie auf den Bereich dessen, was in der politischen Gemeinschaft verhandelt werden muss, weil es über die reine Privatangelegenheit hinausgeht. Damit wird zugleich anerkannt, dass nicht jeder Konflikt den Staat etwas angeht und nicht jede menschliche Angelegenheit autoritativ durch Gesetze und andere staatliche Maßnahmen geregelt werden kann und darf. Bezogen auf die öffentliche Kommunikation macht insbesondere Hannah Arendts Begriff des Politischen die klassische Sphärentrennung deutlich. Für sie ist das Politische alles, was mit der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu tun hat, nicht aber die Lebensbereiche, die sie als „Arbeit“ von dem „Handeln“ abgrenzt: die Versorgung mit Gütern (und damit das gesamte Wirtschaftsleben), Hausarbeit und Kindererziehung. Diese Themen erscheinen bei Arendt als notwendig privat und damit von vornherein ausgeschlossen aus der politischen Diskussion.118 Die damit weiterhin verbundene geschlechterdifferente Einteilung der Welt in eine weibliche, private und eine männliche, öffentliche thematisiert Arendt nicht. Gegen eine solche Vorstellung eines abstrakt bestimmbaren und unwandelbaren Öffentlichen setzt Benhabib eine Theorie der öffentlichen Sphäre, zu der auch das Recht jedes Einzelnen gehört, beliebige Themen in die Diskussion einzubringen.119 Das entscheidende Merkmal, das den kommunikativen Raum als „öffentlich“ kennzeichnet, ist damit keine starre thematische Abgrenzung von „privaten“ Angelegenheiten, sondern die Zielrichtung der Diskussion: Die Reflexionen im öffentlichen Raum sind nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt und befassen sich mit Themen, die von den Beteiligten als gesellschaftlich relevant betrachtet werden.
Frau ist frei geboren“ – Feministische Perspektiven in der Rechts- und Sozialphilosophie, ZRPhil 2016, 115 (118 ff.). 117 Vgl. hierzu Lembke, Gewalt im Geschlechterverhältnis, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feminis tische Rechtswissenschaft Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, § 12 Rn. 2 ff. Dazu in diesem Band auch Sacksofsky; für das Zivilrecht grundsätzlicher Kocher; zur Frage der Gewalt insbesondere MacKinnon. 118 Arendt (Fn. 111), 33 ff. 119 Benhabib (Fn. 114), 160 f.; siehe auch Habermas (Fn. 106), 99.
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4. Freiheit, keine Pflichten zur Kommunikation Arendt vermischt in ihrer Theorie des Öffentlichen zwei mögliche Bedeutungen des Ausdrucks „Öffentlichkeit“: Öffentlichkeit kann einerseits den räumlichen und gegenständlichen Bereich meinen, der außerhalb privater Räumlichkeiten liegt, und andererseits die Sphäre der öffentlichen Kommunikation, die sich gegenüber privaten Diskussionszusammenhängen dadurch auszeichnet, für alle offen zu stehen und Themen zu verhandeln, an denen ein gemeinsames Interesse zumindest bei Teilen der potenziellen Diskussionsteilnehmer/innen besteht. Angesichts anhaltender Debatten um Bekleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit120 verdient dieser Unterschied Beachtung. Demokratische Öffentlichkeit ist keinesfalls gleichzusetzen mit allem, was außerhalb der räumlichen Privatsphäre stattfindet. Weder der Weg von der Wohnung zum Einkaufen, noch der private Kino- oder Theaterbesuch, noch die Straßenbahn sind per se Teil der demokratischen Öffentlichkeit, selbst wenn an diesen Orten auch politische Themen diskutiert werden können. Bedenklich sind aus diesem Grund die für Frankreich und Belgien vom EGMR gebilligten Argumente für ein Verschleierungsverbot in der Öffentlichkeit, die sich auf das „Zusammenleben in einer Demokratie“ beziehen.121 Zu den Mindestbedingungen für das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Demokratie gehört demnach, in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu zeigen.122 Der Gesichtsschleier wird in diesem Zusammenhang verstanden als „eine Abschirmung, die gegenüber anderen errichtet wird“.123 Diese Praxis dürfe verstanden werden „als Gefährdung des Rechtes anderer, in einem sozialen Raum zu leben, der das Zusammenleben erleichtert.“124 Damit wird die physisch-räumliche Öffentlichkeit mit dem demokratischen Kommunikationsraum unreflektiert vermengt. Alltägliche Tätigkeiten wie das Einkaufen und der Weg zur Arbeit werden ohne nähere Begründung zu demokratierelevanten Situationen erklärt. Dadurch wird die negative Kommunikationsfreiheit, also das Recht, in der Öffentlichkeit nicht zu interagieren und nicht Siehe nur das vor einem Jahr verabschiedete Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit in Österreich: Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit, BGBl. 2017 I v. 08.06.2017. Zu diesem Gesetz Holzleithner, Zum Verbot der Gesichtsverhüllung in Österreich – eine rechtliche Farce, femina politica 2018, 127 ff. 121 Engl. „living together“, frz. „vivre ensemble“, vgl. EGMR, 01.07.2014, Az. 43835/11 – S.A.S./ Frankreich; EGMR, 11.07.2017, Az. 37798/13 – Belcacemi et Oussar/Belgien, §§ 61 f. Auch das österreichische Gesetz (Fn. 120) wird mit dem Zusammenleben in einer Demokratie begründet, vgl. die Erläuterungen zum Gesetzentwurf, RV 1586 BlgNR 25. GP, 11: „Die Ermöglichung zwischenmenschlicher Kommunikation ist eine wesentliche Funktionsbedingung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat. Für Kommunikation bildet das Erkennen des Anderen bzw. dessen Gesichts eine notwendige Voraussetzung.“ 122 EGMR, 01.07.2014, Az. 43835/11 – S.A.S./Frankreich, § 153. 123 EGMR, 01.07.2014, Az. 43835/11 – S.A.S./Frankreich, § 122 (Übers. v. Verf.; in der NJW [2014, 2925, 2929] wird das französische clôture mit „Barriere“ übersetzt). 124 EGMR, 01.07.2014, Az. 43835/11 – S.A.S./Frankreich, Ziff. 122 (Übers. v. Verf.; in der NJW [2014, 2925, 2929] wird das französische atteinte mit „Angriff“ übersetzt. Der zitierte Satz lautet im französischen Original vollständig: „La Cour peut donc admettre que la clôture qu’oppose aux autres le voile cachant le visage soit perçue par l’État défendeur comme portant atteinte au droit d’autrui d’évoluer dans un espace de sociabilité facilitant la vie ensemble.“). 120
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zu kommunizieren, empfindlich verkürzt.125 Ein Verhüllungsverbot auf öffentlichen Straßen und Plätzen kann mit den Notwendigkeiten sozialer Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft nicht konsistent begründet werden.
5. Ungleiche Partizipationschancen und aktive Förderung Politische Gleichheit in der demokratischen Öffentlichkeit bedeutet nach dem bisher Gesagten, jederzeit selbst zu entscheiden, ob man an der politischen Debatte teilnimmt oder für ein Amt oder Mandat kandidiert. Des Weiteren bedarf sie tatsächlich gleicher Chancen, die eigenen Themen in die Diskussion einzubringen (wenn man das möchte) und zu diesem Zweck Interessengruppen wie Initiativen, Vereine und Parteien zu gründen oder ihnen beizutreten. All dies verlangt nach pluralistisch organisierten Strukturen der demokratischen Öffentlichkeit, insbesondere einer Vielfalt der Begegnungsorte und Medien sowie der Freiheit, solche Orte und Medien selbst zu schaffen. Nicht hingegen verleiht politische Gleichheit einen Anspruch, die eigenen Interessen von anderen repräsentiert zu sehen. Demokratie umfasst die „aktivistische Zumutung“,126 sich selbst ins Geschehen zu werfen, wenn andere die eigenen Belange nicht aufgreifen, und verlangt nach einer gewissen Frustrationstoleranz, wenn sich für die eigenen Anliegen keine Mehrheiten finden. Wohl aber muss demokratische Öffentlichkeit offen für alle denkbaren Angelegenheiten sein und diskriminierungsfrei ausgestaltet werden. Werden Menschen, die am politischen Prozess teilhaben möchten, aufgrund stereotyper Fremdzuschreibungen, traditioneller Rollenbilder, ungewöhnlicher Eigenschaften oder Lebensentwürfe ausgegrenzt, so beeinträchtigt sie dies in dem elementaren Anspruch auf gleiche politische Teilhabe. Aktiv fördernde Maßnahmen können darum ethisch gerechtfertigt sein, um gleiche politische Teilhabe herzustellen. Auch das Grundgesetz eröffnet hier einen gewissen politischen Gestaltungsspielraum.127 Verfassungsrechtlich sind die Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. 1 GG, die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG sowie die individuellen Grundrechte die Maßstäbe, an denen sich politische Strategien zur Verbesserung fairer demokratischer Partizipation messen lassen müssen. Sie schließen, wie oben dargelegt, jedenfalls Maßnahmen aus, die das Ergebnis der Wahl und den Wahlakt selbst zu steuern versuchen. Regelungen im Vorfeld der Wahl, wie die Absenkung der Sperrklauseln oder die parteienrechtlichen Vorschriften zur demokratischen Gestaltung der Kandidatenaufstellung, begegnen demgegenüber geringeren Bedenken. Solche Eingriffe sind nach der Rechtsprechung des BVerfG dann zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund legitimiert wer Siehe das Sondervotum in EGMR, 01.07.2014, Az. 43835/11 – S.A.S./Frankreich, § 8: kein Recht auf Kommunikation gegen den Willen der Betroffenen; ebenso Beaucamp/Beaucamp, In dubio pro libertate. Überlegungen zur Kopftuch- und Burkaverbotsdebatte, DÖV 2015, 174 (182). 126 Frankenberg, Die Verfassung der Republik. Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, 1997, 97 und passim. 127 Mangold, Repräsentation von Frauen und gesellschaftlich marginalisierten Personengruppen als demokratietheoretisches Problem, in: Eckertz-Höfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichberechtigung in der Demokratie: (Rechts-)Wissenschaftliche Annäherungen, 2019 (i.E.); Payandeh, Quoten für den Bundestag?, ZRP 2018, 189. 125
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den können, der sich aus der Verfassung ergibt und insbesondere der Integration dient, die Wahlen herstellen (bzw. ermöglichen) soll.128 Zeigen sich in der demokratischen Öffentlichkeit erhebliche und hartnäckige strukturelle Benachteiligungen bestimmter Belange oder sozialer Gruppen, so kann dies die politische Gleichheit der Betroffenen empfindlich beeinträchtigen. Gleichstellungsmaßnahmen, die politische Gleichheit im Sinne gleicher Teilhabe an demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen ermöglichen sollen, von vornherein und rundheraus als verfassungswidrig zu qualifizieren,129 verkennt daher die Zielrichtung der Gleichheitsrechte, die darauf gerichtet ist, allen Menschen gleiche Nutznießung ihrer Rechte und Freiheiten zu ermöglichen. In einer demokratischen Gesellschaft müssen die Bedingungen, unter denen Teilhabe geschieht und für alle ermöglicht werden kann, verhandelbar sein.130
IV. Fazit: Pluralistische Öffentlichkeit(en) als zukunftsoffenes Konzept Im Ausgangspunkt muss der Befund anhaltender Ungleichheit in der Demokratie beunruhigen. Ob es indes in der Sache notwendig oder auch nur politisch klug ist, im Verfahren der Kandidatenaufstellung gruppenbezogene Rechte in der Form verbindlicher Quotenregelungen zu schaffen, kann angesichts der oben bereits aufgeführten Gründe bezweifelt werden. Allgemein sind Parteien zu innerparteilicher Demokratie verpflichtet, was auch bedeutet, ihren Mitgliedern reale Chancen der Partizipation zu eröffnen.131 Verbindliche Quotenregelungen aber greifen nicht nur marginal in die Freiheit der Parteien ein, sind sie doch ein gesellschaftlich seit vielen Jahren kontrovers diskutiertes Instrument der Gleichstellungspolitik, das abzulehnen grundsätzlich unter die Meinungs- und Parteienfreiheit fällt. Problematisch sind auch die offenen oder versteckten Botschaften, die mit einer solchen Regelung transportiert werden: Sie erweckt zumindest den Eindruck, Repräsentation sei als spiegelbildliches Abbild der Bevölkerungszusammensetzung zu verstehen. Dadurch betont sie die Unterschiede zwischen sozialen Gruppen eher noch, als komplexen Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und internen Diversitäten Raum zu geben. Ob die proportionale Berücksichtigung auf den Wahlvorschlagslisten am Ende zu einer veränderten Politik führt, ist zudem keineswegs gewiss.132 BVerfGE 20, 56 (99), BVerfG NJW 2013, 1272 (1273); NJW 2014, 439 (Rn. 53 f.). BayVerfGH NVwZ-RR 2018, 457, Rn. 84; Müller, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG (Fn. 58), Art. 38 Rn. 161 Fn. 490, der allerdings nur einen Eingriff feststellt und nicht nach Möglichkeiten einer Rechtfertigung fragt; Oebbecke, Quotierung auf Landeslisten (Fn. 58), 177 f.; Ebsen, Quotierung politischer Entscheidungsgremien durch Gesetz?, JZ 1989, 553 (557). 130 Vgl. Kymlicka (Fn. 92), 151: „Since it is vital that minorities have a fair hearing in the political process, proposals for group representation themselves deserve a fair hearing.“ 131 Bezogen auf die Binnengliederung Morlok, in: Dreier (Fn. 58), Art. 21 Rn. 126; s.a. § 7 PartG. 132 Siehe auch die Bedenken bei Phillips (Fn. 11), 57 ff. und ihre Bemerkung auf 53 f.: „There is an asymmetry, however, between what alerts us to a problem and what counts as a satisfactory solution. I can think of no explanation for women’s continuing (if now more patchy) exclusion from national legislatures that does not refer to intentional or structural male power. But the reversal of this will not guarantee that women’s needs or interests are then fully and fairly represented.“ 128 129
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Diese Bedenken richten sich indes nur gegen verbindliche Quotenregelungen, die alle Parteien zu einem solches Verfahren verpflichten. Freiwillige parteiinterne Quotenregelungen werden durch sie nicht unzulässig, insbesondere weil auch strukturelle Benachteiligungen essentialisierende Wirkung haben. An die diskriminierende Fremdzuschreibung strategisch anzuknüpfen, um sie zu überwinden, ist eine von mehreren Möglichkeiten, dem „Dilemma der Differenz“ gerecht zu werden. Dass Parteien sich intern durch innerparteiliche Beschlüsse selbst an Quotenregelungen oder andere Förderinstrumente binden können, ist darum Teil ihrer demokratischen Freiheit und mittlerweile auch verfassungsrechtlich nicht mehr umstritten.133 Verfassungsrechtlich zulässig sind auch Soll-Regelungen, wie sie sich mittlerweile in den Kommunalwahlgesetzen in Baden-Württemberg (§ 9 Abs. 6 KWG), Hessen (§ 12 Abs. 1 S. 2 KWG) und Rheinland-Pfalz (§ 15 Abs. 4 KWG) finden.134 Anders als zwingende Regelungen formulieren sie zwar ein politisches Ziel und eine Erwartung an die Parteien, überlassen die Entscheidung in der Sache aber den parteiinternen Abstimmungsverfahren. Eine pluralistische Theorie der demokratischen Gleichheit steht vor der Aufgabe, das Allgemeine und das Besondere in Ausgleich zu bringen, und dies in (mindestens) dreierlei Hinsicht: Erstens muss es ihr ein Anliegen sein, sich ungerechtfertigter Fiktionen gesellschaftlicher Homogenität und essentialistisch verstandener Identitäten zu enthalten bzw. solche Vorstellungen rational zu dekonstruieren. Zweitens kann sie die grundsätzlichen Spannungen zwischen individueller Freiheit und gruppenbezogener Interessenvertretung nicht auflösen, sondern nur versuchen, sie kritisch zu reflektieren und zukunftsoffen zu verhandeln. Drittens bedarf sie einer Theorie demokratischer Öffentlichkeit(en), die nicht blind ist für strukturelle Macht- und Ungleichheitsrelationen. Politische Gleichheit dient gleicher demokratischer Freiheit. Theorien der Repräsentation und Partizipation müssen die Machtverhältnisse einbeziehen, die ungleichen Zugang zu Medien, politischen Gremien und Mandaten verursachen und dadurch gleichen Freiheitsgebrauch verhindern. Welcher tatsächlichen Voraussetzungen es bedarf, um diese Freiheit für alle zu ermöglichen, gehört zu den Kernfragen einer pluralistischen Demokratietheorie und politischen Praxis, die es weiter zu erforschen und zu verhandeln gilt.
Siehe die Nw. in Fn. 58. Zu diesen Regelungen und ersten Evaluationen, die auf eine begrenzte praktische Wirkung hinweisen, siehe den Ersten Paritätsbericht der rheinland-pfälzischen Landesregierung „Politische Teilhabe von Frauen und Männern bei den allgemeinen Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 in Rheinland-Pfalz“, 2015, LT-Drs. 16/5288, 23 ff., insb. 27 f., sowie den Bericht der brandenburgischen Landesregierung „Geschlechterparitätische Regelungen im Landtags- und Kommunalwahlrecht“, 2018, LTDrs. 6/9699, 17 f. 133
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Geschlecht als Anerkennungsverhältnis Perspektiven einer Öffnung der rechtlichen Kategorie im Zeichen des Prinzips gleicher Freiheit von
Prof. Dr. Elisabeth Holzleithner* (Wien) Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 II. Intergeschlechtlichkeit in der Geschichte von Recht und Medizin: Gender Engineering . . . . . . . . . . 460 III. Intergeschlechtlichkeit in Deutschland: Negationen in Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 1. Ein erstes Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 2. Frühe politische Interventionen und die Reform des Personenstandsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . 464 IV. Das Ende der Zweigeschlechtlichkeit: Die Wege der Höchstgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 1. Im Zeichen von Freiheit und Gleichheit: Der Beschluss des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 2. Zum Schutz der Geschlechtsidentität: Das Erkenntnis des VfGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 V. Die neuen Regelungen zur dritten Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 1. Die Macht der Verwaltung: Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 2. Der deutsche Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 3. Andeutungen für andere Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 VI. Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
I. Einleitung Die Verfassungsgerichte in Österreich und Deutschland haben in den Jahren 2017 und 2018 auf horchen lassen: Sie judizierten, dass ein positiver personenstandsrechtlicher Geschlechtseintrag auch jenseits von männlich und weiblich, die sogenannte „Dritte Option“, als verfassungsrechtlich geboten anzusehen ist.1 Damit kamen die * Für Lektüre, Kritik und Anregungen danke ich herzlich Susanne Baer, Nikolaus Benke, Karin Danielczyk, Isabell Doll, Bettina Perthold, Marija Petričević und Petra Sußner. 1 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 – (BVerfGE 147, 1), NZFam 2017, 1141, mit Anmerkung von Frie; siehe auch die analysierende Anmerkung von Wapler in jM 2018, 115. VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018. Bereits wenige Wochen nach Veröffentlichung des BVerfG-Be-
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beiden Verfassungsgerichte einer langjährigen Forderung der intergeschlechtlichen Community und ihrer Verbündeten nach, die auf legislativem Wege bis dahin nicht umzusetzen war. So hatte der deutsche Gesetzgeber in einer auf internationalen Druck angestrengten ersten Reform des Personenstandsgesetzes bloß die Möglichkeit eröffnet, den Geschlechtseintrag bei Vorliegen einer Intergeschlechtlichkeit offen zu lassen. In Österreich hatte es gar keine gesetzgeberischen Aktivitäten gegeben. Im Gefolge der höchstgerichtlichen Judikate soll nun eine nicht-binäre Geschlechtsidentität Grundlage für einen entsprechenden Geschlechtseintrag sein können – unter welchen Voraussetzungen, das galt es zu klären. Der vorliegende Beitrag widmet sich den dadurch angestoßenen, in der rechtswissenschaftlichen Geschlechterforschung schon lange thematisierten,2 ganz grundlegenden Fragen der Anerkennung individueller geschlechtlicher Entfaltung vor dem Hintergrund des Postulats, dass es Aufgabe des Rechts ist, die Bedingungen gleicher Freiheit zu gewährleisten. Recht schafft die Rahmenbedingungen dafür, wer wir – auch und gerade im Hinblick auf unser Geschlecht – füreinander sein können.3 Dabei ist in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung zu beobachten. Sie umfasst die Geschlechterbeziehungen in ihrer Gesamtheit. Das beinhaltet nicht nur die rechtliche Fassung der Kategorie Geschlecht, sondern auch die Möglichkeit, Beziehungen unabhängig vom Geschlecht der beiden Partner *innen rechtlich-institutionell anzuerkennen. So haben Österreich und Deutschland in kurzem zeitlichem Abschlusses wurde er ab 12.11.2017 im Rahmen eines „Verfassungsblog-Symposiums“ unter dem Titel Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts durchgängig positiv aufgenommen und diskutiert; https://verfas sungsblog.de/category/debates/nicht-mann-nicht-frau-nicht-nichts/ (28.11.2018) – mit Beiträgen von Anna Katharina Mangold als Initiatorin (12.11.2017), Ulrike Klöppel (Der Dritte-Option-Beschluss und die Praxis kosmetischer Genitaloperationen an Kindern, 13.11.2017), Elisabeth Greif (Tertium NON datur: Zweigeschlechtlichkeit als „Prinzip der österreichischen Gesamtrechtsordnung“?, 13.11.2017), Nora Markard (Struktur und Teilhabe: Zur gleichheitsdogmatischen Bedeutung der „dritten Option“, 14.11.2017), Romy Klimke (In Deutschland nichts Neues? Der Beschluss des BVerfG zum dritten Geschlecht aus völkerrechtlicher Perspektive, 14.11.2017), Kathleen Jäger (Optionen für die dritte Option: Fortschrittliche Regelungsmodelle anderer Länder, 16.11.2017), Sarah Elsuni (Harter oder weicher Sexit? 17.11.2017), Berit Völzmann (Gleiche Freiheit für alle! Zur freiheitsrechtlichen Begründung des BVerfG in der Entscheidung zur Dritten Option, 17.11.2017), Grietje Bars (The Politics of Recognition and the Limits of Emancipation through Law, 29.11.2017), Chris Ambrosi (Dritte Option: Für wen? 29.11.2017). Für eine der wenigen von Grund auf ablehnenden Glossen siehe Märker, Drittes Geschlecht? Quo vadis Bundesverfassungsgericht? NZFam 2018, 1–5. 2 Siehe etwa Agius/Tobler, Trans and intersex people. Discrimination on the grounds of sex, gender identity and gender expression, Office for Official Publications of the European Union 2012; Baer, Sexuelle Selbstbestimmung? Zur internationalen Rechtslage und denkbaren Konzeptionen von Recht gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung, in: Lohrenscheit (Hrsg.), Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrechte, 2009, 89–118; Büchler/Cottier, Intersexualität, Transsexualität und das Recht: Geschlechtsfreiheit und körperliche Integrität als Eckpfeiler einer neuen Konzeption, freiburger frauenstudien 2005, 115–140; Holzleithner, Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies. Eine Einführung, 2002, 123–137; Plett, Intersexualität als Prüfstein: Zur rechtlichen Konstruktion des zweigeschlechtlichen Körpers, in: Heinz/Thiessen (Hrsg.), Feministische Forschung – Nachhaltige Einsprüche, 2003, 323–336; Plett, Geschlecht im Recht – ein, zwei, drei, viele? Rechtshistorische und gendertheoretische Betrachtungen, in: Schweizer/Richter-Appelt (Hrsg.), Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen, 2012, 131–150; Schmidt, Geschlecht, Sexualität und Lebensweisen, in: Foljanty/ Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2011, 213–234. 3 Holzleithner, Legal Gender Studies. Grundkonstellationen und Herausforderungen, juridikum 2015, 471–481, m.w.N.
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stand die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Während allerdings in Deutschland der Gesetzgeber tätig wurde,4 war in Österreich wiederum ein Judikat des Verfassungsgerichts Initiator des Wandels.5 Die Erweiterung der rechtlichen Anerkennungsbeziehungen lässt sich als Prozess der Emanzipation durch Recht im Sinne einer Freisetzung individueller Autonomie rekonstruieren,6 und zwar als gleiche Freiheit im Sinne einer rechtlich verbürgten individuellen Entfaltung in Beziehungen mit anderen.7 Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf der Öffnung der Kategorie des Geschlechts, wie sie etwa in postkategorialen Ansätzen gepflogen wird.8 Das Geschlecht ist jenseits essenzialistischer Engführungen als körperlich-seelische Entität, als Prozess der Entfaltung der eigenen Körperlichkeit anzusehen, der mit entsprechenden Identifikationen einhergeht9 und der im Kontext vielfältiger Erwartungen10 hinsichtlich der Darstellung von Geschlecht – der Geschlechterperformance11 – zur Existenzweise12 wird. Geschlecht ist weniger als materielle Gegebenheit zu verstehen denn als Normengeflecht,13 in dessen Rahmen Anerkennung für individuelle geschlechtliche Existenzweisen erteilt und bisweilen versagt wird und an dessen vielfältigen Anforderungen Menschen sich abarbeiten, die sie verhandeln und in ihr Verhalten integrieren. Insofern kann davon gesprochen werden, dass die Kategorie des Geschlechts eine „normative Wendung“14 genommen hat, und das bedeutet auch, dass die rechtlichen wie sozialen Normen des Geschlechts als veränderbar und verhandelbar angesehen werden. Davon zeugen die eingangs erwähnten höchstgerichtlichen Judikate zur „dritten Option“. Zur Abstimmung siehe https://www.zeit.de/politik/2017-06/bundestag-stimmt-fuer-ehe-fueralle (3.11.2018); Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, vom Bundesrat in seiner 936. Sitzung am 25. September 2015 beschlossen. In: Drucksache 18/6665. Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, 11.11.2015, http://dip21.bundestag.de/ dip21/btd/18/066/1806665.pdf (3.11.2018). 5 VfGH, Entscheidung v. 4.12.2017, G 258/2017 u.a. 6 Holzleithner, Emanzipation durch Recht? Kritische Justiz 2008, 250–256 (250). 7 Siehe zu diesen Fragen etwa die Beiträge in Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 2018. 8 Siehe dazu etwa Baer, Der problematische Hang zum Kollektiv und ein Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert/Aleksander/Kriszio (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjektkritik. Geschlechtertheo retische Positionierungen, 2013, 47–67 und Lembke/Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht? – Oder: Wie kommen Konzepte der Intersektionalität in die Rechtsdogmatik? In: Philipp et. al. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung. Soziale Realitäten und Rechtspraxis, 2014, 261–290. 9 Holzleithner, Geschlecht und Identität im Rechtsdiskurs, in: Rudolf (Hrsg.), Geschlecht im Recht. Eine fortbestehende Herausforderung (Querelles Jahrbuch 2009), 2009, 37–62 (39–40). 10 Adamietz, Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität, 2011. 11 Siehe dazu Holzleithner, Bekleidungsvorschriften und Genderperformance, Gutachten für die Gleichbehandlungsanwaltschaft, Klosterneuburg 2015, https://www.gleichbehandlungsanwaltschaft. gv.at/documents/340065/441424/Bekleidungsvorschriften+Gutachten+2013-12-05+weiter-2.pdf/ dd6cf52b-4313-47ce-a7c6-bc0276657b72 (30.11.2018). 12 Siehe Maihofer, Geschlecht als Existenzweise: Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, 1995. 13 In diesem Sinn Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991; Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, 1997. Siehe zur Zumutung von Geschlecht Baer, Der problematische Hang zum Kollektiv (Fn. 8), 60 m.w.N. 14 Holzleithner, Legal Gender Studies (Fn. 3), 478. 4
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Um verstehen zu können, wie weitreichend der rechtliche Umschwung ist, widmet sich der Text zunächst den (Leidens-)Wegen versagter rechtlicher Anerkennung für intergeschlechtliche Personen bis zu dem Punkt, an dem die Verfassungsgerichte ihr grundrechtliches Machtwort gesprochen haben. Die beiden Entscheidungen werden ausführlich dargestellt und einer kritischen Analyse unterzogen. Schließlich befasst sich der Text mit den Vorschlägen zur Reparatur der grundrechtswidrigen Bestimmungen. Dabei wird insbesondere zu fragen sein, inwieweit die neuen rechtlichen Lösungen dem Prinzip der Selbstbestimmung gerecht werden – auch angesichts dessen zunehmend stärkerer Positionierung in der Medizin, auf die sich das Recht routinemäßig stützt. Es wird sich herausstellen, dass hier einige Desiderata verbleiben. Vor deren Hintergrund wird eine geschlechtertheoretisch fundierte Perspektive vorgeschlagen, die geeignet erscheint, das grundrechtliche Versprechen angemessener rechtlicher Anerkennungsverhältnisse einzulösen.
II. Intergeschlechtlichkeit in der Geschichte von Recht und Medizin: Gender Engineering Intergeschlechtlichkeit war dem deutschen Recht nicht immer fremd. Das Preußische Allgemeine Landrecht aus 1794 enthielt, worauf das Bundesverfassungsgericht verweist15, eine Norm, der zufolge Menschen mit uneindeutigem Geschlecht – sogenannte „Zwitter“ – die Möglichkeit hatten, sich im Alter von 18 Jahren selbst für jenes Geschlecht zu entscheiden, dem sie eher zuneigten.16 Die Geschlechtswahl konnte unabhängig von externen Expertisen erfolgen, außer es kamen Rechte dritter Personen ins Spiel.17 War ein Sachverständigenbefund erfolgt, so galt dieser auch „gegen die Wahl des Zwitters und seiner Eltern.“18 Die Regelung existierte bis 1900, als das BGB das ALR ersetzte; allerdings war sie bereits 1875 obsolet geworden.19 Damals wurde in Deutschland das Geburtenregister mit obligatorischem Geschlechtseintrag eingeführt.20 Von diesem Zeitpunkt an herrschte eine strikt binäre Geschlechterordnung. Es sollte rechtlich gelten, was sozial als gewiss angesehen wurde: dass es zwei Geschlechter gab, männlich und weiblich; dass intergeschlechtliche Personen jeweils dem einen oder anderen Geschlecht zuneigen würden und dass es gegebenenfalls Aufgabe der Medizin war, in Zweifelsfällen Klarheit zu schaffen. Recht und Medizin generierten einen für Betroffene nachgerade undurchdringlichen Nexus; Intergeschlechtlichkeit geriet zur Nichtexistenz. Das einschlägige Behandlungsmanagement, das sich ab den 1950er Jahren im Gefolge von Thesen und Experimenten des Forscher *innenteams John Money, Joan und John Hampson etab-
BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 = BVerfGE 147, 1, Rn. 3. § 20 ALR. 17 § 22 ALR. 18 § 23 ALR. 19 Muckel, Beschränkung des Geschlechtseintrags auf „männlich“ oder „weiblich“ im Personenstandsregister verfassungswidrig, JA 2018, 154–157 (155). 20 § 22 Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung, vom 6.2.1875, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1875, Nr. 4, 23–40. 15 16
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lierte – die sogenannte „Optimal Gender Policy“21 – war darauf ausgerichtet, ein eindeutiges Geschlecht zu erschaffen: mit Mitteln der Chirurgie, der Endokrinologie sowie der Erziehung. Man könnte hier von einem „Gender Engineering“ sprechen. Insbesondere sollten betroffene Personen nichts von ihrem Schicksal erfahren, um die Stabilität der Identifikation mit dem Zuweisungsgeschlecht zu gewährleisten. Erst gegen Ende der 1990er Jahre regte sich dagegen Widerstand: Es bildeten sich Selbsthilfegruppen wie die Intersex Society of North America 22 oder die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Gynäkologie und Pädiatrie23, und erste kritische Fachartikel erschienen.24 Diese Bewegungen und neuen Ansätze hatten mit ganz wenigen Ausnahmen die gesamte medizinische Profession gegen sich. Es waren primär Gruppen von Betroffenen und dekonstruktivistisch argumentierende Geschlechterforscher *innen, die versuchten, die Phalanx aufzubrechen. Ein tragischer Fall verlieh der auf keimenden Bewegung Momentum: die Geschichte von David Reimer, dessen Biographie unter dem Titel „Der Junge, der als Mädchen aufwuchs“25 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Als Reimer ein Kleinkind war, verlor er im Zuge einer missglückten Phimoseoperation seinen Penis. Der mit Blick auf die Zukunft des Kindes zu Rate gerufene John Money, ein Pionier der medizinischen Behandlung von intergeschlechtlichen wie von transgeschlechtlichen Personen und der führende Verfechter eines Gender Engineering, riet dazu, den Knaben als Mädchen aufzuziehen; die Eltern fügten sich diesem Vorhaben. Der Fall entwickelte sich aber bei weitem nicht so, wie er publizistisch verarbeitet wurde. Entgegen der Darstellungen Moneys26 wollte sich David Reimer nie mit seinem zugewiesenen Geschlecht abfinden, und als er als Jugendlicher von seinem Schicksal erfuhr, wechselte er zum männlichen Geschlecht.27 Dass diese Vorkommnisse lange Zeit im Verborgenen blieben, ist ein eigener Skandal. Das Team um Milton Diamond, dessen Recherchen die Wahrheit ans Licht brachte, sah sich zudem mit extremer Abwehr konfrontiert, und es gelang nur unter Mühen, den einschlägigen Text in einer medizinischen Fachzeitschrift unterzubringen.28 Dies ist umso gravierender, 21 Auch bekannt als „Hopkins Protocols“; vgl. Oakley, Sex, Gender and Society, 2016, 7. Siehe z.B. Money, Hermaphroditism: Recommendations Concerning Case Management, Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 1956, 547–556 sowie Money/Hampson Joan/Hampson John, Hermaphroditism: recommendation concerning assignment of sex, change of sex psychologic management, Bulletin of the John Hopkins Hospital 1955, 284–300. Kritisch dazu Fausto-Sterling, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality, 2000, 45–77. Ein Überblick findet sich bei Petričević, Rechtsfragen zur Intergeschlechtlichkeit, 2017, 49–54. 22 Siehe den Überblick bei Kessler, Lessons from the Intersexed, 1998, 77–78. 23 Siehe https://www.wissensportal-lsbti.de/webkatalog/aggpg-arbeitsgruppe-gegen-gewalt-in-derpaediatrie-und-gynaekologie (26.12.2018). 24 So z.B. Kessler, The Medical Construction of Gender: Case Management of Intersexed Infants, Signs: Journal of Women in Culture and Society 1990, 3–26. 25 Colapinto, Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. Aus dem Amerikanischen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß, 2000. 26 Siehe etwa Money, Ablatio penis: normal male infant sex-reassigned as a girl, Archives of Sexual Behavior 1975, 65–71. 27 Colapinto, Der Junge, der als Mädchen aufwuchs (Fn. 25), 192–194. 28 Diamond/Sigmundson, Sex Reassignment at Birth. Long-term Review and Clinical Implications, in: Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine 1997, 298–304. Zu den Schwierigkeiten siehe Colapinto, Der Junge, der als Mädchen aufwuchs (Fn. 25), 216–222.
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als gerade der Fall Reimer verwendet wurde, um einige Grundthesen der Behandlung intergeschlechtlicher Personen zu stützen: die chirurgischen und hormonellen Interventionen, das Gender Engineering und das damit in Verbindung stehende Verheimlichen der Geschlechtergeschichte.29 Wenige Jahre nach publik werden seiner Geschichte nahm sich David Reimer das Leben. Seine Mutter zeigte sich überzeugt, dass sein geschlechtlicher Leidensweg – sie sprach von einem „devastating experiment“30 – dafür ausschlaggebend war.
III. Intergeschlechtlichkeit in Deutschland: Negationen in Recht und Politik Die frühe Bewegung zur Emanzipation intergeschlechtlicher Existenzweisen in den 1990er Jahren führte in Deutschland zu einem ersten Gerichtsverfahren, in welchem die klagende Person ihre rechtliche Anerkennung einforderte. Damit war die Hoffnung verbunden, dass dies auch Auswirkungen auf den Umgang mit intergeschlechtlichen Personen insgesamt haben würde: Dass die Anerkennung ihres real existierenden, nicht binären Geschlechts, ihrer damit im Einklang befindlichen Geschlechts identität, auch mit einer Anerkennung ihrer Körper einhergehen würde. Denn das wesentliche Ziel war (und ist), dass medizinische Interventionen an nicht einwilligungsfähigen Personen unterbleiben müssen. Beiden Anliegen blieb ein Erfolg versagt. Die in diesem Verfahren ergangenen Judikate müssen heute geradezu als Lehrstücke der Abwehr gegen unerwünschte geschlechtliche Existenzweisen gelten.
1. Ein erstes Gerichtsverfahren Es begann vor dem Amtsgericht München, das sich mit einem Antrag zu befassen hatte, wahlweise als Zwitter, Hermaphrodit, Intersexueller oder Intrasexueller ins Geburtenbuch eingetragen zu werden. Die rechtliche Argumentation war eigentlich bestechend: Es sei im deutschen Recht nirgends verfügt, dass als einzutragendes Geschlecht nur männlich oder weiblich gewählt werden könnte; daher dürfte einem solchen Eintrag auch gar nichts im Wege stehen: Der rechtlich konstatierte geschlechtliche Personenstand sollte ja der geschlechtlichen Körperlichkeit der antragstellenden Person entsprechen. Der damit befasste Amtsrichter versuchte zunächst herauszufinden, mit welchem Phänomen er es zu tun hatte. Dafür konsultierte er den bekannten Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. Das dort niedergelegte Wissen fand umfänglich Eingang in die Entscheidung, darunter das folgende Zitat: 29 Die konventionellen Zugangsweisen und den zunehmenden Umschwung in der Fachwelt beschreiben mit weiteren Nachweisen Wiesemann/Ude-Koeller/Sinnecker/Thyen, Ethical principles and recommendations for the medical management of differences of sex development (DSD)/intersex in children and adolescents, European Journal of Pediatrics 2010, 671–679. 30 Associated Press, David Reimer, 38, Subject of the John/Joan Case, https://www.nytimes. com/2004/05/12/us/david-reimer-38-subject-of-the-john-joan-case.html (7.2.2019); siehe auch Colapinto, Gender Gap. What were the real reasons behind David Reimer’s suicide? 3.6.2004, https://slate. com/technology/2004/06/why-did-david-reimer-commit-suicide.html (3.11.2018).
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„Beim Menschen werden […] das chromosomale, das gonadale, das genitale, das psychische und das soziale Geschlecht unterschieden. Diese […] Parameter weisen nicht bei jedem Menschen in allen Qualitäten auf das gleiche Geschlecht hin. Vielmehr werden verschiedene Formen der sogenannten Intersexualität beschrieben, eine körperliche Beschaffenheit […], die sich zwischen den typischen Merkmalen des weiblichen und des männlichen Geschlechts bewegt oder eine Mischform darstellt.“31
Mit diesem medizinischen Befund könnte eine Interpretation wie jene der antragstellenden Person problemlos begründet werden. Es gibt eben, medizinisch betrachtet, Personen, die intergeschlechtlich sind; wenn das so ist, sollte dem ihr Geschlechtseintrag entsprechen. Der Richter aber knüpfte in seiner Interpretation an den Begriff „Mischform“ an: Bei jedem der Elemente (chromosomal, gonadal, genital) würde die Medizin jeweils eine männliche und eine weibliche Komponente ausmachen. Selbst wenn jemand intergeschlechtlich wäre, dann ließen sich bei dieser Person trotzdem noch die einzelnen männlichen oder weiblichen geschlechtlichen Komponenten ausmachen. Dass sie nicht „zusammenpassen“, würde dann nichts zur Sache tun. Entsprechend sah die richterliche Schlussfolgerung aus: „Daraus ergibt sich, dass die medizinische Wissenschaft die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als gegeben voraussetzt.“32
Der Antrag wurde also abgewiesen. Zusätzlich brachte der Richter einen „Grundgedanken“ der deutschen Rechtsordnung aus dem berühmten ersten Transsexuellenjudikat des Bundesverfassungsgerichts ins Spiel, nämlich das Prinzip, „dass jeder Mensch entweder ‚männlichen‘ oder ‚weiblichen‘ Geschlechts ist und zwar unabhängig von möglichen Anomalien im Genitalbereich.“33 An dieser Stelle war nun das Phänomen der Intergeschlechtlichkeit über den Begriff der rein äußerlichen Anomalie vollends zum Verschwinden gebracht. Das Ganze wurde zusätzlich innerrechtlich abgesichert, weil nicht sein durfte, was in die rechtliche Landschaft nicht hineinpasste: „Wehrpflicht und Ehe“ galten im Jahr 2001 noch als „nur zwei der wesentlichen Institute, die eine Zuordnung des Menschen zu einem der beiden Geschlechter voraussetzen.“34 Das hat sich bekanntlich geändert. Die antragstellende Person ging in die Berufung, doch auch vor dem Landgericht München hatte sie keinen Erfolg.35 Das Landgericht stellte zunächst fest, sie wäre gar kein „echter“ Zwitter, sondern ein bloßer „Pseudohermaphrodit“ und als solcher (aufgrund des Überwiegens weiblicher Geschlechtsmerkmale) in Wahrheit ohnehin eine Frau.36 Intergeschlechtlichkeit wäre zudem keine eigene Geschlechterkonfiguration, sondern ein Oberbegriff für „Störungen der sexuellen Differenzierung“; deshalb könnte ein Eintrag als Zwitter nicht in Frage kommen. Freilich überzeugte der AG München, Beschluss v. 13.9.2001, Az.: 722 UR III 302/00; NJW-RR 2001, 1586. AG München, Beschluss v. 13.9.2001, Az.: 722 UR III 302/00; NJW-RR 2001, 1586. 33 BVerfGE 49, 286 (298) – Transsexuelle I (1978), zitiert in AG München, Beschluss v. 13.9.2001, Az.: 722 UR III 302/00; NJW-RR 2001, 1586 (1587). 34 AG München, Beschluss v. 13.9.2001, Az.: 722 UR III 302/00; NJW-RR 2001, 1586 f. 35 LG München I, Beschluss v. 30.6.2003 – 16 T 19449/04; NJW-RR 2003, 1586 (1590 f.). 36 Vgl. aus Justinians Corpus Iuris Civilis Dig. 1.5.10 Ulpianus 1 ad Sabinum. „Quaeritur: hermaphroditum cui comparamus? et magis puto eius sexus aestimandum, qui in eo praevalet. Es wird gefragt: Wem stellen wir den Hermaphroditen gleich? Ich glaube eher, er muss dem Geschlecht zugeordnet werden, das in ihm überwiegt.“ Mit Dank an Nikolaus Benke für diesen Hinweis. 31
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Hinweis auf den Krankheitscharakter schon damals nicht, zumal angesichts des rechtlichen Umgangs mit der medizinisch noch vollumfänglich pathologisierten „Transsexualität“: Auch hier war von einer Störung die Rede, jener der Geschlechts identität.37 Die Diagnose einer solchen Störung wurde aber – damals noch unter Voraussetzung der Fortpflanzungsunfähigkeit und weitreichender geschlechtsmodifizierender operativer Eingriffe38 – als Grundlage für einen Wechsel des geschlechtlichen Personenstands gedeutet.39 Selbst wenn das Gericht davon ausgehen musste, dass Intergeschlechtlichkeit als Krankheit zu verstehen war, so sagte dies nichts über den rechtlichen Umgang damit aus. Die antragstellende Person focht diesen ablehnenden Beschluss nicht mehr an; damit war das Verfahren abgeschlossen.
2. Frühe politische Interventionen und die Reform des Personenstandsgesetzes Neben der rechtlichen blieb auch politischen Interventionen der Erfolg versagt. Von 1996 an wurden mehrfach Kleine Anfragen an deutsche Bundesregierungen gestellt; Regelungsbedarf wurde niemals gesehen.40 Als exemplarisch mag gelten, wie eine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ im Jahr 2007 nachgerade schnöde abgefertigt wurde.41 Die deutsche Bundesregierung wollte das herrschende Behandlungsma37 „Störungen der Geschlechtsidentität“, Kapitel F64 im ICD-10 Kapitel V(F) (Internationale Klassifikation psychischer Störungen). 38 Auch hier wieder bis das BVerfG ein Machtwort sprach und § 8 Abs. 1 Nrn 3 und 4 TSG auf hob: Beschluss des Ersten Senats v. 11.1.2011, 1 BvR 3295/07 = BVerfGE 128, 109–137. 39 Unter der Voraussetzung, dass die Vorgaben des Transsexuellengesetzes eingehalten werden. Siehe dazu und zu den Änderungen, die im Lauf der Zeit aufgrund der Judikatur des BVerfG erforderlich wurden, Adamietz, Geschlecht als Erwartung (Fn. 10). Kritik am und Reformvorschläge für das mittlerweile völlig „durchlöcherte“ TSG finden sich bei Adamietz/Bager, Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen. Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- und Transsexualität – Band 7, 2016, https://www.bmfsfj.de/blob/114064/460f9e28e5456f6cf2 ebdb73a966f0c4/imag-band-7-regelungs--und-reformbedarf-fuer-transgeschlechtliche-menschen--band-7-data.pdf (18.1.2019). 40 Siehe dazu in aller Kürze Plett, Begrenzte Toleranz des Rechts gegenüber individueller sexueller Identität, in: Duttge/Engel/Zoll (Hrsg.), Sexuelle Identität und gesellschaftliche Norm, 2010, 53–67 (65). Folgende Kleine Anfragen wurden allesamt so beantwortet, dass kein Regelungsbedarf gesehen wurde: Kleine Anfrage der PDS vom 30.9.1996, „Genitalanpassungen in der Bundesrepublik Deutschland“, BT-Drs. 13/5757, mit Antwort der Bundesregierung vom 29.10.1996, BT-Drs. 13/5916; Kleine Anfrage der PDS vom 1.3.2001, „Intersexualität im Spannungsfeld zwischen tatsächlicher Existenz und rechtlicher Unmöglichkeit“, BT-Drs. 14/5425 mit Antwort der Bundesregierung vom 20.3.2001, BTDrs. 14/5627; Kleine Anfrage der Linken vom 5.2.2007, „Rechtliche Situation Intersexueller in Deutschland“, BT-Drs. 16/4147, mit Antwort der Bundesregierung vom 14.2.2007, BT-Drs. 16/4322; Kleine Anfrage der Linken vom 5.2.2007, „Situation Intersexueller in Deutschland“, BT-Drs. 16/4287 mit Antwort Bundesregierung vom 22.3.2007, BT-Drs. 16/4786; Kleine Anfrage der Linken vom 22.4.2009, „Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – Rechtliche und statistische Aspekte“, BT-Drs. 16/12769 mit Antwort der Bundesregierung vom 2.6.2009, BT-Drs. 16/13269; Kleine Anfrage der Linken vom 23.4.2009, „Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – Medizinische Aspekte und die Förderung Betroffener“, BT-Drs. 16/12770, mit Antwort der Bundesregierung vom 2.6.2009, BT-Drs. 16/13270. 41 Kleine Anfrage der Linken vom 5.2.2007, „Situation Intersexueller in Deutschland“, BT-Drs. 16/4287 mit Antwort der Bundesregierung vom 22.3.2007, BT-Drs. 16/4786; http://dipbt.bundestag. de/extrakt/ba/WP16/65/6565.html (3.11.2018).
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nagement nicht hinterfragen, und damit die Legitimation von Eingriffen in die Körper nicht einwilligungsfähiger intergeschlechtlicher Kinder: Zwar würden jegliche medizinische Eingriffe grundsätzlich der Einwilligung der betroffenen Person bedürfen. Im Fall von Kindern mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen wären aber, wie mit Bezug auf § 1627 BGB konstatiert wurde, Operationen in der frühen Kindheit mit Einwilligung der Eltern möglich. Eine Gefährdungslage, die „staatliche Interventionen“ erforderlich machen würde, sei typischerweise nicht gegeben, nicht zuletzt „angesichts der Vielgestaltigkeit der Sachverhalte, die unter Intersexualität gefasst werden“42. Um einen solchen Satz schreiben zu können, mussten die damals bereits vorliegenden vielgestaltigen Berichte von Verletzungen, physischen und psychischen Spätfolgen solcher Interventionen ignoriert werden.43 Ebenfalls unberücksichtigt blieben medizinethische Überlegungen44 in Richtung eines stärkeren Schutzes der Integrität von intergeschlechtlichen Personen wie auch die Arbeiten der kritischen, geschlechtertheoretisch informierten Rechtswissenschaft45. Nur wenige Jahre später wurde dann aber doch Handlungsbedarf gesehen. Motiviert durch einen Schattenbericht46 des Vereins Intersexuelle Menschen und seiner angeschlossenen Selbsthilfegruppe XY-Frauen vom 2.7.2008 hatte der UN-Ausschuss zur Überwachung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) die deutsche Bundesregierung in seinem Staatenbericht aufgefordert, in einen Dialog mit intergeschlechtlichen Menschen zu treten und Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen.47 Dabei musste es um deren körperliche Identität ebenso wie um Fragen des Personenstandes gehen. Darauf hin wurde der deutsche Ethikrat beauftragt, eine Studie zu erstellen. Basierend auf einer großen Zahl an Berichten intergeschlechtlicher Personen sowie Expertisen aus Recht und Medizin wurde eine Stellungnahme verfasst, die vielen Aktivist*innen zwar nicht weit genug ging.48 Gleichwohl konnte sie als Ausdruck eines medizinischen wie rechtlichen Paradigmenwechsels gelten, der sich bereits im Zugang ausdrückte: So verwendete der Deutsche Ethikrat zwar das international gebräuchliche Kürzel DSD, wollte darunter aber nicht Störungen (Disorders) sondern nicht-pathologisierend Unterschiede (Differences) der geschlechtlichen Ent Antwort der Bundesregierung vom 22.3.2007, BT-Drs. 16/4786, 7. Siehe mit vielen Nachweisen Lang, Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern, 2006, 229 ff. (Kapitel „Genitalverstümmelung und Gewalt“). 44 Siehe etwa die Beiträge in Sytsma (Hrsg.), Ethics and Intersex, 2006. 45 Aus der Zeit vor dieser Anfragebeantwortung sind neben den Angaben in Fußnote 2 insbesondere die Beiträge von Konstanze Plett zu nennen, darunter Intersexuelle – gefangen zwischen Recht und Medizin, in: Koher/Pühl (Hrsg.), Gewalt und Geschlecht. Konstruktionen, Positionen, Praxen, 2003, 21–41; siehe auch Rothärmel, Rechtsfragen der medizinischen Intervention bei Intersexualität, Medizinrecht 2006, 274–284 sowie Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e.V., 1-0-1 [one ’o one] intersex Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 17.6.–31.7.2005, Berlin 2005. 46 Zu finden unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Pakte_Konventionen/CEDAW/cedaw_state_report_germany_6_2007_parallel_2_de.pdf (7.11.2018). 47 CEDAW/C/DEU/CO/6 v. 10.2.2009, Rz 62. 48 Siehe dazu die große Anzahl von Beiträgen unter http://blog.zwischengeschlecht.info/pages/ Ethikrat-Intersex-Chronik-2008-2013 (12.02.2014). 42 43
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wicklung (Sexual Development) verstehen.49 Im Mittelpunkt der gesamten Studie steht das informierte und selbstbestimmte Subjekt; leitende Prinzipien sind Fürsorge, Leidens- und Schadensvermeidung sowie das Recht eines Kindes auf eine offene Zukunft. Zu einem völligen Verbot von geschlechtszuweisenden Eingriffen konnte man sich allerdings nicht durchringen. Die entscheidende Passage atmet Kompromisscharakter: „Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei DSD-Betroffenen, deren Geschlechtszugehörigkeit nicht eindeutig ist, stellen einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit dar. […] Bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen sollten solche Maßnahmen nur erfolgen, wenn dies nach umfassender Abwägung aller Vor- und Nachteile des Eingriffs und seiner langfristigen Folgen aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls erforderlich ist. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn die Maßnahme der Abwendung einer konkreten schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder das Leben der Betroffenen dient.“50
Das Umdenken in der medizinischen Profession hat seit Mitte der 2000er Jahre zu Revisionen von Leitlinien zum Umgang mit intergeschlechtlichen Neugeborenen und Kindern geführt.51 In allen einschlägigen Papieren wird der Spielraum für medizinische Interventionen (weiter) eingeschränkt. Doch die Absichtserklärungen und Selbstverpflichtungen scheinen entweder nicht recht zu jenen durchzudringen, die selbst die Behandlungen durchführen. Oder die Vorstellung davon, was „aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls erforderlich“ ist, wird doch weiter interpretiert als nur mit Bezug auf die Abwendung einer schwerwiegenden Gefahr für Leben und Gesundheit. So hat eine Studie von Ulrike Klöppel für die Zeit bis inklusive 2014 nachgewiesen, dass einschlägige Eingriffe nach wie vor gang und gäbe waren. Dabei war zwar ein „Rückgang ‚feminisierender‘ und ‚maskulinisierender‘ Genital operationen bei den traditionellen Intersex-Diagnosen (d.h. einem sehr eng gefassten Diagnosespektrum)“52 festzustellen; die Zahl der Eingriffe im Zusammenhang mit Diagnosen, die „Fehlbildungen“ der männlichen oder weiblichen Genitalien konstatieren,53 war freilich konstant, teilweise sogar steigend. Im Gefolge der neuen Perspektive würden „Veränderungen der Diagnosepraktiken und damit verbunden Ver49 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Intersexualität, 2012, 12; https://www.ethikrat.org/filead min/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnIntersex_Deu_Online.pdf (7.11.2018). 50 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Intersexualität (Fn. 49), 174. 51 Siehe etwa Hughes/Houk/Ahmed/Lee and LWPES1/ESPE2 Consensus Group, Consensus statement on management of intersex disorders, in: Archives of Diseases in Childhood 2006, 554–563; auch die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin veränderte 2007 ihre Leitlinien und plädierte erstmals für Zurückhaltung „bei Genitalplastiken und insbesondere Klitorisreduktionsplastiken, sofern allein ‚kosmetische Gründe‘ vorliegen.“ Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter, 2016, 11; https://www.gender.hu-berlin.de/de/publikatio nen/gender-bulletins/bulletin-texte/texte-42/kloeppel-2016_zur-aktualitaet-kosmetischer-genital operationen (7.11.2018). 52 Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen (Fn. 51), 9. 53 Es handelt sich dabei um folgende ICD-10-Kategorien: Q52: Sonstige angeborene Fehlbildungen der weiblichen Genitalorgane; Q53: Non-descensus testis; Q54: Hypospadie; Q55: Sonstige angeborene Fehlbildungen der männlichen Genitalorgane; siehe Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen (Fn. 51), 4.
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schiebungen zwischen den Diagnosegruppen“ erfolgen – weg von Intergeschlechtlichkeit und hin zu Fehlbildungen der Genitalien, bei denen chirurgische Eingriffe offenbar als legitim erscheinen. Demgegenüber sah Klöppel, und darin ist ihr zuzustimmen, vor dem Hintergrund menschenrechtlicher Vorgaben „alle kosmetischen Genitaloperationen an Kindern, die der Selbstbestimmung der Behandelten entzogen sind, kritisch“54. Die Studie empfahl ein entsprechend engmaschiges politisches Monitoring. In einer Follow Up-Studie aus 2018 wird nun ganz vehement ein „Verbot von kosmetischen Operationen am Genitale, und zwar unabhängig von Diagnosen und medizinischer Deutungsmacht“55 gefordert, weil alle wohlgemeinten neuen Leitlinien56 und politischen Absichtserklärungen keine Konsequenzen nach sich gezogen haben. Die reformerische Verve des Gesetzgebers im Anschluss an den Bericht der Ethikkommission drang zu solchen Fragen gar nicht vor, sondern beschränkte sich auf die einleitend angesprochene Neugestaltung des Personenstandsrechts. Der deutsche Ethikrat hatte, vor dem Hintergrund etlicher juristischer Expertisen57 sowie unter Bezugnahme auf eine Fülle kritischer Literatur aus dem Bereich der Legal Gender Studies,58 konkrete Vorschläge gemacht, darunter die Schaffung einer dritten Option unter der Bezeichnung „anderes“. Zusätzlich sollte die Möglichkeit eingeführt werden, den Geschlechtseintrag offen zu lassen, bis sich eine betroffene Person selbst entscheiden kann.59 Die Mehrheit des Ethikrates schlug vor, Personen mit dem geschlechtlichen Personenstand „anderes“ das Eingehen einer Lebenspartnerschaft zu 54 Alle Zitate Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen (Fn. 51), 9. Vgl. auch Veith/HasselReusing/Kreuzer, Parallelbericht zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Über einkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Erstellt von: Intersexuelle Menschen e.V./XY-Frauen (2015), http://inter-sex.schattenbe richt.org (30.11.2018) sowie Schneider/Baltes-Löhr, Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz, 3. Aufl. 2018; Gruber, Intergeschlechtlichkeit und Gewalt, in: Arzt/Brunnauer/Schartner (Hrsg.), Sexualität, Macht und Gewalt, 2018, 131–152. 55 Hoenes/Januschke/Klöppel, Häufigkeit normangleichender Operationen „uneindeutiger“ Genita lien im Kindesalter. Follow Up-Studie, Ruhr-Universität Bochum 2018, 2; https://omp.ub.rub.de/ index.php/RUB/catalog/book/113 (7.2.2019). 56 Leitlinie der Gesellschaft für Urologie (DGU) eV, der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) eV, der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) eV, S2k -Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung (aktueller Stand: 07/2016), https:// www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/174-001l_S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016 -08_01.pdf (3.11.2018). Siehe auch die Stellungnahme der Bundesärztekammer auf Empfehlung ihres wissenschaftlichen Beirats „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/ Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)“ vom 30.1.2015, http:// www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/BAeK-Stn_DSD.pdf (3.11.2018). 57 Stellungnahmen zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland wurde von folgenden Jurist*innen verfasst und sind über die Seite des Deutschen Ethikrates zugänglich (https://www. ethikrat.org/publikationen/schriftliche-stellungnahmen-der-sachverstaendigen-zur-intersexua litaet/, 02.12.2018): Nina Dethloff, Angela Kolbe, Ulrike Lembke, Eva Matt, Konstanze Plett, Juana Remus, Sonja Rothärmel, Matthias Spranger, Oliver Tolmein, Britt Tönsmeyer sowie Silja Vöneky und Hans Christian Wilms. 58 Insbesondere Kolbe, Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht. Eine interdisziplinäre Untersuchung, 2010; Adamietz, Geschlecht als Erwartung (Fn. 10) und Plett, Rechtliche Aspekte der Intersexualität, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, 162–175. 59 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Intersexualität (Fn. 49), 177.
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ermöglichen; eine Minderheit sprach sich für die Öffnung der Ehe aus.60 Angeregt wurde darüber hinaus eine Prüfung, ob das Geschlecht als Personenstandskategorie überhaupt noch angezeigt ist.61 Der deutsche Gesetzgeber entschied sich für eine minimalistische Variante. Er unterschritt damit den vom Ethikrat eingeforderten Standard, wohl um das konventionelle Geschlechtergefüge so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. So wurde darauf verzichtet, eine eigene Kategorie für intergeschlechtliche Personen einzuführen. Stattdessen wurde für den Fall der Nichtzuordenbarkeit zu einem der konventionellen Geschlechter verfügt, dass der entsprechende Eintrag schlicht zu unterbleiben hatte. Der im Jahr 2013 neu eingefügte § 22 Abs. 3 PStG lautete in der Folge: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“62
Die Bestimmung, die intergeschlechtliche Personen zum „rechtliche[n] Nullum“63 erklärt, wurde nicht nur von Aktivist*innen64 stark kritisiert. So wurde die Befürchtung vorgetragen, dass der Zwang zur Nichteintragung im Fall der Uneindeutigkeit Eltern und Ärzt*innen noch stärker in Vereindeutigungsnöte bringen könnte – und dass die Zahl der medizinischen Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern sogar steigen könnte. Der durch die Norm eröffnete Raum für geschlechtliche Unein deutigkeit war jedenfalls äußerst schmal; geschaffen wurde eine Leerstelle, eine Nicht-Identität, die konzeptionell nicht überzeugen konnte65 und mit der sich viele intergeschlechtliche Personen und ihre Verbündeten nicht zufrieden geben wollten. Überdies hat eine Studie nachgewiesen, dass die Bestimmung in der Praxis der Standesämter niemals wirklich „angekommen“ ist und sehr unterschiedlich gehandhabt wurde.66 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Intersexualität (Fn. 49), 177. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Intersexualität (Fn. 49), 178. 62 Zur Norm und ihren Folgeproblemen siehe Sieberichs, Das unbestimmte Geschlecht, FamRZ 2013, 1180–1184. 63 Mangold, Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts (Fn. 1). 64 Siehe zum Beispiel http://maedchenmannschaft.net/tag/personenstandsgesetz/ (12.02.2014). 65 Z.B. Helms, Brauchen wir ein drittes Geschlecht? Reformbedarf im deutschen (Familien-) Recht nach Einführung des § 22 Abs. 3 PStG, 2015; Siehe auch Krämer/Sabisch, Inter *: Geschichte, Diskurs und soziale Praxis aus Sicht der Geschlechterforschung, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2019, 1213–1222; Petričević, Rechtsfragen zur Intergeschlechtlichkeit (Fn. 21), 293–297; siehe auch die Beiträge diverser Autor *innen im Sammelband von Schochow/Gehrmann/Steger (Hrsg.), Inter * und Trans*identitäten. Ethische, soziale und juristische Aspekte, 2016, insbesondere: Plett, Trans*und Inter * im Recht: Alte und neue Widersprüche, 215–230; Schmidt, Das Recht „auf Anerkennung der selbstbestimmten geschlechtlichen Identität“ gemäß Art. 2 I, 1 I GG im Hinblick auf den geschlechtlichen Personenstand, 231–256; Lettrari/Willer, Aktuelle Aspekte der Rechtslage für intersexuelle Menschen, 257–277; Richter, Geschlechtliche Identitäten als rechtsgestalterische und rechtsreformerische Herausforderung, 279–299. Siehe des Weiteren Richter/Laing, Die Bedeutung des Geschlechts im Recht, in: Naß et al. (Hrsg.), Geschlechtliche Vielfalt (er)leben. Trans*und Intergeschlechtlichkeit in Kindheit, Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter, 2016, 93–112; Wahl, Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie. Intersexualität zwischen Medizin und Menschenrechten, in: Bauer/Quinn/Hotz-Davies (Hrsg.), Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit, 2018, 115–133. 66 Althoff/Schabram/Follmar-Otto, Gutachten: Geschlechtervielfalt im Recht. Status quo und Ent60 61
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IV. Das Ende der Zweigeschlechtlichkeit: Die Wege der Höchstgerichte Was der Gesetzgeber an emanzipatorischen Schritten nicht schafft, kann gegebenenfalls vor einem Höchstgericht abgetrotzt werden. Es soll aussprechen, dass jenes in den Grundrechten enthaltene Versprechen der gleichen Anerkennung im geltenden (Gesetzes-)Recht nicht in angemessener Weise zum Ausdruck kommt und Besserung anordnen.67 Und so trat gut fünfzehn Jahre nach dem ersten Verfahren eine weitere Person in Deutschland den Marsch durch die Instanzen an, weil sie in ihrer geschlechtlichen Konfiguration und Identifikation anerkannt und nun, nach der neuen Rechtslage, nicht bloß über einen Mangel identifiziert werden wollte.68 Dieses Verfahren wurde im Rahmen einer Kampagne geführt, die unter dem Schlagwort „Dritte Option“69 stand und gilt als Musterstück strategischer Prozessführung.70
1. Im Zeichen von Freiheit und Gleichheit: Der Beschluss des BVerfG Die unteren Instanzen sahen sich nicht imstande, dem Anliegen der antragstellenden Person nachzukommen und als Geschlecht „inter“ oder „divers“ einzutragen, wie dies im Antrag an das Standesamt Gehrden bei Hannover gefordert wurde.71 Dem hatte der deutsche Staat sogar insofern einen Riegel vorgeschoben, als in der Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz ein Eintrag wie „ungeklärt“ oder „intersexuell“ für unzulässig erklärt worden war.72 Eine Verfassungswidrigkeit der Regelung konnte die im Anschluss zuständige Richterin am Amtsgericht Hannover nicht erkennen.73 So mussten zwei weitere Instanzen bemüht werden, die inhaltlich gleichlautend entschieden – das Oberlandesgericht Celle74 und der Bundesgerichtswicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt. Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität – Band 8, 2017, 17–26, https://www.bmfsfj.de/blob/114066/8a02a557eab695bf 7179ff2e92d0ab28/imag-band-8-geschlechter vielfalt-im-recht-data.pdf (7.11.2018). 67 Vgl. Holzleithner, Emanzipatorisches Recht – ein Widerspruch in sich? In: Gender Initiativ kolleg: Gewalt und Handlungsmacht. Queer_Feministische Perspektiven, 2012, 226–241 (231). 68 Mangold, Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts (Fn. 1) spricht treffend davon, dass die Untätigkeit und Halbherzigkeit des Gesetzgebers Betroffene nachgerade zwingt, ihre Grundrechte „ressourcenintensiv“ vor dem Bundesverfassungsgericht einzufordern. 69 http://dritte-option.de/ (3.11.2018). 70 http://grundundmenschenrechtsblog.de/dritte-option-ein-beispiel-fuer-strategic-litigation-indeutschland/ (3.11.2018). Siehe auch den folgenden Blogbeitrag und die kritische Intervention in einem Kommentar https://www.gwi-boell.de/de/2017/11/09/erdbebenhafter-push-fuer-die-rechte-von-in ter-nicht-binaeren-und-trans-menschen (3.11.2018). 71 Alle Judikate finden sich unter http://dritte-option.de/juristisches/ (31.7.2018). 72 „Eine Eintragung unterbleibt, wenn das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. Umschreibungen wie ‚ungeklärt‘ oder ‚intersexuell‘ sind nicht zulässig.“ (Anfügung des Satzes an Nummer 21.4.3, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (PStG-VwV-ÄndVwV) – BR-DRs. 29/14 v. 30.1.2014). 73 Auszüge aus dem Beschluss unter http://dritte-option.de/amtsgericht-hannover-lehnt-personen standeintrag-interdivers-ab-beschwerde-folgt/ (7.11.2018). 74 Beschluss unter http://dritte-option.de/wp-content/uploads/2015/01/OLG-Celle.pdf (7.11.2018).
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hof, der ebenso „keine Veranlassung“ sah, die Rechtsfrage dem BVerfG vorzulegen.75 Bemüht wurde jeweils der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, den dieser in legitimer Weise ausgeschöpft habe, wie auch, im BGH-Judikat, „staatliche Ordnungsinteressen“76. Diese wurden ins Spiel gebracht, ohne eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch nur anzudeuten: Der Staat dürfe Regelungen derart treffen, dass seine Ordnungsinteressen so wenig wie möglich beeinträchtigt sind.77 Die antragstellende Person musste also letztlich selbst im September 2016, knappe zwei Jahre nach ihrem Antrag ans Standesamt, Verfassungsbeschwerde erheben. Federführende Bevollmächtigte waren, neben Rechtsanwältin Katrin Niedenthal, Konstanze Plett und Friederike Wapler, beide ausgewiesene Expertinnen im Feld der Legal Gender Studies. Das BVerfG kam dieser Beschwerde vollumfänglich nach: In der Regelung des deutschen Personenstandsgesetzes wurde ein Verstoß gegen den Schutz der geschlechtlichen Identität als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) sowie des in Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten Diskriminierungsverbots aufgrund des Geschlechts gesehen. Die Entscheidung wurde vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der „medizinischen und psycho-sozialen Wissenschaften“78 und einer Fülle darauf beruhender Stellungnahmen getroffen, die mit wenigen Ausnahmen für eine Öffnung und Erweiterung der Geschlechterkategorie plädierten.79 In seiner Begründung hob das BVerfG die besondere Rolle der geschlechtlichen Identität hervor, „die regelmäßig ein konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit ist“, und zwar sowohl hinsichtlich der Eigenwahrnehmung, also des „Selbstverständnis[ses] einer Person“, als auch mit Blick darauf, wie eine Person von anderen Menschen wahrgenommen wird und welche Erwartungen von daher an sie gerichtet werden.80 Wenn kein positiver Geschlechtseintrag möglich sei, dann fehle eine ganz grundlegende Voraussetzung, in der individuellen Identität so anerkannt zu werden, wie dies für Menschen, die sich in der Geschlechterbinarität als männlich oder weiblich wiederfinden, selbstverständlich sei.81 Für diese Verfassungswidrigkeit sieht das Gericht keine brauchbare Rechtfertigung, insbesondere fehle ein legitimer Zweck, „den zu erreichen die Regelung geeignet, erforderlich und angemessen wäre.“82 Besonders hervorzuheben ist, wie das BVerfG seine eigene frühere Judikatur kontextu75 BGH, Beschluss v. 22.6.2016 – XII ZB 52/15, NJW 2016, 2885 mit kritischer Anmerkung von Brachthäuser/Remus: Der BGH würde „die grundrechtliche Kernbotschaft der Entscheidungen des BVerfG zur Transgeschlechtlichkeit“ verkennen, wonach „es die Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gebieten, den Personenstand des Menschen dem Geschlecht zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört (BVerfGE 49, 286 = NJW 1979, 595).“ 76 BGH, Beschluss v. 22.6.2016 – XII ZB 5215, NJW 2016, 2887, Rn. 27. 77 Kritisch dazu Brachthäuser/Remus, NJW 2016, 2887. 78 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1141. 79 Die wenigen Ausnahmen (zwei von sechzehn der vom BVerfG kurz wiedergegebenen Stellungnahmen) stammen vom Bundesverband der Deutschen Standesbeamtinnen und Standesbeamten (Rn. 23) und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Rn. 30). 80 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1145, Rn. 39. Passend spricht Laura Adamietz daher auch vom „Geschlecht als Erwartung“; Adamietz, Geschlecht als Erwartung (Fn. 10). 81 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1146, Rn. 48. 82 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1147, Rn. 49.
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alisiert. Das betrifft vor allem jene Sentenz, die von Gerichten immer wieder herangezogen wurde, um einen Geschlechtseintrag jenseits von männlich und weiblich zu versagen: „[U]nsere Rechtsordnung und unser soziales Leben [gehen] von dem Prinzip aus, daß jeder Mensch entweder ‚männlichen‘ oder ‚weiblichen‘ Geschlechts ist, und zwar unabhängig von möglichen Anomalien im Genitalbereich.“83
Dies sei keine Feststellung gewesen, wonach „eine Geschlechterbinarität […] von Verfassungs wegen vorgegeben“ wäre, sondern „eine bloße Beschreibung des zum damaligen Zeitpunkt vorherrschenden gesellschaftlichen und rechtlichen Verständnisses der Geschlechtszugehörigkeit.“84 Bei etwas gutem Willen hätten das im Übrigen auch die Unterinstanzen (ebenso wie die Gerichte im ersten Verfahren Anfang der 2000er Jahre) bereits so deuten können, wäre nur die Einbettung der zitierten Sentenz beachtet worden: So hatte das BVerfG des Jahres 1978 im Satz davor betont: „Die Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gebieten […], den Personenstand des Menschen dem Geschlecht zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört.“
Und in den beiden Sätzen danach wird bereits damals auf intergeschlechtliche Personen Bezug genommen: „Es ist wissenschaftlich erwiesen, daß es die verschiedensten Formen der somatischen Intersexualität gibt. Die medizinische Forschung hat aufgrund von Untersuchungen an Zwittern auch auf die Dissoziation zwischen Morphe und Psyche hingewiesen, die sich nach den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen beim Transsexuellen in besonders krasser Form verdeutlicht.“85
Ebenso bemerkenswert ist die Argumentation des BVerfG zum Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.86 In der strikt binären und damit engen Deutung der Geschlechterkategorie wird einen Verstoß gegen das Verbot gesehen, aufgrund des Geschlechts zu diskriminieren; keinesfalls seien nur Männer und Frauen von seinem Schutz umfasst, vielmehr auch Personen, „die nicht männlichen oder weiblichen Geschlechts sind und sich selbst dauerhaft einem weiteren Geschlecht zuordnen“87. Ganz generell bestehe der Zweck des besonderen Diskriminierungsverbots darin, „Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen“, und: „Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch.“88 BVerfGE 49, 286 (298), NJW 1979, 595. BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1147, Rn. 50. 85 BVerfGE 49, 286 (298), NJW 1979, 595. 86 Mangold ortet gar „gleichheitsdogmatisches Sprengpotenzial“ in dem Beschluss; in: Mangold, Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts (Fn. 1). Nora Markard sieht darin einen fundamentalen „Beitrag zur Klärung der dogmatischen Struktur von Art. 3 GG, die seit der Schaffung des Grundgesetzes umstritten war.“ Siehe Markard, Struktur und Teilhabe (Fn. 1). 87 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 57. 88 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 59. 83
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Mit dem Begriff der Vulnerabilität nutzt das Gericht ein Konzept, das im Völkerrecht, bei der Thematisierung von sexueller Gewalt in Kriegen, im Asylrecht89 aber auch sonst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Diskriminierung verwendet wird, insbesondere in den Legal Gender Studies.90 Und die Betonung der Wirkmächtigkeit marginalisierender Strukturen öffnet, wie Nora Markard herausarbeitet, ganz weit „die Tür zur mittelbaren Diskriminierung“91, weil es hier auf eine Diskriminierungsabsicht nicht ankommt. Abschließend wurde dem Gesetzgeber eine Reparatur der Regelungen des Personenstands bis 31.12.2018 aufgetragen. Dabei wurden zwei Wege ins Auge gefasst: Einerseits könnte ein völliger Verzicht auf das Geschlecht als Personenstandskategorie erfolgen.92 Angesichts dessen, dass der rechtliche Geschlechtseintrag zunehmend an Bedeutung verliert, wäre dies eine einfach zu handhabende Lösung, die jegliche rechtliche Stigmatisierung in geschlechtlicher Hinsicht aus der Welt schaffen würde. Sie wäre auch für transgeschlechtliche Personen von erheblichem Vorteil, weil damit das aufwändige und kostenintensive Verfahren des geschlechtlichen Personenstandswechsels entfiele. Andererseits und für den Fall, dass der geschlechtliche Personenstand weiterhin verliehen werden soll, hält das BVerfG es für erforderlich, eine neue Kategorie für Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung mit einer noch zu wählenden „einheitliche[n] positive[n] Bezeichnung“93 zu schaffen. Diese müsste es zusätzlich zu den beiden konventionellen Einträgen männlich und weiblich sowie zur Option geben, auf einen Geschlechtseintrag gemäß der bereits vorhandenen Regelung des § 22 Abs. 3 PStG zu verzichten. Insbesondere dürfte niemand gezwungen werden, sich dem neu einzuführenden dritten Geschlecht zuzuordnen: „Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, die sich selbst gleichwohl dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen“, sollen weiterhin „entsprechend registriert“ sein können.94
2. Zum Schutz der Geschlechtsidentität: Das Erkenntnis des VfGH Auch der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in einem geradlinigen Judikat die Öffnung der Geschlechterkategorie als verfassungsrechtlich geboten angesehen – mit einigen argumentativen Parallelen zum BVerfG, allerdings weniger mit Bezug auf die nationale Verfassung als primär auf die, in Österreich in Verfas89 Siehe etwa Bauche, Vulnerability in European law on asylum: a conceptualization under construction: study on reception conditions for asylum seekers, 2012 sowie Peroni/Timmer, Vulnerable groups: The promise of an emerging concept in European Human Rights Convention law, International Journal of Constitutional Law 2013, 1056–1085; mit Dank an Petra Sußner. 90 Siehe die Beiträge zur UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ unter https:// heimatkunde.boell.de/2018/03/08/frauen-und-f lucht-vulnerabilitaet-empowerment-teilhabe-0 (26.12.2018). S.a. Baines, Vulnerable bodies: Gender, the UN and the global refugee crisis, 2017; Heise, Violence against women: the missing agenda, in: Koblinsky/Timyan/Gay (eds), The Health of Women. A Global Perspective, 2018, 171–196. Mit Dank an Susanne Baer, auch für die Literaturhinweise. 91 Markard, Struktur und Teilhabe (Fn. 1). 92 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 65. 93 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 65. 94 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 51.
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sungsrang stehende, Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch hier stand zu Beginn ein Antrag auf Berichtigung des Geschlechtseintrags – in Österreich erfolgt dieser im Zentralen Personenstandsregister –, und zwar auf den Begriff „inter“, in eventu „anders“, in eventu „X“, in eventu „unbestimmt“, in eventu auf einen damit sinngleichen Begriff. Zusätzlich wurde in eventu die ersatzlose Streichung des Geschlechtseintrags „männlich“ beantragt. Begründet wurde der Antrag damit, dass es im österreichischen Recht keine Bestimmung gäbe, welche den Geschlechtseintrag zwingend bloß als männlich oder weiblich anordnen würde. Da das Gesetz vielmehr einen „wahrheitsgemäßen“ Eintrag verlange, wäre es rechtlich geboten, dem Antrag nachzukommen, wie der das Verfahren begleitende bekannte Bürgerrechtsanwalt Helmut Graupner insistierte.95 Erwartungsgemäß wurde er aber der Reihe nach abgewiesen: vom Bürgermeister der Stadt Steyr ebenso wie vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (LVwG OÖ)96, mit den bekannten Argumenten: Die „österreichische Gesamtrechtsordnung“ gehe „von dem Prinzip aus, dass jeder Mensch entweder weiblichen oder männlichen Geschlechts ist.“97 Überdies wäre die Festlegung des Geschlechts kein Selbstzweck, sondern hätte zahlreiche Konsequenzen, etwa mit Blick auf das Familienrecht98, die Frage der Wehrpflicht sowie das Pensions-, Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht. Dabei zeigte das LVwG OÖ durchaus Verständnis für das Anliegen, allerdings bloß „de lege ferenda“, in rechtspolitischer Hinsicht.99 Insbesondere konnte das Gericht keine Gleichheitswidrigkeit orten; eine solche sei nicht schon deshalb gegeben, weil die Anwendung eines Gesetzes „nicht in allen Fällen zu einem befriedigenden Ergebnis führt.“ Dem Gesetzgeber sei gestattet, „eine Durchschnittsbetrachtung vorzunehmen und damit eine einfache und leicht handhabbare Regelung zu treffen.“100 Anlässlich einer gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde vor dem VfGH eröffnete das Verfassungsgericht ein Prüfverfahren hinsichtlich der Frage, ob jene Bestimmung des Personenstandsgesetzes (§ 2 Abs. 2 Z. 3), welche den Geschlechtseintrag normiert, gegen das von Art. 8 EMRK gewährleistete, in Österreich in Verfassungsrang stehende Recht auf den Schutz des Privatleben verstößt.101 Im darauffolgenden Erkenntnis sah er sich nicht genötigt, die Bestimmung aufzuheben. Denn bereits das geltende Personenstandsrecht würde es ermöglichen, das „Recht auf individuelle Geschlechtsidentität“ durch einen entsprechenden Geschlechtseintrag zu gewährleisten. Man müsse die Bestimmung nur angemessen interpretieren. Das Recht auf individuelle Geschlechtsidentität wurde bekanntlich in der Rechtspre95 Graupner, zitiert nach Rohrhofer, Drittes Geschlecht: „Ich bin einfach weder noch“, Der Standard, 5.9.2016, https://derstandard.at/2000043879801/Drittes-Geschlecht-Ich-bin-einfach-weder-noch (3.11.2018). 96 LVwG OÖ v. 5.10.2016, LVwG-750369/5/MZ/MR, https://www.lvwg-ooe.gv.at/15008.htm (7.11.2018). 97 LVwG OÖ mit Verweis auf VwGH, 30.9.1997, Zl 95/01/0061. 98 Zu diesem Zeitpunkt galt in Österreich noch die Unterscheidung von Ehe und Eingetragener Partnerschaft; diese ist mittlerweile obsolet; virulent ist freilich weiterhin die hier ebenfalls genannte Frage der Abstammung. 99 LVwG OÖ v. 5.10.2016, LVwG-750369/5/MZ/MR, 3.6. 100 LVwG OÖ v. 5.10.2016, LVwG-750369/5/MZ/MR, 3.6. 101 VfGH, Beschluss v. 19.3.2018, E2918/2016.
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chung zu Transgeschlechtlichkeit generiert.102 In der Begründung seines Erkenntnisses betont der VfGH nun, dass dieses darüber hinaus „Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht ein[räumt]“, ausschließlich „jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren zu müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen.“103 Eine der Grundlagen für dieses Recht ist die auch vom BVerfG aufgegriffene neuere Position in der Medizin, wonach Intergeschlechtlichkeit als solche keine Störung und auch kein „Ausdruck einer krankhaften Entwicklung“ ist, sondern als eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ anerkannt werden soll.104 An dieser Stelle setzt der VfGH ein bedeutsames obiter dictum, wenn er unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der österreichischen Bioethikkommission105 festhält, dass geschlechtszuordnende medizinische Eingriffe im Neugeborenen- oder Kindesalter grundsätzlich unzulässig sind und „nur ausnahmsweise bei hinreichender medizinischer Indikation gerechtfertigt“ seien.106 Ein solcher Hinweis findet sich im Beschluss des BVerfG nicht. Und während das LVwG OÖ aus der geringen Zahl von „Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich“ noch geschlossen hatte, dass diese in einer verallgemeinernden Norm zum Geschlechtseintrag übergangen werden dürfen, kommt der VfGH zur genau gegenteiligen Schlussfolgerung: Gerade weil es von ihnen so wenige gibt, weil sie von der überwältigenden Mehrheit mit „weitaus vorherrschenden Geschlechtsidentitäten“ als signifikant „anders“ wahrgenommen werden, seien sie besonders gefährdet und daher schutzbedürftig, und gerade deshalb dürfe der Gesetzgeber nicht einfach über sie hinweggehen. Nochmals widmet sich der VfGH der Situation intergeschlechtlicher Kinder und dem besonderen, auf ihren Eltern lastenden Druck, ein uneindeutiges Geschlecht an eines der konventionellen Geschlechter „angleichen“ zu lassen.107 Daher unterliege der Staat einer Gewährleistungspflicht aus Art. 8 EMRK, „zum Schutz von Menschen mit entsprechender Geschlechtsentwicklung, insbesondere von Kindern, rechtliche Vorkehrungen dahingehend zu treffen, dass diesen Menschen eine selbstbestimmte Festlegung ihrer Geschlechtsidentität tatsächlich möglich ist.“108 Ein Abstellen auf das Geschlecht im Personenstandsregister erachtet der VfGH grundsätzlich als erlaubt, allerdings seien aufgrund des Rechts auf individuelle Ge102 Als bahnbrechend zu nennen sind insbesondere die Entscheidungen des EGMR Goodwin, Appl. 28.957/95; Van Kück, Appl. 35.968/95; A.P., Garçon und Nicot, Appl. 79.885/12, 55.471/13 und 52.596/13. Für einen umfassenden Überblick siehe den Fact Sheet – Gender Identity Issues unter https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Gender_identity_ENG.pdf (15.1.2019). 103 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 18. 104 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 16. 105 Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, Stellungnahme zu Intersexualität und Transidentität, Wien 2017, https://www.bundeskanzleramt.gv.at/documents/131008/549639/Intersexualitaet+ und+Transidentitaet_BF/ba132a48-b3ad-4513-82e7-f4125aa6b837 (3.11.2018). 106 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 16. 107 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 20 unter Verweis auf das vom Council of Europe Commissioner for Human Rights herausgegebene Themenpapier Human rights and intersex people 2015, 37 und 43, und das Themenpapier der EU-Grundrechteagentur, The fundamental rights situation of intersex people, FRA Focus, 04/2015, 4. 108 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 21.
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schlechtsidentität bestimmte Vorgaben zu beachten. Wie auch das BVerfG und mit Bezug auf dessen Beschluss hält der VfGH fest, dass es dem geschlechtlichen Personenstand „eigen“ ist, „selbst identitätsstiftend zu wirken“.109 Daher müsse „Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich“ in ihrer besonders sensiblen Situation ein Geschlechtseintrag offenstehen, der ihre „jeweilige individuelle Geschlechtsidentität zu reflektieren vermag“.110 Der VfGH erteilt nun aber keinen Auftrag an den Gesetzgeber, er möge sich auf einen Begriff verständigen und diesen dann gesetzlich festlegen. Vielmehr würde bereits das geltende Recht, das ja keine Definition des Geschlechterbegriffs enthält, die Möglichkeit eröffnen, den Anliegen von intergeschlechtlichen Personen nachzukommen. Es liege daher an der Personenstandsbehörde, im Einzelfall zu prüfen, ob der im Antrag gewählte Begriff adäquat ist im Sinne seiner Eignung, „das Gemeinte zum Ausdruck zu bringen.“111 Das Höchstgericht zeigt sich hier offen und unaufgeregt. Festgehalten wird lediglich, die beantragte Geschlechtsangabe müsse einen „realen Bezugspunkt im sozialen Leben haben und darf nicht frei erfunden sein“; im Sprachgebrauch habe sich bereits eine „(überschaubare) Zahl von Begrifflichkeiten“ herausgebildet, darunter insbesondere „divers“, „inter“, „offen“.112 All diese Begriffe kämen in Frage. Darüber hinaus müsse es aber auch noch die Möglichkeit geben, auf den Geschlechtseintrag zu verzichten, etwa indem „eine einmal erfolgte Geschlechtsangabe ersatzlos zu löschen“113 sei. Und schließlich müsse es intergeschlechtlichen Personen ebenfalls offenstehen, eine der konventionellen Kategorien, männlich oder weiblich, zu wählen, wenn dies ihrer Geschlechtsidentität entspricht.114 Auch in Österreich soll es künftig also vier Optionen geben. Der VfGH hat sein Erkenntnis, darauf sei noch hingewiesen, ausschließlich in Auseinandersetzung mit dem durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Recht auf individuelle Entfaltung generiert; eine Verankerung im Grundrecht auf Gleichheit wurde demgegenüber, anders als in Deutschland, nicht gesucht.115 Damit fehlt eine explizite verfassungsgerichtliche Aussage zur Benachteiligung von intergeschlechtlichen Personen als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Dass dem so ist, kann dem Beschluss aber zwanglos durch Interpretation entnommen werden. Basierend auf dem Erkenntnis erging dann zwei Wochen später die Entscheidung, welche das Erkenntnis des LVwG OÖ auf hob.116
109 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 31 mit Verweis auf BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 4 0. 110 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 23. 111 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 39. 112 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 37. 113 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 42 mit Verweis u.a. auf Petričević, Rechtsfragen zur Intergeschlechtlichkeit (Fn. 21), 176 ff. 114 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 43. 115 Siehe dazu Greif, Tertium Datur – Causa Finita? Zum „dritten Geschlecht“ in Österreich, juridikum 2018, 558–560. 116 VfGH, E 2918/2016-35 v. 27.6.2018.
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V. Die neuen Regelungen zur dritten Option In Österreich wie in Deutschland wurden die jeweiligen Beschlüsse von intergeschlechtlichen Personen und ihren Verbündeten mit Genugtuung, bisweilen fast euphorisch aufgenommen.117 Der Beschluss des BVerfG wurde in den Medien118 wie in der Fachwelt teils mit Superlativen bedacht: Das BVerfG habe „Rechtsgeschichte“119 geschrieben, sein noch dazu am Intersex Day of Solidarity publizierter Beschluss sei „epochal“, „ein Leuchtturm in politisch stürmischen Wettern“120, „außerordentlich und spektakulär und bahnbrechend und wohl auch bewusstseinsprägend“121. Auch wird auf die höchstgerichtlichen Beschlüsse weit über das Personenstandsrecht hinaus reagiert, wenn u.a. Diskussionen um geschlechtergerechte Sprache122, nicht-diskriminierende Stellenausschreibungen123, Geschlechterquoten für Aufsichtsräte124 oder für universitäre Gremien125 darauf Bezug nehmen. Diese Anerkennung ist angezeigt. Kontextualisierend darf aber auch festgehalten werden, dass die Last der Gründe, die für eine „dritte Option“ im Geschlechterrecht sprechen und die von beiden Höchstgerichten aufgegriffen wurden, nachgerade erdrückend ist. Alles andere als diesen, auch in der Medizin mittlerweile unangefochtenen Konsens ins Recht zu tragen, wäre Realitätsverweigerung gewesen. Nur einige wenige Kommentatoren wollen dies anders sehen und wittern eine Art Komplott der von Ihnen so bezeichneten „Gender-Ideologie“.126 Diese Stimmen sind in der Minderzahl, und sie können sich nicht auf seriöse wissenschaftliche Literatur stützen.127 Siehe etwa die Presseaussendung der Kampagne zur Dritten Option, Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht, 8.11.2017, http://dritte-option.de/erfolg-vor-dem-bundesverfassungsgericht/ (26.12. 2018) sowie die Presseaussendung von VIMÖ (Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich), Plattform Intersex Österreich und HOSI Salzburg, Sieg für Alex Jürgen*! Intersex-Aktivist erkämpft dritte Option, 29.6.2018, http://www.hosi.or.at/2018/06/29/sieg-fuer-alex-juergen/ (26.12.2018). 118 Eine umfängliche Liste mit Links zu Medienberichten aus Anlass des Beschlusses des BVerfG findet sich unter http://dritte-option.de/weiterfuhrendes/presse (10.12.2018). 119 Frie, NZFam 2017, 1149. 120 Mangold, Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts (Fn. 1). 121 Prantl, Das dritte Geschlecht – eine Revolution, Die Süddeutsche Zeitung, 8.11.2017, https:// www.sueddeutsche.de/leben/bundesverfassungsgericht-zu-intersexualitaet-das-dritte-geschlecht-ei ne-revolution-1.3740616 (3.11.2018). Der Text beginnt übrigens mit einer schönen Anspielung auf die Schöpfungsgeschichte und hält fest: „Selbst sehr religiöse Menschen werden nicht leugnen wollen, dass auch die Intersexuellen Geschöpfe Gottes sind.“ Freilich ist das sehr häufig nicht der Fall, und gerade von traditionalistisch-religiöser Seite kommt ganz oft massive Ablehnung. 122 So in der aktuellen Debatte der Rechtschreibkommission; siehe dazu Bericht und Vorschläge der AG „Geschlechtergerechte Schreibung“ zur Sitzung des Rats für deutsche Rechtschreibung am 16.11.2018 – Revidierte Fassung aufgrund des Beschlusses v. 16.11.2018, http://www.rechtschreib rat.com/DOX/rfdr_2018-11-28_anlage_3_bericht_ag_geschlechterger_schreibung.pdf (26.12.2018). Mit Dank an Susanne Baer für diesen Hinweis. 123 Scheller, Stellenanzeigen und das „dritte Geschlecht“ (männlich/weiblich/inter bzw. divers)? https://persoblogger.de/2018/04/10/stellenanzeigen-diskriminierungsfrei-und-das-dritte-geschlechtmaennlich-weiblich-inter-bzw-divers/ (26.12.2018). 124 Birkner/Leitner, Drittes Geschlecht im Aufsichtsrat, Der Standard, 27.3.2018, https://derstandard. at/2000076790029/Drittes-Geschlecht-im-Aufsichtsrat (26.12.2018). 125 Holzleithner/Benke, § 20a. Geschlechtergerechte Zusammensetzung von Kollegialorganen, in: Perthold (Hrsg.), UG Universitätsgesetz 2002. Kommentar, 4. Aufl. 2019, Rz. 5. 126 So etwa Märker, Drittes Geschlecht? (Fn. 1). 127 Stattdessen erfolgen Verweise auf Autoren wie Ulrich Kutschera, der seine einschlägigen, weniger 117
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Im Gefolge der höchstgerichtlichen Beschlüsse wurde die Hoffnung artikuliert, dass die notwendig gewordene Neufassung der Kategorie des Geschlechts im Recht nicht auf Personen beschränkt sein würde, die von der Medizin mit der Diagnose „intergeschlechtlich“ belegt worden sind. Sie sollte vielmehr allen Personen offenstehen, die sich als nicht-binär identifizieren, unabhängig von ihrer Körperkonfiguration, unabhängig aber auch von etwaigen anderen, etwa psychiatrischen Diagnosen. Entsprechend interpretieren nicht nur die Protagonist*innen der deutschen Kampagne zur Dritten Option den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts so, dass in Hinkunft ausschließlich auf die geschlechtliche Identität abgestellt werden soll. Das Geschlecht soll eben nicht mehr Gegenstand von Fremdbestimmung sein. Die zuständigen Stellen in Österreich und Deutschland sehen dies anders.
1. Die Macht der Verwaltung: Österreich Beginnen wir an dieser Stelle mit Österreich. Hier sind Entwicklungen auf zwei Ebenen erfolgt. Zunächst hat das LVwG OÖ im Anschluss an die Vorgabe des VfGH ein neues Erkenntnis erlassen, demzufolge der Geschlechtseintrag der Beschwerde führenden Person auf „inter“ zu berichtigen ist. Der Begriff „inter“ wurde gewählt, weil er vom VfGH als einer von mehreren möglichen aufgeführt und als erster beantragt worden war.128 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Bundesminister für Inneres (BMI) ordentliche Revision129 an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH). Moniert wurde, dass Judikatur des VwGH zur Frage fehlt, wie die Geschlechtsbestimmung im Fall von Intergeschlechtlichkeit zu erfolgen habe und wie „bei der begrifflichen Zuordnung einer Geschlechtsangabe für intersexuelle Personen vorzugehen ist.“130 Hinsichtlich der Geschlechtsbestimmung fragte der BMI nach den anzuwendenden „fachlichen Parametern“131 und warf dem LVwG OÖ vor, sich damit im anhängigen Fall nicht angemessen auseinandergesetzt zu haben. Das Gericht hätte die Angaben der Beschwerde führenden Person nicht einfach ohne Prüfung übernehmen dürfen; der Sachverhalt wie dessen Würdigung würden „völlig im Dunkeln“ bleiben.132 Die Revision erstaunte in ihrem leicht despektierlichen Ton ebenso wie in ihrem Inhalt. Warum sollte die Kategorisierung als „inter“, welche der VfGH ausdrücklich für zulässig erklärt hat, rechtsunrichtig sein? Noch eigentümlicher war die Kritik des BMI an der Unterlassung der Sachverhaltsauf klärung, lagen doch dem LVwG OÖ
auf wissenschaftlichen Erkenntnissen als auf einer reaktionären Ideologie beruhenden Beiträge vorzugsweise auf kathnet publiziert; z.B. Zweigeschlechtlichkeit als Grundlage der Zivilgesellschaft, 19.1.2018, http://www.kath.net/news/62431 (28.12.2018). Sein „Opus Magnum“ in Geschlechter fragen ist das reichlich konfuse, voller selbstbezüglicher Referenzen ausgestattete Buch: Das GenderParadoxon. Mann und Frau als evolvierte Menschentypen, 2. Aufl. 2018. 128 LVwG-750369/46/MZ, 3.5.2018. 129 Bundesminister für Inneres, GZ.: BMI-LR1830/0480-III/4/b/2018, 21.8.2018; ich danke Rechtsanwalt Helmut Graupner für die Überlassung einer anonymisierten Version dieser Revision. 130 Bundesminister für Inneres, GZ.: BMI-LR1830/0480-III/4/b/2018, 3. 131 Bundesminister für Inneres, GZ.: BMI-LR1830/0480-III/4/b/2018, 5. 132 Bundesminister für Inneres, GZ.: BMI-LR1830/0480-III/4/b/2018, 8.
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umfängliche „medizinische Dokumentationen“133 vor. Darüber hinausgehend war mit der Revisionsbeantwortung zu fragen, ob und inwieweit das Vorliegen von medizinischen Gutachten zur Feststellung einer Intergeschlechtlichkeit überhaupt erforderlich und inwieweit deren Erforderlichkeit mit dem Recht auf ungehinderte Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität, für welche der VfGH ja den Staat in der Gewährleistungspflicht sieht, vereinbar ist. Zwar knüpft der VfGH wiederholt den Eintrag eines Zwischengeschlechts daran, dass es sich um eine Person „mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich“ handelt. Damit ist aber nichts darüber ausgesagt, ob eine körperliche Zwischengeschlechtlichkeit nachgewiesen werden muss. Ganz im Gegenteil sollte der VfGH beim Wort genommen werden, wenn er formuliert, dass Menschen infolge des gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechts auf individuelle Geschlechtsidentität „(nur) jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen.“134 Noch im Jahr 2018 fällte der VwGH einen Beschluss, mit dem die Revision des Innenministers zurückgewiesen wurde.135 Wie zu erwarten wurde der Eintrag als „inter“ im Lichte der insofern ganz eindeutigen Vorgaben des VfGH für zulässig erklärt.136 Hinsichtlich der Voraussetzungen für einen solchen Geschlechtseintrag stützt sich der VwGH ausschließlich auf jene Passagen im maßgeblichen VfGH-Erkenntnis, in denen Intergeschlechtlichkeit als angeborene körperliche Variation gefasst wird, bei der „die geschlechtsdifferenzierenden Merkmale durch eine atypische Entwicklung des chromosomalen, anatomischen oder hormonellen Geschlechts gekennzeichnet sind“.137 Nur in solchen Fällen könne eine nicht-binäre Geschlechts identifikation auch zur gesetzlichen Anerkennung führen; Fälle von Transgeschlechtlichkeit werden ausdrücklich und mit Verweis auf die durch den VfGH aus der Stellungnahme der Bioethikkommission übernommene Differenzierung von der Intergeschlechtlichkeit ausgeschlossen. „Nach dieser Rechtsprechung“, so der VwGH, sei „sehr wohl […] das biologische, körperliche Geschlecht“138 maßgeblich. Inzwischen hat, das ist die zweite Ebene, das österreichische Innenministerium das allgemeine Heft der Handlung in die Hand genommen und ein Schreiben „an alle Ämter der Landesregierung und die Magistratsabteilung 35 und 65 in Wien“ gerichtet.139 Warum nicht der Weg einer Änderung der Personenstandsverordnung gewählt wurde, ist nicht ersichtlich.140 In dem Schreiben werden Vorgaben zur Interpretation und Anwendung jener Bestimmungen im PStG gemacht, die den Geschlechtseintrag nach Geburt und dessen etwaige Änderung regeln: Die Entscheidung über einen 133 Rechtsanwalt Graupner, Revisionsbeantwortung, LVwG-750369/52/MZ/RKö, 1.10.2018, Rz. 22. 134 VfGH, G 77/2018-9 v. 15.6.2018, Rz. 18; Hervorhebung durch die Autorin. So auch die Revisionsbeantwortung, Rz. 24. 135 VwGH, Beschluss v. 14.12.2018, Ro 2018/01/0015-6. 136 VwGH, Beschluss v. 14.12.2018, Ro 2018/01/0015-6, Rz. 31. 137 VfGH, 15.6.2018, G 77/2018, Rz. 15, zitiert in VwGH 14.12.2018, Ro 2018/01/0015-6, Rz. 23. 138 VwGH 14.12.2018, Ro 2018/01/0015-6, Rz. 25. 139 BMI – III/4/b (Referat III/4/b), Verwaltungsangelegenheiten – Sonstige; Personenstandswesen Erkenntnis des VfGH v. 15.7.2017, G77/2017-9, zu § 2 Abs. 2 Z 3 PStG 2013 – Umsetzung zu Varianten der Geschlechtsentwicklung („3. Geschlecht“), Gz. BMI-VA1300/0528-III/4/b/2018 v. 20.12.2018. 140 Für Diskussionen zu dieser Frage danke ich Bettina Perthold und Marija Petričević.
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„dritten“ Geschlechtseintrag ist demnach auf ein medizinisches Sachverständigengutachten zu stützen, welches eine Variante der Geschlechtsentwicklung (VdG) festzustellen hat. Dieses soll von einem im Gesundheitsministerium installierten VdGBoard erstellt werden, der über das Vorliegen einer „atypischen Entwicklung des biologischen (chromosomalen, anatomischen und/oder hormonellen) Geschlechts“ abzusprechen hat. Es ist davon auszugehen, dass der VdG-Board eingerichtet wird, um zu verhindern, dass Ärzt*innen des Vertrauens eine VdG auch auf Grundlage einer psychischen Identifikation attestieren. Das Schreiben engt die vom VfGH für akzeptabel erklärten Möglichkeiten auf die Kategorie „divers“ ein und sieht, anders als der VfGH dies angeordnet hat, bloß ein vorübergehendes Offenlassen des Geschlechtseintrags vor. Insbesondere wird festgehalten, dass „eine Änderung der Eintragung gemäß § 41 Abs. 1 PStG 2013 auf ‚offen‘ rechtlich nicht zulässig ist.“ Die Direktive mit ihrem medikalisierenden, die Geschlechtsidentität in ihrer Bedeutung nicht angemessen wahrnehmenden Zuschnitt wurde gänzlich ohne Einbindung von Selbstvertretungsorganisationen erstellt. Sie erscheint im Lichte des aktuellen VfGH-Beschlusses ebenso wie angesichts der etablierten Judikatur und Praxis der Anerkennung von Transgeschlechtlichkeit unabhängig von der körperlichen Konfiguration als verfassungswidrig. Dies ist auch dem Beschluss des VwGH entgegenzuhalten: Warum eine Person, die aufgrund einer Hormonbehandlung einen anderen Hormonstatus hat als ihr Körper produzieren würde, anders behandelt werden soll als eine Person mit einer angeborenen Variante der Geschlechtsentwicklung, ist nicht ersichtlich. In beiden Fällen ist die Hormonverteilung untypisch. Es bleibt abzuwarten, ob sich die zuständigen Stellen an die Vorgabe des Innenmisteriums halten. Wenn ja, dann werden darauf basierend Anträge von Personen auf Eintragung ihres Geschlechts als „divers“ abgelehnt werden, weil einschlägige medizinische Gutachten fehlen, oder auch Anträge auf die Eintragung als „inter“ oder „offen“, weil dies vom BMI-Schreiben nicht vorgesehen ist. Und so scheint es nur eine Frage der Zeit, bis ein erneutes Verfahren vor ein Höchstgericht gebracht wird. Im Zuge dessen wird es auch um die Rechtsqualität des innenministeriellen Schreibens gehen müssen. Es ist zwar formell nur an unterstellte Behörden adressiert, allerdings ist es als „verbindliche Äußerung“ formuliert, die in der Sache „die Rechtssphäre eines unbestimmten Kreises von Personen“ gestaltet.141 Solche Äußerungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als Rechtsverordnungen zu qualifizieren, die einer entsprechenden Kundmachung bedürfen. Im vorliegenden Fall ist die Kundmachung rechtswidrig, aber sie dürfte doch hinreichend dafür sein, dass dieses Schreiben das Licht der Rechtswelt erblickt hat: Das Schreiben ist an alle zuständigen Behörden ergangen; auch betroffene Personen haben davon Kenntnis erlangen können. Nicht zuletzt wurde es im Internet auf kommunalnet.at veröffentlicht,142 dem zentralen Informationsportal des österreichischen Gemeindebun141 Zitate aus VfGH v. 8.6.2006, V4/06, mit welchem der Transsexuellenerlass in seinen rechtsverbindlichen Teilen mangels Kundmachung aufgehoben wurde. Siehe dazu Greif, In Trans/Formation. Geschlechtswechsel zwischen staatlicher Kontrolle und rechtsfreiem Raum, juridikum 2009, 68–71 (69). 142 https://www.kommunalnet.at/news/einzelansicht/update-bmi-erlass-fuer-die-praxis-mit-lis te-der-vdg-boards/news/detail.html?cHash=042a1fe778ca84f 5236e22416c3aef 29&no_cache=1& sword_list%5B0%5D=inter (30.1.2019).
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des.143 Sollten Behörden144 ihre Entscheidungen über den Geschlechtseintrag darauf stützen, müssten in der Folge angerufene Gerichte das Schreiben als präjudiziell für ihre Entscheidungen ansehen, und das bedeutet, dass sie an den VfGH den Antrag stellen müssten,145 diese Rechtsverordnung mangels gehöriger Kundmachung als gesetzwidrig aufzuheben.146
2. Der deutsche Gesetzgeber Ebenfalls vom Ansatz her restriktiv ist das mit 22.12.2018 in Kraft getretene deutsche Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben gefasst.147 Die Restriktionen kommen freilich vor allem in der Begründung des Gesetzes zum Ausdruck, weniger in dessen Wortlaut.148 Gemäß der neuen Rechtslage kann das Geschlecht eines neugeborenen Kindes, wenn eine eindeutige Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nicht möglich ist, als „divers“ eingetragen werden; eine weitere Option besteht darin, den Geschlechtseintrag offenzulassen (§ 22 Abs. 3). Die Bezeichnung „divers“ wurde vom Gesetzgeber auf „Wunsch der Betroffenen“149 gewählt. Abweichend vom Gesetzentwurf ist § 22 Abs. 3 eine Kann-Bestimmung; das bedeutet, dass bei Uneindeutigkeit des Geschlechts für den Eintrag auch eines der konventionellen Geschlechter gewählt werden darf. Damit kam der Gesetzgeber den erheblichen Bedenken nach, die in der Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat150 dagegen vorgetragen wurden, dass § 22 Abs. 3 ursprünglich als zwingende Norm formuliert worden war.151 Das widersprach auch der klaren Aussage des BVerfG, wonach niemand gegen die eigene Identifikation dazu gezwungen werden darf, als „divers“ eingetragen zu werden.152 Eine weitere Bestimmung, § 45b, regelt die Voraussetzungen, unter denen Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung den Eintrag als „divers“ oder die 143 Laut Auskunft auf der Homepage ist kommunalnet.at „mit rund 2.100 Gemeinden und Gemeindeverbänden das größte Arbeits- und Informationsportal im Kommunalbereich. Hinter der Plattform stehen der Österreichische Gemeindebund, seine Landesverbände und die Kommunalkredit Austria.“ Damit hat die Seite durchaus einen offiziösen Touch. 144 Darunter nun auch Gerichte gemäß VfGH, Erkenntnis v. 28.6.2017, V 4/2017; siehe dazu Leitl-Staudinger, VfGH 28.6.2017, V 4/2017: Bindung der Gerichte an rechtswidrig kundgemachte Verordnungen, Jahrbuch Öffentliches Recht 2018, 185–200. 145 Gemäß Art. 139 Abs. 1 Z 1 B-VG. 146 Gemäß Art. 139 Abs. 3 Z 3 B-VG. 147 BGBl. 2018 I, 2536. 148 So LSVD Lesben- und Schwulenverband, Ratgeber für inter- und transgeschlechtliche Menschen, https://www.lsvd.de/recht/ratgeber/intersexuelle/ratgeber-fuer-inter-und-transgeschlechtlichemenschen.html (17.1.2019). 149 Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben, Drucksache 19/4669, 1.10.2018, 7. Im Referentenentwurf war die vorgeschlagene Kategorie „weiteres“ gewesen. 150 Für ein Video der Anhörung vom 26.11.2018 siehe https://www.bundestag.de/ausschuesse/a04_ innenausschuss/anhoerungen/05---26-11-2018-11-00/579354 (18.1.2019). Hier finden sich auch die schriftlichen Stellungnahmen der angehörten Expert*innen. 151 Siehe nur die Stellungnahmen von Petra Follmar-Otto, Anna Katharina Mangold, Konstanze Plett. 152 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NZFam 2017, 1148, Rz. 51.
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Streichung des Geschlechtseintrags beantragen können. Dafür bedarf es grundsätzlich einer „ärztlichen Bescheinigung“. Auch diese Vorgabe wurde im Zuge des Gesetzwerdungsverfahrens signifikant verändert. Insbesondere wurde vorgebracht, dass es intergeschlechtliche Personen gibt, deren Unterlagen nicht auffindbar oder die einer Diagnose entgangen sind und die darauf verzichten möchten, sich invasiven Untersuchungen unterziehen zu lassen, etwa um Retraumatisierungen zu vermeiden.153 Daher wurde die Gesetzesbestimmung um Fälle ergänzt, in denen die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nicht erforderlich ist. Dies betrifft Personen „die über keine ärztliche Bescheinigung einer erfolgten medizinischen Behandlung verfügen und bei denen das Vorliegen der Variante der Geschlechtsentwicklung wegen der Behandlung nicht mehr oder nur durch unzumutbare Untersuchung nachgewiesen werden kann“ (§ 45b Abs. 3 PStG). Diesfalls reicht eine eidesstattliche Versicherung aus. Vor diesem Hintergrund und auch angesichts dessen, dass für den Inhalt der ärztlichen Bescheinigung keine Vorgaben gemacht werden und dass Standesbeamt*innen nicht die Kompetenz haben, diese inhaltlich zu kontrollieren, kann die dritte Option ebenso wie die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag offen zu lassen, in Deutschland nun von einem großen Kreis von Personen genützt werden, deren Geschlechtsidentität nicht-binär ist. Dass sie entgegenkommender Ärzt*innen bedürfen, die ihnen bescheinigen müssen, was nur sie selbst wissen können – nämlich mit welchem Geschlecht sie sich identifizieren – ist ein signifikanter Mangel des Gesetzes, der im Zuge einer Neuregelung des gesamten Feldes, das auch die Situation transgeschlechtlicher Personen angemessen berücksichtigt, ausgemerzt werden sollte.154 Im Übrigen fehlt auch eine Bestimmung für Personen, die ursprünglich als „divers“ kategorisiert wurden und die ihren geschlechtlichen Personenstand auf männlich oder weiblich ändern lassen wollen. Hier dürfte eine Gesetzeslücke vorliegen.155 Es wäre jedenfalls ein eigentümliches Ergebnis der neuen Rechtslage, wenn eine Person diesfalls ein Verfahren nach den Vorgaben für den geschlechtlichen Personenstandswechsel nach dem Transsexuellengesetz durchlaufen müsste. Immerhin waren Menschen noch bis vor kurzem dazu gezwungen, trotz medizinisch attestierter Intergeschlechtlichkeit als männlich oder weiblich kategorisiert zu werden. BVerfG wie VfGH haben ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass es ebenso unzulässig wäre, intergeschlechtliche Personen in die dritte Geschlechtsoption hineinzuzwingen. Wenn dies anerkannt wird, dann wird aber auch deutlich, dass es keinen guten Grund gibt, einer Person, die keine medizinisch attestierte Variante der Geschlechtsentwicklung aufweist, den Eintrag als „divers“ zu verweigern. Dies wäre schlicht ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz. Es ist darüber hinaus nicht nachvollziehbar, weshalb eine Person, die keine geschlechtsmodifizierenden Darauf reagiert die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss), Drucksache 19/6467, 12.12.2018, 13. 154 Nicht zuletzt ist vom Transsexuellengesetz nach sechs Entscheidungen des BVerfG kaum mehr als „ein Gesetzesrumpf übriggeblieben“, dessen Bestimmungen zur Änderung des Vornamens und des Personenstandes auch und gerade im Lichte der neueren Entwicklungen in Recht und Medizin als äußerst fragwürdig angesehen werden müssen; siehe Adamietz/Bager, Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen (Fn. 32), 8. 155 Für gemeinsames Nachdenken in dieser Angelegenheit danke ich Laura Adamietz und Anna Katharina Mangold. 153
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Eingriffe hat vornehmen lassen, gemäß Vorschriften zum Personenstandswechsel bei Vorliegen einer Transgeschlechtlichkeit einen Eintrag im Identifikationsgeschlecht vornehmen lassen und damit rechtlich als Angehörige des „anderen“ Geschlechts anerkannt werden kann, dass es aber nicht möglich sein soll, den geschlechtlichen Personenstand „divers“ zu erwirken, womöglich nicht einmal unter Vorlage von entsprechenden psychiatrischen Gutachten.156 Das OLG Celle hat übrigens noch unter dem Regime aus 2013 vorgemacht, wie es gehen könnte. Im damaligen Fall ging es um den Antrag einer transgeschlechtlichen Person, die in einem Verfahren nach dem Transsexuellengesetz eine Änderung ihres geschlechtlichen Personenstandes von männlich auf weiblich erwirkt hatte. Nun gab sie an, es habe sich herausgestellt, dass ihre Geschlechtsidentität doch nicht weiblich sei, als Mann fühle sie sich aber auch nicht; daher beantragte sie die Streichung des Geschlechtseintrags. Und tatsächlich gelangte der Senat des OLG Celle zur Erkenntnis, „dass die Antragstellerin weder als dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig angesehen werden kann.“157 Daher wurden die Voraussetzungen für die Streichung des Geschlechtseintrags nach § 22 Abs. 3 PStG für gegeben angesehen. Bemerkenswert ist die geradlinige Argumentation zur Anwendbarkeit der Bestimmung: „Die primäre Wirkung der Neuregelung in § 22 Abs. 3 PStG wird in der Anerkennung von Intersexualität durch den Gesetzgeber gesehen“158. Die Bestimmung ausschließlich für Personen geltend zu machen, die „biologisch“ keinem der konventionellen Geschlechter zugeordnet werden können, hielt das OLG Celle für unzulässig, weil es „im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts“ stehe, welche die geschlechtliche Selbstbestimmung hochhalte. In Fällen der Intergeschlechtlichkeit gehe es „um die Beachtung des ‚empfundenen Geschlechts‘ und nicht um das ‚ersichtliche Geschlecht‘ […]. Eine Empfindung wird sich dabei in aller Regel auch nicht in biologisch ersichtlichen Merkmalen widerspiegeln. § 22 Abs. 3 PStG ist daher mit dem Amtsgericht so auszulegen, dass auch eine allein auf subjektiven Empfindungen beruhende Geschlechts(nicht)zugehörigkeit ausreichen muss, um eine Streichung des Eintrags zu erreichen.“159 Und das OLG Celle schloss nachgerade mit einem Paukenschlag bezüglich der für die Streichung des Geschlechtseintrags erforderlichen Beweismittel: Es hielt nämlich, wie schon das Amtsgericht, „die Angaben der Antragstellerin sowie die Inaugenscheinnahme durch das Amtsgericht für ausreichend, um eine solche Beurteilung vornehmen zu können.“160 Es verlangte keine medizinischen 156 Laut BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss v. 17.10.2017 – 1 BvR 747/17, NJW 2018, 222, gibt es keinen Anlass, das Erfordernis, zwei Gutachten beizubringen, als verfassungsrechtlich bedenklich anzusehen. Das BVerfG sieht „das Erfordernis zweier Gutachten als prozessrechtliches Mittel des objektiven Nachweises der rechtlichen Voraussetzungen des Geschlechtswechsels“ (Rn. 10). Dass es in der Praxis zu Grenzüberschreitungen kommen könne, welche die Grundrechte der Betroffenen zu beeinträchtigen vermöge, stelle nicht die Regelung selbst infrage (Rn. 12). Zur Kritik am Begutachtungserfordernis siehe Adamietz/Bager, Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen (Fn. 32), 10–13. 157 OLG Celle, 17 W 5/17, 11.5.2017, https://www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Rechtspre chung8/OLGCelle170511.pdf. 158 Mit Verweis auf Theilen und Sieberichs. 159 OLG Celle, 17 W 5/17, 11.5.2017, 9. 160 OLG Celle, 17 W 5/17, 11.5.2017, 9.
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Gutachten zur Erhebung der „biologischen Geschlechtsmerkmale“, es bedurfte auch keiner psychiatrischen Gutachten, um eine Geschlechtsinkongruenz nachzuweisen. Konstanze Plett hat in ihrer Stellungnahme im Gesetzwerdungsverfahren auf dieses Judikat hingewiesen und angeregt, man möge in § 45b Abs. 3 die „Variante der Geschlechtsentwicklung“ durch die „Variante der Geschlechtsidentität“ ersetzen. Das wäre ein ganz einfacher Weg gewesen, um von der Medikalisierung des Geschlechts und der damit einhergehenden Fremdbestimmung wegzukommen. Der deutsche Gesetzgeber konnte sich dazu nicht durchringen und hat stattdessen die gewundene Formulierung des § 45b mit den angeführten Ausnahmen gewählt. Dadurch wird die Angelegenheit unnötig verkompliziert, und es werden die in der Bestimmung enthaltenen Möglichkeiten dadurch verschleiert, dass die Staffage der Notwendigkeit ärztlicher Gutachten vom Grundsatz her aufrechterhalten wird. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Bestimmung aufgrund ihrer Überkomplexität und Widersprüchlichkeit vom BVerfG aufgehoben wird. Und wieder einmal werden Recht suchende Personen auf den ressourcenintensiven Weg durch die Instanzen gezwungen anstatt von vornherein eine Norm zu schaffen, die das Prinzip der Selbstbestimmung und damit der Anerkennung gleicher Freiheit auch mit Blick auf das Geschlecht ernstnimmt.
3. Andeutungen für andere Wege Geschlechtervielfalt wird in Österreich wie in Deutschland nicht hinreichend wahrgenommen; sie darf weiterhin – bisweilen im wahrsten Sinn des Wortes – beschnitten werden. Ein im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstelltes Gutachten des Deutschen Instituts für Menschenrechte zeigt demgegenüber Möglichkeiten für eine Regelung auf, die adäquater wäre.161 Demnach soll das Geschlecht eine Kategorisierung sein, die ausschließlich auf der Identifikation der betreffenden Person beruht. Als Möglichkeiten werden „weiblich“, „männlich“ sowie „weitere Geschlechtsoptionen“ mit einer eigenen Bezeichnung von maximal 30 Zeichen sowie „keine Angabe“ vorgeschlagen.162 Medizinische Gutachten sind nicht erforderlich. Das bedeutet, dass alle Menschen auf unbürokratische Weise einen Eintrag als nicht-binär erhalten können, die sich als nicht-binär identifizieren. Das ist, wie nochmals zu betonen ist, keine exaltierte Position. Vielmehr bedeutet es, das Grundrecht auf individuelle Entfaltung ernstnehmen – und das im Einklang mit den neuesten Entwicklungen im Bereich von somatischer Medizin und Psychiatrie. Damit ist neben der Entpathologisierung von Intergeschlechtlichkeit auch jene der Transgeschlechtlichkeit angesprochen. Im Juni 2018 wurde beschlossen, dass die „Geschlechtsidentitätsstörung“ (die Nachfolgekategorie der „Transsexualität“) im neuen ICD-11, dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, nicht Althoff/Schabram/Follmar-Otto, Gutachten: Geschlechtervielfalt im Recht (Fn. 66). § 2 , Entwurf eines Gesetzes zur Anerkennung und zum Schutz der Geschlechtervielfalt, (Geschlechtervielfaltsgesetz – GVielG), in: Althoff/Schabram/Follmar-Otto, Gutachten: Geschlechtervielfalt im Recht (Fn. 66), 69. 161
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mehr enthalten sein wird.163 Die neue Kategorie der „Geschlechtsinkongruenz“ wird in Zukunft im Kapitel über sexuelle Gesundheit zu finden sein, und nicht mehr in jenem über psychische Krankheiten.164 Auf den Eintrag im ICD-11 soll primär deshalb nicht vollständig verzichtet werden, weil Menschen mit Geschlechtsinkongruenz bisweilen Bedarf nach medizinischen Ressourcen haben und eine entsprechende Diagnose ihnen den Zugang dazu eröffnet.165 Die Entpathologisierung zeigt sich auch darin, dass darauf verzichtet wird, ein Leiden an der Geschlechtsinkongruenz als konstitutives Merkmal aufzunehmen, wie es sich etwa noch im DSM-V der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft als Element der Diagnose einer Geschlechtsdysphorie findet.166 Geschlechtsinkongruenz kann nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht bloß bedeuten, sich mit dem einen anderen Geschlecht zu identifizieren, sondern die Identifikation kann auch nicht-binär sein.167 Und nochmals: Das ist nichts, was es diagnostisch zu attestieren gälte, sondern es obliegt allein der Bestimmung jeder einzelnen Person. Dem sollte das österreichische wie das deutsche Recht nachkommen. Darüber hinaus ist es höchst an der Zeit, wie dies bereits Portugal und Malta vorgemacht haben, kosmetische Operationen an Genitalien von nicht einwilligungsfähigen Personen generell zu verbieten. Das heißt auch: Nicht nur dann, wenn die Diagnose „intergeschlechtlich“ im engeren Sinn gestellt wird, sondern auch im Fall sonstiger „Fehlbildungen“ der Genitalien.
VI. Abschließende Bemerkungen Es ist eine offene Frage, ob das Recht überhaupt das Geschlecht kategorisieren und als Element des Personenstandes festhalten soll. Es mehren sich die Stimmen jener, die meinen, dass es gut möglich und vor allem wünschenswert wäre, darauf zu verzichten.168 Die dafür ins Feld geführten Argumente sind gewichtig: Es ist kritisch zu sehen, dass Menschen weiterhin in ein rechtliches Geschlechterkorsett gepresst werden. Eine dritte Kategorie sprengt das Geschlechtersystem gerade nicht, Normalisierungs- und Anpassungszwänge bleiben bestehen. Dabei schwindet die Relevanz des Geschlechts in allen Rechtsbereichen signifikant; man denke nur an die Eheöffnung. Und wo sich das Recht auf das Geschlecht bezieht, bedarf es keiner Verankerung im 163 Raskin, What’s New in the International Classification of Diseases? 25.7.2018, https://www. psychologytoday.com/us/blog/making-meaning/201807/what-s-new-in-the-international-classifica tion-diseases (7.11.2018). 164 Drescher/Cohen-Kettenis/Winter, Minding the body: Situating gender identity diagnoses in the ICD-11, International Review of Psychiatry 2012, 568 (574). 165 Reed et al., Disorders related to sexuality and gender identity in the ICD-11: revising the ICD-10 classification based on current scientific evidence, best clinical practices, and human rights considerations, World Psychiatry 2016, 205–221 (210 f.). 166 Reed et al. (Fn. 165), 212. Siehe außerdem Drescher, Gender Diagnoses in the DSM and ICD, Psychiatric Annals 2016, 350–354. 167 Richards et al., Non-binary or genderqueer genders, International Review of Psychiatry 2016, 95–102. 168 Siehe nur Bars, The Politics of Recognition (Fn. 1) und Völzmann, Postgender! Für ein Recht ohne Geschlecht, Verf Blog, 11.10.2018, https://verfassungsblog.de/postgender-fuer-ein-recht-ohnegeschlecht/ (1.4.2019).
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Personenstandsrecht. Das gilt auch für die Frauenförderung, und sogar im deutschen Mutterschutzgesetz ist bereits geschlechtsneutral die Rede von der „Person, die schwanger ist, ein Kind geboren hat oder stillt.“169 Die Verfassungsgerichte haben diese radikale Lösung in ihren Überlegungen für möglich gehalten, wollten sie dem jeweiligen nationalen Recht aber nicht auferlegen. Und ohne einen solchen dezidierten Auftrag ist nicht damit zu rechnen, dass es dafür in absehbarer Zeit parlamentarische Mehrheiten geben könnte – schon gar in Zeiten einer zunehmenden Feindseligkeit jeglichen Geschlechteravantgarden gegenüber.170 Da nun also derart große Würfe nicht zu erwarten sind, bietet sich eine Art zweitbeste Lösung an, wie sie von den Verfassungsgerichten in die Wege geleitet, in den nationalen Umsetzungsmaßnahmen aber nicht angemessen berücksichtigt wurde: Ein Geschlechtseintrag kann weiterhin vorgesehen sein, er darf aber ausschließlich auf der individuellen Geschlechtsidentifikation beruhen. Im Sinne des vom deutschen Grundgesetz wie von der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgegebenen starken Rechts auf individuelle Entfaltung erscheint es als unzulässig, den geschlechtlichen Personenstand von medizinischen Diagnosen abhängig zu machen, und das gilt für alle der nun in Österreich wie in Deutschland möglichen vier Optionen: Offen lassen des Geschlechtseintrags, weiblich, männlich und nicht-binäre Kategorie wie inter oder divers, am besten, wie das Deutsche Institut für Menschenrechte dies in seinem Entwurf vorsieht, mit eigener Bezeichnung, die frei gewählt werden kann. Dies muss von einem Verbot geschlechtsanpassender Eingriffe an nicht einwilligungsfähigen Personen flankiert werden. Ein solcher Kompromiss ist nicht der Weisheit letzter Schluss; vorzugswürdig wäre ein Verzicht auf das Geschlecht als Personenstandskategorie. Allerdings wären wohl auch mit dem Streichen des personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrags nicht alle Anerkennungsprobleme aus der Welt geschafft. Und für manche trans*, inter * und non-binary* Personen mag gerade die personenstandsrechtliche Festlegung ihres Identifikationsgeschlechts in ihren Lebensvollzügen ein hilfreiches Instrument bieten und eine Sicherheit der Anerkennung vermitteln, die sie dann von Rechts wegen einfordern können, wenn sie in der sozialen Interaktion versagt wird. Vor diesem Hintergrund kann das Festhalten am rechtlichen Geschlechtseintrag eine durchaus brauchbare Grundlage für individuelle Autonomie bieten. Das Thema ist jedenfalls, auch angesichts der zu erwartenden weiteren Verfahren jener, die nicht angemessen berücksichtigt sind und daher vor Gericht um ihre rechtliche Anerkennung ringen werden, noch lange nicht erledigt.
§ 1 Abs. 4 MuSchG. Für weitere Beispiele siehe Völzmann, Postgender! (Fn. 168). Siehe beispielsweise Hark/Villa (Hrsg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schau plätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, 2015; Kuhar/Paternotte (Hrsg.), Anti-Gender Cam paigns in Europe. Mobilizing Against Equality, 2017; Verloo (Hrsg.), Varieties of Opposition to Gender Equality in Europe, 2018. 169 170
Die UN Behindertenrechtskonvention – Ansatz einer inklusiven Menschenrechtstheorie1 von
Prof. Dr. Theresia Degener (Bochum) Inhalt 1. Inhaltliche Neuerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 2. Behinderte Menschen als Menschenrechtssubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 3. Allgemeine Prinzipien – Freiheit und Gleichheit inklusiv gedacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 a) Inklusive Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 b) Inklusive, unterstützte Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 4. Neben Rechten auch Staatenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 5. Nichts ganz Neues, sondern Menschenrechte recht verstanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 6. Internationales und Nationales Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 7. Paradigmenwechsel: Vom medizinischen Modell zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung . . 501 8. Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK) von 2006 trat am 3. Mai 2008 international in Kraft und wurde nach Ratifizierung am 26. März 2009 Bestandteil der deutschen Rechtsordnung.2 Formal gliedert sich die UN BRK in zwei Völkerrechtsverträge: das Übereinkommen mit 50 Artikeln und das Fakultativprotokoll mit 18 Artikeln. Das Fakultativprotokoll enthält – ähnlich wie andere Menschenrechtsverträge – ein Individualbeschwerdeverfahren, mit dem sich Individuen oder Gruppen gegen erlebte Menschenrechtsverletzungen wehren können. Außerdem enthält das Protokoll ein besonderes Untersuchungsverfahren für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Mein Dank gilt Susanne Baer für Kritik und Anregungen zu diesem Text. Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl. 2008, II Nr. 35, 1419. 1 2
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Als erste Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts mit der kürzesten Verhandlungsgeschichte und der höchsten Zahl an Ratifikationen3 in der ersten Dekade ihrer Existenz ist die Behindertenrechtskonvention nicht nur außergewöhnlich schnell und breit akzeptiert: Sie bringt auch grundlegende Innovationen für das Völkerrecht im Allgemeinen und für das nationale (Behinderten-)Recht im Besonderen mit sich.4 Diese Innovationen beruhen auf einem Verständnis von Gleichheit und Diskriminierungsfreiheit, das weit über den konkreten Anwendungsbereich hinaus Bedeutung hat. Sie kann als Zeichen eines Paradigmenwechsels verstanden werden, der auch für andere Fragen des Rechts von Bedeutung sein müsste. Die Einflüsse von Ansätzen feministischer Rechtswissenschaft und der Disability Studies können an verschiedenen Textstellen des Abkommens selbst, seiner Entstehungsgeschichte und der Rechtsprechung des UN BRK Fachausschusses nachgewiesen werden. Im Text der Konvention sind es vor allem der Begriff von Behinderung, die Definition von Diskriminierung und die Ausgestaltung des Rechts auf gleiche Anerkennung vor dem Recht (Art. 12), die solche Bezüge erkennen lassen. In der Entstehungsgeschichte des völkerrechtlichen Vertrages wurde stets der Paradigmenwechsel vom medizinischen zum sozialen Modell von Behinderung betont, womit an zentralen Vorbildern der Disability Studies angeknüpft wurde. In der Rechtsprechung des UN Fachausschusses werden insbesondere in seinen Allgemeinen Bemerkungen Nr. 1 zu Art. 12 UN BRK (Gleiche Anerkennung als Person vor dem Recht) und Nr. 6 zu Art. 5 (Gleichheit und Nichtdiskriminierung) die Spuren von Legal Gender Studies und Legal Disability Studies sichtbar. Die inhaltlichen Neuerungen sind dabei ebenso wichtig wie die Neuerungen zur Rechtsdurchsetzung.
1. Inhaltliche Neuerungen Die UN BRK ist die erste Menschenrechtskonvention, die den Beitritt von Organisationen der regionalen Integration erlaubt (Art 44 UN BRK). Daher konnten die Europäischen Gemeinschaften (heute EU) im Jahre 2011 der Konvention beitreten. Die UN BRK ist auch das erste Menschenrechtsabkommen, das – anknüpfend an die Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 – ein nationales Überwachungssystem zur Einhaltung dieser Menschenrechte unter Einbindung unabhängiger Menschenrechtsinstitutionen und der Zivilgesellschaft kodifiziert (Art. 33 UN BRK). Sie ist der erste Menschenrechtsvertrag, der Entwicklungszusammenarbeit explizit zu einem Bestandteil der Menschenrechtspolitik macht (Art. 32 UN BRK). Zudem erklärt die UN BRK die Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung erstmals zu einer verbindlichen Staatenpflicht. Dazu kommen die Reformansätze, die konkret für das Behindertenrecht von Bedeutung sind. Der traditionelle Wohlfahrtsansatz in der Behindertenpolitik wird durch einen Ansatz ersetzt, der sich als konsequenter Bürgerrechtsansatz bezeichnen lässt, im Sinne der erkämpften „civil rights“ der Zugehörigkeit zur Gesellschaft ohne Im zehnten Jahr ihres Inkrafttretens (2018) wurde die UN BRK von 176 Staaten und einer supranationalen Organisation (EU) ratifiziert. 4 Degener, 10 years of Convention on the Rights of Persons with Disabilities, Netherlands Quarterly of Human Rights 35 (3/2017), 152 ff. 3
Die UN Behindertenrechtskonvention
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Diskriminierung. Behinderte Menschen5 werden in der UN BRK von Objekten der Fürsorge zu Subjekten mit Menschenrechten. Damit wird nicht zuletzt das Universalitätsversprechen der Menschenrechtstheorie der Nachkriegsordnung, auf dem die Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 beruht, eingelöst. Um daran zu erinnern: Menschenrechte werden Menschen qua Menschsein verliehen, nicht weil sie über ein bestimmtes Geschlecht, eine bestimmte Hautfarbe oder einen bestimmten gesundheitlichen Status verfügen. Die UN BRK ist auch darüber hinaus bemerkenswert. Wie kein anderes Menschenrechtsinstrument wurde die UN BRK von der Zivilgesellschaft – in Gestalt der internationalen Behindertenbewegung – errungen.6 Sie knüpfte ihrerseits an Erkenntnisse und Reformvorschläge der feministischen Rechtwissenschaft und der Disability Studies an. Anleihen an die feministische Rechtswissenschaften lassen sich beispielsweise in Artikel 6 UN BRK ausmachen, der die Mehrfachdiskriminierung behinderter Frauen thematisiert und Erkenntnisse aus der Intersektionalitätsforschung aufnimmt. Das soziale Modell von Behinderung als Paradigma der Disability Studies 7 war der Grundkonsens des Ad Hoc Ausschusses, der die UN BRK zwischen 2002 und 2006 entwarf.8 Auch insofern kann die UN BRK als paradigmatischer Regulierungsansatz für den Umgang mit Ungleichbehandlung im Sinne von Ausgrenzung und Benachteiligung verstanden werden.
2. Behinderte Menschen als Menschenrechtssubjekte Mit der BRK wurde ein Paradigmenwechsel der Behindertenpolitik auf internationaler Ebene vollzogen, der sich auf nationaler Ebene schon länger angekündigt hatte.9 Das traditionelle Verständnis von Behinderung, bei dem sich der Blick einseitig auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen als individuelles Problem richtet, wurde durch eine menschenrechtliche Sichtweise auf Behinderung ersetzt. Dieser Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinde Die Bezeichnung „Menschen mit Behinderungen“ wird von der Verfasserin im Sinne der angelsächsischen Disability Studies zurückhaltend verwendet. Die soziale Konstruktion von Behinderung (soziales Modell von Behinderung) lässt sich durch die hier gewählte Terminologie besser zum Ausdruck bringen. 6 von Bernstorff, Inklusion als Menschenrechtsprinzip. Zur Erweiterung des UN-Antidiskriminierungsschutzes durch eine Konvention über die Rechte behinderter Menschen, ZaöRV 4/2007, 1041 ff.; Degener, Eine UN-Menschenrechtskonvention für Behinderte als Beitrag zur ethischen Globalisierung, APuZ 2003 (B 8/2003), 37 ff.; Degener/Begg, From Invisible Citizens to Agents of Change. A Short History of the Struggle for the Recognition of the Rights of Persons with Disabilities at the United Nations, in: Della Fina/Cera/Palmisano (eds.), The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. A Commentary, 2017, 1 ff. 7 Oliver, The politics of disablement. A sociological approach, 1990; Oliver, Understanding disability. From Theory to Practice, 1996. 8 Degener/Begg, From Invisible Citizens to Agents of Change. A Short History of the Struggle for the Recognition of the Rights of Persons with Disabilities at the United Nations, in: Della Fina/Cera/ Palmisano (eds.), The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. A Commentary, 2017, 1 ff. 9 Degener, Antidiskriminierungsrechte für Behinderte: Ein globaler Überblick, ZaöRV 65 (2005), 887 ff. 5
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rung kann als Leitmotiv der BRK betrachtet werden. Dies kommt auch in dem Behindertenbegriff der BRK zum Ausdruck, etwa in der Präambel, die darauf verweist, dass Behinderung durch die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht,10 oder in der Beschreibung des Personenkreises der behinderten Menschen in Art. 1 BRK.11 Die BRK manifestiert einen Kurswechsel, der die bislang vergessene Minderheit der Behinderten in der Menschenrechts- und der Entwicklungspolitik12 in den Blick nimmt. Die Hohe Kommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, beschrieb diesen Kurswechsel in ihrer Rede vor dem Menschenrechtsrat im März 2009. Die BRK „requires us to move away from charity-based or medical-based approaches to disability to a new perspective stemming from and firmly grounded in human rights (…). These traditional approaches and attitudes, no matter how well intentioned they might have been, regarded persons with disabilities either as passive recipients of good will or deeds, or as problems to be fixed, or both.“13
3. Allgemeine Prinzipien – Freiheit und Gleichheit inklusiv gedacht Die UN BRK folgt in der normativen Struktur und Aussage den Menschenrechtsversprechen des weltweiten Konsenses nach 1945, die auch das deutsche Grundgesetz ebenso prägen wie die Europäische Charta der Grundrechte. Allerdings fallen die Garantien in der BRK als Kind des 21. Jahrhunderts differenzierter aus. Insbesondere werden die Grund- und Menschenrechte nicht als separate Garantien der ersten (bürgerliche und politische) und zweiten (soziale, wirtschaftliche und kulturelle) Menschenrechtsgenerationen normiert. Ganz im Sinne der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien werden beide Gruppen von Menschenrechten als unteilbar, einander bedingend und zusammengehörend berücksichtigt. Zu den allgemeinen Prinzipien der BRK gehören gemäß Art. 3 UN BRK (1) die Achtung der Menschenwürde, (2) die Nichtdiskriminierung, (3) die Partizipation und die Inklusion, (4) der Respekt vor Differenz und die Anerkennung von Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt, (5) die Chancengleichheit, (6) die Barrierefreiheit, (7) die Gleichbe10 Absatz e) der Präambel lautet: „in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.“ 11 Vgl. Art. 1 BRK: „(…) Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ 12 Degener/Koster-Dreese (eds.), Human rights and disabled persons: Essays and relevant human rights instruments, International Studies in Human Rights 40, 1995; Quinn/Degener, Human rights and dis ability: The current use and future potential of United Nations human rights instruments in the context of disability, 2002. 13 http://www.unhchr.ch/huricane/huricane.nsf/view01/D4D11908028E486EC1257571005A73 EE?opendocument, zuletzt abgerufen am 05.04.2009; s.a. https://www.ohchr.org/EN/NEWSEV ENTS/Pages/RightsPersonsDisabilitiesdiscussedCouncil.aspx, zuletzt abgerufen am 31.10.2018.
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rechtigung zwischen Frauen und Männern und (8) der Respekt vor den Fähigkeiten und Rechten der Kinder. Die Betonung der Menschenwürde ist ein wesentliches Merkmal der UN BRK. Das ist hier bemerkenswert, weil Autonomie, Unabhängigkeit und die grundlegend „autonome“ Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, zwar allgemein als Bestandteile der Menschenwürde aufgefasst werden. Gerade im Hinblick auf Behinderte mit kognitiven und/oder psycho-sozialen Beeinträchtigungen werden diese jedoch im Rechtsalltag häufig in Frage gestellt. Die UN BRK setzt dagegen einen anderen Maßstab. Sie gewährt auch jenen Autonomie, Unabhängigkeit und die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, die die herkömmlichen Anforderungen an Vernunft und Normalität nicht erfüllen. Konkret zielt sie darauf, anzuerkennen, dass Menschen gegebenenfalls Unterstützung bei der Entscheidungsfindung benötigen. Das verändert das Menschenbild, das auch den meisten Verfassungsgarantien zugrunde liegt. Die UN BRK bekräftigt das – in Art. 3 lit. d – durch den Grundsatz der „Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und [der] Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit.“ Dies fügt sich nahtlos in die kritische Perspektive der feministischen Rechtswissenschaft ein, die seit langem darüber aufzuklären sucht, dass Gleichheit nicht Identität bedeutet, sondern gerade in der Anerkennung der Vielfalt ihren normativen Kern findet.14 Das so verstandene allgemeine Prinzip der „Nichtdiskriminierung“ als das Herzstück der Konvention wird ergänzt durch die Grundsätze der „Chancengleichheit“ – in Art. 3 lit. e – und der „volle[n] und wirksame[n] Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ – in Art. 3 lit. b – sowie das Prinzip der „Zugänglichkeit“ – in Art. 3 lit. f. Damit soll – wiederum ganz im Einklang mit einer zentralen Position feministischer Rechtswissenschaft – klargestellt werden, dass Gleichheit behinderter Menschen nicht durch formale Gleichstellung erreicht werden kann.15 Gleichheit ohne Chancengleichheit ignoriert die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, die (nicht nur) behinderte Menschen oft haben. Gleichheit ohne Zugänglichkeit bedeutet, die Tore für Behinderte zu öffnen, ohne die Barrieren zu beseitigen, die vor den Toren stehen. Und Gleichheit ohne Inklusion bedeutet Assimilation um den Preis der Unterdrückung oder der Vernachlässigung von Differenzen, die wichtig für die Identität oder die Entwicklung der einzelnen Menschen sind.16 In der UN BRK wird das Prinzip der Nichtdiskriminierung begleitet von den Grundsätzen der Inklusion, Chancengleichheit und Barrierefreiheit. Damit folgt die UN BRK einem erweitertem Gleichheitskonzept, das faktische und rechtliche Gleichheit, Hierarchisierungen17 und Dominanzverhältnisse18 berücksichtigt. 14 Vgl. Maihofer, „Gleichheit nur für Gleiche?“, in: Gerhard/Maihofer (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1997. 15 Vgl. nur Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Auflage, 1996; Baer/Markard, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 7. Auflage 2018, Art. 3 Abs. 2 , 3, 409 ff. 16 Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel der Gehörlosen, wenn ihnen Integration nur um den Preis des Verzichts auf Gebärdensprache gewährt wird. 17 Baer, Würde oder Gleichheit? Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, 1995. 18 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1996.
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Die UN BRK differenziert darüber hinaus auch innerhalb der Gruppe der Benachteiligten. Weil behinderte Frauen und behinderte Kinder zu den besonders gefährdeten Gruppen gehören, die Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, wurden ihnen eigenständige Artikel gewidmet. Art. 6 UN BRK handelt von behinderten Frauen. Damit wird die mehrdimensionale Diskriminierung behinderter Frauen und Mädchen anerkannt. Die UN BRK ist damit eine der wenigen Normen, die das berücksichtigen, was in der kritisch-antirassistischen und feministischen Forschung als Intersektionalität – nach Crenshaw – diskutiert wird.19 Mit der UN BRK wurde zudem eine erweiterte Definition von Diskriminierung in das Völkerrecht eingeführt. Art. 2 definiert Diskriminierung als „(…) jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen; (…).“
Als angemessene Vorkehrungen gelten „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.“20
Damit wurde der im internationalen Menschenrecht bekannte Diskriminierungsbegriff um den Aspekt der Verweigerung angemessener Vorkehrungen erweitert. Mit diesem können Barrieren und Strukturen, die behinderte Menschen benachteiligen, als Diskriminierung verstanden und mit dem Gleichheitsanspruch in Frage gestellt werden. Diese Definition von Diskriminierung kommt aus dem US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht. Der Terminus „denial of reasonable accommodation“ wurde dort zunächst im Kontext von religiöser Diskriminierung von Minderheiten verwendet, fand dann jedoch ab den 1980er Jahren weltweit Aufnahme in Antidiskriminierungsvorschriften zum Schutz gegen Behindertendiskriminierung.21 Das ihm zugrundeliegende Gleichheitsmodell nimmt Anleihen insbesondere an Erkenntnissen der feministischen Rechtswissenschaft, die dem formalen Gleichheitsverständnis das Modell der substantiellen bzw. materialen Gleichheit entgegensetzt.22 19 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Anti-Discrimination Doctrine, Feminist Theory and Anti-Racist Politics, University of Chicago Legal Forum 1989, 139 ff.; Markard, Die andere Frage stellen. Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, Kritische Justiz 2009, 353 ff.; Baer/Bittner/Göttsche, Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2010. 20 Art. 2 BRK. Auch in Art. 5 BRK, dem eigentlichen Diskriminierungsverbot, wird auf die Anpassungspflicht der „angemessenen Vorkehrungen“ Bezug genommen. 21 Degener, ZaöRV 65 (2005), 887 ff. 22 Vgl. Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995; Sacksofsky, Diskriminierung und Gleichheit – aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Opfermann (Hrsg.), Unrechtserfahrungen, 2007; Fredman, Discrimination Law, 2nd edition, 2011; Gooding, Disabling Laws, Enabling Acts. Disability Rights in Britain and America, 2001; Lawson, Disability and equality law in Britain. The role of reasonable adjustment, 2008.
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a) Inklusive Gleichheit In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 Abs. 11 hat der UN-BRK Fachausschuss 2018 ausgeführt, dass das Gleichheitsmodell der UN BRK über das substantielle Gleichheitsmodell hinausgeht.23 Das als „inclusive equality“ neu in das Völkerrecht eingeführte Gleichheitskonzept wird beschrieben als „new model of equality developed throughout the Convention. It embraces a substantive model of equality and extends and elaborates on the content of equality in: (a) a fair redistributive dimension to address socioeconomic disadvantages; (b) a recognition dimension to combat stigma, stereotyping, prejudice and violence and to recognize the dignity of human beings and their intersectionality; (c) a participative dimension to reaffirm the social nature of people as members of social groups and the full recognition of humanity through inclusion in society; and (d) an accommodating dimension to make space for difference as a matter of human dignity.“
Weder der Terminus24 noch das Gleichheitsmodell wurden vom Fachausschuss selbst kreiert. Die konzeptionelle Vorlage lieferte Sandra Fredmans Modell der transformativen Gleichheit, welches die gleichen vier Dimensionen aufweist.25 Jedoch konnte sich der Fachausschuss mit dem Begriff der Transformation nicht anfreunden. Inklusive Gleichheit wird in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 von substantieller und formaler Gleichheit unterschieden. Danach nimmt formale Gleichheit nur Diskriminierung aufgrund direkter Benachteiligung in den Blick, was für die Bekämpfung von Vorurteilen und Stereotypisierung richtig sein mag. Hingegen bleibt das „Dilemma der Differenz“26 bei der formalen Gleichheit unberücksichtigt. Deshalb braucht es die substantielle Gleichheit, die auch strukturelle und mittelbare Benachteiligung erfasst und Machtverhältnisse offenlegt (GC 6 Abs. 10). Von dieser unterscheidet sich inklusive Gleichheit durch die vier genannten Dimensionen, die im Kontext von Behinderung erklärt werden. Die redistributive Dimension erfordert Armutsbekämpfungsprogramme als Antwort auf die sich gegenseitig verstärkenden Phänomene von Armut und Behinderung. Die mit Behinderung verbundenen Zusatzkosten dürfen nicht mehr ignoriert werden. Zusätzlich bedarf es besonderer Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 4 UN BRK, um die tatsächliche Gleichberechtigung behinderter Menschen herbei zu führen bzw. zu beschleunigen. Die zweite Dimension der inklusiven Gleichheit, die Bekämpfung von Stigmatisierung, Stereotypisierung, Vorurteilen und Gewalt, so wie die Respektierung von Menschenwürde und Intersektionalität, wird in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 mehrfach aufgegriffen (GC Abs. 6, 29, 19, 39, 45, 56, 73, 52, 55). Auf zwei Artikel der Konvention – Art. 8 (Bewusstseinsbildung) und Art. 16 (Freiheit von Ausbeutung, Committee on the Rights of Persons with Disabilities, General comment No. 6 (2018) on equality and non-discrimination, CRPD/C/GC/6 (im Folgenden: GC No 6). 24 Vgl. bereits Witcher, Inclusive equality. A vision for social justice, 2017; Sheppard, Inclusive equality. The relational dimensions of systemic discrimination in Canada, 2010. 25 Fredman et al., Achieving Transformative Equality for Persons with Disabilities: Submission to the CRPD Committee for General Comment No. 6 on Article 5 of the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, Oxford Human Rights Hub, 2017; https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/ CRPD/Pages/WSPersonsDisabilitiesEqualityResponsability.aspx, zuletzt abgerufen am 9.10.2018. 26 Minow, Making all the Difference. Inclusion, Exclusion and American Law, 1991. 23
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Gewalt und Missbrauch) – wird in diesem Zusammenhang besonders hingewiesen. Die zweite Dimension ist auch in dem weiten Diskriminierungsbegriff reflektiert, der neben direkter und indirekter Benachteiligung und der Verweigerung angemessener Vorkehrungen, Belästigung und Gewalt sowie intersektionale Benachteiligung erfasst. Als dritte Dimension inklusiver Gleichheit wird mit der partizipativen Dimension, der soziale Gruppenstatus behinderter Menschen und ihre individuelle Anerkennung als Teil der Menschheit durch volle Teilhabe an der Gesellschaft bekräftigt. Partizipation als soziales Gruppenmitglied einerseits und als individuelles Menschenrechtssubjekt andererseits wird in der UN BRK mehrfach und deutlich angesprochen. Beispielsweise sind gemäß Art. 4 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 3 bei der Umsetzung und Überwachung der UN BRK behinderte Personen und ihre Interessenverbände sinnvoll zu beteiligen.27 Weiterhin sind die Staatenpflichten zur Herstellung von Barrierefreiheit (Art. 9) gruppenbezogen, während die Pflicht zum Schutz vor Diskriminierung durch angemessene Vorkehrungen (Art. 5 Abs. 3) sich auf das Individuum bezieht. Daraus ergeben sich unterschiedliche Gerechtigkeitsstandards: Barrierefreiheit muss ex ante mit den Interessenverbänden z.B. der Blinden, der Gehörlosen, der behinderten Frauen ausgehandelt werden. Angemessene Vorkehrungen sind ex nunc Pflichten, die im Dialog mit der behinderten Person realisiert werden müssen.28 Die vierte Dimension schließlich, die Anpassungsdimension, berücksichtigt Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt und Differenz als Aspekt der Menschenwürde. Die Allgemeine Bemerkung Nr. 6 analysiert diese Dimension ausführlich, indem der Prozess der angemessenen Vorkehrungen sowohl in seinen einzelnen Schritten als auch im Hinblick auf seine Grenzen der Zumutbarkeit beschrieben wird. Außerdem wird die Nichtdiskriminierungspflicht zur angemessenen Vorkehrung von anderen Maßnahmen, etwa der besonderen (Förder-) Maßnahmen (Art. 5 Abs. 4), der individuellen Unterstützung (Art. 19 selbstbestimmt Leben; Art. 24 inklusive Bildung), sowie von Maßnahmen der Barrierefreiheit (Art. 9) und Verfahrensanpassungen (Art. 13 Zugang zum Recht) unterschieden.
b) Inklusive, unterstützte Autonomie Schließlich enthält der Text der UN BRK auch eine moderne Auffassung von Autonomie, die nicht mehr auf der Trennung von Körper und Geist beruht und Nichtbehinderung – also eine sozial konstruierte Normalität – voraussetzt. Nach Art. 12 (Gleiche Anerkennung vor dem Recht) wird jedem behinderten Menschen das Recht „überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden“, Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen bei der Ausübung rechtlicher Handlungsfähigkeit sowie Schutz vor Missbrauch und Ausbeutung im Rechtsverkehr garantiert. Damit wurde das Menschenrecht der gleichen Anerkennung vor dem Recht als Menschenrecht mit zwei Di mensionen ausgestaltet. Zum einen der Anerkennung als Rechtssubjekt (statische 27 Vgl. dazu die jüngste Allgemeine Bemerkung Nr. 7 des Ausschusses; General comment No. 7 (2018) on the participation of persons with disabilities, including children with disabilities, through their representative organizations, in the implementation and monitoring of the Convention, CRPD/ C/GC/7. 28 Vgl. GC No. 6 sowie GC No. 2 .
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Komponente) und darauf auf bauend das Recht auf gleiche rechtliche Handlungsfreiheit (dynamische Komponente). Das in der klassischen Menschenrechtslehre als Freiheitsrecht charakterisierte Recht wurde damit auch als Gleichheitsrecht ausgestaltet.29 Zudem wurde das herkömmliche Verständnis von Autonomie in Frage gestellt. Autonomie wird nicht mehr nur jenen Menschen zugestanden, die (scheinbar) selbständig und ohne Unterstützung Entscheidungen treffen können. Auch jene Menschen, denen wegen kognitiver Beeinträchtigungen die Sicherheit im Entscheidungsverhalten fehlt, wird Autonomie zugestanden. Nach der Rechtspraxis des UN BRK Fachausschusses ist jegliche Form der fremdbestimmten Stellvertretung – mithin jegliche Form der Vormundschaft für erwachsene Behinderte und jegliche Form der fremdbestimmten rechtlichen Betreuung – mit Art. 12 unvereinbar.30 Diese Vorschrift hat bereits in mehr als 30 Ländern zu signifikanten Reformen im Vormundschafts- bzw. Betreuungsrecht sowie in den Psychiatriegesetzen geführt und es wurden neue Modelle der unterstützten Entscheidungsfindung rechtlich reguliert.31 Als erstes Land hat nun Peru jegliche Form der Vormundschaft oder rechtliche Betreuung, die an Behinderung anknüpft, abgeschafft.32 Deutschland, das die UN BRK vorbehaltlos ratifiziert hat, wurde vom UN Fachausschuss 2015 im Rahmen der ersten Staatenüberprüfung u.a. auch für das konventionswidrige deutsche Betreuungsrecht kritisiert.33 Die Empfehlung, das System der fremdbestimmten Stellvertretung im Betreuungsrecht durch ein System unterstützter Entscheidungsfindung zu ersetzen, ist eine Herausforderung, die es in Deutschland noch zu meistern gilt.34
4. Neben Rechten auch Staatenpflichten Die UN BRK begnügt sich zudem nicht mit Rechten, die auf die Hürden der Rechtsmobilisierung und -durchsetzung treffen. Vielmehr verpflichten sich die Staaten mit der UN BRK insbesondere, Fördermaßnahmen zur Stärkung und Entwicklung behinderter Frauen zu ergreifen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Artikel 6 der Konvention die erste internationale Menschenrechtsnorm ist, die Mehrfachdiskriminierung – hier in Bezug auf behinderte Frauen – als Menschenrechtsverletzung anerkennt. Mitgliedsstaaten werden verpflichtet „geeigneten Maß29 Ausführlicher Aichele/Degener, Frei und gleich im rechtlichen Handeln, in: Aichele (Hrsg.), Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht. Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention, 1. Aufl., 2013, 37 ff.; Degener, Unterstützte gleiche Freiheit: Zum Innovationspotenzial der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, in: Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht. Geschlechtertheoretisch vermessen, 2018, 61 ff. 30 Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2014) General comment No. 1 on Article 12: Equal recognition before the law, CRPD/C/GC/1. 31 United Nations, Report of the Special Rapporteur on the Rights of Persons with Disabilities A/ HRC/37/56, 12 December 2017, 9 ff. 32 Decreto Legislativo No 1383, 04/09/2018. Die UN Sonderbeauftragte für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Peru für diese Vorreiterrolle gelobt, https://www.ohchr.org/EN/News Events/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23501&LangID=E, zuletzt abgerufen am 9.10.2018. 33 Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015), Concluding observations on the initial report of Germany, CRPD/C/DEU/CO/1. 34 Degener, Erwachsenenschutzrecht, Vormundschaft und Betreuung aus menschenrechtlicher Behindertenperspektive, in: Betreuungsrechtliche Praxis 6/2016, 205 ff.
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nahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen“ zu ergreifen. In seiner dritten Allgemeinen Bemerkung hat der UN Fachausschuss den normativen Gehalt von Art. 6 UN BRK näher erläutert und Empfehlungen zur Umsetzung auf nationaler Ebene entwickelt.35 Art. 7 UN BRK benennt zudem drei wichtige Staatenpflichten, die im Zusammenhang mit der Menschenrechtsverwirklichung von Kindern zu berücksichtigen sind: in Art. 7 Abs. 1 die Gleichberechtigung mit nicht behinderten Kindern, in Art. 7 Abs. 2 den Vorrang des Wohls des Kindes und schließlich in Art. 7 Abs. 3 die Beteiligungsrechte des Kindes und die Gewährleistung seiner Meinungsfreiheit in allen es betreffenden Angelegenheiten. Art. 7 UN BRK ist damit der Versuch, die Kinderrechtskonvention in ihrer Gesamtheit für behinderte Kinder anwendbar zu erklären.36 Neben weiteren Verweisen auf Kinder und Frauen an verschiedenen Stellen der UN BRK 37 ist durch die systematische Stellung der Art. 6 und 7 am Anfang der BRK auch deren horizontale Wirkung für alle in der UN BRK genannten Menschenrechte zum Ausdruck gebracht. Art. 4 UN BRK enthält die allgemeinen Pflichten, die die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung dieser Menschenrechtskonvention zu beachten haben. Darunter eine ganze Reihe allgemeiner Staatenpflichten, die die bekannte menschenrechtliche Pflichtentrias der Mitgliedsstaaten – die Achtung, den Schutz und die Gewährleistung aller Menschenrechte – für die BRK konkretisieren. Dazu gehören nicht nur die Abschaffung und Beseitigung aller konventionswidrigen Gesetze, sondern auch derartiger Praktiken. Die staatliche Pflicht zur Beseitigung von Diskriminierung erstreckt sich damit auch auf benachteiligendes Verhalten durch private Personen, Organisationen und Unternehmen.38 Dazu kommt eine neue Pflicht, die sich in anderen Menschenrechtsverträgen bislang nicht findet. Es ist – nach Art. 4 Abs. 1 lit. c) – die Pflicht, „den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in allen politischen Konzepten und allen Programmen [zu] berücksichtigen“. Das lässt sich als Disability Mainstreaming interpretieren, auch wenn der Begriff in der Präambel lit. g der UN BRK ausdrücklich nur für den Bereich der nachhaltigen Entwicklung verwendet wurde. Auch hier wird die Verwandtschaft mit den Anstrengungen deutlich, die Gleichstellung bzw. Nichtdiskriminierung als Querschnittsgebot in allen Politi-
35 Committee on the Rights of Persons with Disabilities, General comment No. 3 (2016) on women and girls with disabilities, CRPD/C/GC/3. 36 Da behinderten Kindern mit Art. 23 der Kinderrechtskonvention (KRK) ein eigenständiger Artikel gewidmet ist, tendierten die Mitgliedsstaaten der KRK in der Vergangenheit dazu, nur diesen auf behinderte Kinder anzuwenden. Der Kinderrechtsausschuss stellt in seinem Allgemeinen Kommentar Nr. 9 aus dem Jahre 2006 klar, dass die gesamte KRK auf behinderte Kinder anwendbar ist, und stellt umfangreiche Richtlinien dafür auf. Vgl. Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 9/2006; The rights of children with disabilities, CRC/C/GC/9 v. 27.2.2007. 37 Z.B. in dem für diese Gruppen so wichtigen Art. 16 (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch). 38 Art. 4 Abs. 1 lit. e BRK, dazu oben S. 10 sowie United Nations/Inter-Parliamentary Union (UN/ IUP), From Exclusion to Equality: realizing the rights of persons with disabilities, Handbook for Parliamentarians on the Convention on the rights of Persons with Disabilities, 2007, 18; Schmahl, Menschen mit Behinderungen im Spiegel des internationalen Menschenrechtsschutzes, ARV 45 (2007), 517 ff. (529).
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ken zu verankern, die mit dem im Rahmen der Weltfrauenkonferenz der UN 1995 begründeten Gender Mainstreaming verknüpft sind.39 Erstmals in einer Menschenrechtskonvention wurden Staaten in der UN BRK zudem verpflichtet, Fachkräfte der Sozialberufe über das Übereinkommen zu schulen. Das Thema der Bewusstseinsbildung wird in Art. 8 BRK noch einmal gesondert aufgeführt. Die Staaten sind – in Art. 8 Abs.1 lit. b – aufgerufen, mit vielfältigen Maßnahmen, „Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderung“ zu bekämpfen und in der Gesellschaft allgemein positiv über Behinderung aufzuklären. Dabei haben die Medien – nach Art. 8 Abs. 2 lit. c – eine wichtige Rolle zu spielen. Diese Obliegenheit gehört wie die Pflicht zur Herstellung von Barrierefreiheit nach Art. 9 UN BRK zum Innovationspotenzial der BRK.40 Hier wird anerkannt, was auch in weiteren Feldern der Gleichstellung von Bedeutung ist: die Rechtsdurchsetzung lässt sich gerade nicht voraussetzen, sondern ist Teil der Herausforderung.41
5. Nichts ganz Neues, sondern Menschenrechte recht verstanden Die in der UN BRK enthaltenen Menschenrechte sind jene, die auch in der All gemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und den beiden grundlegenden Menschenrechtsübereinkommen von 1966, dem des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt), enthalten sind. Deren Gleichheitsversprechen sind zuerst gegen Rassismus in der Konvention von 1966 und dann gegen die Benachteiligung von Frauen mit der Frauenrechtskonvention von 1976 ausformuliert worden. Während der Verhandlungen zur UN BRK wurde immer wieder betont, dass keine neuen Menschenrechte geschaffen, sondern der universal anerkannte Katalog der Menschenrechte auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten werden sollte. Hintergrund dieser Entscheidung war die Erkenntnis, dass Sonderbehandlung und Sonderrechte für behinderte Menschen immer wieder deren Aussonderung zur Folge hatten und gleichzeitig die Universalität der Menschenrechte in der Praxis in Frage gestellt wird, wenn die Bedürfnisse behinderter Personen nicht berücksichtigt werden. Das zeigte besonders deutlich unsere Hintergrundstudie zur Umsetzung bestehender Menschenrechtsnormen im Kontext von Behinderung, die das Hohe Kommissariat für Menschenrechte im Jahr 2000 in Auftrag gegeben hatte, kurz vor Einsetzung des Ad-hoc-Ausschusses, der die UN BRK entwickelte.42
39 Baer, Gender Mainstreaming als Operationalisierung des Rechts auf Gleichheit, in: Bothfeld/ Gronbach/Riedmüller (Hrsg.), Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik, 2002, 41 ff.; Baer/Hildebrandt (Hrsg.), Gender works! Gender Mainstreaming: Gute Beispiele aus der Facharbeit, 2007. 40 Vgl. Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenkonvention, Deutsches Institut für Menschenrechte, Essay No 5, 2006. 41 Kocher, Barrieren der Rechtsmobilisierung, Reha-Recht, Forum D – Nr. 8/2013. 42 Quinn/Degener (Fn. 12).
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Die UN BRK enthält daher u.a. die bekannten folgenden Menschenrechte: das Recht auf Gleichheit vor und durch das Gesetz (Art.5), auf Leben (Art. 10), auf Freiheit und persönliche Sicherheit (Art. 14), auf gleiche Anerkennung vor dem Gesetz (Art. 12), auf Freiheit von Folter (Art. 15), auf Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art. 16), auf Achtung der physischen und mentalen Unversehrtheit (Art. 17), auf Freizügigkeit, Mobilität und Nationalität (Art. 18), auf selbstbestimmte Lebensführung in der Gemeinde (Art. 19), auf Meinungs- und Redefreiheit (Art. 21), auf Achtung der Privatsphäre (Art. 22), auf Achtung der Wohnung und der Familie (Art. 23), auf Bildung (Art. 24), auf Gesundheit (Art. 25), auf Arbeit (Art. 27), auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 28), auf Partizipation am politischen und öffentlichen und am kulturellen Leben (Art. 29, 30). Die UN BRK berücksichtigt, welcher besondere Zuschnitt dieser Menschenrechte auf den Kontext von Behinderung erforderlich ist. Das zeigt exemplarisch das Recht auf Meinungsfreiheit in Art. 21 UN BRK. Es enthält das aus Art. 19 (IPbpR), bekannte Recht auf ungehinderte Meinungsfreiheit.43 Allerdings wird die Freiheit, sich Informationen und Gedankengut zu beschaffen, empfangen und weiterzugeben, dahingehend qualifiziert, dass dies barrierefrei und unter Nutzung verschiedener Mittel, Formate und Formen der Kommunikation einschließlich der Gebärdensprache möglich sein muss. Der Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat dazu inzwischen eine reichhaltige Rechtspraxis entwickelt, in Abschließenden Bemerkungen, Allgemeinen Bemerkungen, und Entscheidungen über Individualbeschwerden.44
6. Internationales und Nationales Monitoring Neben den inhaltlichen Präzisierungen ist die UN BRK auch von Interesse, weil sie über ein innovatives zweisäuliges Monitoringsystem verfügt, das dem vorhandenen System der einzelnen Vertragsausschüsse ähnelt, es aber auch erweitert. So reagiert die Konvention auf die Defizite der Rechtsdurchsetzung, die für kritische Forschung zu sonst leeren Rechtsversprechen der Mehrheit – gegen Rassismus in der critical race theory, gegen Sexismus in der feministischen Rechtswissenschaft usw. – sehr wichtig sind. Wie die anderen Menschenrechtskonventionen wird die UN BRK nach Art. 34 von einem mit unabhängigen Experten und Expertinnen besetzten Fachausschuss überwacht. Daneben gibt es als zweites Organ die jährlich in New York tagende Konferenz der Vertragsstaaten. Anders als andere Vertragsstaatenkonferenzen kann sie sich mit jeder Angelegenheit im Zusammenhang mit der Durchführung der Konvention befassen. Sie ist deshalb auch mit zuletzt über 800 Teilnehmenden45 vergleichsweise prominent und zahlreich besucht. 43 Vgl. Art. 19 IPbpR: (1) Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit. (2) Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. 44 https://www.ohchr.org/en/hrbodies/crpd/pages/crpdindex.aspx, zuletzt abgerufen am 6.9.2018. 45 https://www.un.org/development/desa/disabilities/conference-of-states-parties-to-the-convention-on-the-rights-of-persons-with-disabilities-2.html, zuletzt abgerufen am 6.9.2018.
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Die rechtliche Überwachungsaufgabe fällt allerdings dem in Genf tagenden UN BRK Fachausschuss zu. Er bestand zunächst aus zwölf und nach sechzig weiteren Ratifikationen aus achtzehn Mitgliedern (Art. 34 Abs. 2). In der ersten Dekade seines Bestehens hat der UN BRK Fachausschuss über 70 Abschließende Bemerkungen zu Staatenberichtsverfahren verabschiedet, etwa zwanzig Individualbeschwerden beschieden und zwei vertrauliche Untersuchungsverfahren durchgeführt.46 Dem UN BRK Fachausschuss stehen bekannte, aber auch neue Überwachungsinstrumente zur Verfügung. Das wichtigste Instrument ist das Staatenberichtsverfahren (Art. 35 ff. UN BRK). Es ist bekannt, wurde allerdings mit einigen innovativen Aspekten ausgestattet. Dazu gehört die Möglichkeit, säumige Vertragsstaaten auch ohne Vorliegen eines Staatenberichts zu überprüfen (Art. 36 Abs. 2) und die Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und andere zuständige Stellen in die Überprüfung der Berichte einzubeziehen (Art. 36 Abs. 5). Zudem wurde die Beziehung zwischen UN BRK-Fachausschuss und Sonderorganisationen bzw. anderen zuständigen Organen der Vereinten Nationen und insbesondere den anderen Vertragsausschüssen im Sinne einer kohärenten und nachhaltigen Zusammenarbeit formal rechtlich kodifiziert (Art. 38). Auch damit wurde zwar kein Neuland betreten, denn eine entsprechende Praxis hat sich in der letzten Dekade der Vertragsausschüsse im Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen entwickelt. Diese Reformbemühungen zur effizienteren Gestaltung des Monitoringverfahrens der Menschenrechtsübereinkommen, die schon lange zu großer Unzufriedenheit geführt haben, wurden aber nun in der UN BRK rechtlich normiert. Als weiteres Überwachungsinstrument steht dem UN BRK-Ausschuss die Individualbeschwerde nach Art. 1 des Fakultativprotokolls der BRK (UN BRK FP) zur Verfügung. Das Verfahren der Individualbeschwerde ähnelt dem anderer Übereinkommen. Neu ist die Möglichkeit, dass nicht nur Individuen und Gruppen in eigenem Namen aktivlegitimiert sind, eine Beschwerde zu erheben, sondern auch in fremdem Namen handeln können (Art. 1 UN BRK FP). Diese Möglichkeit ist in anderen Übereinkommen nicht vorgesehen, wird in der Praxis jedoch in Ausnahmefällen auch von anderen Vertragsausschüssen akzeptiert.47 Diese Neuerung im Individualbeschwerdeverfahren der BRK ist dem Umstand geschuldet, dass insbesondere behinderte Opfer von Menschenrechtsverletzungen keinen Zugang zur Justiz haben, weil sie isoliert werden oder die Verfahren nicht barrierefrei sind. Schließlich gibt es als innovatives Instrument zur Überwachung der UN BRK das aus der UN-Folterkonvention bekannte vertrauliche Untersuchungsverfahren gem. Art. 6 UN BRK FP. Dieses ermöglicht dem BRK-Ausschuss, bei Verdacht auf schwerwiegende oder systematische Verletzungen der BRK-Rechte selbst untersuchend tätig zu werden. Dieses in den Verhandlungen umstrittenste Instrument wurde allerdings mit einer fakultativen Rücktrittsklausel versehen (Art. 8 UN BRK FP). 46 Degener, 10 years of Convention on the Rights of Persons with Disabilities, Netherlands Quarterly of Human Rights 35 (2017), 152 ff. 47 So vom Menschenrechtsausschuss. Nachweise bei Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2010, 140 (Fn. 4 45); Ferrajolo, Optional Protocol to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities, in: Della Fina/Cera/Palmisano (eds.), The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. A Commentary, 2017, 703 ff. (712).
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Die UN BRK enthält im Unterschied zu anderen UN-Menschenrechtsverträgen nicht nur ein internationales Überwachungssystem, sondern installiert auch ein nationales Monitoringsystem. Dies ist ein aus dem Folterschutzübereinkommen bekanntes Instrument der nationalen Verfahrensverstärkung. Es wurde auf den Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen modifiziert übertragen. Art. 33 Abs. 1 UN BRK verpflichtet die Mitgliedsstaaten, einen oder mehrere „focal points“ für Angelegenheiten im Zusammenhang mit der BRK zu schaffen und die Schaffung eines staatlichen Koordinierungsmechanismus zu prüfen. Die Bundesregierung hat mit dieser Aufgabe das Bundesministerium für Arbeit und Soziales betraut und viele Bundesländer haben inzwischen die entsprechenden Landesministerien als „focal point“ benannt. Als Koordinierungsstelle wurde in Deutschland der Bundesbeauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung benannt, der seinerseits einen Inklusionsbeirat einrichtete, in den Vertreter *innen der Behindertenverbände und aller Sparten des Öffentlichen Lebens in Deutschland – wie etwa Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, Rundfunkund Fernsehanstalten und die Gaststättenverbände – eingeladen wurden.48 Darüber hinaus wird die Einrichtung eines unabhängigen nationalen Monitoringmechanismus vorgeschrieben, der – so Art. 33 Abs. 2 UN BRK – „die Grundsätze betreffend die Rechtsstellung und die Arbeitsweise der einzelstaatlichen Institutionen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte“ berücksichtigt. Damit sind die 1993 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Pariser Grundsätze zur Errichtung nationaler Menschenrechtsinstitutionen gemeint, die ihrerseits einheitliche Leitlinien zur effektiven Umsetzung der Behindertenrechtskonvention vorgeben.49 In Deutschland wurde deshalb das Deutsche Institut für Menschenrechte mit der Einrichtung einer Monitoringstelle zur UN BRK betraut. Es hat inzwischen mit zahlreichen Publikationen, Stellungnahmen im Rahmen von Gesetzgebungsund Gerichtsverfahren zum Mainstreaming der Behindertenfrage in die deutsche Menschenrechtspolitik beigetragen und die Umsetzung der UN BRK in Deutschland befördert.50
Gemäß Art. 33 Abs. 3 BRK ist die Zivilgesellschaft, insbesondere in Gestalt ihrer Behinder tenverbände „in vollem Umfang“ in den Überwachungsprozess einzubeziehen. Zur Koordinierungsstelle vgl. https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/Koordinierungsstelle/Koordinierungsstelle_ node.html;jsessionid=E57B9BF9760A8D825CAAFBD450D5970B.1_cid355, zuletzt abgerufen am 6.9.2018. 49 Vgl. http://www.nhri.net/pdf/ParisPrinciples.english.pdf, zuletzt abgerufen am 22. Februar 2010. 50 https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/, zuletzt abgerufen am 6.9.2018. 48
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7. Paradigmenwechsel: Vom medizinischen Modell zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung Mit der Verabschiedung der UN BRK wurde weltweit ein neues Verständnis von Behinderung geschaffen: Es stellt paternalistische Grundannahmen in Frage, die auf Prinzipien der Barmherzigkeit und Fürsorge fußen. Dieses neue Verständnis kam nicht aus dem Nichts. Es wurde jahrzehntelang durch die politische Interessenvertretung der Behindertenbewegung und auf nationaler und internationaler Ebene errungen. Behinderte Menschen forderten zunehmend die Auflösung von Sondereinrichtungen im Bildungswesen, in der Psychiatrie und im Pflegesektor. Auf internationaler Ebene begann der Wandel 1981 mit dem internationalen Jahr der Behinderten,51 das durch die Vereinten Nationen proklamiert wurde. Diesem folgte eine UN Dekade der behinderten Personen 1983 – 1992, das von einem Weltaktionsprogramm für behinderte Personen getragen wurde.52 Schon damals kündigte sich der Wandel vom medizinischen Modell zum sozialen Modell von Behinderung an, welcher auch rechtlichen Ausdruck gefunden hat. Die UN Sonderorganisation Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete im Jahr 1976 ein erstes neues Konzept von Behinderung,53 das bereits auf die Wechselwirkung zwischen Umweltbedingungen und individueller (gesundheitlicher) Beeinträchtigung hinweist. Etwas später entstanden in den USA und Großbritannien als theoretischer Arm der Behindertenbewegung die Disability Studies. Diese neue wissenschaftliche Denkrichtung setzte dem medizinischen Modell von Behinderung das soziale Modell von Behinderung entgegen.54 Das medizinische Modell von Behinderung reduziert behinderte Menschen auf ihre (gesundheitliche) Beeinträchtigung. Damit geht die Vorstellung einher, dass behinderte Menschen vor allem Rehabilitation und Therapie benötigen, dass sie sogenannte Schonräume in Form von Sonderschulen, Wohnheimen oder besondere Werkstätten brauchen und dass behinderte Menschen nicht zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Lage sind. Demgegenüber sieht das soziale Modell von Behinderung das Hauptproblem in gesellschaftlichen Barrieren und Diskriminierungen. Behinderung wird nicht in erster Linie als medizinisch ontologisch zu begreifendes Phänomen, sondern als soziales Konstrukt verstanden, das aus der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungshaltungen und individuellen leiblichen, intellektuellen und psychischen Bedingungen entsteht. Vertreter *innen des sozialen Modells von Behinderung setzen auf Antidiskriminierungspolitik, Barrierefreiheit, Selbstbestimmung und die Stärkung der Betroffenen selbst, auf „Empowerment“. Allerdings wurde in der UN BRK explizit keine Definition von Behinderung aufgenommen, um die während der Verhandlungen hart gerungen wurde. Deshalb International Year for Disabled Persons, December 16, 1976, UN Resolution A/RES/31/123. Implementation of the World Programme of Action Concerning Disabled Persons, December 3, 1982, UN Resolution A/RES/37/53, Ziff. 11. 53 World Health Organisation, International classification of impairments, disabilities, and handicaps, published in accordance with resolution WHA29. 35 of the Twenty-ninth World Health Assembly, May 1976, 1980. 54 Vgl. Oliver, The Politics of Disablement, 1990; S.a. Oliver/Barnes, The New Politics of Disablement, 2012. 51
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taucht der Begriff in dem Artikel, der sich mit Definitionen beschäftigt, nicht auf. Allerdings findet sich in Art. 1 eine Umschreibung der Gruppe: Zu „Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die lang fristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Damit sollte der rein medizinischen Definition von Behinderung eine Absage erteilt werden. Auch eine Definition von Behinderung – wie sie etwa in den International Classification of Functioning and Health55 der WHO enthalten ist – wollten die Verfasser *innen der UN BRK nicht aufnehmen, denn auch sie wird von der Behindertenbewegung als zu nah am medizinischen Modell kritisiert. Im Rahmen der Verhandlungen wurde auch genau das „Dilemma“ definiert, das die feministische Rechtswissenschaft ebenfalls beschäftigt.56 Hinsichtlich der UN BRK wandte sich eine starke Gruppe (unter anderem der EU) gegen jedwede Definition, auch weil jede Definition die Gefahr der Exklusion in sich birgt und Behinderung ein sehr heterogenes und kontingentes Phänomen ist. Andererseits gab es Stimmen (insbesondere aus den Ländern des Südens), die sich für eine internationale Definition aussprachen, um der Exklusion von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen entgegenzuwirken, die in einigen Ländern nicht zu der Gruppe behinderter Menschen gezählt werden. Der Kompromiss war die offene Beschreibung. Das soziale Modell von Behinderung wurde insofern aufgenommen, als die UN BRK Behinderung als Wechselverhältnis von gesundheitlicher Beeinträchtigung und sozialem Umfeld bzw. der Umwelt beschreibt. Dies ist zusammen mit der Präambel zu lesen, in der es in lit. e heißt, „dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“, und in lit. i wird nochmals auf die „Vielfalt der Menschen mit Behinderungen“ verwiesen. Noch bevor die Disability Studies in Deutschland Fuß fassten57 wurden einige Ziele, die mit dem sozialen Modell von Behinderung verfolgt werden, in das deutsche Recht aufgenommen. Das geschah z.B. 1994 in der Ausweitung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots in Artikel 3 GG. In Absatz 3 wurde der Satz angefügt „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Im Jahr 2001 wurden in § 1 des Sozialgesetzbuch IX als Ziele der Rehabilitation die Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe und Nichtdiskriminierung behinderter Menschen festgeschrieben. Das Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 markiert einen weiteren Meilenstein für den Einzug des sozialen Modells von Behinderung in das deutsche Behindertenrecht. Auch im europäischen Recht und mehr noch in der EU Politik spielte das soziale Modell von Behinderung bereits seit den 1990er Jahren eine Rolle. Mit Verabschiedung des Amsterdamer Vertrags 1997 wurden behinderte Menschen erstmals sicht http://www.who.int/classifications/icf/en/, zuletzt abgerufen am 6.9.2018. Minow, Making all the difference, 1991; Baer, Chancen und Grenzen positiver Maßnahmen nach § 5 AGG. Vortrag zum 6. Geburtstag der ADNB im TBB 2009, https://www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/ ls/bae/w/files/ls_aktuelles/09_adnb_baer.pdf/view, zuletzt abgerufen am 9.10.2018. 57 2002 wurde in Dortmund die „Arbeitsgemeinschafft Disability Studies in Deutschland – Wir forschen selbst“ gegründet, vgl. http://www.disabilitystudies.de/, zuletzt abgerufen am 11.2.2019. 55
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bare Bürger und Bürgerinnen der Europäischen Gemeinschaften. Er fügte Artikel 13 EGV (jetzt Art. 19 TFEU) in das europäische Primärrecht ein, mit dem dem Europäischen Rat die Kompetenz zur Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verliehen wurde. Abgesehen jedoch von einer sekundärrechtlichen Empfehlung zur Beschäftigung behinderter Menschen in der Gemeinschaft,58 deren Wirkungsweise als gering eingestuft wurde,59 kamen Behinderte im Recht der Europäischen Gemeinschaften vorher kaum vor. Der Aufnahme behinderter Menschen in die Antidiskriminierungsvorschrift des Amsterdamer Vertrags gingen zahlreiche Aktionen einer sich formierenden europäischen Behindertenbewegung voraus. Diese koinzidierten mit einer Wende in der europäischen Sozialpolitik, wie sie sich im Green Paper der Europäischen Kommission zur zukünftigen EU-Sozialpolitik 1993 ausdrückte. Erstmalig wurde dort festgestellt, dass sozialer Ausschluss, selbst wenn er durch Einkommens- und andere Sondermaßnahmen kompensiert wird, ein Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde darstellt und der gemeinschaftlichen Moral widerspricht.60 Drei Jahre später verabschiedete die Europäische Kommission mit der „Mitteilung zur Chancengleichheit für behinderte Menschen – eine neue Strategie der Europäischen Gemeinschaft in der Behindertenthematik“61 einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einer Gleichstellungspolitik für behinderte Menschen in der EU. Damit waren die Weichen für die Aufnahme behinderter Menschen in Europäisches Antidiskriminierungsrecht gestellt. Im Jahre 2000 wurden zwei neue Richtlinien verabschiedet, die RL 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft62 (Antirassismusrichtlinie) und die RL 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf63 (Beschäftigungsrichtlinie). Bei alledem war der Paradigmenwechsel vom medizinischen Modell zum sozialen Modell von Behinderung von tragender Bedeutung.64 Mit der Verabschiedung der UN BRK 2006 durch die Vereinten Nationen und ihrem Inkrafttreten in Deutschland hat sich das soziale Modell von Behinderung nun zu einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung weiter entwickelt.65 Es ist in den Menschenrechten ebenso verortet wie in den Disability Studies. Da Menschen58 Council Recommendation (86/379/EEC), of 24 July 1986, on the employment of disabled people in the community, OJ L 225/43. 59 Waddington, ‚Disabled People are invisible in the treaties‘ – Why the European Treaties should contain a non-discrimination provision, in: European Day of Disabled Persons 1995, Invisible Citizens, Report, Brussels 1995, D/1995/7560/2, 9 ff. (11); Daunt, Meeting Disability, A European Response, 1991, 23. 60 Green Paper: European Social Policy – Options for the Union, COM 993) 555, 48. 61 COM (98) 406, die vom Rat angenommen und befürwortet wurde Abl. EG Nr. C 12 vom 13.01.1997, 1. 62 ABl. 2000 L 180/22. 63 ABl. 2000 L 303/16. 64 Waddington, From Rome to Nice in a Wheelchair. The Development of a European Disability Policy, 2006. 65 Zum Unterschied zwischen sozialem Modell von Behinderung und menschenrechtlichem Modell von Behinderung vgl. Degener, Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behin-
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rechte den Status der Nichtbehinderung nicht voraussetzen, gilt jede behinderte Person als menschenrechtsfähig; das richtet sich deutlich, aber auch grundlegend dagegen, dass gerade Menschen mit kognitiven und psycho-sozialen Beeinträchtigungen im Recht und in der Praxis häufig Selbstbestimmung verweigert wird. Ein weiterer Wesensbestandteil des menschenrechtlichen Behindertenmodells ist die Anerkennung der Interrelation, Interdependenz und Unteilbarkeit aller Menschenrechte. Es kommt daher nicht nur darauf an, behinderten Menschen Gleichheits- und Freiheitsrechte auf dem gleichen Niveau wie nicht behinderten Menschen zu gewähren. Es geht auch um den gleichen Zugang zu und Schutz von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Das kann die persönliche Assistenz bei der Arbeit oder in der politischen Betätigung bedeuten, oder die Unterstützung zur Entscheidungsfindung im Bereich Wohnen oder bei der Wahl. Entscheidend für das menschenrechtliche Modell von Behinderung ist die Absage an jegliche Sonderwelten und an Zwang. Zwang steht wie auch jede Form der Segregation a priori unter dem Verdacht der Menschenrechtsverletzung. Zudem gilt Behinderung in der UN BRK ganz im Einklang mit den Disability Studies als Teil menschlicher Vielfalt und ist damit – nach Art. 3 lit. d – kein defizitärer Zustand mehr. Das bedeutet auch, die interne Intersektionalität von Menschen anzuerkennen, in der UN BRK insbesondere im Hinblick auf Geschlecht (Art. 6), Alter (Art. 7) und Armut (Art. 32). Im Gegensatz zur traditionellen Behindertenpolitik erfasst das Menschenrechtsmodell der UN BRK zudem keine herkömmliche Präventionspolitik. Prävention von Behinderung gehört nicht zum Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Die UN BRK kennt nur die sekundäre Prävention als Bestandteil des Rechts auf Gesundheit und auch diese nur, wenn sie frei von Stigmatisierung und menschenwürdig gestaltet ist (vgl. Art. 25).
8. Resümee und Ausblick Die UN BRK als erste Menschenrechtskonvention im neuen Jahrtausend kann sowohl aus völkerrechtlicher als auch aus behindertenrechtlicher Perspektive als innovatives Menschenrechtsinstrument bezeichnet werden, das an Denkmodelle der feministischen Rechtswissenschaft und der Disability Studies anknüpft. Es ist tatsächlich modern, was ansonsten zwar behauptet, aber mangels Anerkennung der Gleichheit nicht eingelöst wird. Die Zuschneidung des anerkannten Katalogs der Menschenrechte auf den Kontext von Behinderung kann als umfassende Antwort auf Menschenrechtsverletzungen an Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen angesehen werden. Sie liefert ein Wertegerüst, das basierend auf so zentralen Prinzipien wie Nichtdiskriminierung, Autonomie, Inklusion, Respekt vor der Vielfalt, Geschlechter- und Kindergerechtigkeit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. Die UN BRK wird zu Recht als „Empowerment-Konvention“ bezeichnet.66 Mit der BRK wurde der Paradigmenwechsel vom medizinischen zum derung. Konzepte für Behindertenrecht und -politik, in: Attia (Hrsg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, 2015, 155 ff. 66 Bielefeld, Zum Innovationspotenzial der Behindertenrechtskonvention. Deutsches Institut für Menschenrechte, 2006.
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menschenrechtlichen Modell von Behinderung auf internationaler staatlicher Ebene vollzogen. Völkerrechtlich ist insbesondere die Stärkung der nationalen Menschenrechtsinstitutionen und des nationalen Implementierungssystems interessant, zu dem zum ersten Mal dezidierte Anforderungen in einem Übereinkommen formuliert werden. Innovativ ist auch die herausragende Bedeutung, die der Entwicklungszusammenarbeit für die Menschenrechte behinderter Menschen mit Art. 32 BRK eingeräumt wird.67 Die UN BRK fügt sich in das bestehende Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen ein und fördert dessen Reform nicht nur durch Verbesserungen im Bereich des (nationalen) Monitoring. Wie schon aus der Geschichte der Frauenrechtskonvention CEDAW (1979) bekannt, führen neue Menschenrechtskonventionen und deren Fachausschüsse mitunter auch zu Spannungen mit bereits etablierten Menschenrechtsverträgen und deren Gremien. Die Rechtspraxis des UN BRK-Fachausschusses zum Wahlrecht aller behinderter Menschen, inklusive derer, die unter rechtlicher Betreuung stehen oder kognitiv beeinträchtigt sind,68 konfligiert zum Beispiel mit der Rechtspraxis des Menschenrechtsausschusses zum IPbpR. Dieser hatte 1996 in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 2469 erklärt, kognitive Beeinträchtigungen (mental incapacity) seien ein legitimer Grund, das Wahlrecht zu verweigern. Mittlerweile muss diese tradierte Rechtsmeinung international als überholt angesehen werden.70 Auch der EGMR sowie der Ministerausschuss des Europarates folgen dieser Ansicht nicht mehr, wie die Entscheidung Alajos Kiss v. Hungary aus dem Jahre 2010 und die Empfehlung Rec (2011)14 vom 16. November 2011 verdeutlichen.71 In Deutschland wurden entsprechende Gesetzesreformen bislang nur auf Länderebene beschlossen,72 eine Reformierung des Bundeswahlgesetzes steht noch aus.73 Ein anderes Thema, zu dem sich gegensätzliche Rechtsmeinungen im internationalen Menschenrechtsdiskurs entwickelten, ist das Thema Schwangerschaftsabbruch. Zur Bedeutung dieser Norm für die deutsche EZ vgl. Jahn/Degener, Umsetzung der VN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Eine Zusammenfassung der Studie. GTZ, Systeme der Sozialen Sicherheit, im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2008. 68 Ständige Rechtsprechung seit den ersten Allgemeinen Bemerkungen zu Tunesien im Jahr 2011 CRPD/C/TUN/CO/1, Abs. 35; vgl. auch den Fall Zsolt Bujdosó and five others v. Hungary CRPD/ C/10/D/4/2011 in denen behinderte Ungarn, die unter Vormundschaft standen, sich gegen den Verlust ihres Wahlrechts erfolgreich wehrten. 69 United Nations, Human Rights Committee: General Comment No 25, (1996) CCPR/C/21/ Rev.1/Add.7, Abs. 4. 70 United Nations, Conference of State Parties to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities 11th Session 12–14 June 2018, Political participation and equal recognition before the law, Note by the Secretary, CRPD/CSP/2018/4 Fußnote 3: „The Human Right’s Committee’s general comment No. 25 (1996) on participation in public affairs and the right to vote includes highly outdated standards (…)“. 71 Application No. 38832/06, Urteil vom 20. Mai 2010; Ministerausschuss des Europarates, Empfehlung CM/Rec(2011)14 vom 16. November 2011. 72 Insbesondere in Bremen, Hamburg und NRW, vgl. die Übersicht zum Wahlrechtsausschluss behinderter Menschen des Deutschen Instituts für Menschenrechte: https://www.institut-fuer-men schenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/monitoring/wahlrecht/, zuletzt abgerufen am 12.1.2019. 73 Umfassend dazu die Studie von Lang u.a., Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung. Forschungsbericht 470. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016; vgl. auch Aichele (Hrsg.), Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht: Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention, 2013. 67
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Während der UN BRK Fachausschuss sich zu der Reproduktionsautonomie aller Frauen bekennt,74 hat er im Hinblick auf Abtreibungsgesetze, die die Schwangerschaftsabbrüche aufgrund von fötalen Defekten (mit der Prognose der Geburt eines behinderten Kindes) legitimieren, Bedenken angemeldet. Hierin sieht er zwar keinen Verstoß gegen das Recht auf Leben (Art. 10 UN BRK), aber eine Verletzung von Normen, die behinderten Menschen Schutz gegen Stigmatisierung und Diskriminierung bieten (z.B. Art. 8 UN BRK (Bewusstseinsbildung), oder Art. 5 UN BRK (Gleichheit und Nichtdiskriminierung)).75 Hiermit setzt sich der UN BRK Fachausschuss in Widerspruch zu anderen Fachausschüssen, wie dem Menschenrechtsausschuss,76 dem Sozialpaktsausschuss,77 dem CEDAW Fachausschuss,78 dem Kinderrechtsausschuss79 und sogar dem Anti-Folterausschuss.80 Konsens besteht zwischen allen Fachausschüsse im Hinblick darauf, dass die Reproduktionsautonomie aller Frauen Bestandteil des Menschenrechts auf Gesundheit ist. Auch sind alle Fachausschüsse besorgt über die weltweit zunehmende Kriminalisierung von und Einschränkung des Zugangs zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen. Isoliert war der UN BRK Fachausschuss jedoch lange bezüglich seiner Auffassung, dass die Zurückdrängung dieser frauenfeindlichen Entwicklung nicht mit Maßnahmen erfolgen sollte, die behindertenfeindliche Einstellungen fördern können. Eine Auseinandersetzung zwischen den Fachausschüssen zum Thema findet aber statt. So hat der Menschenrechtsausschuss seine Allgemeine Bemerkung Nr. 36 zum Recht auf Leben81 aufgrund einer Intervention des UN BRK Fachausschusses82 letztendlich sensibler formuliert. Noch weiter näherten sich CEDAW Fachausschuss und UN BRK Ausschuss in einer im August 2018 verabschiedeten gemeinsamen Erklärung zum Reproduktionsrecht aller Frauen, inklusive behinderter Frauen an. Dort heißt es: 74 Vgl. General Comment No 3 (2016) Article 6: Women and girls with disabilities, CCPR/C/ GC/3 vom 25. November 2016, sowie die Abschließenden Bemerkungen zu CRPD/C/GBR/CO/1, (3. October 2017) Abs.12 and 13. 75 UN BRK Fachausschuss, Abschließenden Bemerkungen zu CRPD/C/GBR/CO/1, Abs. 12 und 13, 2017. 76 Z.B. Menschenrechtsausschuss, Abschließende Bemerkungen zum siebten periodischen Bericht von Poland CCPR/C/POL/CO/7, Abs. 24, 2017. 77 Allerdings in Bezug auf „fetal non-viability“, z.B. Sozialpakt Fachausschuss, Abschließende Bemerkungen zum vierten periodischen Bericht der Dominikanischen Republik, E./C.12/DOM/CO/4, Abs. 60 lit. a, 2016. 78 CEDAW Statement of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women on sexual and reproductive health and rights: Beyond 2014 ICPD review (57th session 10 – 28 February 2014), https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CEDAW/Statements/SRHR26Feb2014.pdf, zuletzt abgerufen am 12.1.2019. 79 Z.B. Kinderrechtsausschuss, Abschließende Bemerkungen zum kombinierten vierten und fünften periodischen Bericht von Peru, 2016, Abs. 56 lit. b. 80 Z.B. CAT Fachausschuss, Abschließende Bemerkungen zum dritten periodischen Bericht der Philippinen, Abs. 4 0 lit. b, 2016. 81 Human Rights Committee, General Comment No 36 (2018) on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, on the right to life, CCPR/C/GC/36 (Distr. Gen. 30. October 2018). 82 Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Comments on the draft General Comment No 36 of the Human Rights Committee on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, accessible through http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CCPR/Pages/GC36-Article6 Righttolife.aspx, zuletzt abgerufen am 12.1.2019.
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„The Committees recall that gender equality and disability rights are mutually reinforcing concepts and States parties should guarantee the human rights of all women, including women with disabilities. As such, States parties have an obligation to respect, protect and fulfill the rights of women, including women with disabilities, in relation to their sexual and reproductive health and rights. States must ensure the enjoyment of their sexual and reproductive health and rights without any form of discrimination. Access to safe and legal abortion, as well as related services and information are essential aspects of women’s reproductive health and a prerequisite for safeguarding their human rights to life, health, equality before the law and equal protection of the law, non-discrimination, information, privacy, bodily integrity and freedom from torture and ill treatment. (…) A human rights-based approach to sexual and reproductive health acknowledges that women’s decisions on their own bodies are personal and private, and places the autonomy of the woman at the center of policy and law-making related to sexual and reproductive health services, including abortion care. States should adopt effective measures to enable women, including women with disabilities, to make autonomous decisions about their sexual and reproductive health and should ensure that women have access to evidence-based and unbiased information in this regard. It is also critical that these decisions are made freely and that all women, including women with disabilities, are protected against forced abortion, contraception or sterilization against their will or without their informed consent. Women should neither be stigmatized for voluntarily undergoing abortion nor forced to undergo an abortion or sterilization against their will or without their informed consent. States parties should fulfill their obligations under articles 5 and 8 of CEDAW and CRPD Conventions respectively by addressing the root causes of discrimination against women and persons with disabilities. This includes challenging discriminatory attitudes and fostering respect for the rights and dignity of persons with disabilities, in particular women with disabilities, as well as providing support to parents of children with disabilities in this regard. Health policies and abortion laws that perpetuate deep-rooted stereotypes and stigma undermine women’s reproductive autonomy and choice, and they should be repealed because they are discriminatory. In order to respect gender equality and disability rights, in accordance with the CEDAW and CRPD Conventions, States parties should decriminalize abortion in all circumstances and legalize it in a manner that fully respects the autonomy of women, including women with disabilities. In all efforts to implement their obligations regarding sexual and reproductive health and rights, including access to safe and legal abortion, the Committees call upon States parties to take a human rights based approach that safeguards the reproductive choice and autonomy of all women, including women with disabilities.“83
Ob sich aus der unterschiedlichen Rechtspraxis der UN Fachausschüsse auch ein Widerspruch auf rechtstheoretischer Ebene – etwa zwischen feministischer Rechtswissenschaft und legal disability studies – ausmachen lässt, kann nicht ausgeschlossen, aber bezweifelt werden. Die gemeinsame Erklärung zur Reproduktionsautonomie ist m.E. eher ein Beispiel für die Entwicklung einer intersektional angelegten feministischen Rechtstheorie, die erst im deliberativen demokratischen Diskurs entwickelt werden kann. Die UN BRK bietet jedenfalls nicht nur Potenzial für umfassende Reformen in der Behinderten- und Menschenrechtspolitik, sie bietet auch die Grundlage für eine 83 Guaranteeing sexual and reproductive health and rights for all women, in particular women with disabilities. Joint statement by the Committee on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) and the Committee on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW), Wednesday, 29 August 2018, https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.aspx? symbolno=INT/CEDAW/STA/8744&Lang=en, zuletzt abgerufen am 12.1.2019.
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neue inklusive Menschenrechtstheorie. Das gilt insbesondere für das Rechtskonzept der Autonomie84 und für das Gleichheitsmodell. Ausführlich werden diese neuen Konzepte in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 zu Art. 12 zum Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht und in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 zu Art. 5 (Gleichheit und Nichtdiskriminierung) normativ analysiert. Sie können weit über die BRK hinaus Impulse liefern.
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Ausführlich Degener, Unterstützte gleiche Freiheit (Fn. 29).
Porträts und Erinnerungen
Hugo am Zehnhoff – Preußischer Justizminister in der Weimarer Republik Ein Beitrag zu seinem Bild von
Ministerialrat a.D. Dr. Bernhard Müllenbach (Bonn) Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 II. Beruflicher Werdegang am Zehnhoffs im Umfeld seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 III. Publizistische und parlamentarische Tätigkeit bis zur Berufung zum Justizminister . . . . . . . . . . . . 516 1. Stellungnahmen zur Verkehrspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 2. Die sogenannte Kanalvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 3. Das Erbschaftssteuergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 IV. Hugo am Zehnhoff als preußischer Justizminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 1. Anwaltschaft und Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 2. Erste gesetzgeberische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 3. Die Juristenausbildung und ihre Umgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 4. Justizreform und Justizverwaltungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 5. Justizkritik und das Reformwerk am Zehnhoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 6. Kriegsfolgen und weitere Reformschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 7. Die Regelungen zur Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 V. Ausklang. Ende der Ministerzeit und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
I. Einleitung Es scheint ein auffallendes Merkmal der Rechtswissenschaft zu sein, bedeutenden Juristen nicht jenes Maß an Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, das andere Disziplinen, vor allem die Naturwissenschaften, ihren herausgehobenen Vertretern auch dann zuwenden, wenn diese nicht in der ersten Reihe stehen. Dies geschieht, obwohl auch sie mit nachhaltigen Erfolgen, nicht aber mit spektakulären Leistungen, die vor aller Augen liegen, aufwarten können.
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Der aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stammende und sehr verdienstvolle Ansatz des vom Rechtshistoriker Hans Planitz (1882–1954) herausgegebenen Sammelwerks „Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen“ enthält, wie schon der Titel ausweist, Autobiographien und ist nicht weiter fortgeführt worden.1 Der monumentale Band von über 800 Seiten von Erik Wolf (1902–1977) „Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte“2 reicht als kaum auszuschöpfendes Werk unter anderem mit den brillanten Würdigungen von Otto von Gierke (1841– 1921) und Gustav Radbruch (1878–1949) noch ins 20. Jahrhundert hinein und ist in jeder Hinsicht ein Solitär geblieben, das für Rechtsunterricht und Prüfungsordnungen beinahe extra muros blieb. Die Deutung des Lebenswerks der dargestellten Juristen geht weit über die Darstellung der literarischen Leistungen der behandelten Personen hinaus und bezieht die geisteswissenschaftlichen Bezüge der betreffenden Epochen umfänglich und mit noch heute bewundernswerter Tiefe mit ein und lässt so ein Bild von Persönlichkeiten entstehen, das aus dem Kontext ihrer Zeit gezeichnet ist und weitgehend davon absieht, mit heutigen Erkenntnissen und Maßstäben, die den Porträtierten unbekannt sein mussten, an ihr Werk und ihre Person heranzutreten. Das verdienstvolle, von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder herausgegebene Gemeinschaftswerk „Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten“, soeben in 6. Auflage (2017) erschienen, hat einen anderen Ansatz, nimmt außer den schon kanonisiert zu nennenden Granden der Wissenschaft auch Praktiker und Meister aus der zweiten Reihe in den Blick und gibt zudem einen vorzüglichen Überblick über neuere rechtsbiographische Untersuchungen. Speziell für das 19. Jahrhundert ist die große bibliographische Arbeit von Ernst Holthöfer – auch außerhalb des biographischen Ansatzes – unverzichtbar,3 auch ist hier die Studie von Friedrich Karl Kübler „Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz. Versuch einer Deutung aus richterlichen Selbstzeugnissen“4 zu nennen. Das Jahrbuch des öffentlichen Rechts hat die Thematik nie aus den Augen verloren. Dass unter „der prägenden Herausgeberschaft von Peter Häberle (…) seit 1983 neue und innovative Rubriken“5 aufgenommen wurden („Die Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen“), erinnert an Planitz’ Unternehmen; die Reihe der „Richterbilder“ ruft in Erinnerung, dass prägende Erfahrungen aus dem Bereich der Justiz und der Rechtsprechung keinesfalls auf die gezeichneten Viten beschränkt sind, sondern oft weit über die gegebenen Lebensbeschreibungen hinaus auch Einblicke in die die 1 Drei Bände, Bd. 1 (1924), Bd. 2 (1925), Bd. 3 (1929). Wie lebhaft das Unternehmen von der Wissenschaft begrüßt wurde, lässt die Besprechung der beiden ersten Bände durch Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963) erkennen, in AcP 125 (1926), 219 ff. „Was wir aus hundert Büchern als bloßen Stoff kennen gelernt haben, hier ist es Erlebnis, Bekenntnis“ (220). 2 1. Aufl. 1939, 2. Aufl. 1943, 3. Aufl. 1951, 4. Aufl. 1963. 3 Holthöfer, Deutsche Justizgeschichte des 19. Jahrhunderts im Spiegel der neueren Forschung, Ius Commune XVII (1990), 223 ff. 4 AcP 162 (1963), 104 ff. – Reichhaltige Literaturausgaben enthält auch die große Studie von Rainer Schröder, Die Richterschaft am Ende des Zweiten Kaiserreiches unter dem Druck polarer sozialer und politischer Anforderungen, in: FS für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag, 1983, 201 ff. 5 So mit Recht Waldhoff, Das Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1907 bis 2014 – unter besonderer Berücksichtigung seiner Entstehung, JöR N.F. 63 (2015), 1 ff. (39).
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Zeit bewegenden rechtspolitischen Themen gestatten, die sonst nur noch am Rande wahrgenommen werden; hierauf beruht ihr eigener Wert. Dass dieses Jahrbuch nunmehr mit seiner Rubrik „Porträts und Erinnerungen“ wiederum biographischen Erörterungen einen eigenen Stellenwert einräumt, ist umso stärker zu begrüßen, als Lebenslauf und -werk bedeutender Juristen sonst vielfach nur in Nachrufen zur Kenntnis genommen werden;6 trotz leichter Besserung ist aber die „Zahl der entsprechenden Aufsätze und (durchweg schmalen) Monographien (…) immer noch gering“.7 Eigens hervorgehoben zu werden verdienen jedoch drei Werke, die trotz ihres durchweg hohen Niveaus nach meiner Kenntnis nur gelegentlich herangezogen werden: das ältere von Hugo Sinzheimer (1875–1945),8 „Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft“9 und der große Sammelband fast enzyklopädischen Charakters: „Deutsche Juristen jüdischer Herkunft“,10 der den einzigartigen Beitrag jüdischer Gelehrter und Praktiker zur deutschen Rechtskultur beeindruckend vor Augen führt. Schließlich ist zu erwähnen der umfangreiche Sammelband „Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts“, den Peter Häberle, Michael Kilian und Heinrich Wolff im Jahre 2015 herausgegeben haben. Er berücksichtigt auch Gelehrte aus dem deutschsprachigen Ausland und ist für die neuere Forschung unverzichtbar. Leider fehlt ein Namensverzeichnis, das ein Auffinden der im Text nicht durch einen eigenen Beitrag gewürdigten Persönlichkeiten ermöglichte – es würde den Wert dieses Standardwerkes noch erheblich erhöhen. „Den Juristen flicht die Nachwelt nur selten Kränze“, heißt es bei Thomas Vormbaum,11 doch geht es im Folgenden nicht darum, einem bedeutenden und sehr einflussreichen preußischen Justizminister einen Kranz zu flechten, wohl aber um den Versuch, einige Striche einer verblassenden Zeichnung sowohl nachzuziehen als auch beizufügen, um das Andenken an einen bedeutenden Rechtspolitiker und Juristen im parlamentarischen Preußen – in gärender Zeit – zu erneuern. Der Autor ist sich des Fragmentarischen voll bewusst, da im Falle Zehnhoffs die Quellen besonders spärlich fließen. „Aufzeichnungen über sein Leben hat er nicht gemacht, auch nur 6 Die herausragende Sammlung ist hier immer noch die sich auf Rechtshistoriker konzentrierende Arbeit von Ulrich Stutz (1868–1938), Nachrufe. 11 Würdigungen deutscher Rechtshistoriker aus der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 1966 (nachträglich zusammengestellt), die für ihre Gattung maßstabgebend geblieben ist (389 Seiten). 7 So mit Recht Ormond, Richterwürde und Regierungstreue. Dienstrecht, politische Betätigung und Disziplinierung der Richter in Preußen, Baden und Hessen 1866–1918, in: Ius Commune (Sonderheft 65), 1994, 8. – Bemerkenswert noch die sich auf das Strafrecht beziehende Sammlung des von Wilfried Küper herausgegebenen Bandes: Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986. 8 Zu Sinzheimer jetzt gut Blanke, Soziales Recht oder kollektive Privatautonomie. Hugo Sinzheimer im Kontext nach 1900, 2005, zuvor schon Knorre, Soziale Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung: Hugo Sinzheimer, eine politische Biographie, 1991. 9 1938, in 2. Aufl. erschienen 1953. Von besonderem Wert, nicht zuletzt, weil Sinzheimer noch Mitglied der Weimarer Nationalversammlung war. 10 Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), 1993, 866 Seiten. Zu Sinzheimer dort S. 615–630, mit guten Literaturangaben (Benöhr). 11 Vormbaum, Juristen-Leben, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft, FS für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag, 1993, 1247 ff. (1249).
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selten und immer nur kurze Briefe geschrieben, und alles, was ihm an Briefen und Schriftstücken zuging, hat er von Zeit zu Zeit vernichtet.“12
II. Beruflicher Werdegang am Zehnhoffs im Umfeld seiner Zeit Als Hugo am Zehnhoff am 11. Februar 1855 in dem damals kleinen Dorfe Bornheim bei Bonn geboren wurde, war Preußen noch weitgehend von agrarischen Strukturen geprägt. Das Beamtentum war mit der Obrigkeit gleichzusetzen, zuletzt vom fernen Berlin mit straffer Hand gelenkt, und dennoch gingen, zumal in fernen Provinzen, Gründlichkeit und Behäbigkeit in Justiz und Verwaltung – in gefälliger Umschreibung für Schwerfälligkeit und Langsamkeit – noch vielfach Hand in Hand, was den allgemeinen Nimbus des auf Recht und Gerechtigkeit beruhenden preußischen Staates aber nicht trüben konnte. Vorstellungen aus der Blütezeit des preußischen Absolutismus warfen noch immer ihre Schatten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und beherrschten noch vielfach die Zeit, in der am Zehnhoff aufwuchs. Kindheit und Jugend verlebte er im nahen Köln, das er als seine Heimatstadt betrachtete. Grundschule und Gymnasium absolvierte er hier, bestand im Jahr 1873 die Reifeprüfung und begann – anfangs noch zögernd, ob er nicht Theologie studieren solle13 – das rechtswissenschaftliche Studium in Bonn. Er setzte es 1874 in Leipzig fort, wechselte später nach Göttingen, bestand dort im Jahre 1876 das erste Examen und wurde in Göttingen am 5. Dezember 1876 zum Dr. iur. promoviert. Schon früh zogen ihn politische Fragestellungen an – nicht nur hierin dem großen Rudolf von Gneist (1816–1895) verwandt, der Wissenschaft und Politik, Recht und dessen praktische Gestaltung eng miteinander zu verbinden wusste.14 Bei Eugen Schiffer (1860–1954), dem späteren zweimaligen Reichsminister der Justiz, heißt es zu Gneist – und diese Worte treffen ebenso auf am Zehnhoff zu –, dass seine Natur zum Leben, zum Realen und Konkreten drängte; „und auch das Recht war ihm in der Hauptsache lebende Kraft, Lebensäußerung, Lebensgestaltung. In der Verbindung von Recht und Leben bestand der tiefste Inhalt seiner Arbeit, seines 12 Kisky, Justizminister Dr. am Zehnhoff, 1930, 1. (Es handelt sich hier um eine kurze Skizze von acht Seiten, der die folgenden Lebensdaten entnommen sind). Sehr knappe Angaben bei Mann, Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918, 1988, 429 f.; Haunfelder, Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871–1933, 1999, 120. 13 Wohl unter dem Einfluss seines engen Bonner Freundes Heinrich Pesch (1854–1926), des späteren bedeutenden Theologen und Sozialphilosophen, der seinerzeit von der Jurisprudenz zur Theologie wechselte. In seiner Autobiographie gedenkt Pesch seines Freundes am Zehnhoff, den er in der Studentenverbindung Unitas-Salia kennengelernt hatte. Pesch in: Meiner (Hrsg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1924, 191 ff. – Mueller, Heinrich Pesch, Sein Leben und seine Lehre, 1980, 17, berichtet die köstliche Anekdote, dass Pesch „als stud. jur. in Bonn mit seinem Vereinsbruder und Freund Hugo am Zehnhoff (1855–1930), dem künftigen preußischen Justizminister, in einigen Straßen der Bonner Innenstadt die Laternenpfähle hinaufgeklettert sei, um die Gaslichter auszudrehen. Allerdings seien sie dann dieselbe Strecke zurückgegangen, um wenigstens einige Lampen wieder anzuzünden. Es geschah dies, so behauptete Pesch, im Dienst der ausgleichenden Gerechtigkeit, aber in Wirklichkeit doch wohl zur Beschwichtigung des schlechten Gewissens.“ 14 Vgl. nur Angermann, in: Graf zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.), NDB 6, 1964, 487 ff. (488), und Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 2017, 163 ff. Dieses Werk darf als Vademekum für jeden biographisch interessierten Juristen gelten.
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Wirkens Kern und seines Wollens Ziel. Ihr ordnete sich alles andere unter.“15 Die seinerzeit sonst noch oft fehlende „Grundlage für die Verbindung der Juristen mit dem zuerst ständischen, dann modernen Parlamentarismus“16 war bei Gneist schon voll entwickelt – ununterscheidbar bis heute, ob sein Wirken als Rechtslehrer und Jurist oder als Parlamentarier den stärkeren Akzent empfing – und konnte dem jungen am Zehnhoff nur ein Vorbild sein, dem er nachstrebte. Doch zunächst galt es, die damals noch lange und Eigeninitiative fast lähmende Referendarzeit abzuleisten; es gelang ihm schließlich, was keine Selbstverständlichkeit in der zur Beharrung neigenden Juristenausbildung war, die zweite Hälfte seiner Zeit als Referendar nicht weiter in Göttingen, sondern im Bezirk des heimatlichen Oberlandesgerichts Köln zu absolvieren. Die von Leerlauf und Eintönigkeit nicht freien Zeiten weckten bereits hier seine zum Praktischen hin drängenden Interessen, und das hieß bei ihm – ähnlich, wie es schon bei Gneist der Fall gewesen war –, sein Interesse an aktiver Rechtsberatung, die vielfach Bezüge zur Politik aufwies und ihn später allgemein zur Politik drängte. Nach bestandenem Assessorexamen im Juni 1882 kam eine der Theorie zugewandte Tätigkeit nicht in Frage, und der Weg in den Anwaltsstand, der die Vielgestaltigkeit juristischer Fragestellungen ungefiltert an ihn herantreten ließ, überwog die Neigung zu einem anderen juristischen Beruf. Die „Advocatur ist einer der Berufe, die mit Neigung und Jugendkraft begonnen werden müssen“, heißt es schon bei Rudolf Gneist.17 Bereits im Oktober 1882 wurde am Zehnhoff als Rechtsanwalt beim Kölner Oberlandesgericht zugelassen.18 Seine Neigung zu politischer Tätigkeit ging damit Hand in Hand, als Zentrumspolitiker war er von 1898 bis 1908 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und, teilweise sich damit überschneidend, von 1899 bis 1918 Mitglied des Reichstags. Schon als Kölner Anwalt entfaltete er eine rege Tätigkeit, auch in Standesfragen, ohne dass sein politisches Interesse nachließ. Die Schriften Gneists, die sich immer wieder auch zu anwaltlichen Standesfragen19 und zur Rechtspolitik äußern und von ganz erheblichem Einfluss waren,20 übten
Schiffer, Rudolf von Gneist, 1929, 65. Dilcher, Die preußischen Juristen und die Staatsprüfungen, in: Kroeschell (Hrsg.), FS für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, 1986, 295 ff. (305). 17 Gneist, Freie Advocatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen, 1867, 81. Die Schrift leistete Bedeutendes für die Anerkennung der Anwaltschaft als tragende Säule des Rechtsstaats, Ernst Landsberg (1860–1927) spricht von „der berühmten Abhandlung von 1867“. Stintzing/Landsberg, Geschichte der Dt. Rechtswissenschaft III, 2, 1919, 971. 18 Kisky (Fn. 12), 2. 19 Pionierarbeit leistet hier sein Werk über die freie Adokatur (Fn. 17), das auch in der Richterschaft starke Beachtung fand. Noch über 60 Jahre später sprach Louis Levin (1865–1939), einst Oberlandesgerichtspräsident in Braunschweig, von dem „bahnbrechenden und für die Reichsjustizgesetzgebung richtunggebenden Buche“ Gneists. Levin, Probleme der Gerichtsverfassung, DJZ 36 (1931), 36 ff. (41). Vorzüglich zum Wirken von Levin s. Wassermann, Zur Geschichte des Oberlandesgerichts Braunschweig, in: Justiz im Wandel der Zeit, FS des Oberlandesgerichts Braunschweig, 1989, 11 ff. (31 ff.). 20 Bei Gierke, Rudolf von Gneist. Gedächtnißrede gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 19. October 1895, 1896, heißt es 25 f.: „Der Erfolg der rechtspolitischen Arbeit Gneists war unermeßlich. Vielleicht hat niemals zuvor ein Gelehrter, ohne selbst in leitender Stellung das Staatsleben zu beherrschen, in gleichem Maße der Gesetzgebung seines Landes den Stempel seines Geistes aufgedrückt.“ 15 16
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allgemein starke Anziehungskraft aus. Es entsprach weithin geteilter Auffassung, nicht nur in der Anwaltschaft, wie Gneist schon in einer frühen Schrift ausführte: „Preußen sei ein Muster in allen seinen Institutionen: – so hieß es in der amtlichen Sprache, so hieß es im Ausland. Aber uns, für welche diese Institutionen da waren, war es nicht vergönnt, daran mitzuarbeiten, uns selbstthätig daran zu bilden und zu erwärmen. Der Staat schien nicht um des Volkes, sondern um des Beamtenthums willen da zu sein.“21
So bildete sich allmählich, aber unauf haltsam, ein starker Reformstau – auch in der preußischen Justizverwaltung. Diese tat sich schwer damit, der auf kommenden und Tempo aufnehmenden Industrialisierung entsprechend die Justiz anzupassen, neu zugeschnittene Gerichtsbezirke zuzulassen und wegen des gesteigerten Auf kommens von Rechtsstreitigkeiten neue Gerichte einzurichten. Als nach langem und zähem Ringen mit der preußischen Regierung schließlich der preußische Justizminister Max von Beseler 22 in Übereinstimmung mit lange erwogenen, modifizierten, verworfenen und wieder bekräftigten Plänen seines Vorgängers Karl Heinrich von Schönstedt23 der Errichtung eines eigenen Oberlandesgerichts in Düsseldorf zugestimmt hatte – das entsprechende Gesetz betreffend die Errichtung des Oberlandesgerichts Düsseldorf datiert zwar schon vom 2. Januar 1905, sah als frühesten Termin seiner Konstituierung aber den 16. September 1906 (Ende der Gerichtsferien) vor24 –, orientierte sich am Zehnhoff sofort nach diesem Standort, der insbesondere Mandate aus dem aufstrebenden rheinisch-westfälischen Industriegebiet verhieß, und wurde noch im Jahre 1906 als Rechtsanwalt bei dem neuen Oberlandesgericht zugelassen. Seiner erwähnten parlamentarischen Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus und entsprechendem Drängen ist es zuzuschreiben, dass sich die preußische Regierung von der Notwendigkeit der Errichtung des neuen Oberlandesgerichts, der Bedeutung des Standorts angemessen, hatte überzeugen lassen. Auf dem langen, dahin führenden Weg bedurfte es zahlreicher Zwischenschritte: Die Grenzen zu den nachbarlichen Oberlandesgerichtsbezirken mussten neu geschnitten werden, neues Richterpersonal sowie nichtrichterliche Justizbedienstete waren zu finden und zu bestellen, Grundstücksfragen waren zu erfolgreichem Abschluss zu bringen. Da hier am Zehnhoff vielfach helfend eingreifen konnte und dies der preußischen Regierung nicht entging, wurde ihm am 28. August 1906 „der Titel Geheimer Justizrat und damit eine Auszeichnung verliehen, die nur selten vergeben wurde und eine ganz besondere Anerkennung und Ehrung darstellte.“25 Der preußische Justizminister von Beseler 26 ließ es sich nicht nehmen, selbst zur Einweihung des neuen Gerichts zu kommen. Fischer berichtet: 21 Gneist, Berliner Zustände. Politische Skizzen aus der Zeit vom 18. März 1848 bis 18. März 1849, 1849, 85. 22 Max von Beseler, geb. 1841, gest. 1921, er amtierte als Justizminister vom 21. November 1905 bis zum 5. August 1917. 23 Karl H. v. Schönstedt, geb. 1833, gest. 1924, er amtierte als Justizminister vom 14. November 1894 bis zum 21. November 1905. 24 So zutreffend Fischer, Die Entwicklung der Düsseldorfer Obergerichte bis zur Gründung des Oberlandesgerichts Düsseldorf 1906, in: 75 Jahre Oberlandesgericht Düsseldorf, 1981, 3 ff. (25). 25 Kisky (Fn. 12), 2. 26 Und nicht etwa Karl v. Schönstedt, wie es bei Schollen heißt: Schollen, Blätter zur Erinnerung an das 25jährige Bestehen des Oberlandesgerichts Düsseldorf, 1931, 126 ff. (126).
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„Eröffnet wurde das OLG am 16. September 1906 um 12 Uhr im blumengeschmückten Sitzungssaal 1 im Gebäude der früheren Bergisch/Märkischen Bank am Königsplatz 15/16 (hinter der Kreuzkirche). Justizminister v. Beseler gab in einer kurzen Ansprache der Hoffnung Ausdruck, daß das Oberlandesgericht Düsseldorf sich würdig in die Reihe der anderen Oberlandesgerichte eingliedern werde. Danach führte er den früheren Präsidenten des Landgerichtes Berlin I, den Geheimen Oberjustizrat Hartmann, als Oberlandesgerichtspräsidenten, den bisherigen Landgerichtspräsidenten Wilhelm vom Landgericht Neuwied als Oberstaatsanwalt und die übrigen Richter und Staatsanwälte in ihre Ämter ein. Nach Worten des Dankes durch die neuen Behördenleiter und den Rechtsanwalt am Zehnhoff schloß sich eine Ordensverleihung an.27“
Die neu konstituierte Rechtsanwaltskammer für den Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf wählte den weithin bekannten Justizrat Dr. Robert Becker zu ihrem Vorsitzenden, und die Anwaltschaft erkannte die Verdienste am Zehnhoffs dadurch an, dass sie ihn zum 2. Vorsitzenden und nach dem Tode Beckers zu dessen Nachfolger wählte;28 von 1913 bis 1919 – also auch während der Dauer des I. Weltkriegs – stand er als Vorsitzender des Vorstands der dortigen Anwaltskammer vor.29 Ihr musste es willkommen sein, nach Zehnhoffs Ausscheiden aus dem Preußischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1908 in ihrem Vorsitzenden nun ein Mitglied des Reichstags in ihren Reihen zu haben. Die vielfältigsten Probleme der Anwaltschaft, gerade auch hervorgerufen durch die vom Kriege ausgelösten und protokollierten Notlagen, traten an Zehnhoff heran und galt es zu lösen.30 Seine rege Tätigkeit, begünstigt durch seine engen Kontakte zur Justizverwaltung, veranlassten zahlreiche Gutachten und Stellungnahmen. „Hierbei sind nicht nur solche Fragen erörtert worden, welche die wirtschaftliche Seite des Anwaltsberufes oder standespolitischen Fragen betrafen, sondern es sind auch solche Fragen behandelt worden, welche die allgemeinen Staatsaufgaben auf dem Gebiete der Rechtspflege betrafen. Beispielsweise sei erwähnt: Die Besprechung im Justizministerium betreffend Änderung des GVG und der ZPO (1907); die Stellungnahme zu Vorschlägen betreffend Vereinfachung der Rechtspflege (1917) und zu der Frage der Mitwirkung von Frauen bei der Rechtspflege (1919); Äußerung über die Bearbeitung von Gnadensachen (1919)“31 – alles Themenbereiche, denen auch Zehnhoffs Interesse noch in seiner Ministerzeit galt, mit denen er also schon seit seiner Anwaltszeit in enge Berührung gekommen war.
Fischer (Fn. 24), 25. Ungenau Kisky (Fn. 12), 2. 29 Zutreffend Lehne, 75 Jahre anwaltliche Selbstvertretung. Die Rechtsanwaltskammer Düsseldorf, in: 75 Jahre Oberlandesgericht Düsseldorf, 1981, 253 ff. (254 f.). 30 Lehne (Fn. 29), 254: „In den Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges tritt der Vorstand unter dem Vorsitz von Justizrat Dr. Robert Becker und – nach dessen Tode im Jahre 1913 – des Geheimen Justizrats Dr. Hugo am Zehnhoff zu einhundertdreißig Sitzungen zusammen, über deren Verlauf und Ergebnis sorgfältig geführte handgeschriebene Protokollbücher berichten.“ 31 Schollen (Fn. 26), 25 Jahre Vorstand der Anwaltskammer, 131 ff. (132). 27
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III. Publizistische und parlamentarische Tätigkeit bis zur Berufung zum Justizminister 1. Stellungnahmen zur Verkehrspolitik Die starke, zum teil stürmisch verlaufende Industrialisierung und Technisierung, für Preußen mit besonderem Akzent die Entwicklung der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, warfen – damit einhergehend – am Ende des 19. und verstärkt zu Beginn des neuen Jahrhunderts drängende Infrastrukturprobleme auf, schwierige Probleme des Schienenverkehrs und der Wasserstraßen, denen nur wenig später komplizierte Aufgaben auf dem Gebiet des Luftverkehrs folgten.32 Daher waren – für die Politik bedeutsam und mit Aufmerksamkeit von der königlich-preußischen Regierung verfolgt – in diesen Bereichen eingehende Kenntnisse, die hohen technischen Sachverstand in sich schlossen, sehr erwünscht, besonders wenn sie von Mitgliedern des Preußischen Abgeordnetenhauses stammten. Solche Kenntnisse waren für die Politik nicht nur zweckdienlich, sondern dann von hohem Wert, wenn sie für anstehende gesetzgeberische Vorhaben verwertet werden konnten, um sich damit auch legislativ auf der Höhe der Entwicklung zu halten. Am Zehnhoff, seit 1898 für ein Jahrzehnt dem Preußischen Abgeordnetenhaus angehörend, hatte sich schon früh Spezialkenntnisse auf einem Gebiet erworben, das heute mit dem Schlagwort „Verkehrspolitik“ umschrieben werden kann. Er hatte bereits in der 2. Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft 33 das Stichwort „Eisenbahnen“ eingehend, technische Fragen nicht aussparend, über 34 Spalten lang dargestellt 34 und sich schon seinerzeit als Experte dieses für Infrastrukturmaßnahmen so außerordentlich bedeutsamen Bereichs bekannt gemacht und dem Vorstand seiner Zentrumspartei empfohlen. Seine Bearbeitung dieses Stichworts in der 4. Auflage des Staatslexikons35 war auf 54 eng geschriebene Spalten derart angewachsen und detailliert 36 – neben rechtlichen und technischen Problemen und deren finanziellen Auswirkungen auch Fragen des Tarifwesens sowie Fragen der Finanzverwaltung der Staatseisenbahnen besonders berücksichtigend –, sodass von einer weiterführenden, umfassenden Kommentierung37 dieses gerade auch für die damalige Politik überragend bedeutsamen Themenfeldes gesprochen werden kann.
Schellhas, Die Rechtsentwicklung im Jahre 1908, DJZ 14 (1909), 803 ff. (807): „Die Erfolge des Grafen Zeppelin und anderer legen in der Tat den Gedanken nahe, daß die durch die Eroberung der Luft im Wege der Luftschiffahrt entstehenden Rechtsfragen in näherer oder fernerer Zeit gesetzlicher Regelung bedürfen werden.“ 33 Bachem (Hrsg.), Bd. 2 , 1901. 34 Ebd., 223 ff. 35 Bachem (Hrsg.), Bd. 1, 1911. 36 Ebd., 1517 ff. 37 S. auch die eingehenden Literaturangaben ebd. 1569 ff. 32
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2. Die sogenannte Kanalvorlage Zu starken, zum Teil heftigen und über Jahre sich hinziehenden parlamentarischen Kontroversen, die sogar zu Konflikten mit dem Königshause führten, ist es in Preußen über Fragen des Ausbaus zahlreicher Binnenschifffahrtskanäle gekommen,38 wobei der Kampf um den Bau des sogenannten Mittellandkanals, der den Rhein und das Ruhrgebiet mit Weser, Elbe und dem Osten verbinden sollte, einen eigenen Streitpunkt darstellte.39 Nach eingehenden Vorarbeiten, wobei auch auf ältere ingenieurtechnische Stellungnahmen zurückzugreifen war, wurden verschiedene Gesetzentwürfe, an denen der Regierung besonders gelegen war, in der sogenannten preußischen Kanalvorlage des Jahres 1899 zusammengefasst und eingehend beraten, vom preußischen Abgeordnetenhaus nach stürmischen Auseinandersetzungen40 aber abgelehnt. In die komplizierte geschichtliche und technische Entwicklung sowie die gesetzgeberische Behandlung der diversen Kanalbauprojekte hatte sich am Zehnhoff gründlich eingearbeitet und den Verlauf bis zum Jahre 1902 im „Staatslexikon“ in eingehender Kommentierung unter dem Stichwort „Kanäle“ dargestellt.41 Waren grundsätzliche Bedenken gegen den Ausbau von Wasserstraßen allmählich überwunden, weil sich die preußische Regierung schließlich – auch durch am Zehnhoffs Stellungnahmen – davon überzeugen ließ, dass ein solcher Ausbau die Wirtschaftlichkeit der Eisenbahnen nicht beeinträchtigen werde,42 so steckte der Teufel im Detail: Vor allem wurden vonseiten der Konservativen technische Bedenken43 hervorgehoben, die zu finanziell unabsehbaren Weiterungen führen würden. Da am Zehnhoff selbst ein entschiedener Befürworter des Ausbaus von Wasserstraßen war,44 konnte er die Bedenken der Konservativen nicht teilen, wonach die Kanalvorlage „auf das schwerste“ die Finanzen gefährde und zwinge, „eine sehr 38 Sehr informative zeitgenössische Zusammenstellung bei Eynern, Zwanzig Jahre Kanalkämpfe, 1901. – v. Eynern (1838–1906) war als Mitglied der Nationalliberalen Partei „Vorsitzender der Kanalkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses in den Jahren 1899 und 1901.“ 39 Umfassend Horn, Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals, 1964. 40 Karl Bachem (1858–1945), als Rechtsanwalt Kollege von am Zehnhoff und einflussreicher Politiker der Zentrumspartei, seit 1893 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses (bis 1904), sprach von einem „Kampfe, welcher bald sehr erbitterte Formen annahm.“ Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Bd. 6, 1929, 20. 41 Bachem (Hrsg.), Staatslexikon, 2. Aufl., 1902, 3. Bd., 316 ff. 42 am Zehnhoff berichtet (Staatslexikon (Fn. 41), 320 f.): „Es hat eine Zeit gegeben, und sie ist noch nicht sehr lange vorüber, wo man die Kanäle für eine veraltete, in das Zeitalter der Eisenbahn nicht mehr passende Einrichtung hielt (…). In den letzten Decennien bricht sich aber immer mehr die Überzeugung Bahn, daß sie unter Umständen – namentlich bei genügender Länge – sehr brauchbare Bundesgenossen der Eisenbahnen sein können, indem sie ihnen den Transport der geringwertigen Massengüter, bei denen es weniger auf Schnelligkeit und Pünktlichkeit als auf Billigkeit der Beförderung ankommt, abnehmen.“ 43 Verursacht vor allem durch den Bau erforderlicher Schleusen. Aber auch die ostpreußische Landwirtschaft befürchtete Einbußen und eine Begünstigung des Westens. 44 Eynern (Fn. 38), 121, gibt eine Äußerung des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel zur Kanalvorlage wieder: „Herr am Zehnhoff findet hingegen das Hauptbedenken gegen diese Vorlage darin, daß sie nicht genug Wasserstraßen bringt. Er sagt: ich will die Mosel und die Lippe noch haben, er will außerdem eine Verbesserung der Ems von Papenburg abwärts haben, ihm genügt die Vorlage also nicht.“
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scharfe Anspannung der direkten Steuern in Aussicht zu nehmen.“45 Doch scheiterte zunächst das große Projekt, und es ist bezeichnend für am Zehnhoffs kompromissbereite Haltung, dass er nur kurz berichtet, man habe bei der Wichtigkeit, die die Regierung der Kanalvorlage beigemessen habe, nach der Ablehnung eine Auflösung des Abgeordnetenhauses und die Ausschreibung von Neuwahlen erwartet. „Eine solche erfolgte aber nicht, vielmehr wurden nur einige 20 Abgeordnete, die als Landräte oder sonstige Beamte in einem Abhängigkeitsverhältnisse zur Regierung standen, gemaßregelt.“46 Indessen war der Konflikt des Abgeordnetenhauses mit der preußischen Regierung an Schärfe kaum zu überbieten; man sprach von den „Kanalrebellen“, die die Kanalvorlage zu Fall gebracht hatten.47 Das Aufeinanderprallen der Auffassungen blieb keine innerparlamentarische Angelegenheit, vielmehr fand der Konflikt auch breite Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, wovon die einst vielgelesenen „Grenzboten“ Zeugnis geben.48 So war am Zehnhoffs Schilderung der Ablehnung, offenbar mit Rücksicht auf die preußische Regierung und um ihr Brücken zu bauen, noch zurückhaltend formuliert. Eine juristische Erörterung der „Maßregelungen“ schloss dies indes nicht aus,49 und die Wellen schlugen hoch.50 Die näheren Hintergründe legte erst viel später Fritz Hartung51 dar: „Zu einem offenen Zusammenstoß auf preußischem Boden führte (…) der Gesetzentwurf über den Bau des Mittellandkanals. Die konservative Partei benutzte die Gelegenheit, um ihre Machtstellung der Regierung nachdrücklich zum Bewußtsein zu bringen und damit die Berücksichtigung ihrer Interessen bei der bevorstehenden Neugestaltung des Zolltarifs und der Handelsverträge im Reich zu erzwingen. Sie glaubte sich dieses gewagte Spiel leisten zu können, weil das preußische Staatsministerium unter der formellen Leitung des 80jährigen Fürsten Hohenlohe und unter der geistigen Führung des Finanzministers von Miquel in dieser Frage so wenig einig war wie in vielen andern, und hielt an ihm auch dann noch, ja dann erst recht fest, als Wilhelm II. sich mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Temperaments für den Bau des Kanals einsetzte.“
Nach Ablehnung der Vorlage scheute die Regierung Staatslexikon (Fn. 41), 327. am Zehnhoff (Fn. 41), 327. 47 Steinbach, Die politische Freiheit der Beamten unter der konstitutionellen Monarchie in Preußen und im Deutschen Reich, 1962. Ebd. 82 ff.: Die Kanalrebellen und der Erlass vom 31.08.1899. 48 Baumert, Der Mittellandkanal und die konservative Partei in Preußen, Die Grenzboten, Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, 58 (1899), Viertes Vierteljahr, 57 ff. 49 Vgl. die Ausfürungen des Erlanger Rechtsprofessors Hermann Rehm (1862–1917), DJZ 5 (1900), 112 f.: Kanalvorlage und Zurverfügungstellung. 50 In einem mit „V“ gezeichneten Aufsatz – vermutlich Paul Voigt (1876–1944) – in den einflussreichen Preußischen Jahrbüchern, 96 (1899), 362 ff. (363) heißt es: „Überblickt man das ungeheure Material, das in den amtlichen Denkschriften, in Broschüren und Büchern, in wissenschaftlichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Handelskammerberichten und in den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses niedergelegt ist, so schaut man in ein wahres Tohuwabohu der widerstrebendsten Anschauungnen, der widersprechendsten Thatsachen, und man sieht bald, daß die Kanalvorlage eine der schwierigsten und kompliziertesten Fragen ist, die jemals ein deutsches Parlament beschäftigt haben.“ 51 Unter eingehender Verwertung des Berichts von Herzfeld: Johannes von Miquel, Sein Anteil am Ausbau des Deutschen Reiches bis zur Jahrhundertwende, Bd. II, 1938, 596 ff. – Gute gedrängte Darstellung bereits bei von Massow, Die deutsche innere Politik unter Kaiser Wilhelm II., 1913, 165, 210 f., 217 ff. 45
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„zwar vor einer Auflösung des Abgeordnetenhauses (…) zurück, wollte aber doch auch ihre Niederlage nicht ganz tatenlos hinnehmen. So verfiel sie auf den Gedanken, die sogenannten Kanalrebellen, d.h. diejenigen politischen Beamten, die im Landtag gegen den Kanal gestimmt hatten, zu bestrafen. Zwei Regierungspräsidenten und achtzehn Landräte wurden wenige Tage nach der endgültigen Ablehnung der Kanalvorlage zur Disposition gestellt.“52
Während des langen und harten Ringens hatte am Zehnhoff immer wieder zu vermitteln gesucht; die rigoros ablehnende Haltung der konservativen Fraktion53 hatte aber seine Bemühungen zunichte gemacht, doch noch zu einer Verständigung zu kommen; auch ein Kompromissvorschlag von ihm war in letzter Minute gescheitert.54 Sein unverändertes Eintreten für die Kanalbauprojekte hatte ihn aber nicht nur in seiner Zentrumspartei, sondern erstmals auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Als schließlich auch ein zweiter Versuch der Regierung scheiterte, die Kanalvorlage zu retten – und mit ihr das Hauptstück, den Mittellandkanal –,55 schienen die Pläne endgültig erledigt, bis sich im Jahre 1904 eine Gelegenheit fand, sie doch noch, wenngleich in abgeänderter Weise, zu realisieren. „Wiederum nahm der Abgeordnete am Zehnhoff sich der Sache mit großer Hingebung und der alten Zähigkeit an.“56 Seine bisherigen Stellungnahmen und sein ausgleichendes Temperament prädestinierten ihn bei den festgefahrenen Fronten zum Berichterstatter der „Kommission über den Gesetzentwurf, betreffend die Herstellung und den Ausbau von Wasserstraßen.“57 Sein großer, detaillierter Bericht58 legt bis in bauliche Einzelheiten die bisherige, sehr komplizierte Entwicklung dar, arbeitet die Unterschiede zwischen den Kanalvorlagen von 1901 und 1904 nebst technischen Fragen und solchen der finanziellen Realisierbarkeit heraus, und die von der Kommission auf seinen Vorschlag erfolgten Veränderungen gegenüber der Regierungsvorlage59 stellten sich als gangbarer Mittelweg dar, der schließlich doch noch – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart – die parlamentarische Zustimmung zu der Kanalvorlage ermöglichte, ohne dass widerstrebende Landräte jetzt noch zu opponieren wagten.60 Es ist daher nicht zu viel gesagt, wenn Bachem resümierend ausführt: „Die Kanalvorlage würde niemals zustande gekommen sein ohne die Bemühungen des Abgeordneten Hartung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, 3. Teil, 1948, 1 ff. (34 f.). S. Graf von Limburg-Stirum, Aus der konservativen Politik der Jahre 1890/1905, 1921, 48 ff.: Gegensatz zur Regierung in der Kanalvorlage. 54 Bachem (Fn. 4 0), 22. 55 Bachem (Fn. 4 0), 125 ff. 56 Bachem (Fn. 4 0), 214. 57 Haus der Abgeordneten, 20. Legislaturperiode, I. Session, 1904/05, Nr. 594. 58 Kommissionsbericht über die Wasserstraßen-Vorlage des Jahres 1904, Berichterstatter: Abgeordneter Dr. am Zehnhoff, Berlin 1904. 59 Zehnhoff hebt hervor, „daß die finanziellen Bedenken, die gegenüber der früheren Vorlage bestanden, durch die Weglassung des Verbindungsstückes zwischen den beiden großen Wasserstraßensystemen der Monarchie zum größsten Teil beseitigt sind. Durch diese Weglassung vermindern sich nämlich einmal in hohem Grade die direkten Ausfälle an Eisenbahneinnahmen und wird zum anderen den bei den früheren Kanaldebatten so verhängnisvoll gewordenen schlesischen Kompensationsforderungen mit ihren uferlosen Konsequenzen vollständig der Boden entzogen.“ Kommissionsbericht (Fn. 58), 267. 60 Steinbach (Fn. 47), 87: Von den 12 dem Abgeordnetenhaus zu dieser Zeit angehörenden Landräten habe keiner mehr gewagt, gegen die Regierungsvorlage zu stimmen. Insofern habe die maßregelnde Haltung der Regierung aus dem Jahre 1899 noch nachgewirkt. 52
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am Zehnhoff, welcher als Berichterstatter der Kommission in geradezu bewunderungswürdiger Weise in alle Einzelheiten des großen Werkes sich eingearbeitet und dasselbe dann in wesentlichen Teilen ganz umgearbeitet hatte.“61
3. Das Erbschaftssteuergesetz Auch im Reichstag hatte am Zehnhoff als Berichterstatter auf sich aufmerksam gemacht. Auf dem Gebiet der Steuerpolitik betrat er wieder ein stärker juristisch konnotiertes Terrain, und so verwundert es nicht, dass er – inzwischen „eine in allen Parteien geschätzte Autorität“ – 62 als Berichterstatter der Kommission des Reichstags für das Erbschaftssteuergesetz, das auch die Schenkungssteuer behandelte, bestellt wurde. Hier konnte das Erbschaftssteuergesetz des Reiches nun an die eingehenden preußischen Regelungen anknüpfen. Preußen selbst ist es gewesen, das schon im Jahre 1877 angeregt hatte, die Erbschaftssteuer dem Reich zu überweisen, wovon man seinerzeit aber noch, da die Einzelstaaten im Allgemeinen nur ungern dem Reich eigene Steuern überließen, abgesehen hatte. Im Jahre 1906 aber war dies anders geworden, als nach den Worten am Zehnhoffs „der große Fehlbetrag im Reichshaushalte die Erschließung neuer Finanzquellen als eine unabweisbare Notwendigkeit erscheinen ließ.“63 Den Bundesstaaten fiel es leichter, nunmehr einer reichseinheitlichen Lösung zuzustimmen, da ihnen nach der neuen Regelung überlassen blieb, „für eigene Rechnung zu der nach den Vorschriften des Reichserbschaftssteuergesetzes veranlagten Steuer Zuschläge zu erheben.“64 Einen Überblick über das neue Erbschaftssteuergesetz vom 3. Juni 1906 legte am Zehnhoff in fasslicher Sprache, die auch einem mit der Materie nicht vertrauten Juristen eine gute Orientierung ermöglichte, in der Deutschen Juristen-Zeitung dar.65 Am Zehnhoff hatte maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Gesetzes.66 Seine nicht am Zeitgeist orientierte und streng sachbezogene Art, was rednerische Begabung nicht ausschloss,67 brachte es mit sich, dass er nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht in die patriotischen Hochgesänge einstimmte, die einen Sieg des Deutschen Reiches für zwangsläufig hielten. Er war als angesehener Parlamentarier einer der wenigen, die schon ganz zu Kriegsbeginn die deutsche Niederlage voraus Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Bd. 9, 1932, 390. Amelunxen (1888–1969, der spätere erste Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, dann Justizminister im Kabinett von Fritz Steinhoff (1897–1969)), Diener am Recht, DRiZ 35 (1957), 49 ff. (49), auch abgedruckt in Amelunxen, Kleines Panoptikum, Acht Männer und eine Frau, 1957, 121 ff. (123). 63 am Zehnhoff, Das Erbschaftssteuergesetz vom 3. Juni 1906, DJZ 11 (1906), 995 ff. (995). 64 am Zehnhoff (Fn. 63), 999. 65 am Zehnhoff (Fn. 63). 66 Bachem, (Fn. 4 0), 223, berichtet: „Im ganzen erhielt das Gesetz über die Erbschaftssteuer infolge des geschickten und sachverständigen Eingreifens des Abgeordneten am Zehnhoff schließlich eine nach den meisten Richtungen hin befriedigende Form, so daß es ohne weitere Schwierigkeiten zur Annahme gelangte. Doch stimmten noch 5 Konservative und 6 Antisemiten wegen dieser Erbschaftsteuer gegen die ganze Reform.“ 67 Amelunxen (Fn. 62) spricht davon, Zehnhoff habe „als Meister der Sprache“ Reden gehalten, „die in die Reihe der klassischen Parlamentsreden“ eingegangen seien. Amelunxen (Fn. 62), 50: „Er beherrscht die lateinische Sprache wie seine Muttersprache.“ 61
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sahen. Matthias Erzberger (geb. 1875, ermordet 1921), Reichsfinanzminister in der jungen Weimarer Republik, berichtet in seinen Erinnerungen: „Die amtlichen Stellen und die große Masse des Volkes waren von den ersten Siegesnachrichten so berauscht, daß sie auf die Meinung des Auslandes wenig Wert legten. Nur ganz wenige sahen schon damals klar. Zu diesen gehört der heutige preußische Justizminister Am Zehnhoff, der mir am Abend des 4. August sagte, daß dieser Krieg mit der deutschen Niederlage endigen müsse.“68 Es waren jedoch die fachlichen Expertisen am Zehnhoffs, die bestimmend gewesen sind, dass er von seiner Zentrumspartei als ministrabel angesehen wurde.
IV. Hugo am Zehnhoff als preußischer Justizminister 1. Anwaltschaft und Parlamentarismus Eine ungezeichnete Arbeit in den einflussreichen und meinungsbildenden Preußischen Jahrbüchern verlieh einer seinerzeit weit verbreiteten Klage darüber Ausdruck, dass praktizierende Anwälte sich nur selten der Politik zuwandten und nur sporadisch zu Kandidaturen für Parlamentskammern bereit waren; „in Preußen haben die Rechtsanwälte, die in einer Kammer saßen, die Zahl von zehn nie bedeutend überschritten.“69 Ausschlaggebend für den Befund war offenbar, daß die Remunerationen der Abgeordneten – von Diäten im heutigen Sinn konnte noch keine Rede sein – nicht entfernt den Verlust ausglichen, der durch das Ruhen oder den Ausfall der Anwaltspraxis veranlasst war.70 Mochte dieses Urteil im Allgemeinen für das königliche Preußen und für die ersten Jahre des Kaiserreichs noch zutreffen, so hatte sich dies nach der Staatsumwälzung zwar nicht durchgehend, aber vielfach geändert. Jetzt gab es Klagen aus dem Anwaltsstand, die ein Aufgeben oder Zurückstellen des Berufs zugunsten der Politik aber angesichts drängender Standesnöte ablehnten. In einer damals weithin bekannten Schrift legte Rechtsanwalt Benedikt Bernheim die schwierige Lage und die Sorgen weiter Teile der Anwaltschaft drastisch dar, wie sie schon vor, aber auch infolge des Wechsels der Staatsform entstanden seien,71 doch die in der Schrift plakativ, ja in bewusst herausfordernder Art vorgetragenen Thesen72 erfuhren eine sehr kritische Besprechung durch den angesehenen Rechtsanwalt Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, 1920, 4. – In der Autobiographie des einflussreichen Staatsrechtslehrers Gerhard Anschütz (1867–1948) heißt es: „Die Ereignisse auf den Kriegsschauplätzen rechtfertigten anfänglich die Zuversicht, von der ganz Deutschland erfüllt war, vollauf, sie steigerten sie bis zur Begeisterung, bis zu der Hoffnung auf eine bald siegreiche Beendigung des Krieges.“ Anschütz, Aus meinem Leben, 1993, 157. 69 Die Advocatur in Preußen, PrJb 14 (1864), 424 ff. (424). 70 Zu pauschal die Einschätzung von Dietrich Rüschemeyer, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Anzahl der zugelassenen Anwälte besonders in Preußen „absichtlich klein gehalten“ wurde. Der daraus resultierende Wohlstand habe „dem Anwalt in Preußen und in einer Anzahl anderer deutscher Staaten zu einer starken Verhandlungsposition selbst gegenüber wohlhabenden Mandanten“ geführt. Rüschemeyer, Juristen in Deutschland und in den USA. Eine vergleichende Untersuchung von Anwaltschaft und Gesellschaft, 1976, 157. 71 Bernheim, Juristenspiegel, 1918. 72 Etwa Bernheim (Fn. 71), 6: „Wer nicht das Glück hat, in fetten Aufsichtsratposten zu sitzen, große 68
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Adolf Heilberg:73 die Ausführungen in Bernheims Schrift seien „vielfach stark übertrieben und verallgemeinert.“74 Nicht nur aus heutiger Sicht darf gesagt werden, dass Bernheims vielgelesene Schrift oftmals die Grenze zur Unsachlichkeit und mithin Unseriosität streift. So eignen sich seine Warnrufe nicht, um eine starke Zurückhaltung von Rechtsanwälten in der Politik zu begründen – ebenso wie schon seit langem allgemein, aber auch gegenüber der Richterschaft erhobene Vorwürfe, im öffentlichen Recht keine genügenden Kenntnisse vorweisen zu können.75 Denn solche Vorhaltungen hatte es schon immer gegeben,76 und mussten sie nicht generell die Juristen treffen, ganz abgesehen von dem Umstand, dass bei anderen Berufsgruppen, die in der Politik tätig waren, Kenntnisse speziell im öffentlichen Recht noch viel weniger vorausgesetzt werden konnten? Wie ein Fanfarenstoß musste es wirken, als der hochangesehene Theodor Kipp (1862–1931) – Generationen von Juristen ein Begriff durch die Bearbeitung der letzten Auflage von Windscheids epochemachendem Lehrbuch des Pandektenrechts – in einer vielbeachteten Berliner Rektoratsrede am 30. Oktober 1914 unfruchtbaren Streitereien über den Vorrang des Privatrechts vor dem öffentlichen Recht den Boden zu entziehen suchte und ausführte: „Das öffentliche Recht ist durch die Schule des Privatrechts hindurchgegangen, aber ihr längst entwachsen. Ein blühender, vielleicht der blühendste Zweig der Rechtswissenschaft ist jetzt der des öffentlichen Rechts.“77 Die seit langem78 und noch für längere Zeit stark zivilrechtlich dominierte Juristenausbildung konnte diese Einschätzung allerdings nicht eskamotieren: Bill Vermögensverwaltungen zu führen und dergleichen, kurz, wer ausschließlich auf die Prozeßpraxis angewiesen ist, spinnt heutzutage keine Seide mehr.“ 73 Adolf Heilberg (1858–1936), politisch aktiv in der DDP wirkend, einst Vorsitzender der schlesischen Anwaltskammer. Zu ihm Krach, Jüdische Rechtsanwälte in Preußen, 1990, 77 f., 173 ff., 224; Kurzvita 433. 74 Heilberg, JW 50 (1921), 265. 75 Vgl. etwa Serenus Albus (latinisiert verbrämtes Pseudonym für Ernst Schwartz), Der drohende Niedergang des Preußischen Richterstandes, 1897, 17: „Mit dem öffentlichen Recht dagegen steht die Sache geradezu arg. Man klagt über die grenzenlose Unwissenheit, welche in den gebildeten Schichten über die einfachsten Dinge des staatlichen Verwaltungsorganismus herrsche, aber es giebt Richter, welche nicht die allernothwendigsten Kenntnisse auf denjenigen Gebieten des öffentlichen Rechts besitzen, die nicht ihrer Rechtsprechung unterliegen, für die nicht bloß die gesammte neuere Verwaltungs-, Steuer- und sozialpolitische Gesetzgebung ein böhmisches Dorf ist, sondern die sogar in Verlegenheit gerathen würden, wenn man sie über die Preußische Verfassungsurkunde befragen wollte.“ 76 Gneist schließt sein Werk „Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland“ (hier zitiert nach der 2., erheblich erweiterten Auflage, 1879) mit einem Kapitel, das „Der Beruf des deutschen Juristenstandes“ überschrieben ist und in dem er die stärkere Berücksichtigung des Staatsrechts anmahnt, das sozusagen das in seiner Bedeutung verkannte Scharnier zur Gesellschaft hin darstelle. Dort führt er aus (ebd. 332): Es solle „die Rechtswissenschaft sich nicht darauf beschränken, ihr Privatrecht, Strafrecht und Gerichtsverfahren in mikroskopischen Untersuchungen so zu behandeln, als ob ein positives deutsches Staatsrecht mit seinen festen Rechtsbegriffen gar nicht bestände, während doch aller pragmatische Zusammenhang im Recht auf den Wechselbeziehungen von Staat und Gesellschaft beruht“. 77 Kipp, Von der Macht des Rechts, 1914, 6. 78 Der einst führende Vertreter des deutschen Verwaltungsrechts, Otto Mayer (1846–1924) hatte – ebenfalls in einer Rektoratsrede – ausgeführt: „Es fällt unseren Richtern und nicht nur ihnen unglaublich schwer, sich von den civilrechtlichen Formeln frei zu machen, in welche das frühere System die Beziehungen des Staates gepresst hatte.“ Mayer, Justiz und Verwaltung, 1902, 23 f.
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Drews (1870–1938),79 seinerzeit Präsident des Oberverwaltungsgerichts Berlin, bedauerte noch lebhaft im Jahre 1928: „Richter und Anwälte werden zu einseitig im zivil- und strafrechtlichen Denken erzogen; es fehlt ihnen die nötige Einfühlung in das öffentliche Recht, insbes. in das Verwaltungsrecht mit seinem ganz verschieden eingestellten Gedankengange; noch fremder sind ihnen der Regel nach die Grundbegriffe und Grundtatsachen der Wirtschaft.“80 Solche Kabalen, die immer wieder auch auf die Juristenausbildung bezogen wurden und zu heftigen Diatriben führten,81 waren am Zehnhoff bestens bekannt, konnten ihn selbst aber nicht treffen. Er, der von 1899 bis zum Jahre 1918 Mitglied des Reichstags gewesen war, von 1919 bis 1921 der Preußischen Landesversammlung angehörte und von 1921 bis 1928 Mitglied des Preußischen Landtags war, dessen Abgeordnetenhaus er schon von 1898 bis 1908 angehört hatte, war mit öffentlich-rechtlichen Fragestellungen vertraut; für seine Zentrumspartei und darüber hinaus war er als unbestrittener Fachmann angesehen.82 Als in der ersten Zeit nach der Staatsumwälzung und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs in den meisten Gliedstaaten, die sich nunmehr Länder nannten, ein häufiger Personalwechsel in der Leitung der obersten Landesbehörden keine Seltenheit war, war auch das preußische Justizministerium hiervon betroffen.83 Nach Peter Spahn (1846–1925), der von August 1917 bis November 1918 das Ministerium geleitet hatte, folgten in der kurzen Zeitspanne von November 1918 bis März 1919 Kurt Rosenfeld (1877–1943) und Wolfgang Heine (1861–1944) als Justizminister. „Die preußische Landesversammlung trat am 13. März 1919 in Berlin zusammen. Die Koalition zwischen SPD, DDP und Zentrum wurde am 25. März 1919 geschlossen. Die SPD stellte vier Minister (Braun, Haenisch, Heine und Südekum) und den Vorsitzenden des Staatsministeriums (Hirsch). Je zwei Minister wurden von der DDP (Fischbeck und Oeser) und vom Zentrum (Stegerwald und am Zehnhoff ) entsandt.“84 Die Deutsche Juristen-Zeitung berichtete ungewöhnlich ausführlich:
Zu ihm vorzüglich Jeserich/Neuhaus, Persönlichkeiten der Verwaltung, 1991, 323 ff. Drews, Staatsreferendar und Staatsassessor, JW 57 (1928), 6 – Vgl. auch schon Plenge, Die Zukunft Deutschlands und die Zukunft der Staatswissenschaft, 1919. 81 Den Auftakt bildet die von Polemik nicht freie Schrift des bekannten Rechtsanwalts Fuchs: Schreibjustiz und Richterkönigtum, 1907, die eine eingehende Erwiderung durch Reichsgerichtsrat Adelbert Düringer erfuhr. Düringer, Schreibjustiz und Richterkönigtum, Das Recht, Rundschau für den deutschen Juristenstand, 11 (1907), 1027 ff. Zu Fuchs (1859–1929) Kleinheyer/Jan Schröder (Fn. 14), 146 ff.; zu Düringer (1855–1924) Wirth, Adelbert Düringer. Jurist zwischen Kaiserreich und Republik, 1989. 82 Bei Hömig, Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik, 1979, 7, ist von am Zehnhoff die Rede, „der den Typ des ausgesprochenen ‚Fachmanns‘ verkörperte.“ 83 Gute Schilderung der hektisch zu nennenden Entwicklung der ersten Nachkriegsmonate von Thiesing, der als Ministerialdirektor Abteilungsleiter im Pr. Justizministerium gewesen war: Die Geschichte des Preußischen Justizministeriums, in: 200 Jahre Dienst am Recht, Gedenkschrift aus Anlaß des 200jährigen Gründungstages des Preußischen Justizministeriums, 1938, 11 ff. (152 f.) – Geraffter Personalbericht in DJZ 24 (1919), 72 f., 169 f. sub voce: Personalien. 84 Leugers-Scherzberg/Loth, Die Zentrumsfraktion in der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung 1919–1921, 1994, Einleitung XVII. Ebd. 16 Fn. 8: „Am Zehnhoff berichtete am 15. November 1928 an Karl Bachem: Das Zentrum schlug den Sozialdemokraten für das Justizministerium 3 Namen vor: Spahn, Itschert und Am Zehnhoff. Die Sozialdemokraten wählten Am Zehnhoff.“ 79
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„Chef der preußischen Justizverwaltung wird nunmehr wieder [B.M.: nach Peter Spahn] ein Mitglied des Zentrums, und in am Zehnhoff gelangt ein weiterer Vertreter der Rechtsanwaltschaft in die Führung der Staatsgeschäfte. Er ist Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Düsseldorf, Vorsitzender des Vorstands der Anwaltskammer daselbst, war seit 1899 Mitglied des Reichstags, von 1898 bis 1908 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und ist jetzt Mitglied der preußischen Landesversammlung. Ihm geht der Ruf eines tüchtigen Juristen voraus, der zugleich auch großes Interesse für kulturelle Bestrebungen als stellvertretender Vorsitzender des Niederrheinischen Geschichtsvereins und Mitglied des Vorstandes des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft gezeigt hat. Es kann im Interesse der Justiz und des rechtsuchenden Volkes nur dem lebhaften Wunsche Ausdruck gegeben wurden, daß die Leitung der Justizverwaltung nunmehr wieder in stetige ruhige Bahnen gelenkt werden möge.“85
Die Zeiten, als beklagt wurde, dass zu wenige Rechtsanwälte der Politik sich widmeten und als Minister zur Verfügung standen,86 hatten sich geändert. Von den Vorgängern am Zehnhoffs im Ministeramt sind sowohl Kurt Rosenfeld als auch Wolfgang Heine Rechtsanwälte gewesen. Kein Geringerer als Max Weber hatte schon im Jahre 1918 ausgeführt: „Die Natur der heutigen Anforderungen an den politischen Betrieb bringt es vielmehr mit sich, daß in allen demokratischen Parlamenten und Parteien ein Beruf eine besonders starke Rolle für die Rekrutierung der Parlamentarier spielt: Die Advokaten.“87 Das Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege (81. Jg. 1919, 136 und 250) teilte mit: „Das mir übertragene Amt des Justizministers habe ich heute übernommen. Berlin, den 25. März 1919. Der Justizminister Dr. am Zehnhoff (…). In der Liste der Rechtsanwälte sind gelöscht: (…) Geheimer Justizrat Dr. am Zehnhoff bei dem Oberlandesgericht in Düsseldorf.“
2. Erste gesetzgeberische Maßnahmen Am Zehnhoff ging sofort ans Werk. Der verlorene Krieg warf zunächst drängende praktische Probleme auf, die sofortiger Lösung bedurften. Für die zurückkehrenden Soldaten, die eine juristische Ausbildung begonnen hatten und die Befähigung zum Richteramt erstrebten, ergaben sich besondere Schwierigkeiten. Der neue preußische Justizminister war noch keinen Monat im Amt, als die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung am 19. April 1919 ein „Gesetz über die Ausbildung von Kriegsteilnehmern zum Richteramte“ erließ.88 Dieses Reichsgesetz,89 das unter der Feder85 Ohne Verfasserangabe, DJZ 24 (1919), 323 f. (Die im Original vielfach verwendeten Abkürzungen sind in obiger Wiedergabe aufgelöst). 86 Ohne Verfasserangabe (Fn. 69). 87 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918, 109. 88 RGBl. 403. Auch abgedruckt mit Begründungen bei Schlegelberger, Deutsches Übergangsrecht. Die Gesetzgebung des Reichs und Preußens nach der Beendigung des Krieges vom Umsturz bis zur neuen Reichsverfassung, 1920, 144 f. – Schlegelberger (1876–1970) war im Jahr 1920 noch Vortragender Rat im Reichsjustizministerium. Zu Schlegelberger s. z.B. Förster, Jurist im Dienst des Unrechts: Leben und Werk des ehemaligen Staatssekretärs im Reichsjustizministerium Franz Schlegelberger, 1995. Hervorragende Kurzvita jetzt in Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, 2016, 52 ff. 89 Es bedurfte eines Reichsgesetzes, da „die geplanten Vergünstigungen eine, wenn auch nur vorü-
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führung des nur vom 13. Februar bis 20. Juni 1919 amtierenden Reichsjustizministers Otto Landsberg (1869–1957) zustande gekommen war,90 ermächtigte die „Landeszentralbehörden“ zu Erleichterungen, zur Anrechnung von sog. Zwischensemestern beim Studium und zur Abkürzung des Vorbereitungsdienstes. Von diesen Ermächtigungen durfte nach § 3 des Gesetzes ein Landesjustizministerium „nur soweit Gebrauch machen, wie es zum Ausgleich einer durch die Teilnahme am Kriege verursachten Verzögerung der Ausbildung erforderlich ist.“ Wer „als Kriegsteilnehmer anzusehen ist und was als Teilnahme am Kriege angerechnet werden kann“, konnten gleichfalls die Landesjustizminister bestimmen (§ 4 des Gesetzes.). Die Ermächtigungen legte am Zehnhoff weitherzig aus, um die Not der Heimkehrenden soweit wie noch vertretbar zu lindern: Nur vier Tage nach jenem Gesetz vom 19. April 1919 erließ er eine „Allgemeine Verfügung vom 23. April 1919 über Notprüfungen der Angehörigen freiwilliger Truppen“,91 die den Kreis der Begünstigten erweiterte. Danach wurden Referendare, aber auch Anwärter für den mittleren Justizdienst nach Erledigung des Vorbereitungsdienstes, Rechtskandidaten nach Erledigung des Universitätsstudiums zu einer Notprüfung zugelassen, wenn sie in eine anerkannte freiwillige, zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung oder des Grenzschutzes aufgestellte Truppe eingetreten waren (Ziffer 1 der Verfügung). Es folgte eine weitere „Allgemeine Verfügung vom 29. April 1919 zur Ausführung des Reichsgesetzes vom 19. April 1919 (RGBl. S. 403) über die Ausbildung von Kriegs teilnehmern zum Richteramte.“92 Andere Erleichterungen folgten kurz darauf. Dem preußischen Justizminister war bewusst, wenn an den vor dem Kriege geltenden Standards festgehalten worden wäre, die besonders im Zivilrecht hohe Anforderungen statuierten, wären den aus dem Felde Heimkehrenden kaum in kurzer Frist zu bewältigende Schwierigkeiten erwachsen. Die bei Schlegelberger mitgeteilte Begründung des Reichsgesetzes machte sich am Zehnhoff voll zu eigen, und sie sprach für ihn auch in der Folgezeit noch lange nachwirkende Gedanken aus: „Es ist nicht nur eine Maßregel vorausschauender sozialer Fürsorge, wenn den ins bürgerliche Leben zurückgekehrten Kämpfern geholfen wird, daß sie sich tunlichst rasch die Grundlage beruflicher Selbständigkeit verschaffen können, sondern ein Gebot anerkennender Gerechtigkeit, daß ihnen der im Dienste erlittene Zeitverlust, soweit angängig, durch Zeitgewinn wieder gut gemacht wird. Es gilt nur, die Grenzen einzuhalten, unter die mit den Anforderungen an die Ausbildung für die Richterlauf bahn im Interesse des Staates und der Allgemeinheit, wie auch im wohlverstandenen eigenen Interesse der Anwärter nicht hinabgegangen werden darf.“93
Die schon von Otto Mayer vor dem Kriege ausgesprochene Mahnung, sich im öffentlichen Recht „von den civilrechtlichen Formeln frei zu machen“,94 bestand auch jetzt bergehende und auf einen bestimmten Personenkreis beschränkte Änderung der reichsgesetzlichen Vorschrift des § 2 Abs. 2 und 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes darstellen“, Schlegelberger (Fn. 88), 145. 90 Zu Landsberg heißt es bei Sinzheimer/Fraenkel, Die Justiz in der Weimarer Republik, Eine Chronik, 1968, 224: „Sein geschichtliches Verdienst besteht darin, daß er in einer der kritischsten Stunden des deutschen Volkes einer der Hauptberater des ersten Reichspräsidenten war“ (Sinzheimer). 91 Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 81 (1919), 271. 92 Justiz-Ministerialblatt (Fn. 91), 279 f. 93 Schlegelberger (Fn. 88), 145. 94 Mayer (Fn. 78).
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noch fort und betraf die Juristen, speziell Richterschaft wie Anwaltschaft, gleichermaßen. Doch das strukturelle Problem war hiermit nur angedeutet und lag tiefer: Es hing in der Tat ganz wesentlich mit der Dominanz des Privatrechts zusammen, besonders aber mit der in ihm entwickelten Interpretations-Methodik, die noch für lange Zeit95 auch das öffentliche Recht erfasst hatte. Denn bei Auslegung der nicht so feinmaschig gewobenen Rechtstexte des öffentlichen Rechts orientierte man sich weitgehend an der Auslegungsmethodik des Privatrechts, man betrachtete auch hier die auszulegenden Begriffe fast klinisch-isoliert, so dass ein freierer Blick auf das Gesetz, der schon bei Auslegungszweifeln unzulässig war und die Grenzen zur Rechtssetzung überschritt, als sakrosankt galt. War nach den Worten Ottmar Bühlers „schon für die Zeit vor dem Kriege festzustellen, daß das Interesse am öffentlichen Rechte gewaltig gewachsen war“,96 so hatte dies für die Nachkriegszeit umso mehr zu gelten. Man behalf sich zunächst noch in der Staatslehre mit dem von Erich Kaufmann 1908 betonten Begriff des Organischen und des Organismus, um festgeschlossene Türen zu öffnen, weitere Perspektiven und damit unbetretenes Terrain zu gewinnen.97 Dies war es, was am Zehnhoffs Bestreben entgegenkam: eine Sichtweise, die sich drängenden Tagesnöten öffnete und sich so übersetzen ließ: nicht festgefügte Organisation einer theoretischen Dogmatik,98 sondern lebendigen Organismus für die tägliche Praxis suchte er – nicht unflexible Lehre für ein abstraktes System, sondern anpassungsfähige Gestaltung für das pulsierende öffentliche Leben. Eine solche Sichtweise verlangte von den Juristen auch eine stärkere Berücksichtigung des öffentlichen Rechts, und ein Beitrag in der Juristischen Wochenschrift aus dem Jahre 1919 bezog die Problematik auch auf den Anwaltsstand, dem am Zehnhoff entstammte, und führte ganz in seinem Sinne aus: „[Es] mahnen die Folgen des furchtbaren Krieges den Anwalt dazu, nach seiner Rückkehr nicht überlegungslos im Zivilrecht unterzutauchen, sondern die politische Neuordnung als Vgl. auch die Äußerung von Drews (Fn. 80). Bühler, Otto Mayers Deutsches Verwaltungsrecht. Seine Bedeutung für die Praxis und die kommende Zeit der Verwaltungsreform, Verwaltungsarchiv 27 (1919), 283 ff. (309). 97 Kaufmann (1880–1972), Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, jetzt in ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, 46 ff. Ebd. 49: „Die Einheit der Welt besteht jetzt in der Unendlichkeit der Beziehungen der Dinge untereinander, nicht mehr in der abstrakten Beziehung auf den nach außen stehenden, nach seinen Zwecken schaffenden Urheber aller Dinge. (…) Jetzt schließen sich die Einzeldinge unter einander zu der zusammengesetzten und immanenten Einheit eines ‚organisierten Ganzen‘ zusammen.“ – Zu dieser frühen Schrift Kaufmanns treffend Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117 (1992), 212 ff. (226): Kaufmanns Bezugspunkt reiche „weit über die vorgegebenen Normen und die daraus gewonnenen Begriffe hinaus (…).“ 98 Bei Bozi, Lebendes Recht. Ein Ausblick in die Probleme der Justizreform, 1915, 114, heißt es: „Rechtsdogmatik ist in der Tat ein sehr bezeichnender Ausdruck für eine Wissenschaft, welche die Unterwerfung des Richters unter das Gesetz in dem Sinne versteht, daß die Rechtssätze für die Dauer ihrer formalen Existenz auch inhaltlich unveränderliche Dogmen bleiben.“ – Adam Stegerwald (1874– 1945), seinerzeit Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und von März 1919 bis November 1921 preußischer Minister für Volkswohlfahrt (Zentrum) und damit enger Kabinettskollege von am Zehnhoff, drückte es so aus: „Was wir wollen, ist die organische Demokratie, die Fortsetzung des Werkes, das vom Freiherrn vom Stein begonnen und unbeendet geblieben ist.“ Stegerwald, Deutsche Lebensfragen (Vortrag vom 21. November 1920), 1921, 46. – Zur Organismusanalogie vorzüglich Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft, 1998, 86 ff. 95
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Anlass einer juristischen Neuorientierung zu betrachten in dem Sinne, daß er den zu erwartenden Bedürfnissen des neuen Rechtslebens gerüstet entgegentritt.“99
3. Die Juristenausbildung und ihre Umgestaltung Der Blick auf die „Unendlichkeit der Beziehungen der Dinge untereinander“ (Kaufmann)100 ermöglichte, sich von beengender (Wortlaut-)Interpretation101 abzusetzen, ohne gegenüber der Verpflichtung zu strikter Gesetzestreue illoyal zu sein. Diese Sichtweise bedingte auch eine Neuausrichtung der herkömmlichen Juristenausbildung mit ihrer tradierten, nach wie vor vielfältigen Überbetonung des Privatrechts – eine Neuausrichtung, die allgemein als schwer durchzusetzen galt,102 nicht nur, weil dabei auf ein Einvernehmen mit den juristischen Fakultäten Bedacht zu nehmen war, sondern auch, weil hier die lange eingeschliffenen Bahnen besonders schwer zu verlassen waren. Diesem Herkommen fühlte sich noch einer der Vorgänger am Zehnhoffs, der hier besonders konservativ eingestellte Karl Heinrich von Schönstedt (1833–1924) verpflichtet, der das preußische Justizministerium von 1894 bis 1905 geleitet hatte. Er hielt Kontinuität zu wahren – das hieß bei ihm: Beharren bei der Tradition – für behutsamen Fortschritt.103 Jetzt aber, in Zeiten der jungen Republik, war mit der „unbeschränkten Übernahme des Justizapparates der Vorkriegszeit“104 ein Umdenken nur etappenweise zu erreichen, auch wenn in der Wissenschaft, zum Teil stürmisch, sowohl im juristischen Prüfungswesen als auch im Rechtsunterricht einschneidende Änderungen angemahnt wurden. Rudolf Hübner (1864–1945)105 sprach im Jahre 1922 davon, „daß die große, auch politisch außerordentlich bedeutungsvolle Frage der Gestaltung des ganzen Rechtsunterrichts überhaupt zu entscheidenden Lösungen drängt. Denn daß hier schwere Gebrechen bestehen, ist nicht etwa erst eine Entdeckung der letzten Jahre, sondern seit langem anerkannt.“106 In der Tat wusste auch am Zehnhoff darum, dass etwa der hochangesehene Begründer der neueren Wissenschaft vom Handelsrecht, Levin Goldschmidt (1829– 99 Görres, Das Spezialistentum in Rechtwissenschaft und Rechtsanwaltschaft, JW 48 (1919), 279 f. (279). 100 Kaufmann (Fn. 97). 101 Friedrich der Große hatte in seiner „Abhandlung über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen“, eingeschärft: „Genau formulierte Gesetze geben keine Gelegenheit zu Schikanen, sie müssen im wortwörtlichen Sinn verstanden werden.“ Friedrich der Große, Werke in 12 Bänden (Potsdamer Ausgabe) Bd. V I, Philosophische Schriften, 2007, 261 ff. (295). 102 Bei Anthony J. Nicholls heißt es zur Juristenausbildung der unmittelbaren Nachkriegszeit: „Versuche, das Prüfungswesen zu reformieren, scheiterten meistens“. Nicholls, Die höhere Beamtenschaft in der Weimarer Zeit, in: Albertin/Link (Hrsg.), Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, 1981, 195 ff. (200). 103 Noch im Jahre 1911 hob Heinrich Gerland, Ordinarius in Jena, hervor: „Wenn etwas, so garantiert die Tradition die Kontinuität in der Entwicklung, und deswegen können wir sie eben nicht entbehren.“ Gerland, Die Reform des juristischen Studiums, 1911, 56. – Zu Gerland (1878–1944) s. Eißer, NDB 6 (1964), 306. – Zu Schönstedt s. auch die Bemerkungen von Rainer Schröder (Fn. 4), 219 Anm. 72, 231. Vgl. auch oben Fn. 23. 104 Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922–1930, 1963, 209. 105 Zu Rudolf Hübner s. Kleinheyer/Jan Schröder (Fn. 14), 523 m.w.N. 106 Hübner, Wert und Bedeutung der Vorlesung über deutsche Rechtsgeschichte, 1922, 9.
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1897),107 vor der Jahrhundertwende schon von der „Schuld der preussischen Prüfungseinrichtungen“ gesprochen hatte, die, „wie notorisch ist, die Disziplinen des öffentlichen Rechts (…) nur in geringfügigstem Maasse, die Staatswissenschaften, insbesondere die Nationalökonomie, gar nicht berücksichtigt“ haben.108 Als Parlamentarier mit langer Erfahrung war am Zehnhoff aber auch bewusst, dass erfolgversprechende Neuerungen, wenn sie von den überwiegend konservativ eingestellten Juristen angenommen werden sollten, nicht im großen Wurf zu erreichen waren, sondern nur in beharrlich zu verfolgenden kleinen Schritten angestrebt werden konnten. Ihm war bekannt, dass das öffentliche Recht „auch das Stief kind der Prüfungsordnung ist.“109 Das Ergebnis war seine „Allgemeine Verfügung des Justizministers vom 11.8.1923, betr. Änderung der Prüfungsordnung vom 17.6.1913“,110 die zugleich eine neue „Ausbildungsordnung“ enthielt.111 Was die erste Staatsprüfung betraf, so war es sein besonderes Anliegen, schon hier den Praxisbezug stärker zu betonen, als dies früher der Fall war. Hier folgte am Zehnhoff der von Professorenseite gegebenen Anregung, die Examenskommissionen nur mit Hochschullehrern zu besetzen,112 bewusst nicht. Vielmehr konnten zu Mitgliedern des juristischen Prüfungsamts Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Beamte mit der Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst bestellt werden, ferner Universitätslehrer des Rechts, aber auch der Wirtschaftswissenschaften. Zum Vorsitzenden des Prüfungsamts und zu dessen Stellvertreter wurden Richter bestellt (§ 2 Ziff. 1 der Ausbildungsordnung). Beim Zulassungsgesuch zur Prüfung war nachzuweisen, dass von den fünf im Studium zu absolvierenden Übungen eine das Staats- oder Verwaltungsrecht zum Gegenstand haben muss; „eine wirtschaftswissenschaftliche mit schriftlichen Arbeiten verbundene Übung ist auf die rechtswissenschaftlichen Übungen anzurechnen“ (§ 5c der AusbildungsO). Am Zehnhoff sah sich in voller Übereinstimmung mit dem einflussreichen Zen trumsabgeordneten des Reichstags und späteren Reichsjustizminister Johannes Bell,113 der dort am 23. Januar 1921 betont hatte, „daß dem Rechtsstudium neben der Förderung der Allgemeinbildung ein stärkerer wirtschaftlicher und sozialer Einschlag zu geben ist.“114 Demgemäß wurde auch die Bedeutung des römischen Rechts für die Zu Levin Goldschmidt vorzüglich Karsten Schmidt (Fn. 10), 215 ff. Goldschmidt, Noch einmal Rechtsstudium und Prüfungsordnung mit besonderer Rücksicht auf den praktischen Vorbereitungsdienst, zuerst erschienen in PrJb 61 (1888), hier zit. nach Goldschmidt, Vermischte Schriften, Bd. I, 1901, 575 ff. (600). 109 So schon der junge Kaufmann in seiner Schrift: Die juristischen Fakultäten und das Rechtsstudium, 1910, 11. Vgl. jetzt auch Schale, Zum Frühwerk von Erich Kaufmann, in: Gangl (Hrsg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte, 2011, 41 ff. 110 Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 85 (1923), 588 ff. 111 Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege (Fn. 110), 589 ff. 112 Vgl. Gerhard von Beseler, Rechtsstudium und Prüfungsordnung: Eine Streitschrift gegen das preußische Justizministerium, 1923, 13. Gerhard v. Beseler ist der Sohn des o. Fn. 22 genannten Ministers Max v. Beseler. 113 Zu Johannes Bell (1868–1949), der wie am Zehnhoff aus dem Anwaltsstand kam (Rechtsanwalt und Notar in Essen) und gleich ihm der verfassunggebenden pr. Landesversammlung von 1919–1921 angehört hatte, s. die informative Kurzvita bei Haunfelder (Fn. 12), 128 f. 114 S. den Bericht von Fortmann, Die Tätigkeit der deutschen Zentrumspartei im neuen deutschen Reichstage. 1. Session vom 26. Juni 1920 bis 9. Juli 1921, 1922, 138. 107
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Prüfung beschnitten und in § 15 Ziff. 2 AusbildungsO bestimmt, dass das römische Recht und das nicht mehr geltende deutsche Privatrecht nur im Zusammenhang mit dem geltenden Recht und nur insoweit zum Prüfungsgegenstand gemacht werden darf, „als es für die Erörterung der geschichtlichen Entwicklung geltender Rechtssätze oder dogmatischer Rechtsgrundsätze von Wert ist. Mit Übersetzungen verbundene Erläuterungen der Quellen des römischen Rechtes finden nicht statt.“115 Die mündliche Prüfung, die damals noch an zwei Tagen stattfand, konnte sich neben den juristischen Fächern auch auf „die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre“ erstrecken; das Arbeits- und Wirtschaftsrecht gehörte zum Prüfungsstoff beider Tage.116 In einem anderen, bedeutsamen Punkt ließ sich am Zehnhoff von den reichen Erfahrungen leiten, die im preußischen Justizministerium schon vor dem Weltkrieg gesammelt wurden und noch danach von erheblichem Einfluss waren. Was den sog. Vorbereitungsdienst der Referendare betraf, so hatte sein Vorgänger Max von Beseler117 in einer am 26. März 1909 verfügten „Mitteilung, die große Staatsprüfung betreffend“ unter anderem Bemerkungen des legendären Präsidenten der Justiz-Prüfungskommission Max Ernst Eccius118 bekannt gemacht.119 Dieser hatte dort ausgeführt, seine Erfahrungen lehrten ihn, „daß die Anschauung, die eine große Mehrzahl der Referendare von dem Geschäftsgange bei den Gerichten, von dem Ineinandergreifen der Tätigkeit des Richters und des Bureaus, von den verschiedenen Aufgaben der Bureaubeamten während ihrer Beschäftigung gewinnt, völlig unzulänglich ist, so daß man mit Zagen an die Zeit denken muß, in der der junge Richter einen Geschäftsgang und eine Tätigkeit zu beaufsichtigen hat, von der er als Referendar keine ausreichende Einsicht gewonnen hat.“120 Wie bedeutsam gerade dieser Gesichtspunkt war, hob auch im Jahre 1920 Louis Levin,121 damals noch Kammergerichtsrat in Berlin, hervor. Er unterstrich die von einem so kompetenten Beurteiler wie Eccius gemachten Monita, der „in seinem wissenschaftlichen Wirken das Muster eines wissenschaftlichen Praktikers“ gewesen sei.122 Die Beanstandungen griff nunmehr am Zehnhoff auf, indem er in seiner Ausbildungsordnung von 1923 in § 29 Nr. 1 verfügte: „Der Referendar wird in allen Wie Fn. 110, S. 591. Widerspruch kam – ohne Erfolg – sowohl von Gerhard von Beseler in seiner o. Fn. 112 genannten Schrift als auch von Richard Honig, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, 14. Jg. (1923), 300–303. Beseler, Rechtsstudium (o. Fn. 112, 3) schlug kämpferische Töne an: „Der vom preußischen Justizministerium aus gearbeitete Entwurf einer Neuordnung des ersten juristischen Staatsexamens ist ein kühnes Attentat gegen die Universität als die Bildnerin des künftigen Juristen. (…) Ich kämpfe für die Zukunft der deutschen Rechtspflege gegen die Kurzsichtigkeit und die Machtbestrebungen des preußischen Justizministeriums.“ 116 Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege (Fn. 110), 591. 117 Zu Max v. Beseler s. oben in und bei Fn. 22. 118 Max Ernst Eccius (1835–1918), ehemals Präsident des Oberlandesgerichts Kassel, von 1905 bis 1911 Präsident der Justiz-Prüfungskommission in Berlin in der Nachfolge von Adolf Stoelzel (1831– 1919). 119 Justiz-Ministerialblatt für die preuß. Gesetzgebung und Rechtspflege, 71 (1909), 70 ff. 120 Justiz-Ministerialblatt für die preuß. Gesetzgebung und Rechtspflege (Fn. 119), 72 f. 121 Zu Louis Levin (1865–1939) s. oben Fn. 19. 122 Levin, Die preußische Justizprüfungskommission und die Rechtspflege, in: Festgabe für Dr. jur. h.c. Otto Liebmann, den Begründer, Verleger, Schriftleiter und Herausgeber der Deutschen JuristenZeitung, 1920, 313 ff. (318). 115
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Geschäften der Gerichte und der Staatsanwaltschaft, einschließlich der Justizverwaltung und des Bürodienstes, in den Geschäften der Gefängnisverwaltung und des Rechtsanwalts (Notars) unterwiesen und geübt; bei der Erledigung dieser Geschäfte soll er seinen Kräften entsprechend mitwirken.“123 Dass fortan die Referendare verpflichtend auch in der Justizverwaltung und selbst im Bürodienst ausgebildet werden sollten, war etwas unerhört Neues und kam den Bedürfnissen der Praxis sehr entgegen – ebenso wie die stärkere Betonung des öffentlichen Rechts. Auch die Wissenschaft begrüßte die Neuerungen der Ausbildungsordnung am Zehnhoffs. Gerhard Lassar124 bemerkte auf der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1925, diese Ordnung stelle „durch ihre entsprechend den außerpreußischen Vorbildern vermehrten Anforderungen im öffentlichen Recht und in den Staatswissenschaften einen wesentlichen Fortschritt dar.“125 Unter Berufung auf Lassar heißt es später bei Gliss, diese weiteren Anforderungen auf öffentlich-rechtlichem Gebiet, die die neue Ausbildungsverordnung enthalte, seien „insbesondere wegen des großen Einflusses Preußens auf das Reich zu begrüßen.“126 In der Tat fanden Bestrebungen des Reichsjustizministeriums nach einer Vereinheitlichung der juristischen Ausbildung im ganzen Reich – statt stark differierender Vorschriften der verschiedenen deutschen Länder – vor allem in dem Punkt einer stärkeren Berücksichtigung des öffentlichen Rechts Beachtung. Es hatte Gewicht, als Friedrich Steuber, seinerzeit Präsident des Juristischen Landesprüfungsamts in Berlin, in der Juristischen Wochenschrift ausführte: Es handle sich darum, „die öffentlich-rechtliche und volkswirtschaftliche Ausbildung der jungen Juristen auf breitere Grundlage zu stellen; das Bedürfnis dafür war in Preußen längst erkannt; als daher bei der Besprechung im Reichsjustizministerium die Überzeugung von der gesteigerten Bedeutung der genannten Fächer einstimmigen Ausdruck fand, war dies für die beteiligten preußischen Verwaltungen nur ein neuer Antrieb, die dahingehenden Pläne zur Tat werden zu lassen. […] Sache der Justizverwaltung war es, durch Umgestaltung der ersten juristischen Prüfung dafür Sorge zu tragen, daß das öffentliche Recht und die Volkswirtschaftslehre in ganz anderem Maße als bisher zum Gegenstande des Studiums der Lernenden gemacht werden.“127
4. Justizreform und Justizverwaltungsreform Vor welch enormen Schwierigkeiten das Reichsjustizministerium stand, wenn die „großen Fragen unserer Justizreform“ angegangen werden sollten, hat Reichsjustiz Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege (Fn. 110), 593. Gerhard Lassar (1888–1936), Professor für öffentliches Recht in Hamburg. Zu Lassar sehr informativ jetzt Nicolaysen in: Kopitzsch/Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Biografie, Bd. 6 (2012), 181 ff. m.w.N. 125 Lassar, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte, VVDStRL 2 (1925), 81 ff. (82). 126 Gliss, Die Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit bis zur Bundesverwaltungsgerichtsordnung – unter besonderer Berücksichtigung der Grundpositionen von Bähr und Gneist, 1962, 35. 127 Steuber, Zur Frage der juristischen Ausbildung, JW 54 (1925), 3 ff. (4). 123 124
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minister Rudolf Heinze128 in eingehenden Darlegungen vor dem Reichstag am 25./26. Januar 1921 hervorgehoben.129 Heinze, der zuvor sächsischer Justizminister gewesen und der als Kollege am Zehnhoff bestens bekannt war, konnte in seiner kurzen Amtszeit als Reichsminister der Justiz die genannten großen Fragen, von deren Beantwortung auch für die Länder Vorgaben zu erwarten waren, keiner Lösung zuführen. Aber auch das Reich konnte, nach einer Aussage des Staatsrechtlers Heinrich Triepel, „keine innere Politik treiben ohne die Gewißheit, daß sich die preußische innere Politik in der gleichen Bahn bewegt.“130 Dies war am Zehnhoff bewusst; deshalb konzentrierte er sich zunächst auf Maßnahmen, die Preußen nicht in Konflikt mit der Reichspolitik brachten – die Konsolidierung der Weimarer Republik war nicht so weit vorangeschritten, dass Konflikte mit Preußen ohne Rückwirkung auf das Staatsganze blieben. Triepel sah sogar „die Möglichkeit einer gefährlichen Disharmonie zwischen dem Reich und Preußen“,131 die am Zehnhoff nach seinen parlamentarischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Reichspolitik unbedingt zu verhindern suchte.132 Dies bedeutete für ihn, dass nur in Teilbereichen, die zudem unscheinbar wirkten, Neuerungen in die Wege zu leiten waren. „Es liegt in der Natur der Sache, daß die Reformen auf dem Gebiete der Justizverwaltung einzeln gesehen oft nur unbedeutend erschienen“, heißt es später aus seinem Hause.133 Was überhaupt unter Justizreform und unter Justizverwaltungsreform zu verstehen ist, war in dem Konzert der Stimmen schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht eindeutig. Die Justizverwaltung „hat es nicht unmittelbar mit der Rechtsprechung zu tun, sondern will nur die äußeren Bedingungen und Grundlagen schaffen, damit die Rechtspflege ordentlich funktionieren könne“, heißt es bei Wilhelm Kisch.134 Doch die Grenzen dieser Begriffsbestimmung blieben fließend. Manches, was sich als Neuerung in der Verwaltung der Justiz beschreiben ließ, konnte allgemein als Justizreform angesehen werden. Versuche einer näheren Grenzziehung in der Wissenschaft135 128 Karl Rudolf Heinze (1865–1928), Reichsjustizminister vom 25. Juni 1920 bis zum 4. Mai 1921, erneut vom 22. November 1922 bis zum 12. August 1923 (Deutsche Volkspartei), 1918 sächsischer Justizminister. 129 Siehe JW 50 (1921), 811 ff. (814). 130 Triepel (1868–1946), Der Föderalismus und die Revision der Weimarer Reichsverfassung, Zeitschrift für Politik, 14 (1925), 193 ff. (227). 131 Triepel (Fn. 130), 228. 132 Er wusste, was der große Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) im Jahre 1921 geäußert hatte: „Auch die homogensten Regierungen in Preußen und im Reiche können sich nicht dauernd miteinander vertragen. Der Zwang, sich zu zanken, liegt in den Dingen selbst. Es gibt eine Fülle von Interessen, die ein und derselbe Staatsmann verschieden behandeln würde, wenn er auf einem preußischen und wenn er auf einem Reichsministerstuhle sitzen würde.“ Meinecke, Das preußisch-deutsche Problem im Jahre 1921. Abgedruckt in ders., Weltbürgertum und Nationalstaat, 1928, 542 ff. (543). 133 Thiesing, Zur Rationalisierung der Justizverwaltung, in: Preußisches Justizministerium (Hrsg.), Reformen in der Preußischen Justizverwaltung, 1928, 30 ff. (40). – Zu Thiesing s. auch oben Fn. 83. 134 Kisch, Unsere Gerichte und Ihre Reform, 1908, 11. Zu Wilhelm Kisch jetzt vorzüglich die von Hermann Nehlsen betreute Dissertation von Adlberger, Wilhelm Kisch – Leben und Wirken (1874– 1952), 2007. 135 Vgl. Stein, seinerzeit Professor in Halle, später bekannt als bedeutender Kommentator der Zivilprozessordnung, in seiner Schrift: Zur Justizreform. Sechs Vorträge, 1907, 82 f. „Das Schreibwerk den Richtern abzunehmen, hat der preussische Justizminister [gemeint ist hier Max von Beseler, s.o. Fn. 22] in ausserordentlich dankenswerter Weise versucht. Er hat die Gerichtsschreibereien angewiesen, den Richtern einen grossen Teil des Formularschreibwerks abzunehmen. (…) Aber es ist mehr zu tun.“
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blieben für die Pragmatik der ministeriellen Politik unbedeutend. In dem Gestrüpp der zahllos zu nennenden Reformvorschläge136 vor 1914, die sich in Aporien verlaufen hatten, bildeten die Schriften des einflussreichen Frankfurter Oberbürgermeisters und Rechtspolitikers Franz Adickes (1846–1915) eine Ausnahme137 und zunächst den stabilisierenden Pol, um den sich die Auseinandersetzungen rankten. Doch an seine Anregungen und mannigfaltigen Anstöße – prägnant zusammengefasst in seiner aufsehenerregenden Rede, die er als Mitglied des Preußischen Herrenhauses dort am 30. März 1906 unter Verwertung englischer Rechtsgedanken gehalten138 und die eine lebhafte Diskussion ausgelöst hatte –,139 konnte nach dem Krieg und der Umgestaltung der Staatsform nur noch vereinzelt angeknüpft werden.140 Adickes forderte „eine Minderung des Beamtenheeres durch starke Entlastung der Richter von Schreibwerk und anderer Arbeit, die Subalterne verrichten können (…), er empfiehlt Vereinfachung des Verfahrens, Einzelrichter für die ganze erste Instanz, Verkleinerung der Kollegien in höherer Instanz, Ausgestaltung des ersten und seltenere Anrufbarkeit des oberen Gerichtes. Damit verbindet er das Bestreben, die wenigeren Richter qualitativ auf die höchste erreichbare Stufe zu heben.“141 Nach dem Krieg aber und in gärenden Zeitläuften, in denen sich die Politik der drängendsten Tagesnöte anzunehmen hatte, waren solch weitreichende Pläne viel zu ambitioniert, da sie zum Teil reichsrechtlich, aber auch landesrechtlich und zudem koordiniert hätten geregelt werden müssen. Tiefe Einschnitte wären unter anderem nicht nur in das Beamtenrecht, sondern auch in das Gerichtsverfassungsgesetz erforderlich gewesen, und eine erfolgversprechende Prognose hierfür sah am Zehnhoff nicht. Darum sah er von einer grundsätzlichen Neuregelung des Rechts der preußischen Justizbeamten ab, er suchte aber nach einem günstigen Zeitpunkt, in dem sie in enger Abstimmung mit den vielfach wechselnden Reichsjustizministern – in der Weimarer Epoche hat die Leitung des Reichsjustizministeriums nicht weniger als 19 Mal gewechselt –142 hätte ins Werk gesetzt werden können.143 Zu Adickes’ ausgreifenden Plänen bemerkt die neuere Forschung: „Der Raureif des Krieges und der Nachkriegszeit war auf seine Blütenträume gefallen.“144 Ähnlich erging es auch den ins Einzelne gehenden Vorschlägen, die Max Zwiebel in einer 136 Allein bezogen auf die Juristenausbildung heißt es bei Max Ernst Mayer (1875–1924): „Als ob man in eine Hexenküche geraten sei, so ist einem zu Mut, wenn man von den vielen Töpfen, in denen Reformvorschläge gebraut werden, den Deckel hebt. Ein chaotischer Dunst schlägt uns entgegen.“ Mayer, Über die Reform des juristischen Studiums (Vortrag), 1913, 5. 137 Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, 1906; Zur Verständigung über die Justizreform, 1907. 138 Leicht zugänglich in DRiZ 43 (1965), 258 ff. 139 S. Weise, Einflüsse englischer Rechtsgedanken auf die Reformbestrebungen im deutschen Gerichtswesen vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, 1948, 77 ff. 140 Die Einflüsse von Adickes noch auf Eugen Schiffer legt Ramm dar: Eugen Schiffer und die Reform der deutschen Justiz, 1987, 37 ff. 141 So treffend der mit Adickes befreundet gewesene Berthold Freudenthal (1872–1929), im Jahre 1914/15 Dekan der juristischen Fakultät der Universität Frankfurt a.M., in einer Gedächtnisrede. Freudenthal, Franz Adickes, 1915, 9. 142 S. die Übersicht bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V I, 1981, 527. 143 Zu Recht heißt es noch bei Carl Lieber im Jahre 1929: „Eine Neuregelung des Beamtenrechts ist zwar beabsichtigt, aber noch nicht zur Ausführung gelangt.“ Lieber, Justizverwaltung, 2. Aufl., 1929, 14. 144 Kuhn/Hattenhauer (1931–2015), Deutsche Justizminister 1877–1977, 1977, 8 ff. (19).
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großen Abhandlung im Jahr 1914 in den angesehenen „Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“ veröffentlicht hatte.145 Es schien sich zu bewahrheiten, was Gerhard Anschütz (1867–1948), einer der führenden Staatsrechtslehrer seiner Zeit,146 auch mit Blick auf die Justizverwaltung kurz darauf scharf kritisiert hatte, nämlich „die von Jahr zu Jahr schärfer hervortretende Unmöglichkeit, die so vielseitig geforderte Reform der preußischen Verwaltungsverhältnisse in Gang zu bringen.“147 Noch schärfer waren die Töne, die Hugo Preuß (1860–1925) angeschlagen hatte: „Alle Instanzen haben unendlich viel zu tun, um die Genehmigung zu erlangen, etwas zu tun. Und die Hochflut des Aktenschreibwerks schwillt und schwillt.“148 Was gerade diesen Punkt betrifft, so sei aus der Vielfalt der Stimmen der Vorkriegszeit hier nur noch eine besonders bedeutsame hervorgehoben, nämlich diejenige der preußischen Richterschaft, weil sie sehr deutlich die Hilflosigkeit offenbart, mit der sie der eingesehenen Notwendigkeit von Neuerungen gegenüberstand. So hatte sich der 4. Preußische Richtertag mit der „Vereinfachung des Geschäftsganges bei den Justizbehörden“ befasst,149 aber von vornherein und grundsätzlich von allen Vorschlägen abgesehen, die eine Änderung bestehender Gesetze zur Folge gehabt hätten,150 so dass der Gutachter aus der Schilderung von Bagatellen und Kleinigkeiten farblose Forderungen an Justiz und Verwaltung ableitete,151 die mangels Bestimmtheit folgenlos blieben – nicht nur, weil der kurz darauf ausbrechende Weltkrieg und die anschließende Staatsumwälzung noch ganz andere Fragen an die Justiz stellten und am Zehnhoff zunächst andere Akzente setzte; Fragen einer Justiz(verwaltungs)reform aber behielt er unverändert im Auge.152
145 Zwiebel, Gedanken über die Möglichkeit von Modernisierungen der Staatsverwaltungstechnik, Annalen des Deutschen Reichs, 14 (1914), 321 ff., 424 ff., 614 ff., insbesondere 424 ff.: Gesetzgebung und Verwaltungstechnik. 146 Zu Anschütz jetzt gut Waldhoff, in: Häberle/Kilian/Wolff: Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts (s.o. im Text nach Fn. 10), 2015, 93 ff. 147 Anschütz, Gedanken über künftige Staatsreformen, in: Thimme/Legien (Hrsg.), Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, 1915, 42 ff. (43). 148 Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, 1910, 91. 149 Bericht über die Verhandlungen des 4. Preußischen Richtertages in Bielefeld am 1./2. Juni 1914, 1914. 150 Der Referent und Gutachter, Landgerichtsdirektor Dr. Freytag aus Torgau, betonte ausdrücklich, dass er seine Aufgabe nicht darin sehe, „solche Vorschläge zu unterbreiten, die nur mit einer wesentlichen Änderung der bestehenden Gesetze durchgeführt werden könnten. Damit würde ich mich verirren auf das unermessliche Gebiet der Neuregelung unseres ganzen Zivil- und Strafprozesses, ja sogar der Gerichtsverfassung, ich würde damit Fragen anschneiden, zu deren Erörterung der Preußische Richterverein viele Tage beisammen bleiben müßte.“ Bericht (Fn. 149), 13. 151 Zum Beispiel den vom Richtertag angenommenen 1. Leitsatz des Gutachters: „Richter und Gerichtsschreiber müssen sich selber und den Nachwuchs beider Beamtenklassen erziehen zu einer frischen, von jeder Schablone freien Arbeitsweise.“ Bericht (Fn. 149), 63. 152 S. insbesondere: Preußisches Justizministerium (Hrsg.), Reformen in der Preußischen Justizverwaltung, 1928, mit zahlreichen Beiträgen u.a. aus der Ministerialverwaltung und der Richterschaft. Die hier geschilderten Reformen sind sämtlich noch von am Zehnhoff angeregt oder aus seinem Hause begleitet worden, auch wenn die Schrift erst unter seinem Amtsnachfolger erscheinen konnte.
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5. Justizkritik und das Reformwerk am Zehnhoffs Der erste preußische Ministerpräsident nach der Staatsumwälzung, Paul Hirsch (1868– 1940), Regierungschef von 1918 bis 1920, hat in einer Grundsatzrede, die er noch vor der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 25. März 1919 gehalten hatte,153 weniger ein Regierungsprogramm, das noch im Einzelnen auszuarbeiten war, als Leitlinien vorgegeben. Der Rechtspflege hatte er nur eine kurze Bemerkung gewidmet154 und es seinem Justizminister am Zehnhoff überlassen, hier neue Wege zu bahnen. Wie im Reich überhaupt, so sah sich die Justiz in Preußen allgemein scharfer Kritik ausgesetzt, die von verschiedenen politischen Lagern mit wechselnden Standpunkten geäußert wurde. Hattenhauer spricht von einer „heute nicht mehr vorstellbaren Justizkritik“, sogar von einer „Verunsicherung der Justiz durch ein Übermaß an Kritik.“155 Es bedurfte einer starken Persönlichkeit mit erheblichem Durchsetzungsvermögen, bei den vielfach wechselnden Justizministern im Reich wenigstens für Preußen eine einigermaßen klare Linie zu halten. Es galt, zuerst die Rangfolge der zügig anzupackenden Probleme zu bestimmen und bei den sich häufig ändernden reichsgesetzlichen Initiativen und Themenverlagerungen rechtspolitisch Contenance zu wahren. Immerhin spricht die mit acht Jahren längste Amtszeit eines Justizministers in der Weimarer Republik für eine solche Persönlichkeit, denn es verdient hervorgehoben zu werden, daß am Zehnhoff es verstand, im Gezerre der Tagespolitik sein Haus nicht in den Sog geraten zu lassen, der das Reichsjustizministerium erfasst hatte, das „unangefochten von sich behaupten (durfte), daß es auch das am meisten gescholtene sei.“156 Fragen nach Reformen in der Justizverwaltung wurden, wie schon angedeutet, einstweilen zurückgestellt, zumal hier schon einiges geschehen war: Arthur Kochmann,157 der Berichterstatter für den preußischen Justizetat der Jahre 1919/20, hatte unwidersprochen ausgeführt: „Seit dem 9. November 1918 kann man feststellen, daß ein freierer Geist auch in der Justizverwaltung lebendig geworden ist. Ich darf daran erinnern, daß schon vor dem Amtsantritt des jetzigen Herrn Justizministers allgemeine Verfügungen von der Justizverwaltung erlassen sind, die den Beifall aller gefunden haben, die mit der Justizverwaltung zu tun haben.“158 Drängend war zunächst, in dem von lokalen Unruhen immer wieder heimgesuchten Preußen einer Forderung nachzukommen, der eine abgedankte Monarchie und eine junge, erst im Auf bau begriffene und noch ungefestigte parlamentarische Demokratie als Erstes zu entsprechen hatte, nämlich der Auf hebung der Standesvor153 Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/21, 1. Bd., 1921, 628 ff. 154 „Die Rechtspflege muß unter Aufrechterhaltung eines unabhängigen Richterstandes volkstümlich gestaltet werden.“ Sitzungsberichte (Fn. 153), 629. 155 Hattenhauer, Zur Lage der Justiz in der Weimarer Republik, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar, Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, 169 ff. (170 f.). 156 Hattenhauer (Fn. 155), 171. 157 Arthur Kochmann (1864–1944, Ende 1943 nach Auschwitz verschleppt), für die DDP im Pr. Landtag von 1919–1924, s. Löw, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, Bd. 3, 2012, 157. 158 Kochmann am 27. Juni 1919 in der Pr. Landesversammlung, s. Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/21, Bd. 3, 1921, 2701.
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rechte des Adels. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 bestimmte in Art. 109 Abs. 3 Satz 1: „Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben.“ Dies als Aufforderung an den Landesgesetzgeber zu begreifen, stand für am Zehnhoff von vornherein fest; doch die naheliegende Deutung, dass solche Vorrechte oder Nachteile nicht schon selbst von der Verfassung aufgehoben worden waren, war keineswegs so eindeutig, wie es der Wortlaut festlegte.159 Erst eine Entscheidung des Reichsgerichts vom 17. November 1921 hatte ausdrücklich klarstellen müssen, „daß Art. 109 Abs. 3 Satz 1 die öffentlichrechtlichen Vorrechte und Nachteile der Geburt oder des Standes nicht mit sofortiger Wirkung selbst auf hebt, sondern nur sagt, sie seien aufzuheben, und daß er damit ihre wirkliche Auf hebung dem je nach dem Gegenstande des einzelnen Vorrechts oder des einzelnen Nachteils zuständigen Gesetzgeber, dem Reiche oder den Ländern, überläßt. Daß Abs. 3 Satz 1 diese Bedeutung hat, ergibt der Wortlaut zur Genüge.“160
Am Zehnhoff indessen hatte dies nicht abgewartet – der Unterschied im Wortlaut zu § 137 der Paulskirchen-Verfassung, der ipso iure den Adel als Stand auf hob und in Abs. 2 formuliert hatte: „Alle Standesvorrechte sind abgeschafft“, war zu offensichtlich –, für ihn war zügiges Handeln geboten. Noch vor jener Reichsgerichtsentscheidung legte er der Preußischen Landesversammlung ein „Gesetz über die Auf hebung der Standesvorrechte des Adels und die Auflösung der Hausvermögen“ vor, das von dieser am 23. Juni 1920 verabschiedet wurde.161 Danach wurden die auf dem öffentlichen Recht Preußens beruhenden Vorrechte des bisherigen Adelsstandes einschließlich der Vorrechte der in den Artikeln 57 und 58 EGBGB genannten Familien aufgehoben (§ 1 Abs. 1 des Gesetzes) und dies in zehn besonders bedeutsamen Punkten konkretisiert (§ 1 Abs. 2 des Gesetzes), wobei vor allem der Wegfall der Rechte zu eigener Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit und die Auf hebung der Befreiung von öffentlich-rechtlichen Pflichten, Lasten und Abgaben hervorzuheben sind.162 § 41 des Gesetzes zählt nicht weniger als 79 Bestimmungen auf („Gesetze, Verordnungen, Instruktionen, Kabinettsorders, Erlasse, Konzessionsurkunden und Hauptrezesse“), die aufgehoben wurden. Es zeigt dies die ungeheure Kompliziertheit und Verwickeltheit der Materie, der sich am Zehnhoff anzunehmen hatte. Die erwähnten Bestimmungen zunächst in Erfahrung zu bringen, ihren Geltungsbeginn und Publikationsort ausfindig zu machen, in ihnen etwa bezeichnete Ausführungsvorschriften weiter zu ermitteln, stellte schon eine besonders intrikate Aufgabe dar, die ohne 159 Die Bestimmung hatte im Verfassungsausschuss zur Weimarer Verfassung zu langen und heftigen Debatten geführt. S. auch Ziegler, Die Deutsche Nationalversammlung 1919/20 und ihr Verfassungswerk, 1932, 142. 160 RGZ 103, 190 (192). 161 Preußische Gesetzsammlung, Jg. 1920, 367–382, sog. Adelsgesetz. 162 Später erfolgte aufgrund von § 39 des Adelsgesetzes die „Verordnung über den Namen der vormals landesherrlichen Familie“ vom 27. November 1923 (Pr. Gesetzsammlung, Jg. 1923, 548), wonach ua. Bezeichnungen wie „Deutscher Kaiser und König“, „Kronprinz“ usw. nicht mehr verwendet werden durften – eine verzweigte Kasuistik schloss sich an, die die Bedeutung der Materie hervorhebt. S. im Einzelnen die Spezialuntersuchung von Kisky, Der Name des vormaligen preußischen Königshauses, 1927 – eine Arbeit, die ausweislich des Vorworts am Zehnhoff „angeregt und mit regstem Interesse verfolgt und gefördert hat.“
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spezifisch rechtshistorische Vorbildung nicht zu leisten war. „Das Gesetz wurde in der Fassung der Regierung, d.h. des Justizministers, ohne Debatte fast einstimmig von der Landesversammlung angenommen. Es war das ein Erfolg Dr. am Zehnhoffs, wie es ähnliche nicht viele in der gesamten parlamentarischen Geschichte gibt.“163 Eine ähnlich komplizierte Materie, von deren hoher Bedeutung man sich heute kaum noch eine rechte Vorstellung macht, stellt das Rechtsinstitut der seit alters überkommenen sog. Fideikommisse dar. Diese weit verbreiteten und gebundenen Vermögensmassen, die meist aus größerem Grundbesitz bestanden und nach näherer Bestimmung des Stifters nur in einer bestimmten Familie im Mannesstamm vererblich waren (sog. Familienfideikommisse), banden große Flächen und entzogen sie so dem freien Verkehr.164 Sie stellten schon um die Jahrhundertwende eine heftig umstrittene Frage dar, die Max Weber in einer epochemachenden Abhandlung – für ihre Abschaffung plädierend – tiefschürfend, auch der Polemik nicht entratend, diskutiert hatte.165 Die Weimarer Reichsverfassung ordnete nun in Art. 155 Abs. 2 Satz 2 ihre Auflösung an. Nach Gerhard Anschütz ist dies „so zu verstehen, daß die hiermit für zuständig erklärte Landesgesetzgebung (…) verpflichtet ist, die Fideikommisse in freies, den allgemeinen Regeln des Erbrechts unterliegendes Eigentum zu verwandeln, und daß sie berechtigt ist, die zu diesem Zwecke notwendige Auf hebung fideikommissarischer Rechte auch ohne Entschädigung der Berechtigten vorzunehmen (…).“166 Dies leitete nun endgültig „den Übergang von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft“ ein167 und ergänzte die Abschaffung der Standesvorrechte. Dieser Abschaffung, die zu den ältesten demokratischen Forderungen gehörte, hatte sich am Zehnhoff mit besonderer persönlicher Aufmerksamkeit und eigenen Kenntnissen, die aus forensischer Anwaltstätigkeit stammten, zugewandt. Er wusste um die volkswirtschaftliche Bedeutung des gebundenen, meist adeligen Grundvermögens (zu dessen Verwaltung nicht selten Angestellte mit eigenen Versorgungsansprüchen gehörten) und kam dem Verfassungsbefehl aus Art. 155 Abs. 2 S. 2 WRV nicht schematisch und rigoros, sondern mit bemerkenswerten Modifikationen nach.168 Kamen die durch Fideikommisse betroffenen Familien einer freiwilligen Auflösung durch sog. Familienschluss nicht nach, so erfolgte die Zwangsauflösung der zum Teil sehr alten Kisky (Fn. 12), 3. Aus der kaum noch zu überblickenden Literatur gibt eine gute zeitgenössische Übersicht von Dietze (1891–1973), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Bd., 4. Aufl., 1926, sub voce: Fideikommisse, ebd. 993–1006; neuerdings Eckert, Der Kampf um die Familienfideikommisse in Deutschland: Studien zum Absterben eines Rechtsinstitutes, 1992. 165 Weber, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, N.F. 1 (1904), 503 ff. (573): „Die Möglichkeit bürgerlicher und briefadliger Fideikommißgründung überhaupt aber lenkt, indem sie die verächtliche Eitelkeit kitzelt, das bürgerliche deutsche Kapital von dem Wege ökonomischer Eroberungen in der weiten Welt in verstärktem Maße auf die Bahn der Schaffung von Rentiersexistenzen, die ohnehin im Zuge unserer protektionistischen Politik liegt.“ 166 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, hier zit. nach dem Ndr. der 14. Aufl., 1965, 724. 167 Bayer, Sukzession und Freiheit. Historische Voraussetzungen der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Auseinandersetzungen um das Institut der Familienfideikommisse im 18. und 19. Jahrhundert, 1999, 371. 168 Vgl. Sparr, Die Auflösung der Familiengüter in Preußen, 1921. 163
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Familienfideikommisse, was schwierigste Rechtsfragen aufwarf.169 Das Ergebnis war die „Verordnung über die Zwangsauflösung der Familiengüter und Hausvermögen (Zwangsauflösungsverordnung)“ vom 19. November 1920,170 die auch anderen Ländern als Preußen zum Vorbild diente und der sich am Zehnhoff mit eigenem Engagement, mit persönlichem Einsatz in der Ausarbeitung angenommen hatte. Der „Erhaltung der Wälder und anderer Bestandsteile im öffentlichen Interesse“171 wurden eigene Bestimmungen gewidmet, und für die Geschäfte der Auflösung wurden besondere Verwaltungsbehörden, sog. Auflösungsbehörden, gebildet.172 Zur Regelung der überaus zahlreich auftretenden Rechts- und Sachfragen waren immer wieder weitere Vorschriften, insbesondere Ausführungsbestimmungen, erforderlich, um in „der schwierigen Materie“ der „großen Anzahl von Zweifelsfragen“ Herr zu werden.173 Es kommt hinzu, dass über sog. Zwischenstaatliche Familiengüter einschließlich Hausvermögen, d.h. solche Familiengüter, deren Vermögen sich in verschiedenen Staaten bzw. verschiedenen deutschen Ländern befand, zahlreiche Vereinbarungen mit den in Betracht kommenden außerpreußischen Regierungen zu schließen waren,174 was die Kompliziertheit der Abwicklung noch steigerte. Kaum eine Rechtsmaterie stellte sich seinerzeit verwickelter dar, und die Annahme, dass nach erfolgter Auflösung die mit der Auflösungsgesetzgebung verfolgten Intentionen erledigt seien, war stark verfrüht.175 Politisch musste jetzt nämlich darüber entschieden werden, welchen Zwecken die nach der Auflösung gegebenenfalls veräußerten Ländereien, Waldungen usw. zuzuführen waren, wie bei Verschuldung einstiger Fideikommisse als Folge der Auflösung zu verfahren war und welche finanziellen Auswirkungen die Auflösung nach sich zog.176 Preußen hat diese Aufgabe – so die Grundthese des weitverzweigten Schrifttums – in vorbildlicher Weise gelöst, wobei sich das Justizministerium vorbehielt, in besonders gelagerten Fällen rechtlicher oder tatsächlicher Art Einzelfalllösungen zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist auch das günstige Urteil von Kisky verständlich: „Auf dem Gebiete des Fideikomißrechts wie der Sonderrechte des Adels war am Zehnhoff (…) seit Jahren eine der ersten Autoritäten in Deutschland, und seine Sachkenntnis kam der Modersohn, seinerzeit als Landgerichtsrat im preußischen Justizministerium tätig, gibt auf Veranlassung von am Zehnhoff einen guten Überblick über die sehr verwickelte Materie in seinem Werk: Die Auflösung der Familienfideikommisse und anderen Familiengüter in Preußen, 1921. 170 Preußische Gesetzsammlung, Jg. 1920, 463 ff. 171 So der 2. Abschnitt der Zwangsauflösungsverordnung, §§ 12–18. 172 So der 5. Abschnitt der Zwangsauflösungsverordnung, §§ 27–32: „Die Auflösungsbehörden und das Verfahren.“ 173 So Reichsgerichtsrat Huyke (1864–1923) in einer Besprechung des Werks von Modersohn (Fn. 169), JW 50 (1921), 512 f. (513). S. im Übrigen Ernst Kübler/Beutner, Die Auflösung der Familiengüter in Preußen. Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen mit ihren Begründungen nebst den Entscheidungen des Landesamts für Familiengüter, 1927. 174 So Ernst Kübler/Beutner (Fn. 173), Vorwort S. V unter Anführung zahlreicher zwischenstaatlicher Vereinbarungen. 175 So heißt es bei Ernst Kübler/Beutner (Fn. 173), Vorwort S. VII: „Wer glaubt, daß die Auflösungsgesetzgebung sich nur mit einem Niederreißen beschäftigt, ist nicht minder im Irrtum wie der, der in der Arbeit der Auflösungsbehörden nur vorübergehende Arbeit und die Betätigung eines für die Zukunft unfruchtbaren Spezialistentums sieht.“ 176 Speziell hierzu Oberdieck, Die bisherigen Auswirkungen der preussischen Gesetzgebung zur Auflösung der Fideikommisse, 1934, mit weiterführenden Literaturangaben ebd. 82–85. 169
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neuen Gesetzgebung in hervorragendem Maße zugute. Die Zwangsauflösungsverordnung, wie auch das Adelsgesetz sind sein eigenstes Werk. Bei beiden galt es, klar und nüchtern, unbeirrt von politischer Effekthascherei die Grundsätze des Rechts zu wahren. Die Fideikommisse waren im Kampf der Meinungen lediglich unter politischem Gesichtswinkel betrachtet worden; daß ihre volkswirtschaftliche und soziale Bedeutung viel größer ist als ihre politische, war wenig bekannt. Ihr mußte die Gesetzgebung aber auch Rechnung tragen, und so hat die Verordnung vom 19. November 1920 nicht einfach die schematische Auflösung vorgeschrieben, sondern eine Reihe von einschränkenden Bestimmungen getroffen und aus forstwirtschaftlichen Gründen die Bildung von (gebundenen) Waldgütern gestattet.“177
Das sog. preußische Adelsgesetz und die mit der Auflösung der Fideikommisse getroffenen Regelungen, die das Justizministerium über die parlamentarischen Hürden bzw. durch das Kabinett zu bringen vermochte, dürfen auch noch im Rückblick – weil ganz erhebliche Widerstände zu überwinden waren – als Leistungen gewertet werden, die am Zehnhoffs besonderes Engagement zeigen. Gleiches gilt für die hier nur kurz zu erwähnende Lösung, die die ungemein verwickelten Fragen der sog. Fürstenabfindung gefunden haben, wobei das Verhältnis zwischen dem preußischen Staat und den Hohenzollern nur eine wichtige Facette neben anderen betrifft.178 Das im März 1926 abgehaltene und positiv ausgefallene Volksbegehren zur entschädigungslosen Enteignung mündete aber am 20. Juni 1926 in den erfolglosen Volksentscheid, sodaß nunmehr Einzelverträge zur Abfindung zu schließen waren.179 „Nach dem Scheitern des Volksentscheids hatte Hindenburg den Reichskanzler [scil. Wilhelm Marx, B.M.] gebeten, seinen Parteifreund, den preußischen Justizminister am Zehnhoff, zu ‚einem baldigen Vergleichsabschluss‘ zu veranlassen. Dieser Bitte war der Reichskanzler nachgekommen. Ungeachtet der Schwierigkeiten, die die SPD-Fraktion des preußischen Landtags einem Vergleich in den Weg legen mochte, wirkte am Zehnhoff auf einen beschleunigten Vergleichsabschluß hin,“180 der schließlich zustande kam.181 Allgemein ist der Einschätzung von Kaufhold zuzustimmen, dass schon mit dem Volksentscheid der leidenschaftlich geführte Streit im Wesentlichen beendet war und die ohnehin schwieriger werdenden letzten Jahre der Republik nicht mehr belastete.182 Dies konnte am Zehnhoff als Erfolg verbuchen. Kisky (Fn. 12), 3. Vgl. Kaufhold, Fürstenabfindung oder Fürstenenteignung? Der Kampf um das Hausvermögen der ehemals regierenden Fürstenhäuser im Jahre 1926 und die Innenpolitik der Weimarer Republik, in: Schulz/Denzel (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, 2004, 261 ff. 179 Umfassend Schüren, Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926, 1978, 33: „Der preußische Justizminister am Zehnhoff (…) stellte sich hinter die Bemühungen, mit den Hohenzollern zu einem gütlichen Ausgleich zu kommen. Zwar leugnete er nicht die große politische Bedeutung eines solchen Vergleichs, lehnte es aber ab, eine Lösung der Konflikts ‚einseitig‘ im Wege der Gesetzgebung zu suchen. Eine befriedigende Regelung sei seiner Ansicht nach nur ‚auf der Grundlage des bestehenden Rechts (…) in einer Verständigung mit dem Königshause‘ zu finden.“ 180 Schüren (Fn. 179), 255. 181 Zu rechtlichen Aspekten vgl. Stentzel, Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik. Der Streit um die sog. Fürstenenteignung, Der Staat, 39 (2000), 275 ff. 182 Kaufhold (Fn. 178), 284 f. – Stark pointiert heißt es bei Eberhard Schmidt, Rechtsentwicklung in Preußen, 1923, 37, die preußische Gesetzgebung sei „vornehmlich“ darauf gerichtet gewesen, die letzten Reste ständischer Vorrechte zu beseitigen. – Über die Auseinandersetzung mit den vormals regierenden Fürsten berichtet aus zeitgenössischer Sicht instruktiv der ehemalige Reichsjustizminister Bell: 177 178
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6. Kriegsfolgen und weitere Reformschritte Unmittelbar infolge des verlorenen Krieges traten weitere Aufgaben an das Justizministerium heran, die in Friedenszeiten außerhalb seiner Reichweite lagen, ja an die überhaupt nicht zu denken war. Hiervon soll nur ein bedeutender Teilbereich angesprochen werden. Große und nicht aufschiebbare Probleme kamen nämlich auf das preußische Justizministerium zu, als infolge des Versailler Vertrages durch die Abtretung von Teilen preußischer Gebiete nunmehr für die dort beschäftigt gewesenen Justizbediensteten, Richter und nichtrichterlichen Beamten und Angestellten, zu sorgen war. Geradezu immens und stark verzweigt waren die Aufgaben, die sofortiger Lösung bedurften. „Am dringlichsten war die Zurückführung der mehr als 3500 Beamten und Angestellten der Justizverwaltung aus den Abtretungsgebieten, die Fortschaffung ihrer Familien und ihres Besitzes, ihre Versorgung während der Übergangszeit, ihre dienstliche und räumliche Unterbringung im verbliebenen Staatsgebiete, ferner die Sorge für die in den Abtretungsgebieten zurückbleibenden Ruhestandsbeamten und Hinterbliebenen. (…) Dazu kam die Übergabe der Justizgebäude nebst Einrichtung, der Strafanstalten nebst ihrer Belegung, der Akten, Grundbücher, Register, Büchereien usw. Die rückständigen Kosten waren beschleunigt einzuziehen, die Kassen abzurechnen, die Hinterlegungsmassen, die Personalakten der abgewanderten Beamten nach Deutschland zu bringen und dergleichen mehr.“183
Da diese Aufgaben zum Teil auch genaue Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten und Usancen erforderten, setzte am Zehnhoff sog. Überleitungs- und Abwicklungskommissare ein, die vor Ort tätig und die am Zehnhoff unmittelbar unterstellt waren.184 Dabei auftretende Zweifelsfragen allgemeiner Art entschied der Minister selbst. Bei allem unabweisbar erforderlichen Improvisationstalent war doch darauf zu achten, dass sich die Abwicklung in den verschiedenen Abtretungsgebieten möglichst gleichförmig vollzog. Einen besonderen Schwerpunkt stellten für am Zehnhoff Fragen der Strafrechtsreform dar, die sich nach Vorlage des Entwurfs eines neuen Reichsstrafgesetzbuches ergaben.185 In einer großen und grundsätzlichen Rede, die er im Preußischen Landtag am 15. Juni 1921 anlässlich der Beratung des Justizetats gehalten hat, ist er ausführlich darauf eingegangen.186 Weniges kann nur hervorgehoben werden. So führte Verfassungsleben und Rechtspflege seit Weimar, in: Schulte (Hrsg.), Nationale Arbeit. Das Zentrum und sein Wirken in der deutschen Republik, 1929, 389 ff. (407 ff.). Ebd. 418 f.: Nach langen und zeitraubenden parlamentarischen Auseinandersetzungen sowohl im Reichstag als auch im Preußischen Landtag „wurde am 6. Oktober 1926 unter Zustimmung der gesetzgeberischen Faktoren zwischen dem preußischen Staat und den Mitgliedern des vormals regierenden Königshauses ein Vergleich geschlossen, den der preußische Finanzminister Dr. Höpker-Aschoff (…) ausdrücklich als angemessene und befriedigende Lösung bezeichnete.“ – Am Zehnhoff hatte sich durchzusetzen vermocht, denn für den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (1872–1955) fiel der Vergleich „für den Staat nicht so günstig aus, wie es mir erwünscht gewesen wäre“. Braun, Von Weimar zu Hitler, 1949, 114. 183 Thiesing (Fn. 83), 155 f. 184 Thiesing (Fn. 83), 156. 185 Zu den verschiedenen Reformentwürfen s. Vormbaum, Reform des Strafgesetzbuchs 2. 1922 bis 1939: Sammlung der Reformentwürfe, 2008. 186 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 2. Band (6. Juni bis 15. Juli 1921), 1922, 1771 ff.
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er aus, dass bei jenem Entwurf die preußische Justizverwaltung „wesentlich mitgearbeitet“ habe, dass aber mit Rücksicht „auf dieses hoffentlich in der nächsten Zeit zur Verabschiedung kommende Reformwerk“ Einzelreformen zurückzustellen seien, es sei denn, dass sie besonders dringlich wären.187 Keinen Aufschub duldete für ihn die – schließlich erfolgreich – beim Reich angeregte Änderung der Vorschriften über Geldstrafen und den Wegfall kleinerer Gefängnisstrafen zugunsten von Geldstrafen. Geldstrafen sollen nur noch verhängt werden, legte er dar, „mit Rücksicht auf die Vermögensverhältnisse derjenigen, die von den Strafen betroffen werden. Auf der anderen Seite aber soll bei der Verhängung von Geldstrafen, wenn der Betroffene mittellos ist, Milde walten können. Es soll dem Richter Gelegenheit gegeben werden, Teilzahlungen zu gewähren oder den ganzen Betrag zu stunden. Freiheitsstrafen sollen, wenn sie nicht mehr als einen Monat betragen, durch Geldstrafen ersetzt werden können. Diese Bestimmung ist meines Erachtens sehr segensreich. Ich halte die kleinen Gefängnisstrafen für sehr schädlich. Wenn ein Mann wegen einer Kleinigkeit ins Gefängnis gekommen ist und den Ruf verloren hat, dann ist er leicht geneigt, auf diesem Pfade weiter zu wandeln. Ich begrüße deshalb alles, was dazu führt, die kleinen Gefängnisstrafen möglichst zu beseitigen.“188
Auch hier konnte am Zehnhoff sich durchsetzen. Was den Strafvollzug betrifft – eine Materie, der er lebenslang Aufmerksamkeit gewidmet hat –, so trat er nachdrücklich dafür ein, dass er „im weitgehendsten Maße“ alle Gesichtspunkte berücksichtige, die geeignet seien, ihn „den neuzeitlichen Verhältnissen anzupassen und ihn mit sozialem Geiste zu erfüllen.“189 Heinrich Hölscher, Staatssekretär im preußischen Justizministerium von 1927 bis 1932, legte später ergänzend dazu dar, in der Strafanstalt sei „alles zu versuchen, um das äußerste zu verhüten, daß nämlich der Verbrecher zu den ‚Unverbesserlichen‘ gehört und damit der (…) notwendigen Sicherungsverwahrung“ anheimfalle.190 Ganz neue Töne schlug er an, als er – ganz im Sinne am Zehnhoffs – ausführte, man müsse Verständnis dafür haben, „daß mancher ohne Liebe in Not und Elend aufgewachsen ist, nicht betreut von einer sorgenden Mutter, nicht umhegt von liebenden Angehörigen, daß es nicht immer bloß die Schuld des Täters ist, daß alles so kam, wie es gekommen ist.“191 Der Gefangene müsse fühlen, dass er nicht der Willkür preisgegeben, dass ihm vielmehr eine gesicherte Rechtsstellung gegeben sei und dass ihm insbesondere das Beschwerderecht zustehe.192 Ohne ein beständiges Hinwirken von am Zehnhoff auf den „sozialen Gedanken“ wäre eine solche Änderung der preußischen Sichtweise kaum denkbar gewesen,193 und es ist Preußens Einfluss zuzuschreiben, wenn schon seinerzeit betont wurde, dass der gesamte moderne Strafvollzug „von der Pflicht zur sozialen Einordnung“ diktiert Sitzungsberichte des Preußischen Landtags (Fn. 186), 1772. Sitzungsberichte des Preußischen Landtags (Fn. 186), 1772 f. 189 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags (Fn. 186), 1775. 190 Hölscher (1875–1947 (Todeserklärung)), Strafzweck und Strafvollzug, in: Preußisches Justizministerium (Hrsg.), Strafvollzug in Preußen, 1928, 1 ff. (2). 191 Hölscher (Fn. 190), S. 3. 192 Hölscher (Fn. 191). 193 Auch im Zivilprozess sollte nach am Zehnhoff „der soziale Gedanke der Schlichtung durch billigen Vergleich mehr als bisher betont werden, und es soll deshalb ein dem ordentlichen Prozessverfahren vorangehendes Güteverfahren eingeführt werden,“ am Zehnhoff (Fn. 186), 1771 f. 187
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sei, obwohl man noch in den Anfängen stecke.194 Diese Anfänge erhielten einen starken Auftrieb durch am Zehnhoff, der schon kurz nach seinem Amtsantritt dafür eingetreten ist, dass den entlassenen Gefangenen besondere Fürsorge des Staates zuteil wird. Rudolf Amelunxen, der persönlicher Referent des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun gewesen ist,195 berichtet, dass am Zehnhoff bei seinen neuen Wegen der Fürsorge für entlassene Strafgefangene die Erkenntnis bestimmt habe, dass für viele aus den Gefängnissen Entlassene die Strafe erst mit der wiedererlangten Freiheit beginne. Jede zweckvolle Resozialisierungsmaßnahme – davon sei am Zehnhoff überzeugt gewesen – verringere die Gefahr der Rückfälligkeit.196 Besonders auch der für die Allgemeinheit bestehenden „Gefahr, daß der Gefangene die Strafanstalt schlechter verläßt, als er sie betreten hat“,197 sei nach Kräften zu begegnen. Beharrlich verfolgte er die seinerzeit nicht unumstrittenen Bestrebungen, im Strafvollzug die resozialisierenden Gesichtspunkte stärker zu Geltung kommen zu lassen als den bis dahin dominierenden Vergeltungsgedanken. „Zehnhoff hatte den Strafvollzug reformiert und ihn fortschrittlichen Strafvollzugsämtern übertragen, zu deren Leitern er Richter bestellte, die Lebenserfahrung besaßen und soziales Empfinden bewiesen hatten.“198 Die eingehenden Vorschriften, die nach längerer Planung und Abstimmung von Reichsseite ausgearbeitet wurden, zeigen die Handschrift des preußischen Justizministers. Es sind dies die „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen“ vom 7. Juni 1923,199 die einen eigenen Abschnitt „Fürsorge für die Gefangenen nach der Entlassung“ enthalten (§§ 225 bis 229). Erfolgreich drang der Minister darauf, dass folgender § 225 in die Grundsätze aufgenommen wurde: „Während des Strafvollzugs ist darauf Bedacht zu nehmen, daß dem Gefangenen für die Zeit nach seiner Entlassung passende Unterkunft und Arbeit gesichert wird. Zu diesem Zwecke sind alsbald nach der Aufnahme des Gefangenen dessen Lebensverhältnisse zu ermitteln; soweit erforderlich, ist mit den Angehörigen, früheren Arbeitgebern und anderen dem Gefangenen nahestehenden Personen in Verbindung zu treten. Wegen der Beschaffung von Arbeitsstellen ist ständig mit den Arbeitsnachweisämtern Fühlung zu halten.“ Es war nur konsequent, dass kurz nach diesen vom Reich erlassenen „Grundsätzen“, die humanen Geist atmeten, die „Dienst- und Vollzugsordnung für die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen“ vom 1. August 1923 in Kraft trat, die vom selben Geist erfüllt war.200 Noch im Jahre 1928 hob Staatssekretär Hölscher hervor, dass die Sorge für die entlassenen Gefangenen „von größter Bedeutung“ sei; 194 Koch, Der soziale Gedanke im Strafvollzug, in: Bumke (Hrsg.), Deutsches Gefängniswesen, Ein Handbuch, 1928, 384 ff. (391). 195 Zu Amelunxen s. auch oben Fn. 62. 196 So Amelunxen, Ehrenmänner und Hexenmeister. Erlebnisse und Betrachtungen, 1960, 191. 197 Bumke (1874–1945, Reichsgerichtspräsident von 1929–1945, 1928 noch Ministerialdirektor im Reichsjustizministerium), Die Freiheitsstrafe als Problem der Gesetzgebung, in: ders. (Fn. 194), 16 ff. (20). 198 Amelunxen (Fn. 196). 199 RGBl. II, 263 ff. 200 Amtliche Ausgabe Berlin 1923. Eingehende Erläuterungen dieser „DVO“ finden sich in dem am Zehnhoff zugeeigneten Werk von Klein – seinerzeit Ministerialdirektor im Preußischen Justizministerium –: Die Vorschriften über Verwaltung und Vollzug in den Gefangenanstalten der Preußischen Justizverwaltung, 4. Aufl., 1924, 34 ff.
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die Entlassung müsse sorgfältig und von langer Hand vorbereitet werden, „jedem Entlassenen muß Arbeitsgelegenheit nachgewiesen, wenn das nicht möglich ist, muß ihm angegeben werden, wo er wenigstens Unterkommen und Verpflegung, Unterstützung durch Rat und Tat findet und betreut wird, bis seine Zukunft ausreichend gesichert ist.“201 Auch die Neuordnung des Gnadenwesens, die am Zehnhoff schon kurz nach Amtsantritt durch seine „Allgemeine Verfügung vom 19. Juni 1919 über die Zuständigkeit und das Verfahren in Gnadensachen“202 in die Wege geleitet hat, gehört in diesen Zusammenhang; die Staatsanwaltschaft als selbständige Bearbeiterin von Gnadensachen wurde damit abgeschafft.203 Ebenfalls vom 19. Juni 1919 datiert am Zehnhoffs „Allgemeine Verfügung über die Bildung örtlicher Beiräte bei den größeren Strafanstalten.“204 Besonderes Gewicht wurde ferner auf die Ausbildung der höheren Justizbeamten im Gefängniswesen gelegt.205 Die von am Zehnhoff angestoßenen Reformen sind sodann von seinem Nachfolger im Ministeramt Hermann Schmidt206 tatkräftig aufgegriffen und fortgeführt worden, wovon das vom Preußischen Justizministerium herausgegebene Werk „Strafvollzug in Preußen“207 eingehend Zeugnis ablegt;208 doch fanden die wichtigen Reformschritte so gut wie keine Beachtung in der Öffentlichkeit. Es traf zu, was Hans Bell, Reichsjustizminister von Mai 1926 bis Januar 1927 und einflussreiches Mitglied der Zentrumspartei,209 ausgeführt hatte, dass nämlich die „hochbedeutsame Reform“ des gesamten deutschen Strafvollzugs in breitesten Volksschichten „nicht annähernd das verdiente und unbedingt erforderliche Interesse“ finde. Diese beklagenswerte Tatsache gelte allerdings allgemein für die deutsche Rechtsentwicklung und Justizreform; nur wenige besonders sensationell ausgestaltete Problemfragen der Justiz erfreuten sich einer Anteilnahme der nicht zur „zünftigen Justiz“ gehörenden Kreise.210
7. Die Regelungen zur Altersgrenze Eine ganz andere und schwierig zu bewältigende Aufgabe erwuchs dem preußischen Justizministerium durch das von der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung beschlossene „Gesetz, betreffend Einführung einer Altersgrenze“ vom 15. Dezember 1920.211 § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes ordnete an, dass „richterliche Beamte (…) mit dem auf die Vollendung des 68. Lebensjahres zunächst folgenden 1. April Hölscher (Fn. 190), 8. Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 81 (1919), 341 f. 203 S. hierzu auch Friedersdorf, Einführung in die staatsanwaltliche Praxis, 1927, 5. 204 Justiz-Ministerial-Blatt (Fn. 202), 342. 205 S. Schwister, Über die Ausbildung der höheren Justizbeamten im Gefängniswesen, in: Preußisches Justizministerium (Hrsg.) (Fn. 190), 9–19. 206 Hermann Schmidt (1880–1945), seit 1927 Senatspräsident am Kammergericht in Berlin, im selben Jahre am Zehnhoff im Amt als pr. Justizminister nachfolgend (bis 1933), Mitglied des Preußischen Landtags von 1924 bis 1933. 207 Hölscher (Fn. 190). 208 Dazu auch die Besprechung von Bell, JW 57 (1928), 2967 f. 209 Zu Johannes (Hans) Bell s. schon oben Fn. 113. 210 Bell, Reform des Strafvollzugs und deutsches Gefängniswesen, JW 57 (1928), 2954. 211 Preußische Gesetzsammlung 1920, 621 f. 201
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oder 1. Oktober kraft Gesetzes in den Ruhestand“ treten. Dies hatte für die preußische Justiz einen Aderlass zur Folge, weil dadurch am 1. April 1921 nicht weniger als 1129 Richter in den Ruhestand traten, darunter „zahlreiche Beamte in hohen Stellungen, z.B. je 4 Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte, 6 Vizepräsidenten und 5 weitere Senatspräsidenten, 22 Landgerichtspräsidenten und 15 Oberstaatsanwälte.“212 Um bei der Nachbesetzung insbesondere der höheren Stellen keine allzu lange Vakanz eintreten zu lassen, gab das Justizministerium acht Vortragende Räte aus den eigenen Reihen ab, um freigewordene Stellen von Oberlandesgerichtspräsidenten und von Landgerichtspräsidenten zügig neu zu besetzen. Der Personalabbau als einschneidende und nachhaltige Maßnahme, die die Justiz besonders hart traf, wurde vor allem vom preußischen Finanzministerium durch die Regelungen zur Altersgrenze forciert, denn nicht alle frei gewordenen Stellen wurden neu besetzt – einige blieben über einen längeren Zeitraum bewusst unbesetzt, andere wurden eingezogen. Noch im Jahre 1924 berichtet am Zehnhoff im preußischen Landtag, dass nach Ansicht des Finanzressorts für die Zeit bis Ende März 1924 „die unmittelbare Gefahr eines Zusammenbruchs der Staatsfinanzen“ bestanden habe.213 Dies erklärt auch, dass nach jenem Gesetz vom 15. Dezember 1920214 eine preußische Verordnung vom 8. Februar 1924 erging, die die Altersgrenze nunmehr auf 65 Jahre herabsetzte,215 was die Lage der Justiz erneut verschärfte. Allein das Preußische Oberverwaltungsgericht verlor fast die Hälfte seiner Richter,216 was umso schwerer wog, als nach Aussage seines Präsidenten Bill Drews217 jeder neu eintretende Richter „mindestens fünf Jahre – auch die Begabten unter uns – braucht, um auf die volle Höhe der Leistungsfähigkeit und der Beherrschung der Rechtsprechung zu gelangen.“218 Fritz Stier-Somlo (1873–1932), seinerzeit Rektor der Kölner Universität, hat in einem Referat vor dem 5. Preußischen Richtertag vor den „allerbedenklichsten Folgen“ der Altersgrenzenregelungen gewarnt und beabsichtigte Sparerfolge bezweifelt: „Nicht nur wird eine große Anzahl von hervorragend tüchtigen Richtern, obwohl die körperlich und geistig noch vollkommen leistungsfähig sind und über eine unersetzliche Berufstüchtigkeit verfügen, dem Staate entzogen und vielfach durch Persönlichkeiten ersetzt, denen die erworbene reiche Erfahrung unmöglich zur Verfügung stehen kann. Das geschieht aber auch in einer Zeit höchster finanzieller Schwierigkeiten des Reiches und der Länder, es werden der gesunde und befähigte sogenannte alte und der neue Richter gleichzeitig besoldet bzw. durch Pension erhalten.“219 212 Thiesing (Fn 83), 156. – Der aus der Ministerialverwaltung hervorgegangene Staatsrechtler Hans Helfritz (1877–1958) berichtet, das Gesetz vom 15. Dezember 1920 „entzog und entzieht weiter dem Staate viel ausgezeichnete Arbeitskräfte. Sein Erscheinen wirkte auf die Stimmung in den Kreisen der Beamtenschaft vernichtend.“ Helfritz, Die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Preußen seit Inkrafttreten der neuen Verfassung, JöR XIV (1926), 232 ff. (247). 213 So am Zehnhoff in der 307. Sitzung des pr. Landtags vom 21. März 1924, Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode, 15. Bd., 1924, 21742. 214 Preußische Gesetzsammlung (Fn. 211). 215 Preußische Gesetzsammlung 1924, S. 73. 216 S. Martiny, Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik, 1976, 201 mit aussagekräftiger Fn. 19. 217 Zu ihm oben in und bei Fn. 79. 218 Drews, Reden bei der Gedenkfeier anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts am 20. November 1925, 1926, 1 ff. (21). 219 Stier-Somlo, Grundprobleme des deutschen und preußischen Verfassungsrechts, Verhandlungen
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Am Zehnhoff, der solche Bedenken teilte, konnte sich jedoch gegen die Regelungen zur Altersgrenze politisch nicht durchsetzen, da das preußische Innenministerium hier den restriktiven Kurs des Finanzministeriums stützte und damit der speziellen Situation im Justizbereich nicht eigens Rechnung getragen wurde. Es trafen jene Regelungen die Justiz umso härter, weil sonst gerade in der Personalpolitik am Zehnhoff stark darauf achtete, dass sich andere Ressorts nicht einmischten. So suchte er dem von seinem Freunde Wilhelm Marx (1863–1946) – dem langjährigen Fraktionskollegen aus gemeinsamer Zeit im Reichstag und späteren Reichskanzler – schon früh erbrachten Nachweis, „daß mit Recht in katholischen Kreisen bittere Klage darüber geführt wird, daß der katholische Volksteil bei der Besetzung namentlich der höheren Richter- und Verwaltungsstellen ungemein stark zurückgesetzt wird,“220 dadurch zu begegnen, dass hier – proportional dem Bevölkerungsanteil – annähernd Parität angestrebt wurde. Amelunxen berichtet: „In der Personalpolitik förderte er die Parität. Um die war es im alten Preußen miserabel bestellt gewesen. Er berief die tüchtigsten Männer auf die wichtigsten Amtssessel, ohne Rücksicht auf Abstammung, Taufschein und Parteibuch.“221 Durch die Altersgrenze verlor am Zehnhoff im Jahre 1923 eine wichtige Stütze im Ministerium, Oskar Mügel,222 der seit 1890 im Hause tätig war, es in allen Einzelheiten kannte und dem insbesondere die sog. kleine Justizreform zu verdanken war, die ohne Kollision mit Reichsrecht möglich war und daher vom Minister tatkräftig befördert wurde; sie zielte insbesondere auf die Entlastung der Richter, zum Beispiel durch weitgehende Übertragung richterlicher Geschäfte auf die Gerichtsschreiber.223 Schon seit 1917 war Mügel Staatssekretär des Justizministeriums gewesen, den am Zehnhoff bei seinem Amtsantritt als besonders erfahrenen Mitarbeiter übernommen hatte.224 Soweit Mügels Vorschläge vom Minister weitergeführt wurden, „sollten sie des 5. Preußischen Richtertages und der Vertreterversammlung des Preußischen Richtervereins zu Cassel am 10. und 11. Oktober 1926, 1926, 31 ff. (37). 220 Marx (damals noch Oberlandesgerichtsrat in Düsseldorf ), Richter und Justizverwaltung, in: Bozi/Heinemann (Hrsg.); Recht, Verwaltung und Politik im Neuen Deutschland, 1916, 33 ff. (47 f.). 221 Amelunxen (Fn. 196), 192. – Die in der Regel aussagekräftige Arbeit von Behrend, Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern, Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 6 (1957), 173 ff., pauschaliert in ihrer Schlussfolgerung zu stark, wenn sie (ebd. 177) ausführt: „Die in der Monarchie durchweg einseitige Bevorzugung von Protestanten in der Verwaltung – selbst in den katholischen Landesteilen – ließ die Zentrumspartei noch 1918 deutliche personelle Forderungen anmelden, denen gegenüber sich der sozialdemokratische Koalitionspartner recht großzügig zeigte.“ Joseph Joos berichtet von einem Paritätischen Ausschuss, der sich „um Ausräumung konfessioneller Ungleichheiten in der Besetzung von Beamtenstellen im neuen Volksstaat bemühte“ und dem von evangelischer Seite u.a. Reichsgerichtspräsident Walter Simons (1861–1937) angehört habe. Joos, Am Räderwerk der Zeit, 1951, 113. 222 Zu Oskar Mügel (1858–1947) eingehende Angaben in: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Bd. 2 , 1931, 1277: „Am 1.4.1923 wurde er infolge der Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand versetzt.“ 223 Zur allmählichen Erweiterung der Aufgaben des Gerichtsschreibers hin zu einer Stellung als Rechtspfleger s. Sarkamm, Der Rechtspfleger in der Justizverwaltung, 2. Aufl., 1927, 14 f. 224 Rückblickend führte Mügel, nach fast 33jähriger Tätigkeit im Ministerium, aus: „Nachdem ich durch Allerhöchsten Erlaß vom 19. Jan. 1917 zum Kommissar zur Vorbereitung einer landesrechtlichen Justizreform bestellt worden war, habe ich dem Staatsministerium am 25. Jan. 1918 eine Denkschrift (Grundzüge einer landesrechtlichen Justizreform) vorgelegt, die im Mai 1919 veröffentlicht worden ist, nachdem mein Auftrag nach der Staatsumwälzung erneuert worden war. Die in diesen Grundzügen
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sich als bahnbrechend für die Justizreform der Weimarer Republik“ erweisen.225 Dem insofern recht allgemein gehaltenen Urteil von Möller – „So führte der Justizminister am Zehnhoff, den Ministerpräsident Braun menschlich sehr schätzte, sein Ministerium organisatorisch an der langen Leine und politisch in durchaus konservativem Geist, der die beabsichtigte Justizreform nicht förderte“ –226 kann hiernach nicht gefolgt werden. Es waren zudem reichsrechtliche Vorgaben, die erforderlich waren, aber auf sich warten ließen und ohne die die Landesgesetzgebung nicht zu Reformen größeren Stils ausholen konnte – einschneidende Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes etwa waren Sache des Reiches –; was von Landesseite getan werden konnte, hat die sogenannte Kleine Justizreform unter am Zehnhoff und seinem Nachfolger in Preußen ins Werk gesetzt.227
V. Ausklang. Ende der Ministerzeit und Tod Bei alledem war behutsam und nicht mit Aplomb vorzugehen, da die zu Anfang der Republik bestehenden und latent immer noch vorhandenen Spannungen zwischen Justiz und Verwaltung nicht wieder verstärkt werden sollten.228 Hierin waren sich der maßvoll agierende sozialdemokratische preußische Innenminister Carl Severing (1875–1952) und der nicht minder mit Augenmaß vorgehende preußische Justizminister am Zehnhoff (Zentrum) bei im Übrigen sehr gutem persönlichem Verhältnis einig. Ihnen war bewusst, dass sich eine übergreifende Reform, die auch die Justiz in den anderen Ländern erfasste, reichsrechtlich erst erreichen ließ, „wenn auch das Prozeßverfahren – insbesondere der Instanzenweg – vereinfacht und der Parteibetrieb eingeschränkt ist. Immerhin bieten die im Rahmen der Gesetze getroffenen organisatorischen Maßnahmen der Justizverwaltung die Möglichkeit wesentlicher Verbesserungen.“229 Diese Möglichkeit wurde von Preußen, auch auf dem Gebiet der Arbeitsverteilung und der technischen Ausstattung, der Arbeitstechnik, zum Beispiel der Einführung der Einheitskurzschrift, umfänglich genutzt.230 vorgeschlagenen Maßnahmen sind inzwischen zu einem erheblichen Teile verwirklicht worden, insbes. durch die Übertragung der selbständigen Erledigung richterlicher Kräfte auf Bureaubeamte (sog. kleine Justizreform).“ Mügel, Zur Justizreform, JW 57 (1928), 2687. 225 So die Bewertung von Ramm (Fn. 140), 43, der auch betont, dass die Vorschläge noch für Eugen Schiffer von Bedeutung waren. 226 Möller, in: Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der Preussischen Geschichte, Bd. 3, 2001, 246. 227 Im Einzelnen muss auf die große Denkschrift von Mügel (Fn. 224) verwiesen werden. – Einen guten Überblick über den – reichsrechtlichen – Stand von 1921 über Desiderata einer Justizreform gibt der angesehene Leipziger Prozessualist Wach (1843–1926) im Handbuch der Politik, Bd. 3, 3. Aufl., 1921, 176 ff. 228 Nach einer Aussage von Fritz Stier-Somlo (zu ihm oben in und bei Fn. 219) aus dem Jahre 1920 sind „die großen Zusammenhänge und Gegensätze zwischen Justiz und Verwaltung (…) ein Spiegelbild der großen innerlichen Schwierigkeiten und Verwicklungen, die das öffentlichrechtliche Leben unserer Zeit darbietet.“ Stier-Somlo, Justiz und Verwaltung, in: Laband u.a. (Hrsg.), Handbuch der Politik, Bd. 1, 3. Aufl., 1920, 296 ff. (301). 229 So Sieberg, in: Stier-Somlo/Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, 3. Bd., 1928, sub voce: Justizverwaltung, 441 ff. (457). 230 Einzelheiten bei Sieberg (Fn. 229).
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Das überwiegend persönlich gute Einvernehmen insbesondere zwischen den sozialdemokratischen Ministern und denen des Zentrums war, auch bei sachlichen Differenzen, ein tragender Grund für die – verglichen mit den oft wechselnden Reichsregierungen – relative Stabilität der preußischen Regierungen, vor allem unter der dominierenden Gestalt Otto Brauns. Überhaupt bot die sogenannte Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP eine erstaunlich verlässliche Basis, zumal der Leiter der sozialdemokratischen Landtagsfraktion von 1921 bis 1933, „Heilmann und der Fraktionsführer des Zentrums, Joseph Heß, sich persönlich und politisch ausgezeichnet verstanden.“231 Hömig spricht bei Heß von „seiner überlegenen Strategie in der Handhabung der Koalitionspolitik,“ dessen Einfluss es zuzuschreiben war, „daß seine Fraktion nach den Landtagswahlen vom Dezember 1924 die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten nicht auf kündigte.“232 Dem entsprach das Verdienst Heilmanns,233 der als „eine der großen Gestalten der Weimarer Republik“ alle Schwierigkeiten ausräumte, „die in der Fraktion oder im Landtag selbst Otto Braun hätten entgegentreten können“, und er hat damit „zu der langen Aufrechterhaltung der Weimarer Koalition in Preußen beigetragen.“234 Am Zehnhoff musste es daher gelegentlich hinnehmen, wenn Heß und Heilmann „die Beförderungsstellen unter sich aushandelten,“235 wenngleich er bei Heß seine Vorstellungen meist durchsetzen konnte, da fachspezifische Qualifikationen und menschliche Qualitäten im Justizbereich ein unverzichtbares Essential waren und sind und demgegenüber das Parteibuch nicht den Ausschlag geben durfte. Hierin war sich am Zehnhoff auch mit dem einflussreichen sozialdemokratischen Parlamentarier im Reichstag, Friedrich Stampfer (1874–1957), einig, der betont hatte, dass nicht der juristische Scharfsinn allein, sondern auch „die allgemeine Weltkenntnis und die Vornehmheit der Gesinnung“ es seien, die den guten Richter ausmachten.236 Dies deutet schon auf die hohe Bedeutung hin, die am Zehnhoff neben der vorausgesetzten fachlichen Eignung den menschlichen Qualitäten beimaß. Heinrich Brüning berichtet in seinen Memoiren, dass am Zehnhoff bestrebt war, „die besten der jungen Assessoren für das Gerichtswesen zu erhalten. Um Ihre Fähigkeiten und ihren Charakter persönlich kennenzulernen, bestimmte er einen Tag in der Woche, an dem er sich mit den jungen Leuten persönlich unterhielt, die ein gutes Assessorexamen bestanden hatten.“237 Dem entsprach schließlich auch die Forderung des preußischen Innenministeriums für die Verwaltungsbeamten, dass sie neben der Fachkenntnis „Eigenschaften besitzen müssen, für die es keine Examina gibt.“238 231 Lösche/Heilmann, Sozialdemokratischer parlamentarischer Führer im Preußen der Weimarer Republik, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33 (1982), 420 ff. (424). 232 Hömig/Heß (1878–1932), in: Aretz u.a. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 3, 1979, 162 ff. (168). 233 Zu Ernst Heilmann (1881–1940), ermordet im KZ Buchenwald, jetzt gut Heimann, Ernst Heilmann, Parlamentarier, Sozialdemokrat, 2010. 234 So Wachenheim, Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie, 1973, 111. 235 Hartung (1884–1973, Reichsgerichtsrat von 1929–1945), Jurist unter vier Reichen, 1971, 78. 236 Stampfer, Grundbegriffe der Politik, 2. Aufl., 1931, 186. 237 Brüning, Memoiren 1918–1934, 1970, 60. 238 So Abegg (1876–1951), ab 1926 Staatssekretär im Preußischen Innenministerium, in seiner Schrift: Die Preußische Verwaltung und ihre Reform, Länder und Reich, 1928, 34.
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Sein besonderes Augenmerk richtete am Zehnhoff auf die Auswahl der Richter, die für die Strafrechtspflege vorgesehen waren; auch hier stimmte er mit dem ehemaligen Reichsjustizminister Johannes Bell239 überein, der ausgeführt hatte: „Müssen unbedingte Verfassungstreue und Staatsverbundenheit bei allen deutschen Richtern über jeden Zweifel erhaben sein, so haben die Justizverwaltungen die Auswahl der Strafrichter mit besonderer Vorsorge zu treffen. Der tüchtigste, lebenserfahrenste, humanste und taktvollste Richter darf für die Strafrechtspflege, vor allem für die Leitung von politischen und Strafprozessen noch gerade gut genug sein.“240
Da am Zehnhoff „sehr zur Milde geneigt und vor allem Todesurteilen gegenüber sehr zurückhaltend“ war,241 betrieb er die Auswahl der Richter mit besonderer Sorgfalt. Gnadengesuche nach Todesurteilen entschied er in der Regel selbst.242 „Er trieb seine Personalpolitik mit kluger Mäßigung und abgeklärter Weisheit, wie überhaupt Sophrosyne, kluge Voraussicht und weiser Gebrauch der Macht alle seine Amtshandlungen auszeichneten.“243 Gleichwohl war gerade seine Personalpolitik „Gegenstand häufiger Angriffe,“244 wenn er katholischen Bewerbern den Vorzug gab, obgleich es ihm hier nur um endlich zu erreichende Parität ging.245 Es ist bemerkenswert, dass er auch jüdischen Beamten „in erheblicher Zahl“ den Zugang zu Beförderungsstellen, auch im Ministerium selbst, eröffnet hat.246 Ferner war ihm bewusst, was spätere Forschung erst explizit herausgearbeitet hat, dass das Verhältnis des Strafrichters zum Angeklagten „sich nicht nur nach Rechtsregeln, sondern innerhalb dieser Regeln auch nach menschlichen Qualitäten“ zu vollziehen hat.247 Schließlich kann das Recht Macht und Machtwillen nicht resorbieren,248 wohl zähmen, und es sind menschliche Eigenschaften wie Augenmaß, Toleranz und Taktgefühl, die dies im (Rechts)Alltag übersetzen müssen – ohne den rigor iuris zu verletzen. Auch harte Entscheidungen werden durch Stilfragen geprägt, denn „Mangel an Takt ist oft verhängnisvoll,“ wie es bei Ferdinand Tönnies (1855–1936), einem Koätanen von am Zehnhoff, heißt.249 Was Fragen nach dem ethischen Inhalt des Juristenberufs betrifft, so waren dies für am Zehnhoff solche, die durch Verfassungen und gelehrtes Gesetzeswissen allein Zu Johannes Bell s. oben bei und in Fn. 139 sowie bei Fn. 209. Bell, Volksstaat und Staatsvolk. Recht und Gesetz im deutschen Volksstaat, 1928, 15. 241 So Hartung (Fn. 235), 39, der auch berichtet, dass er nur einen einzigen Fall erlebt habe, in dem es am Zehnhoff ablehnte, bei einem Todesurteil Gnade zu üben (ebd. 40). – Zur starken Zurückhaltung der Zentrumspartei gegenüber Todesurteilen s. auch Bell, Verfassungsleben und Rechtspflege seit Weimar, in: Schulte (Hrsg.), Nationale Arbeit. Das Zentrum und sein Wirken in der deutschen Republik, 1929, 389 ff. (442). 242 Näheres bei Hartung (Fn. 235), 39 f. 243 Kisky (Fn. 12), 4. 244 Thiesing (Fn. 83), 159. S. auch Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947, eine politische Geschichte, 2011, 141. 245 S. oben im Text bei Fn. 220 und 221. 246 Von Thiesing (Fn. 83) im Jahre 1938 rückblickend mit antisemitischem Ressentiment berichtet (159): „Dem Verlangen der Linksparteien, jüdische Beamte in Beförderungsstellen zu bringen, hat er keinen genügenden Widerstand geleistet.“ 247 Peters, Die ethischen Grundlagen des Strafprozesses, in: Kultur, Kriminalität, Strafrecht. FS für Thomas Würtenberger, 1977, 77 ff. (85). 248 Vgl. hierzu Spranger, Zur Frage der Erneuerung des Naturrechts (1948), in: ders., Staat, Recht und Politik, 1970, 290 ff. (304). 249 Tönnies, Takt in der Politik, hier zit. nach ders., Gesamtausgabe, Bd. 22, 1998, 294 ff. (294). 239
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nicht zu beantworten sind,250 sondern sie münden in größere Fragen, die nach allseitiger Überwindung monarchistischer Einstellungen Grundprobleme der äußeren und inneren Haltung zum republikanischen Staat betreffen. Deshalb kam es für ihn bei allen Personalfragen entscheidend auf die Persönlichkeit, ja den Charakter an;251 durch dieses Prisma gefallen, ist das Recht Charaktersache, jenseits der Paragraphenkenntnis. Erich Zweigert (1879–1974), während am Zehnhoffs Ministerzeit Staatssekretär im Reichsinnenministerium, drückte dies – bezogen auf jene Grundprobleme und die Loyalität der Beamten zum neuen Staat – so aus: „Es sind Grundprobleme, die man nicht lehren kann, sondern die jeder Beamte mit sich und seiner Überzeugung ausmachen muß. Man kann auch sagen, es sind Charakterprobleme.“252 In diesem Sinne war dem preußischen Justizminister prägende Maxime, dass Persönlichkeit nicht nur „höchstes Glück der Erdenkinder“ (Goethe, West-östlicher Diwan), „sondern auch höchste Notwendigkeit“ ist.253 Aus dieser Einstellung heraus ist es auch zu erklären, dass er sich, solange er im Amt war, energisch und erfolgreich gegen Pläne wandte, im Zuge einer Justizreform kleinere Amtsgerichte aufzulösen. Der örtliche Bezug der mit lokalen Usancen und Mentalitäten vertrauten Richter zu den Rechtsuchenden war ihm wichtiger als der finanzielle Aspekt. Noch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst (5. März 1927) haben „die auf preußischen Anregungen beruhenden Vorschriften des 9. Teiles der Notverordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1. Dezember 1930“254 eine reichsrechtliche Grundlage dafür geschaffen, dass ein Amtsrichter mehreren Amtsgerichten angehören konnte (§ 3). „Damit ist die Möglichkeit gegeben, im Interesse des rechtsuchenden Publikums die kleinen Amtsgerichte zu erhalten, zugleich aber die Arbeitskraft der an ihnen angestellten Richter in dem den Zeitverhältnissen entsprechendem Maß auszunutzen.“255 Die stark personenbezogene Betrachtungsweise des preußischen Justizministers, die bei der besonders bedeutsamen Personalpolitik gerade im Justizbereich der neuen Republik in hohem Maße auf die menschlichen Qualitäten setzte, mag auch auf den Minister selbst angewandt werden und möchte zugleich den biographischen Zugriff verdeutlichen, den dieser Porträtversuch verfolgt; er scheint im Gewirr historischer Handlungslinien und kaum noch zu überblickender Vorschriften auch im untergesetzlichen Bereich besser geeignet als abstrakt bleibende Erkenntnisse, die – ohne personale Konnotationen – allein aus Strukturen, Institutionen und Rechtsvorschrif „Verfassungen sind nichts ohne Bürgertugend“ heißt es bei Joseph Joos (1878–1965), einem einst einflussreichen Politiker der Zentrumspartei. Joos (Fn. 221 a.E.), 102. 251 Vgl. auch die Äußerung von Heinrich Brüning über am Zehnhoff, oben wiedergegeben bei Fn. 237. 252 Zweigert, Der Beamte im neuen Deutschland, in: Harms (Hrsg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 2 , 1929, 460 ff. (461). 253 Goetz, Die Bedeutung von Persönlichkeit und Gemeinschaft in der Geschichte, 1918, 25. – In einen weiteren Rahmen stellt die Thematik später Henkel (1903–1981) in seiner Schrift: Recht und Individualität, 1958. – Auch in der heutigen Politik wird die Thematik diskutiert, s. Schäuble, Das personale Element in der repräsentativen Demokratie, in: Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit. FS für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, 1995, 221 ff. 254 RGBl. I, 517 ff. (604). 255 Pressestelle des Preußischen Staatsministeriums (Hrsg.), Preußen 1932. Politik in Stichworten, 1932, 147 f. (69) – zur „Kleinen Justizreform“. 250
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ten gewonnen werden.256 Es bedarf, nach den treffenden Worten von Oliver Lepsius, „eines Selektionskriteriums, das die Fülle und Mannigfaltigkeit des historischen Materials ordnet. Nichts ist dafür besser geeignet als der biographische Zugriff.“257 Vor diesem Hintergrund ist bereits die frühe Wertung Kiskys zu verstehen, dass das Vertrauen in Zehnhoffs „Persönlichkeit und seine Amtsführung (…) so allgemein (war), daß in keiner der zahlreichen Kabinettskrisen, die er mit erlebte, sein Name auch nur genannt wurde, und daß es eigentlich auf allen Seiten stets als selbstverständlich galt, daß das Justizministerium in seiner Hand bliebe.“258 Die Tatsache, dass er unter den preußischen Ministerpräsidenten Paul Hirsch, Otto Braun, Adam Stegerwald und Wilhelm Marx unangefochten als Minister das Justizressort geführt hat, kann nur mit seiner „unbeirrbaren Sachlichkeit“ (Kisky) und seiner im persönlichen Umgang sehr gewinnenden Art erklärt werden.259 Bei Rudolf Amelunxen (1888–1969), der den Minister noch im preußischen Ministerialdienst aus der Nähe kennengelernt hatte, heißt es: „Zehnhoff war ein Mann mit gütigem Herzen, von unermüdlicher Hilfsbereitschaft, ein Minister, der für jeden zu sprechen war.“260 Nicht zuletzt war es seine historisch-humanistisch geprägte Bildung – er sprach lateinisch wie deutsch –,261 die ihn die menschliche Gerechtigkeit, für die er schon als Anwalt unnachgiebig eingetreten war, als etwas Vorletztes erkennen ließ. Summum ius, summa iniuria: das ließ er sich auch als Justizminister gesagt sein. Das Einstehen etwa für eine sozialere Gefangenenfürsorge und für den Ausbau und die Bedeutung des Gnadenwesens sind Ausdruck jener Eigenart, die ihn als Persönlichkeit kennzeichnet. Als bekennender Christ, der durch die ehrwürdige Schule des Kölner Marzellengymnasiums, einer 256 Bei Eugen Schiffer (1860–1954), dem zweimaligen Reichsjustizminister in der Weimarer Republik, heißt es im Jahre 1928 schon unzweideutig: Wer die Leistungen der Rechtspolitik in der neuen Republik zutreffend würdigen wolle, dürfe sich nicht damit begnügen, den unübersehbaren Katalog der von ihr erzeugten Gesetze zusammenzustellen. „Er würde in der Masse des Stoffes ertrinken und auch, wenn er ihn systematisch gliedern wollte, doch nur die Teile in der Hand haben, nicht aber das geistige Band, das sie unter sich und mit ihrem Substrat von Volk und Zeit verknüpft.“ Schiffer, Die Rechtsentwicklung im neuen Deutschland, in: Zehn Jahre deutsche Geschichte, 1918–1928 (ohne Hrsg.), 1928, 135 ff. (135). Ebd. 155: Gewiss könne eine Zeit, die so stark durch die Vorherrschaft der Technik überhaupt gekennzeichnet sei, „auch der Technik des Rechts nicht entbehren. Aber sie darf das Menschliche im Recht nicht überwuchern und uns nie vergessen lassen, daß der Richter zuerst Mensch und dann erst Jurist zu sein hat.“ Dies entspricht erstaunlich genau der Einstellung am Zehnhoffs und erklärt zu einem guten Teil seine milde Gnadenpraxis, s.o. Fn. 241. 257 Lepsius, Personengebundene oder strukturorientierte Bewertungskriterien für juristisches Verhalten im Nationalsozialismus, in: Nehlsen/Brun (Hrsg.), Münchener rechtshistorische Studien zum Nationalsozialismus, 1996, 63 ff. (64). – Schon Heinrich Mitteis (1889–1952) hatte bekräftigt: „Der Erlebniswert der Rechtsgeschichte wird dadurch nur gesteigert, daß man auch die Wirkung der Persönlichkeit in ihr anerkennt.“ Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, 1947, 96. 258 Kisky (Fn. 12), 5. – Kiskys knappe Skizze zieht erste Leitplanken auf der sonst unübersehbaren Bahn labyrinthisch verflochtener Handlungskomplexe ein und gestattet bei der Vielfalt von Gesetzen und Verordnungen fachspezifisch, dem Beruf des Darzustellenden folgend, Aspekte zu beleuchten, die ohne biographischen Bezug sich im mäandernden Flussbett der Sachbezüge und Vorschriften verlieren. – Zur hohen Zahl der Gesetze und Verordnungen allein auf Reichsebene vgl. Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, 3. Aufl., 2012, 218. 259 Kisky spricht von seiner „überragenden, werbenden und ausgleichenden Persönlichkeit,“ der es zu danken sei, „daß der Übergang von der alten zur neuen Zeit in Preußen sich so schnell und ruhig vollzogen habe.“ Kisky (Fn. 12), 5. 260 Amelunxen (Fn. 196), 192. 261 Wie vorige Fn., 214. Siehe auch oben Fn. 67.
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der ältesten Schulen des Rheinlandes, gegangen war, wusste er: „Käme die Gerechtigkeit durch das Gesetz, dann wäre Christus vergeblich gestorben“ (Gal. 2, 21). Seit Mitte der Zwanziger Jahre machten sich gesundheitliche Beschwerden von am Zehnhoff – eine fortschreitende Gichterkrankung – stärker bemerkbar, so dass er sich von Mügels Nachfolger, Staatssekretär Ullrich Fritze,262 der zuvor Ministerialdirektor im Justizministerium gewesen war, insbesondere im Preußischen Landtag immer öfter vertreten ließ. Die Erkrankung zwang ihn schließlich, am 5. März 1927 aus dem Ministeramt auszuscheiden. Er trat „von seinem Amte zurück, das er allen Kabinettswechseln zum Trotz während einer für die damaligen Verhältnisse fast unwahrscheinlichen Zeitspanne von acht Jahren innegehabt hatte.“263 Immer wieder wird auch seine Hilfsbereitschaft hervorgehoben.264 Er erkannte aufstrebende Talente an und eröffnete Frauen den Weg zur Großen juristischen Staatsprüfung. Dem jungen Carl Schmitt, dessen juristische Begabung er sofort erkannte, war er ein Mentor und Unterstützer – anfangs auch finanziell – geworden.265 Schmitt selbst berichtet, der alte Geheimrat am Zehnhoff habe ihm gesagt: „Ich habe in meinem langen Juristenleben keinen Menschen kennengelernt, der mehr Ordnung in seinen Gedanken und Begriffen hatte als Sie, aber auch keinen, der mehr Unordnung und Durcheinander in seinem Privatleben gehabt hätte.“266 Persönlichen Anwürfen begegnete am Zehnhoff, wenn er sie überhaupt aufnahm, oft mit rheinischem, zum Teil auch deftigem Humor, nicht aber mit Ranküne. Es wird berichtet, sein krankheitsbedingtes Fehlen in der letzten Zeit seiner Ministerschaft sei von der demokratischen (DDP) und sozialdemokratischen Presse zum Vorwurf benutzt worden, dass er sich nicht genügend um seine Amtsgeschäfte kümmere.267 Am Zehnhoff, der „auch nachts, an seinem Schreibtisch, zwischen Aktenbergen“ saß und arbeitete,268 ging darüber hinweg; auch seine Kabinettskollegen aus der Weimarer Koalition und die Fraktionen wussten es anders: Der hochangesehene Leiter der sozialdemokratischen Landtagsfraktion Ernst Heilmann,269 der weitgehend reibungslos mit der Zentrumsfraktion zusammengearbeitet hatte, sagte zwei Jahre nach Zehnhoffs Rücktritt – und Amelunxen berichtet diesen Ausspruch Heilmanns wörtlich: „Wir hatten einmal in Preußen einen Minister, der höchste Bildung mit bahnbrechendem Neuschaffen verband: Es war der Justizminister Doktor am Zehnhoff!“270 Gerade auch diese bedeutende Äußerung dürfte das Urteil von Hagen Schul-
Zu Fritze, Staatssekretär seit 1. April 1923, siehe Hartung (Fn. 235), 37 f., 77 f. Thiesing (Fn. 83), 159. 264 S. auch die berichtete Episode von Hartung (Fn. 83), 76 und öfter. 265 Vgl. nur Noack, Carl Schmitt, Eine Biographie, 1993, 54, 255. – Auf die vielfältigen Kontakte zu am Zehnhoff weisen Tagebücher Schmitts hin, insbesondere Tagebücher Oktober 1912 bis Februar 1915 (Hrsg.: Hüsmert), 2003; sie zeigen u.a., dass Schmitts Beziehung zu am Zehnhoff starken Schwankungen unterworfen war. S. auch Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2009, 66 f. 266 Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, 1991, 168. 267 Thiesing (Fn. 83), 159. 268 Amelunxen (Fn. 62), 128. 269 Zu ihm oben in und bei Fn. 231 und 233. 270 Amelunxen (Fn. 268). 262
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ze revidieren, wonach unter diesem Minister das preußische Justizwesen in konservativer Erstarrung verblieben sei.271,272 Ganz ungewöhnlich und den damaligen Gepflogenheiten widersprechend ist die ganzseitige Würdigung, die sein Amtsnachfolger Hermann Schmidt273 noch am Tage der Amtsübergabe im Ministerialblatt erscheinen ließ und auf die hier nur hingewiesen werden kann.274 Gediegene Umgangsformen, stete Hilfsbereitschaft und stupende Belesenheit, so wird berichtet,275 machten seine Persönlichkeit aus, sie waren, pointiert gesagt, seine Ethik. „Ethik aber ist ihm Persönlichkeit,“ so der aus Köln stammende Soziologe Robert Michels (1876–1936) über Gustav Schmoller (1838–1917)276 – es trifft auch auf am Zehnhoff zu. Ein in jeder Hinsicht reich bewegtes Juristenleben ging für diesen aus dem Anwaltsstand hervorgegangenen preußischen Justizminister zu Ende, als er am 28. August 1930 in Düsseldorf verstarb. Auf ihn, der so viel Wert auf Bildung, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme legte, kann das Wort des großen Friedrich Meinecke (1862–1954) bezogen werden: „Es darf unter uns, wenn wir nicht ärmer werden und wieder zurücksinken wollen, nicht jener Typus von Persönlichkeit verschwinden, die an der geschichtlichen Welt sich ausweitet zur Unendlichkeit in Geist und Sinn und zur milden und starken Gesinnung für alles Menschliche.“277
Schulze (1943–2014), Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, 1977,
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569. Wie hier im Text auch: von Hindenburg (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtags, Teil 1, 2017, 74. 273 Zu ihm oben Fn. 206. 274 Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 89 (1927), 61. 275 Kisky (Fn. 12), 6: „Er las ständig, Tag und Nacht, wissenschaftliche Bücher, und zwar gleichmäßig in deutscher, lateinischer, französischer, italienischer und englischer Sprache.“ 276 Michels, Bedeutende Männer. Charakterologische Studien, 1927, 106. 277 Meinecke, Persönlichkeit und geschichtliche Welt, hier zit. nach ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, 2. Aufl.,1965, 30 ff. (54). 272
Robert Krawielickis (1905–1966) Arbeit am Schmelztiegel eines allgemeinen europäischen Rechts Eine biographische Erkundung in die Verfassungsrechtsgeschichte der europäischen Integration* von
Prof. Dr. Frank Schorkopf (Göttingen) I. „Ein Vertrag […] ist ein abstraktes Instrument, auf Papier geschrieben. […] Bei Urteilen über den EGKS-Vertrag und die Montanunion sollten immer auch die Menschen und das Verhalten der Menschen und Regierungen mit einbezogen werden.“ Diese Mahnung stammt von einem Zeitzeugen, geäußert im Jahr 2002, als der Vertrag über die Montanunion nach fünfzig Jahren planmäßig außer Kraft trat.1 Die lange Vertragslaufzeit war Anfang der 1950er Jahre ein unerhörter Wechsel auf die Zukunft. Ein Gedankenspiel führt uns das vor Augen – denn wie sah die Welt 1907 aus und was sollte in den fünf Jahrzehnten bis 1957 noch kommen. Die Regierungen der sechs Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die nach der Erklärung des Schuman-Plans im Mai 1950 unmittelbar mit den Verhandlungen begonnen hatten, setzten bewusst diesen Zukunftspunkt, von dem keiner der Beteiligten nach menschlichem Ermessen erwarten konnte, ihn persönlich zu erleben. Doch um „die erste Etappe der europäischen Föderation“,2 das Zukunftsvorhaben tatkräftig anzugehen, galt es 1951/52 zunächst, Menschen in den Mitgliedstaaten zu * Ich danke Herrn Botschafter Stefan Krawielicki für Einsicht in den privaten Nachlass seines Vaters, die Überlassung von Dokumenten und zahlreiche Auskünfte. Die noch unveröffentlichte Dissertation von Martin Thiele, „Motor der Integration“. Europarechtsgeschichtliche Grundlegung der Europäischen Kommission, Diss. Göttingen 2018, hat mich auf das europarechtliche Wirken Robert Krawielickis aufmerksam gemacht. Uta Nolte und Jacob Wagner-Douglas haben mich bei der Quellenerschließung unterstützt. 1 Hellwig, Bericht eines Zeitzeugen, in: Rasch/Düwell (Hrsg.), Anfänge und Auswirkungen der Montanunion auf Europa, 2007, 163 (171). Hellwig war von 1959 bis 1967 Mitglied der Hohen Behörde und nach Inkrafttreten des Fusionsvertrages am 1.7.1967 Vizepräsident der Europäischen Kommission. 2 Agence France Presse, Informations et Documentations, Nr. 291 vom 13.5.1950; dt. Übersetzung des Europa-Archivs, Folge 11/1950, 3091 f.
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finden. Die neue Gemeinschaft brauchte geeignetes Personal, das die Idee ins Werk setzen, das den Vertrag ausfüllen und seine Normen fachkundig anwenden würde. Damit ist nicht die Generation der „Gründerväter“ gemeint, wohlbekannte Namen, deren Wirken häufig bereits durch Memorialliteratur und Biographien gewürdigt ist, deren Beitrag zur Konstruktion Europas3 bereits in den Geschichtsbüchern steht.4 Es geht um Personen „der zweiten Reihe“, ohne die das Vorhaben nie die Sphäre der Vertragstexte verlassen hätte, ohne die zunächst die Montanunion, die aus Gegenwartsperspektive ohnehin nur noch als Vorgeschichte wahrgenommen wird, und später die Europäischen Gemeinschaften nicht wirklich geworden wären.5 Eine zentrale Person dieser Gründungs- und Auf baujahre des organisierten Europas ist der deutsche Jurist Robert Krawielicki. Er trat im August 1952 als Rechtsberater in die sich gerade formierende Hohe Behörde in Luxemburg ein und wurde dann 1960 Generaldirektor der vereinigten juristischen Dienste der drei Gemeinschaften,6 ein Amt, das er bis zu seinem frühen Tod im Februar 1966 ausübte.7 Dabei ist daran zu erinnern, dass die Hohe Behörde das seinerzeit eigentlich Neue an dem Zusammenschluss der sechs europäischen Staaten war, weil mit ihr die Supranationalität als konstitutiver Baustein des Integrationsprojekts eingeführt wurde.8 Diese Eigenschaft war zunächst, anders als der normative Charakter des heutigen Unionsrechts, eine institutionelle Supranationalität. Die Hohe Behörde war ein Entscheidungsgremium mit weitreichenden Kompetenzen gegenüber den Mitgliedstaaten, die ihr organisatorisches Vorbild in den agencies des amerikanischen New Deal, insbesondere in der Tennessee Valley Authority hatte9 und deshalb der kreativen Übersetzung in europäisches Recht bedurfte. Gerbet, La Construction de l’Europe, 1999. Kritik am überschätzten Einfluss der „Gründerväter“ Haltern, Europarecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, Rn. 74; siehe auch Gilbert, Narrating the Process, Journal of Common Market Studies 46 (2008), 641 ff. für eine Kontextualisierung des Schuman-Plans mit den Erfahrungen administrativer Kooperationen in den Zwischenkriegsjahren argumentiert Cohen, Why call it „European Commuity“? Ideological Continuities and Institutional Design of Nascent European Organisations, Contemporary European History 27 (2018), 326 ff. 5 Zu diesem biographischen Forschungszugang, der die Fachbruderschaften in den Blick nimmt, Vauchez, The Force of a Weak Field: Law and Lawyers in the Government of the European Union (For a Renewed Research Agenda), International Political Sociology 2008, 128 ff.; ders., Brokering Europe: Euro-Lawyers and the Making of a Transnational Polity, 2015. Ausf. zur Rolle der Bürokratie und ihres Personals für die europäische Integration Seidel, The Process of Politics in Europe: The Rise of European Elites and Supranational Institutions, 2010. 6 Näher zur Gründung des Dienstes Grilli, Le origini del diritto dell’Unione europea, 2009, 215 ff., zu Krawielickis Rolle, ebenda, 217 f.; Vauchez (Fn. 5), 30 ff. 7 Nachrufe von Strauß, JZ 1966, 283 und Möhring, NJW 1966, 1208 f. 8 Thiele, „Motor der Integration“, Europarechtsgeschichtliche Grundlegung der Europäischen Kommission, Diss. Göttingen, 2018, Manuskript, 41 ff. Grundlegend für die Zeit Reuter, La Communauté européenne du charbon et de l’acier, 1953, 96 ff. 9 Die Bezeichnung als „Hohe Behörde“ (Haute autorité) ist unmittelbar durch die „authority“ inspiriert, siehe Reuter, Aux origines du Plan Schuman, in: Teitgen (Hrsg.), Mélanges Fernand Dehousse, Bd. 2, 1979, 65 (67), einen Einblick in Reuters Denken gibt Reuter, Techniciens et politiques dans l’Organisation internationale, in: Berger u.a. (Hrsg.), Politique et technique, 1958, 181 ff.; vgl. auch Gerbet, La Haute Autorité de la CECA, Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 4 (1992), 11 (13), dort mit zusätzlichem Hinweis auf die Interstate Commission und die Federal Trade Commission. Näher zu Monnets Organisationsvorstellungen für die Hohe Behörde Seidel, Supranational ideals and 3 4
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Krawielicki wirkte konzeptionell und praktisch an leitender Stelle daran mit, das Montanrecht im supranationalen Exekutivorgan der neuen Organisation anzuwenden und die Ziele der Montanunion praktisch durchzusetzen. Dadurch entstand über die Jahre der Rechtskorpus, den wir „Europarecht“ nennen. Die intellektuellen und beruflichen Prägungen wie die persönlichen Umstände Krawielickis spielten sowohl bei der Tätigkeit für die Montanunion, als auch für die Entscheidung, die Behörde zusammen mit seinem unmittelbaren französischen Kollegen Michel Gaudet10 als Berater Jean Monnets11 mitzuformen, eine gewichtige Rolle. Als Krawielicki nämlich mit 51 Lebensjahren nach Luxemburg ging, hatte er im Grunde bereits ein Leben gelebt. Als Regierungsdirektor im Wirtschaftsministerium von Württemberg-Baden, dann als Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz bekam er, nach biographischen Brüchen und persönlichem Leid im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Herrschaft, Krieg und Besatzung, beruflich erstmals sicheren Boden unter den Füßen. Sinnbildlich für den biographischen Bruch steht seine Verhaftung Ende Januar 1934 aus dem „Dozentenlager“12 Zossen heraus, die Misshandlung durch die SA und die folgende, dreiwöchige Internierung im Konzentrationslager Oranienburg. Krawielicki, 1905 in Kiel-Friedrichsort als Sohn eines Marineoffiziers geboren, dann in Berlin und Fürstenwalde aufgewachsen, hatte nach dem Studium der Rechtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und der Ersten Staatsprüfung 1927 als Fakultätsassistent begonnen. Nach der zivilrechtlichen Promotion13 1930 und der Großen juristischen Staatsprüfung im Mai 1931 arbeitete er weiter als Fakultätsassistent mit dem Ziel der Habilitation, zugeordnet den Professoren James Goldschmidt14 und Martin Wolff.15 Die im Juli 1933 vorgelegte Habilitationsschrift nahm die Fakultät an16 und erteilte die Lehrbefähigung für Bürgerliches Recht und Prozessrecht. Allerdings kam es nicht mehr zum Vollzug der Habilitation, weil Krawielickis pragmatic choices: The High Authority of the European Coal and Steel Community, Francia 36 (2009), 209 (211 ff.). 10 Boerger/Rasmussen, The Making of European Law: Exploring the Life and Work of Michel Gaudet, American Journal of Legal History 57 (2017), 51 ff., die Gaudets privaten Nachlass erschlossen haben; Bailleux, Michel Gaudet, A Law Entrepreneur, Common Market Law Review 50 (2013), 359 ff. Monnet setzte für die Direktionen der Hohen Behörde bewusst auf das Konzept der Doppelspitze, für die das französisch-deutsche „Zwillingspaar“ Gaudet-Krawielicki ein Beispiel ist, vgl. Seidel (Fn. 9), 209 (214). 11 Schwabe, Jean Monnet, 2016. 12 Nach einem Erlass des preußischen Kultusministers vom 18.10.1933 mussten Habilitationswillige u.a. an Dozentenlagern teilnehmen, um die venia legendi zu erhalten, diese Praxis wurde von anderen Ländern übernommen, Losemann, Die Konzeption der NS-Dozentenlager, in: Heinemann (Hrsg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Bd. 2 , 1980, 87 ff. 13 Krawielicki, Unentgeltliche Verfügungen im Erbrecht, Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, 71 (1931), 8–179. 14 Sellert, James Paul Goldschmidt (1874–1940), in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 595 ff.; Heger, James Goldschmidt (1874–1940), in: Grundmann u.a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin, 2010, 477 ff. 15 Hansen, Martin Wolff (1872–1953), 2009; Dannemann, Martin Wolff (1872–1953), in: Grundmann u.a. (Hrsg.) (Fn. 14), 561 ff. 16 Die Habilitationsschrift ist 1936 erschienen, Krawielicki, Grundlagen des Bereicherungsanspruchs, Breslau; Nachdruck Aalen 1964.
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Verhaftung sechs Tage vor dem bereits anberaumten Probevortrag erfolgte. Anlass für die Verhaftung durch die SA war ein ironisch-kritischer Artikel in der Vossischen Zeitung17 über das Dozentenlager, welchen Krawielicki inspiriert und den sein Assistentenkollege Georg H. Maier18 geschrieben hatte. Der Grund für die harte Reaktion ist aber bereits im Frühjahr 1933 zu suchen, als sich Krawielicki, Maier und Werner Flume19 hinter Martin Wolff und andere jüdische Hochschullehrer stellten und sich gegen die Gründung des NS-Dozentenbundes an der Berliner Fakultät wendeten.20 Nach der Haft wurde Krawielicki als Fakultätsassistent entlassen und arbeitete ab Sommer 1934 als Hilfsarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Fenthol, die auch Mandate vertriebener Deutscher betreute und eine Flucht ermöglichte.21 Erst im Mai 1937 gelang es Robert Krawielicki, sich als Rechtsanwalt in Berlin zuzulassen.22 Die Anwaltstätigkeit endete im Juni 1942 mit dem Einzug in die Wehrmacht; den Krieg überlebte er als Mannschaftsdienstgrad in untergeordneter Tätigkeit für das Oberkommando der Wehrmacht in Berlin, eine Tätigkeit, die er durch freundschaftliche Fürsprache erhalten hatte. Diese Verwendung bewahrte Krawielicki vor militärisch exponierten Aufgaben, zu denen er wahrscheinlich abkommandiert worden wäre, weil er im Sommer 1942 als „jüdischer Mischling 2. Grades“ eingeordnet worden war.23 Nach kurzer Kriegsgefangenschaft und Entnazifizierung trat er im Oktober 1945 in das Wirtschaftsministerium des Landes Württemberg-Baden ein, wo er ein knappes Jahr später eine feste Stelle erhielt.24 Seine akademische Tätigkeit nahm er nach einer Umhabilitierung an die Universität Tübingen, die ihn erst zum Privatdozenten, dann zum außerplanmäßigen Professor ernannte, im Sommer 1947 wieder auf. Er führte sie bis zum Wechsel in das Bundesjustizministerium im Spätsommer
17 Vossische Zeitung vom 23.1.1934, Die Professoren der Zukunft, 7. Der Artikel ist ohne Namensnennung oder Autorenkürzel abgedruckt. 18 Flume, Georg. H. Maier (1907–1945), Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung 68 (1951) 633 f. 19 Jakobs, Werner Flume (1908–2009), in: ders., Gedenkreden, 2011, 75 ff. 20 Die Ereignisse an der Berliner Fakultät sind aufgearbeitet in Lösch, Der Nackte Geist, 1999, 230– 232; Zitat aus einem Brief, in dem Krawielicki die Ereignisse schildert, bei Hansen (Fn. 15), 106, auch 111. 21 Zur Kanzlei Fritz Fenthol näher Hansen (Fn. 15), 135 sowie Brief aus dem Nachlass von Rechtsanwältin Edith Henning vom 25.7.1946, die Mitarbeiterin der Kanzlei war. 22 Ein Mandat, das Krawielicki betreute, stammte von seinem akademischen Lehrer, Martin Wolff, der 1938 in das Vereinigte Königreich übersiedelte, näher dazu Hansen (Fn. 15), 135 f. 23 Brief des Reichskommissars für die Behandlung feindlichen Vermögens vom 22.4.1943, Az.: III 931/81–24. Mit dem Brief wird Krawielicki aufgefordert, zu der Einordnung und der beabsichtigten Entziehung des Mandats zur Feindvermögensverwaltung Stellung zu nehmen. Die Stellungnahme erfolgte mit Schreiben vom 31.5.1943 – ein hierauf etwa ergangener Bescheid in diesem Vorgang befindet sich nicht im Nachlass. 24 Krawielicki wurde am 10.2.1946 durch die amerikanische Besatzungsbehörde verhaftet, wegen seiner Verwendung im Oberkommando der Wehrmacht, die er in einem Fragebogen der amerikanischen Militärverwaltung angegeben hatte, Meldebogen vom 31.8.1945. Die Haftentlassung erfolgte am 21.6.1946; seine Einstufung zunächst als „belastet“ verhinderte die weitere Tätigkeit im Ministerium. Als sich Anfang September 1946 konkret abzeichnete, dass sich Krawielickis vorläufige Einordnung nicht bestätigen würde, konnte er seine Tätigkeit im Ministerium fortsetzen. Die Spruchkammer Stuttgart stellte das Verfahren mit Beschluss vom 16.9.1946 ein, weil Krawielicki als „nicht betroffen“ eingestuft wurde (Az.: 37/17/8471).
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1950 fort.25 Trotz mehrerer konkreter Angebote von Universitäten in den Folgejahren kehrte er damit der universitären Lauf bahn endgültig den Rücken. Die mit diesem Beitrag unternommene Erkundung in das europarechtliche Wirken Robert Krawielickis als hervorgehobenem Vertreter der ersten Generation europäischer Beamter und Europarechtler erinnert damit nicht nur an den Menschen und Juristen, sondern zeigt exemplarisch einen weiteren, möglichen Weg in eine Verfassungsrechtsgeschichte der europäischen Integration auf.26 Die folgenden Überlegungen nehmen dazu Krawielickis methodisch-dogmatisches Verständnis des neuen, europäischen Rechts (II.), seine zweckorientierte Auslegung des Wettbewerbsrechts der Montangemeinschaft (III.) sowie seine strukturvergleichenden Überlegungen (IV.) im Vorfeld des Fusionsvertrages näher in den Blick.
II. Die Kapilarwurzeln in die europäische Rechtsentwicklung lassen sich in den Akten bis in das Jahr 1950 zurückverfolgen, als Krawielicki das Wirtschaftsministerium des Landes Württemberg-Baden in Stuttgart verließ und in das Bundesministerium der Justiz eintrat, zunächst in Frankfurt am Main, dann in Bonn. Er leitete das Referat für die Organisation der Gewerblichen Wirtschaft und der Land- und Forstwirtschaft, das im Ministerium für die sich abzeichnende, von den Besatzungsmächten forcierte Gesetzgebung zum Wettbewerbsrecht zuständig war.27 Krawielicki beteiligte sich an den bereits laufenden Entwurfsarbeiten für ein deutsches Gesetz gegen Monopole und Kartelle, mit denen er bereits im Landesministerium thematisch befasst gewesen war. Er entwarf den verfahrensrechtlichen Teil des ersten Regierungsentwurfs und beteiligte sich auch an den materiellrechtlichen Regelungen.28 Prägend ist dann seine 1952 erschienene – bereits im Herbst 1951 vor der Ratifikation des EGKS-Vertrages fertig gestellte – Monographie über das Monopolverbot im Schuman-Plan.29 Die Schrift gestattet einen näheren Einblick in Krawielickis zwei Eine knappe Zusammenfassung dieser Zeit aus der Perspektive der Gründungsphase des Bundesjustizministeriums geben Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, 2016, 141 f. 26 Schorkopf, Rechtsgeschichte der europäischen Integration, JZ 2014, 421 ff. Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Key Biographies in the Legal History of European Union 1950– 1993, Konferenz im Juni 2018. 27 Der Wechsel ging auf eine Empfehlung des Staatssekretärs im BMJ, Walter Strauß, zurück, der Krawielicki im Rahmen seiner Tätigkeit im Stuttgarter Länderrat und im bizonalen Wirtschaftsrat kannte, Brief von Walter Strauß an Bernhard Aubin vom 1.2.1960; zu Strauß’ Tätigkeit siehe Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker. Der Staatssekretär Walter Strauß und sein Staat, 2003, 68 f. Strauß, der auch Mitglied des Parlamentarischen Rates gewesen war, wurde 1963 als zweiter Deutscher zum Richter am Europäischen Gerichtshof ernannt. Das Richteramt übte er bis 1970 aus. 28 Murach-Brand, Antitrust auf deutsch, 2004, 156 f., 164 ff.; Brief von Walter Strauß an Bernhard Aubin vom 1.2.1960, 2. Zur verfahrensrechtlichen Thematik passt Krawielicki, Verwaltungs- oder Zivilgerichtsbarkeit in Angelegenheiten der Kartellaufsicht, WuW 1951, 139 ff. In dem Eintreten für die sachliche Zuständigkeit der Zivilgerichte mag Krawielickis akademische Prägung als Zivilrechtler durchscheinen; siehe auch Mestmäcker, Towards a Concept of a Workable European Competition Law: Re visiting the Formative Period, in: Patel/Schweitzer (eds.), The Historical Foundations of EU Competition Law, 2013, 191 ff. 29 Krawielicki, Das Monopolverbot im Schumanplan, 1952. 25
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fellos affirmativen Standpunkt zum Wettbewerbsrecht, aber auch zu seinem Verständnis des Montanrechts. Bei der Schrift handelt es sich um einen Kommentar des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Zusammenschlüsse in Art. 65, 66 EGKS-Vertrag, die „nicht isoliert, sondern nur im Rahmen des Gesamtwerks richtig verstanden und ausgelegt werden“ könnten.30 Krawielicki charakterisiert das „Normsystem“ des Montanrechts als „Verfassungsrecht der Europäischen Gemeinschaft“, soweit es die Mitgliedstaaten binde, und als „europäisches Verwaltungsrecht“, soweit es Unternehmen verpflichte.31 Mit dieser Formulierung gibt der Autor zu erkennen, dass er der föderativen, an staatsrechtlichem Denken orientierten Konzeption der Montanunion nahe steht.32 Bereits kurze Zeit nach dem Schuman-Plan hatte sich eine nationenübergreifende Lagerdebatte gebildet, in der eine völkerrechtliche und eine staatsrechtliche Richtung über die Rückschlüsse aus der neuen Organisationsform stritten. Die völkerrechtlich orientierten Juristen wollten das EGKS-Recht restriktiv, zugunsten der Mitgliedstaaten auslegen, was die Kompetenzen der Hohen Behörde eingeschränkt hätte. Die „Staatsrechtler“ vertraten eine extensive, an den Zielen der Montanunion ausgerichtete Auslegung, die der Hohen Behörde einen größeren Gestaltungsspielraum einräumte. Detailliertere Studien zu diesem intellektuellen Konflikt zeigen, dass es sich auch um einen Generationenkonflikt handelte, in dem Krawielicki dann auf Seiten der jüngeren Juristen, der „Supranationalisten“33 einzuordnen ist.34 Zur Auslegungsfrage vertritt er die Ansicht, dass sich die Auslegung mehr nach dem Zweck der Vertragsbestimmungen zu richten habe, wobei – trotz des allein in französischer Sprache authentischen Montanvertrages – die allgemeinen Grundsätze des Rechts aller Mitgliedstaaten maßgeblich seien: „Europäisches Recht wurde geschaffen.“35 Mit Blick auf die daraus folgende „große und verantwortungsvolle Aufgabe“ für die Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt dann auch die titelgebende Formulierung: [Der Schuman-Plan] kann der Schmelztiegel für ein allgemeines europäisches Recht werden.“ Die Schrift wird von den unmittelbaren Erfahrungen getragen, die Krawielicki als Sachverständiger für die deutsche Delegation bei den Schuman-Plan-Verhandlungen gemacht hatte. Er traf im Februar 1951 in Paris ein und nahm sogleich an den festgefahrenen Gesprächen über die beiden Kartellartikel des Montanvertrages (Art. 65, 66 Krawielicki (Fn. 29), 1. Krawielicki (Fn. 29), 2, Hervorhebung des Zitats durch Sperrdruck. 32 Mosler, Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ZaöRV 14 (1951/52), 1 (36); Mosler war Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation zum Schuman-Plan. Die Debatte über die Rechtsnatur der EGKS erreichte auf den Kongressen von Stresa und Mailand ihren Höhepunkt, siehe Daig, Tagungsbericht: Internationaler Kongreß zum Studium der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, JZ 1957, 555 f.; zu den Europarechtlern der ersten Generation Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011, 243–251. 33 Bailleux, Comment l’Europe vint au droit, Revue Française science politique 60 (2010), 295 (316 f.). Siehe in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von Lagrange, Une réalité européenne. La Cour de Justice de la C.E.C.A., Cahiers Chrétiens de la Fonction Publique, 28.4.1955, 16 (19), mit der er sich für die Supranationalisten ausspricht; Krawielicki dankte Lagrange in einem Brief für den Beitrag und schrieb von „volle[r] Zustimmung und […] Freude“ über dessen Ausführungen, Zur Übersetzung, Krawielicki an Maître Maurice Lagrange, Luxemburg, den 12.1.1959, HAEU, CEAB01-1030, 1. 34 Zu der Debatte und den Kongressen Bailleux, Penser l’Europe par le droit, 2014, 192 ff.; ausf. Thiele (Fn. 8), 131 ff. 35 Krawielicki (Fn. 29), 7 f. 30 31
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EGKS-Vertrag) teil.36 In den bis dahin ausformulierten Vertragsentwürfen fehlten die beiden Normen weiterhin,37 weil die Delegationen sich nicht über den Umfang des Anwendungsbereichs, besonders über die Einbeziehung vertikaler Konzentration einigen konnten. Die deutsche Delegation vertrat dazu die Ansicht, dass solche Konzentrationen zumindest in dem Umfang möglich sein müssten, wie sie zum Zeitpunkt, in dem der Montanvertrag in Kraft treten würde, bestünden. Auf die Gespräche war zu diesem Zeitpunkt bereits politischer Druck von amerikanischen Beobachtern der Verhandlung ausgeübt worden, die sich unzufrieden mit dem wenig ambitionierten „continental approach“ zum Wettbewerb zeigten. Aus amerikanischer Sicht bedurfte es eines Verbots privater Absprachen ohne Genehmigungsvorbehalte und Ausnahmen.38 Im Ergebnis folgten die schlussendlich vereinbarten Vertragsartikel einer strengen Konzeption, indem jede wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung unter ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gestellt wurde, wenn auch mit eng formulierten Ausnahmetatbeständen.39 Die Monographie Krawielickis lässt keinen Zweifel an der persönlichen und fachlichen Eignung des Autors für die neue Behörde und wirkt, auch wegen ihres, das Wettbewerbskonzept der Montanunion verteidigenden Ansatzes von außen wie eine Bewerbungsschrift;40 wenngleich die verfügbaren Akten keine Auskunft darüber geben, auf welchem weiteren Weg genau er nach Abschluss der Verhandlungen von Bonn nach Luxemburg an den Sitz der Hohen Behörde kam. Im Nachlass überlieferte Äußerungen machen aber deutlich, dass Robert Krawielicki es als Beruf seiner Zeit empfand, an der Aufgabe mitzuwirken.41 Die Hinwendung nach „Europa“ war deshalb weniger ein „Ausweg“, wie die Autoren der Akte Rosenburg meinen,42 sondern ein bewusster Schritt zum Europäischen und zu dem neuen Recht. In diesem Aufbruch eines Beamten der jungen Bundesrepublik steckte eine Zukunftserwartung. PA, AA, Bestand B 15, 84, Bl. 242, Tagebuch der Delegation. Noch im Vertragsentwurf v. 22.2.1951 fehlen die Art. 60, 61, verbunden mit dem Hinweis „werden noch besprochen“, PA, AA, Bestand B 17, 172. 38 Aufzeichnung des Gesprächs zwischen dem Sekretär der deutschen Schuman-Plan Delegation, Ulrich von Marchtaler, mit dem Finanzsachverständigen der amerikanischen Botschaft in Paris und US-Beobachter der Verhandlungen, William Tomlinson, v. 13.11.1950, PA AA B 15, 114, Bl. 4, 6; näher dazu Leucht, Transatlantische Politiknetzwerke und europäische Integration 1950–1957, in: Gehler (Hrsg.), Vom Gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung, 2009, 63 (69 ff.); zum Fortwirken der Art. 65, 66 EGKS-Vertrag im EWG-Recht Leucht/Seidel, Du Traité de Paris au règlement 17/1962: ruptures et continutiés dans la politique européenne de concurrence, 1952–1962, Histoire, Economie et Société 28 (2008), 35 ff. 39 Ausf. Witschke, Gefahr für den Wettbewerb?, 2009, 41 ff., speziell zur Fusionskontrolle (Art. 66 EGKSV); kritisch zum eigentlichen Ziel des Vertragsvollzuges Warlouzet/Witschke, The Difficult Path to an European Economic Law: European Competition Policy 1950–1991, Contemporary European History 21 (2012), S. zur Anwendung zusf. Baums, Das Kartellverbot in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und seine Anwendung, in: ders., Beiträge zur Geschichte des Wirtschaftsrechts, 2012, Erstveröff. 1985, 227 ff. 40 In den deutschen Akten der Verhandlungen zum Schuman-Plan findet sich der von Herbert Blankenhorn, Leiter der Abteilung II in der Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt, gezeichnete Vermerk, dass als Sachverständige Personen nicht in Betracht kämen, die zwischen 1940 und 1944 in Frankreich oder anderen besetzten Gebieten im Westen in beamteter oder beamten ähnlicher Funktion tätig gewesen seien, PA, AA, Bestand B 15, 88, Bl. 4. 41 Siehe die Nachweise in Fn. 68 und 69. 42 Görtemaker/Safferling (Fn. 25), 142. 36 37
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III. Die Grunddisposition Krawielickis, das Eintreten für Wettbewerbskontrolle und eine zweckorientierte Auslegung des Montanrechts, zeigt sich exemplarisch an der Entscheidungspraxis der Hohen Behörde zur Ruhrkohle, die auch Anlass zu frühen Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gab. Im Jahr 1956 ordnete die Hohe Behörde mit mehreren Entscheidungen den gemeinsamen Verkauf der im gesamten Ruhrrevier geförderten Steinkohle neu. Die jährliche Produktionsmenge im Ruhrrevier betrug etwa die Hälfte der gesamten Förderung aller Reviere im Gemeinsamen Markt. Mit Blick auf die Möglichkeit der einseitigen Preisbestimmung konnte die Hohe Behörde eine von deutschen Unternehmen erstrebte gemeinsame Verkaufsorganisation nicht genehmigen. Das Kartellverbot aus Art. 65 § 2 Buchst. c EGKS-Vertrag stand diesem Schritt entgegen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, im Blick zu haben, dass die deutsche Ruhrkohle seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in einer solchen einheitlichen Verkaufsorganisation – dem Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikat – vertrieben worden war.43 Die zu Beginn der 1950er Jahre 51 Bergwerksgesellschaften des Ruhrreviers hatten schließlich auf den neuen politischen Rahmen und das Montanrecht reagiert, indem sie den Kohlevertrieb von sich aus in drei voneinander unabhängigen Vertriebsgesellschaften – Geitling, Präsident und Mausegatt – organisieren wollten. Diese Lösung war in Gesprächen mit der Hohen Behörde entwickelt worden. Zur Vertriebsorganisation gehörten maßgeblich Handelsregelungen, in denen u.a. die Bedingungen, im Wesentlichen Mindestabsatzmengen in umgrenzten Absatzgebieten, festgelegt waren, unter denen Großhändler direkt von der Vertriebsorganisation, also vom Förderbetrieb beliefert wurden. Diese Belieferung erster Hand hatte die Hohe Behörde beanstandet, weil die Kumulation von insgesamt vier Belieferungsvoraussetzungen dazu geführt hätte, dass der Großhändler nahezu seinen gesamten Bedarf aus dem Ruhrkohlerevier hätte decken müssen. Eine alternative Bezugsquelle aus den anderen Revieren, etwa aus dem Aachener Raum, Belgien oder den Niederlanden, wäre nicht mehr möglich gewesen. Hinzu kam, dass mit der bevorzugten Belieferung von Großhändlern erster Hand die Absprache unter den Bergbauunternehmen der Vertriebsgesellschaft bestand, mit Großhändlern zweiter Hand keine Kaufverträge über die Belieferung mit Ruhrkohle abzuschließen. Die Hohe Behörde untersagte diese diskriminierende Kartellabsprache (Art. 4 Buchst. b, Art. 65 § 1 EGKS-Vertrag). Sie ließ damit keinen Zweifel an dem Willen, dem Entstehen neuer Kartelle entgegen zu treten und die entsprechenden Rechtsgrundlagen im Montanrecht anzuwenden. Die Hohe Behörde vertrat in ihrer Entscheidung, mit der sie die Handelsregelung teilweise untersagte, wie auch in den Schriftsätzen44 in dem späteren Klageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof einen extensiven Ansatz. Dieser Ansatz verknüpf43 Näher dazu Gillingham, Zur Vorgeschichte der Montanunion. Westeuropas Kohle und Stahl in Depression und Krieg, VfZ 34 (1986), 381 ff., sodann ders., Solving the Ruhr Problem: German Heavy Industry and the Schuman Plan, in: Schwabe (ed.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950–1951, 1988, 151 ff. 44 EuGH, Urt. v. 20.3.1957 – Rs. 2/56 (Geitling Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft mbH) – Slg. 1957, 9, das Verfahrensdossier ist zugänglich unter CJUE-557. Die Schriftsätze der Hohen Behörde sind
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te das Wettbewerbsrecht mit dem Diskriminierungsverbot, und erstreckte das Kartellverbot sowohl – was sicherlich erwartbar ist – auf das Verhältnis zum Käufer, als auch – und das ist weniger selbstverständlich – auf das Verhältnis der Kohleproduzenten untereinander. Ein weites Verständnis vom Anwendungsbereich der wettbewerblichen Normen des Montanvertrages, die etwa auch die Preisbindung zweiter Hand und vertikal integrierte Unternehmen erfasse sollte, hatte Krawielicki bereits in seiner Monographie zum Monopolverbot im Schuman-Plan vertreten.45 Seinen Standpunkt bewertete die einschlägige, frühe Literatur zum Montanrecht durchaus kritisch.46 Der Gerichtshof bestätigte das Vorgehen der Hohen Behörde. Er sah die Vereinbarung als eine genehmigungsbedürftige Kartellabsprache an, die die Behörde zu Recht verweigert hatte, und erkannte zudem eine Diskriminierung zwischen Produzenten wie zwischen Händlern.47 Damit betonte der Gerichtshof den weiten Ermessensspielraum der Hohen Behörde. Die Behörde durfte die Grundsatzbestimmungen des Montanvertrages unmittelbar anwenden, selbst in dem Fall, das war das Neue in der Rechtssache Geitling, wenn sich eine besondere Norm des Wettbewerbsrechts (wie Art. 65 EGKS-Vertrag) parallel zu den Grundsatzartikeln auf denselben Sachverhalt erstreckte. Der Gerichtshof hielt eine gleichzeitige und konkurrierende Anwendung des Diskriminierungsverbots wie der Wettbewerbskontrolle für vertragskonform.48
IV. Mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft existierten ab 1958 insgesamt drei rechtlich selbständige Integrationsverbände. Die Römischen Verträge sahen schon vor, dass die Parlamentarische Versammlung, der Europäische Gerichtshof und der Wirtschafts- und Sozialausschuss als jeweils einheitliches Organ ihre Aufgaben für die drei Gemeinschaften wahrnehmen würden;49 der Ministerrat sowie die Kommission, d.h. die Kommis sionen von Euratom und EWG sowie die Hohe Behörde bestanden hingegen als selbständige Organe für je eine Gemeinschaft fort. Mit dem Jahr 1960 begann eine von Robert Krawielicki als Bevollmächtigtem der Hohen Behörde und von Philipp Möhring als deren Rechtsbeistand unterzeichnet. 45 In einem (unveröffentlichten) Vortrag Krawielickis vor der Deutsch-Niederländischen Juristenvereinigung vom 1.11.1953 heißt es dazu: „Grundsätzlich hat sich der Vertrag für eine Wirtschaft des freien Wettbewerbs entschieden; […].“, Transkript, CEAB 1–19, Bl. 90. 46 Siehe Jerusalem, Das Recht der Montanunion, 1954, insb. 146 ff., mit zahlreichen Nennungen der Monographie Krawielickis in den Anmerkungen. Der Autor dankt Robert Krawielicki und Walter Much im Vorwort für ihre „kritischen Hinweise“ im Vorfeld. Walter Much (1913–1975) war seit 1952 Rechtsberater der EGKS und war Krawielickis Nachfolger im Amt des Generaldirektors, zunächst für die EGKS, nach dem Inkrafttreten des Fusionsvertrages des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission. 47 EuGH, Urt. v. 20.3.1957 – Rs. 2/56, Slg. 1957, 9 (44 ff.). 48 Ausf. zum Ermessensspielraum der Hohen Behörde und der Rechtsprechung des Gerichtshofs Thiele (Fn. 8), 283 ff. 49 Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25.3.1957, BGBl. 1957 II, 1156.
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europapolitische Debatte, die unter dem Stichwort Fouchet-Pläne50 in die Integra tionsgeschichte eingegangen ist, und in deren erfolglosem Verlauf auch die Zusammenlegung von Ministerrat und Kommission sowie Fragen des geografischen Sitzes der Organe diskutiert wurden. Nachdem die Pläne für eine Politische Union gescheitert waren, beauftragte der Rat den Ausschuss der Ständigen Vertreter damit, einen Plan für die Zusammenlegung auszuarbeiten – unter Beteiligung von Vertretern der beteiligten Organe. Aus dieser Zeit stammt eine Ausarbeitung Krawielickis über die Strukturunterschiede zwischen dem Montanvertrag und dem EWG-Vertrag, die er 1965 in der Festschrift für Philipp Möhring, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof und Rechtsbeistand für die Hohe Behörde, veröffentlichte.51 Der Aufsatz ist einen näheren Blick wert, weil er einen Einblick in das analytische Denken des Autors und sein juristisches Selbstverständnis gibt. Dem Vergleich der Vertragswerke liegt die These zugrunde, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nicht weniger, sondern lediglich anders supranational sei, als die Montanunion. Krawielicki verwendet für die Charakterisierung der Verträge, die wie eine Selbstvergewisserung über zukünftige Handlungsmöglichkeiten wirkt, die aus dem französischen Recht stammende Unterscheidung zwischen traité cadre und traité de règles.52 Der Montanvertrag wird als traité de règles eingeordnet, weil er für alle wesentlichen Sachfragen die materiellen Rechtsvorschriften einem Gesetz vergleichbar enthalte. Die Folge daraus sei, dass die Hohe Behörde nur ausnahmsweise Normsetzung betreibe und überwiegend als Verwaltungsbehörde tätig sei. Der EWG-Vertrag hingegen sei ein traité cadre, weil er neben „einigen allgemein gehaltenen Programmsätzen […] nur wenige, unmittelbar anwendbare materielle Rechtsnormen enthalte.“ Der Vertrag gebe die Möglichkeit, den allgemeinen Rahmen durch die Schaffung materiellen Rechts auszufüllen.53 Ein Hinweis auf die 1964 ergangene Entscheidung in der Rechtssache van Gend & Loos, mit der die unmittelbare Anwendbarkeit bestimmter Normen des EWG-Vertragsrechts angenommen wurde,54 findet sich nicht. Aus dem Strukturunterschied, Verwaltung in der Montanunion, Rechtsetzung in der Wirtschaftsgemeinschaft, zieht der Autor Schlussfolgerungen für die Rolle der Organe und letztlich auch für die angestrebte Fusion der Verträge. Wenn man politisch mit der Wirtschaftsgemeinschaft das Konzept eines traité cadre verfolge, so sei es folgerichtig, auch dem Ministerrat die Befugnis zuzuweisen, Ge-
50 Für Einzelheiten vgl. Loth/Bitsch, Die Kommission Hallstein 1958–1967, in: Dumoulin (Hrsg.), Die Europäische Kommission 1958–1972, 2007, 57 ff. (80). 51 Krawielicki, Strukturunterschiede zwischen Montanvertrag und dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und ihr Einfluss auf die Fusion der Verträge, in: FS für Philipp Möhring, 1965, 483 ff. Krawielicki war in der Hohen Behörde bereits 1964 mit Rechtsfragen einer Fusion befasst, siehe entsprechende Vermerke in HAEU, Fond CECA Haute Autorité, Service Juridique, CEAB 02-1012. 52 Krawielicki (Fn. 51), 490. Die Unterscheidung wurde in der Literatur schon zuvor verwendet, siehe van der Goes van Naters, La portée de l’intégration européenne, in: Limits and Problems of European Integration, Stichting Grotius Seminarium, 1963, 47 (49); der Beitrag beruht auf einem Vortrag aus dem Jahr 1961; Policy Report of the High Authority, in: European Yearbook XII (1964), 491 (498 f.), mit dem Hinweis, dass die Verträge jeweils für eine Mischung aus beiden Strukturprinzipien stünden. 53 Krawielicki (Fn. 51), 493. 54 EuGH, Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 (van Gend & Loos) – Slg. 1963, 1.
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staltungsspielräume auszufüllen55 – Krawielicki argumentiert an dieser Stelle gegen die Interessen der Hohen Behörde. Doch die weitere Argumentation macht den Eindruck, dass dieser Standpunkt mit der tatsächlichen Entwicklung in dem Zeitraum von 1950 bis Mitte der 1960er Jahre abgeglichen ist und auf einer verfassungspolitischen Gesamtschau beruht. Krawielicki verweist auf die veränderte wirtschaftliche Lage, die nicht mehr durch Mangel, sondern durch eine Überschussproduktion56 gekennzeichnet sei; nur durch die Einbeziehung von Kohle und Stahl in die Vollintegration eines Gemeinsamen Marktes, der dann auch Konkurrenzprodukte adressiere, könne etwa eine gemeinsame (Energie-)Politik verwirklicht werden. Deshalb spreche Vieles dafür, die Kohle- und Stahlindustrie bei einer Fusion der Verträge in den EWG-Vertrag einzubeziehen.57 Krawielicki ist sich der Tragweite seiner Argumentation bewusst, die im Ergebnis darauf hinauslief, die Eigenheit der Hohen Behörde in der neuen, einheitlichen Europäischen Kommission nicht fortzuführen. So seien die wichtigen Grundsatzartikel des Montanvertrages (Art. 2 bis 5 EGKS-Vertrag) innerhalb des zurückhaltenden und elastischen EWG-Vertrages „schwerlich zu rechtfertigen.“58 Dass Krawielicki durchaus eine Gesamtidee von der Architektur der europäischen Integration hatte, die sich hinter dem reflektierten Argumentationsstil dem Leser nicht aufdrängt, zeigt eine abschließende Überlegung zum Verhältnis von Recht und Politik, die seitdem nichts an Aktualität eingebüßt hat. Er kritisiert die Neigung, ein bestimmtes ökonomisches Modell „bis ins letzte justiziabel zu gestalten“, wodurch dem Recht eine Aufgabe und dem Richter eine Verantwortung übertragen werde, die politischen Instanzen zukomme. Konsequent spricht er sich dafür aus, auf die zitierten Grundsatzartikel des Montanvertrages in einem neuen Vertragswerk zu verzichten.59 Mit anderen Worten, die legitimatorische Tragfähigkeit einer Rechtsgemeinschaft, ein von Walter Hallstein in dieser Zeit entwickeltes Konzept,60 ist ebenso begrenzt wie die integrierende Kraft der Rechtsprechung. Die Politik solle dazu stehen, dass Europa auch ein politisches Projekt ist. Im April 1965 schlossen die Mitgliedstaaten den Fusionsvertrag.61 Mit Art. 9 des Vertrages wurde eine Kommission der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel eingesetzt. Diese Kommission war nicht mehr mit der besonderen Handlungsmacht der Hohen Behörde ausgestattet und so war es nur konsequent, dass Frankreich und Deutschland dem niederländischen Namensvorschlag „Haute Commission“ widersprachen, und stattdessen „Commission“ und „Commission des Communautés Européennes“ befürworteten.62 Krawielicki (Fn. 51), 501. Vgl. dazu besonders die sogenannte Kohlekrise seit 1958, ausf. Spierenburg/Poidevin, The History of the High Authority of the European Coal and Steel Community, 1994, 395 ff. 57 Krawielicki (Fn. 51), 508. 58 Krawielicki (Fn. 51), 509, 511. 59 Krawielicki (Fn. 51), 516. 60 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, 33 f.; näher zu dem Konzept und seiner Entstehung Schorkopf, Der Europäische Weg, 2. Aufl. 2015, 124 ff. 61 Vertrag vom 8.4.1965 zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, BGBl. 1965 II, 1454. Der Fusionsvertrag trat am 1.7.1967 in Kraft. 62 Commission de Communauté économique européenne, Secrétariat, Note pour MM. les memb55
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Die Zeichen in Luxemburg, am Sitz der Hohen Behörde, standen auf Abschied.
V. Robert Krawielicki war ein Mann der Gründungsjahre des organisierten Europas,63 ein Europarechtler und Bediensteter der ersten Generation. Seine akademische Sozialisation, seine juristischen, analytischen und sprachlichen Fähigkeiten qualifizierten ihn für die neue Aufgabe in einem europäisierten Verwaltungsstab, für die es kaum Vorbilder gab.64 Alles traf auf einen Willen, den Schritt nach Luxemburg in zunächst ungeklärte Statusverhältnisse65 zu wagen.66 Sein Lebenslauf und seine integre Vergangenheit machten ihn – auch aus dem Blickwinkel der um Anerkennung bei ihren Nachbarn bemühten jungen Bundesrepublik – zu einem idealen Vertreter in der Hohen Behörde der Montanunion. Krawielicki schlug mehrere Angebote aus, in die akademische Lauf bahn und damit in die Bundesrepublik und den Beruf, den er immer angestrebt hatte,67 zurückzukehren. Darunter befand sich der 1960 erteilte Ruf auf die erste und seinerzeit einzige Professur für das Recht der Europäischen Gemeinschaften an der Universität Saarbrücken.68 Welche tragenden Gründe die Absagen hatten, lässt sich nicht eindeutig aus den Quellen beantworten. Krawielicki nennt in der Korrespondenz keinen singulären Grund. Sicherlich lässt sich auch nicht ganz ausblenden, dass die Besoldungs- und Versorgungsbedingungen eines Lehrstuhlinhabers und eines Beamten der Hohen Behörde sehr unterschiedlich waren und zugunsten des Letzteren ausfieres de la Commission, Objet: Fusion des Exécutifs, 15.10.1963, HAEU, BAC038/1984-10, 386 (387); Les Conseils des Communautés européennes, Note, Objet: Problèmes posés, dans l’état actuel des textes en vigueur, par la fusion éventuelle des deux Commissions et de la Haute Autorité, d’une part, et des trois Conseils, d’autre part, 23.10.1963, HAEU, BAC038/1984-10, 379 (380). 63 Von der Groeben, Auf baujahre der Europäischen Gemeinschaft, 1982, dort allerdings bezogen auf den Zeitraum ab 1958. 64 Den prägenden Einfluss der beruflichen Sozialisation von Michel Gaudet (Conceil d’Etat) und Robert Krawielicki (Ministerium) auf die Personalpolitik des Juristischen Dienstes betont Vauchez, L’Union par le droit, 2013, 59, allerdings bleibt Krawielickis akademischer Hintergrund dabei außen vor. Zum administrativen Erfahrungshorizont der an der Montanunion beteiligten Personen Kaiser, Transnational Practices Governing European Integration, Contemporary European History 27 (2018), 239 (242 ff.). 65 Zum Personalstatut der Montanunion („Beamtenstatut“) näher Herbst, Zur Entstehung einer europäischen Bürokratie. Das Beispiel der Montanunion, in: Trausch (Hrsg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom, 1993, 163 (180 ff.). 66 Krawielicki wurde vom Bundesministerium der Justiz zunächst abgeordnet, später dann bis zu seinem Tod beurlaubt. Das Beschäftigungsverhältnis wurde durch ein von Jean Monnet unterzeichnetes Anstellungsschreiben begründet, es folgte 1954 ein Dienstvertrag. Mit dem Inkrafttreten des Personalstatuts der Montanunion wurde Krawielicki 1956 in den Status eines beamteten Bediensteten übergeleitet. 67 So ausdrücklich in einem Brief Robert Krawielickis an Friedrich Rau, den Kurator der Universität Frankfurt, vom 17.11.1955, mit dem er die Voranfrage für die Übernahme einer Professur abschreibt: „Es sind andere Gründe, die es mir im Augenblick verbieten, mich dem Berufe zuzuwenden, den ich immer abgestrebt habe – bisher allerdings vergeblich.“ 68 Brief des Saarländischen Ministers für Kultus, Unterricht und Volksbildung an Robert Krawielicki vom 17.7.1960, Az.: V/V1-UIS-P. Krawielicki bekundete sein Interesse an dem Lehrstuhl auf Empfehlung von Staatssekretär Walter Strauß, Brief Krawielickis an Bernhard Aubin vom 18.5.1960.
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len. In dem Briefwechsel aus dem Jahr 1955 mit dem Dekan der Heidelberger Fakultät, der sich nach seiner Gewinnbarkeit für einen Lehrstuhl erkundigte, verwies Krawielicki auf die Aufgabe in Luxemburg, der er sich „doch für einige Jahre verpflichtet fühle.“69 Bei dem erwähnten Ruf aus Saarbrücken fünf Jahre später, Krawielicki hatte bereits mit dem Ministerium über die Berufungsbedingungen verhandelt, mag eine Rolle gespielt haben, dass er im Frühjahr desselben Jahres in der Hohen Behörde auf die Position eines Generaldirektors befördert worden war. Eine entscheidende Rolle scheint jedoch sein Ethos und die Verbundenheit mit der Tätigkeit für die Hohe Behörde gespielt zu haben – mehrfach ist in den Briefen aus dem Nachlass von einer moralischen Verpflichtung und einem schlechten Gewissen die Rede, die sich weiterhin formierende Behörde in Luxemburg, für die er sich 1952 entschieden habe, im Stich zu lassen.70 Dabei wird nicht nur die fachliche Tätigkeit, sondern auch das positive kollegiale Umfeld und nicht zuletzt der Familienwohnsitz71 in Luxemburg ein Motiv gewesen sein. Krawielicki war ein angesehener und hoch geschätzter Beamter der Hohen Behörde – daran lassen vor allem die Äußerungen von Kollegen keinen Zweifel.72 Diese Äußerungen zeichnen das Bild eines dem Rechtsdenken verpflichteten, integren Mannes, der das von der Politik gesetzte Ziel beharrlich, in Form und Stil klar wie begründend, mit wachem Blick für die Wirklichkeit verfolgt. Die komplementäre Seite der inneren Verbundenheit mit der Hohen Behörde verkörpert die Andeutung, der Schritt nach Luxemburg könnte Anfang der 1950er Jahre auch von Enttäuschungen über die deutschen Nachkriegskarrieren belasteter Funktionseliten gespeist gewesen sein. Diese „Enttäuschungen“ lassen sich nicht auf Namen und Situationen herunterbrechen. In den Akten über die Ernennung Krawie lickis zum außerordentlichen Professor an der Tübinger Juristenfakultät und zum Ministerialrat im Bonner Justizministerium wird ausdrücklich auch auf das Leid hingewiesen, das ihm nach 1933 zugefügt worden war und das zu dem biographischen Bruch geführt hatte. Er selbst lehnte es mit Hinweis auf das größere Leid anderer ab, einen Antrag auf Wiedergutmachung zu stellen.73 Mit dem Inkrafttreten des Fusionsvertrages begann ein institutioneller Wandel der Europäischen Kommission. Der deutsche Kommissionsbeamte Klaus Otto Nass beobachtete Ende der 1960er Jahre, dass die Kommission ihr Initiativrecht weniger politisch einsetze und weniger selbstbewusst gegenüber dem Rat auftrete, sich stattdessen nunmehr auf die Überwachung des Normenvollzugs konzentriere.74 „Der ‚Motor‘ 69 Brief von Robert Krawielicki an Wilhelm Gallas, Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, vom 27.12.1955. 70 Brief Robert Krawielickis an Friedrich Rau (Fn. 67). 71 Robert Krawielicki heiratete im Juli 1947 in Stuttgart Mathilde Krawielicki, geb. Gleichauf; im Jahr 1956 wurde Sohn Stefan, im Jahr 1957 Sohn Martin geboren. 72 Etwa die Interviews mit Gérard Olivier par Gérard Bossuat et Myriam Rancon à Paris le 4 décembre 2003, HAEU, Oral History, INT714, 5 f.; Interview with Michel Gaudet by F. Duchêne, Paris 15.4.1988, HAEU, Oral History, INT500, 15–17. 73 Bundesministerium der Justiz, Personalakte P 11-K10, Brief von Robert Krawielicki an Günther Joël, Leiter der Abteilung III und Unterabteilung III B im BMJ, vom 4.10.1963, Bl. 114–117 der Akte. Zur Abteilung Wirtschaftsrecht und der Person Joëls, der Krawielickis Vorgesetzter war, Görtemaker/Safferling (Fn. 25), 336 ff. 74 Nass, Eine Institution im Wandel, in: FS für Ernst-Joachim Mestmäcker, 1996, 411 (414 ff.). Nass
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hat angefangen zu stottern“, stellte Walter Hallstein in der Rückschau Ende der 1970er Jahre fest.75 Krawielicki selbst war für eine Ausweitung des Gemeinschaftsgedankens auf weitere Wirtschaftssektoren und damit für eine inhaltliche Erweiterung der Integration eingetreten. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war insoweit der konsequent nächste Schritt. Die Quellen enthalten keinen Hinweis darauf, dass er an dem Erreichten, dem acquis der Montanunion hatte festhalten wollen; der zitierte Beitrag zu den Strukturunterschieden zwischen Montanunion und Wirtschaftsgemeinschaft betont seinen abgewogenen Blick auf die europäischen Institutionen. Könnte die über Jahre entwickelte und im Gemeinschaftsalltag bestätigte Gewissheit dahinter stehen, dass die Idee einer durch die Politik instruierten „Integration durch Recht“76 auch in einer veränderten Organisationsform eines Gemeinsamen Marktes funktionieren würde? Es war sicherlich der nächste Schritt auf dem Weg in eine föderative Verfassungsstruktur der beteiligten Staaten. Die Arbeit Robert Krawielickis in der Hohen Behörde, am Schmelztiegel eines allgemeinen europäischen Rechts, ist fraglos mehr als der biographische Baustein einer bloßen Vorgeschichte zunächst der Wirtschaftsgemeinschaft und sodann der Europäischen Union. Sie ist ein bedeutsames – noch nicht ausgeschöpftes – Aufmerksamkeitsfeld für eine Verfassungsrechtsgeschichte der europäischen Integration.
war in jenen Jahren Mitglied im Kabinett von Hans von der Groeben, deutsches Mitglied in der Europäischen Kommission und ab 1953 Leiter der Unterabteilung „Schuman-Plan“ im Bundeswirtschaftsministerium. 75 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, 87. Hallstein war ebenfalls Assistent von Martin Wolff gewesen und hatte sich 1929 an der Berliner Fakultät habilitiert. 76 Jean Monnet schreibt rückblickend in seinen Memoiren über Krawielicki: „Mit Gaudet und seinem deutschen Kollegen Kravelicki [sic] war der Vertrag unauf hörlich und manchmal drückend gegenwärtig. Aber alles gewann an Klarheit und Kraft, denn diese beiden Geister, die die gleiche Ausbildung genossen hatten und eng miteinander verbunden waren, entwickelten das europäische Recht weiter, das sie als einen dynamischen Prozeß verstanden.“, Erinnerungen eines Europäers, dt. Übers., 1988, 487.
Entwicklungen des Verfassungsrechts
On Presidentialism The Problem of the System of Government in Argentina, Brazil, and Colombia1 by
Prof. Dr. Raúl Gustavo Ferreyra (Buenos Aires) Contents I. Context . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 II. Claim and Argumentative Strategy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 III. On Presidentialism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 IV. Final Remarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
I. Context In the second decade of the 21st century, South American states are legally organized by a constitution – a written code defining the observance of rules securing peaceful existence. Such rules, also, are identified and realized with a fair level of freedom by the representatives acting on behalf of citizens – at least to a certain degree. I believe social equality relations are a pending issue. Exclusion, based in “market fundamentalism”2 which sometimes is overwhelming cannot be forgiven and is scandalous in terms of reason, as it delays development and results in disastrous crises. The effectiveness of a constitution as a collective rule for order depends on the fact that citizens and public servants cannot and should not act on their own. They must act for a common goal: to realize the constitution’s provisions in a continuing and fair manner. 1 I dedicate this work to Doctor Roberto Freue. I wish to thank legal translator Mariano Vitetta, who translated this essay from Spanish into English, and professors Mario F. Cámpora, Leandro E. Ferreyra, Enrique Javier Morales, Raúl Zaffaroni, Diego Dolabjian, Julio Maier, Diego Valadés and diplomé en philosophie Juan Ignacio Ferreyra and student Ramiro F. García Quiroga for their valuable comments on the original version of this article. 2 Zaffaroni, Elogio del parlamentarismo, Le Monde diplomatique, year XIV, No. 160, Buenos Aires, 2012, 4.
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The constitution3 is a basis of the state; specifically, its fourth element. In South America, constitutions are the basis of states and this basis is realized, in turn, through four rules: subordination rule, variation rule, basic-right action rule, and separationof-powers rule.4 Power is unique, but it may be distinguished in different branches. While there is only one power of the state, there are several departments or agencies trying to exercise such power, with successes and failures. To that end, to exercise power it is necessary to harmonically divide power into branches, whose constituted bodies must conform to the pertaining standards. The differentiation of the branches of power is based on the fact that to have a strict discipline it is necessary to rationally divide power. The constituent law of the state, “rule-formalized politics,”5 imposes standards on the power itself. Where there is no legal reason to regulate a situation or relation, there is pure liberated, wicked, and undisciplined will, i.e. non-law. The proscription of legal reason by will of the state annuls the law and creates a path set for autocracy. The rule on the distinction of power works vertically and horizontally. In the first sense, it works based on higher governmental decentralization (federal powers), while in the second case it is realized with the highest governmental centralization (unitary powers). The powers giving rise to the regional model are in between federal and unitary typologies. Considering the rule on the distinction of power in its horizontal approach, such rule results in constituent powers and constituted powers, on the one hand, and the separation of functions of constituted powers, on the other hand. The nature, scope, limits, defects, and judicial review on the constituent power, both the original and the reforming powers, have been analyzed in another text.6 Regarding the horizontal distribution of functions, the model on the separation of powers was invented in Europe, but in the Americas it was codified in writing with the 1787 Philadelphia Constitution. The U.S. government system is known as “presidential” as opposed to the “parliamentary” system. The 1787 U.S. Constitution gathers, extends, and perfects the ideas explained by Montesquieu7 approximately 3 Häberle, The Rationale of Constitutions from a Cultural Science Viewpoint, in: Kotzur (ed.), Peter Häberle on Constitutional Theory. Constitution as Culture and the Open Society of Constitutionals Interpreters, 2018, 230–231. 4 The first three (subordination, variation, and action) have already been identified in Ferreyra, Manifiesto sobre el Estado constitucional. Reglas fundamentales sobre raigambre y justificación de la comunidad estatal, 1ª parte, Revista de Derecho Público, n° 10, Presidencia de la Nación, Ministerio de Justicia y Derechos Humanos, 2015, Ediciones Infojus, Id SAIJ: DACF150418, 37–124; 2ª parte, Revista de Derecho Público, n° 11, Presidencia de la Nación, Ministerio de Justicia y Derechos Humanos, 2015, Id SAIJ: RV000120, 109–182. Another version, which is extended, updated, and corrected, has been published by the Editorial de la Universidad Abierta Latinoamericana, Medellín, 2017, 264 pp. 5 Maier, Derecho y democracia, in: Maier (ed.), Mientras estés conmigo, 2017, 372. 6 Ferreyra, Reforma constitucional y control de constitucionalidad. Límites a la judiciabilidad de la enmienda, Buenos Aires, 2007. This work has also been published in Mexico, D.F. by Porrúa, 2008. 7 Montesquieu, Del espíritu de las leyes, Barcelona, Altaya, 1993 [original circa 1748], 115: “In every government there are three sorts of power: the legislative; the executive in respect to things dependent on the law of nations; and the executive in regard to matters that depend on the civil law. By virtue of the first, the prince or magistrate enacts temporary or perpetual laws, and amends or abrogates those that have been already enacted. By the second, he makes peace or war, sends or receives embassies,
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forty years before, to the point that each of the three departments responsible for the configuration of the State have clearly defined, specific functions. It may be said that theory tries to establish a system organizing power with balance and harmony, through reciprocal checks and balances, with the plan to specialize functions. In line with this idea, to legislate, to administer, and to adjudicate are key flags of the American constitutional path started in 1787.8 This is a great seminal message for global constitutionalism. European ideas regarding the separation of governmental functions which prevailed during the 17th and 18th centuries were not exactly equal to the ones advocated by the patriots who created the presidentialist republics in South America beginning in the 19th century. Even though the liberal constitutional movement was born almost at the same time on one side of the Atlantic and the other (e.g. the American Independence in 1776 and the French Revolution in 1789), the physiognomy of each process was of course different. To a certain extent, in the European notion, separation or distinction of governmental functions need not mean assigning each of the departments as interdependent between themselves, and in perfect balance, a fairly symmetric and equivalent portion of governmental will. Such conception, in turn, undermined the idea that courts could be one of the possible guardians of the constitution, never the only one. South American constitutions reflected, to a greater or lesser extent, the structure of the 1787 United States Constitution, according to which the distinction between governmental branches entailed not only organizing but also assigning, with some equivalence at least in the founding text, the distribution of tasks between each branch of Government. The 1787 Federal Constitution of the United States aims at putting in practice the ideas on reciprocal checks and balances, with parallel execution of the separation of governmental functions.9 The U.S. Constitution established a state of things which was an essential reference for any nation with constitutional aspirations.10 Its model received a lot of attention establishes the public security, and provides against invasions. By the third, he punishes criminals, or determines the disputes that arise between individuals. The latter we shall call the judiciary power, and the other, simply, the executive power of the state.” 8 The literature on the Revolution, the 1776 Declaration, and the 1787 Constitution is extremely vast and requires a specific universe of ideas. I cite works in which I have had a particular interest in connection with the argument developed in the body of the text. While I cannot assert that this is fundamental literature, I believe that these works are essential: Reed Amar, America’s Constitution. A Biography, 2006; Tushnet, Red, White and Blue. A Critical Analysis of Constitutional Law, 1988; Zinn, A People’s History of the United States, 2003; Ackerman, We the People, Foundations, I, 1991 and We the People, Transformations, II, 2001; Bailyn, Los orígenes ideológicos de la Revolución norteamericana, 2012; Toinet, El sistema político de los Estados Unidos, 1994; Tocqueville, La democracia en América, 1992; Tribe, American Constitutional Law, 2nd ed. 1988 and Pritchett, La Constitución Americana, 1965. 9 See Corwin, The Constitution as Instrument and as Symbol, The American Political Science Review, Vol. 30, No. 6, American Political Science Association, 1936, 1071–1085. 10 Carlos Nino said that in the case of the United States, while the Executive is a powerful institution, especially in connection with foreign affairs, it is strongly conditioned to the Congress due to the Congress’ financial control and influence regarding appointments, whether through the constitutional intervention of the Senate or laws regulating the function such function, without depriving the president from the president’s inherent functions (Nino, Fundamentos de Derecho Constitucional, 1992, 520).
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by the founding fathers of most South American republics in the 19th century, due to a simple reason: that was the only model they had back then. The presidentialist imprint which was the feature of their systems of government was based on the simple fact that back then there was only one republican model in application. A model which had rapid and unusual prestige, as it gave rise to a context of “growing wealth, freedom, success, and power […] provided that not much attention is given to the victims.”11 But in the true development of the executive the evident influence of the United States has not been the only one. In the big picture of constituent processes in the 19th century in South America, autocratic leaderships and the cult of personality must also be considered. And the illusion of magical solutions to face the deep original social injustice. Many South American constitutions, especially during the 19th century, instead of being intended to provide a foundation for the state, aimed at reaching some form of stable and long-lasting peace, in the context of the fateful civil wars that had preceded them. That is why such constitutions were not enforceable, or were only enforceable for a short or interrupted period of time. As I have mentioned, the rising South American republics of the 19th century, considering the hundreds of constitutional models tried from that date until our days,12 tried to imitate the U.S. model of 1787. But the result has been pretty harmful, because the accumulation and hegemony of the U.S. power were copied, but without designing any effective controls or shared powers. Therefore, it may be suspected that, from the point of view of the “social technology in the making”13 that is constitutional law in South America, the relationship between constituted powers was one of coordination, as the presidential leadership always aims at hegemonizing all governmental power. So much concentration of power would question the possibilities of constitutional balance, especially regarding its system (presidentialism), as well as regarding its form of government (republican).
II. Claim and Argumentative Strategy Now I will start elaborating on the executive, an institution that results in presidentialism, the only model known to operate the system of government. This is my basic claim: State orders which opt for a presidentialist constitutional government regularly show impotence or failure in the separation of powers, which favors the executive becoming the preponderant branch of power. Below I will describe and justify such a system, always strictly examining its normative bases. It must be noted that, in light of the claim made, two specific aspects of presidentialism are studied. On the one hand, the concentration of functions in the 11 Chomsky, Réquiem por el sueño americano. Los diez principios de la concentración de la riqueza y el poder, Mexico, D.F., Sexto Piso, 2017, 19. 12 Gargarella, La sala de máquinas de la Constitución: Dos siglos de constitucionalismo en América Latina (1810–2010), 2014. 13 Bunge, Las ciencias sociales en discusión, 1999, 323 ff.
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person of the leader of the process; on the other hand, the possible disqualification of the model due to the predominance exercised by the president over the other constituted powers and also over the “political-decision mechanisms in the Government.”14 The accumulation of functions that the president may assume is an obstacle for the rational separation of governmental functions. In sum, the concentration of executive powers, without any rational checks and balances, undermines the noble purpose of attaining stability in the constitutional order. I claim that the concentration of powers may lead to institutional instability. But I wish to clarify that the presidential instability does not entail assuming this retrodiction: that a parliamentary system of government would have had a better performance. I will not try to prove that parliamentarism is better as a model than presidentialism, if it were even possible to have an undoubtable mechanism or standard to make such comparison. My aim is more limited. I am no advocate of any traditional or new constitutional model, even if the fact that the state adopts a parliamentary or presidentialist system of government is the “most significant decision from the institutional point of view,”15 because it impacts on the pieces of its constituent order and the existential quality citizens may enjoy. My intention is to explain the structure of the president’s power and how that power is elected and possibly to find grounds supporting the claim that one single person has such amount of hegemonic power, before destroying the idea of the separation of powers and the expectations on the rationality of human activity. Always based on the basic claim just made, in section III I identify the features of the presidentialist system: a list of criteria which may be useful for its discovery and legal structure. I warn the reader that this essay will not answer in full the question “who is a president?” There is not a single system of government regulating the figure or a single person exercising the highest authority of the executive in a nation. There is a president in Colombia, another in Brazil, and another in Argentina, all of whom, in turn, have succeeded other presidents and will be succeeded by others. “The Presiding Citizen in South America” could be the title of a story or a novel, but never that of a legal essay or dissertation, given the wide array of citizens who have performed that function and the structures around it. Notwithstanding this, through successive approaches, I try to consolidate a standard to define the body of the presidentialist system. Also, here I do not make a comparison between constitutional texts. I do touch upon the constitutions of Argentina, Brazil, and Colombia, “as currently in force,”16 given that such instruments constitutionalize the democracies of the three nations with the largest populations in South America. That meaning given and no other – neither director nor indirect – may be Carpizo, El presidencialismo mexicano, 2002, 220. Alegre, Por una democracia sin presidentes, in: Gargarella (ed.), Teoría y crítica del Derecho constitucional, volume I, Democracia, 2008, 45. 16 Knowing the constitutional past is useful to place oneself in a continuing source of interpretation and allows to discover inexhaustible and indispensable fragments. While in this work I do not analyze the history of constitutionalism in Argentina, Brazil, and Colombia, I share with the reader some basic literature which has been useful for me in writing this text. Galleti, Historia constitucional argentina, volume I and II, 1972–1974; Restrepo Piedrahita, Constituciones políticas nacionales de Colombia, 1995; Bonavides/Andrade, História constitucional do Brasil, 2002. 14
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given to the reference chosen and the demarcation made. This has no inductive intentions at all. Argentina has one of the oldest constitutional systems in force, with interruptions and amendments, since 1853. Its basic law is considered from that date on and with the pertaining reforms of 1860, 1866, 1898, 1957, and particularly 1994; I will use the term Argentine Federal Constitution (AFC). Brazil has the constitutional system17 ordering the State with the largest territory and population, since 1988. With its more than 90 amendments,18 since then19 the Constitution of the Federative Republic of Brazil and its amendments is considered from that date (1988 CFRB). Colombia is a nation hurt by a violence epidemic where the “use of guns” is not and has not been “monopolized by anybody”:20 An illness that has started at least in 1946. Nowadays, with its Political Constitution and its reforms (1991 CPC),21 it represents an international challenge, because the uniqueness of its constitution is the most solid collective asset to conquer peace. Choosing some constitutional models adopted in those three countries does not entail generalizing for the rest of the models existing in South America, or any common denominators among themselves. However, avoiding inductive predictions does not rule out the possibility of making legal comparisons, as all models chosen by the different nations in South America for the constitutional government are, in moderate terms, intensely presidentialist.22
17 The description made of Brazil’s constitutional law is mainly based on the following references: Bonavides, Curso de Direito constitucional, 2011; Mendes/Sarlet/Streck/Saraiva (eds.), Comentários à Constituição do Brasil, 2014; and Barroso, Curso de Direito constitucional contemporâneo, 2012; Schwarcz/Starling, Brasil: Una biografía, 2016. 18 See Presidência da República: www.planalto.gov.br/ccivil_03/constituicao/emendas/emc/quad ro_emc.htm, last visited on March 21, 2018. 19 In Brazil, the 1988 Constitution (with its amendments) is the legal regime chosen by its citizens. In the 1988–2017 period, except for some setbacks and turbulence, the economy, business, production, employment, and finance have been growing steadily and with the highest margins and percentages in history. Also during the period analyzed an important amount of Brazilians have escaped indigence and poverty, even if there has not been a cure for the unequal distribution of richness and the access to the enjoyment of social assets. Flagrant social injustice has not been eliminated, and will not be eliminated in the next decades. It would be unfair to attribute the dynamics of such situations to the validity of a basic game rule – the 1988 Constitution. The same could be revealed if it were to be thought that the excessive growth of capital and the fragile reduction of poverty have no relationship at all with the weak validity of what ultimately is a vulnerable constitution. 20 Hobsbawm, ¡Viva la revolución!, 2018, 431. 21 The description of Colombian constitutional law is based on the following works: Lleras de la Fuente/Tangarife Torres, Constitución política de Colombia. Origen, evolución y vigencia, volumes I, II, and III, 1996; Lleras de la Fuente//Arenas Campos/Charry Urueña/Hernández Becerra, Interpretación y génesis de la Constitución de Colombia, 1992; Melo, Historia mínima de Colombia, 2017. 22 Here Tolstoy’s statement may be applicable: “Happy families are all alike; every unhappy family is unhappy in its own way” (Tolstoy, Ana Karenina, Barcelona, Juventud, 2015, 5).
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III. On Presidentialism Constitutional democracies, in the republican form, offer two systems of government: presidentialism and parliamentarism. But there is no presidential model like another. There is no parliamentary model identical to another. Each governmental model mentioned for the republican system has inherent qualities distinguishing it. For example, the United States (1787 Constitution and the pertaining amendments) and Colombia (1991 CPC and its amendments) adopt the presidentialist system of government, but each of the constitutions adopts that model with different prescriptive semantics. It is possible to make a comparison, but not to find similarities between them. Germany (1949 Constitution and its amendments) and Italy (1948 Constitution and its amendments) are republics adopting parliamentary models. However, in each of them the system of government is unique and even selective, if we were to make a comparison of the pertaining legal models. Also, between parliamentarism and presidentialism there are some other systems of complex denomination, such as the French semipresidentialist system (1958 Constitution and its amendments) or the Swiss collegiate system (2000 Constitution). Since the invention of the constitutional state as a result of the U.S. Constitution of 1787, there is no patent ensuring that a model of system of government will work in any part of the world, in consistency with the normative provisions authorizing to do so. The constitution, just like a vehicle, a computer, or a cellphone, is a technological object, a result of human reason and experience. However, its operation is not like the rest of the worldly objects mentioned. A constitution’s handbook, unlike that of a car, a computer, or a cellphone, is implemented by citizens and public servants. In search of a definition, the claim that “a presidential system is not parliamentary, and a parliamentary system is not presidential,”23 even if it constitutes undeniable progress as it authorizes the mutual exclusion of the models confronted, is not fully sufficient. It is not enough to state that the difference between parliamentarism and presidentialism is that parliamentarism prioritizes cooperation and aims at securing a balanced representation; while in presidentialism the executive powers are given to someone based on the judgment of the majority, because “the winner takes it all,”24 and I add: for some time. Finally, little is gained by stating that in parliamentary systems of government power is “shared”; while in presidential systems of government this does not happen, as the monologue prevails. In Argentina, the AFC includes four sections in the first title “Federal Government” of its second part, “Authorities of the Nation,” to the separation of powers, and the distribution of powers to the bodies in charge of their institutionalized exercise. The first section covers the “Legislature” (articles 44 to 87); the second section, the “Executive” (articles 88 to 107); the third section, the Judiciary (articles 108 to 119) and the fourth, the Attorney General’s Office (article 120). 23 Sartori, Ingeniería constitucional comparada. Una investigación de estructuras, incentivos y resultados, 1996, 97. 24 Linz, Democracia presidencial o parlamentaria. ¿Hay alguna diferencia?, in: Consejo para la consolidación de la democracia (ed.), Presidencialismo vs. Parlamentarismo. Materiales para el estudio de la Reforma constitucional, 1988, 40.
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In Brazil, the 1988 Constitution regulates the “Organization of the Branches of Power” in three chapters of Title IV. Chapter I (articles 44 to 75) covers the “Legislature”; Chapter II (articles 76 to 91), the “Executive,” and Chapter III (articles 92 to 134), the “Judiciary.” In Colombia, the 1991 CPC defines in article 113 what is known as “Branches of Public Power: the Legislature, the Executive, and the Judiciary.” The following paragraph, even if it is an instrument more modern than the Argentine and the Brazilian ones, and maybe to increase the surprise of the off-guard citizen, reads “In addition to the bodies which are part of them, there are other autonomous and independent bodies for the performance of the rest of the functions of the State. The different bodies of the State have separate functions but collaborate in harmony to attain their aims.” Title VI of the 1991 CPC regulates the “Legislative Branch” (from article 132 to 187). Title VII regulated the “Executive Branch,” (article 187 to 227). In turn, the “Judicial Branch” has been regulated in Title VIII (articles 228 to 257). In every democratic community its free citizens are sovereign. In the exercise and development of the sovereignty of their freedom, there might be other limits than the respect for the freedom of every other citizen and the reasonable requirements to secure existence in peace. The aggregation of citizen sovereignties for individual self-governance is the only way to express the self-governance of a community. No citizen requires the separation of that citizen’s powers for self-governance. This would be inconsistent with the citizen’s implacable individual sovereignty. However, the principle of separation is an essential matter to offer self-governance from the legal standpoint to the community. The development of self-governance of citizens in a community can only be realized in a democracy, with the fairness and ability they show to divide the community power to be used to govern. Argentina, Brazil, and Colombia have decided, each with its own particularities, to process the separation of powers in their republican houses.25 There is no separation of powers higher than another, or worse than another. The idea of separating powers is unrivalled, as the concentration of its exercise lacks any possibility of rational understanding or justification. It must be noted that the idea against any statement about non-division of power and advocating its division results in an assertion and a denial. This way, the basis of rules themselves is supported and any cults of the person of any leader must be denied. Perhaps there could be a cult of rules, but never of personalities. The presidentialism essayed in Argentina, Brazil, and Colombia – in each country with their own distinctive features – is a system of government with a separate legislature, executive, and judiciary, but under the lead of an absolute director. Before being invented by law, there was of course no presidentialism. Transplanted from its original source to South America, presidentialism was adopted with the essential 25 Here I want to highlight a curious point showing the exquisite old nature of the Argentine text. Its Constitution is shorter than the Colombian and the Brazilian constitutions. However, in the legal architecture, the division of powers in Argentina takes almost two thirds of the entire text. While for the same purposes, the Brazilian and Colombian texts occupy approximately one third of the constitutions of their States. It is not appropriate to derive from this fact any conclusion other than the form of writing legal instruments.
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idea of divided power, with the creation of an absolute authority: the magnificent president. I will list a series of elementary qualities which contribute to the presidential system, following the features of the South American countries chosen. The intention is limited: I do not want to develop a consistent drama line. My aim is just to list some basic features to define a presidential model. I also note that the success of the model rests in all the criteria applied to define it. To that end, I will make a detailed explanation and analysis. It must be remembered that in section II I mention the “concentration of powers” and the “instability of the regime.” Below, in section III, I list the features of the presidency, crowned by a definition. After offering a classification, I provide a comprehensive understanding of the matter regarding stability and instability of the presidential system. So far, it is enough to constitutionally identify the attributions of each of the presidents of the republics selected. Article 87 of the AFC provides that “the Executive Branch of the Nation will be commanded by a citizen with the title of ‘President of the Argentine Nation’.” The 1988 CFRB, in article 76, sets forth that the executive is to be exercised by the President of the Republic, assisted by the Ministers of Government. The 1991 CPC, in its article 188, establishes that “the President of the Republic symbolizes national unity and by pledging allegiance to the Constitution and the laws, the President undertakes to guarantee the rights and liberties of all Colombians.” In a constitutional state, making the law and implementing it are basic tasks. Members of Congress are the makers of laws par excellence, and some of the judges are their enforcers. It has been rightly noted that while the task of making laws and the task of adjudicating cases “are clearly defined governmental functions, as well as methods fully continuing for their performance,” the executive is “yet undefined regarding its function.”26 There is a pinch of truth in this: presidential power is residual in a government with separate departments, but its prerogatives are dominant vis-à-vis the other constituted powers. The election of the leader of the constitutional process is made directly and without intermediaries by the electoral body and for a determined period of time. The AFC, for example, provides the following: Article 94. The President and the Vice President of the Nation shall be directly elected by the People, in double round, as established under this Constitution. For these purposes, the national territory will be a single district. Article 96. The second electoral round, if appropriate, shall be made between the two most voted tickets, within thirty days after the previous round. Article 97. When the most voted ticket in the first round has obtained more than 45% of validly cast affirmative votes, their members will be proclaimed President and Vice President of the Nation. Article 98. When the most voted ticket in the first round has obtained at least 40% of the affirmative votes validly cast and, in addition, there is a difference in excess of ten percentage 26 Corwin, El poder ejecutivo. Función y poderes 1787–1957. Atribuciones y funciones del Presidente de los EE.UU. a través de la historia y el análisis de la práctica constitucional, 1959, 5.
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points with respect to the total of affirmative votes validly cast for the next ticket in number of votes, their members will be proclaimed President and Vice President of the Nation.
The 1988 CFRB provides: Article 77. The election of the President and Vice-President of the Republic shall take place simultaneously, on the first Sunday of October, in the first round, and on the last Sunday of October, in the second round, as the case may be, of the year preceding the one in which the current presidential term of office ends. § 1. The election of the President of the Republic shall imply the election of the Vice-President registered with him. § 2. The candidate who, being registered by a political party, obtains an absolute majority of votes, not counting blank or void votes, shall be considered elected President. § 3. If no candidate attains an absolute majority in the first voting, another election shall be held within twenty days from the announcement of the results, the competition being between the two candidates with the highest number of votes, and being considered elected the candidate with the majority of valid votes.
In turn, the 1991 CPC orders: Article 190. The President of the Republic shall be chosen for a four-year period, by half of the votes cast plus one, in a secret and direct manner, by citizens on the date and with the formalities established by law. If no candidate obtains that majority, new elections will be held three weeks later, and only the two most voted candidates will participate. The person who obtains the highest number of votes will be declared President.
It must be remembered that in Colombia it is voluntary to vote in the elections for President of the Republic, whereas in Brazil and Argentina voting is required by law. The system of presidential government, whether in its Argentine, Brazilian, or Colombian version, in generating direct elections to choose the person responsible for the executive has an irresistible temptation: the finding of the people’s main officer directly by the people. South American presidential systems, therefore, are based on the will of a leader, and not on deliberative and reasoned construction; the community will be guided by the “magic” words of a president, who will consider himor herself divine, but we all know that that is not and will never be the case. The plebiscite mechanism set forth in the French Constitution of 1848 had “wide impact in Latin America.”27 Such constitution was the first basic law ordering the presidential system of government in Europe and the direct election by the electoral body.28 While many South American constitutional models in the 19th century fol27 Valadés, Formación y transformación del sistema presidencial en América Latina: Una reflexión sobre el ius constitutionale commune latinoamericano, in: Carbonell/Fix-Fierro/González Pérez/Valadéz, Estado constitucional, derechos humanos, justicia y vida universitaria. Estudios en homenaje a Jorge Carpizo, volume IV, section 2, “Estado constitucional”, 2015, 835. 28 This assertion can be checked by reading some of the articles of the Constitution of the Second French Republic of November 4, 1848. I have used italics to emphasize the nature of the suffrage, the executive position, the eligibility conditions, and the election process itself: “Article 24. Electoral suffrage is direct and universal. Voting is secret.” “Article 25. Without a census requirement, all Frenchmen who are 21 or older and enjoy their civil and political rights are electors.”
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lowed the U.S. model of indirect presidential election, that model is today virtually abandoned. Currently, most South American nations apply the French constitutional model of choosing their presidents, based on the majority principle. There is no doubt that this model legitimizes the officer of the people chosen by them. But, at the same time, every four years it gives birth to a new “political animal”: the “monopresident.” The purpose of a second round is that citizens elect a pair (president and vice president) to carry out the administration of the executive. In the models described, in addition, the second electoral round will only contain the two tickets for president and vice president that were the winner and runner-up in the first round. Electoral systems are not good or bad in themselves. They are models chosen to reflect the citizens’ preferences and to permit citizens who are part of the people expressing themselves individually. I will not detail a typology of electoral systems, if that were even possible, although it must be stated that the model chosen – whether by majority or by proportion – will have a significant impact on the citizen election. There are no pure majority systems or pure proportional representation electoral systems, because the inspiration of each model is related to the application in each state. Such consideration, by the way, cannot entail disregard for their aims, as in “majority” electoral systems, by rule, there will be a “winner who takes it all;”29 while in “proportional representation” systems the “victory is shared and simply an electoral percentage is required.” Therefore, it may be said that in majority systems the elector has to choose an individual candidate, while in proportional systems the rule is that the vote will be for a political party. The electoral system for the presidential election, in two rounds, chosen in Argentina, Brazil, and Colombia is inspired by the majority model. The elector will most probably cast a vote twice. In every case the purpose is to find an “undeniable winner.”30 In Brazil and Colombia the constitutions establish a prize which is consistent with an arithmetic operation: winners, to be considered as such, must obtain an absolute majority of citizen votes. A “wise legal requirement.”31 In Argentina, however, a unique distortion has been constitutionalized, as it would be enough to accumulate a relative majority – 40 % of votes – to obtain the electoral prize, provided that the first ticket has obtained an advantage of “ten percentage points with respect to the total votes compared to the next-in-votes ticket.”32 “Article 43. The French people delegate the Executive Branch to a citizen who adopts the title of President of the Republic.” “Article 45. The President of the Republic is chosen for four years. The President can only be reelected after a four-year period. After such term, within that period, the Vice President or any of the President’s family members or partners up to and including the sixth degree cannot be elected either.” “Article 46. The elections are legally held on the second Sunday of May. In the event that, due to death, resignation, or any other cause, the president is chosen on another date, the president’s powers shall expire on the second Sunday of May of the fourth year after the president’s election. The president is appointed, with a secret vote and by an absolute majority of voters, by direct suffrage by all electors of French departments and Algeria.” 29 Sartori (n 25), 15. 30 Ibid., 17. 31 Ibid., 25. 32 Perhaps the reforming constituent power in Argentina (1994), to detach from the undoubtable
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In the first electoral round, in Argentina, Brazil, and Colombia ten or more candidates will run for president of the Republic. In the first electoral round, the political program offered by the candidates will be the basis for the free decision of citizens; in the second round, while the citizen is free to choose, he or she will have to make a choice between two tickets and not a wide array of options as in the first round. Maybe the candidate in that first round obtains the “absolute majority” required by the Constitution in Brazil and in Colombia, or the “relative majority” set forth in Argentina. In that case, there would be no second round to elect the president. All candidates, even if they do not disclose it, prepare for a second round. In Argentina, since the mechanism was established in 1994 up to this date, of the six elections for president held (1995, 1999, 2003, 2007, 2011, and 2015), only one of them was advanced to a second round (2015). Brazil, with its 1988 Constitution, has held elections for president seven times. Elections were held in 1989, 1994, 1998, 2002, 2006, 2010, and 2014; in five of the elections there was a second round (1989, 2002, 2006, 2010, and 2014). In Colombia, based on the 1991 Constitution, there have been six presidential elections (1994, 1998, 2002, 2006, 2010, and 2014), and there were second rounds in four instances (1994, 1998, 2010, and 2014). If the elections held in the three nations were added up, the result would be 19;33 in ten of them there were second rounds, except that in Argentina, in 2003, one of the candidates did not run for a second round because he assumed he would lose (this prevented the incurrence of expenses, but not his discredit with the citizens). In addition, as a result of reelections, in these 19 instances of elections thirteen presidents were elected; only three of them obtained more than 50% of the votes in the first electoral round: Cristina Fernández de Kirchner (2011); Fernando Henrique Cardoso, twice (1994, 1998), and Álvaro Uribe Vélez, also twice (2002, 2006). This unifying or cohesive trend that the elector may show in support of a platform of government has a maturity date: the evening when the results of the first round are disclosed. At that point in time, an important gamut of the preferences of the citizen disappear. In Argentina and Brazil, where suffrage is compulsory, the citizen is faced with an obligation: the citizen has to cast a vote in the second electoral round for one of the candidates who will compete. Such candidates to the presidency will likely not have been the preferred first round choice of the citizen, who must now choose one of them to observe his or her constitutional duties. From the evening when votes have provisionally been counted and the preliminary results of the first round are known until the campaign is closed for the second round, another extraordinary moment is to be generated. The two candidates to the certainty that comes from time immemorial stemming from arithmetic and governing the world, has been inspired in the verse that reads “Everything is the same; nothing is better” (“Cambalache,” [1934]), but without understanding the honest sense of bitter and disappointed institutional and social criticism of that Argentine tango by Enrique S. Discépolo. 33 A writer never concludes his endeavor, because the act of writing is infinite. Without circumlocutions, pieces of writing may be defined and show some degree of conclusion. These paragraphs were finished on March 21, 2018. The first round to elect the president of the Republic of Colombia is set for May 27, 2018: 2018–2022; the second round is scheduled for June 17. Brazil will choose president of the Republic to cover the 2019–2023 period in the elections to be held on October 7, 2018; the second electoral round has been set for October 28.
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presidency of the Republic will look for the support of voters who have not supported them in the first round. Scholars who honestly support this majority model, with a second electoral round, have certain hopes. For example, that there will be a dialogue with citizens, renewed or supported by agreements about future governance, in this short and new moment of the campaign. Nothing of this will happen, I repeat, because one person or another will be elected, whether or not there is debate between the two candidates. It could be said that a candidate, in some matters, is more progressive than the other, who shows to be more conservative. Also, that a candidate has more liberal ideas, and the other, more socialist ideas. Sadly, the second electoral round does not favor, in practice, the construction of sustainable agreements or the discussion of platforms and ideas which would help to streamline34 the presidential system.35 The second round increases electoral passions in a decisive manner, which at times amounts to the paroxysm of denying the other candidate. A reciprocal exercise of campaigns: to search for a triumph which should never exclude or deny the adversary. As a matter of fact, this increase in passions beyond reasons will have the president-elect believe that he or she is backed by a real majority of citizens. The president, responsible for the executive, is a person who will have an extraordinary concentration of power, resulting from his or her election through universal suffrage. In general, additionally, he or she will be elected by a special majority of citizens. Faced with citizens, in principle, the president will have “political responsibility,”36 until there is a new electoral call or deadly event preventing the president from continuing with his or her term. The direct election of the president, with the scope and conditions described, entails a good share of original legitimation of the president-elect.37 It must be noted, by the way, that such justification based on the origin, thanks to citizens, could result in personalism, a defect which may permit the president to “abuse power, as happened with so many other characters without any vision or skill”38 other than the needed ones to continue to stay in power. E. Raúl Zaffaroni asks himself, “Is presidentialism rational? How rational can a system be when it consolidates the functions of the head of the administration and head of the State in the same person? In Latin America this superpower is usually advocated with the argument that we need strong Executives because we are familiar with autocratic leaderships, which entails several fallacies. It is true that there are some people with specific emphatic skills with the citizenship, but that political condition is personal and it is not granted by any law. Whoever has that skill will thrive in any system. The old saying may be reformulated: Quod natura non dat, Constitution non praestat.” Zaffaroni (n 4), 6. 35 Valadés, El gobierno de gabinete, 2008, 13. 36 Nogueira Alcalá, Los presidencialismos latinoamericanos, in: Carbonell/Fix-Fierro/González Pérez/ Valadéz, Estado constitucional, derechos humanos, justicia y vida universitaria. Estudios en homenaje a Jorge Carpizo, Estado constitucional, volume IV, section 2, 2015, 404. 37 For example, in the elections held in Brazil in 2014, the winning ticket, in the second electoral round, reached almost 55,000,000 votes, representing more than 51% of valid votes. In Argentina, the latest elections for president and vice president of the Republic were held in 2015. The winning ticket, in the second electoral round, reached almost 13,000,000 votes, which represent more than 51% of citizen votes. 38 Bunge, El presidencialismo, un verdadero cáncer, Buenos Aires, La Nación, July 21, 2009, available at https://www.lanacion.com.ar/1152736-el-presidencialismo-un-verdadero-cancer, last visited on June 7, 2018. 34
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Within the framework of direct elections by citizens, the term of office is also meaningful. A president has to be elected to lead the constitutional process for a given and inflexible number of years. Afterwards it will not be important if there were plots, deceit, or a notorious abuse of power, because powers are wide and significant. It all comes down to this: directly choosing a person, with the pertaining powers and giving that person sufficiently hegemonic powers for four years (this is the term of office in Argentina, Brazil, and Colombia), with immense possibilities for reelection, as in the case of the consented constitutional authorization, currently, in Argentina (article 90 AFC)39 and in Brazil (articles 82 and 14, section 5 1988 CRFB).40 Fortunately, an amendment introduced in 2015 to the 1991 CPC has outlawed reelection under amended article 197. After a presidential election in the three countries analyzed, such a public servant will exercise supreme authority, as a monologue and at discretion. This entails expecting a balanced, weighted, and rational judgment from a single person 24/7 during his or her four-year term. This certainly entails placing the bar very high, which is logically possible, but impossible in practical terms. The experience of 2,500 centuries shows that there is no rational animal with such a virtue. Perhaps in the future AI will find another alternative. During his or her period of office, the president will use a large part of his or her energy, in the case of Argentina and Brazil, to strengthen his or her reelection possibilities. In such cases, during his or her “first period” the following messages will be suggested: (1) that four years is not enough to do all the reforms he or she wants to apply, because the economy is in very bad shape, there is a shortage of funds, employment is in decay, public education and health are unattended, international affairs have not been taken care of and, finally, that there is a crisis; (2) that the president undertakes to accomplish the reform plan in a second period; (3) that in the community there is no other person as capable as the president him or herself with regard to ensuring good lives for the community; (4) that he or she is running for president for a new term, in a political dispute that will centralize the last third of existence of the president’s term for which the president was constitutionally chosen. The time of office for the executive position, in addition, is an element which contributes to the rigidity of the model and complicates maneuver capacity and the search for political consensus. The president, who has no power to dissolve congress, will have few opportunities to solve any political disputes, which are somehow complex in nature. 39 Article 90 of the AFC provides that “The president and vice president hold office for four years and may be reelected or succeed themselves reciprocally for only one consecutive term. If reelected, or if they have succeeded themselves reciprocally, they cannot be elected for any of both positions, but with the interval of one period” (emphasis added). 40 The 1988 CFRB, as per its original text, prohibited the presidential reelection. The authorization was given in 1997. Now, reelection is regulated under articles 82 and 14, section 5. “Article 82. The term of office of the President of the Republic is four years, and it shall commence on January 1 of the year following the year of his election. “Article 14, section § 5º: The President of the Republic, the State and Federal District Governors, the Mayors and those who have succeeded or replaced them during their terms of office may be reelected for only one subsequent term.” (emphasis added).
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The inventors of presidential power are not to be blamed. The prerogatives for this “republican prince”41 oxymoron were imagined for separate institutions which have to share the governance of the community, but many times will compete between themselves. To alleviate this political competition, maybe, it was thought that separate departments, with exclusive powers described in a rigid manner would favor the governmental climate. In the presidential system of government, the solid or weak practice of presidents causes that rigidity which many times traps the “prince” in a labyrinth from which it is impossible to escape, even from above, as taught by the Argentine poet Leopoldo Marechal.42 Presidentialism is a system substantively governed by citizen trust expressed in the elections. This means that as a matter of principle there is no institutional vote of trust or sustainable parliamentary agreement established in parliamentary systems of government. The president is accountable by virtue of the normative strength of facts before the electorate, a body which can renew their trust or not in the next elections. Presidential elections, especially in the case of reelection, are an actual testing opportunity for the public policies implemented and especially for the ones promised for the future. This does not mean that there are no mechanisms of political accountability in the constitution itself. Presidentialism includes a method of removing the head of the executive; its defining lines were identified with the impeachment proceedings established in the U.S. Constitution of 1787 (article I, 3rd section). The president of Argentina may be removed via impeachment; this act is the province of the Senate of the Republic (article 60 AFC); it is worth noting that throughout Argentine history no president has been removed resorting to this mechanism. In Brazil there have been astonishing cases of “processo” (article 51(1) 1988 CFRB). In recent history impeachment proceedings were brought against president Fernando Collor de Mello in 1992. More recently, in 2016, president Dilma Rousseff was tried and sanctioned with the “loss of position,” a decision adopted by a majority vote in the Senate (article 52). In turn, in Colombia the removal is also a decision by the Senate, as ordered under article 175(2) of the 1991 CPC. The constitutional accusation which may result in impeachment is based on misconduct or abuse of authority.43 But, more often than not, constitutional texts are exaggeratedly wide in defining the cause that would authorize impeaching the head of the executive. The main problem in starting impeachment proceedings is not so much the cause to remove and to advance the proceedings. Presidents have significant congressional majorities, which are made up by members of their parties or political allies, which explains that these majorities are the basis for the certain una41 The word “prince” offers many meanings. Here, it is used with this meaning given by the Dictionary of the Spanish Language: “[…] someone who is outstanding among others of his or her class or species.” In a “republic” where its citizens are equally free, there should not be the possibility that one individual is outstanding for that individual’s power. However, presidentialist democracies, the president, elected in the manner chosen and under the conditions for his or her leadership, is authorized to use such power, guaranteed, at least based on the simple, allusive, and harmless channeling offered by the metaphor. 42 Marechal, Laberinto de amor, 1936, 48. 43 See Bidart Campos, El abuso ‘de’ Derecho en el Derecho Público, Academia Nacional de Derecho y Ciencias Sociales (supplement), 2003.
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vailability of the impeachment. Reporting, trial, and political removal are a “very difficult business”44 in the presidentialist system, as the congressional majority established for its admissibility and validity is extraordinary in nature and difficult to reach. In the regime analyzed, the president concludes his task when his term of office expires. The executive direction of the state is one of the powers of the president, and unless the president is removed by congress (which rarely happens), resigns, or is declared incompetent or dies, the president’s constitutional task will finish. The fact that presidential elections are decided by a majority of votes cannot be considered unsuitable in itself. But, to be consistent, such model of government ordering the direct election of the head of the administration and of the state – which is consolidated in one person – should consider the specific possibility of the revocation of the head of the executive branch.45 I am thinking, along these lines, in the right of a reasonable percentage of electors to ask for the repeal of the term of office based on causes related to poor performance or the unconstitutional performance of the president. If the president is elected directly by the electoral body, there should be no reasons restricting a removal process also stemming from the people. In that constitutional “confrontation,” the citizens’ request to remove the president, if successful, could be submitted to the compulsory participation of the electoral body, through a referendum or plebiscite, or any other method chosen. As regards his or her powers, the president will choose his or her collaborators, will establish the policies and the relationship with the political forces. In addition, the President of the Republic in Colombia “freely appoints and removes the Ministers of Government” (article 189(1) 1991 CPC). An analogous situation exists in Argentina (article 99(7) AFC) and also in Brazil (article 84(1) 1988 CFRB). The power granted to the supreme executive authority to nominate and remove ministers is not undermined by the fact that congress may summon any such presidential collaborators or that they be required under the constitution to report on their administrations or possibly be invited to leave their positions. The power of nomination and appointment of the president is almost absolute, because he selects the members of his or her cabinet at his or her discretion, without any interference, agreement, or recommendation by congress. If there are members of congress involved in one way or another in the decision, this does not affect the powers of the president to nominate and appoint, in an exclusive manner, a replacement. The authority of the president is not undermined either as a result of the resignation of a minister or questioning by congress. In the presidential government there is no congressional support for the ministers of the executive. There is no significant impact on the exercise of the presidential power as a result of the political failures of Ackerman, La nueva división de poderes, 2007, 42. In the presidential elections held in Brazil in 2014, Dilma Rousseff needed for her reelection more than 55 million citizen votes to become president. It must be noted that in 2016 61 votes of public servants, senators of the Republic, were enough to remove the president from her constitutional position obtained by a victory in the elections. There is no parallelism or consistency in constitutional forms. If the direct election is assumed, it would look like the loss of the constitutional position should assume similar citizen-decision mechanisms without any intermediaries or doubts. 44 45
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one or many ministers. The president’s administration will go on. The lighthouse for the president’s path stems from his or her own convictions and experience. The president’s power unit is the basis of the system of government. Unity does not mean that the president has no collaborators. Unity means that the powers are consolidated in him or herself. The constitutional powers of the president are indivisible, a condition that is essential not to alter or destroy the president’s genuine power. The constitutional state’s power is discovered in its supreme energy. Maybe for that power to succeed and be energetic, the unity and concentration of executive functions was imagined. I believe that when the presidential institution was invented in 1787, it was believed that the authority of a single man would facilitate any governmental decisions which are executive in nature. That interpretation covers the idea that “unity is conducive to energy.”46 By mere derivation, in other public servants there would be a mere secondary role, always behind the scenes, as counselors, but without any domain over the facts or any direct popular representation. The search for a “good government,”47 effective and safe, has undoubtedly inspired the interpretation made of the unity of the presidential power’s energy. The concept of unity of the presidential power was not born in a framework established by the fight among social classes. In the origin of the president’s power one can understand the need to protect a community of approximately four million people: an emerging capitalist state.48 For the political direction, a president with sufficient powers was sought to secure safety from foreign attacks, together with the protection of the property of those who had purchased their assets or those who most certainly could do so in the future. That was the situation of the United States at the moment of its constituent foundation. It has been rightly stated that the presidentialist system invented in the United States has “worked pretty well at home, but it has proven to be virtually a disaster abroad.”49 The idea of presidentialism, with its pertaining division of power, was exported throughout Latin America, with the reasons explained, in context, in section I. The Latin American countries which opted for this model had the intention of designing an executive concentrated in one person and with wide legal powers. The system of presidential government, even if it distinguishes different means of cooperation between governmental departments, in general shows the insufficiency of the collaboration between constituted powers. The price of the president’s concentration of power is too high. Once the system of government is up and running, given its very nature, it will take the president to the center of the political scene. Congress, also made up by members freely chosen by the people, will have important difficulties for its task to be perceived by the community of citizens. In Argentina, Brazil, and Colombia it will never attract anyone’s attention that a citizen chosen to serve as representative or senator is called, hours later, to become a “minister” collaborating with the president. If the separation of powers in three were evident, there would be no reason for that to happen so often, 46 See Hamilton/Madison/Jay: El Federalista, LXX, 18/3/1788, Mexico, D.F., Fondo de Cultura Eco nómica, 1994, 298. 47 Ibid., 297. 48 Chomsky (n 13), 17. 49 Ackerman (n 46), 19.
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as is typically the case. In addition, the enormous “preponderance”50 of the president’s power entails, almost by definition, the weakness of congress or the failure of its role devoted to citizen representation. As a result of the rule separating the powers of the government, congresses have two houses and their members receive their power from general elections in which all citizens are called to cast their votes. In contrast, the courts, especially the highest courts, are collegiate and do not receive power from a direct decision in the elections. The authority of the president is unique; it is individualized in the exclusive and excluding singularity of one person, without any possibility of thinking of any kind of duality. In presidentialism there is no plurality or collegiate nature. Its source of power, like that of members of congress, stems from the decision expressed in the elections by citizens. In this sense, congress and president, in a given sense of their political actions, compete for the favor of the electorate. Human beings many times decide to let themselves be guided by mere beliefs, which are nothing but mere consent on a proposal platform. Beliefs do not resort to a method to conclusively or possibly prove the truthfulness of the proposal. It is well taught that “in daily life many times science is independent from the truth.”51 In the realm of politics, many persons may be guided by beliefs. In the 18th century it was believed that the unity of power of the president contributed to an active, diligent, and solvent decision-making capacity, above the possibility of attributing the same power to a defined plurality of officials with the same dignity and authority. Sadly, more than two centuries passed by and almost no South American country has discussed the disadvantages of the executive’s individuality, except for the Uruguayan Constitution of 1952.52 Unity creates a leader, whose brightness, if any, will someday disappear; plurality requires debate and its advantages stem from the rational basis of dialogue itself. Unity of thought in an individual53 can never successfully face the certain benefits of the plurality of citizens in an open society. Perhaps plurality itself is or reveals the highest and inalienable asset of any system of government. The AFC regulates this matter with a similar model, in establishing in article 99(1) that the president of the Republic has the following powers: “The president is the supreme chief of the Nation, chief of the administration, and politically responsible Lambert, América Latina. Estructura e instituciones políticas, 1964, 500. Bunge, Diccionario de filosofía, 2001, 41. 52 On that point, please read Gross Espiell, Las Constituciones del Uruguay, 1956; Ratto Trabucco, La experiencia constitucional del gobierno directorial o colegiado en Uruguay, Cuadernos Constitucionales de la Cátedra Fadrique Furió Ceriol No. 50/51, Universidad de Valencia, Departamento de Derecho Constitucional y Ciencia Política y de la Administración, 2005, 35–75. 53 Human beings started thinking, but thinking has not been always rational. From the beginning as a thinking being, the sovereign individual has not stopped, and will not stop, thinking. But the critical debate of thought probably started in Greece more than 2,500 years ago. Literature, in turn, contains abundant examples of men who have thought that their individuality is transcending, omnipotent, and omniscient. In 1882 Henrik Ibsen wrote the following in the closing of an anthological drama: “Doctor Thomas Stockmann: Yes, yes. (Gathering everybody around himself ) I will say this now and here on my own. The most powerful man in the world is the loneliest one” (Un enemigo del Pueblo, Buenos Aires, Colihue, 2010, 236). There is no need to say that the epigram of the Norwegian author was written for another context, but that does not undermine its expressive force or use in my own argumentation, in trying to explain the unity of power individualized in a single man. 50 51
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for the administration of the country.” The 1988 CFRB is along the same lines; article 84 provides: The President of the Republic shall have the exclusive power to: §1. Appoint and dismiss the Ministers of State: §2. Exercise, with the assistance of the Ministers of State, the higher management of the federal administration; §3. Start the legislative procedure, in the manner and in the cases set forth in this Constitution. §7. Maintain relations with foreign States and to accredit their diplomatic representatives.
In turn, the 1991 CPC provides in article 189 that the president is “the chief of Government, chief of the administration, and supreme administrative authority.” The unitary line of authority resulting from those words is overwhelming. The chief of state has symbolic, ceremonial, and representation responsibilities. Being the chief of the administration entails co-decision with congress on public policies, the management of state affairs, and the daily exercise of the coercive function of power. The personalist tendency in presidentialism cannot be denied. The administrative and governmental authority is not only defined, as the entire constitutional process is led by the president. “President” is synonym with authority! A president is an absolute director of the basic battles of the state and the pertaining administration, with little or no space to understand the weaknesses, evident or implied, of every human being. My claim is that, as the institution is made up by a single person, this authorizes to correct the denomination of presidentialism to “monopresidentialism.” This constitutional institute is exercised by a single person, the “monopresident.” This is a onewheel constitutional vehicle; if the presidential wheel works according to its immense powers, it devastates with supreme energy any other constituted authority, especially that of lawmakers and judges. In a way, this is similar to the monarch, a “king”54 who concentrated or wished to concentrate all the power of the government. Conversely, if the only presidential wheel does not work, the constitutional vehicle does not go forward, it breaks down and generally with all citizens in expectation and desperate for the precarious, dark institutional situation which borders with community despair. The president not only exercises the institutionalized political power; he or she also co-governs the courts and the other constitutional bodies with congress. While constitutions distribute power in different governmental branches, the president is the one who directs the constitutional process. The presidential system of government is a model in which there is a separation of governmental functions, but the hegemony of the executive authority tends to debilitate and many times destroy the very principle of separation of powers. In addition, the highest executive authority of the government, the president, is the one who assumes direct responsibility to the citizens who elected him or her. The very same evening when the results of the election become known, the president will undoubtedly promise in his or her first speech 54 Proudhon, Que la Présidence, c’est la Monarchie, in Melanges. Articles de Journaux (1848–1852), Premier Volume, Paris, Librairie Internationale, 1868 [1848], 160–164.
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as “officer of the people,” that he or she is the president of all citizens, and will even praise the virtues of the minority who did not vote for him or her. Sadly, the 1991 CPC contains a rule that must be observed, but which is theoretically opposite to the ideas developed here. Article 188 provides that “[t]he President of the Republic symbolizes national unity.” From the legal point of view, the adjective “national” is ethereal and undefinable. In substance, “unity,” individualized in a single person, the president, cannot be defined in political terms, because the unitary conception of the state will always hinge on the pertaining political unity of the citizens who compose the people. As a matter of fact, with statements such as the one just criticized, any possibility of eliminating the plot entailed by the concentration of hegemonic power in the presidential unit vanishes into thin air. An official of the people directly elected to perform the executive task does not seem to represent the “bastion of a true democracy,”55 as his or her “relatively strong autocratic element”56 will be evident due to the very indiscriminate unity of the concentration of powers. It is well known that in the presidential system there are three separate institutional branches of power: the executive, the legislature, and the judiciary. The president and congress are always chosen by citizens of the people as a result of elections. The president and congress, in the spheres of their pertaining powers, exercise an eminently political power. The fight for such political power shows the progress, setbacks, and hesitation of the presidential system. As the president can never dissolve congress – not even if he or she considers it advisable from a political point of view –, the stability or regularity of the model is usually restricted, to a higher or lesser extent, to the actual conditions set by the head of the executive to establish and observe his or her governmental policies. There is a hazardous path for the election of the president and the community of citizens who choose to elect him or her for four years, provided that the “prince” does not commit any disastrous and unconstitutional acts and that these offer the possibility of bringing an impeachment process. The presidents of Argentina, Brazil, and Colombia, as seen above, are elected via majority electoral systems. I have also explained that I have no preference for any electoral system and that global experience also shows advantages and disadvantages in both of them. Nevertheless, most of the countries in the world with institutional stability use one of the two systems. The “proportional representation system” and the “majority electoral system” are never mixed. I am thinking, for example, in U.S. institutions and the German architecture; in the first case, the majority system is in full operation, while in the second one, the proportional representation system stands out. Congresses in Argentina, Brazil, and Colombia, in a deadly engineering, mix electoral systems to choose their members. Nobody remembers that to reach such a decision, at the pertaining constituent times, the decision makers had discussed the search of the Holy Grail. It is highly likely that any South American could discover with resignation that the force of the facts favors the strongest or the people with more power.
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Again: Weber, Escritos políticos, volume II, Mexico, D.F., Folios, 1982, 307. See Kelsen, Teoría general del Derecho y del Estado, Mexico, D.F., UNAM, 1958, 358.
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Senators in Argentina hold office for six years; the Senate is renewed in thirds every two years and their members are chosen by the majority system. In Brazil, senators hold office for four years, are elected by a majority vote, and the Senate is renewed as follows: one third every four years and the other two thirds in eight years. In Colombia senators hold office for four years; the Senate is fully renewed every four years and their members are elected by a majority vote. In Argentina, representatives stay in office for four years, are chosen by an electoral representation system, and the House of Representatives is renewed in halves every two years. In Brazil the same electoral system of proportional representation is used to choose representatives: legislators stay in office for four years. In Colombia representatives also hold office for four years and are elected with the same proportional representation system. It is honestly difficult to enjoy this constitutional architecture and imagine a “happy ending.” These models to elect members of congress in Argentina, Brazil, and Colombia prove to be lazy machineries, because when trying to obtain congressional consensus, everything will be complex. Especially regarding the House of Representatives. The president of the republic, who was chosen by a majority system, who has the leadership over the constitutional process, will have to make epic efforts to get the support of the people’s representatives, as fragmentation is one of the key features of congress. If the president has congressional support, congress is undermined due to the presidency’s energy. In addition, elections to choose the president of the republic are every four years and congresses are partially renewed, as in Argentina, for two-year periods in the House of Representatives and every two years in thirds in the Senate or partially, as happens every four years in the Brazilian Senate, with a third of its members. All these differences have a special impact on the circumstances in which the president must seek the creation of a congressional majority to pass a law or make an appointment requiring congressional agreement. The absence of consent in congress may lead to the stagnation of the president, who is often tempted to resort to all kinds of mechanisms to prevent or remediate any damage during his period in office. The tasks of the president, whether to promote public policies or to reject other policies, are performed based on a sum of powers regulated under constitutions. The basic areas over which the task of a president is performed are legislation and the nomination and appointment of public servants who will hold office in different stages of the bureaucratic structure of the state. In every constitutional state there is a context of production and a context of realization of the law.57 Presidents are usually given the power to regulate laws passed in congress. Once laws have been enacted by congress, the president will be in charge of executing and realizing them. Presidents are in charge of implementing the law. A 57 The Constitution is produced and realized by the constituent power; the rest of legal rules with general scope are created by the federal Congress or the Executive; exceptionally, by the Judiciary. After the rule is produced, its observance should follow, i.e. its realization both by citizens and servants in charge of the branches of Government. In connection with the realization of the law produced based on the Constitution, Congress laws often require the realizing activity of the president for their implementation. The realization of constitutional law will always be implementation or execution of law as created.
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large number of legal instruments, after their drafting and approval, require a detailed task of regulation, so as to rightly connect the path of their realization with their guaranteed observance. This power is given to the president, who is decisively important in constitutional practice, because – I repeat – a large number of laws require action on his part, as they are not immediately applicable and require executive regulation. The president also has the inherent capacity to send bills to congress. It has been well noted that in these cases the authority of congress, which is not restricted by virtue of the constitutional principle, in practice is a “crossing-keeper power.”58 In addition, the bill proposed by the president may be based on a promise made during the electoral campaign, a reason why the support will be decisive and determining. A very high percentage of the total number of the laws passed by congress are intellectually and institutionally devised by the president. In this line of thought, the president is a co-legislator. The position of the president as a co-legislator could be refuted by the fact that the parliamentary system, in its actual state of development and survival, is much more subject to the successful or unsuccessful nature of the legislation. After a quick analysis, this proves not to be the case. This is so not only because of the veto of the president; the independence of congress, in the presidential system of government, even if secured by the constitution, in practice is aligned with the success of the president. Or do we know of many presidential democracies in which congress legislates regardless of the express or implied wishes of the president? Any bill passed or prepared by congress, in order to have legal existence, must have the consent or rejection of the president; the constitution may include a term for this decision of the executive, but this does not alter the nature of the executive prince in his capacity as co-legislator. At the same time, the president assumes prerogatives in connection with constitutional reform. The president sends to congress proposals to reform the constitution, as happens in Brazil and Colombia, legal systems where the reform may be made by congress. In Argentina, a nation which is very infertile for constitutional reform, the president may drive the pre-constituent task for which congress is responsible. In addition, in order to execute their basic task, presidents issue regulations, which are legal instruments undoubtedly legislative in nature, but restricted to the sphere of the public administration. That is not everything: constitutions also give presidents the possibility of issuing decrees, in cases of urgency and necessity (“DNUs”), instruments which are legislative in nature, and under the constitution legislative activity is always reserved for congress. Granting this power is enough to distort any theory on the separation of governmental powers. Sadly, this is established in the AFC, whose text has recognized their status; evil has deepened with the legal regulation59 of the legal vehicle: these tenebrous instruments only cease to exist upon the joint rejection of the House
58 Shugart/Mainwaring, Presidencialismo y democracia en América latina: revisión de los términos del debate, in: Mainwaring/Shugart (eds.), Presidencialismo y democracia en América latina, 2002, 57. 59 Law No. 26122 (2006).
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of Representatives and the Senate,60 when common sense indicates that it should be enough with the rejection of one of the legislative bodies to remove the disease of DNUs or any similar instrument from the legal system of the state. These instruments also exist in Colombia61 and in Brazilian constitutional law, but with the label “provisional measures.”62 Another feature that highlights the powers of the president is the power to veto, because this is a clear legislative power with negative and preventive nature. It entails partially or fully rejecting a law passed by congress. Warnings or admonitions are not important. If the president does not want a law, he or she vetoes it. Then, congress may, with qualified majorities, insist on the bill, but the “monopresident” would have already issued his public opinion by then, in deciding to reject the bill through the veto. The presidential veto of a bill is regulated under articles 78, 80, and 83 of the AFC; article 84, section V, of the 1988 CFRB; and article 200(1) of the 1991 CPC. Also in connection with nominations, it must be noted that in countries such as Argentina, Brazil, and Colombia several thousands of officials are needed to cover all the areas of the executive. To appoint those officials, the powers of the president are exercised, as in the case of appointment of his or her collaborators, in an absolutely discretional manner, regardless of the rules on administrative careers, without any cost other than the inefficiency or indigence of the servant. Can anybody imagine that the president would not provide who should be the person in charge of collecting and controlling tax or customs income? Or who should be responsible for the state’s intelligence services? While other appointments must be also made by the president, congressional confirmation is needed. Appointing judges generally requires confirmation by congress, often after an examination by the judicial council. The same happens with the high ranks of the armed forces; it is not enough that the president is the commander-in-chief. The members of the service in charge of foreign and diplomatic affairs are also appointed by the state, but confirmation by congress is needed. The same process is to be followed to appoint the officials in charge of certain control and oversight bodies. Continuing the analysis of the supreme powers of this “monopresident,” this official may call extraordinary sessions in congress. This is an excessive power, because the president becomes involved in the delicate field of congress’ autonomy and affects its political agenda. Congress may delegate legislative powers to the president. This happens in Argentina (article 76 AFC). There is also legislative delegation in Colombia (article 150(10) 1991 CPC), and the same is verified in the 1988 CFRB (article 68). Given the federal nature of the countries, in Argentina and in Brazil the president of the Republic may order intervention in an entity of the federation. This is authorized under article 99(20) AFC, in the event of recess in congress, and article 88, section X, 1988 CFRB. “Decrees based on necessity and urgency” are regulated under article 99(3) of the AFC. The category of “decrees with force of law” flourishes, for example, under article 215 of the 1991 CPC. 62 They are regulated under article 62 of the 1988 CFRB. 60 61
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In parallel to the powers established in the constitution, the president also has significant powers of political influence, not only over members of congress who are part of his or her own political party63 or movement, but also over legislators who are political opponents. As these are not regulated powers, it is impossible to discuss them here, as there is no normative evidence. However, based on more than two centuries of practicing presidentialism, the following can be said: a president’s weak influence over congress generally goes hand in hand with a paralysis of political activity overall; in contrast, the overbearing exercise of presidential powers will often lead to abuse and thus also signal a crisis for the separation of constitutional powers. The influence of presidents over the media should not be discussed either, because it is not a regulated situation in the constitution. When the presidency was invented in the 18th century, there was only the written press. Nowadays, speeches of presidents may be distributed and transmitted instantly and to any place in the world, via oral, written, or audiovisual sources, in different formats. The abuse by the president in the use of “communication”64 services is a weakness of democracy, because it affects the right to communication: a collective and basic interest for the community. This abuse sooner or later will cause the collapse of any genuine possibility of deliberation among citizens. Just like a president may abuse the right to communication, a monopoly of media outlets (including radio, TV, newspapers) could be detrimental to presidential policies. The systems of government, including presidentialism, experience a remarkable reduction of the “weight and essence of political parties,”65 a circumstance which forces political parties to transform and adapt to the influence of “video-politics.” Last, even if it is complex to exhaust the list, the president must perform his or her individual and indisputable responsibility of representing the community before the rest of the nations in the world. The president also represents the State in international organizations such as the UN, OAS, UNESCO, etc. In that sphere, the president is responsible for managing the foreign affairs of his state, because the president has that responsibility as provided in the constitution. Presidentialism, according to the foregoing, can be understood as a system of government adopted by constitutional democracies in which the executive representation is attributed to a capital and monist body. Its head, the “monopresident,” has to be chosen in free, authentic, competitive, transparent, and informed elections, where an original legitimation is sought, in search of an absolute majority and in accordance with the universal suffrage of citizens. Also, the fixed determination of the governance period of the president is a key, as the president will use a good share of his or her time in trying to be reelected for a new term. The president will lead, even if he or she does not want it and against his or her own ideas, the constitutional process and will simultaneously be the chief of state, the chief of the administration, the commander-in-chief of the armed forces, and the head of the administration of the nation. Ministers are more officers of the president’s Shugart/Mainwaring (n 60), 49. The 1988 CFRB, in its article 220(5), provides that media outlets cannot be subject to a monopoly or oligopoly. 65 Sartori, Homo videns. La sociedad teledirigida, 2000, 110. 63
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administration than officers of the state, as they are nominated and removed by the president. The consolidation of powers in the individual who is elected as president is a key note in the system. The president, in his or her capacity as absolute and magnificent director of the constitutional process, will regulate laws, issue decrees with force of law, administer the State, may have influence in the administrative jurisdiction, will nominate judges and ambassadors and will certainly have a strong initiative in bills, in addition to having a co-legislator task, as the president promulgates laws, becomes the arbitrator of the legal procedure, has the capacity to veto, and even has a kind of political co-decision regarding a constitutional reform. And we must not forget to include the crisis powers of presidents to remediate the eternal crises of our nations, which were born with the stain of foreign debts due to its colonial nature. In such cases, the core of the debate will be the powers of the president and whether they find a basis in the constitution or not. By the way, I have forgotten to mention the significant influence that the president’s authority will have as long as the president’s supreme power lasts. Finally, congress cannot oust the president. There is no parliamentary vote of confidence and the impeachment to remove the “prince” is something closer to the constituent ideas than actual reality, as it requires extraordinary congressional majorities to move forward. Diego Valadés has recently presented an original and well-thought typology of presidentialism in Latin America. The Mexican author identifies three models: “traditional,” “transitional,” and “democratic.” The “traditional” presidential model is the model which maintains the powers concentrated in the person of the president. In his opinion, the preservation of this traditional model will entail inequity and uncertainty as social costs, ineptitude and corruption as political costs, and financial costs of unproductiveness and underdevelopment.66 For him, the “transitional” presidential model is the one that corresponds to a stage between the traditional position, which rejects institutional changes, and the democratic model to which it could evolve. The main features of the transitional model is the normative adoption of jurisdictional and political control instruments, with responsibilities for the persons who hold public offices, and is characterized because social controls, especially electoral ones, are consolidated.67 Valadés believes that a “democratic” presidential system will be reached when there is transition from formal statements to the effective realization of the rules regarding jurisdictional and political controls. Therefore, the system would have overcome the concentration of powers in a single person, in which governmental decisions are the subject of deliberation by a cabinet with constitutional powers and the ministers who are part of it are subject to political accountability. In the democratic model, the “norm and normality coincide.”68 Normative regulation realized in practice, a specified and controlled executive, is consistent with the reality governed by the rule. Valadés, Formación y transformación del sistema presidencial en América Latina…,” op. cit., 842. Ibid., 843. 68 Ibid., 844. 66 67
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The distinguished Mexican scholar has found that most nations in Latin America are in a transitional phase, and only Chile, Costa Rica, and Uruguay can be said to show “fully operative institutions which permit talking about a democratic presidential system.”69 In his description, he qualifies only three systems as “democratic” out of more than twenty. Such “democratic presidentialism” has not been realized in Argentina, Brazil, or Colombia. As claimed in this article and further explained in section II, now it is time to elaborate on some ideas regarding the array of powers of the president and the risks or advantages for legal stability or instability entailed by a decision for this constituent model. Here, theoretical matters prevail. In any event, these claims are drawn from the understanding and the experience of the realities offered in Argentina, Brazil, and Colombia. However, for the benefit of the reader I will make no specific normative reference to their constitutions. Regardless of their inherent features, each of the constitutions of Argentina, Brazil, and Colombia, with their specific determinations, permit the configuration of their republican institutions. The theory of the separation of powers is resorted to and generally specific, exclusive departments with duties that are not shared are identified. Based on the pure understanding of the tripartite theory of power, while it will never result in equivalent powers for each department, it is conceived with sufficient checks and balances, which would propose a certain balance and the absence of the preponderance of one constituted power over another, or over all other constituted powers. The republican form adopts the division of power, and that entails a government of detailed, separate, catalogued, and described powers, ordering a public and rational exercise of power, resulting from the decision of citizens. In such tripartite division of power in the republican house, the president has a share of power; this is a description of an almost self-evident legal provision. The citizen who happens to be the president has a very high share of constituted republican power. The position of president comes with inherent executive powers, but the president will also have legislative and even jurisdictional powers. The governmental power of the president, as opposed to the legislature and high courts of justice, is exercised individually by a single person. The individuality of the presidential institution, which can only materialize in the person of the citizen chosen, is not a mere laboratory concept, as it has deep legal implications. Regardless of the fact that the acts taken by the president should be supported or assisted by the president’s ministers, I want to highlight the individuality of the position as a key element of the structural conception and the functional dimension of the public servant. The executive power individualized in the president is the only power of this nature regulated by constitutions, which results in the unity of the presidential power. That unitary nature prevents and restricts any rationalization attempt. The suffocating individuality of the powers of the “republican prince” shows the immediate need for the “democratization of the presidential power.” 70 That could happen, maybe, with a government of a cabinet of ministers with personality, initia-
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Valadés (n 37), 30. Ibid., 123.
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tive, congressional support, and defined responsibilities.71 Also, with a collegiate design of the executive-presidential institution, and granting to it plural nature, as established in the 1952 Uruguay Constitution, for example.72 Any change would require a constitutional amendment or reform in the countries chosen, but I share the idea that sadly states that “open criticism of presidentialism are losing ground in Latin America.” 73 Maybe a source of complacency with the presidential system of government is the very confrontational and fighting nature, together with the absence of neutrality of the presidentialist system; all those features are verified in the model studied. In the body of the system of presidential government, identified by the unity and concentration of powers, there are its own possibilities to secure the stability or instability of the legal order created. It must be noted, by the way, that the anatomy of the presidentialist system and its physiology have relevance enough to mark the very regularity of the governmental legal order in which the body participates. I will use, with adjustments and adaptations, the following notion of “stability.” 74 I understand that a given system of government is stable when the state of things related to the “institutional exercise of power,” together with the pertaining controls, tends to realize the constitutional rule, in showing a pretty effective performance. This trend is maintained, as an efficient explanation, during the validity of the constitution, including its reform, thanks to the change process established in itself. It may be seen that the concept is related to a given constitutional order, which may be presidentialism or parliamentarism. The notion of “stability” is also tied to a historical context established by the constituent and imperative cycle of a constitution. The relativity of the notion also entails that its application to a given text within a fixed context does not allow for improvement or worsening of the existence conditions of citizens. It is a demonstrable fact all over the world that parliamentary democracies show better features than presidentialism to order the sphere of freedoms, the orientation of equality, and to some extent solidarity in the community. However, that should not fully determine the idea of the constitutional stability of a legal order. There is no stability without governability. The stability of any presidential or parliamentary model shows the honest possibilities of governance. Governance in a constitutional democracy has to be channeled within a properly established framework by the constitutional order (whether presidential or parliamentary) and in a context of reasonable legitimacy. Ibid., 124. See Gross Espiell (n 54), 109–121 and 371–462. Constitution of Uruguay, 1952. “Article 149. The Executive shall be in charge of the National Council of Government.” “Article 150. The National Council of Government is made up by nine members directly elected by the people, together with twice the number of alternate members, for four years, with the safeguards and pursuant to the suffrage rules established under Section III, and the Republic is considered a single electoral district. To elect members of the National Council, votes shall be accumulated by motto, and it will be forbidden to accumulate votes by sub-mottos.” On this matter, the essay of Ratto Trabucco (n 54), 35–75, is also available. 73 Alegre (n 17), 43. 74 Garzón Valdés, Derecho, ética y política, 1993, 606. 71
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The constitutional government is made up by a group of bodies exercising the power of the state. Therefore, the task of governing consists in building hegemony. The attempt will be to specify the anguishing confluence of individual and collective interests toward a predefined general interest in an open manner in the program established by the constitution. If the classical formula stating that “hegemony” is equal to the “the addition of coercion plus consensus,” the problem will be to know which of such terms will prevail in construction. If some consensus prevails, the form will be quite democratic. If, on the contrary, pure coercion prevails, the structure of the government will be more authoritarian in nature. Constitutional democracy is based on pluralism. This entails that somehow all must support the idea of the plural audience; if not, constitutional democracy is undermined or destroyed. Political pluralism must include all options in a transparent manner, including neutral positions. The search for a winner, who becomes the president, does not favor those who did not support him or her or neutral individuals. The winner of the election will be tempted to lead the country following his own personal beliefs. Governance is forced into a corner. To govern, the president requires extended majorities. If the president has those majorities, he or she will build sufficient hegemony; if not, he or she will be extremely weak. In Argentina, it is not enough to win the elections to thrive politically. In the first two years of office of the president, the House of Representatives will keep 50% of its previous members. The Senate, in the first two years of office of the president, will keep two thirds of their previous members. In Argentina, elections for popular positions are not enough to consolidate a political triumph. In Brazil, elections are all held at the same time, except for the Senate. In the Colombian model, conversely, elections for members of congress and president are at the same time. I have refrained on purpose from analyzing the mixture of majority systems to elect the president and proportional representation systems to elect part of the Congress. The combination of these systems does not strengthen the president’s unity of power. It would suffice to think that in the only country in the world where presidentialism works with some degree of success (the United States of America) – and therefore is a “singular and unique” 75 system –, there is no combination of electoral systems: everything results from the application of a majority electoral system for the integration of the executive and the legislature. One could imagine, for example, that the existence of several approaches in a constitutional democracy would favor debate and the search for consensus. The problem with the presidential power – at least as exercised – is that, if it negotiates, it fails. As a result, the president, instead of producing consensus, tries to exercise his or her powers and the pertaining pressure so that such powers do not disappear. Although in the mid-18th century it was rightly stated that “force will always be on the side of the people,” 76 the realization of that statement is a true chimera. Presidentialism is the utmost institutionalization of power consolidated in one person. Therefore, becoming the president of the republic may lead to thinking that placing the
Dalh, ¿Es democrática la Constitución de los Estados Unidos?, 2003, 73. Hume, Ensayos morales, políticos y literarios, Madrid, Trotta, 2011, 66.
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“exercise of the Supreme Executive Power in one individual” 77 results in imagining that singular “citizen” as someone with more power than the other citizens, who meanwhile would not get together in an honest deliberation to exercise their natural and sovereign right. Argentina, Brazil, and Colombia are experiencing an extraordinary process of wealth accumulation and social exclusion. In the three countries social exclusion indexes reflect two digits of marginalized citizens; conversely, the few wealthy increase their fortunes every day. I believe presidentialism is a formidable domination method. There is a huge connection between concentration of wealth and concentration of power.78 Individuals who feel powerful for managing and controlling production, business, and finance on a large scale can feel tempted to have leadership positions in the political sphere. The illusions of an informed electorate may be affected by a sabotage of political campaigns. It would be enough with a structure that, depending on high costs, can only be afforded by powerful individuals who want to manipulate citizen elections. The manipulation of an election, if any, can never be the same in a system of parliamentary government and in a presidential system of government. In the first model, the elections do not secure the operation of the system, because the system is shared in nature. In the second one, that happens naturally, as power is individualized. An electoral campaign for president, even if it entails high costs, in the event of winning, will obtain the conduction of the political process. The president has hegemonic power. The instability of his or her policies always implies the instability of the model. Presidential power is subject to physics standards: if hegemonic decisions are realized, always with sufficient autocracy, the model navigates, even in deep waters. If its power is instable instead, the instability is transferred uninterruptedly to the model. The collapse of the system of government is not a merely speculative matter. The executive, headed by a president, considers and plans the calculation of income and expenses of the state. The state’s budget is typically approved in congress, year after year. The president will always have the money of the state in his hands. Of course, the president cannot decide how much the legislative and the judiciary will need for their expenses. But none of these bodies has the power to collect or to pay their expenditures. The executive and the legislature, in the spheres of their separate powers, operate with autonomy to plan the budget; it is true, however, that it would be enough for the president to decide on a restriction or limitation to make those branches of power suffer serious institutional problems. In presidentialism, the development of the budget and the payment of costs are of utmost importance. Presidentialism is a model that favors corruption. The presidential creature is vulnerable because power is concentrated and lacks any insertion in congress. The free will of the republican “prince,” the bureaucratic structure of the state, the deference of a given team of officials, the notorious opposition, and the lack of collaboration with the opponents form a menu that, together with the concentration of powers,
Cfr. article 80, Political Constitution of the United Mexican States. Chomsky (n 13), 91.
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will in all likelihood cause deviation or ineffectiveness of powers, as well as the absence of ethical transparence. To operate, presidentialism requires hegemony, with sufficient load of self-criticism, which neutralizes or beats the political adversary. The typical verb of presidentialism is “to confront,” not to “agree” or “negotiate.” This is why the personal leadership of the “prince,” his permanent confrontation, and the absence of institutionalized accountability, in pertinent time and rational and controlled space, would show a certain level of stability. The alleged advantages of presidentialism will soon fall down. Presidentialism will not endure. Or does the reader remember a stable, efficient and transparent system which has improved the conditions of existence of citizens from 1991 until 2018, in Argentina, Brazil, or Colombia?
IV. Final Remarks First: The rule on the “separation” of powers enlightens the hope that the purpose of the constitutional contract be based on the supremacy of the person and that the person be elevated as a priority over individuality and community organization. If, based on the constitution, which details the separation and distribution of “constituent” and “constituted” powers of the state, many political paths are possible, and if “distinguished and distributed” means “limited power,” dogma would be the only way to rationally order human existence. Second: The theory of the separation of powers was devised in Europe and realized with the constitutional foundation of the United States of America in 1787. There is not one single person who conceived this theory. In the design of the U.S. constitutional path there was not only one person who lead that path in the 18th century. The voices which took part in that birth are multiple. In any community, citizens who are members of it have five kinds of interests: environmental, political, financial, cultural, and biological interests.79 In every situation in which citizens have lived, the preponderance of one or several interests had different degrees of relevance. I do not want to disregard the fact that the interests that existed when the United States of America was born and developed were entirely different from the interests that were and are present in Argentina, Brazil, and Colombia, from their declarations of independence until the present day. The invention of a president80 may have worked well in the United States, where the fight among social classes was not the guiding standard to order the community. In the constituent process of that nation the colonial power was displaced, but its community suffered no changes, because its “colonial pyramid” was maintained intact.81 The 1787 Constitution responds to a series of well-established hegemonic classes with significant exclusions which did not seem to derive from the 1776 Dec Bunge, Filosofía política. Solidaridad, cooperación y democracia integral, 2009, 138. Moore, The American President. A Complete History. Detailed Biographies. Historical Timelines. From George Washington to Barack Obama, 2007. 81 Zaffaroni, Estructuras judiciales, 1994, 36. 79
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laration82: slaves, African-Americans, women, poor people, indigents, and Native Americans. The claims devised in the origin of the state did not risk this stratification, whose structure was pretty solid. The founding fathers of the United States organized a new government, but they were “very fearful of an egalitarian distribution of property.”83 In the cases of Argentina,84 Brazil, and Colombia, the anointing of a president does not entail the same features in their history. In becoming independent, these countries had to assume the tenacious growth and development of their citizens, which is still pending and without any rational testimonies of the creation thereof. There is no fair distribution of the existing or any future assets. It would be easy to blame presidentialism, but the system, due to its own legal and constitutional architecture, has not been and will not be useful to build rational basis for dialogue and the construction of the political horizon of the community. Based on that understanding, maybe 100 years from now it will sound strange that citizens in 2018 decided to grant to only one person the possibility of exercising a hegemonic energy, based on the purest confrontation: presidential power. I also feel that it will cause amazement to discover that all personal and executive command was given to one person, who is never free from interest, resentment and, above all, individual error. In the economy, there are companies which have a main owner, and such owner is the one who exercises his or her dominance. In the republic, dominance pertains to all citizens, unique and irreplaceable, who must dispose an “order among associates”85 of the joint property. This results in the inconsistency that the constitutional acts be attributed to a single citizen. The American president has hegemonic power, but one which is controlled by Congress and the courts. The “prince,” in South America, while in office, will have In CONGRESS, July 4, 1776. The unanimous Declaration of the thirteen united States of America, “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness […]. We, therefore, the Representatives of the United States of America […] solemnly publish and declare, That these United Colonies are, and of Right ought to be Free and Independent States; that they are Absolved from all Allegiance to the British Crown, and that all political connection between them and the State of Great Britain, is and ought to be totally dissolved; and that as Free and Independent States, they have full Power to levy War, conclude Peace, contract Alliances, establish Commerce, and to do all other Acts and Things which Independent States may of right do […]” (emphasis added). 83 Zinn, Nadie es neutral en un tren en marcha. Historia personal de nuestro tiempo, 2001, 10. 84 In connection with Argentina, Pablo Riberi, in a valuable contribution adheres to the idea and claims: “Le présidentialisme argentin est obsolète; les mauvaises règles en vigueur en conséquence, provoquent inévitablement de pauvres et sombres résultats… Une démocratie délibérative avec des niveaux acceptables d’efficacité/ contrôle nécessite en conséquence des conditions politiques et institutionnelles incompatibles avec l’(hyper)présidentialisme actuel. Pour changer, il est donc nécessaire de redessiner les règles basiques au niveau constitutionnel. Il est urgent de créer des nouvelles normes qui aident à consolider l’objectif d’une république et d’une démocratie constitutionnelle exigeante…,” Riberi, Sans efficacité, coopération ni contrôles, le présidentialisme argentin est un modèle obsolète, Civitas Europa: Revue Juridique sur l’évolution de la Nation et de l’Etat en Europe 26 (2011), 39. 85 See Calamandrei, Sin legalidad no hay libertad, 2016, 34. 82
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hegemonic power with different attributions, maybe higher than the American power, in constitutional terms, but without similar controls which, in any event, are ineffective. Third: The method to elect the president is a very important matter in the system of government: the use of majority systems, which also have a second electoral round, searches for a leader with wide citizen support. Then, the “republican prince” will be nominated by the citizenship in a direct manner. The majority obtained in the elections and the direct citizen source will convince the presidential leader that his or her governance will build history. It will not be necessary to weigh the significance of the past. The opinions and ideas of the new “republican prince” are more original than anything that had been known so far. Fourth: For a president there will never be time lost in his or her wish to be reelected. In Argentina and Brazil, after the president is elected, one of his or her missions – and maybe the most important one for his or her own administration of the State – will be his or her career for immediate reelection. For that purpose, the president will use the entire machinery of the state, including coercion and not only resources, to be reelected. One term of office is never enough, because concentrated powers serve the purpose of foreseeing a distant projection horizon, a second term. In 2015, Colombia has rightly86 established the restriction on reelection for president with clear eternal features in article 197 of its Constitution; this is a sort of perennial restriction to remain in the Executive forever. Fifth: The unity of the authority of presidential power defines the system of government, not only due to the attribution of governmental authority; in essence, the entire constitutional process is to be led by the president. “President” is synonym with unity in the constitutional exercise of authority! A president is an absolute director of the basic battles of the state and the pertaining administration, with little or no space to understand the weaknesses, evident or implied, of every human being. Sixth: At the beginning of this essay, in section II, I claim that I am not proposing any system of government. It is true that “trust in institutions is not strengthened with praise, but with observance together with rational criticism.”87 Also, it would not be original to propose that the presidency, as a monocratic institution, should be “abolished”88 and replaced by a plural model for the exercise of the executive branch. There are reasons to imagine a future where there is deliberation, altruism, illustration, and, above all, a plural exercise of citizens preventing the individual appropriation of governmental power, beyond the prestige a citizen may have. I posit that presidentialism must be democratized. The political monopoly of the system banishes any serious possibility for equality among citizens in an open society. The exercise of the presidency as it is known must be streamlined. The democratiz86 Presidential reelection is a forbidden fruit in Mexico. The prohibition against reelection was established in the Constitution on February 5, 1917, under article 83. 87 Zaffaroni (n 4), 4. 88 Lockwood, The Abolition of the Presidency, New York, Worthington, 1884, 302. Recently, there have been proposals to “abolish the presidential monarchy” resulting from the current system of government in France. It has also been alleged that presidentialism is a “democratic anomaly” and that a parliamentary system should be established instead, whose Executive be appointed by, and be accountable to, the Parliament. See Mélenchon, L’Avenir en commun, 2016, 26.
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ing wave of the presidential body could only be implemented – via constitutional reform – through multiple channels. The democratization of the institution should be interpreted as a matter of time, because there are lots of arguments to attack its lack of stability and its terrible incapacity of engaging in democratic dialogue. The democratization of the presidential power would help to control the abuse or authoritarian deviation of presidential power. The alternatives to avoid the dominant nature of presidentialism are of multiple nature. One can think of a collegiate body and assign to it a plurality of individuals. Or in the nomination of a prime minister and the congressional confirmation of all ministers, or any other possible mixtures stemming from the experience of parliamentary government. Seventh: To accomplish his or her mission, the president must have a very significant number of attributions, which will consolidate, with sufficient hegemony in the indivisible unity of him- or herself. Such attributions are often included in constitutions. As power is the basic energy of the constitutional state, the attributions of presidents must respond to two key asymmetrical tasks. On the one hand, the president is empowered to actively execute a given line of policy and, in parallel, the president is sworn in to reactively prevent a given line of policy. In clearer terms, the powers of the president are intended to create a new state of constitutional situations or to prevent or reject a certain change proposed, in general, by other members of congress. The powers of the president, whether to promote or reject a given policy, may be used for the advancement or the worsening of citizens’ conditions of existence. The president has an enormous gamut of powers. The president may take part in the ordinary law-making process as a co-legislator, whether by sending bills to congress or by signing bills into law. The legislative task also includes the possibility of issuing decrees with force of law or that congress delegates that legislative power. The president may also prepare drafts for a constitutional reform. The president administers and manages the state with his or her supreme will of elected citizen. It is not necessary to remind that the president manages and estimates the resources of the state, gives the guidelines for public expenses, and in that manner determines the public accounts of the remaining branches of power. The president appoints all of his or her collaborators and may decide to remove them without any obstacles. The president represents the state inside the country and abroad in connection with international relations. In Argentina, the president also has administrative jurisdiction. In Colombia the president represents “national unity.” The president may also convene congress. As if it were not enough, the president is also the leader of the constitutional process and the main player of the political process. Eighth: When presidentialism reduces democracy, it may increase governance and show a certain level of stability. Nevertheless, when governance is reduced, democracy is not increased. The system of government falls down the slope. There are not any good reasons to advocate a weak constitutional democracy as the one proposed by presidentialism, except for some advantages which, mainly based on a strong autocratic hegemony, may lead to a provisional stability, which will always be affected by the harshness of politics. There are no good reasons to support the presidential system of government, whose instability will always impact the floating line of the model. It is false that presidentialism is a model designed to navigate in the middle of institutional turmoil. The opposite is true.
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In the presidential model, political confrontation is the continuing feature. If the turmoil has a successful ending, the adversary is distressed, until further notice. If the turmoil results in failure, there is no need to make any prophecy or prestidigitation to know the disastrous results. All in all, it seems to be true that the instability of presidentialism will entail the instability of the system of government and that the instability of the parliamentary government will likely make the government fall, but not the model. It is entirely unrealistic that some beautiful words – be they about a parliamentary or a presidential model – could change the world on their own. It will also be necessary to have committed and responsible citizens to understand and contribute to institutional stability. Ninth: The constitutional state is made up by a community of citizens. The entity is an association of domination, whose powers stem from citizens and such powers must be at their service. Authority exercised on behalf of a governmental power floating above citizens is unbearable and inadmissible.89 The peculiar notes of the election of president, generally based on the majority principle, even if it delivers a supreme and maybe stable power, does not protect minorities in a staggered fashion, who will be left unprotected. A majority of the votes merely proves the following: a circumstantial support and an opportunity, but not aptitude, which may even be absent and show the fragments of absent thoughts. Given the formation of its inherent supreme powers, the presidential leader will always operate in the quicksand of power based on a majority fragment of the citizenship. More than 200 years of presidential experience in South America lead to question whether that supremacy of the executive is the pathetic reason underlying institutional instability, submission, and social vulnerability. In the final lines of this work, I propose the following question to the reader: Is the president, as expressed in Argentina, Brazil, and Colombia, an elected monarch – the contradiction is valid – with whims of a “director of peoples”90 with hegemonic powers? If only the citizens are indispensable, could it be true that the director of peoples is a person who considers himself as an “indispensable statesman,”91 with absolute powers and who engages in the presidential monologue?
Häberle, El Estado constitucional, 2003, 198. Arlt, Saverio, el cruel, Teatro completo, Buenos Aires, Losada, 2011, 142. 91 Ibid. 89
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Die Beziehungen zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den Obergerichten in Mitteleuropa Eine vergleichende Analyse von
Priv.-Doz. Dr. Attila Vincze, LL.M. (Budapest), Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper (Regensburg/München) und Dr. Claudia Fuchs, LL.M. (Wien)* Inhalt I. Methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 1. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 2. Methodische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 3. Berührungspunkte zwischen Verfassungsgerichten und Obergerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 II. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 1. Institutioneller Kontext und organisatorischer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 a) Österreich und Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 b) Deutschland, Tschechien und Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 2. Verfassungsbeschwerde als institutioneller Berührungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 a) Die „unechte“ Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 b) Die „echte“ Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 aa) Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 bb) Eingeschränkter Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 3. Die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 a) Die technische Seite: Gegenstand und Grenzen der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 634 b) Aufhebung von Rechtsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 c) Aufhebung eines Gerichtsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 d) Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 4. Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 5. Richtervorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 a) Die Richtervorlage als Kooperationsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 b) Die mitteleuropäische Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 III. Schlussfolgerung: Konflikte sind unumgänglich, aber nicht notwendig destruktiv für die Rechtskultur . 655 Wir danken Lukas Diem (Wien) und Piotr Czarny (Krakau) für ihre wertvolle Mitarbeit.
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I. Methodische Grundlegung 1. Ausgangspunkt Der Anlass der vorliegenden Studie war eine Ausschreibung durch das ungarische Verfassungsgericht und das oberste Gericht Ungarns, die Kurie (Kúria), rechtsvergleichend zu erforschen, welche potentiellen Konflikte zwischen Verfassungsgerichten und obersten Gerichten existieren und wie diese Konflikte vermieden oder behoben werden können. Der Hintergrund dieses Forschungsprojekts ist die Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde in Ungarn 2011/12. Bislang ungekannte Konfliktfelder taten sich zwischen Verfassungsgericht und Kurie auf, und der Zweck unseres rechtsvergleichenden Projekts „Az Alkotmánybíróság és a felsőbíróságok kapcsolata. Konfliktusok és kooperáció jogösszehasonlító szempontból“ (Das Verhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und den Obergerichten. Konflikte und Kooperationen aus der Sicht der Rechtsvergleichung) war es aufzuzeigen, wie Länder der Region, die gewisse Parallelen zu Ungarn aufweisen, mit derartigen Konfliktkonstellationen umgehen. In einem zweiten Schritt ergab sich hieraus die Überlegung, welche Erfahrungen für Ungarn positiv oder negativ fruchtbar gemacht werden können. Da die Ergebnisse nicht nur für Ungarn und ungarische Juristen von Interesse sein können und das ursprüngliche Projekt um ein weiteres Land, nämlich Polen, ergänzt wurde, möchten wir die wesentlichen Resultate auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen.1
2. Methodische Perspektive In dieser Studie verlassen wir die rein zweckorientierte, d.h. rechtsberatende Perspektive des anlassgebenden ungarischen Forschungsprojekts und vergleichen das in Frage stehende Verhältnis zwischen Verfassungsgerichten und Obergerichten in fünf mitteleuropäischen Staaten aus einem grundsätzlichen, rechtsvergleichenden Erkenntnisinteresse heraus. Um die genannte Fragestellung bearbeiten zu können, ist eine Konzeptualisierung der Berührungspunkte zwischen der klassischen Justiz und der Verfassungsgerichtsbarkeit nötig. In der Folge bezeichnen wir die Akteure in diesem Spannungsfeld einerseits mit „Verfassungsgericht“2 und andererseits mit „Obergericht(en)“, „Höchstgericht(en)“, „Judikative“, „ordentlicher/klassischer Justiz“, „Fachgerichtsbarkeit(en)“ oder ein1 Die einzelnen Länderberichte sind in Langform in deutscher Übersetzung erschienen in: Küpper/ Vincze (Hrsg.), Die Beziehungen zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den Obergerichten in Osteuropa, Schriftenreihe des Instituts für Ostrecht München Bd. 83, 2018. 2 Nicht zu Unrecht weisen von Bogdandy/Grabenwarter/Huber, § 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 6: Verfassungsgerichtgsbarkeit in Europa: Institutionen, 2016, Rn. 21 ff., darauf hin, dass selbst im Kontext der auf Europa beschränkten Verfassungsrechtsvergleichung der Begriff und das institutionelle Konzept von „Verfassungsgericht“ nicht eindeutig ist. Die hier ausgewählten Länder Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn sind sich aber hinreichend ähnlich, um diese Problematik ausblenden zu können.
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fach mit „Justiz“, wobei diese Begriffe regelmäßig – soweit im Einzelfall nicht ausdrücklich etwas Abweichendes zugrunde gelegt wird – nicht nur die Zivil- und Strafgerichte bezeichnen, sondern alle Gerichtsbarkeiten außerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit. Um die verbreitetsten Schwächen der Rechtsvergleichung, nämlich Oberflächlichkeit, Inkohärenz3 und die unreflektierte Übernahme des fremden Rechts4 zu vermeiden, ist es wichtig, den Vergleichsgegenstand fundiert auszuwählen, also kritische Rechtsvergleichung zu betreiben. Dies ist der Grund, warum auch das institutionelle und organisatorische Umfeld der Verfassungs- und der ordentlichen Gerichtsbarkeit zumindest in den Grundzügen dargestellt werden muss. Die Kompetenzen und die Organisation der Verfassungsgerichte bestimmen ihre Berührungs- und Reibungspunkte mit der Justiz. Eine rechtsvergleichende Studie im besten Sinn soll sich weder mit der bloßen Beschreibung der ausländischen Vorschriften zufriedengeben, noch soll sie eine eigene dogmatische Analyse des fremden Rechts liefern. Sie hat vielmehr die Aufgabe, die in der Wirklichkeit bestehenden Strukturen zu beschreiben und darzulegen, wie das Recht eigentlich funktioniert.5 Die Beschreibung der ausländischen Beispiele ist eine notwendige, aber noch keine ausreichende Leistung der Rechtsvergleichung.6 Der Vergleicher muss die verschiedenen Rechtssysteme vielmehr anhand eines vernünftigen Kriteriums miteinander verknüpfen. Dieses Kriterium ist das tertium comparationis, das in der klassischen rechtsvergleichenden Lehre auf der neutralen Beschreibung der sozioökonomischen Funktion des zu vergleichenden Rechtsinstituts beruht. Dieser Anforderung kann die Rechtsvergleichung umso einfacher gerecht werden, je kulturell und historisch näher die zu vergleichenden Rechtssysteme einander sind. In diesem Fall kann die Funktion des Rechtsinstituts strenger eingegrenzt und somit präziser beschrieben werden, und die Rechtsvergleichung liefert auch praktisch verwendbare Ergebnisse.7 3 Hirschl, The Question of Case Selection in Comparative Constitutional Law, American Journal of Comparative Law 53 (2005), 125 (128 f.): „the comparative reference approach is still lacking in methodological coherence. All too often, it is pursued (primarily by judges, I should note) through an eclectic, at times even scant and superficial, reference to foreign constitutional jurisprudence – typically rights jurisprudence. Case selection is seldom systematic, and it rarely pays due attention to the context and nuances that have given rise to similar or alternative interpretation or practice of constitutional norms“. 4 Justice Scalia in Roper v. Simmons, 543 U.S. 551, 627 (2005): „To invoke alien law when it agrees with one’s own thinking, and ignore it otherwise, is not reasoned decision-making, but sophistry“. 5 Benda-Beckmann, Einige Bemerkungen über die Beziehung zwischen Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, ZvglRWiss 1979, 51 ff.; Drobning, Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie, RabelsZ 18 (1953), 295 ff.; Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1974, 20 f.; Sacco, Legal Formants: A Dynamic Approach to Comparative Law, American Journal of Comparative Law 39 (1991), 1 (25 f.): „The comparative method is thus the opposite of the dogmatic. The comparative method is founded upon the actual observation of the elements at work in a given legal system. The dogmatic method is founded upon analytical reasoning. The comparative method examines the way in which, in various legal systems, jurists work with specific rules and general categories. The dogmatic method offers abstract definitions“. 6 Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1; Lachmayer, Verfassungsvergleichung durch Verfassungsgerichte – Funktion und Methode, JRP 2010, 166 ff.; Michaels, Functional Method, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 339 ff. 7 Mincke, Eine vergleichende Rechtswissenschaft, ZvglRWiss 1984, 315 (323); Örücü, The Enigma of Comparative Law, 2004, 25.
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Aus diesem Grund haben wir für die hiesige Studie Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn ausgewählt. In Österreich wurden die moderne konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit und damit insbesondere die Zentralisierung der Normenkontrolle bei einem institutionell eigenständigen Verfassungsgericht geboren. In Deutschland ist eines der einflussreichsten Verfassungsgerichte in Europa und vielleicht der ganzen Welt tätig, das mit der Urteilsverfassungsbeschwerde sowie seiner Rechtsprechung eine Vorbildrolle für die Transformationsländer einnahm.8 Polen, Tschechien und Ungarn sind drei postsozialistische Länder, die während der Wendejahre eine Verfassungsgerichtsbarkeit in verschiedenen Formen implementiert haben und sich dabei teilweise vom österreichischen und teilweise vom deutschen Modell beeinflussen ließen.9
3. Berührungspunkte zwischen Verfassungsgerichten und Obergerichten Verfassungsgerichte und Obergerichte weisen mehrere Berührungspunkte auf, zu deren Vergleichung es eines vernünftigen Kriteriums bedarf. Aus der bloßen Aneinanderreihung von Länderberichten ist es zwar nicht unmöglich, aber doch schwer, unmittelbar verwertbare Erkenntnisse herauszufiltern. Zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den Spitzen der Justiz lassen sich im Wesentlichen fünf Berührungspunkte ausmachen: zwei institutionelle, zwei normative und einer, der als soziologisch bezeichnet werden kann. Die zwei institutionellen Berührungspunkte sind die Verfassungsbeschwerde gegen rechtskräftige Urteile (beziehungsweise deren Fehlen) und die konkrete Normenkontrolle auf Vorlage eines Gerichts. Die normativen Berührungspunkte bestehen auf dem Gebiet der Rechtsauslegung: Inwieweit ist die Auslegung des einfachen Rechts durch ordentliche Gerichte für das Verfassungsgericht bindend, und inwieweit ist die Auslegung der Verfassung für die ordentlichen Gerichte bindend? Der fünfte, soziologische Berührungspunkt betrifft die Einordnung der Verfassungsrichter als Richter: Gibt es eine Kollegialität zwischen Verfassungsrichtern und Richtern der Obergerichte, verfügen sie über ein gemeinsames Standesbewusstsein und einen gemeinsamen richterlichen Ethos? Dies ist weniger eine Frage des Rechtsstatus der Verfassungs- und der ordentlichen Richter, denn dieser ist mit Ausnahme des Berufungsverfahrens und der zeitlichen Befristung des Verfassungsrichteramtes meist ähnlich. Es ist vielmehr eine Frage des Selbst- und des gegenseitigen Fremdbildes des richterlichen Personals an den Verfassungsgerichten und in der Justiz. 8 Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, ZaöRV 1993, 819 ff.; Sólyom, § 107 Das ungarische Verfassungsgericht, Ius Publicum Europaeum, Bd. 6: Verfassungsgerichtgsbarkeit in Europa: Institutionen (Fn. 2), 705 ff., Rn. 6 ff. 9 Brunner/Sólyom, Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn. Analysen und Entscheidungssammlung 1990–1993, 1995; Brunner/Garlicki, Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen. Analysen und Entscheidungssammlung 1986–1997, 1999; Brunner/Hofmann/Holländer: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik. Analysen und Entscheidungssammlung, 2001; Luchterhandt/Starck/Weber (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Teilband 1: Berichte, 2007, darin die Länderberichte von Garlicki zu Polen (75 ff.), von Holländer und Hofmann zu Tschechien (189 ff.) und von Sólyom zu Ungarn (237 ff.).
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Im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde ist es von Bedeutung, was deren Gegenstand sein und unter welchen Voraussetzungen sie in Anspruch genommen werden kann. Wichtig ist auch, welche Rechtswirkungen dem verfassungsgerichtlichen Urteil zukommen (inter partes oder erga omnes) und inwieweit die Urteilsverfassungsbeschwerde gegen rechtskräftige Urteile die Lage der Gerichte und insbesondere der obersten Gerichte ändert.10 In der Richtervorlage verdichten sich zahlreiche dogmatische Phänomene: der Vorrang der Verfassung, das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Gerichten und das Verhältnis zwischen den ordentlichen Gerichten und dem institutionell verselbstständigten Verfassungsgericht. Falls nämlich die Verfassung Vorrang vor den übrigen Rechtsvorschriften genießt und sie zudem unmittelbar anwendbar ist, dann folgt daraus logisch, dass die Gerichte eine verfassungswidrige Rechtsvorschrift ipso facto nicht anwenden dürfen. Wenn die endgültige Entscheidung in dieser Frage bei den ordentlichen Gerichten angesiedelt ist, droht die Gefahr einer divergierenden Rechtsanwendung und einer unvorhersehbaren Rechtsprechung. Nun sind aber, wie das polnische Beispiel zeigt und ein Blick auf die österreichische Rechtslage verdeutlicht, das Recht zur Vorlage und die Nichtanwendung von Rechtsvorschriften kraft Vorrangs der Verfassung echte Alternativen, und die Nichtvorlage einer für verfassungswidrig gehaltenen Norm im Wege der konkreten Normenkontrolle bedeutet nicht zwingend, dass die Gerichte den Grundsatz des lex superior derogat legi inferiori nicht anerkennen, sondern höchstens, dass sie nicht unbedingt wünschen, dass diese Rechtsfolgen vom Verfassungsgericht gezogen werden. Das heißt, dass ein fehlender Respekt vor dem Verfassungsgericht in einem institutionellen Verständnis nicht zwingend mit dem Fehlen des Respekts vor der Verfassung und ihrem Vorrang einhergeht. Die Richtervorlage bereits durch Untergerichte ist auch eine Frage der Verfahrens ökonomie. Es wäre nämlich überflüssig, zeitraubend und eine Verschwendung von Ressourcen, von den Parteien zu erwarten, alle ihnen zur Verfügung stehenden Instanzen innerhalb der ordentlichen Justiz nur deshalb zu durchlaufen, weil nur die Obergerichte befugt sind, dem Verfassungsgericht eine anzuwendende Rechtsvorschrift vorzulegen, auch wenn bereits das erstinstanzliche Gericht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt ist.11 Andererseits bedarf nicht jede Frage der Rechtsanwendung und Rechtsauslegung der Befassung durch das Verfassungsgericht, wenn die ordentlichen Gerichte selbst die gegebene Frage beantworten können. Das keineswegs eindeutige Verhältnis zwischen den Verfassungsgerichten und den Gerichten wird zudem noch durch den Europäischen Gerichtshof verkompliziert, der i.d.R. von sämtlichen der beteiligten Akteure angerufen werden kann und mit seinen Rechtsauslegungen eine zusätzliche Dynamik in das jeweilige nationale Beziehungs10 Einen Überblick bietet Dannemann, Constitutional Complaints: The European Perspective, International and Comparative Law Quarterly 43 (1994), 142. 11 Eine derartige Rechtslage besteht z.B. in Bulgarien, wo Art. 150 Abs. 1–2 der Verfassung vom 12.7.1991 die Vorlagebefugnis bei den beiden obersten Fachgerichten, dem Obersten Gericht und dem Obersten Verwaltungsgericht, konzentriert. In ihr spiegelt sich möglicherweise noch sozialistisches Hierarchiedenken wider. Dazu Küpper, Einführung in die Verfassungssysteme Südosteuropas, 2018, 647.
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geflecht bringt. In dieser Hinsicht bieten v.a. Österreich, Polen und Tschechien entsprechendes Anschauungsmaterial.12 Die normativen Berührungspunkte werden von den Grenzen der (verfassungsund einfach-)gerichtlichen Rechtsauslegung definiert. Die eine Frage ist, inwieweit die verfassungsgerichtliche Rechtsauslegung die Obergerichte bindet, ob diese verpflichtet sind, die Rechtsvorschriften in Übereinstimmung mit der Verfassung auszulegen, und wenn ja, inwieweit die Gerichte dem tatsächlich gerecht werden. Wenn nämlich die Gerichte Rechtsvorschriften verfassungskonform auslegen, erfüllen sie im Wesentlichen die Aufgabe, zu deren Gewährleistung schlussendlich die Verfassungsbeschwerde dient, d.h. sie gewährleisten die verfassungsgemäße Handhabung der Rechtsordnung. Das umgekehrte Problem besteht darin, inwieweit die ordentlichen Gerichte einschließlich u.a. der Verwaltungsgerichte mit ihrer Auslegung des einfachen Rechts das Verfassungsgericht binden und was der tatsächliche Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Rechtsauslegung ist: Ist Gegenstand des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht der Normtext so, wie er im Gesetzblatt erscheint (wobei dann immer noch zu klären ist, was dessen Inhalt im Einzelfall ist), oder die Norm mit dem Inhalt, den ihr die Justiz – vielleicht in ständiger Rechtsprechung – zuweist? Oder noch einmal anders, nunmehr aus prozessualer Sicht formuliert: Was unterscheidet die ordentlichen und außerordentlichen Rechtsmittel in der Zuständigkeit der Gerichte von den Rechtsmitteln vor dem Verfassungsgericht? Aus diesen institutionellen und normativen Berührungspunkten fließt eine weitere Frage, nämlich: Wie können die Konflikte gelöst werden, wenn die Rechtsauffassung und Rechtsauslegung von Verfassungsgericht und Obergericht(en) voneinander abweichen? Gibt es Beispiele dafür, und wenn ja, auf welche Weise werden Konflikte überwiegend gelöst? Ist den ordentlichen Gerichten die Möglichkeit gegeben, der verfassungsgerichtlichen Rechtsauslegung die Gefolgschaft zu verweigern oder auf institutionalisierte Weise die Meinungsverschiedenheiten über die Rechtsauffassung einzuebnen? Die vorliegende Studie will ebenso durch vergleichende Analysen typische Konfliktzonen im Verhältnis von Verfassungsgerichten und ordentlichen Gerichten ausloten und rechtliche Konfliktlösungsmechanismen aufzeigen, wie es ihr darum geht, dieses Verhältnis auch in seiner Kooperationsdimension darzustellen. Themenfelder wie Bindungswirkung, verfassungskonforme Interpretation und Unterschiedlichkeit des Prüfungsmaßstabes bei Identität des Prüfungsgegenstandes zeigen sich insofern in enger Verknüpfung mit Grundsatzaspekten der „gelebten“ Aufgabenverteilung, der Akzeptanz der wechselseitig getroffenen Entscheidungen, aber auch des Bewusstseins um den Wert der Verfassungsgerichtsbarkeit an sich.13 Insbesondere bei den zuletzt aufgeworfenen Fragen spielen auch die soziologischen Berührungspunkte – oder deren Fehlen – eine Rolle. Bilden Verfassungsrichter und Richter einen gemeinsamen Berufsstand, auf dessen Grundlage sie von Kollegin zu Kollege miteinander kommunizieren können? Gibt es eine gemeinsame professionelle Grundlage, die trotz aller Unterschiede in der konkreten Rechtsauffassung verbin Näher dazu s.u. insbesondere Punkte II.5. sowie II.3.d). Zur Bedeutung der „consciousness“ von Verfassungsgerichten schon Ferreres Comella, The Consequences of Centralizing Constitutional Review in a Special Court: Some Thoughts on Judicial Activism, Texas Law Review 2004, 1705 (1711 f.). 12 13
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det? Oder bewegen sich Verfassungsrichter und ordentliche (Höchst-)Richter in verschiedenen Welten und müssen in ihrer Kommunikation auch ohne konkreten Konfliktstoff tiefe Gräben von Ethos, Mentalität, Selbst- und Fremdverständnis und vielleicht auch Prestigedenken überwinden? Insbesondere die Politisierung der Rekrutierung der Verfassungsrichter, aber auch ihrer Rechtsprechung ist ein wichtiger Faktor, der ein gerichtsübergreifendes gesamtrichterliches Ethos entstehen lassen oder aber vernichten bzw. im Keim ersticken kann. Nicht aus dem Auge verloren werden darf schließlich der Umstand, dass das Verhältnis zwischen einem Verfassungsgericht und einem oder mehreren Obergerichten nichts Statisches ist, sondern seine eigene prozesshafte Dynamik aufweist. Daher sind die Beschreibung der Rechtslage und die Analyse dessen, was die Akteure daraus machen, notwendigerweise immer nur Momentaufnahmen eines sich beständig wandelnden Phänomens. Selbst die rechtskulturellen und soziologischen Rahmenbedingungen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern unterliegen – wenn auch regelmäßig langsamen – Veränderungen. Diese Prozesshaftigkeit des genannten Verhältnisses macht einen Blick auch auf die Vergangenheit erforderlich.
II. Vergleich 1. Institutioneller Kontext und organisatorischer Aufbau Wenn man sich dem Verhältnis zwischen den Verfassungs- und den Obergerichten von der institutionellen Seite einschließlich der Kompetenzausstattung her nähert, dann liegt der auffälligste Unterschied zwischen den untersuchten Ländern in dem Umstand, ob gegen Urteile ordentlicher Gerichte Verfassungsbeschwerde eingelegt werden kann oder nicht. Als strukturelle Folge dieser Grundentscheidung ergibt sich einerseits die Gleichrangigkeit beziehungsweise Nebenordnung von Obergerichten und Verfassungsgericht, die die Lage in Österreich und Polen charakterisiert, andererseits die Verfassungsbeschwerde gegen (angeblich) verfassungswidrige Gerichtsurteile, die letztendlich das Recht der verbindlichen Endentscheidung von den Obergerichten auf das Verfassungsgericht überträgt und so zwischen diesen ein quasi-hierarchisches Verhältnis schafft – was, wenn auch in unterschiedlichen Formen und Einzelheiten, in Deutschland, Tschechien und neuerdings auch Ungarn zu beobachten ist. Als eine zweite Differenzierungsebene spielt die Tatsache eine Rolle, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Positionierung gegenüber der ordentlichen Justiz aus einer sozialistischen Diktatur heraus entstanden ist oder nicht; hieraus ergeben sich Kontrastierungen, die teilweise jenseits des geschriebenen Rechts liegen und die sog. weichen Faktoren der Rechtskultur betreffen.14 In einer Matrix, die einerseits auf der Unterscheidung von Nebenordnung und Über-/Unterordnung und andererseits auf 14 Die westeuropäische und die osteuropäische Rechtskultur kontrastiert z.B. Kühn, Worlds Apart: Western and Central European Judicial Culture at the Onset of the European Enlargement, American Journal of Comparative Law 52 (2004), 531. Diese Kontrastierung ist auch vierzehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung und nach dem EU-Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten des ehemaligen „Ostblocks“ noch zutreffend.
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der Unterscheidung zwischen ehemals sozialistischen Ländern und Staaten ohne sozialistische Vergangenheit beruht, ist jedes Feld mit mindestens einem Beispiel besetzt: 15
sozialistische Vergangenheit
keine sozialistische Vergangenheit15
Nebenordnung
Polen, Ungarn bis 2011
Österreich
quasi-hierarchische Über-/Unterordnung
Tschechien, Ungarn seit 2012
Deutschland
a) Österreich und Polen Österreich Das gegenwärtige österreichische Gerichtssystem weist drei formal gleichrangige, nebeneinanderstehende Obergerichte auf: den Obersten Gerichtshof, den Verwaltungsgerichtshof und den Verfassungsgerichtshof. Der Oberste Gerichtshof geht auf die bereits 1749 unter Maria Theresia errichtete Oberste Justizstelle zurück, welche zugleich Justizministerium und oberstes Gericht war. Aus ihrer Reorganisation 1848 ging der Oberste Gerichtshof hervor, der bis heute die oberste Instanz in bürgerlichen und Strafsachen ist.16 Die Überprüf barkeit von Verwaltungsentscheidungen durch eine spezialisierte Verwaltungsgerichtsbarkeit fußt auf dem Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt von 1867, wiewohl sich die einfachgesetzliche Errichtung des k. u. k. Verwaltungsgerichtshofs tatsächlich bis 1875 hinzog.17 Der Verwaltungsgerichtshof als Institution, seine wichtigsten Kompetenzen und Organisationsvorschriften verblieben nach dem Zusammenbruch der Monarchie im Verfassungsrang; seitdem enthält die österreichische Bundesverfassung die zentralen Regeln der Anfechtung rechtswidriger Verwaltungsakte.18 Am einstufigen System der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde noch bis in die jüngere Zeit festgehalten. Erst 2014 trat eine umfangreiche Verfassungsnovelle in Kraft, die den Auf bau der Verwaltungsgerichtsbarkeit reorganisierte Dass Österreich und Deutschland in derselben Spalte der Länder ohne sozialistische Vergangenheit aufgeführt sind, sollte nicht dazu verleiten, einen wesentlichen Unterschied zwischen dem österreichischen Verfassungsgerichtshof einerseits und dem deutschen Bundesverfassungsgericht (sowie den Verfassungsgerichten in Polen, Tschechien und Ungarn) andererseits zu übersehen. Die deutsche (polnische, tschechische, ungarische) Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein Produkt des Zusammenbruchs einer vorangegangenen Diktatur, während sich die österreichische (ebenso wie die tschechoslowakische und die liechtensteinische, dazu Fn. 20) Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Umbruchszeit nach einer politischen Neuordnung, aber eben nicht vor dem Hintergrund einer vorangegangenen Diktatur herausbildete. Zur Bedeutung der Zeitumstände für die Entstehung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit s. Grabenwarter, § 102 Der österreichische Verfassungsgerichtshof, Ius Publicum Europaeum, Bd. 6: Verfassungsgerichtgsbarkeit in Europa: Institutionen (Fn. 2), 413 ff., Rn. 2 , 4 ff. 16 Art. 92 österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG). 17 Gesetz betreffend die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes vom 22.10.1875. 18 Art. 130–136 B-VG. 15
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und unter dem Verwaltungsgerichtshof insgesamt 11 erstinstanzliche Verwaltungsgerichte schuf.19 Obwohl das 1867 geschaffene Reichsgericht einige Aufgaben versah, die heute als verfassungsgerichtlich angesehen werden würden, wurde 1920 auf der Grundlage der theoretischen Arbeiten von Hans Kelsen ein institutionell eigenständiger Verfassungsgerichtshof errichtet. Er gilt gemeinhin als das erste kontinentaleuropäische konzentrierte Verfassungsgericht.20 Der Verfassungsgerichtshof als einer der charakteristischen Züge der österreichischen Bundesverfassung erfährt dort eine eher technisch-formale Regelung. Dem Stil des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes entsprechend findet sich etwa keine Art. 83 der tschechischen Verfassung (1993) oder Art. 24 Abs. 1 des ungarischen Grundgesetzes (2011) vergleichbare Regelung, die den Verfassungsgerichtshof explizit als gerichtliches Organ des Verfassungsschutzes oder als obersten Hüter der Verfassung ausweisen würde. Das Bundes-Verfassungsgesetz regelt vielmehr detailliert die einzelnen Kompetenzen, was damit einhergeht, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich zahlreiche und ihrer Art nach durchaus verschiedene Zuständigkeiten wahrnimmt. Die wichtigste Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs ist freilich schon traditionell die Normenkontrolle,21 und dementsprechend weist Art. 140 Bundes-Verfassungsgesetz dem Verfassungsgerichtshof das Monopol für die Verwerfung des einfachen (Bundes- und Landes-)Rechts zu.22 Im Gegensatz zu Deutschland bestehen in den österreichischen Bundesländern keine Landesverfassungsgerichte, die im Hinblick auf Landesrecht eine parallele Normenkontrolle ausüben könnten, sodass das Verwerfungsmonopol des österreichischen Verfassungsgerichtshofs tatsächlich umfassend ist.23 Weitere Zuständigkeiten umfassen vermögensrechtliche Ansprüche gegen den Staat, Kompetenzkonflikte, die Wahlgerichtsbarkeit und die auf die Feststellung der verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit gerichtete Staatsgerichtsbarkeit.24 Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte können gemäß Art. 144 Bundes-Verfassungs19 Bundesgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz, das Finanz-Verfassungsgesetz 1948, das Finanzstrafgesetz, das Bundesgesetz, mit dem das Invalideneinstellungsgesetz 1969 geändert wird, das Bundessozialamtsgesetz, das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000, das Bundesgesetzblattgesetz, das Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 und das Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 geändert und einige Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Bundesgesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen aufgehoben werden (Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle) vom 5.6.2012. 20 Bezemek, A Kelsenian Model of Constitutional Adjudication. The Austrian Constitutional Court, ZÖR 2012, 115. Obwohl die Errichtung des tschechoslowakischen Verfassungsgerichts zeitlich früher erfolgte, war die verfassungsschützende Rolle des Brünner Verfassungsgerichts deutlich schwächer als die seiner österreichischen Schwesterinstitution: Osterkamp, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920–1939), 2009. Das 1921 errichtete liechtensteinische Verfassungsgericht hingegen orientierte sich an der Kelsen‘schen Konzeption des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, ging aber in seinem Kompetenzzuschnitt noch deutlich über sein österreichisches Vorbild hinaus, denn es war für die Normenkontrolle und den Grundrechtsschutz zuständig: Art. 104 Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921. 21 Gamper, Der Grundrechtsschutz durch den Verfassungsgerichtshof, in: Pabel/Raschauer (Hrsg.), Die Organisation des Grundrechtsschutzes, 2014, 1 ff. 22 Vasek, Die Gesetzesprüfungskompetenz des VfGH und ihr rechtlicher Schutz, JBl. 2015, 213. 23 Eine Folge dieses echten Monopols ist, dass der Verfassungsgerichtshof nicht nur aufgrund der Bundesverfassung, sondern auch aufgrund der Landesverfassungen judiziert: VfSlg. 12.472/1990. Insgesamt ist seine Verfassungsrechtsprechung zu den Landesverfassungen jedoch randständig. 24 Art. 137–142 B-VG.
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gesetz wegen der Verfassungswidrigkeit einer im Einzelfall angewandten generellen Rechtsvorschrift sowie wegen einer Verletzung in Grundrechten (auch aufgrund verfassungswidriger Anwendung der relevanten Norm durch das Verwaltungsgericht) eingelegt werden. Hierbei besteht in Österreich ein paralleler Rechtsweg: Der Betroffene kann sich wegen einer vermeintlichen Verfassungsverletzung durch ein Verwaltungsgericht an den Verfassungsgerichtshof wenden, während wegen behaupteter Verletzungen des einfachen Rechts durch dieselbe verwaltungsgerichtliche Entscheidung der Verwaltungsgerichtshof angerufen werden kann. Der Rechtszug in Zivil- und Strafrechtssachen geht in höchster Instanz an den Obersten Gerichtshof; liegt ein Urteil eines ordentlichen Gerichts in erster Instanz vor, kann seit einer Novelle aus dem Jahr 2013 gemäß Art. 139 Abs. 1 Z. 4 und Art. 140 Abs. 1 Z. 1 Buchst. d) Bundes-Verfassungsgesetz allerdings durch den Antrag einer Partei des gerichtlichen Verfahrens der Verfassungsgerichtshof wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm angerufen werden (sogenannter „Parteiantrag auf Normenkontrolle“). Dieser jüngst ergänzte Kontrollmechanismus konnte sich, wie die Empirie zeigt, zwischenzeitlich in der Praxis nachhaltig etablieren. Eine dem österreichischen Recht zumindest punktuell vergleichbare Lösung findet sich seit 1997 in Polen und fand sich in Ungarn zwischen der Wende 1989/90 und dem Erlass des neuen Grundgesetzes 2011/12. Die polnische und die frühere ungarische Verfassungsbeschwerde richten sich indes nur gegen die Rechtsvorschrift, die in einem Verfahren angewandt worden ist, nicht aber gegen die Verfassungswidrigkeit ihrer (richterlichen) Anwendung.25 Anders als in vielen anderen Staaten ist es daher für das österreichische Modell typisch, dass die drei Höchstgerichte im Wesentlichen in einem horizontalen, also formal gleichrangigen Verhältnis zueinander stehen. Jedes Höchstgericht hat seine eigenen Kompetenzen, und man kann durchaus von einem Verhältnis des Gleichgewichts zwischen ihnen sprechen. Die praktische Konsequenz dieses Arrangements ist, dass jeder Rechtsweg bei einem dieser drei Höchstgerichte endet und es keine Möglichkeit gibt, sich gegen ein Urteil des Obersten Gerichtshofs oder des Verwaltungsgerichtshofs noch mit einer weiteren Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof zu wenden.
Polen Vom österreichischen Modell weicht die polnische Lösung in einigen Punkten ab, weist aber auch strukturelle Ähnlichkeiten auf. 1917, im Zuge der Wiedergeburt des polnischen Staates, wurde auch dessen Oberstes Gericht errichtet. Ein Oberstes Verwaltungsgericht, das nach dem seinerzeitigen österreichischen Vorbild die erste und einzige Instanz war, versah die Verwaltungsgerichtsbarkeit.26 Vorschläge zur Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs Mitte der 1920er Jahre konnten sich nicht Zu dieser „unechten Verfassungsbeschwerde“ s.u. Punkt II.2.a). In den zuvor deutschen Gebieten blieben allerdings die vorhandenen preußischen Verwaltungstribunale als untere Instanz zunächst weiter bestehen: Kuss, Gerichtliche Verwaltungskontrolle in Osteuropa, 1990, 79 f. 25
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durchsetzen.27 Nach der kommunistischen Machtübernahme wurde in Polen ebenso wie in den anderen sozialistischen Ländern die Verwaltungsgerichtsbarkeit abgeschafft. Es blieb das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy) als höchstes Organ der Justiz. Ihm kam eine unbestrittene Führungsrolle zu, an der zunächst auch die Errichtung des Hauptverwaltungsgerichts (Naczelny Sąd Administracyjny) 1980 nichts Wesentliches zu ändern vermochte. Trotz der Existenz dieses zweiten Obergerichts verblieb das Oberste Gericht im Zentrum der Judikative. 1982 wurden nach der Ausrufung des Kriegsrechts in der Verfassung die Grundlagen für eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit gelegt, und 1986 nahm das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) seine Arbeit auf,28 obwohl der Präsident des Obersten Gerichts eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hatte. Ihm wäre die Einrichtung einer weiteren Kammer am Obersten Gericht, die für Normenkontrolle zuständig sein sollte (Verfassungskammer), lieber gewesen.29 Da er sich damit nicht hatte durchsetzen können, hielt das Oberste Gericht zunächst kritische Distanz zu dem neuen Verfassungsgericht. Dementsprechend selten machte es von seinem Recht Gebrauch, dem Verfassungsgericht die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der im konkreten Fall anzuwendenden Rechtsvorschrift vorzulegen; auch das Hauptverwaltungsgericht war in den ersten Jahren zögerlich mit Richtervorlagen. Die Richtervorlage und die polnische Variante der Verfassungsbeschwerde zielten beide in dieselbe Richtung: die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der im Einzelfall Anwendung findenden Rechtsvorschrift,30 nicht aber die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit ihrer richterlichen Anwendung. Insofern folgt Polen in gewisser Weise dem früheren österreichischen Modell, so wie es auch der ungarische Gesetzgeber zwischen 1989/90 und 2011/12 tat. An diesem Grundarrangement änderte die postsozialistische polnische Verfassung von 1997 nicht viel. Die gesamte Justiz ist in Kapitel VIII („Gerichte und Gerichtshöfe“) geregelt. Nach einigen wenigen für alle geltenden Vorschriften untergliedert sich dieses Kapitel in die Unterkapitel „Gerichte“, „Verfassungsgericht“ und „Staatsgerichtshof “. Die Fachgerichtsbarkeiten untergliedern sich in die ordentlichen Gerichte mit dem Obersten Gericht an der Spitze und die Verwaltungsgerichtsbarkeit Banaszak/Milej, Polnisches Staatsrecht. Polskie prawo konstytucyjne, 2009, 177. Dieses erste Verfassungsgericht im sowjetischen Machtbereich wurde im westlichen Schrifttum ausführlich begleitet: Banaszak, Der Verfassungsgerichtshof in Polen, Recht in Ost und West, 1990, 158 ff.; Brunner/Garlicki (Fn. 9), 64 f.; Działocha, Der Verfassungsgerichtshof der Volksrepublik Polen, Osteuropa-Recht 1986, 13 ff.; Garlicki, Das polnische Gesetz über den Verfassungsgerichtgshof vom 20. April 1985, Der Staat 1987, 279 ff.; Garlicki, Vier Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, JöR 1990, 285 ff.; Machazek/Czeszejko-Sochacki, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Volksrepublik Polen, EuGRZ 1989, 269 ff.; Wyrzykowski, Der Verfassungsgerichtshof der VRP, AöR 1987, 93 ff. 29 Eine derartige Verfassungskammer am Obersten Gericht hat im postsozialistischen Raum einzig Estland verwirklicht, allerdings nicht, um die sozialistische Dominanz des Obersten Gerichts über die Judikative unangetastet zu lassen, sondern aus Kapazitätsgründen in dem kleinen Land sowie wegen seiner grundlegenden Orientierung an skandinavischen Beispielen; hierzu Brunner (Fn. 8), ZaöRV 1993, 834. 30 Sozialistisches Gedankengut spiegelt die Regelung wider, dass das polnische Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Norm zwar feststellen konnte; deren Auf hebung blieb hingegen dem Parlament vorbehalten, das in seiner politischen Entscheidung nicht an das Urteil des Verfassungsgerichts gebunden war. Dieser Rechtszustand endete erst mit dem Erlass der neuen Verfassung 1997: Brunner/Garlicki (Fn. 9), 41 ff. 27
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mit dem Hauptverwaltungsgericht an der Spitze. Das Verfassungsgericht und der hier nicht weiter behandelte Staatsgerichtshof bilden eininstanzliche Gerichtszüge. Den Schwerpunkt der verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten bilden die Normenkontrolle u.a. auf Antrag eines Vorlagegerichts, die Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsvorschriften und Kompetenzstreitigkeiten.31 Systematisch lässt sich aus der Verfassung eine Nebenordnung von Oberstem Gericht und Hauptverwaltungsgericht ableiten, während das genaue Verhältnis des Verfassungsgerichts zu den Spitzen der Fachgerichtsbarkeiten vom Verfassungstext offen gelassen wird. Die besseren Gründe der Verfassungsauslegung sprechen aber auch in Bezug auf das Verfassungsgericht für eine Nebenordnung.32
b) Deutschland, Tschechien und Ungarn Im Gegensatz zu Österreich und Polen kann in Deutschland, in Tschechien und seit dem Erlass des neuen Grundgesetzes auch in Ungarn nach der Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs im Wege einer Verfassungsbeschwerde das Verfassungsgericht angerufen werden, was diesem die Kompetenz verleiht, ggf. letztinstanzliche Urteile der Fachgerichtsbarkeit(en) aufzuheben. Allerdings steht dieser Rechtsbehelf nur dann zur Verfügung, wenn im Übrigen alle zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Erst danach besteht die Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen Auf hebung des obergerichtlichen Urteils. Das Verhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und dem (den) Obergericht(en) kann daher anders als in Österreich und Polen nicht als Nebenordnung oder Gleichordnung aufgefasst werden, sondern trägt quasi-hierarchische Züge. Allerdings ist das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichten und Obergerichten nirgendwo vollständig hierarchisch, und man muss sich davor hüten, es vereinfachend so aufzufassen. Wenn hier von Über-/Unterordnung oder quasi-hierarchisch die Rede ist, ist damit nicht gemeint, dass zwischen Obergericht(en) und Verfassungsgericht ein regulärer Instanzenzug bestünde oder sich beide Gerichte in eine einheitliche Justizpyramide auf unterschiedlichen Ebenen einordnen ließen, sondern es soll zum Ausdruck bringen, dass das Verfassungsgericht befugt ist, in bestimmten Konstellationen Entscheidungen der Obergerichte aufzuheben.33 Umgekehrt ist dies nirgendwo möglich: Kein Obergericht der hier untersuchten Länder hat die Rechtsmacht, verfassungsgerichtliche Entscheidungen zu kassieren. Der Vergleich mit der Neben- oder Gleichordnung wie in Österreich oder Polen ist nicht nur ausgesprochen interessant, sondern auch methodisch nützlich, weil er es ermöglicht zu klären, ob die Konflikte und Kooperationsformen, die sich im deutschen und im tschechischen Recht zeigen und in Ungarn dabei sind sich herauszubilden, durch das quasi-hierarchische Verhältnis erklärbar sind, oder aber ob ähnliche Art. 188 i.V.m. Art. 79 Abs. 1, Art. 189, Art. 193 polnische Verfassung. So auch das polnische Schrifttum; hierzu s. Banaszak, Einführung in das polnische Verfassungsrecht, 2003, 259 f. 33 Zu der diesbezüglichen deutschen Diskussion s. Kunig, Verfassungsgericht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 34; Walter, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 84. EL August 2018, Art. 93, Rn. 148 f. 31
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Konflikte und Kooperationsformen auch dann entstehen, wenn es an einem quasihierarchischen Verhältnis fehlt, wie dies in Österreich und Polen der Fall ist.
Deutschland Die Strukturen in der Justiz gehen im Wesentlichen auf die Reichsgründung 1870/71 zurück. In ihrer Folge wurde die ordentliche Justiz mit vier Instanzen und dem Reichsgericht – seit 1949: dem Bundesgerichtshof – an der Spitze geschaffen. Im Laufe der Zeit kamen weitere Fachgerichtsbarkeiten hinzu, z.B. für Verwaltungs sachen, Arbeitssachen etc. Die Justiz hat daher heute in Deutschland fünf Säulen mit je zwei bis vier Ebenen: ordentliche Gerichtsbarkeit (Bundesgerichtshof, Zivil- und Strafsachen), Verwaltungsgerichtsbarkeit (Bundesverwaltungsgericht, Verwaltungssachen), Arbeitsgerichtsbarkeit (Bundesarbeitsgericht, Arbeitssachen), Sozialgerichtsbarkeit (Bundessozialgericht, Sozialsachen) und Finanzgerichtsbarkeit (Bundesfinanzhof, Steuersachen).34 Diese fünf Säulen weisen alle dieselbe Struktur auf: An der Spitze jeder Säule steht ein Obergericht, das vom Bund getragen wird,35 während die nachgeordneten Gerichte stets in der Hand der Länder liegen, wie aus Art. 92 Grundgesetz hervorgeht. Diese obersten Gerichte des Bundes sind alle gleichrangig, zur Koordinierung ihrer Rechtsprechung können sie gemeinsame Senate einrichten. Diese gemeinsamen Senate wurden für so wichtig gehalten, dass sie auf Verfassungsebene geregelt wurden.36 Zu diesen obersten Bundesgerichten trat 1950 das Bundesverfassungsgericht. Dieses ist zwar textlich-systematisch ohne weitere Sonderstellung in das Kapitel IX „Die Rechtsprechung“ des Grundgesetzes integriert,37 steht aber institutionell vollkommen außerhalb dieser fachgerichtlichen Säulen. Es ist auch ein Bundesgericht, hat aber anders als die übrigen obersten Bundesgerichte keinen Unterbau von Landesgerichten, weil die Landesverfassungsgerichte nicht dem Bundesverfassungsgericht unter- oder nachgeordnet sind und keinen Rechtszug zum Bundesverfassungsgericht bilden. Eine Besonderheit des deutschen Bundesverfassungsgerichts – im Gegensatz zu Österreich, das im Übrigen in vielem als Vorbild gedient hat 38 – ist die Urteilsverfas Art. 95 Abs. 1 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland i.d.F. vom 18.6.1968. Darauf weisen bereits die offiziellen Bezeichnungen dieser Gerichte hin, die mit „Bundes-“ beginnen. 36 Art. 95 Abs. 3 Grundgesetz i.d.F. vom 18.6.1968. 37 Kapitel IX. „Die Rechtsprechung“ umfasst Art. 92–104 Grundgesetz und weist keine weiteren Untergliederungen auf. Art. 92 behandelt das Bund-Länder-Verhältnis in der Justiz, Art. 93–94 sind dem Bundesverfassungsgericht gewidmet, Art. 95–96 regeln die Gerichte, die der Bund errichten muss oder kann; es folgen Vorschriften über die Rechtsstellung der Richter in Art. 97–98 GG, über die Inanspruchnahme von Bundesgerichten durch die Länder in Art. 99 GG, über unterschiedliche Vorlageverfahren verschiedener Gerichte an das Bundesverfassungsgericht in Art. 100 GG, über das Verbot von Ausnahmegerichten und die Grundrechte im Justizbereich in Art. 101–104 GG. Zur zeitgenössischen Einschätzung der Position des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zu den übrigen obersten Bundesgerichten s. Thoma, Rechtsgutachten betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, JöR n.F. 6 (1957), 161, und Geiger, Ergänzende Bemerkungen zum Bericht des Berichterstatters zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, JÖR n.F. 6 (1957), 137. 38 Zur Vorbildwirkung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs s. statt vieler nur Farahat, § 97 34 35
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sungsbeschwerde, die 1951 eingeführt wurde.39 Das Bundesverfassungsgericht kann überprüfen, ob die Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte, insbesondere durch die obersten Bundesgerichte, mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Dies verbessert den Rechtsschutz für den Bürger, denn dieser kann jetzt auch die richterliche Rechtsanwendung auf die Einhaltung der Grundrechte hin überprüfen lassen. Die Herausbildung dieses prozessrechtlichen Instrumentariums ging Hand in Hand mit der materiell-rechtlichen Konstitutionalisierung des einfachen Rechts, die ebenfalls nach 1949 in vollem Umfang einsetzte. Zugleich eröffnet die Urteilsverfassungsbeschwerde Konfliktherde zwischen Verfassungs- und ordentlicher Gerichtsbarkeit, die v.a. durch die vorsichtige Handhabung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen (Selbstbeschränkung auf Verfassungsfragen) und durch die Gewöhnung an die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts auf Dauer entschärft, aber nicht vollständig befriedet wurden.
Tschechien Die Wurzeln der Gerichtsorganisation und des Prozessrechts in Tschechien reichen bis in die Zeit der Habsburger Monarchie zurück. Auf deren Erbe können die Errichtung des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts zurückgeführt werden: Nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei übernahm diese die entsprechenden Regelungen aus dem österreichischen Recht und erließ sie im Rahmen der sog. „Nostrifizierung“ als eigene. Ergänzt wurde diese Gerichtsstruktur durch die Einführung eines institutionalisierten Verfassungsgerichts. Diese für die kontinentalen Rechtsordnungen typische zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit wurde damit streng genommen formal zuerst in der Tschechoslowakei verwirklicht, bevor sie einige Monate später Österreich und anschließend Liechtenstein einführten. Das 1920 errichtete Verfassungsgericht40 war ausschließlich für die abstrakte Normenkontrolle zuständig. Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 ging diese Zuständigkeit auf den Präsidenten der Nationalversammlung über, der sie aber in der Praxis nicht ausübte; 1960 wurde das Parlament selbst zuständig, die Verfassungsmäßigkeit seiner eigenen Akte zu überprüfen, womit diese Befugnis in der Praxis erlosch. Im Zuge des Prager Frühlings sah das Verfassungsgesetz von 1968 ebenfalls die Errichtung eines Verfassungsgerichts vor, allerdings war hiervon nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes und der sog. „Normalisierung“ nicht mehr die Rede. Während und nach der „samtenen Revolution“ von 1989 kam die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit erneut auf die Tagesordnung. Einerseits bedeutete dies die Wiederbelebung der durch die kommunistische Machtübernahme abgeDas Bundesverfassungsgericht, Ius Publicum Europaeum, Bd. 6: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Institutionen (Fn. 2), 81 ff., Rn. 5.; Grabenwarter (Fn. 15), Rn. 1. 39 1951 wurde das Bundesverfassungsgerichtsgesetz erlassen, das Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsvorschriften ebenso wie gegen letztinstanzliche Einzelakte der Justiz und der Verwaltung vorsieht. 1969 wurde die Verfassungsbeschwerde dann auch im Grundgesetz verankert. 40 Die Errichtung des Verfassungsgerichts ordnete im Grundsatz das Verfassungsgesetz Nr. 121/1920 Sb. an; tatsächlich erfolgte sie dann durch das Verfassungsgerichtsgesetz Nr. 162/1920 Sb. Näher dazu Osterkamp (Fn. 20).
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schafften Verfassungsgerichtsbarkeit, andererseits wurde die Gründung eines Gerichts mit wesentlich weiteren Zuständigkeiten, das nach deutschem Vorbild auch für den Grundrechtsschutz zuständig sein sollte, gefordert. In der aktuellen tschechischen Verfassung vom 16.12.1992 besteht der Vierte Teil über die Justiz (Art. 81–96) aus zwei Kapiteln, von denen das eine das Verfassungsgericht (Art. 83–89) und das andere die Gerichte (Art. 90–96) behandelt. Vorangestellt sind die Regeln, die für beide Teile gelten, insbesondere in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit (Art. 81–82). Diese Anordnung erlaubt die systematische Schlussfolgerung, dass das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Justiz nicht einfach als Hierarchie gedeutet werden kann.41 Zwar definiert Art. 83 der tschechischen Verfassung das Verfassungsgericht als gerichtliches Organ des Schutzes der Verfassung, aber es ist nicht das ausschließliche Organ des Grundrechtsschutzes, weil die Grundrechte laut Art. 4 tschechische Verfassung unter dem Schutz der Gerichte stehen, worunter auch die ordentlichen und die Verwaltungsgerichte zu verstehen sind. Im tschechischen Recht bestehen zwei Rechtswege und dementsprechend zwei Obergerichte. Zum einen gibt es die ordentlichen Gerichte im engeren Sinne, die für bürgerliche und Strafsachen zuständig sind und im Obersten Gericht (Nejvyšší soud) ihre höchste Instanz haben. Zum anderen existiert eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, an deren Spitze das Oberste Verwaltungsgericht (Nejvyšší správní soud) steht. Art. 87 der tschechischen Verfassung weist dem Verfassungsgericht (Ústavní soud) zahlreiche Kompetenzen zu, z.B. die alleinige Befugnis, Rechtsvorschriften aufzuheben, die klassische Staatsgerichtsbarkeit wie Entscheidungen über Wahlen, über ein Impeachment gegen das Staatsoberhaupt oder über Streitigkeiten zwischen Staat und Selbstverwaltungen und schließlich die präventive Verfassungskontrolle völkerrechtlicher Verträge vor deren Ratifizierung. Aus hiesiger Sicht von Bedeutung sind die Zuständigkeiten für Verfassungsbeschwerden gemäß Art. 87 Abs. 1 Buchst. d) tschechische Verfassung und für Vorlagen der ordentlichen und der Verwaltungsgerichte mit dem Ziel, die Verfassungsmäßigkeit von ihnen anzuwendenden Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen, gemäß Art. 95 Abs. 2 tschechische Verfassung. Zugleich sind die ordentlichen und die Verwaltungsgerichte berechtigt, von der Anwendung untergesetzlicher Rechtsvorschriften, die sie für rechts-, d.h. verfassungsoder gesetzwidrig halten, abzusehen, woraus sich keine Außerkraftsetzung erga omnes ergibt, sondern nur eine Nichtanwendung inter partes. Das Verfassungsgericht spielt mithin eine wichtige Rolle in der Gewährleistung der Verfassungsmäßigkeit, aber diese Rolle ist keineswegs ausschließlich, denn es übt sie in zahlreichen Fällen in Zusammenarbeit mit den Gerichten aus.
Ungarn Die Grundlagen der modernen ungarischen Justiz wurden nach dem Ausgleich mit Österreich 1867 gelegt, als die zahlreichen Gerichte in der Trägerschaft feudaler Rechtssubjekte in eine einheitliche staatliche Gerichtshierarchie mit der Kurie (Kúria) an der Spitze überführt wurden. 1883 wurde der Finanzgerichtshof gegründet, 41
So auch Musil, in: Wabnitz/Holländer (Hrsg.), Einführung in das tschechische Recht, 2009, 7.
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der 1896 in dem neu gegründeten Verwaltungsgericht aufging, welches mit der Kurie gleichrangig war, im Gegensatz zu dieser aber keinen Unterbau hatte, denn wie im seinerzeitigen Österreich war auch in Ungarn die Verwaltungsgerichtsbarkeit einstufig. Im Bereich des Rechtsschutzes der Kommunen gegen staatliche Maßnahmen versah das Verwaltungsgericht einzelne Aufgaben, die aus heutiger Sicht als verfassungsgerichtlich qualifiziert werden können. Ein Verfassungsgericht kannte das vorsozialistische Ungarn nicht, und das Verwaltungsgericht wurde mit der Machtübernahme der Sozialisten 1949 abgeschafft. Die im Zuge der spätsozialistischen Reformen 1983 geschaffene „Verfassungsgerichtsbarkeit light“ in Gestalt des Verfassungsrechtsrates (Alkotmányjogi Tanács) war von vornherein zum Scheitern verurteilt und hat auch keine praktische Bedeutung erlangt.42 Im Zug der Wende einigten sich Regierung und Opposition am Runden Tisch auf die Einrichtung eines echten, verselbstständigten Verfassungsgerichts (Alkotmánybíróság), das am 1.1.1990 seine Arbeit aufnahm. Der Schwerpunkt seines Aufgabenzuschnitts lag in der Normenkontrolle, die als einzige Kompetenz in der damaligen Verfassung ausdrücklich genannt wurde. Auch die Verfassungsbeschwerde konnte sich nur gegen Rechtsvorschriften richten und erlangte angesichts der parallel bestehenden Popularklage gegen Rechtsnormen keine eigenständige Bedeutung. Ungarn ist das einzige hier untersuchte Land, das die Kategorie gewechselt hat. Bis 2011 standen Verfassungsgericht und Oberstes Gericht (Legfelsőbb Bíróság) unverbunden nebeneinander,43 denn ein Urteil der ordentlichen Justiz einschließlich des Obersten Gerichts konnte nicht vor das Verfassungsgericht gebracht werden. Verfassungsrechtsschutz war ausschließlich gegen die im konkreten Fall angewendete Rechtsnorm gegeben, nicht aber gegen deren richterliche Anwendung im Einzelfall. Sowohl das befasste Gericht während des Verfahrens als auch der betroffene Bürger nach dem Urteil konnten das Verfassungsgericht mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der angewandten Rechtsvorschrift befassen. Insofern ähnelte die Rechtslage in Ungarn von 1989/90 bis 2011 der in Österreich und Polen. Die „unechte Verfassungsbeschwerde“, d.h. die alleine gegen Rechtsvorschriften mögliche Verfassungsbeschwerde, ist 1989 wohl unmittelbar vom österreichischen Vorbild in das ungarische Recht übernommen worden. 2012 trat die neue Verfassung, das sog. Grundgesetz (Alaptörvény), in Kraft, das auch das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Justiz neu ordnete. Art. 24 Abs. 2 Buchst. c) des ungarischen Grundgesetzes ermöglicht weiterhin Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsvorschriften, während die Neuerung des Art. 24 Abs. 2 Buchst. d) die Verfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Gerichtsurteile einführte. Rechtssatz- und Urteilsverfassungsbeschwerde können zudem kombiniert werden, was in der Praxis häufig vorkommt. In den groben Linien und ungeachtet der Abweichungen im Detail kann man sagen, dass das ungarische Verfassungsprozessrecht und ihm folgend das institutionelle Arrangement zwischen Verfassungsge-
Sólyom (Fn. 8), 239. Das spiegelte sich auch im Verfassungstext wider, denn Verfassungsgerichtsbarkeit und ordentliche Justiz bildeten zwei separate Kapitel in der Verfassung, die zudem noch in einigem textlichen Abstand voneinander geregelt waren. 42 43
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richt und Oberstem Gericht vom österreichischen Modell auf das deutsche Modell umgeschwenkt ist. Dieser Wechsel wurde von der ungarischen Verfassungsrechtswissenschaft schon seit den 1990er Jahren gefordert, und auch das Verfassungsgericht bemängelte stets, dass es zwar die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften prüfen konnte, nicht aber die Verfassungsmäßigkeit ihrer Anwendung. Welche Gründe den Verfassunggeber schließlich bewogen, die Urteilsverfassungsbeschwerde einzuführen und damit dem Verfassungsgericht partiell eine Überordnung über das Oberste Gericht, das seit 2012 wieder die traditionelle Bezeichnung Kurie (Kúria) trägt, einzuräumen, ist unmöglich zu beurteilen. Der gesamte Kodifikationsprozess des Grundgesetzes fand in einem engen hermetischen Kreis um den Ministerpräsidenten statt, und ein fertiger Entwurf wurde der politischen, Fach- und sonstigen Öffentlichkeit erst sehr spät präsentiert; zudem peitschte die Regierung ihren Entwurf in nur acht Sitzungen – davon zwei im Plenum – durch das Parlament, um eine Verabschiedung zum symbolträchtigen Ostertag zu gewährleisten.44 Kritiker argwöhnen, dass die Motive für die Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde nicht nur bürgerfreundlicher Natur waren. Mit der bis 2011/12 vorherrschenden Konzentration der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen auf die Normenkontrolle waren regelmäßig Akte der politischen Staatsgewalten, d.h. des Parlaments und der Regierung, Gegenstand verfassungsgerichtlicher Befassung gewesen; indem zum einen die Kompetenzen in der Normenkontrolle spürbar zurückgefahren wurden45 und zum anderen mit der Urteilsverfassungsbeschwerde der Verfassungsgerichtsbarkeit eine neue „Front“ gegenüber der Justiz eröffnet wurde, soll – so die nachvollziehbare Argumentation der Kritiker – das Verfassungsgericht sich weniger mit der Kontrolle der politischen Verfassungsorgane befassen und sich dafür in Konflikten mit der Justiz verlieren.46 Eine weitere ungarische Besonderheit ist, dass auf beiden Seiten des institutionellen Arrangements jeweils nur ein Gericht steht: auf der einen Seite das Verfassungsgericht, auf der anderen Seite die Kurie. Die Kurie ist bislang die unangefochtene Spitze der ungarischen Einheitsgerichtsbarkeit, sie ist für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung verantwortlich und verfügt zu diesem Zweck über quasinormative Lenkungsmittel gegenüber der Rechtsprechung der nachgeordneten Gerichte.47 Damit unterscheidet sich die ungarische Gerichtsstruktur von der der anderen hier behandelten Staaten, wo dem Verfassungsgericht regelmäßig mehr als ein Obergericht – meist ein oberstes Gericht und ein oberstes Verwaltungsgericht, in Deutschland sogar fünf oberste Bundesgerichte – gegenübersteht. Ein Vergleich bietet sich bestenfalls mit den frühen Jahren der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit an, als auf Seiten der 44 Zu diesem intransparenten Verfassungsgebungsprozess s. Küpper, Ungarns Verfassung vom 25. April 2011. Einführung – Übersetzung – Materialien, Studien des Instituts für Ostrechts Bd. 70, 2012, 32 ff.; Vincze, Die neue Verfassung Ungarns, ZSE 2012, 110 (115 f.). 45 An die Stelle der Popularklage bei der abstrakten Normenkontrolle trat ein enger Kreis der Antragsberechtigten, und über Finanz-, Steuer- und ähnliche Gesetze ist bis auf weiteres jede Art verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle ausgeschlossen: Art. 24 Abs. 2 Buchst. c), e), Art. 37 Abs. 4 ungarisches Grundgesetz. Hierzu s. Vincze (Fn. 4 4). 46 Verfassungsgerichtspräsident a.D. Sólyom (Fn. 8), Rn. 45, spricht von einer beabsichtigten „Entpolitisierung“ des Verfassungsgerichts. 47 Art. 25 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 ungarisches Grundgesetz. Näher zu diesen sog. Rechtseinheitlichkeitsentscheidungen Küpper, Einführung in das ungarische Recht, 2011, 10.
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Justiz die Stellung des Obersten Gerichts noch übermächtig war und das neue, noch um seinen Platz ringende Hauptverwaltungsgericht an den Rand drückte. Allerdings sind die Tage der Dominanz der Kurie über die Justiz gezählt. Die Grundgesetzänderung vom 28.6.2018 sieht die Ausgliederung der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus der ordentlichen Justiz und ihre Verselbstständigung zu einem eigenen Gerichtszweig neben den ordentlichen Gerichten vor. Gemäß Art. 25 Abs. 1–3 ungarisches Grundgesetz i.d.F. ab dem 29.6.2018 werden selbstständige Verwaltungsgerichte errichtet, an deren Spitze ein Verwaltungsobergericht (Közigazgatási Felsőbíróság) stehen wird. Noch steht die Ausführungsgesetzgebung, d.h. das Gesetz über die Verwaltungsgerichte vom 20.12.2018, nur auf dem Papier. Wenn aber die genannten Verfassungsvorschriften einmal umgesetzt sein werden, dann wird auch die ungarische Justiz eine Doppelspitze aus formal gleichrangigem obersten Gericht (Kurie) und Verwaltungsobergericht haben. Damit würde Ungarn teilweise zu dem Rechtszustand zurückkehren, der zwischen 1896 und 1948 gegolten hat: die Nebenordnung von Kurie und Verwaltungsgericht, allerdings mit dem Unterschied zu heute, dass das damalige königliche ungarische Verwaltungsgericht gleich seiner österreichischen Schwester zu jener Zeit eine eininstanzliche Gerichtsbarkeit bildete.48 Von beiden Gerichtszweigen wird der Weg zum Verfassungsgericht im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde möglich sein, denn diese 2011/12 geschaffene verfassungsgerichtliche Prozessart wird von der Aufgliederung der bisherigen Einheitsjustiz in zwei Zweige nicht berührt. Auch in Ungarn sind der Schutz der Verfassung und insbesondere der Schutz der Grundrechte kein Monopol des Verfassungsgerichts. Bereits die alte Verfassung überantwortete in § 70/K den Schutz der Grundrechte ausdrücklich (auch) den ordentlichen Gerichten, auch wenn diese das Potenzial dieser Vorschrift – etwa im Gegensatz zu den tschechischen Gerichten – nie voll ausschöpften. Heute definiert das neue Grundgesetz in Art. 24 Abs. 1 das Verfassungsgericht als „oberstes“, aber eben nicht als einziges Organ des Schutzes der Verfassung. Die Verfassung ist gemäß Art. R) Abs. 1–2 ungarisches Grundgesetz die Grundlage der Rechtsordnung und für alle verbindlich, und Art. 28 ungarisches Grundgesetz schreibt den Gerichten die Auslegung des einfachen Rechts u.a. in Übereinstimmung mit der Verfassung vor. Wenn die Gerichte im Zuge ihrer Rechtsanwendungstätigkeit eine Verfassungswidrigkeit in einer Rechtsvorschrift, d.h. einem Gesetz oder einer niederrangigeren Norm, wahrnehmen, legen sie gemäß Art. 24 Abs. 2 Buchst. b) ungarisches Grundgesetz die Frage dem Verfassungsgericht vor, das das Verwerfungsmonopol für Rechtsvorschriften hat. Ohne die „Wahrnehmung“, d.h. die Prüfung der befassten einfachen Gerichte, läuft diese Funktion des Verfassungsgerichts leer; in dieser konkreten Normenkontrolle wird das Kooperationsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Justiz bei der Wahrung der Verfassung und der Grundrechte besonders deutlich.49 In Ungarn – sowie neuerdings in Polen – ist das Verfahren zur Bestellung der Verfassungsrichter deutlich politisiert. Unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt 2010 Näher zur Historie und Gegenwart der ungarischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Küpper, § 138 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Ungarn, in: von Bogdandy/Huber/Marcusson (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 8: Staatliche Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2019, 717. 49 Näher dazu unten Punkt II.5. 48
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schaffte die nationalpopulistische Fidesz-Regierung, die bis heute im Amt ist, die zwingende Beteiligung der Opposition an der Wahl der Verfassungsgerichtskandidaten ab, und alle seitdem ernannten Verfassungsrichterinnen und -richter sind Parteigänger der Fidesz – teils bekannte Verfassungsjuristen, in der Mehrheit aber Abgeordnete ohne Karenzzeit frisch aus dem Parlament50 und unbekannte Richterinnen und Richter ohne verfassungsrechtliche oder überhaupt wissenschaftliche Meriten. Deren Abstimmungsverhalten im Verfassungsgericht orientiert sich messbar an den Erwartungen der Regierung.51 In derartigen Mitgliedern des Verfassungsgerichts können sich – auch in Ungarn langsam überwunden geglaubte – Klischees und Vorbehalte gegenüber Verfassungsrichtern als politisch gesponserten Parvenüs bestätigt sehen, was ein echtes kollegiales Verhältnis zu den Karriererichterinnen und -richtern der ordentlichen Justiz und insbesondere der Kurie schwierig macht.
2. Verfassungsbeschwerde als institutioneller Berührungspunkt Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist diejenige Institution, die die Obergerichte und die Verfassungsgerichte am intensivsten verklammert, denn sie erlaubt es dem Verfassungsgericht, die Entscheidungen der Obergerichte und ggf. der nachgeordneten Gerichte zu überprüfen und aufzuheben. So sehr die Urteilsverfassungsbeschwerde als logisches „letztes Puzzlestück“ zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit auch gerichtlicher Entscheidungen gesehen werden kann, so unausweichlich kann sie schon für sich selbst zu einem offenen Konflikt zwischen den beiden Gerichtsbarkeiten führen. Denn die Urteilsverfassungsbeschwerde stellt der Sache nach die Richtigkeit der Rechtsanwendung des ordentlichen Gerichts in Frage. Je umfangreicher das Verfassungsgericht die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte überprüft, desto eher setzt es sich an deren Stelle und an die Spitze der Gerichtshierarchie. Das schafft einerseits eine auch verfassungsrechtlich fragwürdige Lage, denn es setzt die ansonsten geltende Kompetenzaufteilung zwischen den zwei Gerichtsbarkeiten außer Kraft. Andererseits widerspricht es auf lange Sicht auch dem wohlverstandenen Eigeninteresse des Verfassungsgerichts, weil es zu einer nicht mehr handhabbaren Fallbelastung führt.52 Zumindest als Indiz hierfür mag die Einführung des Parteiantrags auf Normenkontrolle in Österreich dienen, wo die Zahl der eingebrachten Fälle die der erwarteten wesentlich übertraf: Der jährliche Anfall wurde auf 150 veranschlagt, aber bereits 2016 wurden 283 Anträge eingebracht. Dementsprechend werden mittlerweile mehr als 40 Prozent aller Normenkontrollverfahren mittels Parteiantrag eingeleitet.53 50 Ein solcher Sündenfall ist allerdings auch in Deutschland nicht unmöglich, wie die Wahl von Stephan Harbarth zum Richter am Bundesverfassungsgericht zeigt. 51 Sólyom (Fn. 8), Rn. 43, 71 ff., 172 ff.; Szente, Die politische Orientierung der Mitglieder des ungarischen Verfassungsgerichts zwischen 2010 und 2014, JOR 57 (2016), 45 ff. 52 Zur Rolle der Kammern als Entlastungspotenzial, aber auch als „Machtressource“ der Verfassungsgerichtsbarkeit am Beispiel des deutschen Bundesverfassungsgerichts s. Farahat (Fn. 38), Rn. 42 ff. Die tschechische Perspektive diskutiert Bobek, Quantity or Quality? Reassessing the Role of Supreme Jurisdictions in Central Europe, American Journal of Comparative Law 57 (2009), 33. 53 Bericht des Verfassungsgerichtshofes über seine Tätigkeit im Jahr 2016, https://www.vfgh.gv.at/ downloads/taetigkeitsberichte/VfGH_Taetigkeitsbericht_2016.pdf, zuletzt abgerufen am 1.12.2018.
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Der erste offensichtliche Unterschied zwischen den hier verglichenen Staaten liegt im Gegenstand der Verfassungsbeschwerde: Erstreckt sich diese nur auf die angewandte Rechtsvorschrift oder auch auf deren richterliche Auslegung und Anwendung? Der zweite Kristallisationspunkt des Verhältnisses zwischen Verfassungsgericht und ordentlicher Gerichtsbarkeit ist die Praxis des Verfassungsgerichts bei der Zulassung eingehender Beschwerden. Wenn das Verfassungsgericht zu großzügig bei der Zulässigkeitsprüfung ist, kann dies zu verfassungsgerichtlichem Aktivismus führen, was nicht zuletzt wieder die Fallzahlen vor dem Verfassungsgericht in die Höhe schnellen lässt. Diese teilweise prozessrechtliche, teilweise politische und teilweise gerichtspraktische Problematik hat auch eine dogmatische Seite: die Gewährleistung des heiklen Gleichgewichts zwischen dem Vorrang der Verfassung einerseits und der gebotenen Unabhängigkeit der Richter und der Gerichte andererseits. Diese Problematik gipfelt in zwei Fragen: erstens in der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, die die Erschöpfung aller vor den ordentlichen Gerichten gegebenen Rechtsmittel voraussetzt, und zweitens in der inhaltlichen Beschränkung der Rechtsfragen, die das Verfassungsgericht prüft.
a) Die „unechte“ Verfassungsbeschwerde Österreich, Polen und Ungarn bis 2011 weisen einen gemeinsamen Zug dahingehend auf, dass eine Verfassungsbeschwerde auf dem Boden von Verfahren der ordentlichen Gerichte nur gegen die angewandte Rechtsvorschrift zulässig ist, nicht aber gegen den gerichtlichen Ausspruch über ihre Anwendung im Einzelfall. Einerseits zieht diese Rechtslage eine klare Zuständigkeitsgrenze zwischen dem Verfassungsgericht und den Gerichten, was das Konfliktpotenzial wesentlich verringert, denn das Verfassungsgericht wird zumindest nicht der Form nach ermächtigt, über die konkrete Rechtsauslegung ordentlicher Gerichte zu befinden. Gerade die polnische Regelung wurde ausdrücklich zu dem Zweck erlassen, dass die Rechtsauslegung und Rechtsanwendung der Gerichte nicht unter die Kontrolle des Verfassungsgerichts geraten sollen; letztlich wollte der polnische Gesetzgeber die zentrale Rolle des Obersten Gerichts bei der Rechtsauslegung nicht beschneiden.54 Dahinter steht teilweise noch der aus dem sozialistischen Recht überkommene Vulgärpositivismus,55 der von der dogmatischen Grundannahme ausging, dass zwischen der Rechtsvorschrift und ihrer Anwendung kein Unterschied bestehe und die richterliche Rechtsanwendung ein Automatismus sei, in dem der Richter die Funktion Banaszak/Jarosz-Żukowska, Die Verfassungsbeschwerde in Polen, Osteuropa-Recht 2014, 288 (288 f.); Brunner/Garlicki (Fn. 9), 51 f.; Trzciński, Skarga konstytucyjna w Polsce [Die Verfassungsbeschwerde in Polen], 2000, 40 ff. 55 Jakab/Hollán, Die dogmatische Hinterlassenschaft des Sozialismus im heutigen Recht: Das Beispiel Ungarn, Jahrbuch für Ostrecht 46 (2005), 11 (13 ff., 22 ff.); Přibáň, Na stráži jednoty světa: marxismus a právní teorie [Wache stehen für die Einheit der Welt: der Marxismus und die Rechtstheorie], und Kühn, Ideologie aplikace práva v době reálného socialismu [Die Ideologie der Anwendung des Rechts in der Zeit des realen Sozialismus], in: Bobek/Molek/Šimíček (Hrsg.), Komunistické právo v Československu [Kommunistisches Recht in der Tschechoslowakei], 2009, 39 ff., 60 ff. 54
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eines „bouche de la loi“ einnehme, der das Recht nicht anders anwende, als es im Gesetzblatt veröffentlicht steht.56 Im Ungarn der Wendezeit konnte sich das Oberste Gericht mit seinem Protest gegen die Einführung einer Urteilsverfassungsbeschwerde durchsetzen, sodass es die – in der sozialistischen Regierung durchaus vorhandenen – Pläne zur Ausstattung des zukünftigen Verfassungsgerichts mit dieser Kompetenz noch nicht einmal bis zum Runden Tisch, geschweige denn in das Gesetzgebungsverfahren schafften.57 In Österreich hingegen wird aus dem Arrangement der drei Höchstgerichte, ihrem Aufgabenzuschnitt und ihrer Selbstdefinition abgeleitet, dass es einem Höchstgericht nicht zusteht, die Rechtsprechung der beiden anderen Höchstgerichte – und damit im Besonderen deren Rechtsauslegung im Einzelfall – zu überprüfen. Gegenseitige Wechselwirkungen und somit der Einfluss des Verfassungsgerichtshofs auf die verwaltungs-, zivil- und strafrechtliche – höchstgerichtliche – Rechtsprechung entfalten sich so gesehen (abgesehen von Fällen der rechtlichen Bindungswirkungen etwa im fortgesetzten Rechtsgang) in einem nicht unerheblichen Maße durch die Überzeugungskraft der Urteile, nicht aber durch formale Mechanismen oder gar eine förmliche Prüf kompetenz.58 Andererseits beschneidet diese Rechtslage die Verfassungsgerichtsbarkeit, denn sie immunisiert bis zu einem gewissen Grad die gerichtliche Rechtsanwendung gegen die Einwirkung des Verfassungsgerichts. Jedenfalls für Polen und Ungarn gilt, dass die Obergerichte im Sozialismus nicht dazu sozialisiert waren, die Verfassungsmäßigkeit des von ihnen anzuwendenden Rechts zu überprüfen, und bis heute tut sich die ordentliche Justiz in postsozialistischen Staaten schwer, den für die Kontrolle von Staatshandeln einschließlich der Gesetzgebung notwendigen Ethos zu entwickeln. In Österreich ergibt sich für die ordentlichen und die Verwaltungsgerichte aus der Dreierspitze der Justiz eine Rollenauffassung, die spezifisch verfassungsrechtliche Aspekte in den Hintergrund drängt und sie nur mittelbar zum Tragen kommen lässt, was man nicht zuletzt daran sieht, dass diese Gerichtszweige ihre Vorlagepflicht im Rahmen der konkreten Normenkontrolle nicht allzu eifrig wahrnehmen. Die Verfassungsgerichte hingegen haben überall, wo dieses Modell herrscht, keine Möglichkeit zur Verfassungskontrolle der Rechtsprechungsinhalte. Je weiter sich die tatsächliche
56 Demgegenüber klassisch das deutsche Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 75, 223 (243) – Kloppenburg. 57 Sólyom (Fn. 8), Rn. 178. 58 Die Leitfunktion des Verfassungsgerichtshofs für die Auslegung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte entfaltet sich in einem ausgeprägten Dialog- und Kooperationsverhältnis zwischen den Höchstgerichten, wenngleich durchaus auch offen ausgetragene Judikaturdivergenzen immer wieder anzutreffen sind. Dazu s. Holoubek, Auswirkungen des Unionsrechts auf das Verhältnis der österreichischen Höchstgerichte zueinander, in: Griller/Kahl/Kneihs/Obwexer (Hrsg.), 20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, 2015, 625 (637), der in Fn. 31 das Beispiel nennt, wonach „der OGH die Aus formung des Gleichheitsgrundsatzes als Sachlichkeitsgebot durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung übernommen“, diesem „gegenüber der privatwirtschaftlich tätigen Verwaltung aber eigenständige Konturen verliehen“ hat. Siehe weiter Kolar, Kompetenzüberschneidungen zwischen den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts – Koordination oder gegenseitige Blockade?, in: Gotthard u.a. (Hrsg.), Kooperation und Koordination als Rechtsentwicklungstrends. Tagung der österreichischen Assistentinnen und Assistenten, 2014, 49 (53) m.w.N.
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Rechtsanwendungspraxis vom Normtext entfernt, desto drängender stellt sich dieses Problem. Insbesondere in der polnischen und der ungarischen Praxis wurde die Frage akut, wo die Grenze zwischen einer Verfassungsverletzung durch den Inhalt der Rechtsnorm und einer Verfassungsverletzung durch die gerichtliche Auslegung einer für sich genommen verfassungsmäßigen Rechtsnorm gezogen werden kann. Diese Frage ist schon deshalb von fundamentaler Bedeutung, weil im ersten Fall die Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichts eröffnet ist und im zweiten Fall nicht, selbst wenn die Gerichtsentscheidung offensichtlich verfassungswidrig ist. Die polnische Verfassungsgerichtspraxis entwickelte die Formel der „festen und allgemein anerkannten Gerichtspraxis“, wonach die Auslegung durch die Justiz vom Verfassungsgericht hingenommen und als maßgeblich betrachtet wird, insoweit diese innerhalb der Justiz allgemein anerkannt und verbreitet ist. Diese ständige Gerichtspraxis erschließt sich v.a. aus den Auslegungsbeschlüssen und Urteilen des Obersten Gerichts und des Hauptverwaltungsgerichts, und für seine Zwecke weist das Verfassungsgericht der unterverfassungsrechtlichen Norm den Inhalt zu, mit dem sie die „feste und allgemein anerkannte Gerichtspraxis“ anwendet.59 Vergleichbar verfuhr (und verfährt auch unter dem neuen Grundgesetz) das ungarische Verfassungsgericht. Auch die ungarischen Verfassungshüter legen bei der Auslegung des einfachen Rechts die Variante zugrunde, die von der ordentlichen Justiz in ständiger Praxis verwendet wird. Hierfür prägten sie, wohl unter Anlehnung an die italienische Verfassungsrechtsprechung, schon sehr früh den Begriff des „lebenden Rechts“, der diese Vorgangsweise des Verfassungsgerichts zur dogmatischen Figur erhebt.60 Sowohl der polnischen als auch der ungarischen Verfassungsrechtsprechung liegt die – teils unausgesprochene, teils offen dargelegte – Erkenntnis zugrunde, dass (fast) jede Rechtsnorm auslegungsfähig und auslegungsbedürftig ist; das bedeutet für beide Rechtskulturen den Abschied von der sozialistischen „bouche-de-la-loi“-Theorie.61 Erkennt man die Vielzahl der in (fast) jeder Rechtsnorm angelegten Auslegungsmöglichkeiten an, ist es nur folgerichtig, dass die Fachgerichte festlegen, welche von diesen in der Praxis zum Zuge kommt. Und es entspricht auch dem Rechtsschutzbedürfnis des Bürgers, dass die Verfassungsgerichte die Verfassungsmäßigkeit einer Norm im Hinblick auf deren Inhalt, so wie er gegen den Bürger zur Anwendung kommt, und nicht mit einem hypothetischen, von der praktischen Anwendung isolierten Inhalt überprüfen. In Österreich hingegen wird das Problem durch das Selbstverständnis der drei Höchstgerichte teils wegdefiniert, teils ignoriert, teils gelöst. Soweit der Verfassungs Tuleja, § 103 Der polnische Verfassungsgerichtshof, Ius Publicum Europaeum, Bd. 6: Verfassungsgerichtgsbarkeit in Europa: Institutionen (Fn. 2), 471 (510). 60 Zur dogmatischen Figur des lebenden Rechts s. Jakab, § 32/A Rn. 104 ff., sowie Küpper, § 45 Rn. 55, in: Jakab (Hrsg.), Az Alkotmány kommentárja [Kommentar der Verfassung], 2 Bde., 2009; Sólyom, Az alkotmánybíráskodás kezdetei Magyarországon [Die Anfänge der Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn], 2001, 296 ff.; Sólyom (Fn. 8), Rn. 108. 61 Zum fortlebenden sozialistischen Rechtsdenken s. Rafał, Survival of the Socialist Legal Tradition? A Polish Perpsective, Comparative Law Review 4.2 (2013), 1 ff.; Uzelac, Survival of the Third Legal Tradition?, Supreme Court Law Review 49 (2010), 377 ff. 59
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gerichtshof aus einem konkreten Prozess heraus mit der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsvorschrift befasst wird, wie dies bei der konkreten Normenkontrolle der Fall ist, ist in gewissem Rahmen die Auslegung des einfachen Rechts bereits durch die befassten Rechtsanwender in der Justiz vorgegeben, d.h. die Norm ist durch die Rechtsauffassung des sie anwendenden (und ggf. vorlegenden) Gerichts eingefärbt. Anders ist der Fall der Rechtssatzverfassungsbeschwerde (Individualantrag) an den Verfassungsgerichtshof durch den Bürger: Dieser wehrt sich gegen eine ihn unmittelbar belastende, generell-abstrakte Norm außerhalb einer konkreten gerichtlichen oder behördlichen Anwendung unmittelbar, d.h. ohne Dazwischentreten eines rechtsanwendenden Einzelakts. Hier wird dem Verfassungsgerichtshof somit gleichsam die nackte Rechtsvorschrift unterbreitet.
b) Die „echte“ Verfassungsbeschwerde Eine Eigenheit der deutschen, der tschechischen und seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes auch der ungarischen Verfassungsgerichtsbarkeit62 besteht darin, dass eine Verfassungsbeschwerde nicht nur eine Rechtsvorschrift angreifen kann, sondern auch die richterliche Rechtsanwendung. Im Prinzip ermöglicht dies ein viel inten siveres verfassungsgerichtliches Eingreifen. Daher stieß die „echte“ Verfassungsbeschwerde in den betroffenen Ländern zunächst auf deutlichen Widerstand, weil die obersten Fachgerichte diese neue Machtkonstruktion nur schwer akzeptieren konnten; ihren Widerstand konnten sie teils mit Hinweisen auf die Konsequenzen für die Gewaltenteilung untermauern. Dogmatisch finden diese Konfliktlinien in der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und in der Begrenzung des Umfangs der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ihren Niederschlag.
aa) Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Ein zentrales Charakteristikum der Verfassungsbeschwerde ist ihre Subsidiarität. Obwohl sie einen Rechtsbehelf darstellt, kann sie dennoch nicht zu den ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsmitteln gezählt werden, denn sie kann nur in Anspruch genommen werden, falls der Beschwerdeführer über die Behauptung einer einfachen Rechtsverletzung im vorangegangenen behördlichen oder gerichtlichen Verfahren hinausgeht und dartut, dass er in seinen verfassungsrechtlich garantierten Rechten verletzt worden ist. In diesem Punkt stimmen das deutsche, das tschechische und das neue ungarische Recht überein,63 was auf die befruchtende Wirkung der ältesten diesbezüglichen, nämlich der deutschen Rechtsvorschriften zurückzuführen ist. 62 Die echte Verfassungsbeschwerde oder Urteilsverfassungsbeschwerde ist also, anders als von Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Jestaedt/ Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, 79 (113), angenommen, kein deutsches Spezifikum (mehr). 63 Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a deutsches Grundgesetz, Art. 87 Abs. 1 Buchst. d) tschechische Verfassung, Art. 24 Abs. 2 Buchst. d) ungarisches Grundgesetz.
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Formen der Subsidiarität Subsidiarität bedeutet vor allem, dass alle zur Verfügung stehenden Rechtsmittel auszuschöpfen sind. Es wäre allerdings ein Fehler, die Subsidiarität auf dieses eine Moment zu verengen, wie das die in der Folge dargestellte deutsche und tschechische Praxis illustriert. Der Sinn der Subsidiarität ist, den Fachgerichten die Möglichkeit zu gewähren, selbst die Grundrechtsverletzung zu heilen. Der primäre Grundrechtsschutz ist nämlich die Aufgabe der Fachgerichte, und wenn sie eine Grundrechtsverletzung wahrnehmen, haben sie diese abzustellen und die notwendigen rechtlichen Konsequenzen daraus zu ziehen. Das Verfassungsgericht wird folgerichtig nur sekundär tätig. Um den Primat des fachgerichtlichen Grundrechtsschutzes und die sekundäre Rolle des Verfassungsgerichts zu wahren, verlangt das Verfassungsprozessrecht vom Beschwerdeführer regelmäßig mehr als die bloß formale Erschöpfung des Rechtswegs. Hinzu kommt etwas, was man als materielle Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel bezeichnen kann: Der Beschwerdeführer darf seine (angebliche) Grundrechtsverletzung nicht erst in dem Antrag auf eine Urteilsverfassungsbeschwerde anführen, sondern muss die grundrechtsrelevanten Tatsachen und Rechtsargumente so weit wie möglich bereits in dem Ausgangsverfahren vorbringen. Konsequent ist ein solches Zulässigkeitserfordernis für die Urteilsverfassungsbeschwerde allerdings nur dann, wenn die zuvor befassten Fachgerichte eine gewisse Offenheit gegenüber grund- und verfassungsrechtlichen Argumentationen zeigen. Dies ist zwar die Pflicht der Fachgerichte, aber wie das westdeutsche Beispiel nach 1949 und die ostmitteleuropäischen Beispiele nach 1989 zeigen, brauchen zuvor gegen die Konstitutionalisierung „ihrer“ einfach-rechtlichen Rechtsgebiete immun gewesene Gerichtszweige eine gewisse Zeit, den Geltungsanspruch der Verfassung für die Inhalte des einfachen Rechts zu akzeptieren. So wie es zahlreiche Zivilrichter und Ziviljuristen in Westdeutschland in den ersten Jahrzehnten nach 1949 als Zumutung empfanden, dass „ihr“ althergebrachtes BGB sich plötzlich an einem „politischen“ Akt wie einem Grundgesetz messen lassen musste und sich so das als politikfrei imaginierte bürgerliche Recht mit Politik „infizierte“, so fremdelten und fremdeln auch die Ziviljuristen in den ostmitteleuropäischen Gerichten und Fakultäten seit der Wende mit der ebenfalls als sachfremde und daher unzulässige Einmischung empfundenen Konstitutionalisierung „ihres“ Rechtsgebietes. Solange dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, wäre es widersprüchlich, von einem Verfassungsbeschwerdeführer zu verlangen, vor den Ausgangsgerichten verfassungsrechtlich zu argumentieren, obwohl eben diese Ausgangsgerichte nur fachrechtliche Argumente anzuerkennen bereit sind. In Österreich und Deutschland sind die Fachgerichte – wenn auch in den Details durchaus unterschiedlich – daran gewöhnt, die verfassungsrechtlichen Implikationen des anzuwendenden Rechts und der zu beurteilenden Fälle mit einzubeziehen. In Polen, Tschechien und Ungarn ist ein vergleichbarer Prozess so weit gediehen, dass es seit etwa zwei Jahrzehnten nach der Wende nicht mehr aussichtslos und dementsprechend auch nicht mehr ungewöhnlich ist, vor Zivil- und Straf-, vor Verwaltungs- und Arbeitsgerichten – auch – verfassungsrechtlich zu argumentieren. Dass dieser Prozess nicht immer schmerzfrei vonstattengeht, zeigen die „Stellungskriege“ zwischen Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht in der jungen
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Bundesrepublik ebenso wie der „Krieg der Gerichte“ in Tschechien.64 Der Konflikt zwischen dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht in Deutschland zeigte allerdings Folgen über das Verhältnis der beiden Gerichte hinaus: So nutzte das Bundesarbeitsgericht den erwähnten Konflikt und die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts dazu, das Arbeitsrecht aus dem Schatten der bis dahin übermächtigen Zivilrechtsdogmatik zu lösen und eine eigene arbeitsrechtliche Dogmatik zu entwickeln und so die Arbeitsgerichtsbarkeit von der Zivilgerichtsbarkeit zu emanzipieren, wozu es u.a. verstärkt verfassungsrechtliche Argumentationen verwendete.
Deutschland und Tschechien: formelle und materielle Erschöpfung des Rechtswegs War dem Beschwerdeführer eine verfassungsrechtliche Argumentation möglich und hat er sie im Ausgangsverfahren dennoch versäumt, so betrachtet das deutsche Bundesverfassungsgericht die Urteilsverfassungsbeschwerde als unzulässig: Der Beschwerdeführer hat die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten nicht genutzt. Insofern dem Beschwerdeführer „vorgeworfen“ wird, er habe die Geltendmachung der verfassungsrechtlichen Aspekte in einem, v.a. in einem auf dem Offizialprinzip beruhenden Gerichtsverfahren versäumt, wird in der Literatur zu bedenken gegeben, dass vor den Fachgerichten der Grundsatz des iura novit curia gelte, d.h. der Grundsatz, dass das anzuwendende Recht dem Gericht bekannt sei(n müsse), weshalb von der Partei nur die Zurverfügungstellung der Tatsachen, nicht aber deren begleitende rechtliche Aufarbeitung verlangt werden könne. Das Bundesverfassungsgericht hingegen ist strenger und verlangt regelmäßig, dass der Beschwerdeführer im Ausgangsprozess auch verfassungsrechtliche Argumente angebracht hat.65 Ähnlich wie das deutsche Bundesverfassungsgericht verfährt das tschechische Verfassungsgericht. Auch die Brünner Richter verlangen neben der formellen eine materielle Erschöpfung des Rechtswegs und erwarten, dass der Beschwerdeführer die verfassungsrechtlich relevanten Tatsachen und seine verfassungsrechtlichen Argumente bereits im Ausgangsverfahren vorträgt.66 Die Bedeutung der materiellen Dimension der Subsidiarität liegt darin, dass das Verfassungsgericht als das gerichtliche Organ zum Schutz der Verfassung gemäß Art. 83 tschechische Verfassung nur zum Schutz der Grundrechte bestimmt ist, der Rechtsschutz im Allgemeinen hingegen Aufgabe und Zuständigkeit anderer Organe darstellt, denen Gelegenheit zu geben ist, die Rechtsverletzung innerhalb ihrer eigenen Zuständigkeiten zu beheben. Der 64 Zu dieser „martialischen“ Erscheinung in der tschechischen Justiz s. Holländer, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Fn. 8), 37 f.; Koudelka, Válka soudů aneb dělba moci v soudnictví [Krieg der Gerichte oder Gewaltenteilung in der Justiz], Politologický časopis 1/1998, 71 ff. Näher zu den Konsequenzen dieses Kriegs der Gerichte s.u. Punkt 3.d). Zu dem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Justiz in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, welches sich v.a. aus dem damals so empfundenen Widerspruch zwischen dem „reinen Recht“ und der „Politik“ speiste, s. Farahat (Fn. 38), Rn. 6 ff., 92. 65 BVerfGE 84, 203; Farahat (Fn. 38), Rn. 55, 59; Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, 6. Aufl., 2011, § 9 0 Rn. 162 ff.; Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Aufl., 2017, Rn. 35, 38 ff., 71. 66 Verfassungsgericht Beschluss I. ÚS 236/04 vom 28.4.2004; Hierzu Tomoszek, Die Verfassungsbeschwerde in Tschechien, Osteuropa-Recht 2014, 265 (270 f.).
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Grundsatz der Subsidiarität bedeutet mithin, dass die Nachrangigkeit der Verfassungsbeschwerde als spezifisches Mittel des Grundrechtsschutzes gegenüber den ordentlichen Rechtsbehelfen nur dann zur Geltung kommen kann, wenn im Übrigen die ordentlichen Rechtsmittelforen ihre vorrangige Rechtsschutzfunktion wahrnehmen und im Falle von Grundrechtsverletzungen einen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten.67 Die Verfassungsbeschwerde ist also eine institutionalisierte ultima ratio, die eine unmittelbare Anwendung der Verfassung voraussetzt, denn ohne sie ist ein unmittelbarer gerichtlicher Rechtsschutz nicht vorstellbar.68 Dementsprechend nimmt das tschechische Verfassungsgericht die im Ausgangsverfahren befassten Fachgerichte in die Pflicht, von denen die Kenntnis des anzuwendenden Rechts einschließlich des Verfassungsrechts erwartet werden könne. Es ist eine der Streitfragen, wie weit der prozessrechtliche Beibringungsgrundsatz reicht und in welchem Umfang auch die Gerichte eine Obliegenheit aufgrund des Grundsatzes iura novit curia trifft.69
Ungarn: Formelle Erschöpfung des Rechtswegs Anders als in Deutschland und in Tschechien beschränkt sich in Ungarn die verfassungsgerichtliche Auslegung des Subsidiaritätserfordernisses auf die formelle Erschöpfung des Rechtswegs: Nur das letztinstanzliche Urteil ist beschwerdefähig.70 Soweit keine weiteren ordentlichen71 Rechtsmittel zur Verfügung stehen, ist dem verfassungsprozessualen Erfordernis der Erschöpfung des Rechtswegs Genüge getan. Es wäre allerdings verfehlt anzunehmen, dass die ungarischen Verfassungsrichter eine grundsätzlich andere Auffassung von der Subsidiarität vertreten als ihre deutschen und tschechischen Kollegen. Letztlich ist der ungarische Standpunkt noch nicht klar. Auch Karlsruhe und Brünn begannen ihre Rechtsprechung mit der formellen Argumentation, die sie später anhand geeigneter Fälle um die genannte materielle Komponente erweiterten. Das ungarische Verfassungsgericht steht noch am Anfang seiner diesbezüglichen Rechtsprechung, und es ist nicht auszuschließen, dass es bislang bei seiner formellen Auffassung von Subsidiarität stehen geblieben ist, weil geeignete Anlassfälle für die Fortentwicklung in Richtung materielle Subsidiarität noch nicht aufgetaucht (oder nicht erkannt worden) sind. Das geschriebene Verfassungsprozessrecht steht jedenfalls in Ungarn der Interpretation des Subsidiaritätser Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 205/97 vom 11.12.1997. Filip, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek, Ústava České republiky – Komentář [Die Verfassung der Tschechischen Republik – Kommentar], 2010, Art. 87 Rn. 139. 69 Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 242/2000 vom 21.12.2000. 70 Hierzu Zeller/Naszladi, Die Verfassungsbeschwerde in Ungarn, Osteuropa-Recht 2014, 301 (304 f.). 71 Bereits die Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsmittels der Revision hindert nicht die Einlegung der Urteilsverfassungsbeschwerde, und es ist kommt vor und wird von den betroffenen Gerichten akzeptiert, dass der Beschwerdeführer gegen das Berufungsurteil, das nach ungarischem Prozessrecht die letzte reguläre Instanz bildet und somit stets rechtskräftig ist, sowohl Revision vor der Kurie (außerordentliches Rechtsmittel) als auch Verfassungsbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (außerordentlicher Rechtsbehelf ) einlegt. 67
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fordernisses als auch materiell ebenso wenig entgegen wie die vergleichbaren deutschen und tschechischen Gesetzestexte.
bb) Eingeschränkter Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Das Verhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und den Obergerichten wird nicht nur, aber auch im Bereich der Urteilsverfassungsbeschwerde wesentlich davon geprägt, welche Rechtsfragen der verfassungsgerichtlichen Beurteilung unterliegen. Im Mittelpunkt dieser Problematik steht die Abgrenzung der einfachen Gesetzeswidrigkeit von der Verfassungswidrigkeit. Wo nur Rechtsvorschriften den Prüfungsgegenstand des Verfassungsgerichts bilden, wie dies in Österreich und Polen der Fall ist und in Ungarn bis 2011 der Fall war, ist höchstens die Frage problematisch, wer den zu prüfenden Inhalt des einfachen Rechts vorgibt: Prüft das Verfassungsgericht ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung als „law on the books“ oder in ihrer Funktion als „law in action“?72 Komplizierter stellt sich die Frage in den Ländern dar, die die Urteilsverfassungsbeschwerde kennen. In Deutschland, Tschechien und seit 2012 in Ungarn bildet die Urteilsverfassungsbeschwerde keinen Bestandteil des ordentlichen Rechtswegs und soll auch kein solcher Bestandteil werden. Deshalb liegt ihre Funktion nicht in der klassischen obergerichtlichen Rolle der Überwachung der Richtigkeit und – in den hier untersuchten Staaten in unterschiedlicher Intensität – der Einheitlichkeit der Anwendung des einfachen Rechts.73 Um eine „Superrevisionsinstanz“ für das einfache Recht zu sein, fehlen dem Verfassungsgericht die Kapazitäten und die Fachkenntnisse, und im Übrigen ist eine Verdoppelung der Rolle einer obersten Auslegungsinstanz für das einfache Recht weder prozessökonomisch noch aus Sicht der Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, mithin aus der Sicht des Rechtsstaates wünschenswert oder gar notwendig. Die Aufsicht über die Richtigkeit und Einheitlichkeit der Anwendung des einfachen Rechts ist bei den obersten Fachgerichten regelmäßig in guten Händen, und es ist nicht zu erkennen, dass eine Abgabe dieser Rolle an ein Verfassungsgericht zu einer Qualitätssteigerung dieser Aufsicht führen könnte. Bei der Abgrenzung der verfassungsgerichtlichen und der fachgerichtlichen Kompetenzen in der (letzt-)verbindlichen Auslegung des Rechts auf der Scheidelinie zwischen Verfassung und einfachem Recht finden die hier untersuchten drei Rechtsordnungen verschieden akzentuierte Antworten, die dennoch in ihren Grundzügen weitgehend übereinstimmen.
Deutschland Das deutsche Bundesverfassungsgericht verwendet die – alles andere als unumstrittene – Figur des „spezifischen Verfassungsrechts“, um die Konflikte bei der verfas Dazu zuvor Punkt II.2.a). Zum Aspekt der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung s. auch unten Punkt III.
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sungsgerichtlichen Überprüfung von Gerichtsentscheidungen zu reduzieren.74 Sowohl bei der Zulässigkeit als auch bei der Begründetheit von Urteilsverfassungsbeschwerden muss die (behauptete) Rechtsverletzung eine bestimmte Intensität erreichen, um als „spezifisch“ verfassungsrechtlich qualifiziert zu werden. Das „Spezifische“ ergibt sich aus der Beschränkung des Prüfmaßstabs auf das Verfassungsrecht dergestalt, dass die falsche Anwendung des einfachen Rechts der verfassungsgerichtlichen Beurteilung entzogen wird; insofern ist das Adjektiv „spezifisch“ in diesem Zusammenhang zumindest irreführend, hat sich aber eingebürgert. Auch wenn diese Argumentationsfigur in der Praxis meist zu handhabbaren Lösungen führt, verschiebt sie auf dogmatischer Ebene die Frage nur. Schließlich kann im konstitutionellen Rechtsstaat jeder Rechtswidrigkeit im staatlichen Handeln ein verfassungs- und auch ein grundrechtlicher Aspekt abgewonnen werden – das ist die „rechtsstaatliche Falle“, in die ein Verfassungsgericht schnell tappen kann75 –, und die Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung lässt die eindeutige Scheidung von Verfassungs- und einfachem Recht vielfach illusorisch werden.76 Eine wiederum eher praktisch hilfreiche als dogmatisch fest untermauerte Konstruktion ist hierbei die sog. Schumann‘sche Formel, wonach das Bundesverfassungsgericht den Urteilsinhalt wie eine Rechtsnorm behandelt und dann prüft, ob ein Gesetz mit exakt diesem Inhalt gegen Grundrechte verstoßen würde. Durch diese Denkoperation wird die einfach-rechtliche Richtigkeit des Urteils in den Hintergrund gedrängt, und die verfassungsgerichtliche Prüfung verengt sich auf die verfassungsund hier wiederum v.a. auf die grundrechtlichen Aspekte.77 Dieselbe Technik wendet auch das ungarische Verfassungsgericht bisweilen an, ohne sie jedoch mit einer besonderen Bezeichnung zu versehen oder auch nur offenbar zu machen, dass es diese Technik verwendet; die entsprechende ungarische Verfassungspraxis scheint eher intuitiv zu sein. Die Grenze der Autonomie der fachgerichtlichen Rechtsauslegung zieht das Bundesverfassungsgericht bei der Willkür. Verfassungsdogmatisch ist ein Gerichtsurteil willkürlich, wenn es eine Rechtsauslegung und -anwendung wählt, die das Gleichbehandlungsgebot in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz schwer verletzt. Praktisch nimmt das Bundesverfassungsgericht dann Willkür an, wenn das Urteil im Hinblick auf die gängige Rechtsanwendung nicht mehr verständlich ist, d.h. den fachgerichtlichen 74 Dieser Topos ist bis in die Frühzeit des Bundesverfassungsgerichts rückverfolgbar: BVerfGE 1, 4; 1, 7; 1, 418. 75 Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: FS H.P. Ipsen, 1977, 129 (137), spricht von einem „Abrutschen in eine Superrevision“. 76 Zu dieser Diskussion s. Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, DVBl. 2001, 1309 ff.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, 214 ff.; Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung: Überlegungen zum Verhältnis von verfassungsrechtlicher Ausstrahlungswirkung und Eigenständigkeit des „einfachen“ Rechts, 2000; Voßkuhle, in Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7. Aufl., 2018, Art. 93 Rn. 43; Walter, in: Maunz/Dürig (Fn. 33), Art. 93, Rn. 150 ff.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl., 2018, Art. 93 Rn. 35. 77 Hierzu s. Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 119 (121 ff.); Schlaich/Korioth (Fn. 76), 235. Kritisch bereits zu den Grundlagen dieser Denkfigur Bender, Die Befugnis des Verfassungsgerichts zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen, 1991, 325.
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Konsens verlässt. In den seltenen Fällen, in denen es eine willkürliche fachgerichtliche Auslegung des einfachen Rechts bejaht,78 beschreibt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zwar detailliert die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Urteilsfindung im konkreten Fall, hütet sich aber regelmäßig davor, eine bestimmte Auslegung des einfachen Rechts vorzugeben.79
Tschechien Auch in der tschechischen Verfassungsrechtsprechung ist der Wunsch nachweisbar, die Frage der Grenzziehung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht und somit die Abgrenzung der Zuständigkeitssphären von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit nicht immer wieder aufs Neue Einzelfallerwägungen zu überlassen, sondern sie zu systematisieren. Das Verfassungsgericht hat hierzu eine einem „Algorithmus“ ähnliche Drei-Stufen-Prüfung entwickelt, wobei sich die Prüfungsintensität mit jeder Stufe steigert. Das Verfassungsgericht beginnt zunächst mit der Prüfung, die die fachgerichtliche Rechtsauslegung am wenigsten beeinträchtigt, und dringt dann allmählich tiefer in die Argumentation des Gerichts ein. Zuerst untersucht es, ob die der Entscheidung zu Grunde liegende Rechtsvorschrift verfassungsmäßig ist. Dieser Prüfungsschritt lässt die fachgerichtliche Argumentation noch gänzlich unberührt. Der zweite Prüfungsschritt betrifft die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien; die Konzentration auf das Verfahrensrecht in diesem Prüfungsabschnitt hat wiederum den Vorteil, dass das Verfassungsgericht sich noch nicht zu den Aussagen der Fachgerichte zum materiellen Norminhalt äußern muss. Diese Prüfung erfolgt erst im dritten und letzten Schritt, in dem das Verfassungsgericht überprüft, ob die Rechtsanwendung durch die ordentlichen oder die Verwaltungsgerichte mit der Verfassung und insbesondere mit den Grundrechten des Beschwerdeführers in Einklang steht.80 Dieser dritte Schritt bedeutet eine intensivere Kontrolle der Rechtsanwendung, aber das Verfassungsgericht prüft die Auslegung und Anwendung von Rechtsvorschriften nur in einer einzigen Dimension, nämlich darauf hin, inwieweit das Gericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben berücksichtigt hat, da die Auslegung des „einfachen“ Rechts nicht die Aufgabe des Verfassungsgerichts ist.81 Die fehlerhafte Auslegung des einfachen Rechts wird nur ausnahmsweise verfassungsrechtlich relevant, nämlich wenn sie willkürlich ist oder in extremem Widerspruch zur Gerechtigkeit steht, z.B. im Falle eines derart übertriebenen Formalismus, dass dieser die Rechtsdurchsetzung verhindert.82 Falls die Tatsachenfeststellungen des 78 Schlaich/Korioth (Fn. 76), 225, m.w.N., mahnen eine zunehmende Zahl an erfolgreichen Urteilsverfassungsbeschwerden, die auf Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz gestützt werden, an. Hier tut sich die „rechtsstaatliche Falle“ wieder auf. 79 So z.B. BVerfGE 83, 82. Zur Willkürkontrolle s. Schlaich/Korioth (Fn. 76), 224 f.; Walter, in: Maunz/Dürig (Fn. 33), Art. 93, Rn. 410. 80 Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 2301/2015 vom 19.2.2015 und Erkenntnis III. ÚS 205/97 vom 11.12.1997; dazu Holländer, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Fn. 9), 34 ff. 81 Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 373/98 vom 25.2.1999. 82 Verfassungsgericht Erkenntnisse III. ÚS 545/99 vom 3.2.2000, III. ÚS 224/98 vom 8.7.1999, III. ÚS 150/99 vom 20.1.2000, I. ÚS 89/02 vom 21.5.2002.
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Gerichtsurteils und die Rechtsfolgen, die es daraus zieht, in einem extremen Widerspruch zueinander stehen oder keine Auslegung der Rechtsvorschriften zu dem im Urteil formulierten Ergebnis führen kann, dann verletzt das Urteil zugleich die Erfordernisse des fairen Verfahrens.83 Auf dieser dritten Stufe, der materiellen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Urteils, greift das tschechische Verfassungsgericht mithin auf ähnliche Gedanken zurück wie das deutsche. Es prüft nicht die Richtigkeit der Anwendung des einfachen Rechts, sondern beschränkt sich auf die Prüfung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Ähnlich wie in Deutschland gilt auch in Tschechien nicht jede Verletzung des einfachen Rechts zugleich auch als Verfassungsverletzung. Die Verletzung des einfachen Rechts muss eine besondere Intensität annehmen, um auch als Verfassungsverletzung angesehen zu werden. Wann dies der Fall ist, ist in Tschechien ebenso wie in Deutschland letztlich eine Abwägung im Einzelfall. Auch in der tschechischen Verfassungspraxis bildet die Willkür der fachgerichtlichen Rechtsauslegung und -anwendung ein Einfallstor für das Verfassungsgericht, sich zu den einfach-rechtlichen Inhalten der angegriffenen Rechtsprechung zu äußern.
Ungarn Anders als Deutschland und Tschechien steht Ungarn noch am Anfang einer diesbezüglichen Verfassungsrechtsprechung. Daher findet sich noch keine dogmatische Verfestigung. Die Grundgedanken der ungarischen Verfassungsrechtsprechung sind jedoch mit der deutschen und tschechischen Verfassungspraxis vergleichbar. Aus der Rollenzuschreibung als oberster Wächter der Verfassung in Art. 24 Abs. 1 des ungarischen Grundgesetzes leitet das Verfassungsgericht ab, dass es nicht für die Gewähr der Richtigkeit der Anwendung des einfachen Rechts zuständig ist; die überantworten Art. 25 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz nämlich ausdrücklich der Kurie und dem noch zu schaffenden Verwaltungsobergericht. Dieses Rollenverständnis drückt das ungarische Verfassungsgericht in dem Begriff aus, es wolle und solle keine „reguläre vierte Instanz“ sein; auch der aus Deutschland übernommene Begriff der „Superrevisionsinstanz“ fällt in seiner Rechtsprechung.84 In der Verfassungspraxis setzt das Verfassungsgericht dieses Rollenverständnis v.a. in seiner restriktiven Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Urteilsverfassungsbeschwerde um. Dabei stützt es sich v.a. auf die Vorschrift, wonach der Beschwerdeführer die Verletzung eines verfassungsrechtlich gewährten subjektiven Rechts geltend machen muss.85 In der Regel sieht es diese Zulässigkeitsvoraussetzung als nicht erfüllt an, wenn sich das Vorbringen des Beschwerdeführers in der Rüge der Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 150/99 vom 20.1.2000. Verfassungsgerichtsverfügungen 3003/2012. (VI. 21.) AB vom 21.6.2012, Rn. 4, 3237/2012. (IX. 28.) AB vom 28.11.2012, und 3309/2012. (XI. 12.) AB vom 12.11.2012, Rn. 5. Zur gesetzgeberischen Absicht s. Tilk, Az új típusú alkotmányjogi panasz előzményei és az eljárási renddel kapcsolatos egyes szabályozási elvárások [Die Vorläufer der Verfassungsbeschwerde neuen Typs und einige regulatorische Erwartungen im Zusammenhang mit der Verfahrensordnung], Alkotmánybírósági Szemle 2011/2, 82 ff. 85 § 27 Buchst. a) Gesetz 2011:CLI über das Verfassungsgericht vom 21.11.2011. 83
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falschen Anwendung des einfachen Verfahrens- oder materiellen Rechts erschöpft. Das ungarische Verfassungsgericht vermeidet dabei genauso wie seine deutschen und tschechischen Schwesterinstitutionen die genannte rechtsstaatliche Falle, dass jede falsche Rechtsanwendung im konstitutionellen Rechtsstaat eine verfassungs- und v.a. auch eine grundrechtliche Seite hat. Eine Systematisierung der Kriterien, wann eine bloße Rechtsverletzung und wann eine Grundrechtsverletzung vorliegen, hat das ungarische Verfassungsgericht noch nicht in Angriff genommen. Es lässt jedoch eine Verfassungsbeschwerde zu, wenn eine prima facie falsche, also willkürliche Anwendung des einfachen Rechts, z.B. weil die einschlägige Vorschrift gar nicht angewandt oder angesprochen wurde, mittels einer Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren beanstandet wird.86
c) Vergleich Die Techniken der drei Verfassungsgerichte sind ähnlich: Sie ziehen sich auf eine reine Verfassungsprüfung zurück, um die Autonomie der fachgerichtlichen Rechtsauslegung und -anwendung zu wahren, aber auch ihre eigenen Kapazitäten zu schützen. Begriffliche Verfestigungen der Abgrenzungskriterien sind in Deutschland und Tschechien v.a. praktische Instrumente, deren dogmatische Substanz dünn ist. Dennoch gelingt beiden Verfassungsgerichten grundsätzlich, den verfassungsrechtlichen Aspekt, der nahezu jeder Rechtsverletzung innewohnt, zu ignorieren, die rechtsstaatliche Falle der Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung zu umgehen und sich auf das in Deutschland so genannte „spezifische“ Verfassungsrecht zu konzentrieren. Das gelingt auch dem ungarischen Verfassungsgericht, das sich v.a. auf sein Rollenverständnis und eine restriktive Handhabung der Zulässigkeitskriterien stützt. Das in Deutschland und Tschechien bisweilen verwendete Kriterium der Willkür, das den Verfassungsgerichten erlaubt, in der Sache doch Stellung zur fachgerichtlichen Anwendung des einfachen Rechts zu nehmen, ist in Ungarn bislang – möglicherweise mangels passender Anlassfälle – noch nicht aufgetaucht, würde aber auch dem ungarischen Selbstverständnis, dass das Verfassungsgericht keine reguläre vierte Instanz ist, entsprechen, wie die sich langsam entfaltende Verfassungsrechtsprechung zur prima facie falschen Anwendung des einfachen Rechts zeigt, deren dogmatischer Anknüpfungspunkt allerdings nicht das Recht auf Gleichbehandlung, sondern das auf ein faires Verfahren ist. Auch wenn sich die Frage nach der Abgrenzung von Verfassungs- und einfachem Recht als Abgrenzung von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit in Staaten mit einer Urteilsverfassungsbeschwerde am prägnantesten stellt,87 müssen auch die Verfas86 So etwa Verfassunsgerichtsurteil 20/2017. (VII. 18.) AB vom 18.7.2017. Die diesbezügliche Judikatur arbeitet Küpper, Voreilige Unkenrufe oder Demontage des Rechtsstaats? Das ungarische Verfassungsgericht nach den ersten vier Jahren Fidesz-Herrschaft, Jahrbuch für Ostrecht 56 (2015), 85 (113 ff.), auf. 87 Zur Urteilsverfassungsbeschwerde als Kristallisationspunkt des Verhältnisses zwischen der Verfassungs- und der ordentlichen Gerichtsbarkeit Häberle, Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, JÖR n.F. 45 (1997), 89 ff.; Walter, in: Maunz/Dürig (Fn. 33), Art. 93, Rn. 153 f., 404 ff.
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sungs- und die Obergerichte in anderen Staaten dazu Position beziehen. In Österreich nimmt die Problematik in der Abgrenzung der Kompetenzen der drei Höchstgerichte, v.a. in der Abgrenzung der Zuständigkeit von Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof, Gestalt an – dies insbesondere, weil sich aufgrund der grundsätzlichen Parallelzuständigkeit von Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof zur Überprüfung desselben Prüfungsgegenstandes (Entscheidungen der Verwaltungsgerichte) die Frage in besonderem Maße auf den von dem jeweiligen Höchstgericht angewandten Prüfungsmaßstab richtet. Vereinfacht gesagt nehmen der Verfassungsgerichtshof bei der Kontrolle verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen die sog. „Grobprüfung“, die auf die Einhaltung der Verfassung zielt, und der Verwaltungsgerichtshof die sog. „Feinprüfung“, die die Einhaltung und richtige Anwendung des einfachen Rechts zum Gegenstand hat, für sich in Anspruch. Diese Grenze ist allerdings im Einzelfall nicht immer leicht zu ziehen, und nicht selten führt der Verfassungsgerichtshof auch „Feinprüfungen“ durch.88 In manchen Bereichen sind parallele Zuständigkeiten der beiden Höchstgerichte allgemein akzeptiert, z.B. im Bereich des Willkürverbots, dessen Verletzung ja auch in Deutschland und Tschechien den Weg zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der fachgerichtlichen Auslegung des einfachen Rechts eröffnet, aber auch bei den Verfahrensrechten, die ein faires Verfahren ausmachen89 – der Vergleich mit der zweiten Stufe des tschechischen „Algorithmus“ und der prima facie falschen Rechtsauslegung gemäß der ungarischen Verfassungsrechtsprechung liegt nahe. In Polen wird die genannte Problematik auf zwei Ebenen ausgetragen. Die eine Ebene betrifft die Zuständigkeiten von Verfassungsgericht, Oberstem Gericht und Hauptverwaltungsgericht, die andere Ebene die Bindungswirkung der Gerichtsurteile. Die nicht leichte Unterscheidung zwischen der Verfassungswidrigkeit der Norm und ihrer verfassungswidrigen Anwendung ist in erster Linie eine Zuständigkeits- und Zulässigkeitsfrage: für die erste ist das Verfassungsgericht zuständig, für die zweite nicht. Immerhin wurde eine allgemeine Formel ausgearbeitet, die eine feste und allgemein anerkannte Anwendung der Norm mit dem Inhalt der Norm gleichsetzt.90 Ob eine „feste” und „ständige” Auslegung besteht, ergibt sich für das Verfassungsgericht vor allem aus den Auslegungsbeschlüssen und Urteilen des Obersten Gerichts und des Hauptverwaltungsgerichts. Die zweite Ebene ist der Streit hinsichtlich der Bindungswirkung der Urteile der verschiedenen Gerichte. Die polnischen Fachgerichtsbarkeiten erkennen zwar den Primat der Verfassung an, leiten hieraus aber nicht auch zwingend den Primat des Verfassungsgerichts ab, sondern nehmen für sich in Anspruch, verfassungswidriges einfaches Recht mit Wirkung inter partes unangewendet lassen zu dürfen, wobei sie sich auf die richterliche Unabhängigkeit und den Vorrang der Verfassung stützen; für das Verfassungsgericht bleibt nach dieser Ansicht nur die Auf hebung verfassungs88 Zu diesen, in jüngerer Zeit durch die neuere Judikatur des Verfassungsgerichtshofs wieder vermehrt in Bewegung geratenen Fragen siehe etwa Vasek, Keine Verletzung von Art 11 EMRK durch Untersagung einer Versammlung. Anmerkung zu VfGH 11.3.2015, E 968–969/2014, JBl 2015, 369; Fister, Der Grundrechtseingriff bei der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, ZöR 2012, 501. 89 Fuchs, Verfahrensgrundrechte im Eingriffs- und Schrankenmodell? Überlegungen zur Struktur grundrechtlicher Verfahrensgarantien, ZÖR 2012, 537. 90 Tuleja (Fn. 59), 508, 510. Dazu auch oben Punkt II.2.a).
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widriger Rechtsvorschriften mit Wirkung erga omnes.91 Hinter dem Konflikt steht die Frage der allgemeinverbindlichen Auslegung der Gesetze, eine Kompetenz, die dem Verfassungsgericht aufgrund einer Verfassungsänderung 1989 zustand.92 Das polnische Oberste Gericht ging in seiner Kritik an dieser verfassungsgerichtlichen Kompetenz so weit zu sagen, dass die vom Verfassungsgerichtshof angenommene Auslegung für die Gerichte nicht bindend sei.93 Den Konflikt löste der Verfassungsgeber 1997 dahingehend auf, dass die allgemeinverbindliche Auslegung der Gesetze abgeschafft wurde und frühere Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes in diesen Fällen ihre Rechtskraft verloren.94 Die polnischen obersten Gerichte vertreten die Meinung, dass eine verbindliche Auslegung des einfachen Rechts durch das Verfassungsgericht dieser Verfassungsänderung und dem Gewaltenteilungsprinzip widerspräche,95 da ansonsten der Verfassungsgerichtshof als Ersatzgesetzgeber funktionieren würde. Das Verfassungsgericht versucht den Streit zu entschärfen, indem es einerseits die Zulässigkeitsvoraussetzungen strikt auf die Rechtssatzverfassungsbeschwerde beschränkt und Anträge von Urteilsverfassungsbeschwerden als unzulässig abweist und andererseits die Autonomie der fachgerichtlichen Auslegung des einfachen Rechts durch die Figur der „festen und allgemein anerkannten Gerichtspraxis“ ausdrücklich anerkennt – Letzteres eine auffällige Parallele zum „lebenden Recht“ in der ungarischen Verfassungsrechtsprechung. Der Vergleich der fünf mitteleuropäischen Staaten mit ihren teils unterschiedlichen institutionellen Settings und verfassungsprozessualen Ausgestaltungen zeigt bemerkenswerte Parallelen auf: Überall sind Verfassungsgerichte und Fachgerichtsbarkeit(en) bestrebt, ihre Zuständigkeiten und Rechtsprechungsinhalte an der Scheidelinie Verfassungsrecht – einfaches Recht gegeneinander abzugrenzen. Hierbei verwenden sie in vielen Aspekten gleichgelagerte Argumentationsstrukturen. Allerdings finden sich in zahlreichen Details auch deutliche Abweichungen, die nicht selten auf die Besonderheiten des Anlassfalles zurückgehen, der die entsprechende Rechtsprechungslinie ausgelöst hat, und die dann im Sinne einer Pfadabhängigkeit perpetuiert werden. Diese Vielfalt zeigt, dass es das Patentrezept nicht gibt. Die institutionellen Positionen von Verfassungsgericht und Obergericht(en) ebenso wie die prozessualen Möglichkeiten und Verbote und schließlich auch das Selbstverständnis der verschiedenen Akteure setzen einen Rahmen, der dann teils vom Gesetzgeber, teils von den Gerichten selbst mit Praxis ausgefüllt werden muss. Der tschechische „Prüfungsalgorithmus“, der die potenziellen Einwirkungen des Verfassungsgerichts auf die fachgerichtliche Rechtsprechung und ihre Inhalte nach ihrer Intensität stuft und somit eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt, ist ein Ansatz, der auch in den anderen Staaten zu einer stärkeren Zu der diesbezüglichen polnischen Diskussion s. Banaszak/Milej (Fn. 27), 18 ff., 184. Brunner/Garlicki (Fn. 9), 53. 93 So z.B. Beschluss des Obersten Gerichts vom 26.5.1995, OSNAPiUS [Rechtsprechung des Obersten Gerichts] 1995 Nr. 23. 94 In Kraft beließ Art. 239 Abs. 3 polnische Verfassung hingegen die rechtskräftigen Gerichtsurteile und bestandskräftigen Entscheidungen anderer öffentlicher Organe, die unter Berücksichtigung der vom Verfassungsgerichtshof für allgemeinverbindlich erklärten Auslegung getroffen wurden. 95 Freytag, Die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 im Spiegel der gesamteuropäischen Verfassungsstandards, Recht in Ost und West 1998, 1 (12). 91
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Formalisierung der verfassungsgerichtlichen Argumentation führen könnte. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass dieser Test auf seiner dritten und letzten Stufe dieselben Fragen aufwirft, die auch in den anderen Staaten ohne eine solche stufenmäßige Prüfung das Kernproblem darstellen: die materielle Abgrenzung der Auslegung und Anwendung einerseits der Verfassung und andererseits des einfachen Rechts. Auf dieser dritten Stufe weist der tschechische Algorithmus keine weitere Feinuntergliederung mehr auf, sondern überlässt die Beantwortung der Abgrenzungsfrage den verfassungsgerichtlichen Einzelfallerwägungen. Auf dieser Stufe kann jedoch die sich zunehmend verdichtende Praxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts, die Auslegung der zugrunde liegenden Norm zunächst abstrakt im Hinblick auf die einschlägigen Grundrechte und erst danach konkret in der Gestalt, die sie in dem beschwerdegegenständlichen Urteil erhalten hat, zu bestimmen,96 sowie die deutsche Formel helfen, dass die zu prüfende Rechtsanwendung ihrerseits wie ein Rechtssatz behandelt wird, dessen Verfassungsmäßigkeit so geprüft wird, wie dies bei Rechtsvorschriften gang und gäbe ist. Die intuitive Anwendung dieser letztgenannten Gedankenoperation in Ungarn und auch anderswo zeigt, dass sich auch andere Verfassungsgerichte als das deutsche Bundesverfassungsgericht wohl damit fühlen. Aus Gründen der dogmatischen Sauberkeit und auch der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der richterlichen Entscheidungsfindung ist es vorzugswürdig, wenn die Gerichte diesen Gedankengang offenlegen und vielleicht sogar begrifflich-dogmatisch verfestigen, wie dies in Deutschland mit dem Begriff der Schumann‘schen Formel geschehen ist.
3. Die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Wie im Vorangehenden bereits deutlich wurde, kulminieren in der Frage der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und ihres genauen Umfangs zahlreiche Probleme im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Justiz. Die Problematik der Bindungswirkung manifestiert sich über die eher technischen Aspekte ihres Gegenstands und ihrer Grenzen hinaus bei der Auf hebung von Rechtsvorschriften, aber auch bei der Auf hebung einer gerichtlichen Entscheidung.
a) Die technische Seite: Gegenstand und Grenzen der Bindungswirkung Jede Rechtsordnung, die Gerichtsurteilen Bindungswirkung zuweist, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, welcher Teil des Urteils Bindungswirkungen erzeugt: (nur) der Tenor oder (auch) die Gründe? Auch die Grenzen der Bindungswirkung sind in mehrfacher Hinsicht regelungsbedürftig. Dieser Regelungsbedarf stellt sich bei Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht anders dar als bei Urteilen der ordentlichen Justiz. In dieser Frage haben die mitteleuropäischen Länder eigene, wenn auch vergleichbare Lösungen gewählt. 96
Hierzu s. Schlaich/Korioth (Fn. 76), 218 ff.
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Tenor – Gründe Bis heute ist es strittig, ob einem verfassungsgerichtlichen Urteil Bindungswirkung nur hinsichtlich des Tenors oder auch für seine Gründe zukommt. Normativ angeordnet ist eine weit reichende Bindungswirkung bei der Urteilsverfassungsbeschwerde. Wenn das Verfassungsgericht ein Gerichtsurteil wegen Verfassungswidrigkeit auf hebt, muss das ordentliche Gericht ein erneutes Urteil erlassen, in dem es die Rechtsansicht des Verfassungsgerichts berücksichtigt. Das schreiben ausdrücklich § 43 Abs. 3 des ungarischen Verfassungsgerichtsgesetzes sowie indirekt § 31 Abs. 1 des deutschen Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und Art. 89 Abs. 2 der tschechischen Verfassung vor. Das bedeutet, dass das befasste Gericht nicht nur an die im Tenor zum Ausdruck kommende Auf hebung seines früheren Urteils gebunden ist, sondern auch an die Rechtsansichten des Verfassungsgerichts, die somit den Inhalt des neuen Urteils steuern können. Sanktioniert wird ein eventuelles Abweichen des befassten Gerichts von der Rechtsansicht des Verfassungsgerichts durch die Möglichkeit einer erneuten Urteilsverfassungsbeschwerde, in der dann das erneute Urteil der ordentlichen Gerichte aufgehoben werden kann, wenn es den verfassungsgerichtlichen Standpunkt nicht hinreichend umsetzt. Jenseits der Sondersituation der erfolgreichen Urteilsverfassungsbeschwerde ist der Gegenstand der Bindungswirkung zwischen Verfassungsgerichten und ordentlichen Gerichten umstritten. Der modus ivendi in Österreich liegt darin, dass sich die Höchstgerichte wegen ihrer Gleichrangigkeit grundsätzlich – mit gewissen Ausnahmen – die gegenseitige Bindungswirkung absprechen und Urteilen anderer Höchstgerichte inhaltlich dann folgen, wenn sie sie für überzeugend halten. Bei dieser Überzeugungsarbeit spielen naturgemäß die Gründe eine besondere Rolle. Im Übrigen tendieren die Verfassungsgerichte dazu, die Bindungswirkung ihrer Entscheidungen nicht nur auf den Tenor zu beschränken, und postulieren einen bindenden Charakter auch für ihre in den Gründen zum Ausdruck kommenden Rechtsansichten. Sofern diese Rechtsansichten das Verfassungsrecht betreffen, liegt darin eine nachvollziehbare Logik: Das Verfassungsgericht ist der letztinstanzliche Interpret der Verfassung, weshalb von seinem verfassungsrechtlichen Standpunkt die einfache Gerichtsbarkeit nicht abweichen können soll. Derart rigoros wird die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Urteilsbegründungen allerdings nirgendwo vertreten. Die Verfassungsgerichte in Deutschland und Tschechien bestehen nur auf der Bindungswirkung der „tragenden Gründe“ ihrer Entscheidungen, und was die tragenden Gründe einer Entscheidung sind, ist im Einzelfall im Dialog zwischen Verfassungsgericht und ordentlichen Gerichten herauszuarbeiten und kann sich im Laufe der Zeit auch ändern. Aus der Denkfigur der tragenden Gründe können so unterschiedliche Konsequenzen wie die Verbindlichkeit der (außerhalb des Tenors getätigten) Aussagen zur verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift oder die Begründung eines Abweichungsspielraums für die ordentlichen Gerichte abgeleitet werden. Was die Befolgung verfassungsgerichtlicher Standpunkte durch die ordentliche Justiz in der Praxis anbelangt, so bilden Polen und Ungarn jeweils die Enden eines Kontinuums, auf dem sich die übrigen Gerichte irgendwo dazwischen einordnen. Am „gehorsamsten“ sind die ungarischen Gerichte: Sie behandeln Verfassungsge-
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richtsurteile wie Rechtsvorschriften und wenden sie an, ohne sie zu hinterfragen. Das betrifft nicht nur den Tenor, sondern auch die Gründe, die herangezogen werden, um den Tenor auszulegen. Da die ungarischen Gerichte bei der Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen ebenso übertrieben positivistisch und schematisch vorgehen wie bei der Auslegung von Rechtsvorschriften und v.a. nach dem Wortlaut und nicht nach dem Telos fragen, ergibt sich in der Praxis bisweilen ein gewisser Spielraum für eigene Rechtsansichten. Am anderen, „rebellischen“ Ende des Spektrums nehmen in Polen das Oberste Gericht und das Hauptverwaltungsgericht sowie die ihnen nachgeordneten Gerichte für sich in Anspruch, sich eigene Gedanken über die Verfassung und ihre Inhalte zu machen. Das bedeutet faktisch die Ablehnung einer Bindungswirkung der Gründe, auch der tragenden Gründe, und führt bestenfalls zu einem Zustand wie in Österreich: Sofern sie die verfassungsgerichtliche Argumentation überzeugend oder passend finden, folgen die ordentlichen Gerichte ihr, ansonsten zögern sie nicht, eigene Vorstellungen zu entwickeln.
Dreifache Begrenzung der Rechtskraft Die Rechtskraft und damit die Bindungswirkung eines gerichtlichen Urteils unterliegt herkömmlicherweise drei Beschränkungen: einer objektiven, die auf den Gegenstand des Rechtsstreits abstellt; einer zeitlichen; und einer subjektiven, die die Rechtskraft auf die Parteien und übrigen Teilnehmer an dem Rechtsstreit beschränkt.97 Bei der Normenkontrolle entfällt naturgemäß die subjektive Beschränkung der Rechtskraft, denn wenn das Verfassungsgericht eine verfassungsgerichtliche Norm auf hebt, setzt es einen actus contrarius zum Akt des Normgebers. Und so, wie der Akt des Normgebers gegen alle Normunterworfenen Geltung entfaltet, muss auch der actus contrarius gegenüber Jedermann wirken. Daraus ergibt sich, dass eine verfassungsgerichtliche Auf hebung einer Rechtsvorschrift nur erga omnes gelten kann. Eine Beschränkung der Bindungswirkung wegen des Verfahrensgegenstands ist allerdings auch bei einem Normenkontrollurteil denkbar: Insoweit dieses auf einen bestimmten Aspekt nicht eingegangen ist, diesen nicht geprüft oder jedenfalls nicht entschieden hat, tritt die Rechtskraft nicht ein und sind spätere Verfahren denkbar. Am anderen Ende des Spektrums der Rechtskraft stehen Verfassungsgerichtsentscheidungen über Urteilsverfassungsbeschwerden. Sie teilen letztlich die gegenständlichen, zeitlichen und persönlichen Beschränkungen des Ausgangsurteils, das den Prüfungsgegenstand bildet. Die Rechtskraft einer Verfassungsgerichtsentscheidung, die ein Urteil eines obersten Gerichts wegen Verfassungswidrigkeit auf hebt, steht mithin einer Entscheidung desselben obersten Gerichts in einem vergleichbaren Sachverhalt, aber mit anderen Parteien, in der das oberste Gericht dieselbe Rechtsansicht vertritt wie in dem verfassungsgerichtlich aufgehobenen Urteil, nicht entgegen. Lediglich eine Bindungswirkung der – tragenden oder gesamten – Gründe des Verfassungsgerichtsurteils könnte das oberste Gericht an einer Wiederholung seiner verfassungswidrigen Rechtsansicht in einem anderen Verfahren hindern. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, 1995, 331 ff.
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Von besonderer Bedeutung bei der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Urteile ist die zeitliche Komponente. Verfassungsgerichtsurteile entfalten ihre Bindungswirkung nur so lange, wie die Tatsachen und die Rechtsvorschriften unverändert bestehen. Das betrifft auch die Verfassung selbst: Auch ihre Änderung kann die Bindungswirkung eines verfassungsgerichtlichen Urteils in Frage stellen. Hierbei spielt auch der sog. Verfassungswandel eine gewisse Rolle: Wegen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller u.ä. Prozesse verändern sich die sozialen und rechtlichen Anschauungen über den Inhalt bestimmter Rechtsbegriffe, ohne dass sich am Verfassungstext etwas ändert. Ein Beispiel für den Verfassungswandel ist die fortschreitende Ausweitung des Eigentumsschutzes auf nicht sachenrechtliche Rechtspositionen, weil in der sozialen Marktwirtschaft, aber auch in den kapitalschwachen Gesellschaften des ehemaligen Sozialismus diese nicht sachenrechtlichen Rechtspositionen wie z.B. erarbeitete Sozialansprüche die Absicherungsfunktion einnehmen, die das Eigentum im 19. Jh. für das Besitzbürgertum innehatte. Ein weiteres Beispiel ist die Entkirchlichung des Ehebegriffs, die dazu führt, dass in zahlreichen Staaten die Ehe nunmehr auch gleichgeschlechtlichen Paaren offensteht; die ebenfalls zahlreichen Staaten, die in den letzten Jahren den heterosexuellen Ehebegriff auf Verfassungsebene festgeschrieben haben, zeigen, dass auch sie diesen Verfassungswandel ernst nehmen und anerkennen: Ansonsten wäre die Einführung normativer Bastionen gegen eben diesen Verfassungswandel unnötig und überflüssig. Derselbe Befund ergibt sich aus der Betrachtung der Bedeutungsänderung von Staatsvolk und Staatsgebiet durch die europäische Integration: Auch hier suchen manche Staaten ihr Heil in Verfassungsänderungen, die die traditionelle „westfälische“ Souveränitätsauffassung normativ verankern sollen. Diesem ungeschriebenen Bedeutungswandel durch die Änderung der zugrunde liegenden sozialen Anschauungen ist die Verfassung mehr als andere Rechtsnormen ausgesetzt, weil sie einen besonders hohen Abstraktionsgrad aufweist. Dieser Verfassungswandel setzt der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Urteile eine zeitliche Grenze: Sie hat nur so lange Bestand, wie sich der Inhalt der ihnen zugrunde liegenden Verfassungsinstitute nicht gewandelt hat.
b) Aufhebung von Rechtsvorschriften Allgemeine Aspekte Die einfachen Gerichte sind an die Auf hebung einer Rechtsvorschrift ebenso gebunden wie an ihren Erlass. Wenn also das Verfassungsgericht eine Rechtsvorschrift als verfassungswidrig auf hebt, sind die Gerichte daran gehindert, diese Rechtsvorschrift nach dem Auf hebungszeitpunkt noch anzuwenden. Nicht mehr so eindeutig ist die Lage, wenn der Normgeber später wieder eine Norm identischen Inhalts erlässt. Streng genommen erfasst die Bindungswirkung des Auf hebungsurteils diese neue Norm nicht. Die ordentlichen Gerichte und die Rechtsunterworfenen haben allerdings die Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit dieser erneuten Norm im Wege der
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konkreten Normenkontrolle, der Verfassungsbeschwerde oder, wo vorhanden, der Popularklage im Bereich der abstrakten Normenkontrolle98 überprüfen zu lassen. Die verfassungsgerichtliche Entfernung einer Rechtsvorschrift aus dem Normenbestand wirft für die ordentliche Justiz zwei Probleme auf. Erstens muss das befasste ordentliche Gericht seine Entscheidung nun ohne die betroffene Rechtsvorschrift fassen und folglich den Sachverhalt angesichts des veränderten normativen Umfelds neu interpretieren. Zweitens ist abzuwägen, was mit den bisher aufgrund der aufgehobenen Rechtsvorschrift ergangenen Gerichtsurteilen geschieht.99 Hierbei spielt eine Rolle, ob die Auf hebung ex tunc wie regelmäßig in Deutschland oder ex nunc wie regelmäßig in den übrigen hier betrachteten Staaten erfolgt, aber auch Aspekte wie der Primat der Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit einerseits und der Schutz wohl erworbener Rechte andererseits sind gegeneinander abzuwägen. Idealerweise regelt der Gesetzgeber diese Frage in den Verfahrensordnungen; bisweilen finden sich auch Bestimmungen im Verfassungsrang. Fehlt es daran oder sind diese Vorschriften unvollständig, ist es zu begrüßen, wenn sich das Verfassungsgericht selbst zum Schicksal der alten Rechtsprechung oder jedenfalls zu dem verfassungsrechtlichen Rahmen, der bei der Beurteilung dieser Frage zu beachten ist, äußert. Ansonsten müssen die ordentlichen Gerichte im Einzelfall die genannten Abwägungen treffen.
Fallbeispiel Polen Von den hier betrachteten Ländern ist das Beispiel Polens besonders aufschlussreich, insbesondere weil weder die Verfassung noch das einfache Recht die Folgen einer verfassungsgerichtlichen Auf hebung einer Rechtsnorm umfassend und widerspruchsfrei regeln. Zunächst hat das Verfassungsgericht selbst einen in Art. 190 Abs. 3 der polnischen Verfassung niedergelegten recht weiten Spielraum bei der Bestimmung des Datums, ab wann die für verfassungswidrig erkannte Rechtsnorm ihre Geltung verliert; einen solchen Spielraum nehmen auch die Verfassungsgerichte z.B. in Deutschland oder Ungarn für sich in Anspruch. In Polen kann das Verfassungsgericht etwa bestimmen, dass die verfassungswidrige Norm erst nach Ablauf einer bestimmten Frist außer Kraft tritt, z.B. um dem Gesetzgeber Zeit zu geben, das Entstehen einer Rechtslücke zu verhindern. Die verfassungsgerichtliche Auf hebung bindet auch die ordentlichen Gerichte. Für Individualakte der Justiz oder der Verwaltung, die aufgrund der aufgehobenen Norm erlassen wurden, sieht die polnische Verfassung selbst in Art. 190 Abs. 4 die Auf hebung vor und verweist wegen der Einzelheiten auf die Verfahrensordnungen. Die Verfahrensordnungen enthalten in unterschiedlichem Maße Vorschriften über die Wiederaufnahme, die alle einen Parteiantrag voraussetzen. Eine Wiederaufnahme von Amts wegen ist in Polen grundsätzlich nicht statthaft. Unklar ist, inwieweit Diese Möglichkeit bestand z.B. in Ungarn von 1989/90 bis 2011. Das Verständnis des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Spielräume, die konkret der Gesetzgebung gewährt werden, steht dabei auch damit im Zusammenhang, wie exklusiv bzw. mehrheitlich das Verfassungsgericht mit Aufgaben der Normenkontrolle befasst ist und welche Legitimation es darüber hinaus auch aus anderen gerichtlichen Zuständigkeiten bezieht. Dazu nur Ferreres Comella (Fn. 13), 1730 ff. 98
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die Fachgerichte im Wiederaufnahmeverfahren an die Rechtsansicht des Verfassungsgerichts gebunden sind. Außerdem bleibt es dem ordentlichen Gericht im Einzelfall überlassen, die sich aus Art. 190 Abs. 4 der polnischen Verfassung ergebenden Gefahren für die Rechtssicherheit und die wohlerworbenen Rechte auszugleichen. Die Lage wird dadurch noch komplizierter, dass Art. 190 Abs. 4 der polnischen Verfassung mit den Bestimmungen in Art. 190 Abs. 3 über die verfassungsgerichtliche Festlegung des Zeitpunkts des Außerkrafttretens der verfassungswidrigen Norm nicht abgestimmt ist. Für die einfachen Gerichte bedeutet das, dass ihre Lage noch schwieriger wird, wenn das Verfassungsgericht eine Norm erst ab einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt auf hebt. Dann stellt sich nicht nur die Frage, ob die abgeschlossenen Fälle neu aufgenommen werden und wenn ja, wie dann zu entscheiden ist; es ist auch zu entscheiden, auf welcher Grundlage Fälle zu beurteilen sind, die bis zum Außerkrafttreten der Norm zu entscheiden sind. Kann das einfache Gericht in einem solchen Fall von der Anwendung der Norm absehen, weil sie – durch das Verfassungsgerichtsurteil nachgewiesen – verfassungswidrig ist? Oder muss es das Diktum des Verfassungsgerichts beachten, dass die Anwendbarkeit der Norm erst später endet? Der Sinn der Auf hebung pro futuro liegt in der Überlegung, dass der Normgeber Zeit haben soll, die entstehende Rechtslücke rechtzeitig zu schließen. Gilt diese Überlegung auch in anhängigen oder noch entstehenden Gerichtsverfahren? Wenn ja, was geschieht mit einem solchen Gerichtsverfahren, wenn es mit einem Urteil aufgrund der verfassungswidrigen, aber noch anwendbaren Norm abgeschlossen wird: Kann dann nach dem Zeitpunkt des Außerkrafttretens der Vorschrift eine Wiederaufnahme verlangt werden? Oder darf, soll oder muss das Gericht das Verfahren bis zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens der alten oder des Erlasses einer neuen Vorschrift aussetzen, d.h. jedenfalls zeitweise Rechtsverweigerung gegenüber dem Bürger betreiben? Der polnische Verfassungsgerichtshof war früher der Auffassung, dass die Gerichte die verfassungswidrigen Vorschriften bis zur Änderung des Gesetzes anwenden sollten. Dieser Ansicht schloss sich das Oberste Gericht an. Diese „strikte” Auslegung führte zu ungerechten Folgen, und das Oberste Gericht ließ später die Nichtanwendung der verfassungswidrigen Gesetze zu, falls zwingende Gründe dies erforderten. Diese Praxis je nach Einzelfallgerechtigkeit hatte aber negative Auswirkung auf die Rechtssicherheit. Der Verfassungsgerichtshof versuchte den Divergenzen dadurch entgegenzuwirken, dass er in der Urteilsbegründung die Folgen (mindestens teilweise) festlegte. Da aber die Begründung keine bindende Kraft hat, sind die sog. Applikationsurteile entstanden, in denen der Verfassungsgerichtshof schon im Tenor festlegt, welche Folgen seine Entscheidung für die Rechtsanwendung hat. Sie bringen zwar Klarheit und eine eindeutige Rechtslage, aber es fehlt ihnen die unmittelbare verfassungsrechtliche oder gesetzliche Grundlage. Diese fehlende gesetzliche Grundlage hätte eigentlich dazu führen müssen, dass die Gerichte sie missachten. Jedoch passierte das genaue Gegenteil. Da der Verfassungsgerichtshof oft feststellte, dass eine Wiederaufnahme aufgrund seines Urteils nicht möglich ist, bezogen sich die Gerichte gerne auf diese Aussagen, was sie aber nur dann folgerichtig tun konnten, wenn sie auch andere Applikationsformeln des Verfassungsgerichtshofs befolgten. Die praktische Anwendbarkeit des Rechts zwang also die Obergerichte und den Verfassungsgerichtshof zu einem Dialog und zur Zusammenarbeit.
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Vergleich mit Österreich Wegen der ähnlichen Grundstruktur der Verfassungsgerichtsbarkeit sind die Herausforderungen in Österreich der polnischen Lage ähnlich. Das Verhältnis zwischen den Höchstgerichten wird nämlich wesentlich dadurch bestimmt, welche Wirkungen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs besonders in Normenkontrollverfahren entfalten. Die auf hebende („positive“) Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in einem Normenkontrollverfahren – also die Entfernung einer generellen Norm aus dem Rechtsbestand – entfaltet Wirkung erga omnes. Solchen Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs kommt allgemeine Wirkung zu, sie sind daher nicht nur im Anlassfall von Bedeutung. Zu beachten ist dabei, dass die Auf hebung der Norm nach allen Seiten hin grundsätzlich nur pro futuro wirkt. Auf die vor der Auf hebung verwirklichten Sachverhalte ist die aufgehobene Bestimmung im Regelfall weiterhin anzuwenden, mit der Ausnahme des Anlassfalles.100 Der Verfassungsgerichtshof kann diese „Anlassfallwirkung“ jedoch auch ausdehnen und im Einzelfall eine teilweise oder generelle Rückwirkung der Auf hebung aussprechen.101 Hiervon macht er beispielsweise Gebrauch, wenn die Gesetzesstelle wegen eines Verstoßes gegen die EMRK verfassungswidrig ist und eine rein auf den Anlassfall beschränkte Rückwirkung der Auf hebung vor dem Hintergrund der Art. 13 und 14 EMRK problematisch wäre.102
Vergleich mit Deutschland In Deutschland zieht sich das Bundesverfassungsgericht in derartigen Fällen auf die Formel zurück, dass die Auf hebung der verfassungswidrigen Rechtsvorschrift zu einem Zeitpunkt in der Zukunft aus dem Grund erfolgt, weil die sofortige Auf hebung „größeren Schaden für die Verfassung“ verursache als ihre Auf hebung zu einem zukünftigen Zeitpunkt.103 Dieser Überlegung können sich die Fachgerichte relativ einfach anschließen: Auch in ihrem Prozess müssen sie Schaden für das Grundgesetz vermeiden, und wenn verfassungsgerichtlich festgestellt ist, welches Szenario den größeren Schaden verursacht, können die ordentlichen Gerichte dem problemlos folgen und vorläufig in Kraft bleibende verfassungswidrige Normen anwenden – denn ihre Nichtanwendung wäre ja für das Verfassungsganze und/oder für den Bürger schädlicher. 100 Diese bisweilen so genannte „Ergreiferprämie“ ist in Art. 140 Abs. 7 B-VG geregelt. Eine vergleichbare Regelung kannte die ungarische unechte Verfassungsbeschwerde von 1990 bis 2011. 101 Fuchs/Segalla, Grundrechtsschutz durch den Verfassungs- und den Verwaltungsgerichtshof, in: Heißl (Hrsg.), Handbuch Menschenrechte, 2009, Rz. 33/1 (Rz. 33/17 ff.); Rohregger/Schuch, Die Rechtswirkungen auf hebender Erkenntnisse im verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 2010, 297 (304 ff.); Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 2016, Rz 1033. 102 Fuchs/Segalla (Fn. 101), Rz 33/20 unter Verweis auf VfSlg 15.129/1998. 103 So z.B. BVerfGE 109, 190. Dazu Ipsen, Nichtigerklärung oder „Verfassungswidrigerklärung“ – Zum Dilemma der verfassungsgerichtlichen Normenkontrollpraxis, JZ 1983, 41 ff.; Sachs, Tenorierung bei Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 1982, 23 ff.
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Noch einmal: Polen In Polen hingegen entsteht aus einer widersprüchlichen Verfassungslage und einer lückenhaften und ebenfalls widersprüchlichen Gesetzgebung eine Situation, die letztlich dem befassten ordentlichen Gericht die Entscheidung auf bürdet, den Geltungsbereich verfassungsgerichtlicher Urteile im Einzelfall zu bestimmen und den Rechtsstaat, den Vorrang der Verfassung, den Schutz wohlerworbener Rechte, der konkret betroffenen Grundrechte und des fairen Verfahrens sowie den Rechtsgewähranspruch des Bürgers gegeneinander abzuwägen und hierbei im Einzelfall zu einer verfassungs- und gesetzeskonformen Lösung zu kommen. Dass dies zu erratischen Einzelfallentscheidungen führt und zu Lasten der Rechtsklarheit und der rechtsstaatlich erwünschten Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung geht, liegt auf der Hand. Praeter legem sollen die sog. Applikationsurteile des polnischen Verfassungsgerichts den Gerichten eine Hilfe geben, indem sie im Tenor regeln, was mit den bereits entschiedenen Altfällen zu geschehen hat. Meist schließen sie die Wiederaufnahme aus, und da dies das Leben der ordentlichen Gerichte wesentlich erleichtert, sind diese geneigt, die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Urteile in diesem Fall auch ohne klare normative Anordnung anzuerkennen.
c) Aufhebung eines Gerichtsurteils Die verfassungsgerichtliche Auf hebung eines Gerichtsurteils ist für sich genommen genauso ein klarer actus contrarius wie die Auf hebung einer Rechtsvorschrift. Allerdings wirft auch die Auf hebung eines Urteils (Kassation) zahlreiche Folgefragen auf. Mit der Auf hebung des verfassungswidrigen Gerichtsurteils entsteht die Notwendigkeit, den Fall neu zu entscheiden. Das kann ein Einfallstor für die verfassungsgerichtliche Einflussnahme auf die Anwendung des einfachen Rechts sein. Wenn sich das Verfassungsgericht nicht auf den Ausspruch der Auf hebung beschränkt, sondern – entweder im Tenor oder in den Gründen – inhaltliche Vorgaben an das erneute Urteil macht, dann ist die Gefahr vorhanden, dass es sich nicht an die Abgrenzung von Verfassungsrecht und einfachem Recht hält104 und seine Vorgaben nicht nur auf das Verfassungsrecht bezieht, sondern auch auf die Auslegung des einfachen Rechts. Tut es dies, stellt sich die Frage, inwieweit das einfache Gericht an derartige Vorgaben des Verfassungsgerichts gebunden ist. Letztlich setzt sich im Umfang der Bindungswirkung die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fort. Wenn nämlich deren Subsidiarität nicht alleine der Reduzierung der Arbeitsbelastung des Verfassungsgerichts dient, sondern auch die Autonomie der Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts schützt, dann muss sie sich auch im Umfang der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen über Urteilsverfassungsbeschwerden niederschlagen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts muss einerseits sicherstellen, dass ein schwer verfassungswidriges Gerichtsurteil nicht in Geltung bleibt. Andererseits muss sie die Näher hierzu oben Punkt II.2.
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raison d’être der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Urteilsverfassungsbeschwerde respektieren: die Geltung der Verfassung in der einfach-gerichtlichen Rechtsanwendung zu gewährleisten. Aus dieser Funktion der Urteilsverfassungsbeschwerde folgt nicht, dass das Verfassungsgericht die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts determiniert und somit die Rolle der Fachgerichte einnimmt. Gegen einen Übergriff des Verfassungsgerichts auf die Frage der Richtigkeit der Anwendung des einfachen Rechts sprechen auch die verfassungsrechtliche institutionelle Trennung von Verfassungs- und ordentlicher Justiz und die richterliche Unabhängigkeit, die auch gegenüber anderen Richtern und Verfassungsrichtern besteht.
d) Zusammenschau Die fünf untersuchten mitteleuropäischen Rechtsordnungen haben gemeinsam, dass sie Verfassungsgerichtsurteilen eine gewisse Bindungswirkung zuschreiben, aber auch, dass diese Bindungswirkung, ihr Umfang und ihre Konturen zumindest strittig sind, was immer wieder zu Konflikten führt. Für die Konflikte zwischen Verfassungsgericht und Obergerichten bietet Tschechien mit seinem „Krieg der Gerichte“ das beste Beispiel.105 Wie bereits erwähnt, fiel es der Justiz am schwersten, die neue Institution Verfassungsgericht zu akzeptieren, was am Anfang so weit ging, dass die Gerichte sogar die Bindungswirkung der Verfassungsgerichtsentscheidungen in Zweifel zogen. Sowohl im konkreten Fall als auch im Allgemeinen zögerten die Gerichte, die Verfassungsjudikatur zu berücksichtigen. Sie zogen in Zweifel, dass ihre Entscheidungen statthafter Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein könnten,106 und hoben hervor, dass das Verfassungsgericht keinen Bestandteil der Gerichtshierarchie bilde und daher nicht berechtigt sei, Gerichtsurteile zu überprüfen. Mithin zogen sie aus der zutreffenden systematischen Auslegung der Verfassung in Bezug auf die Stellung des Verfassungsgerichts zur Justiz eine im Ergebnis falsche Schlussfolgerung in Bezug auf die verfassungsgerichtlichen Kompetenzen. Obwohl das Verfassungsgericht diese Argumente berechtigterweise zurückwies, zog sich der Konflikt noch lange hin. Neben der sicherlich bestehenden psychologischen und politischen Seite stand dogmatisch die Frage der Bindungswirkung der Urteile im Mittelpunkt. Die tschechische Verfassung formuliert lakonisch in Art. 89 Abs. 1, dass die auf gesetzlich festgelegte Weise verkündeten Entscheidungen des Verfassungsgerichts vollstreckbar und gemäß Abs. 2 für sämtliche Organe und Personen verbindlich sind. Wegen der fehlenden Klarstellungen in den Prozessordnungen107 wurde die Bindungswirkung bezweifelt, was als eine Nachwirkung der Dazu s.o. Fn. 64. So eröffnen die tschechische Verfassung und das tschechische Verfassungsgerichtsgesetz die Verfassungsbeschwerde gegen eine rechtskräftige Entscheidung eines Organs, das öffentliche Gewalt ausübt; anders als z.B. das ungarische Grundgesetz nennen die tschechischen Vorschriften das Gerichtsurteil nicht ausdrücklich. 107 Wie das Verfassungsgericht in einer Entscheidung darlegt, wurden die Prozessordnungen nicht an die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit und die damit einhergehenden Veränderungen angepasst, denn es wurde keinerlei Bezugnahme auf das Verfassungsgericht oder seine Urteile eingefügt: Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 425/97 vom 2.4.1998. 105
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überkommenen formalistischen sozialistischen Rechtspraxis gewertet werden kann. Das führte immer wieder zu Ping-Pong-Verfahren zwischen den Gerichten,108 deren Intensität in der letzten Zeit zwar wesentlich abnahm, aber bis heute hin und wieder zu Konfliktsituationen führt.109 Diese Konflikte sind heute jedoch von anderer Qualität, denn meist geht es darum, dass die Argumentation des einen Gerichts das andere nicht überzeugt. Das Oberste Verwaltungsgericht versucht deshalb auch bisweilen auf Umwegen, die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu neutralisieren und beispielsweise durch eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof eine seine Meinung bestätigende Rechtsauslegung zu bekommen. Ein aufschlussreicher Fall war der der slowakischen Renten, in dem das Oberste Verwaltungsgericht versuchte, den EuGH in Form einer Vorlagefrage von seiner Perspektive der Dinge zu überzeugen, was letzten Endes dazu führte, dass das Verfassungsgericht auf Unanwendbarkeit des seiner Ansicht nach ultra vires ergangenen EuGH-Urteils erkannte.110 Der Konflikt entfaltete aber auch nicht zu unterschätzende positive Auswirkungen, weil er – etwa im Gegensatz zu Ungarn111 – eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion auslöste112 und sich eine beachtenswerte Rechtsprechung zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen herausbilden konnte, die zu dem – nicht immer spannungsfreien, aber oft inspirierenden – Dialog zwischen den ordentlichen Gerichten und dem Verfassungsgericht beigetragen hat. Die Debatte kreiste im Wesentlichen um zwei Punkte,113 nämlich einerseits um die allseits bekannte Streitfrage, welcher Teil einer Verfassungsgerichtsentscheidung für die Justiz bindend ist: der Tenor, die Begründung oder die tragende Gründe?, und anderseits darum, inwieweit eine kontinentale Auffassung vom Recht und der richterlichen Verfassungsgericht Erkenntnis III. ÚS 425/97 vom 2.4.1998. Verfassungsgericht Erkenntnisse Pl. ÚS 9/06 vom 2.6.2009, IV. ÚS 3465/12 vom 1.2.2013, Verfügung des Obersten Verwaltungsgerichts vom 14.6.2009, 6 A 76/2001 – 137. 110 EuGH, Urt. V. 22.6.2011 – C-399/09 (Marie Landtová ./. Česká správa sociálního zabezpečení); dazu Křepelka, „Českoslovenští“ důchodci v pasti práva Evropské unie [„Tschechoslowakische“ Rentner in der Falle des Rechts der Europäischen Union], Časopis pro právní vědu a praxi 2/2011, 131 ff.; Vincze, Das tschechische Verfassungsgericht stoppt den EuGH, EuR 2013, 194 ff. 111 Vincze, in: Jakab (Hrsg.), Az Alkotmány kommentárja (Fn.60). 112 Holländer, Role Ústavního soudu při uplatňování Ústavy v judikatuře obecných soudů [Die Rolle des Verfassungsgerichts bei der Anwendung der Verfassung in der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte], in: Šimíček (Hrsg.), Ústava České republiky po pěti letech [Die Verfassung der Tschechischen Republik nach fünf Jahren], 1998; Klíma, Závaznost rozhodnutí Ústavního soudu – je problém Ústavy, nebo zákona o Ústavním soudu? [Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichts – ist das ein Problem der Verfassung oder des Verfassungsgerichtsgesetzes?], in: Kysela (Hrsg.), Zákon o Ústavním soudu po třinácti letech [Das Gesetz über das Verfassungsgericht nach 13 Jahren], 2006, 78 ff.; Kühn, K otázce závaznosti rozhodnutí Ústavního soudu [Zu der Frage der Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichts], Právník 2001/9, 857 ff.; Procházka, Závaznost rozhodnutí Ústavního soudu ČR [Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichts], Bulletin advokacie 1995/8, 32 ff.; Procházka, Problémy s ústavností [Probleme mit der Gesetzmäßigkeit], Správní právo 1997/2, 65; Sládeček/Mikule, O závaznosti rozhodnutí Ústavního soudu [Über die Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichts], Bulletin advokacie 1995/8, 36 ff.; Ševčík, Ústavní soud ČR a soudy obecné [Das Verfassungsgericht der ČR und die ordentlichen Gerichte], Bulletin advokacie 1997/5, 7. 113 Holländer, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Fn. 9), 46 f.; Šrůtková, Závaznost rozhodnutí Ústavního soudu z pohledu doktríny a judikatury [Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichts unter dem Gesichtspunkt der Lehre und der Rechtsprechung], Časopis pro právní vědu a praxi 4/2009, 293 ff. 108 109
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Unabhängigkeit mit einem Quasi-Präzedenzsystem der Verfassungsgerichtsbarkeit zu vereinbaren ist. Ein weiterer Aspekt der Konfliktlage ist auch die eher zurückhaltende Praxis der Richtervorlagen. Das tschechische Oberste Verwaltungsgericht arbeitete mehrere Konstellationen aus, in denen es seiner Auffassung nach nicht notwendig ist, sich an das Verfassungsgericht zu wenden, z.B. wenn eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist oder wenn es sich um eine Gesetzeslücke handelt, da das Kassationsrecht des Verfassungsgerichts eine solche ohnehin nicht schließen kann.114 Der Konflikt zwischen der Justiz und der Verfassungsgerichtsbarkeit ist allerdings nicht auf Tschechien beschränkt, sondern auch z.B. aus Deutschland oder Polen bekannt. In Polen kreiste das Problem einerseits um das gerichtliche Prüfungsrecht. Die polnischen Gerichte hatten kein Problem mit der Konstruktion, dass die Verfassung laut Art. 8 Abs. 1 der polnischen Verfassung den Gesetzen übergeordnet ist und dass daraus die Nichtanwendbarkeit oder die Nichtigkeit der Norm folgt. Dieses Problem waren sie gerne bereit, nach dem Prinzip lex superior derogat legi inferiori selbst zu lösen, was in ihren Augen die Zwischenschaltung des Verfassungsgerichts nicht erforderlich machte. Die Rechtsprechung war in dieser Hinsicht nicht einheitlich, dennoch sprach man von einem gemischten System der Normenkontrolle in Polen,115 was gut zeigt, dass der fehlende Respekt vor dem Verfassungsgericht nicht notwendig einen fehlenden Respekt vor der Verfassung bedeutet. Der andere Streitpunkt war die schon angesprochene Frage der allgemeinverbindlichen Auslegung der Gesetze und der verfassungsgerichtlichen Vorgaben an die fachgerichtliche Gesetzesinterpretation durch die verfassungskonforme Auslegung. In Deutschland tauchte dieser Konflikt eher in den Anfangsjahren der Verfassungsgerichtsbarkeit auf, und es dauerte einige Jahre, bis die Fachgerichtsbarkeiten und die Verfassungsgerichtsbarkeit gelernt hatten, miteinander auszukommen. Zur Herausbildung eines tragfähigen modus vivendi trug das Bundesverfassungsgericht mit seiner Zurückhaltung (keine Superrevisonsinstanz, Subsidiarität und die Hinnahme der fachgerichtlichen Rechtsauslegung als Tatsache) wesentlich bei. Andererseits ist das Bundesverfassungsgericht sehr restriktiv bei der Zulässigkeit von Richtervorlagen und erweckt den Eindruck, dass es nicht wünscht, sich mit ihnen zu beschäftigen. Schließlich kann festgestellt werden, dass die Grenzen der Bindungswirkung auch ein dogmatisches Schlupfloch darstellen, durch das die Fachgerichte ihren eigenen Rechtsstandpunkt in späteren Verfahren zur Geltung bringen können. Eine Methode für die Fachgerichte ist hierbei das, was im angelsächsischen Recht mit „distinguishing“116 bezeichnet wird: Das Gericht betont die Unterschiede im Tatsächlichen zwischen der bereits entschiedenen und der nun vor ihm anhängigen Sache. Eine andere Methode, zu der die Fachgerichte greifen, ist die Konzentration auf Fragen, 114 Oberstes Verwaltungsgericht, 2 As 9/2008 – 77 vom 13.6.2008, zustimmend Šimíček, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek (Fn. 68), Art. 95 Rn. 17 f.; Oberstes Verwaltungsgericht, 2 As 9/2008 – 77 vom 13.6.2008. 115 Czarny, Begrenzung der Staatsgewalt und Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, in: Calliess/ Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, ARSP Beiheft Nr. 83, 2002, 218 f.; Sarnecki, Die Entscheidungsbefugnis des Verfassungsgerichtes hinsichtlich der ihm vorgelegten Rechtsfragen, in: FS für Christian Starck, 2007, 932. 116 Dazu Kischel (Fn. 6), § 5 Rn. 29 f.
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die das Verfassungsgerichtsurteil nicht klar beantwortet: Diese Unklarheiten und Unsicherheiten ermöglichen den Fachgerichten, der Bindungswirkung des Verfassungsgerichtsurteils zu entkommen. Angesichts dieser Schlupflöcher ist in allen fünf Ländern die Qualität der verfassungsgerichtlichen Argumentation ein wichtiger Faktor für die tatsächliche Befolgung der Verfassungsgerichtsentscheidung durch die Justiz. Gerade in Ungarn kommt noch die formalistische „Normhörigkeit“ der Gerichte und der Rechtskultur generell hinzu, aufgrund derer es sich die ordentliche Justiz verbietet, die als gesetzesgleich angesehenen Verfassungsgerichtsurteile zu hinterfragen.
4. Verfassungskonforme Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung dient grundsätzlich zwei Aspekten, die beide das Konfliktpotenzial, das in der Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit angelegt ist, reduzieren sollen. Aus der Sicht des Verfassungsgerichts verschafft ihm die verfassungskonforme Auslegung die Möglichkeit, eine Rechtsvorschrift nicht auf heben zu müssen.117 Auf diese Weise wirkt es möglichst wenig auf die genuine Kompetenz des Gesetzgebers ein. Zudem kann es vermeiden, dass eine Rechtslücke entsteht und dass die nicht einfachen Fragen nach dem Schicksal der früher aufgrund der Rechtsvorschrift entschiedenen Fälle beantwortet werden müssen. Es genügt vielmehr regelmäßig eine gewisse Korrektur der bisherigen Rechtsprechung. Parallel hierzu haben auch die ordentlichen Gerichte ein Interesse an der verfassungskonformen Auslegung, und zwar aus vergleichbaren Gründen. Wenn sie von sich aus bestrebt sind, eine Auslegung des einfachen Rechts zu wählen, die vor der Verfassung Bestand hat, können sie vermeiden, dass ihre Auslegung – oder gleich die gesamte Rechtsvorschrift – für verfassungswidrig erklärt wird. Die eigenverantwortliche verfassungskonforme Auslegung ist mithin ein Weg für die Justiz, von sich aus dem Vorrang der Verfassung gerecht zu werden und so ihre Autonomie in der Rechtsauslegung gegenüber dem Verfassungsgericht zu wahren. Dabei zeigt der Blick auf die mitteleuropäischen Beispiele, dass zunächst gerade die ordentlichen Gerichte und v.a. die obersten Zivilgerichte die stärksten Vorbehalte gegen die verfassungskonforme Auslegung durch die Verfassungsgerichte hegten. Sie befürchteten, dass die Verfassungsgerichte, die die verfassungskonforme Auslegung als Mittel zur Schonung des parlamentarischen Gesetzgebers entwickelt hatten, diese in einer Art „Kollateralschaden“ dazu nutzen könnten, auf das ureigene Terrain der ordentlichen Gerichte vorzudringen, nämlich die richtige Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts.118 117 Auf die damit verbundene Gefahr, dass die beabsichtigte Schonung des Gesetzgebers dem Gesetz eine Bedeutung beimisst oder gar unterschiebt, die der Gesetzgeber, hätte er dies gesehen, nicht gewollt hat, soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Hierzu s. Papier, „Spezifisches Verfassungsrecht“ und „einfaches Recht“ als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. FG Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 1976, 432 ff.; Walter, in: Maunz/Dürig (Fn. 33), Art. 93 Rn. 112–113. 118 Diese Doppelschere und die damit einhergehenden Legitimationsfragen der verfassungskonfor-
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Während die vom österreichischen Verfassungsgerichtshof gefundenen – verfassungskonformen – Interpretationen einfachgesetzlicher Bestimmungen innerhalb des Rahmens der Bindungswirkung durchaus zu berücksichtigen sind und faktisch auch darüber hinausreichend von den Gerichten in aller Regel berücksichtigt werden, steht doch die prinzipielle Gleichrangigkeit der Höchstgerichte dem entgegen, dass etwa der Verfassungsgerichtshof seine Auslegung einer Norm generell den Fachgerichten gleichsam überstülpen könnte.119 In Deutschland, Tschechien und Ungarn fürchteten die obersten Zivilgerichte zunächst um ihre Autonomie in der Rechtsauslegung, die sie gleich zweifach bedroht sahen: durch den Geltungsanspruch der postdiktatorischen Verfassungen auch im Hinblick auf die Inhalte des einfachen Rechts (materielle Konstitutionalisierung des einfachen Rechts) und durch das Institut der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts durch das neue Verfassungsgericht (prozedurale Konstitutionalisierung der ordentlichen Justiz). Sobald sich aber die ordentlichen Gerichte grundsätzlich mit der Konstitutionalisierung des einfachen Rechts abgefunden und den Vorrang der Verfassung akzeptiert hatten, folgte auch bald die Akzeptanz der verfassungskonformen Auslegung. Nicht zuletzt eine zurückhaltende Handhabung dieser Auslegungsform durch die Verfassungsgerichte, die von der Verfassung und nicht von dem einfachen Recht her argumentierten, konnte die Bedenken der ordentlichen Gerichte zerstreuen, und der Weg war frei, dass diese die Möglichkeiten entdeckten, die ihnen die verfassungskonforme Auslegung bei der Bewahrung ihrer Auslegungsautonomie bietet. Speziell in Deutschland muss man den Befund einer zurückhaltenden Handhabung durch das Verfassungsgericht differenzieren: Während sich Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts tatsächlich meist zurückhalten, machen seine Kammerentscheidungen dem Rechtsanwender häufig weiter gehende Vorgaben, was allerdings wegen der „Herabzonung“ auf die Ebene der Kammern insgesamt weniger strukturelle Kritik auf sich zieht.120 Speziell in Tschechien war die Frage der verfassungskonformen Auslegung in den Rahmen der Bindungswirkung der Urteile eingebettet. Falls ein Urteil des Verfassungsgerichts über den Tenor hinaus eine Bindungswirkung entfaltet, dann sollen die tragenden Gründe auch in einem bestimmten Umfang verbindlich sein, zumindest diejenigen Teile der Argumentation, auf denen die Feststellungen des Tenors beruhen.121 Daraus folgt eine verfassungskonforme Auslegung für die ähnlich gelagerten Konstellationen, insbesondere in dem Fall, dass die Rechtsvorschrift nicht men Interpretation stellen sich auch im internationalen Diskurs. Dazu s. z.B. Ferreres Comella (Fn. 13), 1722. 119 Das Instrument der verfassungskonformen Interpretation per se wie auch die Reichweite seiner Anwendung durch den Verfassungsgerichtshof sind in Österreich aber nicht unumstritten. Zur Debatte im Lichte der von Hans Kelsen geprägten Anschauung des Verfassungsgerichtshofs als negativem, nicht aber positivem Gesetzgeber s. Kneihs, Wider die verfassungskonforme Interpretation, Zf V 2009, 354; zur verfassungskonformen Auslegung als Mittel der verfassungsgerichtlichen Steuerung der ordentlichen Gerichte s. Grabenwarter (Fn. 15), Rn. 70, 104 ff.; generell zu dieser Debatte s. auch Stone Sweet, Why Europe Rejected American Judicial Review and Why it May Not Matter, Michigan Law Review 101 (2003), 2745 (2767 ff ). 120 Farahat (Fn. 38), Rn. 45 f., 60. 121 Interessanterweise ist in Deutschland der vergleichbare Streit im Wesentlichen ausgestanden.
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aufgehoben, sondern mit einem bestimmten Inhalt aufrechterhalten wird.122 Derartige Entscheidungsformen ähneln der ungarischen dogmatischen Rechtsfigur der „verfassungsrechtlichen Anforderung“, auf die sogleich eingegangen wird. Wenn aber zur Schonung des Gesetzgebers die verfassungskonforme Auslegung Vorrang vor der Derogation (Auf hebung) der Norm haben soll, kann dies in der Praxis nur so funktionieren, dass die tschechische ordentliche Justiz in ihrer Spruchpraxis und vermittelt dadurch auch die Behörden die gegebene Vorschrift verfassungskonform auslegen.123 Das wiederum kann nur dann funktionieren, falls auch die Begründung bindend ist. Das Verfassungsgericht nimmt bisweilen die von ihm für verbindlich gehaltene Auslegung in den Tenor seiner Entscheidung auf, was zwar die Gefahr von Missverständnissen vermeidet, aber den offensichtlichen Nachteil hat, dass die zukünftige Rechtsentwicklung sehr eingeengt wird. Die in Tschechien dogmatisch entscheidende Frage ist, wann von einem ähnlich gelagerten Fall gesprochen werden kann. Ob die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände eine Abweichung von den Argumenten des Verfassungsgerichts erlauben, entscheidet sich gegebenenfalls in einer erneuten Verfassungsbeschwerde, was ein Anlass für den gerichtlichen Dialog gibt.124 Das tschechische Verfassungsgericht erklärt die zentralen tragenden Gründe der Entscheidung für ebenso bindend wie den Inhalt des Tenors, und falls die Justiz davon ohne gehörigen Grund, d.h. ohne die konkurrierenden Argumente kohärent vorzutragen, abweicht, verletzt sie die verfassungsrechtlichen Grundrechte, in erster Linie das Recht auf ein faires Verfahren, sowie Art. 89 Abs. 2 der Verfassung.125 Diese Anforderung ist mit einer Selbstbindung des Verfassungsgerichts an eigene Entscheidungen verbunden.126 Diese innere Bindungswirkung von Verfassungsgerichtsentscheidungen bildet nämlich die logische Grundlage und den Ausgangspunkt für ihre externe Bindungskraft gegenüber Gerichten und Behörden.127 Diese externe Bindungswirkung von Verfassungsgerichtsentscheidungen wird grundsätzlich akzeptiert. So begründet das Oberste Verwaltungsgericht die Anerkennungspflicht mit dem Prinzip der Konsistenz und dem hierarchischen Auf bau der Rechtsordnung.128 In Ungarn wiederum wurde unter Anlehnung an die deutsche Dogmatik eine der verfassungskonformen Auslegung ähnliche Rechtsfigur schon in den 1990er Jahren entwickelt: die in Ungarn so genannten „verfassungsrechtlichen Anforderungen“. Das ungarische Verfassungsgericht war mit demselben Dilemma konfrontiert wie alle Verfassungsgerichte, die eine Rechtsvorschrift nicht auf heben wollen, welche auch eine verfassungsgemäße Auslegung erlaubt. Deshalb formulierte es bereits im Tenor, dass die angegriffenen Vorschriften bei Einhaltung bestimmter „verfassungs122 Filip, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek (Fn. 68), Art. 89 Rn. 9. 123 Holländer, in: Filip/Holländer/Šimíček, Zákon o Ústavním soudu [Gesetz über das Verfassungsgerichtsgesetz], 2007, § 70 Rn. 17. 124 Filip, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek (Fn. 68), Art. 89 Rn. 58 f. 125 Verfassungsgericht, Erkenntnis IV. ÚS 3465/12 vom 1.2.2013. 126 Verfassungsgericht, Erkenntnis Pl. ÚS 11/02 vom 11.6.2003. 127 Filip, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek (Fn. 68), Art. 89 Rn. 61. 128 Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts vom 14.9.2005, 2 Afs 180/2004 – 44. Zustimmend Šimíček, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek (Fn. 68), Art. 95 Rn. 8.
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rechtlicher Anforderungen“ verfassungskonform sind.129 Die Übernahme der verfassungskonformen Auslegung aus der deutschen Dogmatik war jedoch mit gewissen institutionellen Unvollkommenheiten belastet. Da die Urteilsverfassungsbeschwerde nicht möglich war, hing die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen weitest gehend davon ab, ob das Verfassungsgericht mit seinen Argumenten die Justiz überzeugen konnte. In den ersten Jahren stieß die Formulierung verfassungsrechtlicher Anforderungen auf den Widerstand der ordentlichen Gerichte und in der Rechtswissenschaft v.a. der Zivilrechtler. Insbesondere die Kombination aus lebendem Recht und verfassungsrechtlichen Anforderungen wurde mit Misstrauen beäugt: Wenn das Verfassungsgericht die bisherige Anwendungspraxis für verfassungswidrig erklärte und gleichzeitig andere Auslegungsvarianten noch für verfassungskonform hielt, dann war es sehr nah an einer eigenen Auslegung des einfachen Rechts. Jedoch führten auch in dieser Konstellation die von der Verfassung ausgehende Argumentation des Verfassungsgerichts,130 eine zurückhaltende Handhabung der Figur der verfassungskonformen Auslegung und die Gewöhnung von Justiz und Rechtswissenschaft an die materielle und prozedurale Konstitutionalisierung der Rechtsordnung zu einem allseits akzeptierten modus vivendi zwischen Verfassungsgericht und Oberstem Gericht bzw. Kurie. Seit der Einführung der Urteilsbeschwerde durch das ungarische Grundgesetz 2012 wurde der genannte institutionelle Fehler behoben, und das ungarische Verfassungsgericht verfügt seitdem über ein prozessuales Mittel, seine verfassungskonforme Auslegung gegenüber abweichenden Entscheidungen der ordentlichen Gerichte durchzusetzen. Den stärksten Widerstand erfährt die verfassungskonforme Auslegung wohl durch das polnische Oberste Gericht. Dieses judizierte auch noch nach dem Erlass der neuen Verfassung von 1997, dass die Auslegung des einfachen Rechts kraft „Natur der Sache“131 eine Angelegenheit der ordentlichen Gerichte unter der Führung des Obersten Gerichts sei und dass die Beurteilung der Verfassungskonformität einer Rechtsvorschrift durch das Verfassungsgericht in einer „Ja/Nein“-Form und nicht als „ja, aber“ zu geschehen habe. Möglicherweise ist dieser besonders starke Widerstand auch damit zu erklären, dass sich die verfassungskonforme Auslegung in Polen zu einer eigenen Urteilsart, den (positiven oder negativen) Interpretationsurteilen, verdichtet hat. Das mag von den ordentlichen Gerichten als größere Bedrohung empfunden werden als eine schlichte Denk- und Argumentationsfigur. Nichtsdestoweniger beharrt das Verfassungsgericht auf seiner Befugnis, den verfassungsrechtlichen Rahmen der Auslegung einer einfachen Rechtsvorschrift definieren zu dürfen, und langsam scheint sich auch in Polen ein diesbezüglicher modus vivendi zwischen einem
Zuerst Verfassungsgerichtsentscheidung 38/1993. (VI. 11.) AB vom 11.6.1993. Näher Brunner, in: Brunner/Sólyom (Fn. 9), 33 f.; Chonowski, Az alkotmánykonform értelmezés és az Alaptörvény [Die verfassungskonforme Auslegung und das Grundgesetz], Közjogi Szemle 2017/4, 7 ff.; Sólyom (Fn. 60), 364 ff. 130 Sólyom (Fn. 8), 144 ff. 131 Auf die Verfassung kann sich das Oberste Gericht hierbei nicht berufen, denn diese äußert sich – im Gegensatz z.B. zum ungarischen Grundgesetz oder auch zum deutschen Grundgesetz – nicht zu der Rolle der Justiz bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Die „Natur der Sache“ muss also das Fehlen normativer Grundlagen überbrücken. 129
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zurückhaltend agierenden Verfassungsgericht und einem pragmatischen Lösungen gegenüber aufgeschlossenen Obersten Gericht herauszubilden. Als Zusammenfassung kann festgehalten werden, dass in allen fünf Staaten die verfassungskonforme Auslegung in der einen oder anderen Form existiert, aber ihr genauer Umfang – und in Polen auch immer noch ihre Daseinsberechtigung – umstritten sind. Die Verfassungsgerichte erwarten von den ordentlichen Gerichten, dass diese die Argumente der Verfassungsgerichtsurteile gehörig berücksichtigen, auch wenn diese Argumente, die regelmäßig „nur“ in den Gründen auftauchen, nicht unbedingt bindend im strengen Sinne sind. Letztlich stützen die Verfassungsgerichte den Vorrang ihrer verfassungskonformen Auslegung vor der fachgerichtlichen Auslegung durch die ordentlichen Gerichte auf den Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht. Auch hier lässt sich in der Praxis wiederum feststellen, dass die Verfassungsgerichte dann Erfolg haben und die ordentlichen Gerichte umso mehr zur Befolgung ihrer Rechtsansichten bewegen können, wenn ihre Argumente in der Sache überzeugen, wenn sie die legitimen Interessen der ordentlichen Gerichte – deren Autonomie und Fachkenntnis bei der Auslegung des einfachen Rechts – berücksichtigen und sich auf ihr eigenes Terrain, die Auslegung der Verfassung, beschränken. Zudem macht auch der Ton die Musik: Kaum ein Karriererichter, der es bis zu einem Höchstgericht geschafft hat, will sich von „Laien“, zudem von „Laien“, die aus einem – aus der Sicht eines ordentlichen Richters – politisierten Ernennungsverfahren hervorgegangen sind, über sein eigenes Rechtsgebiet belehren lassen.
5. Richtervorlagen a) Die Richtervorlage als Kooperationsverhältnis In der Richtervorlage als Sicherungsmechanismus zur Wahrung der Verfassungskonformität genereller Rechtsvorschriften verbindet sich die Pflicht der ordentlichen Gerichte zur Einhaltung der Verfassung mit dem Normenverwerfungsmonopol des Verfassungsgerichts. Anders als bei den zuvor dargelegten Schnittpunkten zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit ist in dieser Konstruktion kein Gegeneinander angelegt, sondern die konkrete Normenkontrolle kann nur funktionieren, wenn ordentliche Gerichte und Verfassungsgerichte wirksam zusammenarbeiten bei der Erreichung des gemeinsamen Ziels, den Vorrang der Verfassung auch in der gerichtlichen Rechtsanwendung sicherzustellen. Da in der Richtervorlage das ordentliche Gericht der aktive Teil ist, wurde und wird sie von diesen nicht als Bedrohung ihrer Autonomie empfunden. In den ersten Jahren nach ihrer Einführung konnte man allerdings in etlichen Staaten, so z.B. in Deutschland, beobachten, dass die Fachrichter der ordentlichen Gerichte es als lästige Pflicht – um nicht zu sagen als Zumutung – betrachteten, dass sie bei der Auslegung ihres ureigenen Rechtsgebietes auch noch stets ein Auge auf die Verfassung werfen sollten. Diese vorkonstitutionelle richterliche Mentalität ist mit der Gewöhnung an die materielle Konstitutionalisierung des einfachen Rechts verschwunden, die dezentrale Normenkontrolle als Aufgabe der Fachgerichte ist akzeptiert.
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Die Vorlage einer Norm durch das befasste Gericht kann zum Ergebnis haben, dass die gegebene Rechtsvorschrift in dem Ausgangsprozess nicht angewendet zu werden braucht und nicht angewendet werden darf. Sie kann aber auch dazu führen, dass das Verfassungsgericht die Norm aufrecht erhält, aber im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung132 Vorgaben macht, die zu einer Änderung der bisherigen Auslegungspraxis zwingt oder zumindest dazu ermächtigt. Das kann für das Vorlagegericht eine Chance darstellen, sich von einer etablierten Rechtsprechung zu befreien, die ihm nicht passt, und es gibt in Mitteleuropa durchaus Präzedenzfälle, dass Untergerichte ihre Vorlagen zur Änderung der einfach-gerichtlichen Rechtsprechung zu einer gegebenen Rechtsvorschrift genutzt haben. Diese Motivationslage beschränkt sich übrigens nicht nur auf die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Rechtsnorm, sondern kann auch als Verstoß gegen das Unionsrecht geltend gemacht werden. Durch eine erfolgreiche Vorlage an den Europäischen Gerichtshof kann das Vorlagegericht nicht nur die bisherige Auslegungspraxis, sondern auch die verfassungsgerichtlichen Vorgaben stürzen.133 Dies war eindeutig so in Tschechien im Falle der sog. slowakischen Renten, in einer Saga einander widersprechender Urteile des Obersten Verwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichts, und das Oberste Verwaltungsgericht nutzte strategisch eine Vorlage an den EuGH, um das Verfassungsgericht umgehen zu können.134 Ähnlich verfuhr ein österreichisches Landesverwaltungsgericht mit dem Glücksspielmonopol. Nachdem alle drei Höchstgerichte anscheinend eine gemeinsame Linie in der Beurteilung des Glücksspielrechts angenommen hatten,135 gelangte das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich zu einem gegenteiligen Schluss. Deshalb leitete es Anfang 2017 ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH ein,136 um die gemeinsame Rechtsposition der Höchstgerichte aufzubrechen. Es sind daher unterschiedliche Szenarien vorstellbar. Das unterinstanzliche Gericht möchte den eigenen Rechtsstandpunkt gegenüber seinem übergeordneten Obergericht durchsetzen und legt daher die gegebene Norm dem Verfassungsgericht vor, das diese entweder aufrechterhält, auf hebt oder mit einer verfassungskonformen Auslegung versieht. Insbesondere der letzte Fall gibt dem Untergericht die Möglichkeit, sich von der eingefahrenen Rechtsprechung seines Obergerichts zu emanzipieren. Um eine solche gerichtliche Vorlagepraxis nicht zu fördern, formuliert das deutsche Zur verfassungskonformen Auslegung s. zuvor Punkt II.4. Zu der Frage, in welchem Maße der innerstaatliche Unionsrechtsvollzug und die Regeln über die Anruf barkeit des EuGH die innerstaatliche Zuständigkeitsordnung zwischen den einzelnen Gerichtszweigen und insbesondere den Höchstgerichten durchrütteln und auch die Rolle des Verfassungsgerichts erschüttern kann, s. etwa Farahat (Fn. 38), Rn. 93, 100 ff.; Holoubek, in: Grabenwarter/Vranes, Kooperation der Gerichte im europäischen Verfassungsverbung, 2013, 162 ff.; Thym, Blaupausenfallen bei der Abgrenzung von Grundgesetz und Grundrechtecharta, DÖV 2014, 941 ff. 134 EuGH, Urt. v. 22.6.2011 – C-399/09 (Marie Landtová ./. Česká správa sociálního zabezpečení); dazu s.o. Punkt 3.d) und insbesondere Fn. 110. 135 Der Verwaltungsgerichtshof stellte keinen Verstoß gegen das Unionsrecht fest: VwGH 16.3.2016, Ro 2015/17/0022. Dem widersprach der Oberste Gerichtshof teilweise: OGH 30.3.2016, 4 Ob 31/16m. Der Verfassungsgerichtshof teilte freilich die Ansichten des Verwaltungsgerichtshofs: VfGH 15.10.206, E 945/2016. Darauf hin schloss sich der Oberste Gerichtshof diesem Standpunkt an: OGH 22.11.2016, 4 Ob 31/16m. 136 EuGH, Urt. v. 6.9.2018 – Rs C-79/17 (Gmalieva). Das Urteil des EuGH steht gegenwärtig noch aus. 132 133
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Bundesverfassungsgericht sehr strenge Zulässigkeitskriterien für eine Richtervorlage mit dem Ergebnis, dass zulässige konkrete Normenkontrollanträge selten sind. Die Lage des Verfassungsgerichts ist in derartigen Konstellationen komplex. Einerseits deutet eine Vorlage durch ein Gericht darauf hin, dass es sich nicht um Lappalien handelt und dass nicht nur die Eigeninteressen der Verfahrensparteien hinter der Vorlage stehen: Wenn ein neutrales Gericht die Frage vorlegt, kann mit guten Gründen davon ausgegangen werden, dass es sich um einen qualifizierten Antrag handelt, mit dem es sich zu beschäftigen lohnt. Darüber hinaus fördert das Kooperationsverhältnis die Akzeptanz des verfassungsgerichtlichen Urteils durch die ordentlichen Gerichte oder jedenfalls durch das Vorlagegericht, und je kollegialer der Umgangston der Verfassungsrichter, desto mehr können sie ihrerseits auf eine kollegiale Kooperation seitens der ordentlichen Gerichte hoffen. Andererseits ist es nicht zu leugnen, dass es das Leben eines ordentlichen Richters sehr erleichtern kann, wenn er verwickelte Rechtsfragen in einen verfassungsrechtlichen Mantel kleiden und dann dem Verfassungsgericht vorlegen kann. Auf diese Weise erhält er „höchsten Ortes“ eine Antwort auf seine komplizierte oder vielleicht auch heikle Rechtsfrage. Die Versuchung für den ordentlichen Richter steigt, wenn das Verfassungsprozessrecht eine kurze Erledigungsfrist für Richtervorlagen vorschreibt, wie etwa Art. 24 Abs. 2 Buchst. b) des ungarischen Grundgesetzes eine 90Tage-Frist. Ein anschauliches Beispiel für diese Versuchung liefert dementsprechend die ungarische Verfassungsrechtsprechung, wo 2017 ein Gericht mit der Konstellation befasst war, dass ein in Ungarn ansässiger Drittausländer plötzlich zu einem freizügigkeitsberechtigten Ausländer wurde, weshalb ihm nach den geltenden ungarischen Vorschriften kein ungarisches Identitätsdokument mehr ausgestellt werden konnte; im Zusammenspiel mit anderen Rechtsvorschriften erhielt der Betroffene auch keine anderen ungarischen Ausweispapiere und konnte so noch nicht einmal in den Staat seiner Staatsangehörigkeit ausreisen. Zur Lösung dieses Problems war die Vorlage eigentlich nicht notwendig, sondern es wäre auch durch eine verfassungskonforme Auslegung oder durch die Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts möglich gewesen, dieses unglückliche Zusammenspiel verschiedener Vorschriften bei einem selten vorkommenden Sachverhalt ohne die Zwischenschaltung des Verfassungsgerichts aufzulösen. Das Vorlagegericht entschied sich aber für den „bequemen“ Weg.137 In gewisser Weise kann man auch die Vorlage des Landgerichts Bonn in Sachen Entschädigungsansprüchen früherer NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter gegen den deutschen Staat so interpretieren, auch wenn das deutsche Verfassungsprozessrecht die erwähnten Erledigungsfristen als Stimulus für Vorlagegerichte nicht kennt: Weder die zivilrechtlichen noch die öffentlich-rechtlichen Haftungsvorschriften führen im Fall totalitären Staatsunrechts zu befriedigenden Ergebnissen, während die für diesen Fall speziell erlassenen Wiedergutmachungsvorschriften die Unrechtsform der Zwangsarbeit ausdrücklich von der Wiedergutmachung ausschlossen. Mit seiner Vorlage versuchte das Landgericht, mithilfe verfassungs- und völker Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts 3103/2017. (V. 8.) AB vom 8.5.2017. Anders das deutsche Bundesverwaltungsgericht, das in seinem Urteil vom 2.3.2017, 3 C 19.15, mit der ausdrücklichen Begründung auf die verfassungskonforme Auslegung der streitbefangenen Norm zurückgreift, auf diese Weise eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vermeiden zu können. 137
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rechtlicher Argumente über die Unzulänglichkeiten des einfachen deutschen Rechts hinwegzukommen. Dies hätte das Gericht auch in eigenverantwortlicher Auslegung und Anwendung von Grundgesetz, Völkerrecht und einfachem Recht tun können, aber es wollte wohl in einem politisch derart heiklen Präzedenzfall die Rückendeckung des Bundesverfassungsgerichts haben und sich zudem nicht ohne dessen Plazet über den Wortlaut des einfachen Rechts hinwegsetzen.138 Wo die konkrete Normenkontrolle keiner Frist unterliegt, kann das Problem auftreten, dass die Verzögerung der Sachbehandlung beim Verfassungsgericht zu einer Beeinträchtigung des Rechts der Parteien des Ausgangsverfahrens auf eine zügige Entscheidung ihres Falles i.S.v. Art. 6 EMRK führt. Derartige Klagen sind v.a. aus Polen laut geworden, wo 2012 die durchschnittliche Bearbeitungsdauer für Richtervorlagen bei 19 Monaten lag.
b) Die mitteleuropäische Rechtspraxis Auch wenn die genannten Strukturen und Motivationslagen in den hier untersuchten fünf Rechtsordnungen ähnlich sind, weisen die nationalen Praktiken zur Richtervorlage dennoch nicht unbeträchtliche Abweichungen auf. In Polen entstand der Konflikt zwischen dem Verfassungsgerichtshof und dem Obersten Gericht nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997. Das Verfassungsgericht vertritt konsequent die Meinung, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Gesetze seine ausschließliche Kompetenz sei, weshalb alle Gerichte die Frage der vermuteten Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes als Richtervorlage dem Verfassungsgerichtshof vorlegen müssten. Das Oberste Gericht war jedoch der Auffassung, dass die Gerichte befugt seien, verfassungswidrige Gesetze auch dann nicht anzuwenden, wenn der Verfassungsgerichtshof ihre Unvereinbarkeit mit der Verfassung nicht festgestellt hat. Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung von Richtervorlagen legt das Verfassungsgericht großen Wert darauf, dass das Vorlagegericht die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm im Ausgangsverfahren, die in Polen so genannte funktionelle Voraussetzung der Richtervorlage, nachweist und seine verfassungsrechtlichen Argumente gut untermauert. Ob diese funktionelle Voraussetzung vorliegt, prüft der Verfassungsgerichtshof recht genau. Diese Arbeit machen sich in Polen v.a. die Untergerichte. Das Oberste Gericht hingegen ist der Ansicht, dass es nicht zur Vorlage verpflichtet ist, sondern es auch selbst die Verfassungsmäßigkeit der im konkreten Fall anzuwendenden Rechtsvorschriften beurteilen kann und darf – mit dem Unterschied, dass es nur inter partes eine für verfassungswidrig gehaltene Rechtsnorm außer Anwendung lassen darf, während das Verfassungsgericht berechtigt ist, diese mit Wirkung erga omnes aufzuheben.139 Wieder anders sieht das Hauptverwaltungsgericht die Sache: Ihm zufolge sind die Gerichte grundsätzlich 138 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 94, 315. Hierzu Küpper, Das Eigentum wird gewährleistet (Art. 14): Entschädigung für NS-Zwangsarbeit?, in: Müller-Heidelberg/Finckh/Narr/ Pelzer (Hrsg.), Grundrechte-Report 1998. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, 1998, 164 ff. 139 Urteil des Obersten Gerichts vom 7.4.1998, I PKN 90/98, OSNAPiUS 2000/1 Pos. 6; Banaszak/ Milej (Fn. 27), 20.
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nicht berechtigt, selbstständig über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zu entscheiden, aber ausnahmsweise ist es ihnen doch erlaubt, nämlich wenn es sich um vorkonstitutionelle Gesetze handelt oder wenn die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes offensichtlich ist.140 Dieses gemischte System der Normenkontrolle birgt naturgemäß die Gefahr abweichender Urteile über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm und somit der Rechtsunsicherheit in sich. Ob sich die obersten polnischen Fachgerichte bei dieser Praxis wirklich auf den Vorrang der Verfassung und die Unabhängigkeit der Richter berufen können oder ob sie ihre Praxis nicht vielmehr praeter constitutionem oder mit Blick auf die Vorschriften über das Verfassungsgericht sogar contra constitutionem durchführen, ist zumindest zweifelhaft. In Tschechien betont das Verfassungsgericht die Pflicht der ordentlichen Gerichte zur Vorlage, wenn sie der Ansicht sind, die anzuwendende Norm verstoße gegen die Verfassungsordnung.141 Dies sehen die ordentlichen Gerichte, allen voran das Oberste Verwaltungsgericht, allerdings differenzierter und bezeichnen die Vorlage als ultima ratio, die erst nach Ausschöpfen aller anderen Lösungsmöglichkeiten in Frage kommt. Eine solche vorrangige Lösungsmöglichkeit ist die Entwicklung einer verfassungskonformen Auslegung der fraglichen Norm durch das Prozessgericht, die zudem den von der ordentlichen Justiz gewünschten Effekt hat, dass das Monopol für die Auslegung des einfachen Rechts bei den Fachgerichten verbleibt. Diese verfassungskonforme Auslegung und die unmittelbare Anwendung der Verfassung statt einer Vorlage an das Verfassungsgericht sind insbesondere im Falle eines legislativen Versäumnisses angebracht. Wenn begründet werden kann, dass die Verfassungswidrigkeit durch die Nichtexistenz einer einfachen Regelung hervorgerufen wird, ist nach Ansicht der tschechischen ordentlichen Gerichte der Gang zum Verfassungsgericht überflüssig, weil dieses ohnehin nur die Verfassungswidrigkeit der Lücke feststellen, diese aber nicht schließen könnte.142 Aus derselben Logik heraus sieht sich das deutsche Bundesverfassungsgericht nicht zuständig, die Schließung von Rechtslücken durch die Fachgerichte intensiver zu kontrollieren als deren Anwendung des vorhandenen einfachen Rechts: Richterliche Lückenschließung ist diesseits der Willkür die Aufgabe der Gerichte, nicht des Bundesverfassungsgerichts.143 Auch der österreichische Verfassungsgerichtshof legt wie sein tschechisches Pendant Wert darauf, dass die Gerichte eine Vorlagepflicht trifft, wenn sie auf eine verfassungsrechtlich bedenkliche Norm stoßen.144 Allerdings handhabt der österreichi Garlicki (Fn. 9), 85, bezeichnet den Standpunkt des Obersten Gerichts als „Mindermeinung“; zu dieser Wahrnehmung mag beitragen, dass der Autor selbst Richter am Verfassungsgericht war. Zu der Problematik s. auch Garlicki, Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], in: Skrzydło (Hrsg.), Sądy i Trybunały w Konstytucji i w praktyce [Gerichte und Gerichtshöfe in der Verfassung und in der Praxis], 2005, 26; Hauser/Trzciński, Prawotwórcze znaczenie orzeczeń Trybunału Konstytucyjnego w orzecznictwie Naczelnego Sądu Administracyjnego [Die rechtsetzende Rolle der Entscheidungen des Verfassungsgerichts in den Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts], 2008, 26; Sarnecki (Fn. 115), 932. 141 Verfassungsgericht Erkenntnis I. ÚS 35/94 vom 23.6.1994; dazu Holländer, in: Filip/Holländer/ Šimíček (Fn. 123), § 64 Rn. 19. 142 Oberstes Verwaltungsgericht, 2 As 9/2008 – 77 vom 13.6.2008, zustimmend Šimíček, in: Šimíček/Filip/Molek/Bahýľová/Podhrázký/Suchánek/Vyhnánek (Fn. 68), Art. 95 Rn. 17 f. 143 So z.B. BVerfGE 113, 88, wo insbesondere die Grenze der richterlichen Lückenfüllung, nämlich die Übernahme der Rolle eines Ersatzgesetzgebers durch das auslegende Gericht, betont wird; 132, 99. 144 Für die jüngere Rechtsprechung grundlegend VfSlg. 20.182/2017: „Das in den Art 89, 139, 139a, 140
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sche Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Richtervorlage kasuistisch und in einem eher restriktiven Geist, was v.a. die beiden anderen Höchstgerichte von Vorlagen tendenziell abzuhalten scheint. Die Mehrzahl der eingehenden konkreten Normenkontrollanträge stammt daher von Verwaltungsgerichten und Untergerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Unerwartet aktiv sind die Prozessparteien, die seit 2015 einen eigenen Antrag auf konkrete Normenkontrolle stellen können (Parteiantrag): Es werden etwa doppelt so viele Anträge gestellt wie vorhergesehen.145 Ähnlich wie in Österreich ist auch in Deutschland die verfassungsgerichtliche Zulassungspraxis bei der konkreten Normenkontrolle im Wege der Richtervorlage restriktiv. Dies liegt weniger an der normativen Lage, sondern an deren Handhabung durch das Bundesverfassungsgericht, das – möglicherweise mit der Absicht des Selbstschutzes vor zu hohen Fallzahlen – alles tut, um potenzielle Vorlagegerichte abzuschrecken. Insbesondere an die Begründung der Verfassungswidrigkeit stellt das Bundesverfassungsgericht fast unüberwindbare Hürden, denn es fordert fast denselben Begründungsaufwand, den es selbst bei seinen Entscheidungen treibt. Nicht jeder einfache Richter ist aber willens oder in der Lage, einen Antrag einzureichen, der von Niveau und Umfang einer mittleren verfassungsrechtlichen Dissertationsschrift entspricht. Zugleich unterliegt er aber der Pflicht zur Vorlage, wenn er von der Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Norm überzeugt ist.146 In dieser Lage, die durch den bisweilen hochmütigen und arroganten Tonfall des Bundesverfassungsgerichts in seinen Ablehnungsbeschlüssen noch verschärft wird, ist es für viele ordentliche Richter einfacher, von der Verfassungswidrigkeit der Norm nicht überzeugt zu sein, sondern an ihrer Verfassungsmäßigkeit nur zu zweifeln – in diesem Fall ist nämlich die Vorlage nicht nur nicht zwingend, sondern sogar unstatthaft. Tatsächlich dürften daher in der Mehrzahl solche Vorlagen vor das Bundesverfassungsgericht gelangen, bei denen die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit auf die Initiative der Parteien des Ausgangsverfahrens zurückgeht. Das der konkreten Normenkontrolle zu Grunde liegende Kooperationsverhältnis wird daher v.a. seitens des Bundesverfassungsgerichts selbst in Frage gestellt. Genau entgegengesetzt verhält sich das ungarische Verfassungsgericht: Nach einer eher vorsichtigen Phase unmittelbar nach seiner Errichtung betont es seit mehr als zwei Jahrzehnten die Zusammenarbeit, stellt keine übertriebenen Anforderungen an die Zulässigkeitsvoraussetzungen und an die Begründung des vorlegenden Gerichts 140 und 140a B-VG grundgelegte System der Verfassungsgerichtsbarkeit beruht auf dem Grundgedanken, dass eine einzige Instanz, eben der VfGH, über die Rechtmäßigkeit auf Grund der österreichischen Verfassung erzeugter genereller, allgemein verbindlicher Normen zu entscheiden hat. Damit wird ein – die österreichische Verfassungsordnung geradezu prägendes – Element der Rechtssicherheit etabliert: Für niemanden soll die Verbindlichkeit solcher genereller Normen in Frage stehen, solange deren Rechtswidrigkeit nicht in einem förmlichen Verfahren durch den VfGH festgestellt wird; das Ergebnis dieser Prüfung wird in gleicher Weise wie die als rechtswidrig befundene generelle Norm kundgemacht.“ 145 Siehe für eine Statistik der Verfahrensarten https://www.vfgh.gv.at/kompetenzen-und-verfah ren/statistiken/statistik_verfahrensarten.de.html sowie die Tätigkeitsberichte unter https://www.vfgh. gv.at/verfassungsgerichtshof/publikationen/taetigkeitsberichte.de.html, zuletzt abgerufen am 13.6. 2017. 146 So ausdrücklich Art. 100 Abs. 1 Satz 1 deutsches Grundgesetz.
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sowie schlägt in seinen Entscheidungen in konkreten Normenkontrollsachen gegenüber dem Vorlagegericht einen kollegialen Ton an, und zwar auch dann, wenn die Vorlage unzulässig ist. Die ordentlichen Gerichte hingegen empfanden nach der Wende ihre Pflicht zur Vorlage eines als verfassungswidrig wahrgenommenen Gesetzesstelle als „fachfremd“; sie führten die unter dem Sozialismus gepflegte Praxis fort, dass ein Fachgericht sich nur mit „seinem“ Rechtsgebiet beschäftigt und Bezüge zu anderen Rechtsmaterien nach Möglichkeit ignoriert. Die Pflicht zur Wahrnehmung einer Verfassungswidrigkeit des anzuwendenden einfachen Rechts verstieß gegen das Selbstbild des sozialistischen Richters. Bis zum heutigen Tag sind es daher häufig die Parteien, die verfassungsrechtliche Argumente in das Verfahren einführen und so zu der Wahrnehmung des Gerichts führen.147 Im Ergebnis behandelt das ungarische Verfassungsgericht pro Jahr etwas mehr Richtervorlagen in der Sache als das deutsche Bundesverfassungsgericht.148 Hier sind zwei Erklärungsvarianten denkbar. Entweder verlangen die Neuheit des Grundgesetzes und sein Legitimationsbedarf eine Offenheit und Kooperationsbereitschaft des Verfassungsgerichts, damit die Gerichte dieses neue Grundgesetz in der Tat anwenden, oder die Kollegialität der Verfassungsrichter ist dem Umstand zuzuschreiben, dass das neue Grundgesetz im Unterschied zu der früheren Verfassung eine erhöhte Normativität beansprucht und in Art. 28 ausdrücklich seine Beachtung bei der Auslegung des einfachen Rechts durch die ordentlichen Gerichte verlangt. Dieser Anforderung kann die Justiz aber in einer postsozialistischen Rechtskultur, die insbesondere durch einen vereinfachenden Rechtspositivismus, durch eine Reduzierung des Rechts auf den geschriebenen unterverfassungsrechtlichen Normenbestand sowie durch die Überbetonung des Auslegungsgrundsatzes lex specialis derogat legi generali gekennzeichnet ist, nur dann nachkommen, falls das Verfassungsgericht diese Prägung ändert, was wiederum nur durch die Anwendung des Auslegungsgrundsatzes lex superior derogat legi inferiori im konkreten Fall erreicht werden kann. Von den beiden Erklärungsansätzen ist der erste alleine nicht ausreichend, denn die genannten Phänomene waren auch schon unter der alten Verfassung zu beobachten; die Neuheit des materiellen Verfassungsrechts kann aber zur Stärkung der beschriebenen Tendenzen beitragen.
III. Schlussfolgerung: Konflikte sind unumgänglich, aber nicht notwendig destruktiv für die Rechtskultur Der Ländervergleich erlaubt zahlreiche Schlussfolgerungen. Diese weisen alle in eine Richtung: Konflikte zwischen dem Verfassungsgericht und den Obergerichten sind keine Seltenheit, und der Umgang mit Konflikten folgt im Rechtsvergleich teils 147 So etwa in dem Verfassungsgerichtsurteil 25/2015. (VII. 21.) AB vom 21.7.2015, Rn. 31 ff.; Sólyom (Fn. 8), Rn. 111. 148 Im Jahr 2017 wurden in insgesamt 48 Fällen konkrete Normenkontrollanträge gestellt; 2016 waren es 64 und 2015 insgesamt 65, wie die Statistik des Verfassungsgerichts ausweist: https://alkot manybirosag.hu/ugyforgalmi-es-statisztikai-adatok/, zuletzt abgerufen am 13.6.2017; Zum Geschäftsanfall des ungarischen Verfassungsgerichts s. auch Orbán, A bírói döntések ellen benyújott alkotmányjogi panaszok tapasztalatai [Die Erfahrungen mit Urteilsverfassungsbeschwerden], Magyar Jog 2016, 577 (581).
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ähnlichen, teils aber auch sehr spezifischen, nationalen Lösungszugängen. Ebenfalls häufig ist die Situation, dass in derartigen Konflikten das geschriebene Recht beiseitegeschoben oder – positiv gewendet: fortentwickelt – wird, was wiederum zeigt, dass das „law on the books“ nicht identisch mit dem „law in action“ ist und dass dieses Spannungsverhältnis durch Spannungen zwischen Verfassungs- und Obergerichten ins Positive gewendet werden kann. Derartige Konflikte müssen nicht unbedingt in einen „offenen Krieg“ münden, sondern finden eher in einem Zustand passiver Aggression statt. Entgegen dem ersten Anschein wirft ein solcher Konflikt aus der Sicht der Gewaltenteilung keine Probleme auf. Gerichte und Verfassungsgerichte üben öffentliche Gewalt aus, und die Ausübung öffentlicher Gewalt ist stets politisch, weshalb die letztinstanzliche Entscheidung eines Rechtsstreits immer auch eine politische Seite hat.149 Anders formuliert: Die Tatsache, dass die Gerichtsbarkeit laut Hamilton die am wenigsten gefährliche Staatsgewalt ist (least dangerous branch),150 bedeutet hingegen nicht, dass sie nicht gefährlich wäre und dass sie nicht zahlreiche wesentliche Züge der Ausübung öffentlicher Gewalt mit den anderen Staatsgewalten teilte. Das letztendlich angewandte und somit zur Geltung kommende Recht wird nämlich durch die Gerichte entwickelt, und wenn die Rechtsetzung politisch ist, dann ist auch die verbindliche Auslegung eben dieses Rechts politisch. Dem widerspricht auch nicht, dass das zentrale Element des richterlichen Ethos die Politikfreiheit und Neutralität ist und dass die Autorität und politische Legitimität der Gerichte genau dieser Neutralität entspringen.151 Die Rechtmäßigkeit einer Demonstration oder eines großen öffentlich finanzierten Projekts, der Umfang eines Kartellbußgelds, der Ausgang einer Strafsache oder die Zulässigkeit bestimmter Vertragsbestimmungen haben eine Bedeutung, die über die konkrete Angelegenheit hinausgeht, weil sie wirtschaftliche und politische Ressourcen zuweisen, die Formen der Ausübung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Macht legalisieren und somit im Rahmen des Rechtsstaats auch legitimieren und folglich letztendlich politische Auswirkungen haben und politischen Einfluss ausüben. Angesichts dessen ist es nicht erstaunlich, dass es zu Konflikten führt, wenn in die Organisationsstruktur der Justiz ein neuer Akteur wie ein Verfassungsgericht eingeführt wird. Der Befund der potenziellen Konfliktträchtigkeit trifft v.a. dann zu, wenn der neue Akteur die Legitimität der vorhandenen Justizorgane dadurch untergraben kann, dass er ihre bislang als endgültig betrachteten Urteile und die bisherigen Grundsätze der Rechtsauslegung in Zweifel zu ziehen berechtigt ist. Andererseits speisen sich die politische Legitimität und die Autorität des neuen Akteurs ebenfalls aus der Tatsache, dass er in bestimmten Rechtsfragen letztverbindlich entscheidet; fehlt es daran, verliert er seine politische Bedeutung und Macht. 149 Aus der Menge der einschlägigen deutsch- und englischsprachigen Literatur seien hier nur angeführt: Stone Sweet, Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, 2000; Tushnet, Political Power and Judicial Power: Some Observations on Their Relation, Fordham Law Review 75 (2006), 755 ff.; van Ooyen, Bundesverfassungsgericht und politische Theorie, 2015. 150 So Hamilton, The Judiciary Department, Federalist Papers Nr. 78, 1788. 151 Gibson, Judicial Institutions, in: Rhodes/Binder/Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2008, 514 (524 ff.).
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Konflikte können auch dann beobachtet werden, wenn keiner der betroffenen Akteure ein Interesse daran hat, dass sich der Konflikt zuspitzt, denn das gegenseitige Anzweifeln der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit letztinstanzlicher Entscheidungen kann dazu führen, dass beide (bzw. alle involvierten) Gerichte verlieren, da sie gegenseitig ihre politische Legitimität und Autorität beschädigen. Diese Einsicht führt zu einer gewissen Zusammenarbeit, wie die Beobachtungen der Entwicklungen in den einzelnen mitteleuropäischen Staaten bezeugen. Die verschiedenen Länderbeispiele zeigen auch, dass die Existenz eines Konflikts und die Notwendigkeit der Kooperation, um diesen zu dämpfen, nur in einem gewissen Grad von den Eigenheiten des Institutionensystems abhängen. Der Konflikt, der sich in Deutschland oder Tschechien an der Befugnis des Verfassungsgerichts, rechtskräftige Urteile der ordentlichen Gerichte im Wege eines außerordentlichen Rechtsmittels aufzuheben, entzündet, entsteht in Österreich mit seinen formal gleichrangigen Höchstgerichten aus dem Anspruch einer prinzipiell präzisen – wenn auch nicht immer ganz klaren – Abgrenzung der Rechtswege und damit der Kompetenzen. Gerade Österreich zeigt, dass das institutionelle Arrangement in der Justiz kaum Einfluss auf das Entstehen von Konflikten und der Notwendigkeit der Zusammenarbeit hat, sondern höchstens deren Form – und damit auch die möglichen Auswege – prägt. In allen untersuchten Ländern stellt sich freilich gleichermaßen die Frage, welches Gericht berechtigt ist oder sein soll, die letztverbindliche Entscheidung zu treffen. Seit den Angriffen der Exekutive und Legislative auf die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und der ordentlichen Justiz in Polen seit 2016 ist ein „Zusammenrücken“ von Verfassungsgericht, Oberstem Gericht und Hauptverwaltungsgericht festzustellen. Inhaltliche Differenzen, die nach wie vor bestehen, werden in ihrer Bedeutung heruntergespielt, und alle Gerichte sind bemüht, eine einheitliche Position gegen die Bedrohungen von außen aufrechtzuerhalten. In eine ähnliche Richtung weist das präventive Bemühen des ungarischen Verfassungsgerichts und der Kurie, die in der Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde 2012 angelegten Konflikte zwischen Verfassungs- und ordentlicher Gerichtsbarkeit nicht zu einer Bindung verfassungsgerichtlicher Ressourcen in innerjustiziellen Auseinandersetzungen zu Lasten – wie von Kritikern befürchtet – der Kapazitäten des Verfassungsgerichts für die Kontrolle der politischen Staatsgewalten führen zu lassen; dieses Bemühen zeigt sich in der Ausschreibung des Forschungsprojekts, das Anlass u.a. für diese Studie war.152 Allerdings sind diese Tendenzen einer verstärkten innerjustiziellen Kooperation, verbunden mit der Reduzierung der Bedeutung, die abweichenden Standpunkten im Grundsatz und im Detail zugemessen wird, d.h. eines „Burgfriedens“ zwischen Verfassungsgericht und Obergericht(en) angesichts des Drucks anderer Staatsgewalten, noch zu neu, um abschließend beschrieben oder gar bewertet werden zu können. Für die Analyse von Konflikten und Kooperationen an der Spitze eines Justizsystems darf die Vorfrage nicht vernachlässigt werden, inwieweit die Einheitlichkeit der Rechtsprechung einen Wert darstellt. In der sozialistischen Rechtskultur und in den Rechtskulturen der Länder, die noch deren Erbe mitschleppen, wird der Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine gesteigerte Bedeutung zugewiesen, sie ist ein Wert, der Dazu s.o. Punkt I.1.
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auch noch in den postsozialistischen Verfassungen zum Ausdruck kommt. Am deutlichsten wird dies in der Befugnis der ungarischen Kurie, für die Gerichte verbindliche abstrakte, d.h. quasinormative Auslegungsrichtlinien für strittige Rechtsfragen zu erlassen, womit sie letztlich in die Position eines Normgebers gedrängt wird.153 Ganz unumstritten ist dieses sozialistische Erbe aber nicht, denn v.a. in Polen gab es heftigen Streit über Uniformität und Divergenz in der höchstrichterlichen Rechtsauslegung. Anlass war eine Verfassungsänderung 1989, die dem Verfassungsgericht die Kompetenz übertrug, Gesetze allgemeinverbindlich auszulegen. Insbesondere das Oberste Gericht wehrte sich gegen die Verbindlichkeit der verfassungsgerichtlichen abstrakten Gesetzesauslegung und berief sich dabei mangels einschlägigerer Verfassungsbestimmungen auf die Unabhängigkeit der Richter. Die Wissenschaft war in diesem Streit um die letztverbindliche Deutungshoheit über das einfache Recht gespalten, begrüßte dann aber die Streichung dieses verfassungsgerichtlichen Zuständigkeitstitels durch die neue Verfassung von 1997. Allerdings führt auch das seit 1997 geltende polnische Recht einen Rest von verfassungsgerichtlicher Gesetzesauslegung in Gestalt der sog. Interpretationsurteile – der polnischen Bezeichnung für die verfassungskonforme Auslegung – fort, was die wissenschaftliche Debatte am Leben hält. Einen Kontrast zum beschriebenen Kult der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in den postsozialistischen Rechtskulturen bilden Deutschland und Österreich, wo man eine einheitliche Rechtsauslegung und -anwendung durch die Rechtsprechung nicht als absoluten Wert versteht. Gerade in Deutschland gibt es auch die Tendenz, die Divergenzen zwischen den verschiedenen ober- und höchstgerichtlichen Rechtsauslegungen als Wert für sich zu betrachten, weil eine plurale Rechtsprechung nicht nur die Qualität der Fortbildung des Rechts begünstigt, sondern auch in der Lage ist, die Konflikte zwischen den Gerichten abzuschwächen. In diesen beiden Ländern erträgt es die Rechtskultur, wenn verschiedene Höchstgerichte mit dem Anspruch auf sachliche Richtigkeit für ihr (Teil-)Rechtsgebiet zu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Ein Faktor, der das gegenseitige Respektieren abweichender Rechtsstandpunkte fördert, ist die Anerkennung der jeweils anderen Seite, v.a. der Verfassungsrichter als „vollwertige“ Richter, als Kollegen. So wird das „agree to dis agree“ zwischen Kollegin und Kollege ein praktikabler modus vivendi zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der ordentlichen Justiz, und der Schaden für die Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung ist auch nicht notwendigerweise größer als in verbissenen unterschwelligen Konfliktsituationen, in denen beide Seiten versuchen, ihren jeweiligen Rechtsstandpunkt als den allein richtigen oder akzeptablen durchzusetzen.
153 Kritisch hierzu Küpper, A magyar jogi kultúra egyes jellegzetességei összehasonlító perspektívából [Einige Charakteristika der ungarischen Rechtskultur aus vergleichender Perspektive], in: Jakab/ Gajduschek (Hrsg.), A magyar jogrendszer állapota, 2016, 131 ff.