Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge 3161590619, 9783161590610

Band 62 (2014) enthält neben Abhandlungen zum deutschen und ausländischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht die vor Jahr

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German Pages 789 Year 2014

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Titel
Inhaltsverzeichnis
Peter Häberle: Vorwort – Nachwort
Vorwort des Verlags
Abhandlungen
Diego Valadés: Secularism and National Symbols of Mexico. Some Relations between Constitution and Culture
Dieter Nohlen: Die Politik des Sonderweges. Wahlsysteme als Rechtsfrage
Daniel Krausnick: Grundfragen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung
Matthias Niedobitek: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa: Konkurrenz zwischen Europäischer Union und Europarat? Zugleich ein Beitrag zur Auslegung von Art. 59 Abs. 2 GG
Rolf Schwartmann/Christian-Henner Hentsch: Wechselwirkungen im Wissenschaftsurheberrecht
Şükrü Uslucan: Menschenrechte im Islam oder nur islamische Menschenrechte? Zum Menschen(rechts)bild im Koran. Vgl. NF 44 (1996), 205: Mikunda; 51 (2003), 21: Mikunda
Matthias Rossi: Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren
Frauke Brosius-Gersdorf: Soziale Elternschaft. Regelungsdefizite und -optionen bei der Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern
Josef Aulehner: „Denken in Grundrechtssituationen“ versus eindimensionales und bipolares Grundrechtsverständnis. Dargestellt am Beispiel der Organtransplantation
Kathrin Groh: Die Logiken des „neuen Sicherheitsrechts“ im Waffengesetz: Vorsorge und Kostenüberwälzung
Kathrin Bünnigmann: Interaktion erwünscht! Anmerkungen zur Wechselwirkung von Roman und Realität anläßlich des „Esra“-Beschlusses
Leonardo Álvarez Álvarez: Das Kruzifix in den europäischen Klassenzimmern. Ein kontextueller Ansatz zur staatlichen Neutralitätspflicht. Vgl. NF 56 (2008), 125: van Ooyen
Francisco Balaguer Callejón: European Identity, Citizenship and the Model of Integration. Vgl. NF 53 (2005), 401: Balaguer
Jan Philipp Schaefer: Die Europäische Union zwischen grundrechtlicher und demokratischer Freiheitsidee
Ilie Ursa: Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche. Eine Einführung
Peter Häberle: Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen
Jörg Luther: Werte an der Front. Eine Geschichte der Lehren Heinrich Herrfahrdts
Antrittsvorlesung
Markus Kotzur: „Constitutional Moments“ in globaler Perspektive – eine völkerrechtliche Spurensuche. Vgl. NF 61 (2013), 525: Rixen
Abschiedsvorlesung
Paul Kirchhof: Forschen heißt Hoffen. Vgl. NF 60 (2012), 281: Thürer
Richterbilder
Alexander Jannasch: Wolfgang Zeidler – Präsident des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. NF 46 (1998), 95: Steffen (Stein); 55 (2007), 509: Benda (Hesse); 56 (2008), 261: Waldhoff (Scheffler)
Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen
Yvo Hangartner †: Das Leben als Werk. Vgl. NF 58 (2010), 357: Bernhardt, m. w. N.; 61 (2013), 599: Stern
Michel Fromont: Au service des échanges entre juristes francais et juristes allemands
Thomas Oppermann: Meine sechs Jahrzehnte Öffentliches Recht. Vgl. NF 60 (2012), 317: Oppermann
Daniel Thürer: Aus meinem Leben
Berichte
Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum
Ulrich Karpen/Tatjana Temelkoska: Untergesetzliche Rechtssetzung und Europäisches Recht. Mazedonien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft
Peter Häberle: Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber. Das Beispiel eines Verfassungsentwurfs für Island (2013)
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum
I. Amerika
Raúl Gustavo Ferreyra: 1852: Origins. On “Bases” of Juan Bautista Alberdi and the Federal Constitution of the Argentine Republic, throughout time. Vgl. NF 36 (1987), 507: Ramella, m. w. N.; 54 (2006), 713: Ferreyra; 60 (2012), 571: Häberle
Axel Tschentscher/Caroline Lehner: Das Amparo-Verfahren im Verhältnis zur Individualverfassungsbeschwerde. Vgl. NF 29 (1980), 479: Horn; 49 (2001), 513: Belaunde
César Landa: Rights to Social Security in Constitutional Peruvian Case-Law. Vgl. NF 43 (1995), 651: Belaunde
Andreas Krell: Die normative Ausgestaltung des brasilianischen Umweltrechtes und die Hauptprobleme seiner methodisch abgesicherten Anwendung. Auf dem Weg zu einer produktiveren Dogmatik. Vgl. NF 38 (1989), 447: Caubet; 58 (2010), 617: Maliska; 60 (2012), 585: Häberle
Ricardo Perlingeiro: Aspekte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Brasilien
Johann Justus Vasel: Innovationsimpulse des interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes
II. Asien
Jürgen Harbich: Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Mongolei. Vgl. NF 46 (1998), 433 (Textanhänge)
Sachregister
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Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge
 3161590619, 9783161590610

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DA S ÖF F EN T LICH E R ECHT DE R GEGEN WA RT

JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 62

HERAUSGEGEBEN VON

PETER HÄBERLE

Mohr Siebeck

Professor Dr. Dr. h.  c. mult. Peter Häberle Universität Bayreuth Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht 95447 Bayreuth

ISBN 978-3-16-153146-0 / eISBN 978-3-16-159061-0 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua belichtet, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Inhaltsverzeichnis Peter Häberle: Vorwort – Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort des Verlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

Abhandlungen Diego Valadés: Secularism and National Symbols of Mexico. Some Relations between Constitution and Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dieter Nohlen: Die Politik des Sonderweges. Wahlsysteme als Rechtsfrage . . . 11 Daniel Krausnick: Grundfragen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Matthias Niedobitek: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa: Konkurrenz zwischen Europäischer Union und Europarat? Zugleich ein Beitrag zur Auslegung von Art.  59 Abs.  2 GG . . . . . . . . . . . . . . 61 Rolf Schwartmann/Christian-Henner Hentsch: Wechselwirkungen im Wissenschaftsurheberrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 S¸ ükrü Uslucan: Menschenrechte im Islam oder nur islamische Menschenrechte? Zum Menschen(rechts)bild im Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Vgl. NF 44 (1996), 205: Mikunda; 51 (2003), 21: Mikunda

Matthias Rossi: Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . 159 Frauke Brosius-Gersdorf: Soziale Elternschaft. Regelungsdefizite und -optionen bei der Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern . 179 Josef Aulehner: „Denken in Grundrechtssituationen“ versus eindimensionales und bipolares Grundrechtsverständnis. Dargestellt am Beispiel der Organtransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Kathrin Groh: Die Logiken des „neuen Sicherheitsrechts“ im Waffengesetz: Vorsorge und Kostenüberwälzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Kathrin Bünnigmann: Interaktion erwünscht! Anmerkungen zur Wechselwirkung von Roman und Realität anläßlich des „Esra“-Beschlusses . . 259

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Inhaltsverzeichnis

Leonardo Álvarez Álvarez: Das Kruzifix in den europäischen Klassenzimmern. Ein kontextueller Ansatz zur staatlichen Neutralitätspflicht . . . . . . . 287 Vgl. NF 56 (2008), 125: van Ooyen

Francisco Balaguer Callejón: European Identity, Citizenship and the Model of Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Vgl. NF 53 (2005), 401: Balaguer

Jan Philipp Schaefer: Die Europäische Union zwischen grundrechtlicher und demokratischer Freiheitsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ilie Ursa: Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche. Eine Einführung . . . . . 371 Peter Häberle: Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Jörg Luther: Werte an der Front. Eine Geschichte der Lehren Heinrich Herrfahrdts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

Antrittsvorlesung Markus Kotzur: „Constitutional Moments“ in globaler Perspektive – eine völkerrechtliche Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Vgl. NF 61 (2013), 525: Rixen

Abschiedsvorlesung Paul Kirchhof: Forschen heißt Hoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Vgl. NF 60 (2012), 281: Thürer

Richterbilder Alexander Jannasch: Wolfgang Zeidler – Präsident des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Vgl. NF 46 (1998), 95: Steffen (Stein); 55 (2007), 509: Benda (Hesse); 56 (2008), 261: Waldhoff (Scheffler)

Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen Yvo Hangartner †: Das Leben als Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Vgl. NF 58 (2010), 357: Bernhardt, m. w. N.; 61 (2013), 599: Stern

Inhaltsverzeichnis

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Michel Fromont: Au service des échanges entre juristes francais et juristes allemands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Thomas Oppermann: Meine sechs Jahrzehnte Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . 511 Vgl. NF 60 (2012), 317: Oppermann

Daniel Thürer: Aus meinem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum Ulrich Karpen/Tatjana Temelkoska: Untergesetzliche Rechtssetzung und Europäisches Recht. Mazedonien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft . . 559 Peter Häberle: Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber. Das Beispiel eines Verfassungsentwurfs für Island (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . 609

Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika Raúl Gustavo Ferreyra: 1852: Origins. On “Bases” of Juan Bautista Alberdi and the Federal Constitution of the Argentine Republic, throughout time . . . 617 Vgl. NF 36 (1987), 507: Ramella, m. w. N.; 54 (2006), 713: Ferreyra; 60 (2012), 571: Häberle

Axel Tschentscher/Caroline Lehner: Das Amparo-Verfahren im Verhältnis zur Individualverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Vgl. NF 29 (1980), 479: Horn; 49 (2001), 513: Belaunde

César Landa: Rights to Social Security in Constitutional Peruvian Case-Law . . 669 Vgl. NF 43 (1995), 651: Belaunde

Andreas Krell: Die normative Ausgestaltung des brasilianischen Umweltrechtes und die Hauptprobleme seiner methodisch abgesicherten Anwendung. Auf dem Weg zu einer produktiveren Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 Vgl. NF 38 (1989), 447: Caubet; 58 (2010), 617: Maliska; 60 (2012), 585: Häberle

Ricardo Perlingeiro: Aspekte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Brasilien . . . . 713 Johann Justus Vasel: Innovationsimpulse des interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737

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Inhaltsverzeichnis

II. Asien Jürgen Harbich: Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Mongolei . . . . . . . . . . . . . . 753 Vgl. NF 46 (1998), 433 (Textanhänge)

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765

Vorwort – Nachwort I. Dieser Band des JöR ist der letzte, von mir als Herausgeber betreute. Nach dreißig Jahren ist es Zeit, das Jahrbuch des öffentlichen Rechts in die Hände eines jüngeren Herausgeberteams zu geben. Seit vielen Jahren war es mein Wunsch, bis zum 80. Geburtstag im Mai 2014 – dem großen Vorbild G. Leibholz gleich (vgl. das Vorwort in JöR 32 (1983), S.  III) – „durchzuhalten“. Insgesamt sind einunddreißig Bände seit 1983 gestaltet worden. Der Herausgeber hat im Laufe dieser dreißig Jahre eine Reihe von neuen Kategorien des Jahrbuchs geschaffen: die „Richterbilder“ (seit JöR 32 (1983): T. Ritterspach über H. Höpker Aschoff ), H.-J. Rinck über G. Leibholz, JöR 35 (1986), A. Lopez Pina über M. G. Pelayo, JöR 44 (1996)), die „Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen“ (seit JöR 32 (1983), S.  31 ff.: W. von Simson) – von fremden Herausgebern in anderen Disziplinen mittlerweile nachgeahmt –, die Rubrik „Antrittsvorlesungen“ (seit JöR 59 (2011), zuletzt 62 (2014)) sowie „Abschiedsvorlesungen“ (vgl. JöR 60 (2012), 61 (2013), zuletzt 62 (2014)), die Kategorie „Europäische Juristen“, vor allem W. Hallstein ( JöR 53 (2009)) und K. Hesse ( JöR 55 (2007), 57 (2009)), überdies die Rubrik „Internationale Staatsrechtslehrer“: K. Vogel ( JöR 57 (2009)) und „Europäische Staatsrechtslehrer“ ( JöR 44 (1996), 49 (2001)) sowie zuletzt die „Lectiones Aureae“ (T. Oppermann und P. Häberle, JöR 60 (2012)). Nicht gelungen ist dem Herausgeber, einen Autor zu finden, der über die Praxis des Grundgesetzes oder anderer nationaler Verfassungen bzw. die Praxis parlamentarischer Gesetzgebung schreibt: im Sinne der früheren Kategorie „Aus dem Rechtsleben“ bzw. „Vom Staatsleben“. Auch besteht ein Defizit im Sinne einer „Kommentierten Verfassungsrechtsprechung“, wie dies 1979 gleichnamig in Buchform versucht wurde; immerhin wurde die Rechtsprechung des BAG bzw. des BVerwG dargestellt ( JöR 34 (1983) bzw. 37 (1988)), auch die des BFH ( JöR 37 (1988)). Gleiches gilt für die Kategorie „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft“, wie dies der Herausgeber 1982 unternommen hat (vgl. aber die Rezensionsabhandlung in JöR 42 (1994)). Wünschenswert wäre auch ein vergleichender Literaturbericht über ausländische Staaten. Dem Herausgeber ist es auch nicht geglückt, einen Autor für die Fortentwicklung des „Religionsverfassungsrechts“ in Deutschland und Europa zu gewinnen. Das sog. „Staatskirchenrecht“ kam nur gelegentlich ins Blickfeld (z. B. JöR 34 (1985), S.  303 (393 ff.), 35 (1986), 40 (1991/92)). Manche Länder sind vielleicht zu kurz gekommen: nicht so Japan (z. B. JöR 48 (2000), 49 (2001)), China (z. B. JöR 33 (1984), 34 (1985), 56 (2008), zuletzt 60 (2012)) bzw. Taiwan (z. B. JöR 35 (1986), 41 (1993)) sowie Korea bzw. Südkorea (vgl. z. B. JöR 35 (1986); 38 (1989), 58 (2010)), wohl aber in Europa vor allem die skandinavischen Länder (s. aber immerhin zu Dänemark: JöR 37 (1988), 38 (1989) und Finnland ( JöR 32 (1983)). Auch Großbritannien kam recht selten zu Wort (vgl. JöR 32 (1983), 57 (2009)); demgegenüber konnten mehrfach Autoren zu den Ent-

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Vorwort – Nachwort

wicklungen in den USA (z. B. JöR 35 (1986), 36 (1987), 42 (1994), 43 (1995), 46 (1998), 51 (2003), 61 (2013)) gewonnen werden, auch zu Afrika (zuletzt JöR 61 (2013)). Gleiches gilt für Italien (z. B. JöR 49 (2001), 50 (2002)). Lateinamerika wurde oft behandelt – aus „Pflicht und Neigung“ (z. B. JöR 52 (2004), 58 (2010), 60 (2012)), Gleiches gilt für Südafrika und Australien (z. B. JöR 33 (1984), 44 (1996)). Die Schweiz kommt sehr häufig zu ihrem Recht (z. B. JöR 34 (1985) und – als Schwerpunkt – im Blick auf das Jubiläumsjahr 1291/1991: JöR 40 (1991/92), 48 (2000)). Überhaupt waren dem Herausgeber die kleinen Länder wichtig (vgl. etwa zu Liechtenstein: JöR 38 (1989) oder Papua-Neuguinea ( JöR 32 (1983), Malta ( JöR 41 (1993) und Nepal ( JöR 56 (2008)). Auch Österreich (z. B. JöR 43 (1995)) und Griechenland wurden nicht vergessen (vgl. JöR 32 (1983), 33 (1984), 47 (1999), 54 (2006)). Die Türkei fand früh ihren Klassiker, in: E. E. Hirsch ( JöR 32 (1983)), ebenso Israel in: H. Klinghoffer ( JöR 36 (1987)). Indonesien wurde nur einmal „eingefangen“ ( JöR 48 (2000)). II. Immer wieder wurden Schwerpunkte gesetzt, etwa in Sachen „1789“ im Blick auf Frankreich (vgl. JöR 38 (1989)) oder hinsichtlich des „annus mirabilis“ 1989 – Stichwort: die Entstehung der neuen Bundesländer (vgl. JöR 41 (1993), 45 (1997), 51 (2003)) bzw. die Reformprozesse in Osteuropa (vgl. JöR 39 (1990), 43 (1995), 45 (1997), 46 (1998)). Seit den Zeiten von G. Leibholz gilt ein Schwerpunkt den deutschen Bundesländern (vgl. JöR 35 (1986), 36 (1987), 39 (1990) bis JöR 43 (1995)). Diese Tradition wurde regelmäßig fortgeführt (z. B. JöR 51 (2003)). Ein weiteres Beispiel für einen Schwerpunktband dieser Art ist die Aufsatzreihe „60 Jahre Grundgesetz“ auch aus der Sicht ausländischer Autoren (in drei Folgen, 57 (2009), 58 (2010), 59 (2011)) – als selbstständiger Band 2011 im Verlag Mohr-Siebeck erschienen. Das Europäische Verfassungsrecht wurde, soweit möglich, berücksichtigt (z. B. JöR 32 (1983), 47 (1999), 48 (2000), 53 (2005), 54 (2006), 61 (2013)). Die Regionalstatute in Spanien und Italien wurden bewusst in die europäische Öffentlichkeit der Juristen gerückt (vgl. JöR 43 (1995), 47 (1999), 56 (2008), 58 (2010), 59 (2011)). Auch das Steuerrecht wurde punktuell berücksichtigt (z. B. JöR 54 (2006), 56 (2008)). Arabische Länder kommen seit JöR 56 (2008), 58 (2010) ins Blickfeld, zuletzt JöR 60 (2012). In der Rubrik „Abhandlungen“ versuchte der Herausgeber eine Mischung zwischen Grundsatzbeiträgen einerseits (z. B. JöR 32 (1983): G. Burdeau, JöR 61 (2013): G. Zagrebelsky und H. Hofmann, JöR 51 (2003)) und aktuellen Fragestellungen andererseits (z. B. JöR 57 (2009)). Gelegentlich eröffneten die Abhandlungen der Wissenschaft ganz neue Felder (z. B. JöR 51 (2003): E. Mikunda zum „Gemeinislamischen Verfassungsrecht“ sowie A. Peters: zum „subjektiven internationalen Recht“, JöR 59 (2011)). Immer wieder wurden Gastvorträge bzw. Kolloquien und Seminare in Bayreuth dokumentiert (z. B. JöR 47 (1995), 49 (2001), 52 (2004)).

Vorwort – Nachwort

IX

III. Ein besonderes Anliegen war dem Verf. der Aspekt des Pluralismus in Sachen Autoren, insbesondere „Schulen“, „Familien“, „Vorverständnis und Methodenwahl“ ( J. Esser), aber auch im Blick auf jüngere und ältere Autoren, inländische und ausländische. Selbst „literarische Gegner“ kamen zu Wort (z. B. JöR 45 (1997)). Gelegentlich ist es gelungen, leibhaftige amtierende oder emeritierte BVerfG-Richter zu gewinnen ( JöR 33 (1984): W. Geiger, 43 (1993): H. J. Faller; 53 (2005), K. Hesse: JöR 44 (1996), 46 (1998), L. Osterloh, 56 (2008), G. Lübbe-Wolf: 53 (2005), E. Benda ebd., P. Kirchhof ( JöR 54 (2006); A. Voßkuhle JöR 59 (2011)). Vereinzelt kam es zu (eigentlich nicht erlaubter) Grundsatzkritik am BVerfG ( JöR 44 (1996): J. H. H. Weiler). Nicht selten wurden Brücken zu Nachbarwissenschaften wie der Politikwissenschaft gesucht ( JöR 33 (1984): D. Sternberger, 40 (1991/92): A. Riklin; P. Graf Kielmansegg: 59 (2011)), auch zur Geschichtswissenschaft (G. A. Ritter/M. Niehuss, JöR 49 (2001)), zuletzt auch zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie ( JöR 61 (2013): J. Mittelstrass). Das Internationale Recht bzw. Völkerrecht wurde nur punktuell einbezogen (z. B. JöR 36 (1987), 46 (1998), 49 (2001), 52 (2004), 57 (2009), 59 (2011)). Vereinzelt wurden sogar bewusst Studenten oder Doktoranden gewonnen (vgl. als Beispiel: JöR 60 (2012), S.  661 ff., zu Bhutan). Besonders befriedigend für den Herausgeber war es, wenn er einen Autor von dessen Assistentenzeit bis zum Ordinariat begleiten konnte (so bei P. Cruz Villalón, JöR 34 (1985) bis 37 (1988) und 48 (2000)). Der wissenschaftliche Nachwuchs in Gestalt der Assistententagung des öffentlichen Rechts hatte im JöR ein verlässliches Forum (vgl. die Berichte in: JöR 34 (1985), 44 (1996), 55 (2007)). Plötzliche Absagen der Autoren verursachten oft unangenehme Lücken, die auch später (bei der mindestens dreijährigen Vorausplanung) selten ausgeglichen werden konnten (dazu schon die „Klage“ des Herausgebers in JöR 50 (2002): Vorwort zum 50. Band). Speziell das Entstehen einer „neuen Schule des Verfassungsrechts in Granada“ wurde immer wieder dokumentiert (z. B. F. Balaguer, in JöR 47 (1999) und 49 (2001) sowie M. Azpitarte, JöR 56 (2008)). IV. Der Herausgeber dankt dem Verlag Mohr Siebeck und seinem Inhaber Dr. h.c. Georg Siebeck, Herrn Dr. F.-P. Gillig, Tübingen und Frau I. König ebendort sowie in Sachen Register Herrn R. Schanbacher für jahrelange gute Zusammenarbeit, den Lesern für treues Interesse in vielen Ländern und den zahlreichen Autoren aus Europa und Übersee, besonders aus Lateinamerika, Japan, Südafrika, auch Australien (z. B. JöR 39 (1990), 40 (1991/92)) für ihre Beiträge. Ein besonderer Dank gilt auch fairen und treuen Rezensenten, insbesondere M. Kilian in der DÖV (z. B. 2000, S.  301, 2008, S.  929), zuvor O. Bachof (DÖV 1985, S.  589 ff., DÖV 1990, S.  795 f.), H. R. Klecatsky (z. B. Österreichische Juristische Blätter, Vol.  112/1990, S.  204), früher W. Henke (z. B. NJW 1986, S.  2628), M. Fromont (z. B. in RDP 1986, S.  1427 ff.), auch W. Fiedler (z. B. AöR 110 (1985), S.  626 ff., 127 (2002), S.  513 ff.)) sowie Ministerialrat H. Günther im Hessischen Staatsanzeiger (z. B. Nr.  26 vom 25. Juni 2012). Sicher lohnte es sich heute einmal, eine Rezensionsabhandlung zu schreiben, in der die vorhan-

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Vorwort – Nachwort

denen Jahrbücher im öffentlichen Recht weltweit miteinander verglichen würden (vgl. etwa das Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, 2010). Den wissenschaftlich wohl größten Erfolg hatten die beiden noch von G. Leibholz herausgegebenen Bände des JöR: Band  1 (1951) zur Entstehungsgeschichte des GG – kürzlich (2010) erneut publiziert mit einem Vorwort des Verf., vor allem in Sachen der fünf Gestaltungsmethoden eines Verfassunggebers – sowie von Band  6 (1957), dem berühmten „Statusbericht“ von G. Leibholz in Sachen BVerfG. Kurz- und mittelfristig haben die Rezensenten das Wort, langfristig hat die weltweite Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen universaler Konstitutionalismus im „Kontext der Teilverfassungen des Völkerrechts“ (dieses als „konstitutionelles Menschheitsrecht“ verstanden) das „letzte Wort“ über Jahrbücher als Literaturgattung. Können sich diese im Zeitalter des Internets behaupten? Die unsichtbare (oder doch sichtbare?) Hand des Herausgebers von 1983 bis 2014 hat sich darum bemüht. Bayreuth, im Frühjahr 2014

Peter Häberle

Vorwort des Verlags Mit diesem Band des Jahrbuchs des Öffentlichen Rechts geht eine Ära zu Ende: gut 30 Jahre mit 31 Bänden des Jahrbuchs unter der Herausgeberschaft von Peter Häberle. Der Verlag schuldet Peter Häberle für diese beeindruckende Leistung Dank und Anerkennung. Peter Häberle hat es mit diesen dreißig Jahren seinem Vorgänger Gerhard Leibholz gleich getan: Wie dieser hat auch er für eine ganze ( Juristen-)Generation das Jahrbuch betreut. Er hat – kaum vorstellbar, dass so etwas in unserer Zeit noch von einer Person allein geleistet werden konnte – mit unermüdlichem Fleiß, mit wachem Interesse, mit Aufgeschlossenheit und mit Humor das Jahrbuch auf einen unverwechselbaren Kurs gebracht. Der Abschied fällt Peter Häberle sicher nicht leicht, zu stark war er mit dem Jahrbuch verbunden, hat es geprägt durch neue Rubriken, neue und teilweise bandübergreifende Themen und nicht zuletzt auch durch eigene Beiträge. Seine Herausgeberschaft endet mit diesem Band auf seinen eigenen Wunsch, getragen von der Einsicht in die altersbedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit aber auch der Akzeptanz, dass wir vieles im Leben nur zu Lehen haben. Mit dem nächsten Jahrbuch wird die Herausgeberschaft in andere Hände übergehen: Mit Susanne Baer, Oliver Lepsius, Christoph Schönberger, Christian Waldhoff und Christian Walter ist aus der Sicht des Verlags eine würdige Nachfolge gefunden; sie werden auf ihre Weise die zukünftige Ausrichtung des Jahrbuchs prägen. Tübingen, im Januar 2014

Franz-Peter Gillig und Georg Siebeck

Abhandlungen

Secularism and National Symbols of Mexico Some Relations between Constitution and Culture by

Diego Valadés Member of the Instituto de Investigaciones Jurídicas (Institute of Juridical Research) at the National Autonomous University of Mexico (UNAM)

1.  The national symbols of Mexico Progressive secularism of the laws contrasts with the continued existence of symbols of religious origin and content, deeply embedded in the Mexican culture. Until now, these symbols have not hindered the secularization of the country, but in turn have provided stern resistance to the development of secularism. It is necessary to study the implications of this imbalance between the norm and some expressions of normality in order to determine if these symbols are associated, or not, with the regressive behaviors which are impeding liberal reforms in Mexico. Resistance to the decriminalization of abortion, homosexual marriage, and even passive euthanasia is still strong in numerous parts of the Mexico. Thus, it is necessary to carry out an empirical investigation to identify the extent and magnitude of these confessional attitudes. The religious context of national symbols is barely identifiable in both the flag and coat of arms, but conversely, it is prevalent in the national anthem. The following is a theoretical analysis; the empirical examination of this phenomenon and of its repercussions is to be done. This essay is inspired by the enlightening work by professor Peter Häberle concerning national flags. With his book Nationalflaggen (2008) professor Häberle opened a new field for the study of law and cultural relations, developing a new theory based on the analysis of the meaning of national flags all around the world, including international and some regional flags.

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2.  The flag The Mexican national symbols have a prominent religious significance. The colors of the flag (green, white and red) were chosen by Agustín de Iturbide, a military opportunist who was proclaimed as Emperor of Mexico at the time of independence from Spain. These colors were chosen to symbolize the three-fold pledge underpinning the agreement at the end of the war of independence, as laid out in the Plan de Iguala of 1821; these being: the Catholic religion – “without tolerance for any other”; independence; and lastly union under a monarchy. When already established as an independent nation, in November 1821, the provisional governing body decreed that the arms of the empire would be represented by a crown-bearing eagle, perched on a cactus, with this stemming from a rock. Moreover, they declared that the flag’s colors would remain as the so-called “three guarantees”, being positioned in a vertical manner. Later, in April 1823, the Congress was consulted by the government on the national flag. This was an essential issue for ensuring Mexican-flagged ships could sail into foreign countries the ports. The Congress discussed this matter on the 12th of April. An important caucus, headed by Servando Teresa de Mier, was inclined to adopt the colors of blue and white which were used during the war of independence; the leading Deputy José María Fagoaga retorted that any substitution of the three-colored flag would lead to “the enemies of the representative system, which slander Congress,” to argue that such a move undermined independence and was also against religion. This debate occurred only one month after the fall of emperor Iturbide. The thesis of Fagoaga prevailed1. The colors of the flag have the advantage that their symbolism varies according to the criteria one wishes to apply. During the period of the Mexican liberal Reform (1855–1863), for example, it was explained that the green represented hope, the white unity and the red the blood of national heroes; and the preamble to the Act of National Symbols of the 12th of March 1968 stated that the flag expressed “chromatically” Independence, Reform and Revolution. Despite the way that explanations have varied, the different forms of teaching and educating the general public have been responsible for maintaining the motivations of Iturbide; therefore the civic culture still has remains of religious symbols.

3.  The coat of arms The symbol of the eagle devouring or destroying a snake was adopted as a national symbol at the same time as the flag, first by Agustín de Iturbide and later by the Congress of 1823. Over the centuries it has been maintained, with slight variations of style, as the official coat of arms of Mexico. Through the visual lens, it is an image of great beauty; however two problems exist: both the historical authenticity and the survival of the colonial and confessional elements. 1  Mateos, Juan A., Historia parlamentaria de los congresos mexicanos (Parliamentary History of Mexican Congresses), Mexico, J. F. Jens, 1878, Vol. II, pp.  253 and following.

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Of the more than five-hundred Aztec and Mayan codices which are preserved 2, the eagle only figures in the following: the Mendoza Codex (1540); the Ramirez Codex (1588), the Aubin Codex, painted and construed between 1576–1601; the Monteleone Codex (1531–32); the Porfirio Díaz Codex, from the early XVI century; the Strip of Tepechpan, from the mid-XVI century; the Atlas Codex, of friar Diego Durán, also known as the Durán Codex (1581); and the Techialoyan Codex, of the XVIII century. It is evident that these sources of the hypothetical “Aztec tradition” were produced during the colonial period. Of these eight codices in which appears the eagle, only in three of these, those of Aubin, Porfirio Díaz and in the Atlas of Durán, does the snake also appear being shattered (not eaten) by the bird of prey. Moreover, in the rich array of pre-Hispanic archaeological sites which remain, there is no single similar representation and, on the contrary, there are many which exist with the most prominent animal being the snake. This is a remarkable fact, because if the legend of the foundation of Tenochtitlan had existed before the arrival of the Spanish colonizers, there would have been an archaeological record or footprint. It is not as such for one reason: the legend was constructed during the Hispanic period of domination. It is unconceivable that an alleged founding tradition of a major empire of pre-Hispanic Mesoamerica would not have left even a single image in the vast monuments, architectural and sculptural works of the Náhuatl people. Here we will see why this legend came to be constructed. According to the Bible, the snake ceased to be one of the most crafty of “any beast of the field which the lord God had made”, to become “cursed [.  .  .] than every beast of the field”.3 In most biblical texts the snake is considered as sign of evil. This is confirmed by Matthew in his interpretations of Jesus’ statements: “You brood of vipers, how can you, being evil, speak what is good?”; “You serpents, you brood of vipers, how will you escape the sentence of hell?”4 Instead the eagle is a symbol of rejuvenation5, and its flight the proximity to heaven.6 From the Middle-Ages the eagle became the symbol of Saint John, disciple and relative of Jesus; and the dragon, the personification of evil, was defeated by Saint Gorge. Moreover, Mithraists worshipped the figure of a wolf wrapped in snakes, as a central symbol of the time.7 In some cases, during the Middle-Ages, the eagle of Saint John was depicted holding a snake, a symbol of evil. These symbols, which are present in the biblical tradition, perhaps have their origins in more ancient cultures. In Egypt there were two deities represented by the snake: Nehebkau, who appears in the inscriptions of the V and VI Dynasties (XXII and XXIV century BC), and Kematef. In addition, the image of Ouroboros, the

2   León-Portilla, Miguel, Códices. Los antiguos libros del Nuevo Mundo (Codices. The Ancient Books of the New World), Mexico, Aguilar, 2003, p.  16. 3   Genesis 3.1 y 3.14. 4   Matthew, 12.34 y 23.33. 5   Psalms, 103.5. 6   Isaiah, 40.31. 7   Lurker, Manfred, “Snakes”, in Eliade, Mircea, coord., The Encyclopedia of religion, N.  York, Simon & Schuster, 1995, Vol.  13, p.  373.

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reptile circling round to bite its own tail, with this representing the idea of unlimited regeneration, already visible in the tomb of Tutankhamun (XVI century BC).8 Amongst the Chaldeans, the words ‘snake’ and ‘life’ were synonymous.9 In the most ancient legend of Mesopotamia it was said that the snake stole the plant of eternal life and thwarted the hopes of Gilgamesh to achieve immortality. According to the poem, the hero descends into the water in search of the plant of eternal life, which would allow humans to overcome the fear of death. Having obtained the plant he heads back to Uruk, and while on the road he takes a rest and refreshes himself by diving into a well, only to be surprised by a snake. “For whom have my arms labored, Urshanabi! / For whom has my heart’s blood roiled! / I have not secured any good deed for myself, / but done a good deed for the ‘lion of the ground’!”10 This snake received the name “Lion of the ground”, whereas elsewhere it became known as Chameleon. It is highly likely that it is here that the image of the snake begins to acquire a negative connotation, which would be observed later in Persia. In regards to the eagle and the snake combined as one, among the Greeks this was an augural symbol, evidenced by the fight between both animals which Homer refers to, where the victor was the asp11. The same occurred in Antigone, by Sophocles, as the Thebans were considered sons of the serpent. When the Thebans are attacked by Polynices, “the eagle which launches shrill cries” is defeated by the “invincible serpent”.12 In contrast, in the delectable chapter where Aristotle13 describes the enmity between the animals, explains that eagles and snakes are natural enemies because the prior feeds on the latter. In Persia is where the symbolic antagonism between these animals reaches special significance for the Mexican colonial culture in the XVI century. The symbolic relation between both animals comes from ancient times, but acquires relevant characteristics for our topic from Zoroastrianism, This religion, which flourished around the XI century B.C, and which had a particular influence on the Abrahamic religions, identified the god of light and good as Auramazda, the eagle, and the darkness and evil as Ahrimán, the snake. Rudolf Wittkower has identified multiple archeological remains (reliefs, vases, and coins) with the image of the eagle devouring or shattering the snake14. After the Christianization of Rome, the symbolic figures of good and bad began to become 8   See Shaw, Ian, y Nicholson, Paul, Antiguo Egipto, (Ancient Egypt) Madrid, Akal, 2004, pp.  333 and following. 9   C fr. Chevalier, Jean, y Gheerbrant, Alain, Dictionnaire des symboles, Paris, Robert Laffont, 1982, p.  868. 10   Gilgamesh, tablet XI, 285–289. See D’Agostino, Franco, Gilgames o la conquista de la inmortalidad, (Gilamesh or the Conquest of Immortality) Madrid, Trotta, 2007, pp.  187 and following. 11   “For a bird had come upon them, as they were eager to cross over, an eagle of lofty flight, skirting the host on the left, and in its talons it bore a blood-red, monstrous snake, still alive as if struggling, nor was it yet forgetful of combat, it writhed backward, and smote him that held it on the breast beside the neck, till the eagle, stung with pain, cast it from him to the ground, and let it fall in the midst of the throng, and himself with a loud cry sped away down the blasts of the wind.” Iliad, Loeb Classical Library, translated by A. T. Murray, Cambridge, 1924, book XII, 200. 12   Lines 110 and 125, respectively. 13   History of Animals, IX.609.4. 14   Wittkower, Rudolf, “Eagle and serpent”, Journal of the Warburg Institute, London, Vol.  2 , No.  4, April 1939, pp.  293 and following.

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prevalent in tombs, on sarcophagi, and in triumphal arches, culminating in the most beautiful of them all – the VI century mosaic displayed in the main hall of Justinian’s palace in Constantinople, the capital of the empire of the East.15 The representation of good, identified in the eagle, fighting evil, personified by the snake, was adopted as a symbolic element of the Christianization of the Roman Empire. Moving to the Middle Ages the symbol multiplied and was incorporated in church windows, tombs and crosses, including those being utilized in processions and for exorcisms of places thought to be possessed by the Devil,16 particularly where epidemic outbreaks gave rise to the so called fear of the West, detailed by the French historian Jean Delumeau. This should be kept present in our minds because the discovery of America, or “encounter of the worlds” as has also been named, occurred when feudalism and its principles strongly resisted leaving the Middle Ages. It was only natural that Spanish missionaries in Mexico anathematized the veneration of the snake that the indigenous people held. The Christian symbol was adopted as the Coat of Arms of Mexico City from the beginning of the colonial period in the first half of the XVI Century, and with time it was expanded throughout New Spain. Those facts show the confessional nature of the symbol that has been adopted in an official manner by the Mexican State. Although for the large majority of the observers the religious sense goes unnoticed, the real meaning is that that the ancient symbols of Zoroastrianism and Christianity fly high today as the banner in a modern and secular nation. It is not feasible, nor desirable, to consider a replacement of the Mexican coat of arms itself; instead, what is necessary is to explain its content as the product of a legend fabricated to justify an act of domination, that the Mexican culture transformed it into a visual representation of its nationality, and that its survival is a simple conventionalism and not an expression of adherence to a religious creed, as it was in its origin.

4.  The anthem Unlike the national flag and emblem, the confessional nature of the national anthem is not a question of interpretation or history; it is actual and explicit. It is the symbol that has been subject to more legislative changes.17 The most important ones have consisted of the removal of the verses of 1854 which made references to the XIX Century dictator Antonio López de Santa Anna (“the immortal warrior of Zempoala”, verse IV) and to the Emperor Agustín de Iturbide (verse VII), this achieved by 15   Jobst, Werner, Istambul. Das grosse Byzantinische Palastmosaik, Istambul, Arkeoloji Sanat Yayinlari, 1997, p.  42. 16   See Valadés, José C., Historia del pueblo de México, (The History of the Mexican People) Mexico, Editores Unidos de México, 1967, Vol. I, pp.  164 and following. 17   A documented history of the national anthems and the changes incorporated into the current hymn can be seen in Velazco, Jorge, “El himno nacional mexicano” (“The Mexican National Anthem), in Galeana, Patricia, co-ordinator, México: patria e identidad (Mexico: Patriotism and Identity), Mexico, Archivo General de la Nación (National General Archive), 1995, pp.  117 and following.

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law in 1909, 1922 and 1942. The lyrics used to this day were established by the Law on the National Coat of Arms, Flag and Anthem of 1983. The first verses, preserved as originally written in 1854, say: Mexicans, at the cry of battle Lend your swords and bridle; And let the earth tremble at its center Upon the roar of the cannon. Your forehead shall be girded, oh fatherland, with olive garlands By the divine archangel of peace, For in heaven your eternal destiny Has been written by the finger of God. But should a foreign enemy Profane your land with his sole, Think, beloved fatherland, that heaven Gave you a soldier in each son.

Despite having a strong warlike style, the national anthem is today sung by millions of school children, and for many years has formed part of official protocol, ensuring that the highest Mexican officials and all Mexican citizens invoke God and the archangels in every civil ceremony. Whether it is a metaphor, it is a fact that both the believers and non-believers conform to one text in which the fate of Mexico was “written by the finger of God”. That is the anthem which is sung at public events by the political leaders of a secular State. Nonetheless, it is not the only national anthem with such characteristics. In fact, references are made to many deities within different national anthems. A prime example being Britain’s God Save the Queen, or King, as appropriate. Nevertheless, in the UK it is a case that the supremacy of the State with relation to the church exists without a formal separation between one and the other. In general, confessional expressions do not have the same relevance in countries where there has been such a marked fusion between ecclesiastical and political power, as in the cases of Spain and Mexico. In the United States the bank notes carry, by law, the phrase “In God we Trust”, but the Constitution in this country never established a religion of the State; this in contrast to the original Spanish and Latin American’ Constitutions. At times, secularism has been a slow process. Secular societies and even the world as a whole, preserve elements of religious origin. This is the case with the measurement of time, which is associated with religious criteria. In most parts of the world the Christian (Gregorian) calendar is followed, and where it does not apply is because the Buddhist18, Hebrew, Islamic or Indian19 calendar is followed – this belonging to a religious matrix. The French Revolution tried to secularize time, but its calendar endured a mere twelve years (1793 to 1805). Other attempts to secularize the measurement of time have fared better, such as the appearance of public clocks from 1335, in Milan. In a progressive manner, the presence of these clocks spread throughout Europe, mostly locally, taking the place of the ringing bells of parishes, which tradi  Fundamentally in Cambodia, Burma, Laos, Myanmar, Sri Lanka and Thailand.   In India Gregorian is official, but the civil and religious effects are still used in the Vedic calendars.

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tionally indicated the hour. Additionally, from the XVII century, pocket watches contributed to the civil domain in this matter. Culture, hence, is accompanied, and sometimes preceded, by legal and political decisions in relation to the secularization of each society. It is possible that many symbols will remain unchanged in their confessional origins, but their explanation must be orientated in a direction that allows an understanding of the context of their origin and formation, and of their new reality. As for the national anthem, the Mexican musicologist Jorge Velazco said “I do not think that the Mexican national anthem should be changed. It would be so difficult to arrive at an agreement on the new anthem that we would have to return and restart the arduous process of the XIX century, already surmounted by the course of time and with the roots of the anthem in the national conscience”.20 In general I share his view, but I also consider that if in the past it was possible to remove verses which jeopardized the interpretation of historical periods of dictatorship, it cannot be justifiable to impose, by law, a theological conception of the national history which ostensibly violates the provisions of Article 40 of the Constitution, amended in 2013. In education it is important to explain the historical processes to students, so that they understand the scope of expressions and that they are able to notice that a secular State does not raise the exclusion of anyone, but instead the reasonable explanation of the rule and of the culture. The survival of the accepted symbols must serve to consolidate the impartiality of the State, even towards the past, but must do so in an explicit form as to avoid misunderstandings.

5.  Conclusion: The power of the symbols In the sphere of norms it is frequent to mistake nominal modifications with cultural changes, because a political decision of legal relevance is often adopted more promptly than a change in cultural patterns. The preservation of an intolerant order in Mexico, with the first Constitution in 1824, clashed with the tendencies of a society whose main intellectual leaders were in touch with the Enlightenment. Conversely, the reformist split by liberals some years after encountered strong resistance from the Church and, consequently, religiousness remained prevalent in a large segment of the society at the time. It was not noticed that the tensions between the confessional views and secularist ones aroused as soon as the republic form of government was adopted. The legitimization of medieval monarchies was associated with the religious argument of the divine origin of political power. This confessional source of legitimacy subsisted well into the Modern Age, favouring the monarchical institution in its struggle against feudal powers, and consequently strengthening the absolutism. The advent of the constitutional State implied the substitution of the metaphysical legitimacy of the rulers with the principle of popular sovereignty, or Parliamentarian sovereignty, in the case of England.   Op. cit., p.  166.

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Early secularization of politics in medieval European republics explains why in one of them, Florence, the doctrine of modern State arose, headed by Machiavelli. A similar tendency towards the secular exercise of political power happened in the other modern European republics, even before the Peace of Westphalia. Such was the case of the Netherlands in the XVI Century, for example. In the emerging Latin American republics, during the XIX Century, the association of the Catholic Church with new born militarism gave way to a severe abuse of personal power and of the legitimacy of rulers. While in the first Latin American republics metaphysic legitimacy could not be invoked in favor of presidents, the Catholic Church supported the thesis of the common good associated with the peace imposed by dictators. The legitimacy of the XIX Century dictatorships was not based on divine origin but on the peacekeeping mission of strong men, with the blessing of the Church and with the corollary of religious intolerance. Nonetheless, the argument could not avoid that reformist ideas gathered strength, even under the political regimes based in the exercise of almost absolute personal power. The concepts of republic and democracy do not always imply each other. The establishment of a republic does not necessarily involve the establishment of a democratic system, and vice versa In history it is possible to find examples of democracy in monarchical systems and of dictatorship in republican ones. What is associated with the idea of a republic is that the power does not depend on metaphysic decisions; therefore, there is a symbiotic tendency between the notions of a republic and of secularism. This is a phenomenon observed since ancient times, as shown by Varro. Even though there is little remaining of the prolific work of he who was considered by Cicero as one of the most acute and erudite characters of his time21, it is known that one of the contributions of Varro consisted in attributing to men the creation of gods and not vice-versa 22. As a consequence, human affairs were separated from divine matters, and to give a conceptual explanation of this difference he identified the mythical, natural and civil theologies. According to Varro, the mythical theology was a poetic fiction and was intended for the theatre; the natural theology pertained to the philosophers in order to determine the origin and functions of the gods23 ; and the civic concerned the priests in order to decide the times, places and forms to worship the deities. Because of these arguments, Augustine said that Varro was recognized as secular by the Christians and as liberal by the Pagans.24

  Cit. by Augustine, City of God, VI, 2; furthermore, Cicero dedicated a Varro an important part of his Academic Dissertations. (I,1 and following.), in which he alluded to the dazzling culture of Varro. For his part, Quintilian did not fall behind in his recognition and referred to Varro as a Roman scholar (vir romanorum eruditissimus). See Institutions of Oratory, X, 95. 22  Augustine, op. cit. VI. 4. 23   Id, VI. 5. 24   Id, VI. 2. Literally said: Qui tametsi minus est suauis eloquio, doctrina tamen atque sententiis ita refertus est, ut in omni eruditione, quam nos saecularem, illi autem liberalem uocant. The transcription of this text reflects that in the V century secular and liberal voices were used as synonyms. 21

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Varro stated that, in the Roman republic, the nefast days were the fifty-eight annual journeys in which it was forbidden to exercise the rights conceived under civil legal proceedings.25 Out from this period civil law prevailed. In this way, the State rules, and those regulations which derived from religion, alternated through time, but in a separate manner. This first conventional expression of secularism did not mean a separation of the fields of competence, but rather a separation of the time of validity. A republic can only be secular because, whether democratic or not, the anointing of power no longer corresponds to a metaphysical instance. In a republic the separation between political and religious orders is inevitable, and once such a separation is formed, the supremacy of the State is a direct and immediate consequence. Nonetheless, beyond the normative order the existence of cultural expressions associated with confessionalism are indeed possible. This is inevitable because culture is an ensemble of traditions and of a dynamic set of rules, customs, representations, beliefs, practices, expectations and aspirations, which form part of the collective and individual lives of the members of a State. In this sense, the culture to which I allude is not outrightly a formulation of the past, because this would make it static and conservative. Instead, within the constitutional dimension culture is dynamic and constructive, thus combining some ingredients of the past with what each community foresees and desires for the future. Language, the measurement of time and many other forms of individual and collective relations, is permeated by elements drawn from religions, which cannot be changed simply by the rule of the law. In these cases the best thing left to do is to differentiate these cultural elements from their religious connotations, and to give them only the conventional and practical relevance which they have in a secular era of democratic institutions and pluralistic society. Another thing is that these confessional elements and symbols inadvertently persist and their semiotic scope is projected in the collective life, without even noticing the effects of not being conscious of their meaning or of the fact they continue to encourage a kind of fundamentalism in some social sectors. This oversight exposes the normative system to relapses such as those seen in Mexico in 2009, when constitutional reforms in eighteen States (Länder) of the Federal Republic were adopted against the sexual and reproductive rights of women. A different way forward is to retain symbols of a religious nature, but with full knowledge of their cultural implications and adopting measures to explain the new context in which they work. The French Revolution attempted, unsuccessfully, to change the calendar. The cultural fact is that today the world measures the time from the hypothetical birthdate of Jesus Christ.26 What is striking is that the Catholic Church was unable to change traditions even more ancient that itself; for instance, the adoption of the 25th December as the conventional date for celebrating the birth of Jesus, which was actually a tradition adopted beforehand in Mithraism.27   La lengua latina, VI. 30.   The majority of experts agree on the historical authenticity of Jesus, but there are discrepancies with relation to the day and year of his birth. 27   The date of birth of Jesus has not been historically established. The majority of estimates place it in the 6 or 7 years before our era, and the 25th of December was determined in the V century for practical reasons, to counterbalance the Mithraism popularity. See Baldovin, John F., “Christmas”; O’Col25

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Language is also imbued in diverse religious traditions, including those which have faded or fallen into obscurity and disuse, and many which are considered as pagan by the Catholic Church. “Inaugurate”, for example, is a verb used in all the Romance languages and in some Anglo-Saxon; the word corresponds to a pre-Christ rite celebrated by augurs to invoke and receive the approval of the gods.28 Assuming the typology of their contents developed by Peter Häberle,29 the Mexican emblems are related to religious and mythological aspects. Within the cultural sphere it is not feasible to substitute certain elements which have become a cultural pattern, but it is desirable and possible that some of these particulars, especially those which have been adopted as standard, symbols and custom, be subject to explanation and nuance. For this reason, it is important that education accounts for the idea that the secular State remains impartial to the metaphysical phenomenon and that the explicit reference to religious symbols must be accompanied with an explication related to the era in which these symbols were constructed. The prior is particularly relevant with regards to the national anthem, for the reasons presented above, since the significance of the flag can be explained from a Republican and secular perspective, and the coat of arms can be attributed to, as was, to a colonial legend and not to a historical fact. The construction of a secular State is a task requiring constant application, and it is necessary to tend to the rules, without neglecting normality. In normality there are many cultural elements which add force to the validity of rules, and the rationality of law coexists with other realities. Nonetheless, I do not postulate bowing to these ‘other realities’, but rather to take them into account and know that the path to achieve transformation implies a prolonged cultural and juridical effort.

lins, Gerald, “Jesus”, and Gnoli, Gherardo, “Mithraism”, in Eliade, Mircea, ed. The Encyclopaedia of Religion, MacMillan, N.  York, 1995, Vol.  3, pp.  460 and following; Vol.  8, pp.  15 and following, and Vol.  9, pp.  580 and following, respectively. Hermann Usener indicates that, in addition to the 25th December, other dates dedicated to the worshipping of ancient deities were used in the Catholic calendar of saints during the Middle-Ages. Vid. Eliade, Mircea op. cit., Vol.  15, p.  153. 28   According to Cicero, two of the greatest legacies of Romulus era were the establishment of the Senate and the adoption of the auspices through the augurs of each of the original tribes. De legibus, II, 9. 29   Op. cit. p.  194.

Die Politik des Sonderweges Wahlsysteme als Rechtsfrage von

Dieter Nohlen, Heidelberg Die Metapher des Weges ist immer wieder bemüht worden, um die Entwicklung Deutschlands im internationalen Vergleich auf den Punkt zu bringen. Jahrzehntelang war vom deutschen Sonderweg die Rede. Im allgemeinen Verständnis bezog sich die These darauf, dass sich die Entwicklung zur Demokratie in Deutschland wesentlich vom europäischen Regelfall unterscheide, mit all den Verwerfungen, die aus dieser Abweichung abzuleiten seien. Diese Wegmetapher ist mannigfach hinterfragt worden. Ihr nachfolgend wurden andere Wege Deutschlands ausgemacht, etwa „der (lange) Weg nach Westen“ (Winkler 2000). Manfred G. Schmidt hat wiederholt für die Wirtschafts- und Sozialpolitik Deutschlands aufgezeigt, sie sei einen glücklichen „mittleren Weg“ gegangen (Schmidt 2008). Die Wegmetapher ist also lebendig. Es erweist sich zweifellos als notwendig, nach Zeiten und Gegenstandsbereichen zu unterscheiden, wie das in den beiden konträren Thesen vom Sonderweg und vom mittleren Weg bereits geschieht. Welchen Weg beschreitet die Bundesrepublik Deutschland in anderen Feldern der Politik, beispielsweise in der Institutionenpolitik? Knüpft die Entwicklung eher an die Vorstellung vom Sonderweg oder vom mittleren Weg an? Im Folgenden will ich die Fragestellung noch weiter einengen, nämlich auf die Wahlsystempolitik, und dabei die neuere Tendenz aufgreifen, Wahlsystemfragen als Politics-Fragen zu behandeln. Welches sind die Ideen und die Kräfte, die in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich die „Politics of Electoral Systems“ (Gallagher / Mitchell 2008) bestimmen? Auf welchen Feldern spielen sich die Kontroversen um das Wahlsystem ab? Im Allgemeinen gelten Wahlsystemfragen als Theoriefragen und Machtfragen, wobei Theoriefragen normative und empirische Gesichtspunkte beinhalten. In der Bundesrepublik Deutschland gelten Wahlsystemfragen auch als Rechtsfragen, und dies nicht nur beiläufig, sondern in entscheidender Weise, insofern als das Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit der in Deutschland angewandten Wahlsysteme mit dem Grundgesetz befindet und sich nicht scheut, dem Gesetzgeber das Wahlsystem gegebenenfalls vorzuschreiben. Hier-

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in besteht eine Eigenheit, die im internationalen Vergleich berechtigt, von einem deutschen Sonderweg zu sprechen.

Konzeptionelle Aspekte Max Weber hat von den Sozialwissenschaften gesagt, dass sie weniger die sachlichen, sondern die gedanklichen Zusammenhänge zum Gegenstand hätten (Weber 1956: 206). Man kann den Gedanken noch ausweiten: Wahlsysteme in ihrem sachlichen Zusammenhang zu verstehen, setzt voraus, sie in ihrer konzeptionellen Ordnung zu verstehen. Wahlsysteme können grob in Mehrheitswahl und Verhältniswahl unterschieden werden. Beide Begriffe zeichnet ein doppeltes Verständnis aus: Sie können zum ­einen als Repräsentationsprinzipien verstanden werden, zum anderen als Entscheidungsregeln, laut Arend Lijphart und Bernard Grofman (1984: 7) „a distinction we believe to be a critical one“. Werden Mehrheitswahl und Verhältniswahl als Repräsentationsprinzipien definiert, dann wird danach gefragt, welches ihre jeweiligen repräsentationspolitischen Ziele sind. Mehrheitswahl strebt als Ziel an, die parlamentarische Mehrheitsbildung einer Partei oder einer Parteiengruppierung zu fördern, sei es durch ihre mechanischen oder psychologischen Effekte. Verhältniswahl hat zum Ziel, die Parlamentsmandate an die politischen Parteien möglichst proportional zu deren Anteil an den auf alle Parteien entfallenen Stimmen zu verteilen. Eine weitere Zielsetzung der Verhältniswahl kann darin bestehen, den gleichen Erfolgswert der Stimmen zu ermöglichen. Ihm zufolge sollte jede Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Volksvertretung haben. Werden Mehrheitswahl und Verhältniswahl als Entscheidungsregeln definiert, dann wird danach gefragt, welches Kriterium angewandt wird um festzustellen, welche Kandidaten oder Parteien als gewählt gelten können. Mehrheitswahl bedeutet, dass die Mehrheit der Stimmen entscheidet, je nach weiterer Festlegung entweder die relative oder die absolute Mehrheit. Es zählen nur die Stimmen, die auf die siegreichen Kandidaten oder Parteien abgegeben worden sind. Alle anderen Stimmen fallen unter den Tisch. Verhältniswahl als Entscheidungsregel bedeutet, dass Anteile an den auf Kandidaten und / oder Parteien abgegebenen Stimmen entscheiden, wie viele Mandate eine Partei zugewiesen erhält. Im Prinzip zählen alle abgegebenen Stimmen.1 In der Wahlsystemliteratur wird unverändert häufig Mehrheitswahl nach der Entscheidungsregel und Verhältniswahl nach dem Repräsentationsprinzip definiert (so etwa erneut Gallagher / Mitchell 2008: 634). Ohne Symmetrie des Kriteriums ist jedoch schwerlich eine systematische Ordnung der Wahlsysteme zu erreichen (Vogel / Nohlen / Schultze 1971: 30ff.; vgl. auch Sartori 1994: 4). Mehrheitswahl und Verhältniswahl als Prinzipien sind miteinander unvereinbar Auf ihrer Ebene gibt es keine dritte Kategorie, keine Mischwahlsysteme. Aber auf der Ebene darunter, der 1   Diese Systematik habe ich zunächst 1969 entwickelt, dann in Vogel / Nohlen / Schultze (1991) erweitert und in meinen nachfolgenden Schriften, zuletzt ausführlich in Nohlen (2009b) vertreten. Für die Aufnahme in der Jurisprudenz siehe u. a. Wild (2003); Poier (2009).

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Wahlsystemtypen, sind Kombinationen unterschiedlicher technischer Elemente üblich (geworden), deren Gesamtwirkung ein Wahlsystem in Verbindung mit kon­ kreten Kontextbedingungen entweder der Mehrheitswahl oder der Verhältniswahl zuzuordnen gestattet. Verhältniswahlsysteme lassen sich danach differenzieren, ob die Zielsetzung eines exakten Proporzes besteht (reine Verhältniswahl) oder ob nur die Wirkungsrichtung bestimmt wird (Verhältniswahl mit begrenztem Proporz). Bei den letzteren lassen sich mehrere Systemtypen unterscheiden: Verhältniswahl in Wahlkreisen, Verhältniswahl mit Sperrklausel, kompensatorische Verhältniswahl, personalisierte Verhältniswahl. Die empirisch vorzufindende Kombinationsvielfalt hat die Ausdifferenzierung der Verhältniswahlsysteme geradezu erzwungen. Der Gesetzgeber hat die Systemwahl, wenn sie nicht durch die Verfassung eingeengt ist. Die Zuordnung konkreter Wahlsysteme zu den genannten Systemtypen spielt entscheidend in deren normative, analytische, politische und eben auch rechtliche Bewertung hinein, der hier unser Hauptinteresse gilt.

Wahlsysteme als Theoriefrage Die Wahlsystemfrage stellt sich als Theoriefrage in zweifacher Weise. Zum einen versteht sie sich als Frage nach dem besten Wahlsystem, zum anderen als Kausalfrage. Die Frage nach dem besten Wahlsystem wurde immer wieder neu aufgegriffen, häufig abstrakt an Werten wie der Gerechtigkeit, am Maßstab guten Regierens oder an der Vereinbarkeit mit dem vorliegenden Typ Regierungssystem zu bewerten versucht. Geradezu klassisch ist die während der Weimarer Republik vertretene These, dass Verhältniswahl mit dem parlamentarischen Regierungssystem unvereinbar sei. Parlamentarische Regierung verlange relative Mehrheitswahl – eine dem Westminster-Modell entlehnte These, die aus Besorgnis um die Stabilität der Demokratie bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland wieder auflebte (siehe Sternberger 1964), sich aber im Parlamentarischen Rat nicht durchsetzen konnte und nach der Konsolidierung der Demokratie in Deutschland an Kraft eingebüßt hat. Stets sind auch Wahlsystemforscher mit allgemein gehaltenen Optionen an die Öffentlichkeit getreten (Duverger 1984; Lijphart 1984; Sartori 1994). Wahlrechtskommissionen haben nicht minder die Frage nach dem besten Wahlsystem zu beantworten versucht, wobei hier in der Regel der nationale Zusammenhang in Betracht gezogen wurde.2 Neueren Datums ist die in komparativer Analyse der Politikergebnisse westlicher Industrieländer empirisch gesättigte Gegenthese, dass parlamentarische Regierung in Verbindung mit Verhältniswahl am erfolgreichsten sei (Lijphart 2012). Die Frage nach dem (kausalen) Zusammenhang von Wahlsystem und Parteiensystem hat sich seit Mitte des XX. Jahrhunderts in den Vordergrund der Wahlsystemforschung geschoben. Zu ihrer Beantwortung haben verschiedene Ansätze beigetragen. Zu unterscheiden sind grob vergleichend-qualitative von vergleichend-quanti2   Siehe etwa Report of the Royal Commision on the Electoral System in Neuseeland, der bezeichnender Weise den Titel trug: Towards a Better Democracy; Ausschnitt aus dem ausführlichen Vergleich abgedruckt in Nohlen (2009b: 208–210).

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tativen Untersuchungen, wobei erstere den historischen Kontext ebenso wie den systemischen Zusammenhang betonen, in welchem Wahlsysteme und Parteiensysteme gegenseitig aufeinander einwirken, letztere einzelne Wirkfaktoren von Wahlsystemen spezifizieren und darauf hin überprüfen, in wieweit sie den Grad der Proportionalität von Wahlergebnissen beeinflussen. Die Ergebnisse beider Ansätze lassen sich in der Weise zusammenfassen, dass es keine lineare Kausalität zwischen bestimm­ ten Wahlsystemen und bestimmten Parteiensystemen gibt, sondern allenfalls Tendenzen in der Wirkungsrichtung, deren Ausprägung jedoch vom jeweiligen Kontext abhängig ist. Vor allem lässt das (mehr oder weniger proportionale) Verhältnis von Stimmen und Mandaten, auf das einzelne Elemente des Wahlsystems noch den größten Einfluss ausüben, keine Aussagen über den Effekt des Wahlsystems auf die Struktur des Parteiensystems zu (Rae 1967; Lijphart 1994; Nohlen 2009b). Rein wahlgesetzlich kann man die Auswirkungen von Wahlsystemen nur bedingt steuern.

Wahlsysteme als Machtfrage Es sollte kein Zweifel bestehen: Wahlsystemfragen sind Machtfragen, und zwar in doppelter Hinsicht: in der Option ist es der politische Nutzen, den sich einzelne Parteien vom Wahlsystem erhoffen, in der Entscheidung zugunsten dieser oder jener Reform sind es die jeweiligen Machtverhältnisse. Als Machtfrage haben Wahlsystemoptionen die spezifische nationale Konstellation zum Ausgangspunkt. „Every political party obviously prefers the electoral system that favors it“ (Duverger 1984: 31). Dementsprechend war die Einführung der Verhältniswahl in Westeuropa in der Zeit um den Ersten Weltkrieg weniger ein Tribut an die Wahlgerechtigkeit oder gar an den Erfolgswert der Stimmen, sondern erfolgte aus Machtkalkülen der alten politischen Klasse, die unter Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts, das seinerzeit fast überall eingeführt wurde, parlamentarisch dezimiert zu werden drohte (s. Lipset / Rokkan 1967; hinsichtlich der Sozial­demo­ kratie siehe auch Misch 1974). Diese Logik bereitete in Frankreich, wo das Wahlsystem nie die geheiligte Spielregel der Demokratie war, 1986 der kurzfristigen Wiedereinführung der Verhältniswahl den Weg, als die Sozialisten bei absehbarer Wahlniederlage die Verluste an Parlamentsmandaten in Grenzen halten wollten.3 Der Nutzen, den politische Parteien sich von Wahlsystemreformen erhoffen, kann folg­ lich in mehr Macht oder in weniger Machtverlust bestehen. Für Mittel- und Ost­ europa konnte nachgewiesen werden, dass im Zuge der Dritten Welle der Demokratisierung die Entscheidung zugunsten eines Wahlsystemtyps vom Modell des Übergangs (Huntington 1991), das hieß konkret von den Kräfteverhältnissen zwischen Demokratisierern und alten Regimeeliten, abhing (Nohlen / Kasapovic 1996). Unterschiedliche Optionen in der Wahlsystemfrage ergeben sich erstens aus den strukturellen oder momentanen Regierungsverhältnissen. Parteien in der Regierung zielen mit Wahlsystemreformen auf Verbesserung der Chancen, die Machtposition zu erhalten, Parteien in der Opposition darauf, dies zu verhindern. So oder so geht es um Machtpolitik. Es ist deshalb verfehlt, nur denjenigen, die eine Wahlreform 3

  Zur Wahlsystemgeschichte Frankreichs siehe Nohlen (2010b).

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betreiben, Machtinteresse zu unterstellen. Diese Argumentation macht die Verteidiger des bestehenden Wahlsystems häufig blind für die machtpolitisch neutralen Vorzüge einer Reform. Ja, die Opposition geht sogar recht häufig fehl in der Annahme, die vom politischen Gegner geplante Reform würde ihr auf jeden Fall schaden, wie etliche historische Beispiele belegen.4 Unterschiedliche Wahlsystemoptionen einzelner Parteien ergeben sich zweitens aus deren jeweiliger Stärke. Als simple Regel kann gelten: Große Parteien bevorzugen weniger Proporz, zumal die gerade stärkste unter ihnen, kleine Parteien mehr Proporz. Verteidigung und Kritik der 2011 verabschiedeten Reform des Wahlsystems zum Deutschen Bundestag bildet diese einfache Gleichung getreu ab. Der Koalitionstyp von Regierungen ist ebenfalls von Bedeutung. Kleine Koalitionen müssen die Interessen von großen und kleinen Parteien unter einen Hut bringen. Gelingt das, macht es Wahlsysteme kompliziert, was Reformen dann ihrerseits der Kritik aussetzt. Große Koalitionen könn­ten für mehrheitsbildende Wahlsysteme zu Lasten kleinerer Parteien optieren, aber die Partner finden aus machtpolitischen Kalkülen selten zusammen, wie gerade die deutsche Erfahrung lehrt. 1968 brachte die SPD durch Parteitagsbeschluss die mit der CDU / CSU vereinbarte Reform zugunsten eines Dreierwahlkreissystems zu Fall, weil wahlsoziologische Untersuchungen ihr eine strukturelle Unterlegenheit attestierten, die nicht erwarten ließ, dass sie nachfolgende Wahlen würde gewinnen können. Mögliche Reformziele, wie die Regierbarkeit zu sichern, werden durch unterschiedliche Machtperspektiven der großen Parteien verhindert. Selbst kleine Reformen unterliegen machtpolitischen Erwägungen. Die seit Jahren andauernde, auch vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragene Kontroverse über die Überhangmandate in der personalisierten Verhältniswahl bildet hier ein schönes Beispiel.5 Vergleicht man Wahlreformen weltweit, so ist zum einen festzustellen, dass grund­ legende Reformen in etablierten Demokratien, Übergänge von einem Wahlsystemtyp zu einem anderen, rar sind (Nohlen 1984b; Lijphart 1994; Katz 2008). Es werden zwar unentwegt Wahlreformen diskutiert, zustande kommen allenfalls kleine Reformen. Die wenigsten Reformen gehen zudem aus einem parteienübergreifenden Konsens hervor. Parlamentarische Mehrheiten entscheiden. Es ist deshalb einigermaßen weltfremd, Konsens in Wahlsystemfragen zu fordern und recht unangemessen, den Parteien im Falle einer Reform ohne diesen breiten Konsens die Leviten zu lesen.6   Zuletzt war der Opposition in Italien die Wahlreform Berlusconis von 2005, die sie heftig bekämpft hatte, bei den unmittelbar nach ihr stattfindenden Wahlen von großem Nutzen; vgl. D’Alimonte (2008); Cagliagli (2010). 5  Die CDU / CSU verteidigte die Überhangmandate, die FDP die Reststimmenverwertung, die SPD lehnt Überhangmandate ebenso ab (bzw. will einen proportionalen Ausgleich für sie) wie die Reststimmenverwertung, die Grünen wenden sich nur gegen die Überhangmandate. 6   Das Bundesverfassungsgericht hielt im Urteil vom 25.7.2012 den Parteien vor, dass es ihnen nicht gelungen sei, „innerhalb von drei Jahren einen gemeinsamen Vorschlag für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes auf den Weg zu bringen. (...). Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen“. Reinhard Müller beschrieb treffend in der FAZ vom 2. Juni 2012 die Verabschiedung eines neuen Wahlsystems mit den Stimmen der Mehr­ heit aus CDU / CSU und FDP als normalen Vorgang. „Es wäre merkwürdig, und ein Novum in der Staatspraxis, wenn es gerade bei der Reform des Wahlrechts Einstimmigkeit im Bundestag gäbe. (...) Weder die SPD noch die Grünen haben für ihre Modelle eine Mehrheit.“ 4

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Wahlsysteme als Rechtsfrage Diesen in Wahlsystemfragen herkömmlichen machtpolitischen Gegebenheiten stemmt sich das Bundesverfassungsgericht entgegen, nicht ohne dabei in eine machtpolitische Konkurrenz zum demokratisch legitimierten Verfassungsorgan Bundestag zu treten. Weil Wahlsysteme die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen demnach in eigener Sache entscheidet, bestehe bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr, dass die jeweilige Parla­ ments­mehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lasse. Deshalb unterliege die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (so BVerfG-Urteil vom 9.11.2011). Die Wahlsystemfrage wird zur Rechtsfrage.7 Vom Wahlsystem ist im Grundgesetz nicht die Rede. Diese Abstinenz legt nahe, dass das Wahlsystem dem politischen Prozess anheimgestellt, also Gegenstand legitimer politischer Auseinandersetzung ist. Sie legt ebenfalls nahe, dass der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, wie er im Grundgesetz Art.  38 festgeschrieben ist, „nicht im Sinne des Prinzips der Verhältniswahl gehandhabt werden muss, also Zählwert­ gleich­heit ja, Erfolgswertgleichheit nein“ (Frowein 1968: 12).8 Gleichwohl wird das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsbeschwerde häufig mit der Frage des Wahlsystems befasst. Das Gericht prüft, ob das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit im Sinne der Erfolgswertgleichheit der Stimmen durch Regelungen im System der personalisierten Verhältniswahl eingeschränkt wird. So wurde auch die gegenwärtige Wahlsystemdebatte in Deutschland als Rechtsfrage durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf den Weg gebracht. Das sogenannte negative Stimmgewicht hielt der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das höchste deutsche Gericht nicht stand. Im Urteil vom 3.7.2008 hieß es: „Dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann“, verletzt Art.  38 Abs.  1 Satz des Grundgesetzes, demzufolge der Deutsche Bundestag aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorzugehen hat. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, „spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Re­ gelung herbeizuführen“ (siehe Nohlen 2009a). Die von der Regierungsmehrheit durchgesetzte Reform vom 3.12.2011 wurde vom Bundesverfassungsgericht am   In der Diskussion meines Vortrags „Die personalisierte Verhältniswahl in vergleichender Perspektive“ auf der Tagung „Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag – Die Quadratur des Kreises?“ der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission (Berlin, Juni 2013) wurde mir von Dieter Wiefelspütz entgegengehalten, Wahlsysteme seien Recht. Selbstverständlich sind Wahlsysteme Recht, sobald sie gesetzlich verabschiedet sind. In meiner These geht es jedoch nicht um diesen unbestreitbaren Sachverhalt, sondern um die Gestaltung der Wahlsysteme, welche Gesichtspunkte, Faktoren oder Institutionen dabei tragend sind. 8   Das Verhältnis von Zählwert und Erfolgswert zueinander wird häufig verkannt. Die Erfolgswertgleichheit setzt die Zählwertgleichheit voraus, ist aber nicht dessen automatische Folge. Vielmehr variiert der Erfolgswert nach Wahlsystemen. Bei gleichheitsrechtlich als relevant betrachteten Ungleichheiten gilt es zu ergründen, ob diese dem Wahlsystem geschuldet sind oder anderen rechtlichen Bestimmungen und Einflussfaktoren, die bereits einen ungleichen Zählwert der Stimmen hervorrufen. Nur wenn das Wahlsystem ursächlich ist, handelt es sich im Unterschied zu ungleichem Zählwert um ungleichen Erfolgswert. 7

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25.7.2012 ebenfalls für verfassungswidrig erklärt, weil Überhangmandate in einem Umfang anfallen könnten, „der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl auf hebe“. Die Spruchtätigkeit des Bundesverfassungsgerichts in Wahlsystemfragen fußt auf dem Verständnis der Gleichheit im Wahlrecht als Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes, wie ihn Art.  3 des Grundgesetzes etabliert. Hinzu stoßen zwei weiteren Grundannahmen: die Anwendbarkeit der oben genannten Grundsätze des Wahlrechts auf Wahlsysteme und die Vorstellung, die Verhältniswahl der Bundesrepublik habe sich am Ideal der nach Stimmen proportionalen Zusammensetzung des Bundestags zu orientieren. Was die erste Grundannahme anbelangt, so muss daran erinnert werden, dass der Rechtssatz der Gleichheit der Wahl sich historisch gegen alle nach verschiedenen Kriterien abgestuften Stimmgewichte wahlberechtigter Personen richtete sowie gegen die Ungleichheit des Repräsentationsschlüssels, das heißt, gegen eine in den Wahlkreisen ungleiche Zahl an Einwohnern oder Wahl­be­rech­ tigten, auf die ein Abgeordneter entfällt. Beide Gleichheitsanforderungen betreffen das Wahlrecht. Später bildete sich das Verständnis der Wahlrechtsgleichheit als verhältnismäßige Vertretung aller Stimmen in der zu wählenden Körperschaft heraus. Diese Gleichheitsanforderung betrifft das Wahlsystem. In der deutschen Sprachpra­ xis wird diese notwendige Differenzierung zwischen den Gegenstandbereichen, auf die der Gleichheitsgrundsatz angewandt wird, durch die synonyme Verwendung der Termini Wahlrecht und Wahlsystem erschwert. Man muss aber strikt unterscheiden zwischen Wahlrecht als dem Recht, zu wählen und gewählt zu werden, einerseits, und dem Wahlsystem, dem Verfahren der Abgabe von Stimmen und ihrer Übertragung (bei Parlamentswahlen) in Mandate, andererseits. Für das Wahlrecht gelten in repräsentativen Demokratien einheitliche Bestimmungen, die Verfassungscharakter tragen: das Wahlrecht hat allgemein, gleich, direkt und geheim zu sein, um als demokratisch gelten zu können. Es unterliegt in allen rechtsstaatlichen Demokratien der kontinuierlichen rechtlichen Überprüfung. Wahlrechtsfragen sind in diesem Sinne Rechtsfragen. Für das Wahlsystem gibt es keine einheitlichen Bestimmungen. Sinn und Funktion von Wahlsystemen liegen im Unterschied, den sie mechanisch und psychologisch bei der Bildung und Übertragung politischer Präferenzen in Parlamentsmandate machen. Wahlsystemalternativen bieten sich an, nationale Lösungen hängen von Machtkonstellationen ab, Effekte der Wahlsysteme von Kontexten. Anders als im Falle des Wahlrechts sind verfassungsrechtliche Vorgaben eher rar. Nur wenige Verfassungen schreiben vor, nach welchem Wahlsystem das nationale Parlament gewählt zu werden hat. Ist das der Fall, so kann natürlich die verfassungsgemäße Anwendung des Wahlsystems von Seiten der Wahlbehörden unmittelbar durch Verfassungsgerichte überprüft werden.9 Enthalten Verfassungen keine Festlegung des Wahlsystems wie im Falle des Grundgesetzes, so können gleichwohl Regelungen von Wahlsystemen verfassungsrechtlich überprüft werden, wenn sie standardisierte Grundsätze des gleichen Wahl  Diese Prüfung nahm beispielsweise die für Verfassungsfragen zuständige Kammer des Nationalen Gerichts in Venezuela vor, als die Wahlbehörden zuließen, dass die personalisierte Verhältniswahl, die 1989 nach deutschem Vorbild eingeführt wurde, bei den Wahlen von 2005 nach Art eines Grabensystems angewandt wurde; zu den Einzelheiten siehe Nohlen / Nohlen (2007). 9

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rechts betreffen, wie etwa die Wahlkreiseinteilung. Dagegen verschließen sich Fragen, die den aufgezeigten ureigenen Funktionen von Wahlsystemen entsprechen und den Unterschied zwischen ihnen ausmachen, ohne verfassungsrechtliche Verankerung des Wahlsystems eigentlich der verfassungsgerichtlichen Überprüfung – nicht aber in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht wird kontinuierlich in politischen Streitfällen über das Wahlsystem angerufen und es entscheidet über dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, wobei als Maßstab das gleiche und direkte Wahlrecht geltend gemacht wird, und zwar das gleiche Wahlrecht in Form der Erfolgswertgleichheit der Stimmen. Die Begründung des Urteils zum negativen Stimmgewicht vom 3. Juli 2008 hat mich dazu veranlasst, von einem „Zurück zu Weimar“ zu sprechen (Nohlen 2009a), denn sie lautet: „Ziel der Verhältniswahl ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind“. Weimar ist jedoch bereits viel tiefgreifender präsent, insofern als das Bundesverfassungsgericht sich die Spruchpraxis des Staatsgerichtshofs zu eigen macht, „wonach grundsätzlich die Gleichheit des Wahlrechts bei einem Verhältniswahlsystem nicht nur den gleichen Zählwert, sondern auch den gleichen Erfolgswert umfasse“ (Misch 1974: 208). Hier kommt nun die konzeptionelle Frage ins Spiel, wie das Bundesverfassungsgericht das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag interpretiert. Zunächst einmal anerkennt das Gericht, dass der Erfolgswert der Stimmen nach Wahlsystemen variiert und rechtlich einer unterschiedlichen Bewertung bedarf. Während bei Mehr­ heitswahl die Gleichheit im Erfolgswert der Stimmen systemfremd sei und folglich auch kein rechtlicher Bewertungsmaßstab sein könne, sei sie für Verhältniswahl unabdingbar, weil – wie gesagt – das Prinzip der Verhältniswahl auf Erfolgswertgleichheit ziele. Jede Stimme habe in gleicher Weise zur Zusammensetzung des Bundes­ta­ ges beizutragen. Allerdings könnten Einschränkungen des Proporzprinzips Grund­ gesetz konform sein, wenn sie ausreichend funktional begründet werden könnten. So hat das Bundesverfassungsgericht die Fünfprozentklausel im Wahlrecht anerkannt, um stabile Regierungsverhältnisse zu ermöglichen, ebenso wie Überhangmandate ohne Mandatsausgleich, um der Kombination von Personenwahl und Listenwahl (in der Sicht des Gerichts von Mehrheitswahl und Verhältniswahl) gerecht werden zu können. Indes müsse deren Zahl begrenzt bleiben. In seiner Entscheidung vom 25.7. 2012 hat es eine Obergrenze von 15 Überhangmandaten ohne Mandats­ausgleich gezogen. Das Verständnis der personalisierten Verhältniswahl von Seiten des Bundesverfassungsgerichts ist damit vorrangig vom Prinzip der Verhältniswahl geprägt, fest­ gemacht an der Erfolgswertgleichheit der Stimmen, nur im Nachhinein werden Einschränkungen des Prinzips bei funktionaler Begründung und in einem verfassungsrechtlich am Maßstab der Erfolgswertgleichheit noch vertretbaren Maß anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht wird freilich nicht aus sich heraus tätig. Es wird in Streitfällen in der Regel von politischen Akteuren angerufen, die sich im politischen Prozess nicht haben durchsetzen können. In Wahlsystemfragen prüft es nicht nur die Vereinbarkeit des Wahlgesetzes mit der Verfassung, es entscheidet auch zugunsten einer der Streitparteien. Das Gericht fungiert quasi als weitere Kammer, die sich eines justizförmigen Procedere bedient und in der sich anhand der Logik des Rechts, die keineswegs so unpolitisch ist, wie sie gelegentlich zu sein vorgibt, neue Mehr-

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heitsverhältnisse herstellen10. Insofern steht das mächtige Organ Bundesverfassungsgericht in Gefahr, den verlängerten Arm der Opposition zu bilden und die politische Gestaltungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers in Wahlsystemfragen ungebührlich einzuengen. Wenn dann noch hinzukommt, dass rein rechtlich und rechtsvergleichend die Gerichtsentscheidungen nicht vollends zu überzeugen vermögen, kann die Rechtsfrage von der Machtfrage kaum noch unterschieden werden.

Einwände gegen ein striktes Verständnis der Verhältniswahl Gegen diese Auslegung des Wahlsystems im Sinne einer strikten Anwendbarkeit des Gleichheitsgrundsatzes bestehen etliche Bedenken ganz verschiedener Natur, die wir im Folgenden kurz darstellen wollen. Erstens ist Verhältniswahl nicht nur als Prinzip im Sinne eines Repräsentationsprinzips zu verstehen, sondern – wie oben dargelegt –auch als Entscheidungsregel. Ist Verhältniswahl nicht in der Verfassung festgeschrieben, kann sie auch einfach als Regel fungieren, nach der Mandate in Mehrpersonenwahlkreisen entsprechend dem Anteil an den Stimmen vergeben werden. Das ist beispielsweise bei der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen der Fall. Verhältniswahl in Dreierwahlkreisen gilt als Mehrheitswahl. Zweitens ist Verhältniswahl als Prinzip nicht als mathematische Größe zu begreifen, sondern nur als allgemeine Orientierung der politischen Repräsentation: „the proportionality principle should not be cast in stone as an exact mathematical requisite ... It should rather serve as a general guideline with multifarious possible applications in different contexts“(Brighouse /  Fleurbaey 2010: 145). Diese Auffassung schlägt sich international in Verhältniswahlsystemen nieder, die empirisch eine hohe Unterschiedlichkeit in der Erfolgswertgleichheit der Stimmen aufweisen (vgl. Nohlen / Stöver 2010), ohne dass dies andernorts als verfassungsrechtlich bedenklich angesehen wird. Drittens bedeutet das „Möglichst“ in der Beschreibung des Proporzprinzips, der Anteil der Mandate einer Partei solle möglichst ihrem Anteil an Stimmen entsprechen, keine Aufforderung zu dessen strikter (maximaler) Realisierung, sondern eine Relativierung des Prinzips. Das „Möglichst“ verweist auf Bedingungen, die es zu berücksichtigen gilt und die die Anwendung des Prinzips einschränken können.

  Man muss sich dabei vergegenwärtigen, wie politisch die Argumentation der Streitparteien ist, auch und gerade der befragten Experten. Wenn etwa die Vergabe der Mandate nach Proporz in Mehr­ personen­wahlkreisen und der landesweite proportionale Ausgleich im Wahlgesetz vom Dezember 2011 von einem Experten als „das liederlichste Stück Wahlrecht, dass ich je erlebt habe“ bezeichnet wurde (zit. nach Der Spiegel, 22 / 2012: 34), so verweist die Polemik nur darauf, dass sich hier jemand in der internationalen Landschaft der Wahlsysteme nicht auskennt bzw. wie sehr Experten vor dem Bundesverfassungsgericht als Anwälte Standards in der Wahlsystemlehre zugunsten parteipolitischer Interessen vernachlässigen. Das ist dem Bundesverfassungsgericht nicht anzulasten, besagt aber viel über die politische Dimension des justizförmigen Geschehens. 10

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Viertens ist in Wahlsystemfragen die Vorstellung fragwürdig, es gehe um die Durchsetzung eines einzigen Prinzips. Vielmehr gilt es zu erkennen, dass mit Wahlsystemen verschiedene Zielsetzungen verfolgt werden können und es zwischen diesen abzuwägen gilt, auch und gerade wenn die Verhältniswahl als Repräsentationsprinzip dominiert (s. dazu Nohlen 2009b: 166ff.). Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag ist dafür ein gutes Beispiel, denn es versucht in der Tat, verschiedene Zielfunktionen gleichzeitig zu verwirklichen, was nur gelingen kann, wenn keine von ihnen maximal zu erschöpfen angestrebt wird. Allgemein lässt die Vielfalt der Verhältniswahlsysteme in der Welt, die jeweils nationale Balance zwischen den Funktionen, auf die Gültigkeit der Multifunktionalität von Verhältniswahlsystemen schließen. Fünftens lässt sich Erfolgswertgleichheit nicht per Gesetz herstellen. Das Maß an Erfolgswertgleichheit ist empirisch vom Parteiensystem und vom Wählerverhalten abhängig. Hier ist ein paradoxer Zusammenhang zu beobachten. Je mehr exakter Proporz gesetzlich ermöglicht wird, desto geringer die Erfolgswertgleichheit, da der Wähler darin irrt, nun habe jede noch so kleine Partei eine Chance, ins Parlament einzuziehen, was aber auch bei reinem Proporz einfach mathematisch nicht der Fall ist mit der Folge, dass viele Stimmen nicht zählen. Dies lehrt der Vergleich von Wahlergebnissen bei Verhältniswahl mit und ohne Sperrklausel. Sechstens sind weder das Mehrheitsprinzip noch das Proporzprinzip politisch neutral. Hinter ihnen verbergen sich machtpolitische Interessen. Die Forderung nach Erfolgswertgleichheit wird in der Regel von kleinen oder Minderheitsparteien erhoben, die zudem gerne das Gerechtigkeitsargument ins Spiel bringen, so als sei nur der exakte Proporz gerecht. Dieses Argument wird jedoch nur auf die parlamentarische Vertretung bezogen, für die es leicht zu überzeugen vermag. Es wird erst in seiner Verkürzung erkannt, wenn man den Proporzgedanken auf das Regierungssystem insgesamt ausdehnt. Ist es gerecht, muss man fragen, wenn kleine Parteien in Koalitionsregierungen, die eine geradezu notwendige Konsequenz von Verhältniswahl mit hohem Grad an Proporz sind, einen Einfluss auf die politischen Entscheidungen zu Gunsten ihrer Klientel gewinnen, die ihr reales Gewicht in der Wählerschaft gewaltig übersteigt? Siebtens wird in Parlamentswahlen nicht nur die Volksvertretung gewählt, sondern zugleich auch die Regierung – wenn das Parteiensystem es zulässt. Je mehr Proporz, desto mehr Parteienfragmentierung, desto weniger Chance der Wähler, zwischen Kanzlerkandidaten bzw. Regierungsmannschaften direkt auszuwählen. Über Regierungskoalitionen wird dann nach der Wahl durch die Parteien entschieden. Je mehr Erfolgswertgleichheit und Berücksichtigung jeder einzelnen Wählerstimme, desto geringer die Macht aller Wähler zusammengenommen. Achtens ist in legitimatorischer Hinsicht die Zustimmung zur Verhältniswahl in der Wählerschaft von der Darlegung der mit ihr nach aller Erfahrung möglichen Konsequenzen verbunden. Selbst in Großbritannien, wo Drittparteien im Mehr­ heits­wahlsystem enorm benachteiligt werden und etliche Kommissionen bereits eine Wahlreform empfohlen haben, weiß die Proporzidee nur solange eine Mehrheit in der öffentlichen Meinung hinter sich, wie nicht ausführlich auf die möglichen Folgen der Verhältniswahl eingegangen wird. Kein Wunder, dass die britische Wählerschaft

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nach entsprechender Auf klärung selbst die geplante Einführung des alternative vote im Referendum vom 5. Mai 2011 abgelehnt hat. In der Summe legen die vorgebrachten Bedenken nahe, das Prinzip der Verhältniswahl, wenn der Gesetzgeber sich verfassungsrechtlich oder wahlgesetzlich dafür ausgesprochen hat, in der Bewertung von Wahlsystemen nicht auf die Spitze zu treiben, sondern abwägend und maßvoll zu handhaben.

Entstehung und Verständnis des deutschen Wahlsystems Im Parlamentarischen Rat „war allen Parteien die Entschlossenheit (gemeinsam), die Fehler des Weimarer Systems nicht zu wiederholen“ (Wild 2003: 81). Die Lehre aus Weimar bestand zum einen darin, das Wahlsystem nicht in die Verfassung aufzunehmen. Es sollte einfachgesetzlich geregelt und reformiert werden können. Zum anderen wollte niemand zur Weimarer reinen Verhältniswahl zurückkehren. Die Wahlsystemoptionen lagen freilich weit auseinander. Die SPD wollte zusammen mit den kleinen Parteien ein System der Verhältniswahl einführen, die CDU / CSU die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen. Schließlich setzte sich nach aufwendigen Debatten, in die auch die Besatzungsmächte eingriffen (siehe Lange 1975; Jesse 1985; Wild 2003), die SPD mit Hilfe der kleinen Parteien, insbesondere der FDP, im Hinblick auf das Repräsentationsprinzip durch. Während die Verfassung im Konsens verabschiedet wurde, kam im Falle des Wahlsystems kein parteienübergreifender Konsens zustande. Trotzdem glaubte man, einen Kompromiss zustande gebracht zu haben, indem man Personenwahl und Listenwahl mit einander verbunden hatte, also in der Argumentation auf die Ebene der technischen Elemente wechselte, auf der sich der Kompromiss auch in Form der Kombination von Einerwahlkreisen und Mehr­ perso­nenwahlkreisen oder der Kombination der Entscheidungsregeln relative Mehr­ heit und Proporz ausdrücken ließ. Da das Wahlgesetz zur Wahl des ersten Deutschen Bundestages ein Verhältnis von 60  % Personenwahl / Einerwahlkreis / relative Mehr­ heit zu 40  % Listenwahl / Mehrpersonenwahlkreis / Proporz bei Verrechnung der Stimmen in den (Bundes-)Ländern (als Mehrpersonenwahlkreisen) enthielt und am Ende die Anwendung einer Fünfprozentklausel auf Landesebene vorsah, konnte man sogar annehmen, ein Übergewicht dessen vorliegen zu haben, was man damals als Mehrheitswahlanteil am Wahlsystem ansehen musste. Aber man wusste nicht genau, wie man das Wahlsystem einschätzen sollte, weder klassifikatorisch noch hinsichtlich seiner Auswirkungen. Man muss daran erinnern, dass diese Kombination wahlsystematischer Elemente zum Zeitpunkt ihrer Erfindung am Ende der Weimarer Republik als proportionalisierte Mehrheitswahl bezeichnet wurde, also als der Mehr­ heits­ wahl zugehörig gedacht wurde.11 Der Kommentar zum Bundeswahlgesetz definierte noch in den 1960er Jahren die personalisierte Verhältniswahl als „Verbin­ dungswahlsystem, das die Mehrheitswahl zu seiner Grundlage macht, diese dann aber durch ein Verhältniswahlsystem überlagert“ (Seifert 1965: 20). Man muss ebenfalls berücksichtigen, dass im herkömmlichen Sprachgebrauch – auch wenn das falsch 11   Ähnlich wie man in Italien 1993 bei Schaffung vieler Einerwahlkreise in ein System der Verhältniswahl dachte, Mehrheitswahl eingeführt zu haben (D’Alimonte 2008: 256).

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ist – das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag sogar heute noch als Mischsystem bezeichnet wird. Aufwind bekam diese Terminologie sogar noch durch die jüngere internationale Wahlsystemliteratur, die das deutsche Wahlsystem als mixed member electoral system klassifiziert, als dritte Kategorie neben Mehrheitswahl und Verhältniswahl, die zudem noch als „the best of both worlds“ gehandelt wird.12 Was die Auswirkungen des Wahlsystems auf das Parteiensystem anbelangt, die ja auch für die klassifikatorische Zuordnung von Bedeutung sind, ist des Weiteren nachzuhalten, dass bis in die 1970er Jahre hinein selbst die Wissenschaft nicht sicher war, welche Effekte es ausgeübt habe. Maurice Duverger glaubte beispielsweise, dass die Konzentration im Parteiensystem dem Mehrheitselement der Personenwahl in Einerwahlkreisen zuzuschreiben sei (Duverger 1984: 37). Der Konsens in der Abgrenzung zu Weimar, die Entstehungsgeschichte, das erste Wahlgesetz zum Deutschen Bundestag und die theoretische Einschätzung der personalisierten Verhältniswahl lassen den Schluss zu, dass sich der Verfassungsgeber 1949 keineswegs eindeutig für ein Wahlsystem entschieden hat, auf dessen verfassungsrechtliche Bewertung ohne Weiteres das Prinzip der Verhältniswahl schlechthin bzw. der Grundsatz des gleichen Wahlrechts im Sinne eines gleichen Erfolgswerts der Stimmen angewandt werden muss. Der Zweifel wird vor allem genährt durch die 1949 im ersten Wahlgesetz vorgesehene Verrechnung der Mandate auf Länderebene, also ohne landesweiten Ausgleich, von dem die Klassifikationspraxis des Bundesverfassungsgerichts lebt.13 In Typen von Wahlsystemen gedacht, wurde der Deutsche Bundestag 1949 nach Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen mit zusätzlicher Sperrklausel gewählt. Damit sind die Hauptmerkmale für die Klassifikation des Wahlsystems gekennzeichnet. In das System eingebaut wurde für einen Teil der Abgeordneten Personenwahl in Einerwahlkreisen, versehen mit proportionalem Ausgleich innerhalb der Grenzen der Mehrpersonenwahlkreise, was den Verhältniswahlcharakter des Wahlsystems sicherstellte. Dieses System wurde dann trefflich „personalisierte Verhältniswahl“ genannt. Nun könnte man argumentieren, in den Reformen des Wahlsystems von 1953 und 1956 habe der Gesetzgeber das Wahlsystem in der Weise geändert, dass eben doch die Annahme des Bundesverfassungsgerichts gerechtfertigt sei, es handle sich bei der personalisierten Verhältniswahl um Verhältniswahl mit landesweitem Proporzausgleich mit der oben bereits dargelegten Folge der Anwendbarkeit des Gleichheits­ grund­satzes im Sinne der Erfolgswertgleichheit. In der Tat wurde in der Reform von 1956 die Verrechnungsebene der Stimmen von den Ländern auf den Bund angehoben. Zu berücksichtigen gilt jedoch, dass bereits in der Reform von 1953 die An12   Siehe Lijphart (1984); Shugart / Wattenberg (2001). Eckhard Jesse (2009: 117) sieht sich in der Existenz von Mischwahlsystemen bestätigt, hält aber nicht nach, dass die personalisierte Verhältniswahl Prototyp dieser mixed-member-systems ist, von der er an anderer Stelle vollkommen richtig gesagt hat, dass sie kein Mischsystem sei ( Jesse 1985: 92). 13   Übrigens erinnerte in der Reformdebatte von 2011 / 12 quasi niemand daran, dass die Verrechnung der Stimmen zunächst auf Landesebene eine Rückkehr zu den Anfängen bedeutet. Sie widerspricht nicht dem „unitarischen Charakter“ der Bundestagswahl. Einer der Experten in der Anhörung der Streitparteien vor dem Bundesverfassungsgericht polemisierte jedoch in Verbindung mit der Zuteilung der Mandate an die Länder entsprechend der Wahlbeteiligung, man wähle eine „Vertretung des Bundesvolkes“ und keine „Vertretung konkurrierender Landesvölker“ (zit. nach Der Spiegel 22 / 2012: 34).

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wendungsebene der Fünfprozentklausel von den Ländern auf den Bund verschoben worden war. Die Sperrklausel, die für den Typ der Verhältniswahl von entscheidender Bedeutung ist, war im Wahlsystem also vor der Einführung der bundeswei­ten Verrechnung präsent. Das historische Argument ist noch durch das wahlsystema­ tische zu ergänzen, dass Sperrklauseln bei proportionaler Verteilung der Mandate funktional äquivalente Elemente für Wahlkreiseinteilungen darstellen. Mit anderen Worten, Wahlkreisgrößen kommen natürlichen Sperrklauseln gleich, deren Höhe man ebenso politisch steuern kann wie die gesetzlicher Sperrklauseln. Wird die Untergliederung eines Wahlgebiets in Wahlkreise aufgehoben, kann ihre Wirkung in gewisser Weise durch gesetzliche Sperrklauseln ersetzt werden.14 Mit der Auf hebung der Wahlkreiseinteilung ging die Verhältniswahl also nicht in den vom Bundesverfassungsgericht unterstellten Typ Verhältniswahl mit landesweitem Proporz über, sondern zum Typ Verhältniswahl mit Sperrklausel. Die Sperrklausel ist damit konstitutiver Teil und nicht ein systemfremder Teil des vereinbarten Wahlsystems. Man muss das Wahlsystem als integriertes ganzes verstehen, einzelne Elemente üben eindeutige Systemfunktionen aus. Die aus der Entstehungszeit des Bundeswahlgesetzes hergeleitete Auslegung der Verhältniswahl (im Sinne der Erfolgswertgleichheit) von Seiten des Bundesverfassungsgerichts ist angesichts des Wahlsystems, nach dem in den Anfangsjahren der Bundesrepublik gewählt wurde, entgegen der Ansicht von Michael Wild (2003: 110) keineswegs zwingend.

Notwendige Differenzierung der Wahlrechtsgleichheit Gegen die allgemeine Anwendung des Grundsatzes der Gleichheit des Wahlrechts im Sinne der Erfolgswertgleichheit bei Verhältniswahl sind Jochen Abr. Frowein und Roman Herzog bereits in den 1960er Jahren zu Felde gezogen. In ihren Gutachten zur Vereinbarkeit des Dreierwahlkreissystems mit dem Grundgesetz haben sie zunächst die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts geteilt, dass es bei der Auslegung des Gleichheitssatzes Art.  38 GG kein für alle Wahlsysteme gleichmäßigen Maßstab gebe, sondern eine von Wahlsystem zu Wahlsystem wechselnde „systemimmanente Auslegung des Gleichheitsgrundsatzes im Wahlrecht“ (Herzog 1968: 44f.). Mit anderen Worten, der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit hat jeweils verschiedenen Inhalt, je nachdem, in welchem Wahlsystem er Anwendung finden soll. Frowein und Herzog beschränken sich jedoch nicht auf den diesbezüglichen Gegensatz zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl, sondern differenzieren weiter zwischen verschiedenen Wahlsystemen, in denen Verhältniswahl zum Zuge kommt. Sie unterscheiden zwischen Verhältniswahl, die einen landesweiten proportionalen Ausgleich für die möglichen Disproportionen gewähren, die auf Wahlkreisebene zwischen Stimmen und Mandaten der Parteien entstehen, und Verhältniswahl, die einen solchen Ausgleich nicht vorsehen. Sie unterscheiden damit, ohne die von mir einge Der Vorteil gesetzlicher Sperrklauseln gegenüber Wahlkreishürden liegt darin, dass nach dem Scheitern kleiner Parteien die Mandate an die erfolgreichen Parteien relativ proportional vergeben werden können, was in Mehrpersonenwahlkreisen, abhängig von der Parteienkonstellation, nicht unbedingt gelingt. 14

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führte kategoriale Differenzierung bereits zu kennen, zwischen der Verwendung der Verhältniswahl entweder als Repräsentationsprinzip oder als Entscheidungsregel und widersprechen damit dem Bundesverfassungsgericht, das für die Verhältniswahl den „Grundsatz der Gleichheit des Erfolgswertes aller Stimmen aufgestellt habe, mit der Verhältniswahl als solcher“, nicht nur mit der Verhältniswahl mit vollem Verhältnisausgleich (Frowein 1968: 10). In Verhältniswahlsystemen, in denen die Verrechnung der Stimmen in Wahlkreisen ohne landesweiten Ausgleich stattfindet, fehle die Voraussetzung dafür, Erfolgswertgleichheit als Maßstab verfassungsrechtlicher Konformität einzusetzen (Frowein 1968: 12). In meine Terminologie übersetzt: wird der Entscheidungsmaßstab der Verhältniswahl angewandt und nicht gleichzeitig das Repräsentationsziel der Verhältniswahl verfolgt, so ist der Grundsatz der Erfolgswertgleichheit kein gültiger Maßstab. Frowein empfiehlt deshalb, den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit weiter zu fassen: „Jede Stimme muss die ihr im Rahmen des Systems zukommende Kraft haben“ (ebenda). Ähnlich argumentiert Herzog: Erfolgswertgleichheit sei bei Verhältniswahl „kein absolutes Motiv des Wahlgesetzgebers (…), sondern nur ein Motiv, das genau in jenem Umfang Gültigkeit besitzt, in dem das Verhältniswahlsystem, dessen Hauptanliegen es ist, durchgeführt wird“ (Herzog 1968: 72). Das Gros der Verhältniswahlsysteme weltweit operiert mit unterschiedlich großen Wahlkreisen ohne nationalen Proporz (qua nationaler Verrechnung der Stimmen oder national vergebener Ausgleichsmandate). Damit sind bereits Unterschiede im Erfolgswert der Stimmen automatisch gegeben, denn in kleinen bzw. kleineren Wahlkreisen ist der Erfolgswert der Stimmen, abhängig von der Zahl der sich bewerbenden Kandidaten oder Parteien, geringer als in großen oder größeren Wahlkreisen. Schreibt die Verfassung gar die Einteilung des Wahlgebiets in verschieden große Wahlkreise vor, die natürliche Auswirkung auf den Erfolgswert der Stimmen hat, so kann kein verfassungsrechtlich relevanter Widerspruch zum gleichen Wahlrecht bestehen (vgl. MPI 1997: 663).

Zählwert und Erfolgswert im Rechtsvergleich Man gewinnt den Eindruck, dass im Staatsrecht der Rechtsvergleich im Entstehungsprozess eines ius commune europaeum immer wichtiger wird. Das Bundesverfassungsgericht übt ohnehin die Praxis, im Vorhinein von Entscheidungen rechtsvergleichende Untersuchungen in Auftrag zu geben (siehe etwa MPI 1997). Es fragt sich nur, in wieweit es sich durch auswärtige Lösungen in den zur Entscheidung stehenden Streitfragen beeinflussen lässt. Hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit liegt es nahe, den Vergleich mit deutschsprachigen Ländern vorzunehmen, für die eine gewisse gemeinsame Rechtskultur angenommen werden kann. Anders als in Deutschland ist in der Schweiz das Wahlsystem in der Verfassung verankert. Laut Artikel 73 finden die Wahlen zum Nationalrat „nach dem Grundsatz der Proportionalität“ statt. Es handelt sich um Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen und Einerwahlkreisen. Die Wahlkreiseinteilung ist ebenfalls in der Bundesverfassung festgeschrieben. Jeder Kanton und Halbkanton bildet einen Wahlkreis. Die Verteilung der Mandate auf die Wahlkreise erfolgt entsprechend der

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„Wohnbevölkerung“ nach dem Verfahren Hare plus größtem Überrest. Jeder Wahlkreis hat aber Anspruch auf zumindest einen Sitz.15 Es findet kein nationaler Ausgleich statt. Rein wahlrechtlich sind somit weder Erfolgswertgleichheit noch Zählwertgleichheit gewährleistet. Bemerkenswert ist das Weiteren, dass die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit in der traditionell proportional orientierten Schweiz (Lehmbruch 1967) nicht im Geringsten problematisiert wird (vgl. Garrone 1991: 156ff.).16 Auch in Österreich äußert sich die Verfassung zum Wahlsystem. Laut Art.  26, Absatz 2, finden die Wahlen zum Nationalrat „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ statt. Gewählt wird nach Verhältniswahl in Wahlkreisen mit landesweitem proportionalem Ausgleich. Die Vergabe der Mandate an die Parteien findet auf drei Ebenen statt: zunächst auf regionaler Ebene (43 Wahlkreise), dann auf Länderebene (9 Wahlkreise) und schließlich auf Bundesebene.17 An der Mandatsvergabe auf Länder- und Bundesebene können nur Parteien teilnehmen, die entweder ein Mandat auf regionaler Wahlkreisebene oder 4  % der Stimmen auf Bundesebene errungen haben. Für die Sitzverteilung ist die nationale Verrechnungsebene (unter Anwendung der Methode d’Hondt) maßgebend.18 Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail ist das österreichische Wahlsystem im Merkmal der nationalen Verrechnung der Stimmen mit dem deutschen identisch. Insofern ist die Spruchpraxis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs zur Wahlrechtsgleichheit besonders einschlägig. Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht engt dieses Gericht das Prinzip des gleichen Wahlrechts traditionell auf die Zählwertgleichheit ein: „Darüber hinaus aber noch zu verlangen, dass jeder Stimme die gleiche Kraft, der gleiche Nutz- oder Erfolgswert zukommen müsse, fällt außerhalb des Grundsatzes der Gleichheit des Wahlrechts, ja außerhalb des Bereichs der Möglichkeit“.19 Der Österreichische Verfassungsgerichtshof erläutert auch, warum er in der verfassungsrechtlichen Gewährleistung zwischen Zählwert und Erfolgswerts der Stimmen differenziert: „Der Grundsatz der Gleichheit des Wahlrechts hat Bedeutung und Wirkung eben nur im Abstimmungsverfahren, wo jede gültige Stimme den gleichen Zählwert haben muss. Welcher Wert ihr bei der Verteilung der Mandate zukommt, hängt aber von wechselnden und zufälligen Umständen ab“.20 Er hat 1959 seine Auffassung erneut bekräftigt: „Es ist unmöglich, die abgegebenen, gleich 15  Der Wähler hat so viele Stimmen, wie Abgeordnete zu wählen sind. In den Mehrpersonenwahlkreisen werden die Mandate nach dem Verfahren Hagenbach-Bischoff vergeben. 16  Die Wahlergebnisse sind freilich angesichts der Parteienzersplitterung vergleichsweise proportional. Bei den Nationalratswahlen erzielte die SVP mit 28,6  % der Stimmen 31,0  % der Mandate. Bei den ihr in der Größe nachfolgenden Parteien ergab sich folgendes Verhältnis: SPS: 19,3  % zu 21,5  % ; FDP: 15,5  % zu 15,5  % ; CVP: 14,3  % zu 15,5  % ; GPS: 9,5  % zu 10,0  % (Daten nach Linder et al. 2010). 17  Die 183 Mandate werden nach der Bürgerzahl auf die regionalen Wahlkreise verteilt, deren Größe zwischen eins und acht Mandaten schwankt. Auf der Länderebene liegt die Wahlkreisgröße zwischen sieben und 36 Mandaten. 18   Faktisch ergeben sich sehr proportionale Wahlergebnisse. Beispielsweise erzielten bei den Wahlen von 2008 die SPÖ mit 29,3  % der Stimmen 31,1  % der Mandate, die ÖVP mit 26,0  % der Stimmen 27,9  % der Mandate, die FPÖ mit 17,5  % der Stimmen 18,6  % der Mandate, die Grünen mit 10,4  % der Stimmen 10,9  % der Mandate (Daten nach Poier 2010: 217 und 220). 19   Sammlung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfSlg) 1.381 / 1931, 227, zit nach Poier, 2001: 241. 20   VfSlg, ebenda, 216, 227, zit nach MPI (1997: 664).

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gezählten Stimmen so auszuwerten, dass sie einen gleichen Erfolgswert haben. Die Wirkung des gleichen Wahlrechts ist daher mit der Zählung der abgegebenen Stimmen erschöpft. Das Prinzip des gleichen Wahlrechts kann somit keinen Einfluss auf jene Regelungen haben, die den Erfolgswert bestimmen…“.21 „Der Grundsatz des gleichen Wahlrechts bedeutet daher lediglich ein gleiches Stimmgewicht ex ante (....), Fragen des Stimmgewichts ex post und damit Fragen des Erfolgswerts der Stimmen sind hingegen nicht als Probleme der Gleichheit des Wahlrechts, sondern als Probleme des Verhältniswahlrechts und der dabei verfassungsrechtlich zulässigen Varianten zu behandeln“ (Poier 2001: 245). In dem für das Bundesverfassungsgericht vorbereitete Gutachten des MPI wird sogar gefolgert, dass in Österreich „grundsätzlich (...) die Einschränkung der Erfolgswertgleichheit als durch die Verfassung selbst legitimiert und damit verfassungsgemäß angesehen“ wird (MPI 1997: 665).

Verhältniswahl zum Europäischen Parlament Die Position des Bundesverfassungsgerichts, das Wahlsystem als Rechtsfrage und weniger als Theorie- und Machtfrage zu betrachten, bestätigt sich im Urteil vom 9.  11. 2011 zur Wahl des Europäischen Parlaments. Bisher wurde in der Bundesrepublik zur Wahl des deutschen Kontingents Verhältniswahl mit Sperrklausel angewandt, die man – wie oben dargelegt – als einen eigenständigen Typ der Verhältniswahl betrachten muss. Landesweit waren fünf Prozent der Stimmen erforderlich, um an der Vergabe der nach dem Vertrag von Lissabon 99 Mandate teilhaben zu können. Verhältniswahl mit Sperrklausel korrespondiert wahlsystematisch betrachtet mit dem Typ Verhältniswahl in Wahlkreisen (verschiedener Größe), weist im Unterschied zu jenem aber keine Aufgliederung des Landes in Wahlkreise auf, innerhalb derer die Mandate vergeben werden. Vielmehr findet die Verrechnung der Stimmen auf nationaler Ebene in einem einzigen landesweiten Wahlkreis statt. Die Sperrklausel ist hier funktional äquivalent zur Wahlkreiseinteilung und bewirkt, dass es sich bei diesem Wahlsystem ebenso wie bei der Verhältniswahl in Wahlkreisen verschiedener Größe aufgrund seiner Intentionalität, seiner Ausgestaltung und seiner Auswirkungen klassifikatorisch nicht um ein reines Verhältniswahlsystem handelt. Mit seiner Entscheidung vom November 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt, also ein Element aus dem Wahlsystem herausgegriffen, ohne Rücksicht auf den Systemcharakter des Wahlsystems. In seiner Begründung hat es wieder auf den Gleichheitsgrundsatz im Wahlrecht verwiesen und des Weiteren geltend gemacht, dass funktionale Einschränkungen der Erfolgs­ wertgleichheit keine Berechtigung hätten, da das Europäische Parlament keine Regierung zu wählen habe und folglich die Besorgnis um die Stabilität des Regierens in der Europäischen Union entfalle. Ist man sich der wahlsystematischen Zusammenhänge bewusst, dann hat das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil nicht einfach nur eine angebliche verfassungsrechtliche Vorgabe durchgesetzt, deren Anwendung auf Wahlsysteme fragwürdig ist, sondern auch den Gesetzgeber gespielt, indem es den Bundesbürgern trotz Konsens der Parlamentsparteien in das bestehende 21

  VfSlg, 3653 / 1959, 467, 469, zit. nach MPI (1997: 664).

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Wahlsystem einen Wahlsystemwechsel aufgezwungen hat. Nun wird das Europaparlament in Deutschland entgegen aller historischer Erfahrung mit reiner Verhältniswahl nach just diesem Wahlsystem gewählt. Es ist sicher richtig, dass das Europäische Parlament gegenwärtig nicht die Rolle eines Parlaments in einem parlamentarischen Regierungssystem ausübt. Die europäische Exekutive geht nicht aus dem Parlament hervor. Übertragen auf die Funktionen, die ein Wahlsystem zu erfüllen hat, heißt dies, dass die Repräsentationsfunktion höher zu bewerten ist als die Konzentrationsfunktion, wie ich bereits vor dem Urteil argumentiert habe (Nohlen 2009b: 404). In der Frage der Wahlsystemoption folgt daraus aber nicht gleich, dass reine Verhältniswahl zwingend geboten ist. Der internationale Vergleich ergibt zum einen, dass in präsidentiellen Systemen die Trennung von Exekutive und Legislative nicht automatisch mit reiner Verhältniswahl für die Wahl des Parlaments verbunden ist, wie ein Blick auf die Verfassungslage in den USA erweist. Zum anderen müsste der Optionszwang ja für alle Mitgliedsstaaten der EU gelten, aber kein anderes Land wählt nach reiner Verhältniswahl. Man könnte argumentieren, Verhältniswahl mit Verrechnung der Stimmen in einem großen landesweiten Wahlkreis wie in Portugal (22 Mandate), Griechenland (24 Mandate) Niederlande (27 Mandate) sei doch reine Verhältniswahl. Weit gefehlt. Denn Wahlkreisgrößen um die 30 Mandate haben mathematisch und nach aller Erfahrung je nach Parteienvielfalt die Wirkung einer faktischen Sperrklausel von 3,0 bis 3,5  % .22 Spanien mit 54 Mandaten könnte man noch am ehesten reiner Verhältniswahl zurechnen. Aber auch hier dürfte die effektive Proporzhürde bei 2,5  % der Stimmen liegen. Die landesweite Stimmenverrechnung, die mit der nationalen Tradition des Wahlsystems zu den Cortes bricht, hat jedoch nichts mit verfassungsrechtlichen Fragen zu tun, sondern ist (macht-) politisch darin begründet, regional konzentrierte nationalistisch-separatistische Strömungen möglichst aus dem EU-Parlament her­ auszuhalten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt Deutschland in Europa eine Sonderrolle spielen. So stellen die Richter Di Fabio und Mellinghoff in ihrem Sondervotum treffend fest: „Mit der isolierten Auf hebung der deutschen Fünf-ProzentKlausel werde (…) im europäischen Umfeld ein Sonderweg beschritten“.23 Das Urteil reicht über die Europawahlen hinaus, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei größerer Fragmentierung der Parteienlandschaft bei den Europawahlen kleine Parteien vermehrt ermuntert werden, auch bei den Wahlen zum Bundestag anzutreten. Da hier aber die Fünfprozentklausel greift und mehr Fragmentierung im Wählerverhalten mehr Stimmen anfallen, die nicht zählen, kann im Endeffekt die höhere Erfolgs22  Beispielsweise kennt Spanien große Wahlkreise mit über 30 Mandaten, für die zugleich eine Dreiprozentklausel besteht. In den seltensten musste diese Klausel angewandt werden, die Wahlkreisgröße reichte aus, um kleine Parteien im Wahlkreis nicht zum Zuge kommen zu lassen. Bei den Europawahlen von 2009 schlossen sich in zwei Fällen jeweils vier Parteien zu einem Wahlbündnis zusammen, um die faktische Prozenthürde zu überspringen. Insgesamt 4 Mandate entfielen auf drei Gruppierungen, die zwischen 3,7  % und 2,5  % der Stimmen errungen hatten. 23   Di Fabio und Mellinghoff kritisierten, dass man aus Wahlsystemen nicht einfach ein Element eliminieren könne und dass der Wegfall der Sperrklausel die Funktionsausübung des EU-Parlaments beeinträchtige. Auch seien Wahlsystemfragen der „politischen Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen“, weshalb das Gericht Zurückhaltung üben müsse. Bei den Wahlen von 2009 wären sieben Splitterparteien ins EU-Parlament eingezogen.

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wertgleichheit der Stimmen bei Europawahlen die faktische Erfolgswertgleichheit bei Bundestagswahlen negativ beeinflussen. Hinzu kommt, dass das Urteil die Relativierung der Fünf-Prozent-Sperrklausel in Verhältniswahlsystemen bekräftigt, ihre Gegner ermuntert, sie bei Gelegenheit erneut im Wahlsystem zum Deutschen Bundestag in Frage zu stellen.24 Bei der Bewertung des Urteils gilt es jedoch, nicht nur die innerdeutsche Perspektive einzunehmen, sondern auch die des europäischen Gemeinschaftsrechts. In den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft wurde das Ziel ausgegeben, das Europäische Parlament nach einem „einheitlichen Verfahren“ wählen zu lassen (dazu ausführlich Lenz 1995). Auch wenn mehrere Anläufe scheiterten, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, so war doch ein gewisser Angleichungsprozess festzustellen. So gaben Frankreich und Großbritannien ihre nationalen Wahlsysteme der absoluten bzw. relativen Mehrheitswahl auf, nach denen sie zunächst auch ihre Europaabgeordneten gewählt hatten, und führten Verhältniswahl ein. Damit war zumindest vom Repräsentationsprinzip her Einheitlichkeit erreicht, zumal auch die später in die EU eintretenden Länder diesen Konsens übernahmen. Die Ausgestaltung der Verhältniswahl sollte weiterhin den Einzelstaaten überlassen bleiben, wobei gedacht war, dass national den jeweiligen Traditionen Raum bleiben sollte. Neben verschiedenen technischen Elementen, die eingesetzt wurden 25, hat sich das dann in unterschiedlichen Typen von Verhältniswahl begrenzten Proporzes niedergeschlagen: Verhältniswahl in Wahlkreisen verschiedener Größe, Verhältniswahl mit nationaler Verrechnung der Stimmen mit Sperrklausel, single transferable vote. Entweder verhindert die Wahlkreiseinteilung oder eine Sperrklausel oder beides zusammen eine exakte Proportionalität von Stimmen und Mandaten. Mit der Hinzufügung eines Typs der reinen Verhältniswahl setzt die Bundesrepublik Deutschland allerdings nicht die nationale Tradition eines Wahlsystems mit Sperrklausel fort, sondern die Tradition, sich um die Vereinheitlichung des Wahlrechts zum Europaparlament wenig zu scheren, obwohl die Idee, ein vereinigtes Europa zu schaffen, eine Aufforderung des Grundgesetzes, die Vereinheitlichung ein Gebot der europäischen Verträge ist, und es Deutschland war, das im Europäischen Konvent die Weiterentwicklung des politischen System der EU zu einem parlamen-

 Es heißt in der Begründung des Urteils, „dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grund­satz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein und mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht. Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Vielmehr kann sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen. Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung der Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse“. Es wird also unverändert vom Bundesverfassungsgericht verkannt, dass es sich bei der Verhältniswahl mit Sperrklausel um einen legitimen Wahlsystemtyp handelt, der von der Vertretung des Souveräns demokratisch verabschiedet worden ist. 25   Im Bereich der Verrechnungsverfahren etwa d’Hondt, modifizierter Sainte Laguë, Hare, Hagenbach-Bischof, Hare Niemeyer, Sainte-Laguë / Schepers. 24

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tarischen System vorschlug.26 Die Bundesrepublik weicht nun ab vom Konsens aller Länder gegen reine Verhältniswahl.

Résumée Infolge der Handhabung der Wahlsystemfrage als Rechtsfrage in Verbindung mit der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts geht Deutschland einen Sonderweg. Das Bundesverfassungsgericht legt das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag eigenwillig so aus, dass der Grundsatz der Verhältniswahl, der nicht im Grundgesetz verankert ist, über den Grundsatz des gleichen Wahlrechts im Sinne des aus ihm abgeleiteten Gebots der Erfolgswertgleichheit der Stimmen an das Wahlsystem angelegt wird. Dabei werden sowohl demokratietheoretisch sinnvolle und erfahrungswissenschaftlich bewährte Einschränkungen des Prinzips der Verhältniswahl nicht aus­rei­ chend gewürdigt, als auch wahlsystematisch notwendige Differenzierungen zwischen verschiedenen Typen von Verhältniswahlsystemen vernachlässigt, zu denen die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel zu zählen ist. Das hat zur Folge, dass dieses Wahlsystem mit seinen verschiedenen Bauelementen, darunter die den Proporz einschränkenden Elemente, nicht systemisch betrachtet werden, sondern als Verhältniswahl, der die Erfolgswertgleichheit der Stimmen aufgegeben ist und dieses Prinzip einschränkende Elemente nur funktional begründet als verfassungskonform gelten können. Im Rechtsvergleich ergibt sich eine andernorts viel pragmatischere Handhabung der Wahlrechtsgleichheit, ja ihre Beschränkung auf die Zählwert­ gleich­heit – eine maßvolle Handhabung des Verhältniswahlprinzips, die in Deutschland nicht aufgegriffen wird. In der Reform des Wahlrechts zum Europawahlrecht führt der deutsche Sonderweg sogar dahin, dem Gesetzgeber einen Wechsel des Wahlsystemtyps vorzuschreiben. Kurzum: Die Rechtsfrage hat sich in ihrer Bedeutung für die Wahlsystemfrage in Deutschland vor die Theorie- und die Machtfrage geschoben. Das sollte zu denken geben – es sei denn, man konzediert, dass es sich bei der Rechtsfrage, den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu Wahlsystemen, auch um eine Machtfrage handelt, indem die im demokratisch-parlamentarischen Prozess unterlegene Minderheit sich der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht bedient, um am Ende doch politisch zu obsiegen, getreu der Devise: „Wir sehen uns wieder in Karlsruhe“, oder um eine Machtfrage unter den Verfassungsorganen, wobei das Bundesverfassungsgericht, wie Matthias Jestaedt (2011: 81) betonte, „mit der Macht des letzten, da nicht mehr durch andere Instanzen reversiblen Wortes ausgestattet ist“ .

Literatur Brighouse, Harry, und Marc Fleurbaey. 2010. Democracy and Proportionality. Journal of Political Philosophy 18(2): 137–155. 26   Zuvor war diese Gleichgültigkeit im zweimaligen Wechsel des Verrechnungsverfahrens, vor allem in der Aufgabe der Methode d’Hondt zum Ausdruck gekommen, die nach wie vor das in der EU meist angewandte Verrechnungsverfahren ist.

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Grundfragen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung von

Privatdozent Dr. Daniel Krausnick, Erlangen1 Die hohe Bedeutung der Rechtsvergleichung als Erkenntnismethode für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis dürfte im Angesicht zunehmender Globalisierung der Wirtschaft und – damit einhergehend – fortschreitender Europäisierung und Internationalisierung des Rechts unumstritten sein 2. Rechtsvergleichung ist noch immer vorwiegend eine Domäne des Privatrechts und steht dort in engem Zusammenhang mit dem internationalen Privatrecht. Im Öffentlichen Recht führte die Rechtsvergleichung lange Zeit eher ein Schattendasein3. Dies galt für das Verfassungsrecht gleichermaßen wie für das Verwaltungsrecht. Seit einigen Jahren ist in beiden Gebieten jedoch eine Internationalisierungstendenz erkennbar. Sowohl das europäische Verwaltungsrecht bzw. der verwaltungsmäßige Vollzug des Unionsrechts4 als auch das internationale Verwaltungsrecht bzw. das internationale Öffentliche Recht im Sinne eines (Kollisions-)Rechts für grenzüberschreitende öffentlich-rechtliche Akte5 sind Gegenstand umfangreicher monographischer Darstellungen. Zur europäischen Verfassungsvergleichung existiert seit 2010 sogar ein erstes deutschsprachiges Lehrbuch6 und auch die Rechtsvergleichung im Verwaltungsrecht ist national wie inter1   Der Verfasser ist Privatdozent am Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2   Grundlegend zur Rechtsvergleichung als fünfter Auslegungsmethode P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913 ff.; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. (1998), 164 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 7.  Aufl. (2011), 250 ff.; vgl. auch J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd.  1, 1988, 76; eher kritisch Ch. Möllers, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  1, 2006, §  3 Rn.  41. 3   So auch Möllers (Fn.  2 ), Rn.  4 0; Schwarze (Fn.  2 ), 74 f. 4   Vgl. auch Th. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008; G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004; Ch. F. Linke, Europäisches internationales Verwaltungsrecht, 2001. 5   Ch. Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005; Ch. Möllers/A. Voßkuhle/Ch. Walter, Internationales Verwaltungsrecht, 2007; J. Menzel, Internationales Öffentliches Recht, 2010; M. Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010. 6   A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010.

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national ein Thema7. In diesem Zusammenhang ist auch an das rechtsvergleichend angelegte mehrbändige Handbuch „Ius Publicum Europaeum“8 zu erinnern. Die Rechtsvergleichung ist also auch und gerade im Öffentlichen Recht im Aufwind. Weniger Beachtung findet Rechtsvergleichung bisher allerdings innerhalb ein und derselben nationalen Rechtsordnung 9. Für Zentral- bzw. Einheitsstaaten liegt der Grund auf der Hand, denn bei diesen gibt es schlicht nichts zu vergleichen. Ein Vergleich gegenwärtiger mit früheren Regelungen eines Zentralstaats bzw. ein diachroner Rechtsvergleich10 ist zwar durchaus möglich. Methodisch gesehen handelt es sich dabei jedoch weniger um Rechtsvergleichung, als vielmehr in erster Linie um Rechtsgeschichte11. Bei föderalen Staaten ist die Lage grundlegend anders, denn diese werden zur den Bürgern Rechtssicherheit vermittelnden Einheit erst durch ein harmonisches Zusammenspiel der Gliedstaaten und ihrer jeweiligen Rechtsordnungen sowohl untereinander als auch mit dem Bund12. Der Bürger fühlt sich im Zweifel erst dann als Bürger eines Bundesstaates und nicht als Bürger zweier Staaten (Bund und Land) oder eines Staatenbundes, wenn er trotz föderaler Rechtsvielfalt die Landesgrenze überschreiten kann und dort eine im Detail unterschiedliche, aber im Grundansatz vergleichbare rechtliche Situation vorfindet13. Ob ein solches harmonisches Zusammenspiel von Gliedstaaten eines Bundesstaats tatsächlich besteht, lässt sich nur mit Methoden der Rechtsvergleichung sinnvoll feststellen. Ziel der folgenden Darstellung ist es deshalb, einige Grundfragen dieser Variante der Rechtsvergleichung, die sich als „intraföderale Rechtsvergleichung“ oder Rechtsvergleichung im Bundesstaat bezeichnen lässt, auf einer theoretischen wie auch auf einer Anwendungsebene zu erörtern. Im Zentrum der Analyse steht hierbei die intraföderale Rechtsvergleichung im Verwaltungsrecht.

7   Aus dem englischsprachigen Raum etwa S. Rose/Ackerman/P. L. Lindseth (Hrsg.), Comparative Administrative Law, 2010; J. S. Bell, Comparative Administrative Law, in: M. Reimann/R. Zimmermann, The Oxford Handbook of Comparative Law, 1261 ff. 8   A. von Bogdandy/P. M. Huber u. a. (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, 2007 ff. 9   Vgl. aber etwa S. Boysen, Gleichheit im Bundesstaat, 2005, S.  6 ff. (Vergleich zwischen der Rechtssetzung der deutschen Bundesländer, allerdings ohne dieses Vorgehen methodisch zu hinterfragen) sowie den Hinweis bei K.-P. Sommermann (Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, 1017) und Ch. Starck (Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1026)). 10  Diesen Begriff verwendet etwa Ch. Schönberger, Verwaltungsrechtsvergleichung: Eigenheiten, Methoden und Geschichte, in: A. von Bogdandy/S.  Cassese/P. M. Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd.  4, 2011, §  71 Rn.  13 ff. 11   So i. E. wohl auch Starck (Fn.  9 ), JZ 1997, 1021 (1028). 12   Zu letzterem Fall des „Vollzugsföderalismus“ ausführlich am Beispiel des schweizerischen Bundesstaats G. Biaggini, Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts im Bundesstaat, 1996. 13   So i. E. auch Menzel (Fn.  5 ); S.  35; bemerkenswert ist auch, dass es bereits in der Zeit, in der sich das Verwaltungsrecht zur juristischen Disziplin zu entwickeln begann, Ansätze zu intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung gab (dazu Ch. Starck, (Fn.  9 ), JZ 1997, 1021 (1022)).

Grundfragen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung

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I.  Theoretische Fragen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung Zunächst ist das, was in der Einleitung bereits postuliert wurde, nämlich, dass intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung tatsächlich Rechtsvergleichung ist, näher zu erläutern. Dabei können zugleich zentrale Begriffe und Konstruktionen aus dem Bereich der herkömmlichen Rechtsvergleichung darauf hin überprüft werden, ob und, wenn ja, wie sie sich für die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung operationalisieren lassen:

1.  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung als Rechtsvergleichung Auf den ersten Blick ist die Frage, ob intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung Rechtsvergleichung ist, mit einem klaren Ja zu beantworten: Es werden verwaltungsrechtliche Normen verschiedener Staaten (genauer gesagt: Gliedstaaten eines Bundesstaates14) miteinander verglichen, also handelt es sich um Rechtsvergleichung. Allerdings gibt es einige zentrale Unterschiede zur herkömmlichen Rechtsvergleichung, die an diesem Ergebnis zweifeln lassen könnten.

a )  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung als Rechtsvergleichung ohne Völkerrechtsbezug? Rechtsvergleichung findet normalerweise zwischen den Rechtsordnungen verschiedener souveräner Staaten statt. Dadurch weist im herkömmlichen Sinne betriebene Rechtsvergleichung eine Nähe zum Völkerrecht auf 15. Dieser Völkerrechtsbezug lässt sich auch für das Internationale Privatrecht diagnostizieren, bei dem es sich – wie bereits angedeutet – ohnehin um denjenigen Teil des Privatrechts handelt, der mit der Rechtsvergleichung in äußerst engem disziplinären Zusammenhang steht16. Teilweise werden im internationalen Privatecht völkerrechtliche Verträge angewendet und völkerrechtliche Probleme können etwa auch dann auftreten, wenn sich ein Staat darauf beruft, die Anwendung ausländischen Rechts in seinem Staatsgebiet widerspreche seinem „ordre public“17. 14   Die Gliedstaaten eines Bundesstaates haben staatstheoretisch und z. T. auch verfassungsrechtlich betrachtet regelmäßig eigene Staatsqualität (vgl. etwa für die Bundesrepublik Deutschland BVerfGE 81, 310 ff.; für Österreich L. K. Adamovich/B.-Ch. Funk/G. Holzinger/St. L. Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd.  1, 2.  Aufl. (2011), 13.001 ff.; für die Schweiz R. J. Schweizer, in: B. Ehrenzeller/Ph. Mastronardi/ders./K. A. Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Vorbemerkung zu Art.  42–135 BV Rz.  20, Art.  43 Rz.  6 ). 15  Zur Beziehung zwischen Völkerrecht und Rechtsvergleichung allgemein u. a. K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3.  Aufl. (1996), S.  7 f. 16   Zur äußerst engen Verbindung beider Gebiete, die auch sich auch personell und organisatorisch bemerkbar macht (z. B. in Lehrstuhlbezeichnungen) etwa M. Reimann, Comparative Law an Private International Law, in: ders./R. Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 1363 ff. 17   Ausführlich hierzu A. Spickhoff, Der ordre public im internationalen Privatrecht, 1989.

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Einen gewissen Bezug zum Völkerrecht hat indes auch intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung, denn sie ist nur dann sinnvoll möglich, wenn vorab geklärt wird, innerhalb welchen Rahmens der Vergleich stattfinden soll. Genauer gesagt: Es muss die Beziehung zwischen Bund und Gliedstaaten untersucht werden, um zu verhindern, dass der Vergleich zwischen verschiedenen verwaltungsrechtlichen Normen eines Bundesstaates durch unzutreffende Grundannahmen verfälscht wird. Diese Beziehung zwischen Bund und Gliedstaaten ist jedoch – obschon verfassungsrechtlicher Natur – ursprünglich völkerrechtlicher Herkunft, da der Bund aus souveränen Staaten oder (z. B. im Wege eines Friedensvertrags) aus der Zerschlagung eines größeren Staates entstanden ist. Eine gewisse Nähe zum Völkerrecht zeigt sich auch dann, wenn Gliedstaaten untereinander Verträge über die Ausübung ihrer Kompetenzen schließen. Bei diesen handelt es sich zwar nicht um völkerrechtliche, sondern um verfassungsrechtliche Verträge18, d. h. die Wiener Vertragsrechtskonvention findet auf sie grundsätzlich keine Anwendung. Die in dieser Konvention genannten Rechtsinstitute (z. B. Regelungen zum Vertragsabschlussverfahren, clausula rebus sic stantibus etc.) lassen sich, soweit ihnen keine spezielleren verfassungsrechtlichen Regelungen vorgehen, ihrem Sinn und Zweck nach jedoch durchaus übertragen. Der Völkerrechtsbezug ist also kein geeignetes Kriterium, um herkömmliche Rechtsvergleichung und intraföderale Rechtsvergleichung strikt voneinander zu trennen.

b )  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung als Rechtsvergleichung ohne Sprachprobleme? Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Varianten der Rechtsvergleichung ergibt sich daraus, dass herkömmliche Rechtsvergleichung in weit größerem Umfang mit der Bewältigung sprachlicher Probleme zu kämpfen hat als intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung. Wer Rechtsvergleichung betreibt, ist in der Rolle eines Übersetzers und zwar nicht nur im übertragenen Sinne quasi als juristischer Dolmetscher zwischen zwei Rechtsordnungen, der rechtsdogmatische Konstruktionen aus der einen Ordnung für die andere verständlich macht bzw. übersetzt. Rechtsvergleichung ist auch im Wortsinne Übersetzen, weil rechtsdogmatische Konstruktionen nur dann miteinander verglichen werden können, wenn die entsprechenden Begriffe sprachlich zutreffend erfasst werden19. Dies setzt fundierte Fremdsprachenkenntnisse voraus und ist ein Grund dafür, weshalb EU-weite Rechtsvergleichung – diese wäre insbesondere im Bereich der Grundrechte, um im Sinne des Art.  6 Abs.  3 EUV gemeinsame Verfassungsüberlieferungen herauszuarbeiten, notwendig20 – angesichts 18   Beispielsweise in der Schweiz sind sie deshalb auch ausdrücklich in der Bundesverfassung (Art.  48 BV) geregelt (näher hierzu U. Abderhalden, in: B. Ehrenzeller/Ph. Mastronardi/R. J. Schweizer/K. A. Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Art.  48 Rz.  8 ff.). Im Grundgesetz fehlt eine entsprechende Regelung, Staatsverträge der Bundesländer, wie z. B. der Rundfunkstaatsvertrag sind jedoch allgemein als verfassungsgemäß anerkannt (vgl. etwa BVerfGE 119, 181 ff.). 19  Ausführlich hierzu R. Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2.  Aufl. (2011), 33 ff.; V. Grosswald Curran, Comparative Law and Language, in: M. Reimann/R. Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook ofComparative Law, 2006, 675 ff.; W. E. Weisflog, Rechtsvergleichung und juristische Übersetzung, 1996. 20   Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten entgegen den

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der sprachlichen Vielfalt in der Europäischen Union realistisch betrachtet kaum mehr möglich ist21. Bei der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung stellen sich derartige sprachliche Probleme auf den ersten Blick nicht, denn die zu vergleichenden Normen sind regelmäßig zumindest in derselben (wenn auch u. U. für den Vergleichenden fremden) Sprache verfasst. Es gibt zwar, wie die Beispiele Belgien, Kanada und die Schweiz zeigen, föderale Staaten, in denen mehrere Amtssprachen verfassungsrechtlich anerkannt sind 22. Zumindest die Zahl der entsprechenden Sprachen ist jedoch mit zwei (Kanada) 23, drei (Belgien) 24 und vier (Schweiz) 25 klein genug, dass auch die Übersetzungsprobleme überschaubar bleiben. Außerdem führt die Mehrheit von Amtssprachen stets dazu, dass mehrere verbindliche Textfassungen einer Norm existieren, es also gleichsam eine Übersetzung im Gesetzes- oder gar Verfassungsrang gibt. Dass somit die intraföderale Variante der Rechtsvergleichung in sprachlicher Hinsicht zumindest auf den ersten Blick einfacher ist als die herkömmliche Variante, ist ein Vorteil für die Validität der Ergebnisse des Vergleichs. Das Risiko aufgrund einer fehlerhaften Übersetzung zu unzutreffenden dogmatischen Schlussfolgerungen zu gelangen, ist bei intraföderaler Rechtsvergleichung gering. Vorhanden ist es aber nicht nur dann, wenn die föderale Rechtsordnung innerhalb derer der Vergleich erfolgt, eine für den Vergleichenden fremdsprachige ist. Übersetzungsprobleme könVorgaben des Vertrages, die ursprünglich ja seine eigenen waren (vgl. EuGH, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, S.  491, Rn.  13 f.; Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, S.  3727, Rn.  15; näher zur Entwicklung des EU-Grundrechtsschutzes vom Richterrecht zum Primärrecht vgl. etwa: Ch. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3.  Aufl. (2009), §  1; G. Nicolaysen, Historische Entwicklungslinien des Grundrechtsschutzes in der EU, in: S. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, §  1) und nach denen die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als Rechtserkenntnisquellen prinzipiell auf der gleichen Stufe stehen, auf die Verfassungsüberlieferungen wesentlich seltener Bezug genommen als auf die EMRK. Für dieses Vorgehen spricht allerdings, dass alle EU-Mitgliedsstaaten auch Mitglied der EMRK sind, die EMRK also den gemeinsamen Grundstandard der Grundrechte in der EU bildet und der EuGH, wenn er auf die EMRK Bezug nimmt, die methodischen (u. a. übersetzungstechnischen) Risiken der Rechtsvergleichung vermeiden kann (so i. E. auch D. Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3.  Aufl. (2009), §  14 Rn.  8 ). Ausführlich zur Praxis des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Rechtsvergleichung, vowiegend bezogen auf das Staatshaftungsrecht F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd.  II, Europarecht, 2.  Aufl. (2007), Rn.  149 ff., 514 ff.; kritisch I. Augsberg, Methoden des europäischen Verwaltungsrechts, in: J. Ph. Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, §  4 Rn.  10. 21   So i. E. etwa auch J. Ph. Terhechte, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, §  1 Rn.  18. 22   Vgl. für Belgien: Art.  4 und 30 der Verfassung Belgiens (vgl. den Text auf der Website des belgischen Senats: http://www.senate.be/deutsch/const_de.html); für Kanada: Art.  16 ff. Canadian Charter of Rights and Freedoms (vgl. den Text auf der Website des kanadischen Justizministeriums http:// laws-lois.justice.gc.ca/eng/charter/index.html); für die Schweiz: Art.  4 und 70 Bundesverfassung (BV). 23   Englisch und Französisch nach Art.  16 ff. Canadian Charter of Rights and Freedoms. 24   Französisch, Flämisch und Deutsch nach Art.  4 und 30 Belgische Verfassung. 25   Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch nach Art.  4 und 70 BV, wobei das Rätoromanische, wie schon aus Art.  70 Abs.  1 Satz 2 BV („Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes“) folgt, nur eine Teilamtssprache ist (näher R. Kägi-Diener, in: B. Ehrenzeller/Ph. Mastronardi/R. J. Schweizer/K. A. Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar zu Art.  70 BV Rz.  19).

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nen durchaus auch innerhalb ein- und derselben Rechtsordnung auftreten, wenn etwa sprachlich identischen Begriffen von den Gesetzgebungsorganen der Gliedstaaten eines Bundesstaates unterschiedliche dogmatische Bedeutung gegeben wurde26 oder wenn sprachlich unterschiedlichen Begriffen in verschiedenen Gliedstaaten die gleiche dogmatische Bedeutung zukommt27. Die unterschiedliche Bedeutung der Sprache für beide Varianten der Rechtsvergleichung stellt die Zugehörigkeit der intraföderalen Rechtsvergleichung zur Rechtsvergleichung deshalb ebenfalls nicht in Frage.

c)  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung als Rechtsvergleichung ohne Rechtskreise? Ein maßgeblicher Systematisierungsansatz in der Rechtsvergleichung ist die Bildung sog. Rechtskreise. Die Rechtsordnungen verschiedener Staaten werden aufgrund formaler und/oder inhaltlicher Gemeinsamkeiten zu Rechtskreisen oder auch Rechtsfamilien (z. B. romanischer Rechtskreis, deutscher Rechtskreis, osteuropäischer Rechtskreis, common-law-Rechtskreis) zusammengefasst28. Diesen Ansatz für die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung fruchtbar zu machen, erscheint problematisch, weil innerhalb desselben föderalen Staates die Unterschiede zwischen den gliedstaatlichen Rechtsordnungen (soweit man den Begriff „Rechtsordnung“ hier verwenden und ihn nicht der Menge der Rechtsnormen eines souveränen Staates vorbehalten will) im Zweifel nicht eindeutig genug sein werden, um Rechtskreise klar genug voneinander abgrenzen zu können. Ferner hindern Verfassungsbestimmungen wie etwa die Möglichkeit des Bundes, von einer Gesetzgebungskompetenz zur Vereinheitlichung gerade dann Gebrauch zu machen, wenn sich die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, die Rechts- oder die Wirtschaftseinheit zu weitgehend auseinanderentwickeln 29, sowie insbesondere das Prinzip der Bundestreue30 eine Differenzierung, die zu verschiedenen Rechtskreisen führen könnte. Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung wird deshalb meist eine Rechtsvergleichung ohne 26  Ein Beispiel aus dem Hochschulrecht ist der Begriff „Kuratorium“, der in einigen deutschen Bundesländern für ein Hochschulgremium mit Entscheidungsbefugnissen steht, in anderen jedoch für ein rein beratendes Gremium (näher D. Krausnick, Staat und Hochschule im Gewährleistungsstaat, 2012, S.  398 ff.). 27   So spricht etwa die baden-württembergische Gemeindeordnung von „Stadtkreisen“, die bayerische von „kreisfreien Städten“, ohne dass zwischen beiden Arten der kommunalen Gebietskörperschaften ein kommunalrechtlicher Unterschied bestünde (hierzu etwa M.-E. Geis, Kommunalrecht, 2.  Aufl. (2011), §  2 Rn.  36, §  7 Rn.  23 ff.). 28   Vgl. etwa die Einteilung bei K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3.  Aufl. (1996), S.  62 ff.; R. Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2.  Aufl. (2011), S.  175 ff. Teilweise werden die Begriffe „Rechtskreis“ und „Rechtsfamilie“ nicht synonym verwendet (dazu etwa R. Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), 11 m. w. N.). Dies kann hier jedoch dahinstehen, denn unstreitig ist jedenfalls, dass einem Rechtskreis oder einer Rechtsfamilie immer Rechtsordnungen mindestens zweier Staaten angehören. 29   Vgl. etwa für die Bundesrepublik Deutschand: Art.  72 Abs.  2 GG; für die Schweiz: Art.  43a Abs.  1 BV. 30   Hierzu u. a. BVerfGE 1, 299 (315 f.); F. Wittreck, Die Bundestreue, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  1, 2012, §  18.

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Rechtskreise sein. Dies hindert jedoch nicht daran, sie als spezielle Variante der Rechtsvergleichung zu verstehen: Die Rechtskreislehre erfüllt ihre Systematisierungsfunktion in erster Linie bei der sog. Makrovergleichung, also dem Vergleich ganzer Rechtssysteme, die unterschiedlichen Rechtskreisen angehören (z.  B. US-amerikanisches und deutsches Privatrecht). Ein solcher rechtskreisüberschreitender Vergleich ist nur möglich, wenn zuvor unterscheidbare Rechtskreise definiert wurden, denen die Vergleichsobjekte zugeordnet werden können. Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung ist jedoch eine Variante der Rechtsvergleichung auf der Mikroebene (d. i. ein Vergleich verschiedener Rechtsordnungen innerhalb desselben Rechtskreises31, also z. B. portugiesisches und spanisches Privatrecht) bzw. noch unterhalb der Mikroebene, weil der Vergleich sich nicht auf ganze Rechtsordnungen oder auch nur Rechtsgebiete (z. B. Verwaltungsrecht), sondern auf Teilgebiete (z. B. Kommunalrecht) bezieht, und innerhalb der Rechtsordnung desselben Staates stattfindet 32. Ein Vergleich auf der Mikroebene ist jedoch schon dann sinnvoll möglich, wenn klar ist, dass sich die zu vergleichenden Rechtsordnungen bzw. rechtlichen Regelungen unter einem gemeinsamen Oberbegriff bzw. ein tertium comparationis unterordnen lassen (z. B. Vergleichbarkeit des spanischen mit dem portugiesischen Privatrecht, weil beide stark durch das römische Privatrecht geprägt wurden). Ob dieses tertium comparationis ein Rechtskreis ist oder ob es noch andere Rechtskreise gibt, kann dann regelmäßig dahinstehen, weil es für den konkreten Vergleich keinen weiteren Erkenntnisgewinn bringt. Bei der Mikrovergleichung wird die Rechtskreislehre also nicht zwingend benötigt 33. Bei der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung gilt dies erst recht, weil das bundesstaatliche Dach unter dem sich die Vergleichsobjekte befinden, eine Vermutung dafür beinhaltet, dass diese Objekte auch vergleichbar sind. Die Rechtskreislehre (und erst recht ihre Anwendung in der Praxis) ist im Übrigen auch innerhalb der herkömmlichen Rechtsvergleichung durchaus nicht unumstritten34, weil sie zur Vergröberung tendiert und über die Einteilungskriterien kaum Konsens herrscht. Auch in praktischer Hinsicht lässt sich das Rechtskreis-Modell in Frage stellen, weil Europäisierung und Globalisierung zum faktischen Verschwimmen der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen führen35. Das Modell sollte deshalb auf die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung nicht angewendet werden. Gruppenbildungen zu Systematisierungszwecken sind allerdings auch bei intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung möglich wie das Beispiel von Trennungssystem und Einheitssystem im deutschen Polizei- und Sicher31  Zu dieser Unterscheidung zwischen Mikro- und Makrovergleichung etwa Sacco (Fn.  19), §  1 Rn.  30; Sommermann (Fn.  9 ), DÖV 1999, 1017. 32  Teilweise wird Mikrovergleichung auch anders definiert, nämlich als Vergleich von Rechtsnormen oder -instituten verschiedener Rechtsordnungen (dazu R. Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), 11 m. w. N.). Die Differenz zwischen beiden Definitionen kann hier jedoch dahinstehen, weil die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung nach beiden Definitionen unterhalb der Mikroebene liegt, da sie innerhalb ein- und derselben staatlichen Rechtsordnung stattfindet. 33   A. A. R. Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), 11 unter Bezugnahme auf L.-J. Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd.  III, 1983, S.  464. 34   Hierzu etwa R. Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), 11 (16 ff.). 35   Rechtsvergleichung soll andererseits auch die Grundlage dafür schaffen, dass etwa ein gemeineuropäisches Privatrecht entstehen kann (vgl. etwa A. Schwartze, Die Rechtsvergleichung, in: K. Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, §  4 Rn.  6 ff.).

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heitsrecht 36 oder die unterschiedlichen Kommunalverfassungssysteme (süddeutsche Rat-Bürgermeister-Verfassung, Magistratsverfassung etc.)37 deutlich machen. Nicht zuletzt deswegen stellt die Unmöglichkeit, „echte“ Rechtskreise zu bilden die Zugehörigkeit der intraföderalen Rechtsvergleichung zur Rechtsvergleichung im Ergebnis nicht in Frage.

d)  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung als Kulturvergleichung Ähnliches wie für den sprachlichen gilt für den interkulturellen bzw. ethnologischen Aspekt der Rechtsvergleichung: Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft sind von den kulturellen Gegebenheiten des Ortes, an dem sie stattfinden, unzweifelhaft abhängig38. Recht ist ein kulturell geprägtes und kulturprägendes Phänomen, was nicht zuletzt der – durchaus schillernde – Begriff der Rechtskultur zum Ausdruck bringt 39. Daraus folgt, dass derjenige der Rechtsvergleichung (im herkömmlichen Sinne) erfolgreich betreiben will, sich zunächst die kulturellen Besonderheiten der Länder, deren Rechtsordnungen er vergleichen will, vergegenwärtigen muss. Er muss also kulturvergleichend und damit ethnologisch40 tätig werden. Auch hier ist die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung prima facie unproblematischer, da sie innerhalb eines Staates und damit unter (zumindest scheinbar) kulturell relativ homogenen Bedingungen erfolgen kann. Wie weit diese Homogenität reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Es ist durchaus nicht selten, dass Gliedstaaten eines Bundesstaates sich innerhalb desselben kulturell unterschiedlich entwickeln oder (wie die der Bundesrepublik 1989 beigetretenen neuen Bundesländer) bereits bei ihrem Eintritt in den Bund maßgeblich andere historische Traditionen haben als die übrigen Gliedstaaten41. Diese kulturellen Unterschiede zwischen Gliedstaaten müssen bei der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung selbstverständlich in ähnlicher Weise Berücksichtigung finden wie bei der herkömmlichen 36   Hierzu u. a. D. Kugelmann, Polizei- und Polizeirecht in der föderalen Ordnung des Grundgesetzes, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  3, §  52. 37   Überblick hierzu bei Th. I. Schmidt, Kommunalrecht, 2011, Rn.  375 ff. 38   Zum Zusammenhang Rechtsvergleichung und Kulturvergleichung P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. (1998), S.  463 f.; G. F. Schuppert, Verfassung und Verfassungsstaatlichkeit in multidisziplinärer Perspektive, in: Festschrift Badura, 2004, 529 (538 f.); R. Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Festschrift Quaritsch, 2000, S.  163 ff. 39   Hierzu u. a.: P. Häberle, Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen, 2010, S.  80 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, 1994; P. Mankowski, Rechtskultur – eine vergleichend-anekdotische Annäherung an einen schwierigen und vielgesichtigen Begriff, JZ 2009, 321 ff.; Ph. Mastronardi, Recht und Kultur: Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens, ZaöRV 2001, 61 ff.; I. von Münch, Rechtskultur: Was ist das?, in: ders., Rechtspolitik und Rechtskultur, 2011, S.  52 ff.; ders., Rechtskultur, NJW 1993, 1673 ff. 40  Zur – durchaus spannungsreichen – Beziehung zwischen Kulturvergleichung und Ethnologie etwa W. Kaschuba, Anmerkungen zum Gesellschaftsvergleich aus ethnologischer Perspektive, in: H. Kaelble/J. Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer – Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2003, 341 ff. 41   Vgl. etwa I. Härtel, Der staatszentrierte Föderalismus zwischen Ewigkeitsgarantie und Divided Government. Genese, Ausprägung und Problemhorizonte des Bundesstaatsprinzips, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  1, 2012, §  16 Rn.  28 ff.

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Variante der Rechtsvergleichung. Auch intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung ist damit – wie jede Rechtsvergleichung – Kulturvergleichung, wenn auch auf einer Mikroebene.

e)  Politikbezug der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung Recht und Politik stehen in ähnlich engem Zusammenhangen wie Recht und Kultur. Der Rechtssetzung gehen politische Entscheidungen voraus und gerade das Staatsrecht ist „politisches“ Recht42. Die Politik muss sich jedoch ihrerseits an (verfassungs-)rechtliche Spielregeln halten. Diese gegenseitige Abhängigkeit von Recht und Politik, die sowohl die Rechtssetzung als auch (nolens volens) die Rechtsanwendung erfasst, ist bei der Rechtsvergleichung zu berücksichtigen43. Rechtliche Regelungen zu vergleichen, ohne die politischen Hintergründe ihrer Entstehung und Anwendung in den Vergleich mit einzubeziehen, führt fast schon notwendig zu unzutreffenden Ergebnissen. Dies gilt auch und gerade für das Verwaltungsrecht, das regelmäßig Mittel der Umsetzung politischer Entscheidungen in die Rechtspraxis ist44. Bei intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung ist das Risiko dessen, was man als politikferne Fehleinschätzung bezeichnen könnte, auf den ersten Blick geringer, weil hier die Gliedstaaten Teile eines Bundesstaates und damit auch Teile ein- und derselben politisch (relativ) homogenen Verfassungsordnung sind. Der Bund, den die Gliedstaaten bilden, hat sich außerdem häufig gerade deswegen zusammengeschlossen und bricht nicht auseinander, weil die politischen Bedingungen in diesen Staaten schon vor dem Zusammenschluss relativ homogen waren45. Mindestens in denjenigen Lebensbereichen, deren Regelung auch nach dem Zusammenschluss in der alleinigen Kompetenz der Länder verblieben ist, können die Länder jedoch weitgehend eigenständige politische Entscheidungen treffen und rechtlich umsetzen. Dann aber können unterschiedliche politische Konstellationen in den Ländern sehr wohl bewirken, dass auch rechtliche Unterschiede entstehen, die im Rahmen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung zu berücksichtigen sind.

2.  Abgrenzung zur Föderalismusvergleichung Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung setzt voraus, dass zunächst geklärt wird, in welcher spezifischen Beziehung Bund und Gliedstaaten gerade in demjenigen Staat stehen, dessen Recht Gegenstand des Vergleichs sein soll. Zu diesem Zweck 42  Hierzu statt vieler K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, 2.  Aufl. (1984), S.  14 ff. 43   So statt vieler auch Schwarze (Fn.  2 ), 83 f. 44   Zum politischen Charakter des Verwaltungsrechts etwa Ch. Möllers, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  1, 2006, §  3 Rn.  14. 45   Zu Gründen für die Entstehung von Bundesstaaten aus politikwissenschaftlicher Sicht A. Kaiser, Politiktheoretische Zugänge zum Föderalismus, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  1, §  6.

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muss notwendigerweise der föderalistische Staat, dessen Recht analysiert werden soll, mit anderen tatsächlich existierenden föderalistischen Rechtssystemen verglichen werden, und nicht etwa nur mit staatstheoretischen Idealbildern bundesstaatlicher Ordnung. Ob das Verhältnis der Teile eines Bundesstaates zueinander nah oder distanziert, kooperativ oder kompetitiv ist46, lässt sich nur mit Blick auf mindestens ein anderes derartiges Verhältnis in einem ausländischen Bundesstaat beurteilen. Deshalb ist Grundlage der intraföderalen Rechtsvergleichung regelmäßig zumindest implizit auch ein Föderalismusvergleich. Die intraföderale Rechtsvergleichung kann also auf der Föderalismusvergleichung auf bauen. Allerdings ist im Verhältnis zwischen intraföderaler Rechtsvergleichung und Föderalismusvergleichung zu bedenken, dass die Föderalismusvergleichung bzw. die vergleichende Föderalismusforschung47 in erster Linie die politische Qualität der Bund-Länder-Beziehung betrachtet und deshalb primär eine Teildisziplin der Politikwissenschaft ist48. Die intraföderale Rechtsvergleichung hat hingegen das Recht zum Gegenstand, ist also eine juristische (Grundlagen-)Disziplin bzw. Teil einer solchen, der Rechtsvergleichung. Die Methoden und Maßstäbe der Föderalismusvergleichung sind entsprechend vorwiegend politikwissenschaftliche, d. h. ihr Ansatz ist ein im Gegensatz zur Rechtsvergleichung stärker empirischer. Die intraföderale Rechtsvergleichung muss zwar auch teilweise empirisch arbeiten, weil sie zum einen den tatsächlichen Bestand an zu vergleichenden Rechtsnormen ermitteln muss, zum anderen sinnvollerweise nicht darauf verzichten kann, auch die politisch-kulturellen (gegebenenfalls auch soziologischen) Hintergründe dieser Normen in die Analyse mit einzubeziehen. Ebenso kann die Föderalismusvergleichung die verfassungsrechtlichen Grundlagen, auf denen die zu vergleichenden föderalen Systeme beruhen, und das von Bund und Gliedstaaten gesetzte Recht nicht ausblenden. Intraföderale Rechtsvergleichung und Föderalismusvergleichung haben also methodische Überschneidungsbereiche und sind beide ohne interdisziplinäre Arbeit kaum praktikabel. Die Föderalismusvergleichung geht jedoch empirisch mehr in die Tiefe und setzt außerdem andere Schwerpunkte. Die Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme föderaler Staaten und die jeweiligen verfassungsrechtlichen Grundlagen sind für die Föderalismusvergleichung ein wichtiger Aspekt, aber dennoch nur ein Aspekt unter anderen49.

46   Zusammenfassend zu den Theorien zum Bundesstaat des Grundgesetzes H. Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, in: Festschrift Peter Häberle, 2004, 645 ff. 47   Hierzu etwa D. Braun, Hat die vergleichende Föderalismusforschung eine Zukunft, in: Jahrbuch des Föderalismus, Bd.  3, 2002, S.  97 ff. 48   Vgl. etwa R. Sturm, Föderalismus, 2.  Aufl. (2010); K. von Beyme, Föderalismus und regionales Bewusstsein – ein internationaler Vergleich, 2007; M. Burgess, Comparative Federalism, 2006; zur Tradition der Vergleichung in der Politikwissenschaft insbesondere in Form der vergleichenden Regierungslehre vgl. den Hinweis bei Sommermann (Fn.  9 ), DÖV 1999, 1017 (1019). 49   Zur Föderalismusvergleichung aus Sicht der Rechtsvergleichung vgl. aber: Th. Fleiner, Rechtsvergleichung: Chancen und Lehren für den Föderalismus, in: F. Hufen u. a. (Hrsg.), Festschrift Hans-Peter Schneider, 2008, 255 ff.; A. Gamper, Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit: Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu Föderalismus und Regionalismus in Europa, 2004.

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3.  Abgrenzung zur Verfassungsvergleichung Bisher wurde der spezifisch verwaltungsrechtliche Aspekt der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung noch außeracht gelassen. Er ist nun bei der Abgrenzung der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung von der (methodenhistorisch älteren und in der Praxis verbreiteteren50 ) Verfassungsvergleichung zu präzisieren: Gegenstand der Verfassungsvergleichung sind Verfassungen, sei es auf gleicher bzw. horizontaler Ebene, also z. B. Landesverfassungen verschiedener Bundesländer51 oder Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten52, sei es auf unterschiedlichen Ebenen bzw. als vertikaler Vergleich, also z. B. die Landesverfassung eines deutschen Bundeslandes mit dem Grundgesetz. Gegenstand der Verwaltungsrechtsvergleichung sind „einfache“ formelle und materielle Gesetze und auch hier ist prinzipiell ein horizontaler (auf der Länderebene) wie ein vertikaler (Bundesebene verglichen mit Landesebene) Vergleich denkbar. Aus dem Unterschied der Vergleichsgegenstände ergeben sich zugleich Differenzen für den Anwendungsbereich beider Varianten der Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht. Die Verfassungsvergleichung ist insbesondere Hilfsmittel für Verfassungsinterpretation, Verfassungsgebung und Verfassungsänderung53. Von den Grundlagendisziplinen können die Allgemeine Staatslehre (etwa bei der Qualifikation von Staatstypen) 54 und die Verfassungsgeschichte (durch die Möglichkeit diachroner Verfassungsvergleiche) von der Verfassungsvergleichung profitieren. Demgegenüber nützt die Verwaltungsrechtsvergleichung primär der Gesetzesinterpretation und der Gesetzgebung. Für die Verwaltungslehre als Grundlagenfach ist die vergleichende Perspektive ebenfalls hilfreich. Wie noch zu zeigen ist, lässt sich eine vollständig klare Trennung zwischen Verfassungsebene (Verfassungsrechtsvergleichung) und Gesetzesebene (Verwaltungsrechtsvergleichung) allerdings nicht durchhalten, weil die Verwaltungsrechtsvergleichung durchaus auch der Verfassungsinterpretation dienen kann. Der Vergleich muss ferner den rechtlichen Spezifika seines Gegenstandes Rechnung tragen. Das bedeutet insbesondere, dass beide Vergleichsgegenstände mit den für sie passenden Auslegungsmethoden behandelt werden müssen. Daraus folgt, dass nur für die Verfassungsvergleichung die spezifischen Maßstäbe der Verfassungsauslegung heranzuziehen sind55, während Verwaltungsrechtsvergleichung anhand herkömmlicher Methoden der Gesetzesauslegung zu erfolgen hat. Andererseits besteht  Näher zur Geschichte der Verfassungsvergleichung A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S.  4 ff.; zur Geschichte der Verwaltungsrechtsvergleichung Schönberger (Fn.  10), Rn.  31 ff. 51   Hierzu für Deutschland M. Herdegen, Strukturen und Institute des Verfassungsrechts der Länder, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  V I, 3.  Aufl. (2008), §  129; für Österreich F. Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, 2.  Aufl. (1988). 52  Vgl. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7.  Aufl. (2011), S.  252 ff.; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. (1998), S.  784 ff.; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S.  1 ff. 53   Näher zu den Aufgaben der Verfassungsvergleichung und ihrer Bedeutung für die Verfassungsgerichtsbarkeit etwa M. Tushnet, Comparative Constitutional Law, in: M. Reimann/R. Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 1225 ff. 54   Hierzu bereits G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.  Aufl., 1913, S.  34 ff. 55   Zusammenfassend zu diesen P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. (1998), S.  259. 50

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eine Verbindung zwischen Verfassungsvergleichung und Verwaltungsrechtsvergleichung deshalb, weil Verwaltungsrechtsvergleichung auf horizontaler und vertikaler Ebene nur dann möglich ist, wenn als Vorfrage das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Bundes- und Landesebene geklärt wird. Geht ein Verwaltungsgesetz auf Bundesebene den thematisch ähnlichen Gesetzen auf Landesebene vollständig vor, z. B. aufgrund von Regelungen wie Art.  31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“), ist der vertikale Vergleich zumindest für die Rechtspraxis in einigen Fällen sinnlos, weil in Konfliktfällen zwischen beiden Ebenen sich stets das Bundesgesetz durchsetzt. Vollkommen sinnlos ist der Vergleich indes auch dann nicht, denn solange eben kein Konfliktfall besteht, sich also Bundes- und Landesebene nicht widersprechen, sondern lediglich die eine Ebene Lücken der anderen schließt, ist die Situation nicht anders als in anderen Fällen eines vertikalen Rechtsvergleichs. Der Vorrang des Bundesrechts beeinflusst jedoch auch den horizontalen Verwaltungsrechtsvergleich, da jedenfalls in der Rechtspraxis nur gültige Rechtsnormen, also solche, die nicht vom Vorrang des Bundesrechts etwa nach Art.  31 GG „gebrochen“ werden, sinnvollerweise miteinander verglichen werden können.

4.  Abgrenzung zum internationalen, interföderalen und interkantonalen Verwaltungsrecht Wie bereits angedeutet, sind insbesondere in den letzten Jahren verschiedene Arbeiten zum internationalen Verwaltungsrecht entstanden56. Deren Thema ist jedoch ein anders als das der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung: Internationales Verwaltungsrecht klärt z. B. die Frage, das Verwaltungsrecht welchen Staates zur Anwendung kommt, wenn sich der Adressat oder Begünstigte einer Verwaltungsentscheidung in einem anderen Staat befindet als in demjenigen, in dem die Entscheidung getroffen wurde, und er sich gegenüber diesem letzteren Staat auf die Entscheidung berufen will. Ebenfalls Thema des internationalen Verwaltungsrechts ist, ob und – wenn ja – in welchem Umfang ein Staat Verwaltungsentscheidungen auch gegenüber Personen treffen kann, die nicht im Geltungsbereich seiner Gesetze ansässig sind57. Nach den Regeln des internationalen Verwaltungsrechts entscheidet sich in diesen Fällen, ob das Recht des Staates angewendet wird, der die Verwaltungsentscheidung getroffen hat, oder das Recht des Staates, in dem der Adressat/Begünstigte der Entscheidung ansässig ist, oder ob u. U. sogar eine für beide Staaten geltende internationale Regelung vorrangig zu beachten ist. Das internationale Verwaltungsrecht ist also, indem es die Kollision verschiedener Rechtsregime löst – ähnlich dem internationalen Privatrecht – Kollisionsrecht. Kollisionen sind ebenso zwischen den Rechtsordnungen verschiedener Gliedstaaten eines Bundesstaates denkbar, so dass sich in ähnlicher Weise wie nach einem internationalen Ver56  Vgl. zur Forschungsgeschichte des Internationalen Verwaltungsrechts aber bei Menzel (Fn.  5, S.  43 ff.). Das Thema Internationales Verwaltungsrecht ist danach nicht wirklich neu, derzeit aber von gesteigertem Interesse, weil im Zuge der Europäisierung von Wirtschaft und – in der Folge – Recht auch die Fragen des internationalen Verwaltungsrechts immer höhere Praxisrelevanz erlangen. 57   Menzel (Fn.  5 ), S.  7 ff.; Kment (Fn.  5 ), S.  68 ff., 267 ff.

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waltungsrecht nach einem intraföderalen Verwaltungsrecht fragen lässt; ein Ansatz, der insbesondere in den USA verfolgt wird58. Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung befasst sich mit kollidierenden Rechtsordnungen einerseits als Vorfrage, wenn bei einem Vergleich von Landesrecht zunächst zu klären ist, inwieweit dieses durch kollidierendes Bundesrecht verdrängt wird (s. o. I. 1.) c)). Andererseits ist intraförderale Verwaltungsrechtsvergleichung u. U. notwendig, um feststellen zu können, dass überhaupt eine Kollision vorliegt. In einigen Gebieten des Verwaltungsrechts innerhalb eines Bundesstaates stellen sich Kollisionsprobleme allerdings von vornherein in geringerem Umfang. Zu denken ist zum einen an Bereiche, in denen Verwaltungsentscheidungen nicht personenbezogen, sondern grundstücks- bzw. anlagenbezogen getroffen werden, wie etwa im Baurecht und im Umweltrecht59. Die Entscheidung kann hier nicht landesgrenzen­ überschreitend wirken, weil das Bauvorhaben bzw. die genehmigungsbedürftige Anlage nicht die Landesgrenze überschreiten können. Die Frage, ob das Recht eines anderen Bundeslandes den Fall ähnlich oder anders beurteilen würde, stellt sich also nicht60. Einer entsprechenden Genehmigung kommt zwar unzweifelhaft faktische grenzüberschreitende Wirkung zu, weil die Errichtung des genehmigten Vorhabens die tatsächlichen Bedingungen für Planungsentscheidungen des betroffenen Bundeslandes beeinflusst61. Dies ist jedoch keine Kollision von zwei Rechtsordnungen. In anderen Rechtsgebieten, wie etwa im deutschen Polizei- und Sicherheitsrecht existieren detaillierte Regeln dazu, wann die Behörde eines Bundeslandes in einem anderen Bundesland rechtswirksam handeln darf62. Diese (Kollisions-)Regeln müssen somit nicht erst durch intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung gewonnen werden. Erst recht gilt dies dann, wenn Fragen deren Klärung von intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung u. U. profitieren könnte, bereits durch das Bundesrecht entschieden werden wie etwa durch die Regelungen der deutschen Gewerbeordnung über die Reisegewerbekarte63. Beim interkantonalen Recht der Schweiz ist die Lage etwas anders als beim internationalen Verwaltungsrecht: Da die Schweizer Kantone auch Kompetenzen in Bereichen haben, in denen es zu Kollisionen zwischen verschiedenen Kantonsrechtsordnungen kommen kann wie z. B. im Steuerrecht64, kann die Situation hier prinzipiell ähnlich sein wie beim internationalen Verwaltungsrecht. Als interkantonales  Näher Menzel ((Fn.  5 ), S.  34 ff.), der insoweit von „Zwischenländerrecht im Bundesstaat“ spricht.   Zum Boden- und Objektbezug im öffentlichen Baurechts etwa W. Hoppe/Ch. Bönker/S. Grotefels, Öffentliches Baurecht, 4.  Aufl. (2010), §  1 Rn.  5 ff.; zum Anlagenbezug im Umweltrecht etwa P. Salje, Technikrecht und ökonomische Analys, in: M. Schulte/R. Schröder (Hrsg.), Handbuch des Techikrechts, 2.  Aufl. (2011), 109 (128 ff.); M. Klöpfer/M. Kohls/V. Ochsenfahrt, Umweltrecht, 3.  Aufl. (2004), 210 ff. 60  Ähnlich für die Wirkung einer Vorhabengenehmigung im Ausland: Kment (Fn.  5 ), S.  281 ff.; Ohler (Fn.  5 ), S.  151. 61   Gegebenenfalls kommt wegen dieser faktischen Wirkungen sogar eine Klage von Einwohnern des betroffenen Gebiets in Betracht (Kment, a. a. O.). 62   Vgl. etwa Art.  11 Abs.  3 –5 BayPOG; §§  78, 79 PolG BW; §§  77, 78 SächsPolG. 63   §§  55 ff. GewO. 64   Vgl. den Hinweis bei Menzel (Fn.  5 ), S.  36. Ausführlich zum Steuerwettbewerb im Föderalismus A. Glaser, Steuerwettbewerb in föderalen Staaten in rechtsvergleichender Perspektive, JöR 58 (2010), S.  251 ff. 58 59

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Recht wird aber nicht etwa das durch das Bundesrecht (ähnlich wie im deutschen internationalen Privatrecht durch das EGBGB) vorgegebene Kollisionsrecht für die Entscheidung von interkantonalen Kompetenzkonflikten bezeichnet. Interkantonales Recht sind vielmehr Verträge zwischen Kantonen i. S. d. Art.  48 BV, die dazu dienen, Kompetenzen der Kantone gemeinsam wahrzunehmen. Das durch solche Verträge und durch auf ihrer Grundlage geschaffene Organe und Einrichtungen (hierzu ermächtigt Art.  48 Abs.  1 und 4 BV) erlassene, interkantonale Recht ist eine Zwischenstufe zwischen Bundes- und Kantonsrecht65. Es ist insoweit nicht zu verwechseln mit dem (ungeschriebenen) gemeineidgenössischen Verfassungsrecht, das durch Vergleich der kantonalen Verfassungen gewonnen werden kann66. Derartige Möglichkeiten zur vertraglichen Kooperation zwischen Gliedstaaten bestehen auch in anderen föderalistischen Staaten und sind bei der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung mit zu berücksichtigen.

5.  Verfassungsabhängigkeit der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung Wie u. a. bereits im Bezug auf Art.  31 GG angedeutet, hängen Verfassungsrecht und intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung eng zusammen. Der Zusammenhang ist derart intensiv, dass von einer Verfassungsabhängigkeit der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung gesprochen werden kann. Für das Verwaltungsrecht ist dies an sich kein ungewöhnlicher Befund, wird es doch seit längerem von der herrschenden Lehre als konkretisiertes Verfassungsrecht verstanden67. Allerdings reicht die Verfassungsabhängigkeit bei der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung weiter, weil sie nicht nur (wie allgemein beim Verwaltungsrecht) die Bindung an das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte, sondern auch diejenige an die jeweilige verfassungsrechtliche Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung im betreffenden Staat erfasst. Je größer insoweit die Selbständigkeit der Gliedstaaten gegenüber dem Bund nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben ist, desto mehr Bedarf besteht für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung 68. Maßgeblich ist insoweit vor allem die Kompetenzordnung in der (Bundes-)Verfassung, denn sie legt fest, in welchem Umfang die Bundesländer berechtigt sind, autonom Recht zu setzen. Damit bestimmt sie zugleich, in wieweit intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung in der Rechtspraxis stattfinden kann, denn diese ist – wie gesagt – regelmäßig nur 65   Hierzu etwa U. Abderhalden, in: B. Ehrenzeller/Ph. Mastronardi/R. J. Schweizer/K. A. Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Art.  48 Rz.  8 ff. 66  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. (1998), S.  784 ff. 67  Zum Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht grundlegend F. Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl.  1959, 527; hierzu im Kontext des internationalen Verwaltungsrechts Menzel (Fn.  5 ), S.  15; kritisch Ch. Möllers, in: Hofmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  1, 2006, §  3 Rn.  13. Näher zur Verfassungsabhängigkeit der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung im Übrigen s. u. 68   Ein Beispiel für einen föderalen Staat mit relativ schwacher Stellung der Länder ist Österreich (dazu etwa St. Storr, Österreich als Bundesstaat, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  4, 2012, §  98 Rn.  12 ff.; R. Walter/H. Mayer/G. Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 10.  Aufl. (2007), S.  87 f.).

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sinnvoll, wenn gültige, also kompetenzgerecht erlassene Rechtsnormen verglichen werden. Die Verfassungsabhängigkeit der intraföderalen Rechtsvergleichung betrifft neben dem Staatsorganisationsrecht ebenso in besonderer Weise die Grundrechte69: Der Einfluss der (Bundes-)Grundrechte auf das einfache Recht der Bundesländer ist insbesondere in denjenigen Bereichen des Landesrechts zu beachten, die durch Bundesgrundrechte (genauer gesagt: durch spezielle Freiheitsrechte, die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art.  2 Abs.  1 GG ist naturgemäß immer betroffen) geschützte Lebenssachverhalte regeln, bei denen aber die entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen bei den Ländern liegen, wie etwa im Wissenschaftsrecht, im Schulrecht, im Datenschutzrecht und im Rundfunkrecht70. Dieser Einfluss reicht über die allgemeine Bindung der Länder an die Bundesgrundrechte nach Art.  1 Abs.  3 GG noch hin­ aus. Die Auslegung der Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht übt auf die Bundesländer einen gewissen Koordinationszwang bzw. „Unitarisierungsdruck“71 aus, weil die Länder über Art.  1 Abs.  3 GG an diese Auslegung zumindest de facto gebunden sind und ihre Regelungen entsprechend grundrechtskonform ausgestalten müssen. Dies schränkt die Möglichkeiten intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung von vornherein ein.

II.  Praktische Probleme der intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung eine Variante der Rechtsvergleichung ist, die mit der herkömmlichen Rechtsvergleichung in engem Zusammenhang steht, aber dennoch eigenen Regeln folgt. Diese Regeln sind im Folgenden dadurch zu präzisieren, dass einige praktische Probleme der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung näher beleuchtet werden, wobei im Wesentlichen – auch um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen – auf die deutsche Rechtsordnung Bezug genommen wird. Damit soll zugleich die Frage beantwortet werden, warum es sich für Rechtspraxis und -dogmatik lohnt, sich mit intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung zu beschäftigen.

69   Zum Zusammenhang zwischen Grundrechten und bundesstaatlicher Kompetenzordnung allgemein K. F. Gärditz, Grundrechte im Rahmen der Kompetenzordnung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  9, 3.  Aufl. (2011), §  189 Rn.  38 ff. 70   Gärditz (Fn.  68) Rn.  42. 71   Formulierung von Ch. Starck (Idee und Struktur des Föderalismus im Lichte der Allgemeinen Staatslehre, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  1, 2012, §  1 Rn.  34); ausführlich zur unitarisierenden Wirkung der Grundrechte Boysen (Fn.  9 ), S.  86 ff.; grundlegend zur Idee des „unitarischen“ Bundesstaats K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; vgl. auch R. Bartlsperger, Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  6, 3.  Aufl. (2008), §  128 Rn.  6 ff.

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1.  Anwendungsfelder der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung a)  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung und Gesetzesauslegung Ein erstes und wohl das in der Praxis zentrale Anwendungsfeld ist die Gesetzesauslegung im Verwaltungsrecht. Es liegt auf der Hand, dass dann, wenn ein unbestimmter Rechtsbegriff des Landesrechts ausgelegt oder eine Lücke in einem Landesgesetz geschlossen werden soll, neben einem Blick in die Gesetzesmaterialien regelmäßig auch ein solcher in die Rechtsordnung benachbarter Bundesländer hilfreich sein kann72. Oft werden sich nämlich in anderen Bundesländern ähnliche Regelungsprobleme stellen, so dass auch die in der dortigen Gesetzgebung und Rechtsprechung gefundenen Lösungen möglicherweise übertragbar sind. Auch wenn der Vergleich ergibt, dass – z. B. weil landestypische Besonderheiten zu berücksichtigen sind – eine Übertragung der externen Lösung ausscheidet, profitiert die Auslegung, denn dadurch wird das Auslegungsproblem zumindest negativ eingegrenzt. In dieser Weise wird intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung in den Landesbehörden und in der Rechtsprechung der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte der Länder ständig praktiziert73. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat die intraföderale Rechtsvergleichung auch deswegen größere Bedeutung als für die ordentliche Gerichtsbarkeit, weil das Verwaltungsrecht zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe wie etwa „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ oder „örtliche Angelegenheiten“ enthält74. Für das Bundesverwaltungsgericht spielt die intraföderale Rechtsvergleichung eine eher geringe Rolle, weil dieses Gericht nur selten berechtigt ist, Landesrecht zu prüfen. Dies gilt insbesondere für seine Zuständigkeit als Revisionsgericht, denn nach §  137 VwGO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht oder auf der Verletzung einer Vorschrift eines Landesverwaltungsverfahrensgesetzes, deren Wortlaut mit der entsprechenden Vorschrift des Bundes-Verwaltungsverfahrensgesetzes übereinstimmt. Bundesrecht jedoch – und sei es auch im Wege intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung – im Lichte des Landesrechts auszulegen, widerspricht im Zweifel der Normenhierarchie bzw. dem Vorrang der Verfassung75. Dieser Verstoß gegen objektives Verfassungsrecht beinhaltet im Sinne der Elfes-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts76 zugleich einen unzulässigen und mit der Urteilsverfassungsbeschwerde angreif baren Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art.  2 Abs.  1 GG. Betreibt das Bundesverwaltungsgericht allzu unbefangen intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung kann es ferner noch auf andere Weise Verfassungsbe72   Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für die richterliche Rechtsfortbildung vgl. etwa Schwarze (Fn.  2 ), 79 f.; Zweigert/Kötz (Fn.  15), S.  20 f. 73   Dass dabei der Richter seine Bindung an das Gesetz nicht vernachlässigen darf (so Starck (Fn.  9 ), JZ 1997, 1021 (1024 m. w. N.)), trifft selbstverständlich zu. Solange der Richter der Rechtsvergleichung lediglich als eine Auslegungsmethode unter mehreren (oder als Teil der teleologischen Auslegung; diesen Ansatz präferiert Starck) behandelt, ist das Risiko einer Abweichung von der Gesetzesbindung aber wohl gering. 74   So auch Schwarze (Fn.  2 ), 84. 75   Statt vieler R. Herzog/B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Januar 2012, Art.  20 VI. Rn.  2 ; rechtsvergleichend zum Vorrang der Verfassung etwa Weber (Fn.  9 ), S.  20 f. 76   BVerfGE 6, 32 ff.; seitdem st. Rspr.

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schwerden gegen seine Urteile provozieren, denn dadurch vernachlässigt es die genannten gesetzlichen Begrenzungen des revisiblen Rechts und verstößt so nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art.  101 Abs.  1 Satz 2 GG77. Auch dem Bundesverwaltungsgericht ist die Methode der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung indes nicht vollständig verschlossen. Zu denken ist zum einen an diejenigen Fälle, in denen ein Bundesland gestützt auf Art.  99 GG die Überprüf barkeit von Landesrecht durch das BVerwG ausdrücklich angeordnet hat oder ein Bundesgesetz wie etwa §  127 Nr.  2 BRRG (dieser gehört zu den wenigen trotz Schaffung des BeamtStG noch gültigen Regelungen des BRRG) eine solche Überprüf barkeit ausdrücklich vorsieht. Zum anderen erkennen auch Rechtsprechung und Kommentarliteratur78 Ausnahmen von der Begrenzung des revisiblen Rechts nach §  137 VwGO an (z. B. wenn das Ausgangsgericht anwendbares Landesrecht bei seiner Entscheidung übersehen hat oder wenn neues bei der Entscheidung zu berücksichtigendes Landesrecht erst nach deren Ergehen in Kraft getreten ist). In diesen Fällen kann das Bundesverwaltungsgericht, soweit es Landesrecht auslegen darf, zum Zweck der Auslegung (ähnlich wie ein Verwaltungsgericht des betreffenden Landes) auch intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung betreiben. Der Rolle des Bundesverwaltungsgerichts als Bundesgericht dürfte die intraföderal vergleichende Perspektive bei der Auslegung von Landesrecht wohl sogar in besonderer Weise gerecht werden. Ein weiterer – sogleich noch näher darzustellender – Anwendungsbereich für intraföderale Rechtsvergleichung auch durch das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht ist die Verfassungsauslegung, insbesondere die Prüfung, ob die vom Landesverwaltungsgericht gewählte Auslegung des Landesrechts mit den Bestimmungen des Grundgesetzes in Einklang steht, denn bei diesen Bestimmungen handelt es sich unproblematisch um revisibles Bundesrecht i. S. d. §  137 VwGO79.

b)  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung und Verfassungsauslegung  80 Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung als Hilfsmittel zur Auslegung von Verfassungsbestimmungen einzusetzen, scheint auf den ersten Blick deswegen problematisch zu sein, weil damit – wie angedeutet – eine Auslegung der Verfassung im Lichte des einfachen Rechts und somit ein Verstoß gegen den durch Art.  20 Abs.  3 GG geschützten Vorrang der Verfassung verbunden sein könnte. Dieser erste Eindruck täuscht jedoch, denn intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung soll lediglich dazu dienen, den Inhalt solcher Grundgesetzregelungen näher zu bestimmen, die, ohne im konkreten Einzelfall die Landesgesetzgebung zu betrachten, nicht sinnvoll ausgelegt und angewendet werden können.   BVerfGE 31, 145 ff.   Näher etwa M. Eichberger, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, VwGO, Stand: September 2011, §  137 Rn.  82 f. 79   Vgl. nur M. Eichberger, a. a. O., §  137 Rn.  80 f. 80   Ausführlich zur Rechtsvergleichung als Mittel der Verfassungsauslegung J. M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 ff. 77 78

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Eine solche Regelung ist die Erforderlichkeitsklausel in Art.  72 Abs.  2 GG. Ob nach Art.  72 Abs.  2 GG ein Bundesgesetz zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit erforderlich ist, kann nur dann zweifelsfrei geklärt werden, wenn feststeht, dass diese Einheit gefährdet ist bzw. sich die Lebensverhältnisse auseinanderentwickelt haben oder wenn der Bund dies jedenfalls annehmen durfte81. In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht in einigen seiner Urteile bereits intraföderale Rechtsvergleichung betrieben. Ein Beispiel ist die Entscheidung zum Studiengebührenverbot, in der das Gericht explizit auf die Regelungen der Länder über Studiengebühren eingeht82. Ob damit der Einschätzungsprärogative des Bundesgesetzgebers bei der Frage, ob Erforderlichkeit i. S. d. Art.  72 Abs.  2 GG gegeben ist, ausreichend Rechnung getragen wird, ist eine andere Frage. Sie kann jedoch dahinstehen, denn es soll hier nur darum gehen, Anwendungsfelder für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung in abstracto aufzuzeigen. Eine weiteres Anwendungsfeld für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung im Zusammenhang mit Grundgesetzbestimmungen sind – wie bereits angedeutet – die Grundrechte und zwar speziell diejenigen Grundrechte, bei denen allein oder zumindest überwiegend die Länder die Gesetzgebungskompetenz für Ausgestaltungen und Eingriffe83 haben. Beispiele sind die Presse- und die Rundfunkfreiheit nach Art.  5 Abs.  1 Satz 2 GG. Spätestens seit die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse in Art.  75 Abs.  1 Satz 1 Nr.  2 GG a. F. im Zuge der Föderalismusreform I im Jahre 2006 entfallen ist, liegt hier die Regelungskompetenz ausschließlich bei den Ländern. Ähnliches gilt wegen der Änderung des Art.  74 Abs.  1 Satz 1 Nr.  3 GG a. F. für die Versammlungsfreiheit nach Art.  8 GG, sowie, weil hier den Ländern die Regelungskompetenz explizit zugewiesen ist, für die Privatschulfreiheit nach Art.  7 Abs.  4 Satz 1 GG. Auch die Wissenschaftsfreiheit nach Art.  5 Abs.  3 Satz 1 GG ist ein Grundrecht, bei dem intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung möglich ist, weil der Bund hier seit der Föderalismusreform I 2006 nach Art.  74 Abs.  1 Nr.  33 GG nur noch die Kompetenz für die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse innehat und die Länder von hierauf gestützten Bundesgesetzen gemäß Art.  72 Abs.  3 Satz 1 Nr.  6 GG durch eigene Regelungen abweichen dürfen. Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung ist ferner dann unproblematisch, wenn zwar der Bund eine Gesetzgebungskompetenz hat, mit der er in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreifen (bzw. diesen ausgestalten) darf, ein anderer Teil des Schutzbereichs ihm aber ausdrücklich entzogen ist. Ein Beispiel ergibt sich aus Art.  74 Abs.  1 Nr.  11 GG: Gestützt auf diese Kompetenz kann der Bund in die Berufsfreiheit nach Art.  12 Abs.  1 GG eingreifen, nicht jedoch, soweit er Fragen des Gaststättenrechts und andere in Art.  74 Abs.  1 Nr.  11 GG genannte Ausnahmebereiche regeln will. Gaststättengesetze der Bundesländer können also prinzipiell der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung unterzogen werden. Dies gilt auch dann, wenn die Länder ihre (neue) Kompetenz nur teilweise 81   Der Bund hat bei der Beurteilung der Erforderlichkeit nach Art.  72 Abs.  2 GG nachwievor einen (wenn auch engen) Einschätzungsspielraum (hierzu BVerfGE 106, 62 ff., 111, 226 ff., 112, 226 ff.; aus dem Schrifttum etwa Ch. Seiler, in: V. Epping/Ch. Hillgruber, BeckOK GG, Art.  72 Rn.  11 m. w. N.). 82   BVerfGE 112, 226 ff. 83   Zur Differenzierung M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S.  9 ff.

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ausüben und im Übrigen auf das nach Art.  125a GG weiterhin anwendbare Gaststättengesetz des Bundes verweisen84. Im Wege der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung kann hier zumindest der Frage nachgegangen werden, in welchen Fällen und warum keine eigene landesrechtliche Regelung erfolgt. Soweit hingegen die Kompetenzen zur Ausgestaltung eines grundrechtlichen Schutzbereichs oder für Eingriffe in diesen allein oder überwiegend beim Bund liegen, ist intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung entweder von vornherein unmöglich (Nichtigkeit von Landesgesetzen, in Bereichen die nach Art.  73 GG ausschließlich dem Bund zugewiesen sind) oder jedenfalls deswegen wenig sinnvoll, weil der Bund, indem er von einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht, diese den Ländern i. S. d. Art.  72 Abs.  1 GG entziehen kann. Ein derartiges Grundrecht ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach Art.  4 Abs.  3 Satz 1 GG, weil nach Art.  4 Abs.  3 Satz 2 GG die Regelung des Näheren ausdrücklich dem Bund zugewiesen ist. Ähnliches gilt prinzipiell für die Vereinigungsfreiheit nach Art.  9 Abs.  1 GG, denn hier hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz sowohl für das Vereinswesen (Art.  74 Abs.  1 Nr.  3 GG), als auch für das bürgerliche und das Handelsrecht (Art.  74 Abs.  1 Nr.  1 und 11 GG), soweit es um BGB-Gesellschaften, und Gesellschaftsformen nach dem HGB geht85. Jedenfalls dann, wenn der Bund an die Erforderlichkeitsklausel nach Art.  72 Abs.  2 GG gebunden ist, wie insbesondere bei Regelungen auf der Grundlage des Art.  74 Abs.  1 Nr.  11 GG, bleibt intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung dennoch möglich; allerdings nicht zur Auslegung des Art.  9 Abs.  1 GG, sondern zur Auslegung des Art.  72 Abs.  2 GG. Um auch hier nicht missverstanden zu werden: Ziel der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung kann und darf es gemessen am Vorrang der Verfassung als Teil des Rechtsstaatsprinzips in Art.  20 Abs.  3 GG nicht sein, Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte des Verwaltungsrechts der Länder auszulegen. Der Vergleich verwaltungsrechtlicher Landesgesetze, die dasselbe Grundrecht einschränken oder ausgestalten, zeigt aber zumindest, wie weit dieses Grundrecht in der Praxis reicht. Ein Landesgesetzgeber kann, wenn er beabsichtigt, zur Erreichung eines politischen Ziels eine grundrechtsrelevante Regelung zu erlassen, durch einen Vergleich mit entsprechenden Regelungen in anderen Ländern die Erfolgschancen seines gesetzgeberischen Projekts besser einschätzen. Ebenso kann durch die vergleichende Analyse der Landesgesetzgebung festgestellt werden, welche praktischen Möglichkeiten bestehen, eine grundrechtliche Schutzpflicht zu erfüllen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung können Gesetzgeber und Richter sich die Frage stellen, ob ein Gesetz deswegen ungeeignet oder nicht erforderlich zur Erreichung seines Regelungszwecks ist, weil die Erfahrungen mit ähnlichen Gesetzen in anderen Ländern dies belegen. Die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung kann hier aber auch ergeben, dass sich das überprüfte Gesetz in einem maßgeblichen Punkt von den Parallelregelungen in anderen Ländern unterscheidet und deshalb dem Grund84   Diese Regelungstechnik verwendet etwa das Landesgaststättengesetz in Baden-Württemberg (§  1 LGastG BW). 85   Zu Art.  74 Abs.  1 Nr.  11 GG als Grundlage für Regelungen des Organisationsrechts der Wirtschaft und des Handels und damit auch des Gesellschaftsrechts Ch. Seiler, in: V. Epping/Ch. Hillgruber, BeckOK GG, Art.  74 Rn.  32.

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satz der Verhältnismäßigkeit gerade noch genügt. Im Ergebnis gibt es also nicht wenige Möglichkeiten, intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung im Zusammenhang mit Grundrechten zu betreiben, ohne dass darin ein Verstoß gegen den Grundsatz vorm Vorrang der Verfassung läge und diese werden in der Rechtspraxis auch genutzt.

c)  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung und Gesetzgebung Maßgeblich von intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung profitieren kann auch der Gesetzgeber. Er erfährt durch sie, wie die Gesetzgebung anderer Bundesländer vergleichbare Regelungsprobleme löst, u. U. auch, wie die dortige Praxis und insbesondere Rechtsprechung entsprechende Neuregelungen aufnimmt. Auf diese Weise kann der betreffende Landesgesetzgeber zum einen im Sinne eines Benchmarking nach der geeignetsten Regelung suchen86. Zum anderen nützt die intraföderale Rechtsvergleichung, insbesondere, soweit die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung mit einbezogen wird, der Gesetzesfolgenabschätzung87. Ob eine gesetzliche Neuregelung eine nachhaltige Problemlösung erwarten lässt, kann genauer prognostiziert werden, wenn externe Erfahrungen mit vergleichbaren gesetzgeberischen Lösungen analysiert werden. In vielen Fällen stellen deshalb Ministerien, bevor sie Gesetzesentwürfe ausarbeiten, Vergleiche mit der Rechtslage in anderen (Bundes-)Ländern an. Konsequenz kann eine gewisse Unitarisierung sein, weil sich eine erfolgreiche Lösung in einem Land nach und nach in allen Ländern durchsetzt. Föderalismustheoretisch und -politisch erscheint dies jedoch als eher unbedenklich, weil die Koordination der Länder eine freiwillige ist und jederzeit wieder durch Neuregelung des betreffenden Problems in einem Land aufgelöst werden kann. Es besteht hier nicht etwa eine rechtliche Verpflichtung zur Selbstkoordination der Länder, wie in Fällen, in denen die Länder einen Staatsvertrag geschlossen haben (dazu noch s. u. II. 3.) b)) oder kraft Bundesverfassungsrechts. Auch aus dem Grundsatz der Bundestreue folgt höchstens dann etwas anderes, wenn Vorgaben des Grundgesetzes eine Koordination des Landesrechts fordern. Was im Übrigen die Qualifikation des Verhältnisses der Gliedstaaten eines Bundesstaates zueinander generell betrifft, so schwanken die Einschätzungen seit langem zwischen den Modellen des unitarischen, des kooperativen und demjenigen des kompetitiven Föderalismus bzw. Wettbewerbsföderalismus88. Derartigen Analysen soll hier keine weitere hinzugefügt werden. Klar ist allerdings, dass dann wenn man von letzterem Modell ausgeht, der zwischen den Gliedstaaten bestehende Wettbe86   Zur Idee des Benchmarking im Wettbewerbsföderalismus Th. Würtenberger, Neugliederung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  6, 3.  Aufl. (2008), §  132 Rn.  10 ff. 87   Ausführlich zum Thema Gesetzesfolgenabschätzung A. Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S.  123 ff.; C. Böhret/G. Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001. 88   Aus der umfangreichen Literatur hierzu etwa A. F. Erpenbach, Grenzen des Wettbewerbsföderalismus unter Berücksichtgung der Reform zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2010, S.  10 ff.; V. Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, 2005, S.  100 ff.; G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; Boysen (Fn.  9 ), S.  4 4 ff.; aus ökonomischer Sicht H. Berthold/N.  Fricke, Die Bundesländer im Standortwettbewerb, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd.  2 , §  30.

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werb u. a. um grundrechtlichen Schutzpflichten gerecht werden zu können der Beobachtung und Evaluation bedarf. Wettbewerb kann nur dann eine sinnvolle innere Steuerung bzw. Governance eines Systems sein89, wenn die Ergebnisse dieses Wettbewerbs bewertet werden. Diese Evaluation des Wettbewerbs zwischen Gliedstaaten eines Bundesstaates kann die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für die Gesetzgebung leisten. Der intraföderale Wettbewerb wird (zumindest nach h. M.) begrenzt durch das Gebot der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bzw. das Verbot widersprüchlicher Regelungskonzepte im Bundesstaat90. Auch hier kann intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung zum Einsatz kommen, um festzustellen, ob tatsächlich ein Widerspruch zwischen den entsprechenden Regelungen von Bund und Ländern vorliegt. Im Verhältnis der Länder stellt sich diese Problematik allerdings kaum, wenn die Länder im Bereich ihrer ausschließlichen Kompetenzen handeln. So ist es verfassungsrechtlich etwa prinzipiell unproblematisch, wenn sich die Schul- oder Hochschulkonzepte der Bundesländer widersprechen91.

d)  Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung und Unionsrecht Für das Unionsrecht kann intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung – abgesehen vom klassischen Anwendungsbereich, der Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze92 – in verschiedener Hinsicht bedeutsam werden: Naheliegend ist zunächst ein Einsatz der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung bei der europäischen Rechtsvereinheitlichung im Verwaltungsrecht 93. Hier muss der Gemeinschaftsgesetzgeber, will er eine inhaltlich harmonische Regelung schaffen und (soweit es sich um eine Richtlinie handelt), deren schnelle Umsetzung in allen Mitgliedstaaten garantieren, die Rechtslage in föderalen Staaten in seine legislativen Überlegungen mit einbeziehen94. Soweit die Gliedstaaten für den betreffenden Bereich zuständig sind, ist deshalb intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung notwendig. Auch dann, wenn keine Rechtsvereinheitlichung stattfindet, ist Rechtsvergleichung im Übrigen von maßgeblicher Bedeutung für die Entstehung eines europäischen Verwaltungsrechts. Da das Unionsrecht vorwiegend nicht durch die Gemeinschaftsorgane, sondern durch die Mitgliedstaaten (also indirekt) vollzogen wird, gleichzeitig aber ein erhebliches Maß an Rechtseinheitlichkeit im Verwaltungsvollzug gefordert ist, damit sich der effet utile des Unionsrechts verwirklichen 89  Hierzu G. F. Schuppert, Föderalismus und Governance, in: I. Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd.  1, §  9 Rn.  13, 31 ff. 90   Hierzu etwa BVerfGE 98, 83 (97 ff.); 98, 106 (118 ff.); 98, 265 (301); 121, 317 (363 ff.); aus der umfangreichen Literatur etwa: D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber?, Der Staat 41 (2002), 429. 91   Näher etwa Boysen (Fn.  9 ), S.  119 ff. 92   Statt vieler Sommermann (Fn.  9 ), DÖV 1999, 1017 (1020). 93   Zur im Grunde untrennbaren Verbindung von Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung etwa Zweigert/Kötz (Fn.  15), S.  23 ff.; Schwarze (Fn.  2 ), 77 f.; speziell zur Schaffung von supranationalem Recht mithilfe der Rechtsvergleichung Starck (Fn.  9 ), JZ 1997, 1021 (1025 f.). 94   So statt vieler auch Starck, a. a. O.

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kann, müssen die Verwaltungsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten vergleichend betrachtet und gemeinsame Grundstandards abgeleitet werden95. Zu Recht setzten deshalb Lehrbücher zum Europäischen Verwaltungsrecht regelmäßig bei der Rechtsvergleichung an96. Im Text des Primärrechts gibt es mit Art.  340 Abs.  2 AEUV, wonach die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft sich nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bestimmt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, einen Ansatzpunkt für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung. Staatshaftungsrecht ist nicht nur in Deutschland Teil des (allgemeinen) Verwaltungsrechts. Die besagten allgemeinen Rechtsgrundsätze sind damit ihrerseits solche des Verwaltungsrechts und können somit im Wege der Verwaltungsrechtsvergleichung gewonnen werden. Voraussetzung dafür, hier von intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung zu sprechen, scheint zwar zu sein, dass die EU als föderales System betrachtet werden kann. Diese Frage ist höchst umstritten und wird jedenfalls vom Bundesverfassungsgericht (noch) verneint97. Gleichgültig, wie man die Struktur der EU staatstheoretisch bewertet, ist die von Art.  340 Abs.  2 AEUV geforderte Variante der Rechtsvergleichung jedoch zumindest näher an der intraföderalen als an der herkömmlichen Rechtsvergleichung 98, denn es geht jedenfalls darum Rechtsordnungen miteinander zu vergleichen, die nicht (völkerrechtlich) vollkommen gleichrangig sind, sondern in einem über eine nur völkerrechtliche Bindung hinausgehenden Näheverhältnis zueinander stehen. Von einer im Vordringen befindlichen Meinung wird, um dieses Näherverhältnis abzubilden, die Verflechtung von mitgliedstaatlicher und EU-Verwaltung als „Verwaltungsverbund“ bezeichnet.99 Eine weitere Regelung im Primärrecht, die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung zumindest nahelegt, ist das Subsidiaritätsprinzip in Art.  5 Abs.  3 Satz 1 EUV. Die Prüfung dieses Prinzips verläuft, wie bekannt, zweistufig, wobei auf der ersten Stufe festzustellen ist, „ob die Ziele der [von der EU] in Betracht gezogenen Maßnahme von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler, noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können“. Um klären zu können, ob dieses Kriterium der Insuffizienz mitgliedstaatlicher Regelungen auf regionaler Ebene erfüllt ist, ist intraföderale Rechtsvergleichung hilfreich. Der Begriff „regional“ 95   So u. a. auch Ch. Möllers, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  1, 2006, §  3 Rn.  41; vgl. auch H. Pünder, Verwaltungsverfahren, in: H.-U. Erichsen/D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14.  Aufl. (2010), §  13 Rn.  22 ff. 96   Vgl. etwa von Danwitz, (Fn.  4 ), 5 f., 11 ff.; Schwarze, (Fn.  2 ), 76 ff. 97   Das BVerfG spricht seit der Maastricht-Entscheidung von einem „Staatenverbund“ (BVerfGE 89, 155 ff.), also einer Zwischenstufe zwischen Staatenbund und Bundesstaat (die h. Lit. folgt dem im Wesentlichen und betont zugleich die Eigenschaft als „Verfassungsverbund“ (vgl. etwa Ch. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4.  Aufl. (2011), Art.  1 EUV Rn.  36 ff.); teilweise wird die EU aber auch als föderales System qualifiziert (vgl. etwa J. Ph. Terhechte, Die föderalen Strukturen der Europäischen Union und das europäische Verwaltungsrecht, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, 2012, Bd.  4, §  89 Rn.  3 ff.). In der Lissabon-Entscheidung hat es dann noch einmal ausdrücklich betont, dass dann, wenn die EU ein „echter“ Bundesstaat würde, die Grenzen des Grundgesetzes für die europäische Integration überschritten wären (BVerfGE 123, 267 ff.). 98   Zur Bundesstaatsähnlichkeit der EU (bzw. EG) vgl. etwa G. Biaggini, Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts im Bundesstaat, 1996, S.  2 , 21 und passim. 99   E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005; dazu Schuppert (Fn.  87), Rn.  23 f.

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in Art.  5 Abs.  3 Satz 1 EUV ist hierbei, schon weil es ein Begriff des Unionsrechts ist und er deshalb nach Art.  55 EUV in 23 Sprachfassungen verbindlich ist, nicht allzu eng auszulegen (etwa wie der Begriff in der Differenzierung zwischen Regionalstaaten und föderalen Staaten verwendet wird)100. Es spricht deshalb unions- wie verfassungsrechtlich oder rechtsmethodisch nichts dagegen unter „regional“ auch die Rechtsordnungen der Gliedstaaten eines Bundesstaates zu verstehen, zumal unter den Begriff „Regionen“ in der Regelung über den Ausschuss der Regionen von der allgemeinen Meinung auch deutsche Bundesländer subsumiert werden101. Wendet man die Methode der intraföderalen Rechtsvergleichung auf das Subsidiaritätsprinzip an, hat dies zur Konsequenz, dass in Fällen, in denen die innerstaatliche Regelungskompetenz auf der Ebene der Gliedstaaten liegt, die Insuffizienz des mitgliedstaatlichen Handelns nur im Wege eine Gesamtbilanz festgestellt werden kann: Wenn etwa nur ein Gliedstaat eines föderalen EU-Mitgliedstaats ein Gesetzgebungsziel mit einer eigenständigen Neuregelung zu erreichen versucht, heißt das nicht zwingend, dass die Rechtssetzung des betreffenden Mitgliedstaats i. S. d. Art.  5 Abs.  3 Satz 1 EUV insuffizient ist. Im Wege intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung kann sich ergeben, dass die anderen Gliedstaaten insoweit zulässigerweise auf punktuelle Änderungen bestehender Gesetze vertrauen oder in diesen Gliedstaaten Generalklauseln schon bisher so ausgelegt und angewendet wurden, dass das Regelungsziel erreicht wird. Umgekehrt ist aber ebenso möglich, dass zwar alle Gliedstaaten in ihrer Gesetzgebung versuchen, dass Regelungsziel zu erreichen, sich im Wege intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung aber ergibt, dass die Regelungen so starke Unterschiede aufweisen, dass dennoch Insuffizienz i. S. d. Art.  5 Abs.  3 Satz 1 EUV anzunehmen ist.

2.  Staatsorganisatorische Voraussetzungen für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung Für intraföderale Rechtsvergleichung eignen sich nur föderale Staaten. Diese Feststellung ist weniger trivial als sie klingt, denn nicht jeder Staat, der Untergliederungen enthält, ist deswegen schon als föderal anzusehen. Beispiele sind dezentralisierte und dezentralisierte Einheitsstaaten wie Frankreich, die Niederlande und Schweden, wo die Untergliederungen gegenüber der Zentralregierung bisher so wenige Rechte haben, dass nicht von echter Bundesstaatlichkeit gesprochen werden kann102. Das Recht derartiger Staaten lässt sich im Wege der herkömmlichen Rechtsvergleichung mit dem anderer Staaten vergleichen. Letztere müssen ihrerseits zwar   Zur Problematik der Wortlautauslegung von Bestimmungen der Unionsverträge statt vieler H.J. Cremer, in: Ch. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4.  Aufl. (2011), Art.  55 EUV Rn.  3 ff. und ausführlich I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht: Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof, 2004; zu Regionalstaaten: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. (1998), S.  803 ff.; Weber (Fn.  6 ), S.  353 ff. 101   Den Mitgliedstaaten kommt insoweit das Definitionsrecht zu vgl. etwa H.-J. Blanke, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Oktober 2011, Art.  300 Rn.  68. 102   Näher hierzu Weber (Fn.  6 ), S.  348 ff. 100

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nicht notwendig selbst Zentralstaaten sein, damit ein Vergleich möglich ist. So oder so handelt es sich aber um keinen Fall der intraföderalen Rechtsvergleichung. Intraföderale Rechtsvergleichung kann allerdings dann angewendet werden, wenn es darum geht, zunächst in einem der Staaten, die in den Vergleich einbezogen werden sollen, sofern dieser ein Bundesstaat ist, den Rechtsstand zu ermitteln, der dem Vergleich zugrundegelegt werden soll. Dafür muss auch geklärt werden, welche Gliedstaaten miteinander vergleichbare Regelungen haben, welche nicht und warum bei letzteren die entsprechende Regelung fehlt. Im staatsorganisatorischen Grenzbereich zwischen Einheitsstaaten und Bundesstaaten sind die sog. Regionalstaaten anzusiedeln. Regionalstaaten (z. B. Italien und Spanien) sind zwar auch Staaten, die in einzelne Teilgebiete (Regionen) untergliedert sind, und bei denen diese Teilgebiete berechtigt sind, in gewissem verfassungsrechtlich näher definiertem Umfang eigenständige Rechtssetzung zu betreiben. Sie unterscheiden sich von föderalen Staaten jedoch dadurch, dass die einzelnen Regionen nicht selbst Staatsqualität haben. Insbesondere kommt ihnen keine Verfassungsautonomie zu103. Dieser Aspekt ist jedoch für die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung, weil ihr Gegenstand nicht das Verfassungs-, sondern das Verwaltungsrecht ist, von geringerer Relevanz. Die fehlende Verfassungsautonomie der Regionen wirkt sich lediglich dann aus, wenn eine verfassungskonforme Auslegung verwaltungsrechtlicher Normen notwendig wird. Maßstab ist in Regionalstaaten dann allein die Bundesverfassung, während es bei „echten“ föderalen Staaten auch die Landesverfassung sein kann. Dass sich auch die Rechtsvergleichung innerhalb der EU als ein Fall der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung ansehen lässt, obwohl die EU keine Staatsqualität hat, wurde bereits erwähnt.

3.  Methodische Fragen In methodischer Hinsicht unterscheidet sich intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung von sonstiger Verwaltungsrechtsvergleichung in eher geringem Umfang: Hier wie dort muss der Vergleichsansatz (wie generell in der Rechtsvergleichung) ein funktionaler bzw. funktionalistischer sein. Es ist also bei jeder im Wege des Vergleichs betrachteten Rechtsnorm zu fragen, welche Funktion sie für die Rechtsordnung, der sie entstammt, und für das dortige Gesellschaftssystem erfüllt104. Ferner lassen sich als Instrumente Landesberichte von mit dem jeweiligen Landesrecht vertrauten Juristen einsetzen105. Bei intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung ist auch das Risiko, dass dies lediglich zu „parallelen Monologen“, nicht aber zu echtem 103   Weber (Fn.  6 ), 354; vgl. auch P. Häberle, Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus/Regionalismus bzw. von Zweikammersystemen, in: R. Pitschas u. a. (Hrsg.), Festschrift Scholz, 2007, 583 (587)), der Regionalismus als „kleinen Bruder“ des Föderalismus bezeichnet. 104   Zusammenfassend dazu Sommermann (Fn.  9 ), DÖV 1999, 1017 (1023 f.). 105  Dazu Schönberger (Fn.  10), Rn.  21; für das Hochschulrecht der Bundesländer leistet dies etwa K. Hailbronner/M.-E. Geis, Hochschulrecht in Bund und Ländern.

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Austausch bzw. echter Rechtsvergleichung führt106, geringer. Weil die zu vergleichenden Rechtsordnungen durch das Band des Bundesstaates geeint sind und regelmäßig auch inhaltlich weit größere Näher zueinander aufweisen als ausländische Rechtsordnungen, dürfte sich der notwendige Dialog nahezu von selbst einstellen. Weil es sich um Rechtsvergleichung im selben Bundesstaat handelt, wird es – wie schon angedeutet – auch kaum zu (sprachlichen oder dogmatischen) Missverständnissen kommen. Aufgrund dessen dürfte eine andere Methode der Verwaltungsrechtsvergleichung, nämlich die Darstellung eines „fremden“ Verwaltungsrechts durch einen Juristen eines anderen Landes107, für die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung von geringerem Interesse sein. Diese Variante der Rechtsvergleichung wird im Zweifel von Juristen betrieben werden, die zumindest demselben Bundesstaat entstammen wie die zu vergleichenden Rechtsordnungen. Das soll allerdings nicht heißen, dass die Außenperspektive auf eine bundesstaatliche Rechtsordnung, z. B. diejenige eines österreichischen Juristen auf das deutsche (Landes-)Verwaltungsrecht nicht erheblichen Erkenntnisgewinn bringen kann108. Eine weitere Parallele zwischen intraföderaler und sonstiger Verwaltungsrechtsvergleichung besteht darin, dass auch für die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung sog. legal transplants (= externe Rechtsinstitute, die – ähnlicher einer Organtransplantation – in eine fremde Rechtsordnung übernommen werden, dort aber durchaus auch „Abstoßungsreaktionen“ verursachen können)109 ein interessanter Analysegegenstand sind. So kann etwa im vergleichenden Kommunalrecht untersucht werden, in welchem Umfang sich das ursprünglich süddeutsche Modell der Rat-Bürgermeister-Verfassung mittlerweile in den meisten deutschen Bundesländern durchgesetzt hat und wie es sich durch den Export verändert hat.

4.  Für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung geeignete Gebiete des deutschen Rechts Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung ist in der Praxis nicht in allen Rechtsgebieten des Verwaltungsrechts sinnvoll und hat sich auch in denjenigen Gebieten, in denen sie eingesetzt werden kann, mit der jeweils spezifischen Beziehung zwischen Bund und Ländern auseinanderzusetzen. Dies soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus dem deutschen Recht demonstriert werden:

106  Hierzu Schönberger a. a. O. unter Hinweis auf L.-J. Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd.  2, 1972, S.  176 ff. 107   Schönberger (Fn.  10), Rn.  22. Diesen Ansatz verfolgt für das US-amerikanische Verwaltungsrecht etwa O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997. 108   Allgemein zum Nutzen der „Außenperspektive“ für die Rechtsvergleichung statt vieler Sommermann (Fn.  9 ), DÖV 1999, 1017 (1018). 109   Ausführlich dazu Schönberger (Fn.  10), Rn.  25 ff.

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a)  weniger geeignete Gebiete Weniger geeignet für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung sind Gebiete, in denen entweder der Einfluss von Bundesgesetzen oder von Koordinierungsentscheidungen der Länder oder der Einfluss der Bundespolitik so groß ist, dass nur marginale Unterschiede zwischen den Landesgesetzen feststellbar sind (z. B. identischer Inhalt, aber unterschiedliche Gesetzessystematik). Dieses Problem kann vorwiegend in Bereichen bestehen, für die der Bund eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat. Auch hier ist zwar ein Vergleich der (häufig materiellen, da von der Verwaltung in Form von Rechtsverordnungen erlassenen) Ausführungsund Umsetzungsgesetze möglich und auch durchaus sinnvoll, um feststellen zu können, ob trotz der föderalen Vollzugsvielfalt noch ein gewisses Maß an Rechtseinheit und damit Rechtssicherheit für die Bürger gewahrt bleibt. Die Ergebnisse des Vergleichs werden jedoch selten allzu spektakulär sein, weil in entsprechenden Gesetzen häufig keine materiell-rechtlichen Regelungen, sondern nur Zuständigkeits-, Formund Verfahrensvorschriften zu finden sind, und es ist auch zu berücksichtigen, dass der Bund die Vergleichsergebnisse mittels seiner Gesetzgebungskompetenz steuern kann. Anders ist es indes dann, wenn der Bund den Ländern ausdrücklich eigenständige Regelungen erlaubt, wie etwa in §  68 Abs.  1 Satz 2 VwGO, wo den Bundesländern gestattet wird, für ihr Gebiet Ausnahmen vom Erfordernis eines Vorverfahrens im Verwaltungsprozess zu schaffen. Die Einflussmöglichkeiten des Bundes beschränken sich hier darauf, die entsprechende Öffnungsklausel im Bundesgesetz durch Gesetzesänderung wieder abzuschaffen oder das Bundesverfassungsgericht im Wege der abstrakten Normenkontrolle nach Art.  93 Abs.  1 Nr.  2 GG anzurufen. Der Spielraum der Landesgesetzgebung ist somit groß genug, um „echte“ intraföderale Rechtsvergleichung betreiben, und so beispielsweise feststellen zu können, warum ein Bundesland am Widerspruchsverfahren nach §  68 VwGO festhält, ein anderes hingegen nicht. Die besagten Öffnungsklauseln sind nach Art.  71 GG prinzipiell auch in Gesetzen im Bereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebung möglich, in der Praxis allerdings eher selten110. Diejenigen Gebiete, in denen ein grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln in aller Regel nicht vorkommen kann, wie etwa im Bauordnungsrecht (z. B. Baugenehmigung oder Baueinstellungsverfügung gelten, wie erwähnt, nur in demjenigen Bundesland, in dem das Vorhaben liegt), sind allein deshalb hingegen für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung nicht ungeeignet. Rechtspraxis und Gerichte können vom Blick auf die Lösung eines Rechtsproblems in anderen Bundesländern durchaus profitieren. Für den Gesetzgeber, der vor einer geplanten Gesetzesnovelle feststellen kann, welche Erfahrungen andere Länder mit ähnlichen Regelungskonzepten gemacht haben, gilt dies erst recht.

 Hierzu A. Uhle, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Januar 2012, Art.  71 Rn.  17.

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Grundfragen der intraföderalen Verwaltungsrechtsvergleichung

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b)  geeignetere Gebiete Geeigneter für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung sind Gebiete, in denen die Regelungskompetenz allein bei den Gliedstaaten liegt. Der Vergleich folgt allerdings jeweils eigenen Regeln, die insbesondere daher rühren, dass die Gliedstaaten sich in nicht unerheblichem Umfang ihrer Regelungsautonomie auf die eine oder andere Weise begeben haben: Das Hochschulrecht ist ein erstes Rechtsgebiet, in dem die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung eine interessante Situation vorfindet. Weil das Hochschulwesen Fragen von Bildung und Kultur betrifft, lag hier dass kompetentielle Schwergewicht seit jeher bei den Ländern. Allerdings existierte bis zur Föderalismusreform I 2006 in §  75 Abs.  1 Satz 1 Nr.  1a GG a. F. eine Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes für die „allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“, auf die der Bund das Hochschulrahmengesetz (HRG) gestützt hatte. Soweit eine Regelung Teil des HRG und damit Teil des bundesgesetzlichen Rahmens war, galt sie in allen Ländern gleichermaßen, so dass insoweit intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung nicht möglich war. Stück für Stück wurde dann allerdings die Regelungsdichte im HRG abgebaut (zentral war die Abschaffung der §§  60 ff. HRG zur Binnenorganisation der Hochschulen111) und schließlich dem Bund sogar die Gesetzgebungskompetenz durch Streichung des §  75 Abs.  1 Nr.  1a HRG weitestgehend entzogen. Dies sollte intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung im Hochschulrecht entscheidend erleichtert haben. Zu bedenken sind neben der Tatsache, dass zumindest im Teilbereich der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse (Art.  74 Abs.  1 Nr.  33 GG) noch eine Bundeskompetenz besteht, jedoch zwei Aspekte: Zum einen wurde das HRG nicht abgeschafft und gilt damit nach Art.  125a Abs.  1 Satz 1 GG, auch wenn die Länder nach Art.  125a Abs.  1 Satz 2 GG berechtigt sind, die Regelungen dieses Gesetzes durch Landesrecht zu ersetzen, fort. Das HRG beeinflusst damit trotz der Abschaffung des Art.  75 Abs.  1 Satz 1 Nr.  1a GG noch die intraföderale Rechtsvergleichung im Bereich des Hochschulrechts. Ferner kann untersucht werden, welche Länder von den HRG-Regelungen abweichen bzw. diese ersetzen und, warum sie dies tun. Im HRG liegt bezogen auf intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung auch der maßgebliche Unterschied zwischen Hochschul- und Schulrecht, denn das Schulrecht war dem Regelungszugriff des Bundes immer vollständig entzogen. Zum anderen koordinieren die Länder nicht nur ihr Schul-, sondern auch ihr Hochschulrecht im Rahmen der Kultusministerkonferenz (KMK)112. Die Beschlüsse der Konferenz sind zwar rechtlich nicht verbindlich, haben auf die Hochschulgesetzgebung der Länder aber dennoch maßgeblichen politischen Einfluss. Intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung im Hochschulwesen kann somit nicht von vollständiger Regelungsautonomie der Länder ausgehen, sondern muss die genannten – primär politischen – (Selbst-)Bindungen berücksichtigen. Ein weiterer Bereich der Landesgesetzgebung, in dem die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung auf eine spezifische Situation trifft, ist das Polizeirecht. Dass   4. HRGÄndG vom 20.  8. 1998 (BGBl.  I, S.  2190 ff.).   Zur Rolle der KMK vgl. auch die Hinweise bei Menzel (Fn.  5 ), S.  39 sowie bei Schuppert (Fn.  87), Rn.  16. 111

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sich dieses Gebiet für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung eignet, liegt auf der Hand, weil das Polizeirecht zum einen ähnlich wie das Schulrecht seit jeher ein Bereich ist, in dem die Regelungskompetenz allein bei den Ländern liegt, zum anderen effektive Gefahrenabwehr häufig nur (landes-)grenzüberschreitend erfolgen kann. Dennoch ist der Vergleich auch hier verschiedenen Einflüssen ausgesetzt: Zu erinnern ist zunächst an den Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (MEPolG), den die Konferenz der Innenminister der Länder Anfang der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts beschlossen hat113. Dieser Entwurf hat – ähnlich wie Beschlüsse der KMK – keine rechtliche, sondern höchstens politische Bindungswirkung. Ein maßgeblicher Unterschied zum Hochschulrecht besteht jedoch darin, dass durch den MEPolG nicht etwa nur (unverbindlich) vorgeschlagen wird, was geregelt werden soll, sondern auch wie es geregelt werden soll. Die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung muss dieser zumindest auf den ersten Blick höheren Intensität der politischen (Selbst-)Bindung der Landesgesetzgebung angemessen Rechnung tragen. Bereits erwähnt wurde die interessante Besonderheit, dass die Polizeigesetze der Länder regelmäßig Regelungen über die Tätigkeit der Polizeibehörden anderer Länder auf ihrem Gebiet und über die Tätigkeit ihrer eigenen Polizeibehörden auf dem Gebiet anderer Länder enthalten. Die Polizeigesetze beinhalten also ein eigenes „Kollisionsrecht“, das im Rahmen intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung zu würdigen ist. Interessant für die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung im Polizeirecht ist schließlich der Aspekt, dass der Bund durch Regelungen des Straf­ prozessrechts, zu denen er nach Art.  74 Abs.  1 Nr.  1 GG befugt ist, das Polizeirecht beeinflussen kann. Es ist durchaus möglich, dass Regelungen vom Bereich der repressiven Gefahrenbekämpfung (Strafprozessrecht) in denjenigen der präventiven Gefahrenabwehr (Polizeirecht) „einwandern“. Als letztes Beispiel soll hier das Rundfunkrecht dienen: Es hat mit dem Polizeiund dem Schulrecht gemeinsam, dass der Bund keine Regelungskompetenz hat, wie man spätestens seit der ersten Rundfunkentscheidung des BVerfG114 weiß. Desweiteren ist es ähnlich wie das Polizeirecht für intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung auch deswegen prädestiniert, weil Rundfunkwellen ebenso wenig wie Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung an Bundesländergrenzen Halt machen. Ebenso findet auch im Rundfunkrecht eine Selbstkoordinierung der Länder statt. Sie ist jedoch in Form des rechtlich verbindlichen Rundfunkstaatsvertrags wesentlich intensiver als in den beiden anderen genannten Gebieten. Die Länder können das Rundfunkrecht nur in dem Rahmen eigenständig regeln, den ihnen der Staatsvertrag lässt. Von den Vorgaben des Staatsvertrags können sich die Länder nur dann lösen, wenn sie ihn förmlich kündigen. Dies schränkt die Möglichkeiten intraföderaler Verwaltungsrechtsvergleichung im Rundfunkrecht von vornherein ein. Ebenso ist das Phänomen zu berücksichtigen, dass in einigen Fällen Rundfunkanstalten kraft eigenständiger staatsvertraglicher Regelungen den Bereich mehrerer Bundesländer abdecken sollen (MDR, NDR, RBB, SWR), was ebenfalls erhöhten Koordinationsaufwand mit sich bringt und so die intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung beeinflussen kann.  Näher G. Heise/R. Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, 2.  Aufl. (1978).   BVerfGE 12, 205 ff.

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Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa: Konkurrenz zwischen Europäischer Union und Europarat? Zugleich ein Beitrag zur Auslegung von Art.  59 Abs.  2 GG von

Prof. Dr. Matthias Niedobitek, Chemnitz I. Einleitung Die Europäische Union ist auf vielfältige Weise mit dem Europarat verbunden. Das primäre Unionsrecht spiegelt dies in mehreren Bestimmungen wider. Art.  220 Abs.  1 UAbs.  1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verpflichtet die Union, mit dem Europarat jede zweckdienliche Zusammenarbeit „zu betreiben“ (englisch: „shall establish“). Auch Art.  165 AEUV (Bildung) und Art.  167 AEUV (Kultur) sprechen ausdrücklich eine Zusammenarbeit mit dem Europarat an. Ferner nimmt das primäre Unionsrecht auf im Rahmen des Europarates entwickelte Verträge Bezug, so in Art.  6 Abs.  3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) oder in Art.  151 Abs.  1 AEUV auf die Europäische Sozialcharta. Zudem sieht Art.  6 Abs.  2 EUV einen Beitritt der Union zur EMRK vor.1 Umgekehrte Bezugnahmen auf die Union in der Satzung des Europarates sind allerdings nicht ersichtlich, was sich mit dem früheren Gründungsdatum und einem besonders weit gefassten Aufgabenbereich des Europarates2 erklären lässt. Die Europäische Union und der Europarat beruhen, was insbesondere die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angeht, auf denselben historischen Wurzeln, die jedoch nicht in die Gründung einer einzigen – von vielen seinerzeit gewünschten – supranationalen europäischen Föderation mündeten,3 sondern zwei getrennte Organisati1   Zum Stand der Beitrittsverhandlungen vgl. die Website des Europarates, http://www.coe.int/t/ dghl/standardsetting/hrpolicy/Accession/Working_documents_en.asp (Zugriff am 22.10.2013). 2  Vgl. E. Klein/Schmahl, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hg.), Völkerrecht, 6.  Aufl., 2013, 342 Rn.  244. 3   Hierzu näher Gehler, Europa – Ideen, Institutionen, Vereinigung, 2.  Aufl., 2010, 168–170; Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, 2006, 184 f.; Loth, Der Weg nach Europa, 3.  Aufl., 1996, 69–76; ferner Klein/Schmahl (Fn.  2 ), 342 Rn.  245.

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onen mit einem teilidentischen Mitgliederkreis, aber einem unterschiedlichen rechtlichen Wirkungsgrad hervorbrachten.4 Die enge Verbindung zwischen der heutigen Europäischen Union und dem Europarat folgt nicht nur aus historischen Gemeinsamkeiten, sie ergibt sich auch auf gleichsam natürliche Weise aus dem Umstand, dass sowohl der Europarat als auch – mittlerweile – die Europäische Union über einen umfassenden Aufgabenbereich verfügen, wie er für den Europarat in Art.  1 lit.  a) der Europarats-Satzung und für die Europäische Union, schon konkreter, in Art.  3 EUV beschrieben ist. Ausgeklammert sind gemäß Art.  1 lit.  d) der Europarats-Satzung Fragen der nationalen Verteidigung, während Art.  4 Abs.  2 S.  3 EUV einen – eng auszulegenden5 – mitgliedstaatlichen Vorbehalt hinsichtlich der nationalen Sicherheit enthält. Daher ist es nicht überraschend, dass sich die rechtserzeugenden Tätigkeiten der Union und des Europarates oft auf dieselben Themen beziehen.6 Diese thematische Parallelität betrifft auch die Entwicklung eines rechtlichen Rahmens für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit lokaler und regionaler Gebietskörperschaften, wobei der Europarat, was auch sonst nicht ungewöhnlich ist,7 auf diesem Gebiet zunächst eine klare Vorreiterrolle inne hatte.8 Bereits am 21. Mai 1980 wurde das Europäische Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften („Madrider Rahmenübereinkommen“) zur Zeichnung aufgelegt 9 und von einer Reihe von Mitgliedstaaten des Europarates, u. a. Deutschland, unterzeichnet.10 Am 15. Oktober 1985 folgte, freilich mit einer anderen Stoßrichtung, die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, die allerdings in Art.  10 Abs.  3 ein grundsätzliches Recht kommunaler Gebietskörperschaften formuliert, mit kommunalen Gebietskörperschaften anderer Staaten zusammenzuarbeiten. Zehn Jahre später, am 9. November 1995, wurde ein „Zusatzprotokoll“ zum Madrider Rahmenübereinkommen zur Unterzeichnung 4   Zu den Anfängen und zur weiteren Entwicklung vgl. Piepenschneider, Ein gescheiterter Integrationsversuch als Geburtshelfer – Der Europarat und die Anfänge der europäischen Einigung, in: Kirt (Hg.), Die Europäische Union und ihre Krisen, 2001, 69–77. 5   Hatje, in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 3.  Aufl., 2012, Art.  4 EUV Rn.  15. 6   Vgl. die Übersicht über die im Rahmen des Europarates aufgelegten Verträge auf der Website des Europarates, http://www.conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CM=8&CL=GER (Zugriff am 22.10.2013), die vielfach eine thematische Entsprechung im sekundären Unionsrecht haben, oft aber auch darüber hinausgehen. 7   Nicht selten betätigt sich der Europarat als „Impulsgeber“; vgl. Piepenschneider (Fn.  4 ), 75. Beispielsweise wurde auch das Europäische Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 05.05.1989, European Treaty Series (ETS) No.  132 (zugänglich auf der Website des Europarates: Organisation, Vertragsbüro, Gesamtverzeichnis), zeitlich vor der thematisch verwandten Richtlinie (RL) zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl.  1989 L 298, 23, aufgelegt; die Richtlinie wurde vom Rat am 03.10.1989 verabschiedet (später aufgehoben durch RL 2010/13/EU über audiovisuelle Mediendienste, ABl.  2010 L 95, 1). 8   Für einen Überblick über die Entwicklung bis zum Jahr 2000 vgl. Halmes, Zusammenarbeit im Europa der Regionen: Die Entstehung des rechtlichen Rahmens, in: Gu (Hg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Regionen in Europa, 2002, 15–30. 9   Trützschler von Falkenstein JöR 55 (2007), 261, 262, weist darauf hin, dass das Madrider Rahmen­ übereinkommen zum ersten Mal die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für das Zusammenwachsen Europas bestätigt. 10   ETS No.  106; BGBl.  1981 II, 966.

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aufgelegt,11 weitere zweieinhalb Jahre später, am 5. Mai 1998, das Protokoll Nr.  2 „betreffend die territoriale Zusammenarbeit“.12 Nunmehr nahm der Unionsgesetzgeber das Heft in die Hand und verabschiedete am 5. Juli 2006 die Verordnung 1082/2006 über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ),13 mehr als drei Jahre, bevor sich der Europarat, am 16. November 2009, der Union gleichsam anschloss und Protokoll Nr.  3 „betreffend Verbünde für euroregionale Zusammenarbeit (VEZ)“14 (im Folgenden: Protokoll Nr.  3 [zum Madrider Rahmenübereinkommen]) zur Unterzeichnung auflegte. Die EVTZ-Verordnung ist am 1. August 2006 in Kraft getreten; ihre materielle Geltung begann ein Jahr später, am 1. August 2007.15 Protokoll Nr.  3 ist am 1. März 2013 in Kraft getreten.16 Der vorliegende Beitrag ist einem Vergleich bestimmter Aspekte und dem gegenseitigen Verhältnis dieser beiden Rechtsinstrumente gewidmet. Eine solche Untersuchung liegt umso näher, als Europarat und Europäische Union in einem „Memorandum of Understanding“ vom 11./23. Mai 2007, welches die gegenwärtige Basis der Zusammarbeit beider Organisationen bildet, ihren Willen bekunden, „[to] explore ways of working more closely in the field of regional and transfrontier co-operation“.17 Der Fortgang der nachfolgenden Untersuchung ist folgendermaßen: Zunächst wird das rechtliche Hauptproblem der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit – der grenzüberschreitende Vertragsschluss – beschrieben, um die Notwendigkeit der unionsrechtlichen bzw. völkerrechtlichen Lösung zu verdeutlichen, mit der sich, freilich im Rahmen ihrer jeweiligen rechtlichen Möglichkeiten, sowohl die Europäische Union als auch der Europarat befassen (II.). Anschließend wird die Entwicklung von EVTZ und VEZ dargelegt und ein kurzer inhaltlicher Vergleich beider Rechtsinstrumente vorgenommen (III.). Der dann folgende Abschnitt ist den Rechtsgrundlagen und der damit zusammenhängenden Frage nach der innerstaatlichen Verfügbarkeit beider Rechtsinstrumente gewidmet (IV.). Sodann wird das Verhältnis beider Instrumente zueinander, insbesondere eine mögliche Kollision zwischen den Regelungen des EVTZ und des VEZ, behandelt (V.). Die Erkenntnisse des vorliegenden Beitrags, auch was eine mögliche Konkurrenz zwischen Europäischer Union und Europarat im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit angeht, werden abschließend zusammengefasst (VI.).

  ETS No.  159; BGBl.  2000 II, 1523.   ETS No.  169; BGBl.  2002 II, 2537. 13   ABl.  2006 L 210, 19. 14  ETS No.  206; BGBl.  2012 II, 940. Die Website des Europarates (Organisation, Vertragsbüro, Gesamtverzeichnis) führt für dieses Protokoll eine unglückliche deutsche Übersetzung, indem dort für die englische Fassung „Euroregional Co-operation Groupings (ECGs)“ die Bezeichnung „Bildung von Europäischen Kooperationsvereinigungen (BEK)“ geführt wird. Der vorliegende Beitrag stützt sich auf die amtliche Übersetzung im Bundesgesetzblatt. 15   Vgl. Art.  18 Abs.  2 VO 1082/2006 (Fn.  13). 16   Vgl. die Website des Europarates: Organisation, Vertragsbüro, Gesamtverzeichnis, ETS 206, sowie die Mitteilung in BGBl.  2013 II, 34. 17   „Memorandum of Understanding between the Council of Europe und the European Union“, verfügbar auf der Website des Europarates, http://www.coe.int/t/der/docs/MoU_EN.pdf (Zugriff am 22.10.2013). 11

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II.  Das rechtliche Hauptproblem der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Soll grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht nur im rechtlich Unverbindlichen bleiben – zweifellos eine weit verbreitete Erscheinungsform in der Praxis grenzüberschreitender Zusammenarbeit18 –, sondern mit rechtlicher Bindungswirkung ausgestattet sein, ist der Abschluss eines Vertrages erforderlich. Erst anschießend stellt sich die – somit nachgeordnete – Frage, ob im Wege des Vertragsschlusses eine juristische Person geschaffen werden kann.19 Ein Vertrag setzt eine Willenseinigung der Vertragspartner voraus, welcher im konkreten Fall eine bestimmte Rechtsordnung20 – und nicht für jeden Vertragspartner das jeweils eigene nationale Recht21 – Verbindlichkeit verleiht.22 Solange die Vertragspartner ein- und derselben Rechtsordnung angehören, die den Vertrag als Instrument kennt und die die Vertragsfähigkeit der Partner anerkennt,23 bestehen insofern keine Probleme. Als einschlägige Rechtsordnungen kommen, was die Staaten angeht, das Völkerrecht, und, was die EU-Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen angeht, das Unionsrecht in Betracht. Eine nationale Rechtsordnung kommt nur dann für eine Grundlegung eines grenzüberschreitenden Vertrages in Betracht, wenn sie die Vertragsfähigkeit der – notwendigerweise unterschiedlichen Rechtsordnungen angehörenden – Vertragspartner anerkennt. Während dies im Fall privatrechtlicher Verträge keine Probleme aufwirft, da sich diese – wie Kotzur treffend festgestellt hat – „in den relativ gesicherten Bahnen des Inter18   So dürfte beispielsweise der Partnerschaftsvertrag zwischen den Städten Görlitz (D) und Zgorzelec (PL) vom 29.04.2004 trotz seiner vertragsähnlichen Formulierungen unverbindlich sein. Weitere Beispiele für unverbindliche Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit bei Kotzur, Rechtsfragen grenzüberschreitender Zusammenarbeit, in: Janssen (Hg.), Europäische Verbünde für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ), 2006, 55, 58 f. 19   Die vorliegenden Studien beschäftigen sich vielfach mit der Frage einer Institutionalisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit durch Schaffung juristischer Personen, ohne die zugrunde liegende Frage nach der rechtlichen Verankerung des Vertrages hinreichend zu problematisieren. Vgl. etwa die Arbeit von Bräutigam, Der „Grenzüberschreitende örtliche Zweckverband“ nach dem Karlsruher Übereinkommen, 2009; ferner die von der Groupe d’Etudes Politiques Européennes (GEPE) unter Leitung von Nicolas Levrat, Universität Genf, für den Ausschuss der Regionen erstellte Studie „Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit – EVTZ –“ (im Folgenden zitiert als „EVTZ-Studie“), verfügbar auf der Website des AdR, http://cor.europa.eu/en/Archived/Documents/89ef935a-4600-4dd2-9776-d046bf5aaf 74.pdf (Zugriff am 22.10.2013). 20   Dies schließt nicht aus, dass sich mehrere Rechtsordnungen für zuständig erklären, der Willenseinigung Verbindlichkeit zu verleihen. 21   Dies meint jedoch Geiger, Verfassungsrechtliche Aspekte grenznachbarschaftlicher internationaler Zusammenarbeit von Kommunen, in: Reich (Hg.), FS zum 100-jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberwaltungsgerichts, 2002, 435, 442: „Das Kooperationsverhältnis selbst wurzelt demgemäß in den Rechtsordnungen beider Nachbarstaaten“. 22  Vgl. Niedobitek, Das Recht der grenzüberschreitenden Verträge – Bund, Länder und Gemeinden als Träger grenzüberschreitender Zusammenarbeit, 2001, 128–132; im Ergebnis ebenso Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004, 478–482; Bräutigam (Fn.  19), 122–126. Zum Ganzen auch Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 617 ff. 23  Hierzu vgl. auch Niedobitek, Rechtliche Probleme für die Außenbeziehungen von Regionen, dargestellt am deutschen Beispiel, in: Hrbek (Hg.), Außenbeziehungen von Regionen in Europa und der Welt, 2003, 17, 23.

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nationalen Privatrechts“ bewegen,24 stellen die im Bereich des öffentlich-rechtlichen Vertragsrechts, allgemeiner: des Internationalen Verwaltungsrechts,25 bestehenden Unsicherheiten nach wie vor „eine der Hauptursachen“ dafür dar, dass subnationale Körperschaften im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf das Privatrecht ausweichen (müssen).26 Freilich wurden diese Unsicherheiten, allerdings geographisch begrenzt, durch den Abschluss sog. Dachverträge,27 die als Konkretisierungen des Madrider Rahmenübereinkommens gelten können, beseitigt, wenigstens gemildert. So erlaubt das „Abkommen von Isselburg-Anhalt“28 in Art.  2 und 3 den Abschluss öffentlich-rechtlicher Vereinbarungen und die Gründung öffentlich-rechtlicher Zweckverbände. Auch der „grenzüberschreitende örtliche Zweckverband“ gemäß dem „Karlsruher Übereinkommen“29 wird in Art.  11 Abs.  2 ausdrücklich als „juristische Person des öffentlichen Rechts“ bzw. „personne morale de droit public“ bezeichnet. Gleichwohl besteht die grundsätzliche Problematik, die hier nur angerissen werden konnte, für diejenigen Grenzräume fort, die bislang nicht Gegenstand solcher Dachverträge sind, etwa für den deutsch-polnischen Grenzraum.30 Dass es neben dem Völkerrecht, dem Unionsrecht und dem nationalen Recht noch „Zwischenordnungen“ gibt, die einer Willenseinigung rechtliche Verbindlichkeit verleihen, mithin als Grundlage eines „Vertrages“ dienen könnten,31 lässt sich schon für den Bereich des internationalen privaten Wirtschaftsverkehrs nicht nachweisen,32   Kotzur (Fn.  22), 485; vgl. auch Niedobitek (Fn.  22), 411 f.   Hierzu vgl. nur Ohler, Internationales Verwaltungsrecht – ein Kollisionsrecht eigener Art?, in: Leible/Ruffert (Hg.), Völkerrecht und IPR, 2006, 131–151; die Frage nach einem transnationalen öffentlichen Recht werfen etwa auch Stein/Kallmayer, Die Herausbildung einer Europa-Region aus rechtlicher Sicht, in: Leinen (Hg.), Saar-Lor-Lux – Eine Euro-Region mit Zukunft?, 2001, 49, 59 f., auf. 26  Vgl. Kotzur (Fn.  22), 484 f.; zur Problematik vgl. auch die EVTZ-Studie (Fn.  19), 19–21; zur Frage der Vertragsfähigkeit vgl. auch Kment (Fn.  22), 637 ff. 27   Solche Dachverträge sind für eine Vielzahl europäischer Grenzräume geschlossen worden; vgl. nur Fernández de Casadevante Romani, Les traités inrternationaux, outils indispensables de la coopération transfrontalière entre collectivités ou autorités territoriales, in: Labayle (Hg.), Vers un droit commun de la coopération transfrontalière?, 2006, 89–118, der acht solcher Dachverträge vergleichend betrachtet. 28   Abkommen vom 23.05.1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Land Niedersachsen, dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Königreiche der Niederlande über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen, BGBl.  1993 II, 843. 29   Übereinkommen vom 23.01.1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und dem Schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura, über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen, BGBl.  1997 II, 1159. Zu diesem Abkommen vgl. insbesondere Bräutigam (Fn.  19) sowie einen ersten vergleichenden Kommentar von Halmes DÖV 1996, 933 ff. 30   Hierzu vgl. Bußmann, Die dezentrale grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Deutschlands Nachbarländern Frankreich und Polen, 2005. 31  Hierfür Nettesheim, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, beck-online, Art.  59 Rn.  111, 67, unter Hinweis auf die lex mercatoria (ebd., Rn.  67). 32   Der Rechts- bzw. Rechtsordnungscharakter der lex marcatoria ist weiterhin umstritten; vgl. nur Gralf-P. Calliess/Renner German Law Journal (www.germanlawjournal.com) 10 (2009) 10, 1341, 1344, mit dem Hinweis, dass die internationale Schiedsgerichtsbarkeit zwar weitgehend autonom, jedoch von den nationalen Rechtssystemen nicht völlig unabhängig sei. Vgl. ferner Ritlewski SchiedsVZ 2007, 130 ff. 24

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umso weniger für die grenzüberschreitenden Beziehungen öffentlicher Akteure.33 Der Hinweis auf die Entstehung der Unionsrechtsordnung – neben der Völkerrechtsordnung und den nationalen Rechtsordnungen – als Beleg für eine entsprechende Entwicklungsoffenheit des Rechtssystems34 geht insoweit fehl, als das Unionsrecht seinen Geltungsgrund im Völkerrecht findet, auch wenn es sich zweifellos solchermaßen verdichtet hat, dass man es als eigenständige Rechtsordnung ansehen kann. Aus dem Befund, dass subnationale Akteure in der Praxis „Verträge“ schließen, die – gemäß dem erkennbaren Willen bzw. aus Rechtsgründen – weder dem Völkerrecht noch einer nationalen Rechtsordnung (und auch nicht dem Unionsrecht) angehören (können), zu schließen, dass es solche „Zwischenordnungen“ geben müsse bzw. dass sie im Entstehen sind, ist nicht plausibel und auch methodisch nicht vertretbar. Vielmehr spiegelt sich in solchen Willenseinigungen lediglich ein bestehendes Bedürfnis wider, grenzüberschreitende Verträge zu schließen. Ob diesem Bedürfnis rechtlich Rechnung getragen wird, hat die Rechtswissenschaft zu beantworten, ohne sich dabei von der möglicherweise verwirrenden Praxis der Akteure der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und den bestehenden Unsicherheiten irritieren zu lassen. Es ist gerade das Anliegen der Union und des Europarates, dem zu beobach­ tenden Bedürfnis, grenzüberschreitende Verträge zu schließen, nachzukommen und dadurch den Unsicherheiten abzuhelfen. Mag man die Frage der Existenz von „Zwischenordnungen“ oder „dritten“ Rechtsordnungen noch als eine empirisch zu beantwortende Frage betrachten, gilt dies nicht mehr für die Frage, ob es Verträge gibt, die keiner (übergeordneten) Rechtsordnung angehören, sondern rechtsordnungslos sind bzw. ihre Rechtsverbindlichkeit aus sich selbst schöpfen.35 Diese Idee, die hier nicht vertieft diskutiert werden kann,36 ist abzulehnen, weil sie den Vertragsbegriff ad absurdum führt und den Akteuren der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zudem keine Rechtssicherheit bieten kann, um die es diesen aber gerade geht.37

III.  Entwicklung und kurzer Vergleich von EVTZ und VEZ 1.  Entstehung der Rechtsgrundlagen von EVTZ und VEZ Bei der Formulierung rechtlicher Bestimmungen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit subnationaler Gebietskörperschaften hatte der Europarat – darauf wurde bereits hingewiesen (I.) – zunächst und für lange Zeit eine Vorreiterrolle inne.38 Die E(W)G sah ihre Rolle in erster Linie darin, die grenzüberschreitende Zu  Zum Ganzen näher Niedobitek (Fn.  22), 132–142. Zu Recht weisen Calliess/Renner (Fn.  32), 1342, darauf hin, dass – im Gegensatz zur „private governance“ – „public governance .  .  . is territorially limited in effect“. Hierzu vgl. auch die EVTZ-Studie (Fn.  19), 19 f. Zur Frage der Existenz eines transnationalen öffentlichen Rechts vgl. auch Stein/Kallmayer (Fn.  25), 59 f. 34  So Nettesheim (Fn.  31), Rn.  111. 35   Hierzu vgl. den Hinweis bei Calliess/Renner (Fn.  32), 1343 f. 36   Hierzu näher Niedobitek (Fn.  22), 117–125. 37   Zum Aspekt fehlender Rechtssicherheit vgl. nur Peine/Starke LKV 2008, 402, 403. 38   Vgl. auch AGEG (Hg.), Zusammenarbeit Europäischer Grenzregionen, 2008, 28 f. 33

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sammenarbeit durch finanzielle Anreize zu stimulieren, vor allem im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative INTERREG,39 obwohl das Europäische Parlament bereits 1976 vorgeschlagen hatte, zur Stärkung der Kohäsion in der Gemeinschaft den „Euroverband“ als juristische Person des Gemeinschaftsrechts zu schaffen.40 Waren die entsprechenden Initiativen des Europarates zunächst noch allgemeiner Natur – auch wenn ausgehend vom Madrider Rahmenübereinkommen bis zum Protokoll Nr.  2 durchaus eine Konkretisierung der Rechte subnationaler Gebietskör­ perschaften erfolgte41 –, entschlossen sich der Europarat und die Europäische Gemeinschaft etwa zur selben Zeit – nach dem Inkrafttreten von Protokoll Nr.  2 am 1. Februar 2001 –, mit dem EVGZ42 (später: EVTZ) bzw. dem VEZ konkrete Rechtsinstrumente für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu erarbeiten.43 Eine Expertengruppe des Europarates hatte zunächst das ambitionierte Ziel verfolgt, für grenzüberschreitende Verbünde, insbesondere Euroregionen, nicht nur Rahmenvorschriften, sondern ein „einheitliches Gesetz“44 (uniform law, loi uniforme45) zu formulieren. Im Kern ging es darum, das für den grenzüberschreitenden Verbund geltende materielle Recht für alle Vertragsparteien möglichst umfassend, detailliert und mit der Eignung zu direkter Anwendbarkeit („self-executing“46) festzulegen und Verweisungen auf das nationale Recht (im allgemeinen das Recht des Sitzstaates des Verbands) zu minimieren.47 Um diesem neuartigen Charakter des geplanten Abkommens Rechnung zu tragen, sollten die zu beschließenden Regeln nicht die Form eines Protokolls zum Madrider Rahmenübereinkommen annehmen, sondern Gegenstand eines selbständigen Vertrags werden.48 Der 2006 vorgelegte Abkommens­  Vgl. Niedobitek (Fn.  22), 316, im Hinblick auf die Aktivitäten der Kommission.  Vgl. den Entwurf eines Vorschlags für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Bildung grenzüberschreitender Regionalverbände (Euroverbände), ABl.  1976 C 293, 40, insbesondere Art.  5 zu den Aufgaben des Euroverbands. 41   Vgl. die Zusammenfassung von Lejeune, Twenty-five years of the European Outline Convention on Transfrontier Co-operation between Territorial Communities, Beitrag zur Konferenz „25th Anniversary of the Madrid Outline Convention“, https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1385781&Site=COE (Zugriff am 22.10.2013). 42   EVGZ = Europäischer Verbund für grenzüberschreitende Zusammenarbeit. 43   Zur zeitlichen Parallelität vgl. Council of Europe (ed.), Similarities and differences of instruments and policies of the Council of Europe and the European Union in the field of transfrontier co-opera­ tion, 2006 edition, https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1383219&Site=COE (Zugriff am 22.10. 2013), 16. 44   So die EVTZ-Studie (Fn.  19), 41. 45   Vgl. die englische bzw. die französische Fassung der oben (Fn.  19) erwähnten EVTZ-Studie. 46  Vgl. „Evaluation comparative des dispositions conventionnelles relatives aux groupements eurorégionaux de coopération (GECS) et des dispositions réglementaires relatives à un groupement européen de coopération territoriale (GECT)“, Dok. LR-IC(2011)4 v. 10.  05. 2011, 3; verfügbar auf der Website des Europarates unter: https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1785877&Site=CM (Zugriff am 22.10.2013). 47  Vgl. Lejeune, L’apport du Conseil de l’Europe à l’élaboration d’un droit commun de la coopéra­t ion transfrontalière, in: Labayle, (ed.), Vers un droit commun de la coopération transfrontalière?, 2006, 119, 134; ferner „Comparative study of the European Grouping for Territorial Co-operation (EGTC/ GECT) and the Euroregional Co-operation Grouping (ECG/GEC)“, Dok. LR-IC(2010)13 v. 23.11. 2010, verfügbar auf der Website des Europarates unter http://www.coe.int/t/dgap/localdemocracy/ WCD/simpleSearch_en.asp (Suche die Dokumentennummer; Zugriff am 22.10.2013), 3. 48  Vgl. Lejeune (Fn.  47), 133. 39

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entwurf (in Nachfolge eines ersten, 2004 vorgelegten Entwurfs) enthielt mit 68 Artikeln eine ungewöhnlich dichte Regelung der Materie.49 Parallel zu den Arbeiten, die im Rahmen des Europarates erfolgten, hatte die EU-Kommission einen Vorschlag für die Schaffung eines „Europäischen Verbunds für grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ (EVGZ) formuliert und diesen im Juli 2004 dem Europäischen Parlament und dem Rat förmlich unterbreitet.50 Dieser Vorschlag repräsentiert gewissermaßen das minimalistische Gegenmodell zu dem Abkommensentwurf des Europarates, da er mit nur acht operativen, zudem kurz gefassten Artikeln äußerst knapp ausgefallen war (Art.  9 betrifft das Inkrafttreten). Der geänderte Vorschlag der Kommission von 2006,51 in dem schon wesentliche Elemente der EVTZ-Verordnung enthalten sind, war kaum umfangreicher, er verfügte über zehn operative Artikel. Mit 17 operativen Artikeln geriet die schließlich angenommene EVTZ-Verordnung zwar deutlich beredter, war aber im Vergleich zu dem im Rahmen des Europarates erarbeiteten Abkommensentwurf von 2006 immer noch viel sparsamer geregelt.

2.  Parallelen zwischen EVTZ und VEZ Mit der Annahme der EVTZ-Verordnung durch die Union fühlte sich der Europarat offensichtlich in Zugzwang und zudem in der misslichen Lage, nunmehr ein Protokoll entwerfen zu müssen, in dem jede Lösung vermieden wird, „that was incompatible with the EGTC Regulation as introduced by the European Union“.52 Es ist ein resignierender Unterton spürbar, wenn das „Committee of Experts“ des Europarates feststellt, dass mit der Annahme der EVTZ-Verordnung „the content of the provisions of the draft Protocol and the Regulation became more similar, often to the point of being identical“.53 Wie ähnlich das schließlich verabschiedete Protokoll Nr.  3 der EVTZ-Verordnung tatsächlich geworden ist, demonstriert eine Studie des Europarates, in der die Regelungen beider Rechtsinstrumente einander minutiös gegenübergestellt werden.54 Freilich gibt es auch eine Reihe von Unterschieden zwischen dem Protokoll Nr.  3 und der EVTZ-Verordnung, und die Experten des Europarates werden nicht müde zu betonen, dass das Protokoll Nr.  3 in seinen Einzelbestimmungen über einen weiteren Anwendungsbereich als die EVTZ-Verordnung verfügt bzw. im Detail an-

49   Vgl. Dok. CDLR (2006) 17; wiedergegeben in: Labayle (ed.), Vers un droit commun de la co­ opération transfrontalière?, 2006, 213–248. 50   KOM(2004) 496; zur Entwicklung des EVTZ im Einzelnen vgl. Engl/Woelk, Der Europäische Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ): Vorgeschichte und Entwicklung eines neuen unionsrechtlichen Instruments, in: Bußjäger/Gamper/Happacher/Woelk (Hg.), Der Europäische Verbund territorialer Zusammenarbeit (EVTZ): Neue Chancen für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, 2011, 1, 19–26. 51   KOM(2006) 94. 52   Dok. LR-IC(2010)13 (Fn.  47), 4. 53  Ebd. 54   Dok. LR-IC(2011)4 (Fn.  46).

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spruchsvoller ist.55 Ein detaillierter inhaltlicher Vergleich beider Instrumente ist an dieser Stelle allerdings nicht möglich, vielmehr sollen nur die wichtigsten Punkte angesprochen werden.56 Dabei geht es zunächst nur um die oberflächlichen Gemeinsamkeiten; welche rechtliche Bedeutung den jeweiligen Regelungen im Einzelnen zukommt, lässt sich nur im Zusammenhang mit einer Erörterung der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen (IV.) beurteilen. Im Einzelnen interessieren die nachfolgend angerissenen Punkte. Zunächst schaffen sowohl die EVTZ-Verordnung als auch Protokoll Nr.  3 jeweils eine bestimmte Rechtsform für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit: den EVTZ bzw. den VEZ.57 Beide Rechtsinstrumente werden jeweils explizit als solche, gleichsam namentlich, identifiziert: als EVTZ bzw. als VEZ. Im achten Erwägungsgrund der EVTZ-Verordnung ist ausdrücklich die Rede davon, es bedürfe „eines Instruments der Zusammenarbeit auf gemeinschaftlicher Ebene“.58 Auch Art.  1 Abs.  1 Protokoll Nr.  3 spricht davon, dass die von dem Protokoll adressierten Gebietskörperschaften eine Einrichtung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit „in Form“ (in the form / sous la forme) eines „Verbunds für euroregionale Zusammenarbeit“ (VEZ) schaffen könnten. Somit sehen sowohl die EVTZ-Verordnung als auch Protokoll Nr.  3 spezifische korporative Rechtsinstrumente vor, vergleichbar etwa den unionsrechtlichen Rechtsformen der EWIV,59 der SE,60 der SCE61 oder des ERIC.62 Sowohl der EVTZ als auch der VEZ beruhen gemäß Art.  8 Abs.  1 EVTZ-Verordnung bzw. Art.  4 Abs.  1 Protokoll Nr.  3 auf einer Übereinkunft/schriftlichen Vereinbarung seiner Mitglieder, d. h. auf einem Vertrag. Welcher Rechtsordnung dieser Vertrag unterliegt, genauer: welche Rechtsordnung diesem Vertrag Verbindlichkeit verleiht, wird indes nicht bestimmt und ist durch Auslegung zu ermitteln. Des Weiteren verfügen EVTZ und VEZ über Rechtspersönlichkeit. Dies folgt aus Art.  1 Abs.  3 EVTZ-Verordnung sowie aus Art.  2 Abs.  1 Protokoll Nr.  3. Ein Unterschied, der in Abschnitt IV. noch zu vertiefen ist, wird hier allerdings schon deutlich: Während die EVTZ-Verordnung die Rechtspersönlichkeit ohne weitere Umstände – gleichsam kraft ihres Wortlauts – verleiht, bestimmt Protokoll Nr.  3, dass der VEZ   Zu letztgenanntem Aspekt vgl. Dok. LR-IC(2011)4 (Fn.  46), 15. Für einen allgemeinen Vergleich beider Instrumente vgl. Dok. LR-IC(2010)13 (Fn.  47), 23. 56   Jeweils für sich genommen, werden der EVTZ in der EVTZ-Studie (Fn.  19) und Protokoll Nr.  3 im „Explanatory Report“ zum Protokoll (zugänglich auf der Website des Europarates unter Organisation, Vertragsbüro, Gesamtverzeichnis, SEV No.  206; Zugriff am 22.10.2013) analysiert. 57   So, im Hinblick auf Protokoll Nr.  3, Jaeckel, Die Institutionalisierung territorialer Zusammenarbeit in Europa, in: Neuss/Niedobitek/Novotny/Rosuºlek (Hg.), Kooperationsbeziehungen in der neuen Europäischen Union, 2012, 91, 100. 58   Vgl. den Hinweis von Granger RMC no. 535 (2010), 91, 92. 59   Verordnung (EWG) Nr.  2137/85 des Rates vom 25.07.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl.  1985 L 199, 1. 60  Verordnung (EG) Nr.  2157/2001 des Rates vom 08.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl.  2001 L 294, 1. 61  Verordnung (EG) Nr.  1435/2003 des Rates vom 22.07.2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE), ABl.  2003 L 207, 1. 62   Verordnung (EG) des Rates Nr.  723/2009 des Rates vom 25.06.2009 über den gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für ein Konsortium für eine europäische Forschungsinfrastruktur (ERIC), ABl.  2009 L 206, 1. ERIC steht für „European Research Infrastructure Consortium“. Auf weitere europarechtliche Gesellschaftsformen kann hier nicht eingegangen werden. 55

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„Rechtspersönlichkeit nach Maßgabe des Rechts der Vertragspartei [besitzt], die Mitgliedstaat des Europarats ist, in dem er seinen Sitz hat“. Schließlich enthalten sowohl die EVTZ-Verordnung als auch Protokoll Nr.  3, soweit sie keine eigene Regelung vorsehen, vielfältige Verweisungen auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten/Vertragsstaaten, denen die Mitglieder von EVTZ bzw. VEZ angehören. Dabei spielt in beiden Fällen das nationale Recht desjenigen Staates, in dem der Verbund seinen Sitz hat, eine herausgehobene Rolle.

3.  Fortentwicklung von EVTZ und VEZ Nachdem die Kommission im Juli 2011 einen Bericht über die Anwendung der EVTZ-Verordnung vorgelegt hatte,63 unterbreitete sie noch in demselben Jahr einen Vorschlag zu deren Änderung.64 Dabei geht es – neben einer Vereinfachung und Präzisierung bestimmter Aspekte – vor allem darum, die bisher nur im 16. Erwägungsgrund der EVTZ-Verordnung angedeutete und daher unklare65 Möglichkeit einer Beteiligung von Rechtsträgern aus Drittländern explizit zu regeln und darüber hinaus auch Gebietskörperschaften aus den Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten (ÜLG) einzubeziehen.66 Die Ausweitung des Adressatenkreises der Verordnung spiegelt sich auch in der gewählten Rechtsgrundlage für den Änderungsvorschlag wider, welcher neben Art.  175 Abs.  3 AEUV auch Kompetenzbestimmungen aus den Kapiteln „Entwicklungszusammenarbeit“ und „Wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern“ nennt. Im März 2013 hat sich der Rat auf eine allgemeine Ausrichtung zu dem Vorschlag der Kommission geeinigt.67 Was die weitere Entwicklung des VEZ angeht, bestimmt Art.  13 Abs.  2 Protokoll Nr.  3, dass „[z]ur Erleichterung der Durchführung dieses Protokolls .  .  . in einem Anhang ausführlichere, jedoch fakultative Bestimmungen über die Errichtung und Arbeitsweise von Verbünden aufgeführt [werden]. Vertragsparteien, die den Anhang ganz oder teilweise in ihr innerstaatliches Recht umsetzen möchten, können dies nach Maßgabe der entsprechenden verfassungsrechtlichen oder gesetzgeberischen Verfahren tun.“ Die Erarbeitung dieser fakultativen Bestimmungen wurde durch die zuständige Arbeitsgruppe68 inzwischen abgeschlossen; die Bestimmungen sollen dem CDLR (Comité européen sur la démocratie locale et régionale) des Europarats im Herbst 2013 vorgelegt werden.69

  KOM(2011) 462.   KOM(2011) 610; dieser Vorschlag wurde am 14.03.2012 im Wege einer Berichtigung (Corrigendum) durch das Dokument COM(2011) 610 final/2 ersetzt. 65  Vgl. Greco/Marchesi, Rechtliche und praktische Aspekte der Teilnahme an einem EVTZ aus ital­ ienischer Sicht, in: Bußjäger/Gamper/Happacher/Woelk (Hg.), Der Europäische Verbund territorialer Zusammenarbeit (EVTZ): Neue Chancen für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, 2011, 93, 97 f. 66   Zum Kommissionsvorschlag vgl. auch Engl/Eisendle EJM 4 (2011), 215, 236 f. 67   Vgl. die Pressemeldung des Rates 7215/13; vgl. anschließend Rats-Dok. 11944/13 v. 12.09.2013. 68   Vgl. den Hinweis in dem Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Europarats im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2012, BT-Drs. 17/12995 v. 02.04.2013, 10. 69   Auskunft der Vertreterin der deutschen Länder im CDLR. 63

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IV.  Rechtsgrundlagen und innerstaatliche Verfügbarkeit von EVTZ und VEZ 1.  Die unterschiedliche Natur der Rechtsgrundlagen von EVTZ und VEZ a)  Die EVTZ-Verordnung Der EVTZ als Rechtsinstrument territorialer Zusammenarbeit wurde durch eine Verordnung geschaffen.70 Gemäß Art.  288 Abs.  2 AEUV hat eine Verordnung allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Bei der Verordnung handelt es sich um den „supranationalen“ Rechtsakt schlechthin,71 da sie grundsätzlich ohne mitgliedstaatlichen Umsetzungsoder Durchführungsakt unmittelbar anwendbar ist (freilich abhängig vom konkreten Wortlaut) und den innerstaatlichen Rechtssubjekten Rechte verleihen und Pflichten auferlegen kann.72 Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass Verordnungen den Mitgliedstaaten Durchführungspflichten auferlegen.73 Die EVTZ-Verordnung ist unter mehreren Aspekten eine untypische Verordnung. Zu Recht wird in der vom Ausschuss der Regionen in Auftrag gegebenen Studie zum EVTZ darauf hingewiesen, dass schon der Wortlaut der EVTZ-Verordnung eher an eine Richtlinie als an eine Verordnung erinnert.74 Zudem bestimmt Art.  16 EVTZ-Verordnung, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Vorkehrungen für eine wirksame Anwendung der Verordnung treffen müssen. Während es in Deutschland im Hinblick auf die Durchführung der EVTZ-Verordnung, wie es scheint, keine Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Ländern gegeben hat, da die Verordnung, soweit ersichtlich, allein von den Ländern durchgeführt wurde,75 gab es insbesondere in Österreich eine Debatte über die Umsetzungszuständigkeit zwischen Bund und Bundesländern.76   Vgl. oben, Abschnitt I. i. V. m. Fn.  13.   Vgl. nur Vedder, in: ders./Heintschel von Heinegg (Hg.), Europäisches Unionsrecht – Handkommentar, 2012, Art.  288 AEUV Rn.  16. 72   Vgl. nur Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 4.  Aufl., 2011, Art.  288 AEUV Rn.  20. 73   Ebd., Rn.  21. 74   So die EVTZ-Studie (Fn.  19), 89. 75   Vgl. die Liste der nationalen Bestimmungen zur Durchführung der EVTZ-Verordnung auf der Website des AdR unter: https://portal.cor.europa.eu/egtc/en-US/discovertheegtc/Pages/National% 20dispositions.aspx (Zugriff am 22.10.2013). Als Beispiel vgl. die sächsische EVTZ-Zuständigkeitsverordnung, SächsGVBl.  2008, 78 (geändert durch Verordnung v. 23.06.2009, SächsGVBl.  2009, 402, sowie durch Verordnung v. 01.03.2012, SächsGVBl.  2012, 173). Eine Recherche in den Datenbanken des Bundestages und des Bundesrates sowie in der Datenbank des Bundesministeriums der Justiz („www.gesetze-im-internet.de“) ergab keine Hinweise auf eine gesetz- oder verordnungsgeberische Tätigkeit des Bundes (Zugriff jeweils am 22.10.2013). Zum Thema vgl. auch die Antwort des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport auf eine Kleine Anfrage „Umsetzung des Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit in Rheinland-Pfalz“, LT-Drs. 15/1356 v. 07.08. 2007, in der auch nach Umsetzungsvorschriften des Bundes gefragt wird. 76   Vgl. nur Bußjäger, Rechtsprobleme um den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ), in: Rosner/Bußjäger (Hg.), FS 60 Jahre Verbindungsstelle der Bundesländer, 2011, 525 ff.; J. Maier, Rechtliche Hindernisse für die Implementierung des EVTZ-Instruments in die föderale Verfassungsstruktur Österreichs, in: Jahrbuch des Föderalismus 2009, 455 ff.; vergleichender 70 71

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Die EVTZ-Verordnung schreibt den Mitgliedstaaten nicht abschließend vor, in welchen Bereichen Durchführungsmaßnahmen zu treffen sind bzw. getroffen werden können.77 Ein Schwerpunkt liegt sicher in der Benennung der jeweils zuständigen Behörden,78 gleichwohl schließt Art.  16 EVTZ-Verordnung mit seiner unbestimmten Formulierung („.  .  . treffen die erforderlichen Vorkehrungen für eine wirksame Anwendung .  .  . ; englische Fassung: „shall make such provisions as are appropriate to ensure the effective application .  .  .“79 ) nicht aus, dass die Mitgliedstaaten weitere Konkretisierungen vornehmen.80 Ob allerdings die Mitgliedstaaten befugt sind, den EVTZ als eine Körperschaft des (nationalen) öffentlichen Rechts oder des Privatrechts zu definieren,81 erscheint fraglich.82 Auf diese Frage wird jedoch später eingegangen (IV. 3. b.). Aus dem in Art.  16 EVTZ-Verordnung verankerten Erfordernis, die wirksame Anwendung der Verordnung durch „die erforderlichen Vorkehrungen“ sicher zu stellen, folgt nicht ohne weiteres, dass ohne derartige Vorkehrungen die Verordnung nicht unmittelbar anwendbar (gewesen) wäre.83 Zwar trifft es zu, dass es Fälle geben kann, in denen eine Verordnung in Ermangelung von Durchführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten nicht unmittelbar anwendbar ist.84 Jedoch bestimmt Art.  18 EVTZ-Verordnung, dass die Verordnung „spätestens ab dem 1. August 2007“ gilt, wobei Art.  16 EVTZ-Verordnung (betreffend die Durchführungsmaßnahmen) bereits „ab dem 1. August 2006 gilt“. Daraus folgt, dass den Mitgliedstaaten Gelegenheit gegeben werden sollte, rechtzeitig vor Geltungsbeginn der Verordnung die ggf. notwendigen innerstaatlichen Vorkehrungen zu treffen. Eine Bedingung für deren Anwendung der Verordnung stellen sie jedoch nicht dar.85 Somit können die von der EVTZ-Verordnung begünstigten Akteure, insb. die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, seit dem 1. August 2007 unmittelbar ein Recht zur EVTZ-Gründung herleiten.86 Überblick über die Durchführung der EVTZ-Verordnung in einigen EU-Mitgliedstaaten bei Engl EuR 2013, 285 ff. 77   Eine Ausnahme ist etwa Art.  4 Abs.  4 EVTZ-Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten die Behörden zu benennen haben, die für die Entgegennahme der Miteilungen und Unterlagen nach Art.  4 Abs.  2 zuständig sind. 78   Dem gemäß hat sich das Land Sachsen darauf beschränkt, in der EVTZ-Zuständigkeitsverordnung (Fn.  75) für elf Fälle die Landesdirektion Sachsen für zuständig zu erklären. 79   Hervorhebungen hinzugefügt. 80   A. A. Obwexer, Der EVTZ als neues unionsrechtliches Instrument territorialer Zusammenarbeit, in: Bußjäger/Gamper/Happacher/Woelk (Hg.), Der Europäische Verbund territorialer Zusammenarbeit (EVTZ): Neue Chancen für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, 2011, 47, 48 f., wonach der „Durchführungsvorbehalt .  .  . ausschließlich die Benennung der für den Vollzug der Verordnung erforderlichen innerstaatlichen zuständigen Behörden“ betrifft. 81  Vgl. insofern die EVTZ-Studie (Fn.  19), 97–99; ferner wohl auch Spinaci/Vara-Arribas EIPA­ SCOPE 2009/2, 5, 6: „Member States may decide on regime applicable to these groupings (either public or private) .  .  .“. 82   Insofern zu Recht zweifelnd Pechstein/Deja EuR 2011, 357, 364, 368. 83   So jedoch der italienische Staatsrat; vgl. Greco/Marchesi (Fn.  65), 93. 84   Dies war beispielsweise in dem Urteil des EuGH, 14.  04. 2011, verb. Rs. C-42/10, C-45/10 und C-57/10 (Vlaamse Dierenartsenvereniging), Rn.  46–52, der Fall. 85   So wohl auch Obwexer (Fn.  80), 48, der die EVTZ-Verordnung für „überwiegend unmittelbar anwendbar“ hält. 86   Ebenso im Ergebnis die EVTZ-Studie (Fn.  19), 156.

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Noch in einem weiteren Punkt ist die EVTZ-Verordnung untypisch: Der Rückgriff auf den EVTZ ist fakultativ,87 er stellt somit ein Rechtsinstrument dar, von dem seitens der potenziellen Mitglieder Gebrauch gemacht werden kann, aber nicht muss. Diese Eigenschaft teilt der EVTZ mit den anderen Rechtsformen des Unionsrechts, von denen einige oben (III.2.) beispielhaft erwähnt wurden. Die der Verordnung als Rechtsakt eigene „supranationale“ Wirkung kommt daher nur dann zum Tragen, wenn sich von der EVTZ-Verordnung angesprochene Körperschaften zur Gründung eines EVTZ entschließen. In diesem Fall können sie sich auf deren unmittelbare Geltung berufen, auch soweit innerstaatliche Rechtsvorschriften entgegen stehen sollten.

b)  Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen ist ein im Rahmen des Europarates erarbeiteter völkerrechtlicher Vertrag, der gemäß seinem Art.  19 Abs.  2 mit Hinterlegung der vierten Ratifikationsurkunde (am 8. November 2012) – es handelte sich um die deutsche Ratifikation – am 1. März 2013 in Kraft getreten ist. Nach der deutschen Ratifikation ist bislang nur noch Frankreich – am 1. Mai 2013 – Vertragspartei geworden.88 Als ein „gewöhnlicher“ völkerrechtlicher Vertrag verfügt Protokoll Nr.  3 nicht über die Fähigkeit des Unionsrechts, innerstaatlich unmittelbar zu gelten. Vielmehr bindet das Protokoll „zunächst“ nur die Vertragsparteien als solche.89 Die Frage, ob und inwieweit das Protokoll die innerstaatliche, vorliegend die deutsche, Rechtslage prägt, hängt davon ab, wie das Grundgesetz das Verhältnis zwischen deutschem Recht und Völkerrecht gestaltet. Diese Frage wird im nächsten Abschnitt (IV.2.) behandelt. Dabei ist davon auszugehen, dass Protokoll Nr.  3 – nach Zustimmung der Länder gemäß dem Lindauer Abkommen90 – von Deutschland ratifiziert wurde, ohne dass der Bund oder die Länder bislang – soweit ersichtlich91 – Zustimmungs- oder Umsetzungsgesetze erlassen hätten. Es scheint somit, dass Protokoll Nr.  3 von den zuständigen deutschen Stellen als ein Verwaltungsabkommen gemäß Art.  59 Abs.  2 S.  2 GG eingestuft wurde.92   So ausdrücklich die Erwägungsgründe 8 und 15 der EVTZ-Verordnung.   Vgl. die Website des Europarates: Organisation, Vertragsbüro, Gesamtverzeichnis, SEV Nr.  206 (Zugriff am 22.10.2013). 89   Vgl. BVerfGE 111, 307, 322, im Hinblick auf Entscheidungen des EGMR. 90   Auskunft der Ständigen Vertragskommission der Länder. 91   Diese Aussage beruht auf einer Recherche im „Parlamentsspiegel“ („www.parlamentsspiegel.de“) und ergänzenden Stichproben in den Dokumentationen ausgewählter Landtage, insb. des rheinland-pfälzischen Landtags, dessen Recherche-Abteilung bei den Nachforschungen behilflich war. 92   Zu dieser Alternative vgl. nur Butzer/Haas, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein (Begr.), GG – Kommentar zum Grundgesetz, 12.  Aufl., 2011, Art.  59 Rn.  129. Möglicherweise wurde das Protokoll Nr.  3 von Bund und Ländern auch einfach nicht ernst (genug) genommen, dies im Hinblick auf die sichere Verfügbarkeit des EVTZ; vgl. den Bericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen an den Landtag zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, Vorlage 14/1547 v. Dezember 2007, 12, in dem die Erforderlichkeit eines neuen Rechtsinstruments angezweifelt wird. 87

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2.  Die innerstaatliche Verfügbarkeit von EVTZ und VEZ im Allgemeinen a)  Die unterschiedliche Rechtsnatur von EVTZ und VEZ Die unterschiedliche Natur der Rechtsgrundlagen von EVTZ und VEZ, wie sie soeben (IV.1.) dargelegt wurde, hat unmittelbare Konsequenzen für die innerstaatliche Verfügbarkeit beider Rechtsinstrumente. Der EVTZ steht den potenziellen Mitgliedern (hierzu vgl. Art.  3 EVTZ-Verordnung) kraft Unionsrechts seit dem 1. August 2007 unmittelbar zur Verfügung (näher IV.1.a.). Was den VEZ – genauer: Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen – angeht, ist die Situation viel komplizierter. Es stellen sich mehrere Fragen: Handelt es sich bei Protokoll Nr.  3 um innerstaatlich bindendes Recht? (hierzu IV.2.b.) Ist Protokoll Nr.  3, unabhängig von dieser Frage, von den innerstaatlichen Stellen zu beachten? (hierzu IV.2.c.) Handelt es sich bei Protokoll Nr.  3 um ein Verwaltungsabkommen, wie die zuständigen staatlichen Akteure auf Bundes- und Landesebene zu meinen scheinen, oder um einen Gesetzgebungsvertrag, und wer ist ggf. für die gesetzliche Umsetzung zuständig, der Bund oder die Länder? (hierzu IV.2.d.).

b)  Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen als Bestandteil der deutschen Rechtsordnung? Zunächst steht fest, dass der VEZ nicht im Wege der Bundes- oder Landesgesetzgebung zu einem Bestandteil der deutschen Rechtsordnung gemacht wurde. Dies wäre freilich dann entbehrlich, wenn völkerrechtliche Verträge ohne weiteres – infolge einer streng monistischen Konstruktion des Verhältnisses zwischen deutschem Recht und Völkerrecht – innerstaatlich gelten würden.93 Davon kann jedoch keine Rede sein. Zwar wird in der Literatur vielfach die Auffassung vertreten, das Grundgesetz habe sich nicht für eine monistische oder eine dualistische Sichtweise (nach dieser handelt es sich beim Völkerrecht und beim staatlichen Recht um getrennte Rechtskreise) entschieden,94 jedoch zeigt schon die kaum bestreitbare und in der eben geschilderten Auffassung vorausgesetzte Feststellung, dass die „Geltung völkerrechtlicher Regeln im Rahmen des deutschen Rechts [.  .  .] durch das Grundgesetz bestimmt [wird]“,95 dass letztlich nur eine dualistische Sichtweise der Rechtswirklichkeit entspricht.96 Die Maßgeblichkeit der nationalen Verfassung – und nicht der Völkerrechtsordnung – in dieser Frage dadurch mit der monistischen Sichtweise in Einklang zu bringen, dass die Stellungnahme der Verfassung als „deklaratorisch“  Näher Niedobitek (Fn.  22), 153.   Vgl. nur Kempen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 6.  Aufl., 2010, Art.  59 Rn.  84. 95   Rauschning, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg (Loseblatt), Art.  59 Rn.  104 a. E. 96   Unmissverständlich das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 111, 307, 318: Dem Grundgesetz liege „deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Rechts selbst bestimmt werden kann“. 93

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bezeichnet wird,97 ist nicht mehr als ein juristischer Kunstgriff. Auch soweit heute „monistische“ Theorien vertreten werden, kommen diese um die Postulierung zweier getrennter Bestandteile der als Einheit gedachten Rechtsordnung nicht herum.98 Einer dualistischen Sichtweise entspricht es auch, dass für die Einbeziehung eines völkerrechtlichen Vertrages in die deutsche Rechtsordnung in jedem Fall ein staatlicher Zustimmungsakt – eine Transformation (Transformationslehre) oder ein Rechtsanwendungsbefehl (Vollzugslehre) – erforderlich ist.99 Transformation und Rechtsanwendungsbefehl sind in ihrer Funktion letztlich austauschbar (im Folgenden ist daher nur noch vom Rechtsanwendungsbefehl die Rede), da beide dazu führen, dass der Staat, der den Rechtsanwendungsbefehl erteilt, für die innerstaatliche Geltung und Anwendung des völkerrechtlichen Vertrags die Verantwortung übernimmt.100 Dies hat notwendig zur Folge, dass der völkerrechtliche Vertrag einen innerstaatlichen Geltungsgrund erhält.101 Es ist m. a. W. unmöglich, einem völkerrechtlichen Vertrag einen innerstaatlichen Status zu verleihen, den er vorher nicht hatte, und ihm zugleich – wenn auch nur im Wege der „Öffnung der deutschen Rechtsordnung“102 – keinen innerstaatlichen Geltungsgrund zu verleihen, sondern ihn „weiterhin im Völkerrecht“103 zu belassen.104 Es ist daher weder irritierend noch widersprüchlich (wie jedoch die Lehre meint105), wenn das Bundesverfassungsgericht beide genannten Mechanismen – Transformation und Erteilung eines Rechtsanwendungsbefehls – in einem Atemzug nennt:106 Es kommt nicht darauf an. Eine andere Frage ist, ob – rein inhaltlich gesehen – der Rechtsanwendungsbefehl den völkerrechtlichen Vertrag möglichst intakt lässt, auch was sein Inkrafttreten und seine Interpretation angeht; nur insofern mag man sagen, die zum Vollzug befohlenen Normen des völkerrechtlichen Vertrag blieben „Rechtsnormen des Völkerrechts“.107 In der (Notwendigkeit einer) gesonderten Überführung ins deutsche Recht unterscheidet sich die Behandlung gewöhnlicher völkerrechtlicher Verträge signifikant vom Unionsrecht, welches – freilich auf völkervertraglicher Grundlage – mit eigenem Geltungsgrund in den Mitgliedstaaten wirkt, ohne dass eine Transformation

 Vgl. Fastenrath/Groh, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin (Loseblatt), Art.  59 Rn.  93. 98   Vgl. ebd., Rn.  85; hierzu vgl. auch Niedobitek (Fn.  22), 156. 99  Vgl. Niedobitek (Fn.  22), 160 f. 100  Näher Niedobitek (Fn.  22), 162 f. (zum Völkerrecht) sowie 352–357 (zum Internationalen Privatrecht). 101   Im Ergebnis ebenso Fastenrath/Groh (Fn.  97), Art.  59 Rn.  94, die (im Zusammenhang mit der Frage, ob völkerrechtliche Verträge revisibles Bundesrecht darstellen) darauf hinweisen, „dass der Vertragsinhalt durch den im Vertragsgesetz enthaltenen und damit bundesrechtlichen Vollzugsbefehl Bestandteil des nationalen Rechts wird“. 102   So deutet Nettesheim (Fn.  31), Art.  59 Rn.  178, den Rechtsanwendungsbefehl. 103   Streinz, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz – Kommentar, 6.  Aufl., 2011, Art.  59 Rn.  61. 104   So indes die h. L.; vgl. etwa F. Becker NVwZ 2005, 289, 290. 105   Vgl. etwa Pernice, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz – Kommentar, Band  II, 2.  Aufl., 2006, Art.  59 Rn.  47; Butzer/Haas (Fn.  92), Art.  59 Rn.  113. Beide Kommentare sprechen von einer Vermischung der Theorien. 106   So BVerfGE 111, 307, 316 f.: Der Bundesgesetzgeber habe die EMRK „in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt“. 107  So Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  107, im Hinblick auf die Vollzugslehre. 97

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oder ein Rechtsanwendungsbefehl dazwischen treten würde und dürfte.108 Dass das Bundesverfassungsgericht selbst die innerstaatliche (Vorrang-)Wirkung von Unionsrecht auf einen nationalen Rechtsanwendungsbefehl zurückführt,109 negiert diesen Unterschied. Im Fall von Gesetzgebungsverträgen gemäß Art.  59 Abs.  2 S.  1 GG bzw. gemäß dem einschlägigen Landesverfassungsrecht110 wird der notwendige Zustimmungsakt durch ein Gesetz erteilt, im Fall von Verwaltungsabkommen ein – in unterschiedlicher Gestalt auftretender – Zustimmungsakt der Exekutive.111 In der innerstaatlichen Rechtsordnung teilt der jeweilige völkerrechtliche Vertrag dann die rechtliche Qualität und den Rang des Zustimmungsakts.112 An die Qualität des „Rechtsanwendungsbefehls“ werden allerdings, soweit es um Verwaltungsabkommen geht, zum Teil nur sehr dürftige Anforderungen gestellt. So soll nach einer Meinung eine Veröffentlichung des Abkommens in der vorgeschriebenen Form ausreichen.113 Allerdings fragt sich doch, welche rechtliche Qualität, für sich genommen, eine Bekanntmachung hat.114 Nicht jede rechtlich relevante Äußerung ist geeigneter Träger eines Rechtsanwendungsbefehls. Eine weitere Ansicht lässt den Kabinettsbeschluss der Bundesregierung, welcher der Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages vorausgeht,115 bzw. – was einen etwa erforderlichen Rechtsanwendungsbefehl der Länder angeht – die Einverständniserklärung gemäß dem Lindauer Abkommen116 ausreichen. Ferner wird vertreten, der „Gubernativakt“, mit dem die Zustimmung zu dem Verwaltungsabkommen erfolgt (gemeint ist wohl die Unterzeichnung ohne Ratifikationsvorbehalt bzw. die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde), habe „in gleicher Weise eine Doppelfunktion wie ein Vollzugsgesetz“.117 Dieser Gubernativakt soll auch nicht nur auf seinen ureigenen Erklärungswert begrenzt sein; vielmehr sollen „die Verwaltungsabkommen, die die zuständigen Organe des Bundes abschließen, im gesamten Geltungsbereich des Grundgesetzes – und damit auch in den Ländern – Geltung beanspruchen“.118 Insgesamt scheint es, als wäre hier viel Wunschdenken im Spiel, um auf möglichst einfache Weise eine inner108  Näher Niedobitek, Der Vorrang des Unionsrechts, in: ders./Zemánek (eds.), Continuing the European Constitutional Debate – German and Czech Contributions from a Legal Perspective, Berlin 2008, 63 (68–72). 109   Vgl. nur BVerfGE 123, 267, 397, 400. 110   Vgl. nur Ebling, in: Grimm/Caesar (Hg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz – Kommentar, 2001, Art.  101 Rn.  23. 111   So etwa Rojahn, in: von Münch/Kunig (Hg.), Grundgesetz – Kommentar, Bd.  1, 6.  Aufl., 2012, Art.  59 Rn.  86; Kempen (Fn.  94), Art.  59 Rn.  107; insoweit ebenso Fastenrath/Groh (Fn.  97), Art.  59 Rn.  101. 112   Vgl. nur Kempen (Fn.  94), Art.  59 Rn.  107; Streinz (Fn.  103), Art.  59 Rn.  81. 113  So Rojahn (Fn.  111), Art.  59 Rn.  86. 114   Zu Recht verlangen Fastenrath/Groh (Fn.  97), Art.  59 Rn.  101, einen außenwirksamen Rechtsakt und halten eine Bekanntmachung nicht für ausreichend. 115  So von Bogdandy/Zacharias NVwZ 2007, 527, 529 f. 116   So das Gutachten der Bundesregierung von 2007 betreffend die innerstaatliche Bindungswirkung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Natur- und Kulturerbes der Welt, 11; im Internet verfügbar unter http://archiv.welterbe-erhalten.de/pdf/080116_Gutachten_UNESCO.pdf (Zugriff am 22.10.2013). 117  So Nettesheim (Fn.  31), Art.  59 Rn.  189. 118  So Nettesheim (Fn.  31), Art.  59 Rn.  191.

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staatliche Geltung von Verwaltungsabkommen zu konstruieren. Überzeugend ist das nicht. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass Protokoll Nr.  3 weder durch ein Gesetz – ein Bundesgesetz oder Gesetze der Länder – noch durch einen äquivalenten Umsetzungsakt der Exekutiven – des Bundes oder der Länder – innerstaatlich bindendes Recht geworden ist.

c)  Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen und der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit Eine im Vordringen befindliche Meinung vermeidet bei Verwaltungsabkommen eine gekünstelte Konstruktion des Rechtsanwendungsbefehls und geht statt dessen davon aus, dass „die Einbeziehung des Abkommens in das nationale Recht nicht erforderlich“ sei, sofern die Vertragspflichten im Rahmen bestehender Gesetze oder durch nicht-gesetzesakzessorisches Verwaltungshandeln erfüllt werden können.119 Diese Auffassung stützt sich auf die These, dass alle nationalen Stellen aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verpflichtet seien, den für Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Verträgen auch ohne die Einführung in die deutsche Rechtsordnung Wirksamkeit zu verschaffen.120 Hierzu beruft sich diese Auffassung auf einen angeblichen „Wandel des Staatsverständnisses“.121 In ihrem Gutachten zur innerstaatlichen Bindungswirkung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Natur- und Kulturerbes der Welt spricht die Bundesregierung gar, mit einem abschätzigen Unterton, von einer „überkommenen“ Auffassung, die nicht mehr aufrecht zu erhalten sei, und einem „überholten“ Staatsverständnis.122 Diese ist Auffassung abzulehnen. Angeblich ist durch den behaupteten Wandel des Staatsverständnisses „das Innen-/ Außenschema weitgehend obsolet“ geworden, was zugleich bedeute, „dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen nun nicht mehr nur den Staat als Ganzes treffen, sondern unmittelbar auch alle Hoheitsträger und die für sie handelnden Organe in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen“.123 Es bedürfe „keiner Transformation oder wie auch immer gearteten Einbeziehung des Völkerrechts in das nationale Recht, um die Amtsträger zu verpflichten“.124 Konsequent ist es immerhin, wenn dieselben Autoren feststellen, dass solche völkerrechtlichen Verträge „nicht Bestandteil des deutschen Rechts“ würden.125 119  So Fastenrath/Groh (Fn.  97), Art.  59 Rn.  90; im Ergebnis ähnlich Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  162, 163. 120   Fastenrath/Groh (Fn.  97), Art.  59 Rn.  95. Ähnlich Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  111–113, bei dem allerdings nicht klar ist, ob seine Argumentation voraussetzt, dass „der Gesetzgeber zustimmen mitgewirkt“ hat (so Rn.  113), oder ob er sich letztlich der Auffassung von Fastenrath und Groh auch im Hinblick auf Verwaltungsabkommen anschließt (worauf Rn.  112 hindeutet). Differenzierend von Bogdandy/Zacharias (Fn.  115), 530. 121   So insbesondere Fastenrath/Groh (Fn.  97), Art.  59 Rn.  5 –9, 95. 122   Vgl. Fn.  116, 11. 123   Fastenrath/Groh (Fn.  97), Rn.  8 (Hervorhebung hinzugefügt); ähnlich dies., ebd., Rn.  95. 124   Fastenrath/Groh (Fn.  97), Rn.  8. Zu Recht kritisch hierzu Nettesheim (Fn.  31), Art.  59 Rn.  189. 125   Fastenrath/Groh (Fn.  97), Rn.  8.

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Offenbar geht es der geschilderten Auffassung also darum, eine unmittelbare Bindung nicht nur des Staates als Ganzem, sondern auch aller staatlichen Stellen an das Deutschland bindende Völkerrecht zu propagieren. Es ist allerdings unklar, weshalb für diese Sichtweise, nimmt man sie beim Wort, noch der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bemüht werden muss. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit vor allem im Hinblick auf die innerstaatliche Beachtlichkeit der EMRK herangezogen.126 Er beruht auf einer Interpretation des Grundgesetzes und dient als verfassungsrechtliches Institut dazu, die Beachtung der völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands sicher zu stellen, dies auch durch eine „verfassungsunmittelbare Pflicht der deutschen Gerichte, einschlägige Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen“.127 Das Bundesverfassungsgericht betont die verfassungsrechtliche Herkunft des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit, indem es diesen Grundsatz als „Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses .  .  .“ kennzeichnet, und erklärt, es sei das „‚letzte Wort‘ der deutschen Verfassung“, welches die normative Grundlage für einen internationalen und europäischen Dialog der Gerichte darstelle.128 Im Übrigen betont das Bundesverfassungsgericht, dass „die deutschen Staatsorgane .  .  . gemäß Art.  20 Abs.  3 GG an das Völkerrecht gebunden [seien], das als Völkervertragsrecht nach Art.  59 Abs.  2 S.  1 GG .  .  . innerstaatlich Geltung beansprucht“.129 Darauf folgt zweierlei: Es besteht keine unmittelbare Bindung staatlicher Stellen an völkerrechtliche Verträge; vielmehr bedarf es – sogar auch nach der vorstehend diskutierten Auffassung – einer Vermittlung durch den verfassungsrechtlich verankerten, somit im nationalen Recht wurzelnden Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, der erst – gleichsam als Transformator – die innerstaatlichen Stellen verpflichtet, die Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen „zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen“.130 Außerdem kann Völkerrecht nicht umstandslos als solches unter den Begriff des „Rechts“ im Sinne von Art.  20 Abs.  3 GG subsumiert werden.131 Vielmehr setzt eine Rechtsbindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung gemäß Art.  20 Abs.  3 GG ein „Gesetz“ voraus,132 was im Fall der EMRK gegeben ist,133 nicht jedoch im Fall von Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit bei Verwaltungsabkommen keine Rolle spielen würde. Denn dieser Grundsatz hat seine materielle Grundlage nicht in Art.  20 Abs.  3 GG, sondern in der Präambel des 126   Vgl. nur BVerfGE 128, 326, 370–372; BVerfGE 111, 307, 317 f.; vgl. aber auch BVerfGE 112, 1, 26, betreffend die Vereinbarkeit der Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 mit dem Völkerrecht. 127   BVerfG, Beschluss v. 8. Juli 2010, 2 BvR 2485/07, 2513/07, 2548/07, NJW 2011, 207, 208. 128   BVerfGE 128, 326, 369. 129   BVerfGE 112, 1, 24 f. 130   Vgl. etwa BVerfGE 112, 1, 26. An dem einschränkenden Zusatz „nach Möglichkeit“ stört sich Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  110. 131   So aber von Bogdandy/Zacharias (Fn.  115), 530; Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  111. 132   Zum Begriff des Gesetzes im Sinne von Art.  20 Abs.  3 GG vgl. nur Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz – Kommentar, 6.  Aufl., 2011, Art.  20 Rn.  107. 133   Vgl. BVerfGE 111, 307, 325 f.

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Grundgesetzes und in Art.  1 Abs.  2 GG und den Art.  24 bis Art.  26 GG.134 Somit sind grundsätzlich auch Verwaltungsabkommen des Bundes in eine völkerrechtsfreundliche Auslegung einbezogen, zumal der Zweck dieses Grundsatzes – die Vermeidung von Völkerrechtsverstößen – auch hier greift. Allerdings zeigen sich im Zusammenhang mit Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen auch die Grenzen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit. Denn obwohl dieser Grundsatz u. a. die Pflicht der innerstaatlichen Stellen einschließt, die Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen „zu befolgen“,135 kann er eine Verfügbarkeit des VEZ als Rechtsinstrument in der deutschen Rechtsordnung nicht gewährleisten. Allenfalls könnten vorhandene Instrumente der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, etwas das Abkommen von Isselburg-Anholt oder das Karlsruher Überreinkommen (vgl. oben, II.) – im Sinne von Protokoll Nr.  3 – d. h. völkerrechtsfreundlich – ausgelegt werden. Dies würde jedoch dem eigentlichen Anliegen von Protokoll Nr.  3, ein eigenes, spezifisches Rechtsinstrument für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu schaffen (vgl. oben, III.2.), nicht gerecht werden. Im Ergebnis ist festzustellen, dass Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen ungeachtet des Umstands, dass es nicht Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist, gemäß dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit „zu befolgen“ ist, dies jedoch nur im Rahmen der „anerkannten Methoden der Gesetzauslegung und Verfassungsinterpretation“.136 Damit lässt sich das Ziel von Protokoll Nr.  3, ein spezifisches Rechtsinstrument für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu schaffen, nicht erreichen.

d)  Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen als Verwaltungsabkommen oder als Gesetzgebungsvertrag? Schließlich ist noch die Frage zu klären, ob es sich bei Protokoll Nr.  3 tatsächlich um ein Verwaltungsabkommen handelt oder ob es – als Gesetzgebungsvertrag – der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes oder der Länder bedurft hätte. Diese Frage richtet sich, was den Bund angeht, nach Art.  59 Abs.  2 GG. Ein Zustimmungsgesetz des Bundes wäre demnach erforderlich gewesen, wenn sich Protokoll Nr.  3 „auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung“ bezieht. Für die Länder ergibt sich ein entsprechendes Erfordernis aus dem Landesverfassungsrecht.137 Ein Zustimmungsgesetz ist insbesondere erforderlich, (1) wenn die Regelungsmaterie des Vertrags dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt,138 (2) wenn sie eine bestehende Gesetzeslage bestätigt (sog. Parallelabkommen)139 oder (3) wenn sie erfordert, eine bestehende Gesetzeslage zu ändern.140   Vgl. BVerfG, Beschluss v. 24.  10. 2000, 1 BvR 1643/95, in: VIZ 2001, 114, 115.   BVerfGE 112, 1, 26. 136   BVerfGE 128, 326, 371; vgl. auch BVerfGE 111, 307, 329. 137  Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, 517; für das Beispiel Rheinland-Pfalz vgl. Ebling, in: Grimm/Caesar (Hg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz – Kommentar, 2001, Art.  101 Rn.  23. 138  Vgl. Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  71. 139  Vgl. Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  76 f. 140  Vgl. Kempen (Fn.  94), Art.  59 Rn.  67. 134 135

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Bei alledem wird eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes vorausgesetzt. Art.  59 Abs.  2 S.  1 GG macht dies hinreichend deutlich, indem er allein dreimal die Worte „Bundesgesetzgebung“ bzw. „Bundesgesetz“ verwendet.141 Diese Bestimmung wird in der Literatur – unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Juli 1952 zum deutsch-französischen Wirtschaftsabkommen142 – zuweilen dahin missverstanden, die Gesetzgebungsorgane des Bundes müssten auch solchen Verträgen des Bundes zustimmen, die Gegenstände der Landesgesetzgebung betreffen.143 Die Literatur beruft sich insoweit auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Begriff der Bundesgesetzgebung in Art.  59 Abs.  2 S.  1 GG keinen Gegensatz zum Begriff der Landesgesetzgebung bilde, sondern zum Begriff der Bundesverwaltung.144 Jedoch wird vom Bundesverfassungsgericht das Bestehen einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes offensichtlich vorausgesetzt.145 Somit erscheint die in der Literatur vielfach getroffene Feststellung, die Zuständigkeitskataloge der Art.  73 ff. GG seien für die Auslegung von Art.  59 Abs.  2 S.  1 GG „wenig hilfreich“,146 nur als die halbe Wahrheit. Vielmehr ist die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern stets mitzudenken. Eine Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes zu den vom Bund geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen ist daher nur erforderlich – und zulässig –, wenn die Umsetzung des Vertrages kompetenziell der Bundesgesetzgebung zuzurechnen ist.147 Sofern dies nicht der Fall ist, handelt es sich bei dem fraglichen völkerrechtlichen Vertrag jedoch nicht notwenig um ein Verwaltungsabkommen, sondern, falls sich eine gesetzliche Regelung seitens der Länder als erforderlich erweisen sollte, um einen im Grundgesetzgesetz nicht geregelten Fall des Gesetzgebungsvertrages.148 Was zunächst (1) den Vorbehalt des Gesetzes angeht, kommt es in erster Linie darauf an, ob der Regelungsinhalt des Vertrages die Grundrechte des Individuums tangiert.149 Insoweit erscheint Protokoll Nr.  3 als unverdächtig. Gemäß seinem Art.  7 Abs.  3 dürfen die einem VEZ übertragenen Aufgaben „nicht die Ausübung von Rechtssetzungsbefugnissen betreffen“. Ferner ist der Verbund „weder befugt, Maßnahmen zu treffen, welche die Rechte und Freiheiten Einzelner berühren könnten, noch Abgaben steuerlicher Art zu erheben.“ Jedoch könnten individuelle Rechte durch die Regelung des Kreises potenzieller Mitglieder eines VEZ berührt werden. Gemäß Art.  3 Abs.  1 Protokoll Nr.  3 können „[a]lle juristischen Personen, die ausdrücklich zur Befriedigung von im öffentlichen Interesse liegenden Bedürfnissen errichtet wurden und keinen industriellen oder gewerblichen Charakter haben, [.  .  .] Mitglieder werden, sofern ihre Tätigkeit hauptsächlich vom Staat, einer Gebietskörperschaft oder einer ähnlichen Einrichtung finanziert wird oder ihre Geschäftsführung der Kontrolle dieser Einrichtungen unterliegt oder die Hälfte der Mitglieder   Hervorhebungen hinzugefügt.   BVerfGE 1, 372. 143   So etwa Butzer/Haas (Fn.  92), Art.  59 Rn.  9 0; weitere Nachweise bei Niedobitek (Fn.  22), 222 f. 144  Vgl. Butzer/Haas (Fn.  92), Art.  59 Rn.  9 0. 145   Hierzu näher Niedobitek (Fn.  22), 223. 146  So Butzer/Haas (Fn.  92), Art.  59 Rn.  9 0; ähnlich Kempen (Fn.  94), Art.  59 Rn.  66. 147  Vgl. Niedobitek (Fn.  22), 222 f.; im Ergebnis ebenso etwa Pernice (Fn.  105), Art.  59 Rn.  34; Fastenrath DÖV 2008, 697, 699. 148  Zutreffend Fastenrath DÖV 2008, 697, 699. 149   Vgl. nur Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  71. 141

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ihrer Verwaltungs-, Geschäftsführungs- oder Aufsichtsorgane vom Staat, einer Gebietskörperschaft oder einer ähnlichen Einrichtung ernannt werden.“ Dies bedeutet, dass auch formal privatisierte staatliche oder kommunale Unternehmen Mitglieder eines VEZ werden können. Indessen genießen solchermaßen privatisierte Betriebe in Deutschland nach h. M. keinen Grundrechtsschutz.150 Insofern erscheint der Vorbehalt des Gesetzes somit nicht als tauglicher Ansatzpunkt für ein mögliches Erfordernis eines Zustimmungsgesetzes. Allerdings dürfte eine gesetzliche Regelung (der Länder) unabhängig von einer konkreten grundrechtlichen Gefährdungslage wohl schon aufgrund des institutionellen Gesetzesvorbehalts erforderlich sein.151 Sofern (2) Bund oder Länder sich davon überzeugt haben sollten, dass sich die innerstaatliche Gesetzeslage bereits im Einklang mit Protokoll Nr.  3 befindet, wäre nach h. L. dennoch ein Zustimmungsgesetz – des Bundes oder der Länder – erforderlich gewesen, da die Gesetzeslage insoweit dauerhaft „zementiert“ würde, genauer: völkerrechtlich die Pflicht bestünde, die innerstaatliche Gesetzeslage insoweit aufrechtzuerhalten.152 Was schließlich (3) das für ein Zustimmungsgesetz u. a. vorausgesetzte Erfordernis einer Änderung der innerstaatlichen Rechtslage angeht, kommt wieder der Kreis möglicher Mitglieder des VEZ in den Blick. Art.  3 Abs.  1 Protokoll Nr.  3 gewährt den dort genannten Körperschaften das Recht, Mitglieder eines VEZ zu werden. Hierzu zählen die bereits erwähnten formell privatisierten Betriebe, aber auch öffentlich-rechtliche Körperschaften wie – beispielsweise – die Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur für Arbeit wurde durch das Sozialgesetzbuch III errichtet (vgl. §§  367 ff. SGB III), mithin durch ein (Bundes-)Gesetz. Ihre grenzüberschreitenden Handlungsbefugnisse bedürfen daher ebenfalls einer bundesgesetzlichen Regelung. Dasselbe gilt für entsprechende Körperschaften der Länder. Im Übrigen dürfte das Schwergewicht der Umsetzungsverantwortung bezüglich Protokoll Nr.  3 (wie es auch beim EVTZ der Fall war) bei den Ländern liegen, denen die in Art.  3 angesprochenen Gebietskörperschaften angehören. Auch die Länder selbst können als „Gebietskörperschaften einer Vertragspartei“ Mitglied eines VEZ werden.153 Im Ergebnis spricht bereits bei einer allgemeinen Betrachtung vieles dafür, dass Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen als Gesetzgebungsvertrag der gesetzlichen Zustimmung sowohl des Bundes als auch der Länder bedurft hätte. Das Protokoll ist jedenfalls keineswegs auf Verwaltungsinterna beschränkt, die sich durch Verwaltungsvorschriften regeln lassen, sondern berührt auch die Rechtssphären verwaltungsexterner Körperschaften (des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts). 150   Vgl. nur Sachs (Fn.  132), Art.  19 Rn.  110; Graf Vitzthum, Der funktionale Anwendungsbereich der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  II, 2006, §  48 Rn.  53 f.; insofern zweifelnd – und differenzierend – Enders, in: Epping/Hillgruber (Hg.), GG – Beck’scher Online-Kommentar (http://beck-online.beck.de), Art.  19 Rn.  48. 151  Vgl. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band. 2, 6.  Aufl., 2010, Art.  20 Rn.  283 f.; ferner Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl, 2011, §  6 Rn.  30. 152  Vgl. Rauschning (Fn.  95), Art.  59 Rn.  76. 153   Zur analogen Interpretation des Madrider Rahmenübereinkommens, des Zusatzprotokolls und von Protokoll Nr.  2 vgl. Niedobitek (Fn.  23), S.  24 f.

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3.  Die innerstaatliche Bedeutung einzelner Merkmale von EVTZ und VEZ a)  Der Gründungvertrag Sowohl der EVTZ als auch der VEZ werden durch einen Vertrag zwischen seinen Mitgliedern errichtet. Art.  8 EVTZ-Verordnung bestimmt, dass der EVTZ „einer Übereinkunft [unterliegt], die seine Mitglieder nach Artikel 4 einstimmig schließen“. Etwas deutlicher, bestimmt Protokoll Nr.  3, dass der Verbund „durch eine schriftliche Vereinbarung zwischen seinen Gründungsmitgliedern errichtet“ wird. In beiden Fällen kann kein Zweifel daran bestehen, dass Übereinkunft und Vereinbarung rechtsverbindlichen Charakter haben, d. h. ein „Vertrag“ sein sollen. EVTZ und VEZ erhalten auch eine Satzung, wobei nur im Fall des VEZ das Verhältnis zwischen der Satzung und der Vereinbarung klar geregelt ist, indem Art.  5 Abs.  1 Protokoll Nr.  3 die Satzung des Verbunds zum „Bestandteil der zu seiner Errichtung geschlossenen Vereinbarung“ erklärt. Weder die EVTZ-Verordnung noch Protokoll Nr.  3 äußern sich zur rechtlichen Verortung des Gründungsvertrages. Im Fall der EVTZ-Verordnung ist dies zu verschmerzen. Als unmittelbar geltender Rechtsakt des Unionsrechts bildet die EVTZ-Verordnung zweifellos selbst die Grundlage des Gründungsvertrages. Mithin handelt es sich um einen unionsrechtlichen Vertrag. Eine Einordnung dieses Vertrags als „öffentlich-rechtlich“ oder „privatrechtlich“ berührt die Einordnung als unionsrechtlichen Vertrag nicht grundsätzlich, sondern dient lediglich dazu, die ggf. ergänzend heranzuziehenden nationalen Bestimmungen zu konkretisieren. Schwieriger ist die Lage im Hinblick auf Protokoll Nr.  3. Eine „supranationale“ Rechtsordnung kann hier nicht als Klammer dienen, die die Vertragsparteien verbindet. Vielmehr bedarf Protokoll Nr.  3 einer Verankerung in den nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien. Der VEZ-Gründungsvertrag trägt damit zwangsläufig einen nationalrechtlichen Charakter, wobei Protokoll Nr.  3 der Rechtsordnung des Sitzes des Verbunds eine dominante Rolle zuweist.154 Zur Frage, ob der Vertrag zur Gründung eines VEZ öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur ist, äußert sich Protokoll Nr.  3 nicht. Zieht man die potenziellen Mitglieder und die Aufgaben eines VEZ in Betracht, so kommen beide Möglichkeiten in Betracht. Die Aufgaben eines VEZ, insbesondere der explizite Ausschluss hoheitlicher Befugnisse, sprechen für die Möglichkeit eines öffentlich-rechtlichen Vertrags, während die in der – wenigstens im deutschen Recht bestehenden – sog. „Rechtsformenwahlfreiheit“ der Verwaltung155 begründete Möglichkeit, privatrechtliche Verträge zu schließen, auch den privatrechtlichen Vertrag als Option erscheinen lässt. Beide Optionen werden bestätigt durch den „Explanatory Report“ zu Protokoll Nr.  3,156 der im Kontext von Art.  4 („Errichtung des Verbunds“) die Möglichkeit von „agreements setting up public law entities“ und „agreements setting up private law entities“ thematisiert. Soweit es allerdings um den Abschluss eines grenz  Vgl. nur Art.  2 Abs.  1 Protokoll Nr.  3.   Vgl. nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18.  Aufl., 2011, §  3 Rn.  25 ff.; für einen Überblick über die Handlungsformen der Verwaltung vgl. Remmert, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14.  Aufl., 2010, §  17 Rn.  4. 156   Vgl. Fn.  56. 154 155

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überschreitenden öffentlich-rechtlichen Vertrags geht, bedarf es einer expliziten Verleihung des ius contrahendi an die potenziellen deutschen Mitglieder eines VEZ und einer korrespondierenden Öffnung der deutschen Rechtsordnung für die Vertragsfähigkeit ausländischer Körperschaften des öffentlichen Rechts.157 Eine solche Öffnung ist jedoch, was Protokoll Nr.  3 angeht, in Ermangelung entsprechender außenwirksamer Regelungen (Gesetz, Rechtsverordnung) bislang noch nicht erfolgt.

b)  Die Rechtspersönlichkeit von EVTZ und VEZ Sowohl der EVTZ als auch der VEZ besitzen gemäß ihren Rechtsgrundlagen Rechtspersönlichkeit. Für den EVTZ ist dies allgemein in Art.  1 Abs.  3 geregelt, wobei Abs.  4 – analog Art.  335 AEUV betreffend die Europäische Union – dies dahin konkretisiert, dass der EVTZ in jedem Mitgliedstaat über die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit verfügt, die im innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats juristischen Personen zuerkannt wird. Ähnlich wie beim EVTZ-Gründungsvertrag (vgl. IV.3.a.) verhält sich die EVTZ-Verordnung nicht zu der Frage, ob es sich beim EVTZ um eine juristische Person des Unionsrechts oder des nationalen Rechts handelt. Die herrschende Ansicht in der Literatur158 geht jedoch zu Recht davon aus, dass ein EVTZ über eine unionsrechtliche Rechtspersönlichkeit verfügt.159 Zunächst ist nicht ersichtlich, dass der EVTZ-Verordnung die Zuordnung der Rechtspersönlichkeit des EVTZ „gleichgültig“ wäre.160 Art.  1 Abs.  3 EVTZ-Verordnung regelt die Rechtspersönlichkeit unmittelbar, er enthält kein „Wahlrecht“ – weder der Mitgliedstaaten noch gar der potenziellen EVTZ-Mitglieder – hinsichtlich der Rechtsordnung, der die Rechtspersönlichkeit des EVTZ untersteht.161 Gegen eine nationalrechtliche Verankerung der Rechtspersönlichkeit spricht eigentlich alles, abgesehen vielleicht von Art.  5 Abs.  1 EVTZ-Verordnung, wonach der Erwerb der Rechtspersönlichkeit mit Registrierung bzw. Veröffentlichung der Satzung gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des Sitzstaates eintritt.162 Jedoch tangiert die Verweisung auf das nationale Recht nicht die unionsrechtliche Natur des EVTZ. Insofern gelten auch hier die Ausführungen, die der EuGH in der Rs. C-436/03 zur SCE gemacht hat:163 Der EVTZ unterliegt gemäß Art.  2 Abs.  1 lit.  a) in erster Linie

157  Näher Niedobitek (Fn.  22), 412 ff. Der „Explanatory Report“ zu Protokoll Nr.  3 (Fn.  56), Kommentar zu Art.  1, greift zu kurz, wenn er aus Art.  1 Abs.  2 Protokoll Nr.  3 schließt, „that no additional agreement-making powers are conferred on local or regional communities or authorites under this Protocol“. Vielmehr wird in Art.  1 Protokoll Nr.  3 vorausgesetzt, dass die angesprochenen Körperschaften über die erforderliche Vertragsfähigkeit verfügen. Eine vollständige Verneinung der Vertragsfähigkeit dürfte danach unzulässig sein. 158   Vgl. nur Obwexer/Happacher EJM 3 (2010), 75, 96; Obwexer (Fn.  80), 51 f.; Engl/Woelk (Fn.  50), 43; Bußjäger (Fn.  76), 530–533; EVTZ-Studie (Fn.  19), 94–96. 159   A. A. Pechstein/Deja (Fn.  82), 363–365. 160   So jedoch Pechstein/Deja (Fn.  82), 364. 161   Vgl. ebd. 162   Hierauf weist auch die EVTZ-Studie (Fn.  19), 94, hin, um entsprechende Zweifel zu begründen. 163   EuGH, 02.  05. 2006, Rs. C-436/03 (Europäisches Parlament/Rat), Rn.  41.

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den Bestimmungen der EVTZ-Verordnung und nur hilfsweise dem nationalen Recht. Die unionsrechtliche Natur der Rechtspersönlichkeit wird auch, und vor allem, bestätigt durch die Begründung im ursprünglichen EVGZ-Vorschlag der Kommission, wonach „es notwendig [ist], ein Instrument der Zusammenarbeit auf gemeinschaftlicher Ebene einzuführen“, um „die Hindernisse zu überwinden, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit beeinträchtigen“.164 Es ist kein Zufall, dass die Kommission das Rechtsinstrument der Verordnung vorgeschlagen hat – und dass dieses Rechtsinstrument von Rat und Europäischem Parlament akzeptiert wurde –, obwohl sie im Rahmen von Art.  159 Abs.  3 EGV (jetzt: Art.  175 Abs.  3 AEUV) auch eine Richtlinie hätte vorschlagen können.165 Schließlich spricht auch die erwähnte Analogie zu Art.  335 AEUV, d. h. die Parallele zur Rechtspersönlichkeit der Union, für eine unionsrechtliche Rechtspersönlichkeit des EVTZ.166 Die Rechtspersönlichkeit des EVTZ ist daher, genau wie die Rechtspersönlichkeit der Union, in allen ihren Aspekten einheitlich und ungeteilt.167 Der EVTZ verfügt mithin nicht über eine unionsrechtliche und zusätzlich über eine mit der Zahl der Mitgliedstaaten multiplizierte Zahl unterschiedlicher Rechtspersönlichkeiten,168 sondern nur über eine einzige – unionsrechtliche – Rechtspersönlichkeit, der kraft Unionsrechts (Art.  1 Abs.  4 EVTZ-Verordnung) die Fähigkeit zukommt, „in jedem Mitgliedstaat“ Rechte zu begründen oder auszuüben bzw. Pflichten einzugehen. Sollte die EVTZ-Verordnung noch Zweifel hinsichtlich der rechtlichen Verortung der Rechtspersönlichkeit des EVTZ geweckt haben, sind entsprechende Zweifel beim VEZ weniger wahrscheinlich, da sich Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen zu diesem Punkt ausführlicher äußert und zudem als Rechtsgrundlage keine „supranationalen Ambitionen“ hat. Anders als die EVTZ-Verordnung stellt Art.  2 Abs.  1 Protokoll Nr.  3 die Rechtspersönlichkeit des VEZ nicht einfach unkommentiert in den rechtlichen Raum, sondern bestimmt, dass diese dem Recht der Vertragspartei unterliegt, die Mitgliedstaat des Europarats ist, in dem der VEZ seinen Sitz hat (englisch: „governed by the law of the Party, Council of Europe member State, in which it has its headquarters“). Art.  2 Abs.  3 Protokoll Nr.  3 bestätigt die Rolle des nationalen Rechts für die (konstitutive) Verleihung der Rechtspersönlichkeit des VEZ, indem er das auf den „für den Verbund gewählten Körperschaftstyp anzuwendende Recht“ zum Gegenstand der Gründungsvereinbarung macht. Lediglich Art.  2 Abs.  2 Protokoll Nr.  3 passt nicht recht in dieses Bild, da er eine Art.  1 Abs.  3 EVTZ-Verordnung vergleichbare – an eine internationale Rechtspersön  KOM(2004) 496, 2 (Hervorhebung hinzugefügt).  Zutreffend Rossi, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hg.), Europäisches Unionsrecht – Handkommentar, 2012, Art.  175 AEUV Rn.  7. 166   In diesem Sinn auch Obwexer (Fn.  80), 51. 167   Zu Recht weisen Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 10.  Aufl., 2013, §  3 Rn.  49, darauf hin, dass die Rechtspersönlichkeit der Union „eine externe und eine Dimension“ aufweist, mithin ungeteilt ist. 168   Unklar in diesem Punkt Palermo, Schlussbemerkungen: grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Entwicklung des integrierten Rechtsraumes in Europa, in: Bußjäger/Gamper/Happacher/ Woelk (Hg.), Der Europäische Verbund territorialer Zusammenarbeit (EVTZ): Neue Chancen für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, 2011, 117, 119. 164 165

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lichkeit erinnernde169 – Formulierung enthält, wonach der VEZ „die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die nach dem innerstaatlichen Recht des betreffenden Staates juristischen Personen zuerkannt wird“, besitzt. Der „Explanatory Report“ zu Protokoll Nr.  3 deutet diese Formulierung allerdings einschränkend dahin, dass es auf den Umfang der Rechtsfähigkeit des konkret gewählten Körperschaftstyps ankommt.170 Im Ergebnis steht fest, dass die Rechtspersönlichkeit des EVTZ dem Unionsrecht unterliegt, während Protokoll Nr.  3 – in Ermangelung einer übergeordneten Rechtsordnung (das Völkerrecht selbst steht nicht zur Debatte) – auf eine nationalrechtliche Verortung der Rechtspersönlichkeit des VEZ zielt und angewiesen ist. Wenn in der Literatur ferner die Frage nach der spezifischen Rechtsnatur der Rechtspersönlichkeit – als öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich – aufgeworfen wird,171 erscheint dies vielfach als missverständlich, da der Anschein erweckt wird, es handele sich hierbei um eine von der rechtlichen Verankerung der Rechtspersönlichkeit getrennt zu betrachtende Frage. Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht hat jedoch keinen apriorischen Charakter,172 sondern bezieht sich stets auf eine konkrete Rechtsordnung, wobei sich die Zuordnung eines Vertrages zum öffentlichen Recht oder zum Privatrecht von Staat zu Staat unterscheiden kann.173 Allerdings kann die unionsrechtliche Rechtspersönlichkeit des EVTZ im Einzelfall unterschiedlichen nationalen Regimes – öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen – unterworfen sein. Jedoch lässt die EVTZ-Verordnung nicht erkennen, dass die EU-Mitgliedstaaten in diesem Punkt insofern über eine Definitionsprärogative verfügen und aus ihrer jeweiligen Sicht die Rechtsnatur eines EVTZ festlegen könnten.174 Somit zählt die Bestimmung der Rechtsnatur des EVTZ nicht zu den in Art.  16 EVTZ-Verordnung genannten „erforderlichen Vorkehrungen für eine wirksame Anwendung dieser Verordnung“.

 Vgl. Schermers/Blokker, International Institutional Law, 5th ed., 2011, §  1599.   Demgegenüber wird die entsprechende Formulierung in Art.  335 AEUV, was die Union angeht, dahin interpretiert, dass die Union über „die Summe aller Elemente der Rechtspersönlichkeit [verfügt], die in der jeweiligen Rechtsordnung bekannt sind (Summation)“; so etwa Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 4.  Aufl., 2011, Art.  335 AEUV Rn.  2 . 171   Vgl. nur die EVTZ-Studie (Fn.  19), 97 ff.; Pechstein/Deja (Fn.  82), 365. 172   A. A. offensichtlich Pechstein/Deja (Fn.  82), 365. 173  Vgl. Niedobitek, Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, in: Magiera/Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, 1994, 11, 19 f. 174   Für eine Wahlmöglichkeit (bzw. Maßgeblichkeit) der nationalen Rechtsordnung offenbar die EVTZ-Studie (Fn.  19), S.  97: „.  .  . möglich, dass ein EVTZ – sofern die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften dies gestatten – entweder eine Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechts oder eine Rechtspersönlichkeit des privaten Rechts haben kann“ (Hervorhebung hinzugefügt); ähnlich Spinaci/Vara-Arribas EIPASCOPE 2009/2, 5, 6; zu Recht zweifelnd insoweit Pechstein/Deja (Fn.  82), 364, 368, in Bezug auf die polnische Regelung, wonach es sich bei einem EVTZ zwingend um einen privatrechtlichen Verein handelt. 169 170

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c)  Verweisung auf das nationale Recht – Einordnung von EVTZ-Übereinkunft und -Satzung Sowohl die EVTZ-Verordnung als auch Protokoll Nr.  3 enthaltenen neben eigenen Regelungen zahlreiche Verweisungen auf nationales Recht.175 Dies soll hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Vielmehr geht es lediglich um die Frage, welche rechtliche Bedeutung die Verweisung hat. Im Fall des klassisch völkerrechtlich konstruierten VEZ liegt der Fall vergleichsweise einfach. Nach Transformation der Regelungen von Protokoll Nr.  3 in das nationale Recht der Vertragsstaaten erscheinen dessen Verweisungen als kollisionsrechtliche Verweisungen176 (nicht als materiellrechtliche Verweisungen = Inkorporation177) des nationalen Rechts auf das nationale Recht anderer Staaten. Dies gilt insbesondere für die Beilegung von Streitigkeiten, für die Art.  10 Protokoll Nr.  3 eine differenzierte Regelung vorsieht. Im Fall des EVTZ könnte jedoch überlegt werden, ob die in Bezug genommenen Regelungen des nationalen Rechts (vgl. insb. Art.  2 Abs.  1 lit.  c) und Art.  2 Abs.  1 UAbs.  2 EVTZ-Verordnung) selbst als Unionsrecht zu betrachten ist, da ihre Anwendung vom Unionsrecht selbst angeordnet wurde. Dieselbe Frage stellt sich – sogar noch drängender – im Hinblick auf die Bestimmungen der Übereinkunft und der Satzung eines EVTZ, die gemäß Art.  2 Abs.  1 lit.  b) EVTZ-Verordnung mit Vorrang vor nationalem Recht anzuwenden sind.178 Als Unionsrecht könnten das in Bezug genommene nationale Recht bzw. die Übereinkunft und die Satzung eines EVTZ nur dann betrachtet werden, wenn die EVTZ-Verordnung sowohl jede Übereinkunft und Satzung eines EVTZ als auch das gesamte in Bezug genommene nationale Recht (antizipatorisch) inkorporiert hätte. Die Folge wäre, dass jede EVTZ-relevante Frage der Auslegung des anwendbaren nationalen Rechts bzw. jede Auslegung einer EVTZ-Übereinkunft oder -Satzung letztlich als Auslegung der EVTZ-Verordnung zu gelten hätte und der Zuständigkeit des EuGH gemäß Art.  267 AEUV zum Erlass von Vorabentscheidungen unterworfen wäre. Die Frage stellen heißt sie verneinen. Es erscheint allein sinnvoll, die Tätigkeiten der an einer EVTZ-Gründung beteiligten Körperschaften als gegenüber den EU-Organen selbständig zu betrachten und diese Tätigkeiten nicht den EU-Organen (als sekundäres Unionsrecht) zuzurechnen. Dies bedeutet, dass die Gründung eines EVTZ, mag sie auch unionsrechtlich determiniert sein, nicht als Akt des sekundären Unionsrechts betrachtet werden kann.179 Obwohl die Verweisungen auf nationales Recht in der EVTZ-Verordnung und in Protokoll Nr.  3 im inhaltlichen Detail Unterschiede aufweisen,180 bestehen beim 175   Überblick über die Verweisungen in Protokoll Nr.  3 im „Explanatory Report“ (Fn.  56), Kommentar zu Art.  2 . 176  Hierzu Niedobitek (Fn.  22), 349 ff. 177  Hierzu vgl. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, 304 f. 178   Hierzu vgl. Pechstein/Deja (Rn.  82), 364, 370; EVTZ-Studie (Fn.  19), 61. 179   Zur Problematik vgl. auch die EVTZ-Studie (Fn.  19), 153 f. 180   Vgl. hierzu Dok. LR-IC(2011)4 (Fn.  46); Dok. LR-IC(2010)13 (Fn.  47).

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grundsätzlichen Mechanismus somit keine Unterschiede: Beide Rechtsinstrumente enthalten Regelungen für eine kollisionsrechtliche Verweisung auf das nationale Recht der Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten.

V.  Das rechtliche Verhältnis zwischen EVTZ und VEZ Wie bereits unter oben (III.2.) erwähnt, sah sich der Europarat nach Erlass der EVTZ-Verordnung gezwungen, jede Lösung zu vermeiden, „that was incompatible with the EGTC Regulation as introduced by the European Union“.181 Selbst hinsichtlich des (geplanten) Anhangs mit nur fakultativen Bestimmungen über den VEZ betont die Expertengruppe des Europarates, dass diese Bestimmungen „will not be in contradiction with those of Regulation No.  1082/2006“.182 Allerdings wird für das Bestreben, um jeden Preis einen Widerspruch zur EVTZ-Verordnung zu vermeiden, keine Begründung gegeben. Dabei leuchtet es im Ausgangspunkt ein, wenn der Europarat davon ausgeht, dass er sich mit den in seinem Rahmen ausgearbeiteten Verträgen nicht in Widerspruch zum Unionsrecht, zumal zu einer unmittelbar geltenden Verordnung, setzten darf, da andernfalls denjenigen Mitgliedstaaten des Europarates, die zugleich EU-Mitgliedstaaten sind, eine Ratifikation unmöglich wäre. Soweit nämlich die Union ihre Kompetenzen ausgeübt hat, etwa durch den Erlass einer Verordnung, ist es den Mitgliedstaaten grundsätzlich verwehrt, von ihrer völkerrechtlichen Vertragsschlusskompetenz Gebrauch zu machen.183 Allerdings wurde bereits darauf hingewiesen, dass die EVTZ-Verordnung unter mehreren Aspekten eine untypische Verordnung ist (vgl. oben, IV.1.a.). Zwar stellt sie ein in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unmittelbar geltendes Kooperationsinstrument bereit – als Rechtsinstrument ist der EVTZ somit nicht fakultativ –, jedoch ist die Gründung eines EVTZ im konkreten Einzelfall fakultativ, worauf ebenfalls bereits hingewiesen wurde. Die EVTZ-Verordnung betont im fünften Erwägungsgrund ausdrücklich, dass sie nicht das Ziel verfolgt, den Besitzstand des Europarates bzw. die dadurch begründeten Rahmenstrukturen „zu umgehen oder eine Reihe spezieller gemeinsamer Vorschriften für eine einheitliche gemeinschaftsweite Regelung aller betreffenden Vereinbarungen vorzugeben“. In der „EVTZ-Studie“ wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es keinen Konflikt mit der EVTZ-Verordnung bedeutet, im nationalen Recht eine andere Rechtsform für die territoriale Zusammenarbeit als den EVTZ vorzusehen. Auch der „Explanatory Report“ zu Protokoll Nr.  3 bestätigt, dass „[t]he two bodies [EVTZ und VEZ; M. N.] do not exclude each other“.184 Daher haben die Unionsorgane mit der Annahme der EVTZ-Verordnung zwar ihre Rechtsetzungsbefugnis gemäß Art.  175 Abs.  3 AEUV ausgeübt, dies jedoch nicht im Sinne einer geteilten Zuständigkeit, wonach die Mitgliedstaaten in dem Bereich nicht mehr tätig werden dürften, sondern im   Dok. LR-IC(2010)13 (Fn.  47), 4.   Dok. LR-IC(2010)13 (Fn.  47), 25. 183   Vgl. nur Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 4.  Aufl., 2011, Art.  216 AEUV Rn.  22; Bieber/Epiney/Haag (Fn.  167), §  6 Rn.  45. 184   „Explanatory Report“ (Fn.  56), Kommentar unter „General Remarks“, „The third protocol“. 181

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Sinne einer parallelen Zuständigkeit, die weiterhin Raum für ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten lässt.185 Somit ist das Verhältnis zwischen EVTZ und VEZ tatsächlich „außerordentlich einfach“:186 Beide Rechtsinstrumente stehen ihren jeweiligen Adressaten als Alternativen – man könnte auch sagen: „konkurrierend“187 – zur Verfügung, sie schließen sich nicht gegenseitig aus, es ist auch nicht erforderlich, eine „Interaktion zwischen den Rechtsvorschriften vorzusehen, die aus diesen unterschiedlichen Instrumenten hervorgehen“.188 Daraus folgt, dass die Experten des Europarates im Hinblick auf eine mögliche Kollision mit der EVTZ-Verordnung unnötig vorsichtig und zurückhaltend waren und durchaus ein Instrument hätten vorschlagen können, das – wie ursprünglich geplant – wesentlich detaillierter als die doch sehr spärlich normierte EVTZ-Verordnung (und als Protokoll Nr.  3 ) ausgefallen wäre.

VI. Ergebnis Auch wenn sich die Europäische Union und der Europarat zum Teil auf ähnlichen Politikfeldern bewegen, kann von einer echten „Konkurrenz“ – auch auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit – nicht die Rede sein, obwohl der Europarat, bzw. dessen Experten, zuweilen erkennbar bemüht sind, die Vorteile der Rechtsinstrumente des Europarates herauszustreichen und diese in ein günstiges Licht zu rücken.189 Das Unionsrecht als eine die mitgliedstaatlichen Rechtssubjekte verklammernde Rechtsordnung erlaubt unproblematisch sowohl den grenzüberschreitenden Vertragsschluss als auch die Schaffung „supranationaler“ juristischer Personen mit einer grundsätzlich einheitlichen, jedoch durch das nationale Recht ergänzten rechtlichen Gestalt. Damit bildet das Unionsrecht gegenwärtig die ideale Lösung für das rechtliche Hauptproblem der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, wie es oben (II.) beschrieben wurde. Dass die Instrumente des Europarates nicht über dieselbe rechtliche Durchschlagskraft wie das Unionsrecht verfügen, ist dem Europarat nicht anzulasten. Der bedeutend größere und heterogenere Mitgliederkreis steht bis auf weiteres einer stärkeren Integration nach dem Vorbild der Union entgegen. Bezogen auf seine breiten Aufgaben und seine inhomogene Mitgliederstruktur erfüllt der Europarat jedoch eine andersgeartete wichtige Aufgabe bei der Erkundung neuer Kooperationsfelder im gesamteuropäischen Rahmen und bei der Entwicklung von Modellinstrumenten in den verschiedensten Bereichen. Bei der Formulierung von Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen hat sich der Europarat leider unter Zugzwang setzen lassen und eine möglichst starke Angleichung an die EVTZ-Verordnung für erforderlich gehalten, anstatt – wie in den ersten Entwürfen – ein in sich abgeschlos Vgl. Schmalenbach (Fn.  183), Art.  216 AEUV Rn.  21.   EVTZ-Studie (Fn.  19), 170. 187   EVTZ-Studie (Fn.  19), 171; vgl. auch Jaeckel (Fn.  57), 100. 188   EVTZ-Studie (Fn.  19), 171. 189   Für Protokoll Nr.  3 zum Madrider Rahmenübereinkommen vgl. Dok. LR-IC(2011)4 (Fn.  46), 39–41; Dok. LR-IC(2010)13 (Fn.  47), 23–25. 185

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senes Kooperationsinstrument zu entwerfen und hierdurch möglicherweise der Europäischen Union Impulse zu geben. Das insgesamt „weichere“ Steuerungspotenzial des Europarates ist mehr als das Unionsrecht auf inhaltliche Überzeugungs- denn auch rechtliche Durchsetzungskraft ausgerichtet. Somit können sich die rechtlichen Potenziale beider Organisationen, oft zeitlich gestuft (wie das Beispiel der grenz­ überschreitenden Zusammenarbeit gezeigt hat), ergänzen, ohne in Konkurrenz zueinander treten zu müssen.

Wechselwirkungen im Wissenschaftsurheberrecht von

Rolf Schwartmann1 und Christian-Henner Hentsch2, Köln I. Einleitung Urheberrechtsnovellen werden seit 10 Jahren in Körben gezählt und die ersten beiden Körbe haben wesentliche Änderungen herbeigeführt. Mit dem ersten Korb wurde 20033 die EU-Urheberrechtsrichtlinie4 umgesetzt, die vor allem das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung, das so genannte Internetrecht, einführte. Dies war der Auftakt für die Digitalisierung des Urhebergesetzes. Der zweite Korb regelte 2007 die „left overs“, die übriggebliebenen Fragen des ersten Korbes.5 Darin wurde zugunsten der Wissenschaft eine Ausnahme geschaffen, die es öffentlichen Bibliotheken, Museen und Archiven erlaubt, ihre Bestände an elektronischen Leseplätzen zu zeigen. Außerdem dürfen seither Bibliotheken auf gesetzlicher Basis Kopien von urheberrechtlich geschützten Werken auf Bestellung anfertigen und per E-Mail versenden. Daneben gab es auch Konkretisierungen hinsichtlich der Privatkopie und neue Regeln für deren Vergütung. Auch beim zweiten Korb wurden nicht alle Fragestellungen abgearbeitet und mit einem Fragenkatalog wurde vom Bundesministerium der Justiz Mitte 2009 weiterer Handlungsbedarf abgefragt. Dies sollte die Vorbereitung für einen dritten Korb in dieser 17. Wahlperiode werden und dieser hätte – falls die Pläne umgesetzt worden wären – dieses Jahrbuch ganz allein füllen können. Es kam anders. Begleitet von der Enquete Kommission „Internet und Digitale Gesellschaft“ war die Urheberrechtsnovelle in den Jahren 2009 bis 2013 mehr als ihre Vorgänger mit der fortgeschrittenen Digitalisierung und deren Rahmenbedingungen konfrontiert. Anfang 2012 sprach sich die Netzgemeinde gegen das internationale   Prof. Dr. iur. habil. Rolf Schwartmann ist Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften der Fachhochschule Köln. 2   Dr. iur. Christian-Henner Hentsch M. A. ist Professurvertreter an der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht und Leiter des Schwerpunktbereichs Urheberrecht. 3   BT- Drs. 15/38. 4   Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft. 5   BT-Drs. 16/1828. 1

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Urheberrechtsabkommen ACTA aus und die Bundesregierung stoppte darauf hin das bereits im Kabinett beschlossene Abkommen. Provider und Rechteinhaber konnten sich im Jahr 2012 nicht auf sanktionslose Warnhinweise zur Auf klärung der Nutzer einigen, die das Bundeswirtschaftsministerium durch eine Studie6 in den „Wirtschaftsdialog für mehr Kooperation bei der Bekämpfung der Internetpiraterie“ einbrachte. Es meldeten sich mehr und mehr Urheber zu Wort, um für ihre Rechte einzutreten, die im Netz in Zeiten von illegalen Plattformen für Inhalte jeder Art nicht geachtet werden. Im dritten Korb sollten weitere Ausnahmen für die Wissenschaft, die technologieneutrale Ausgestaltung der Kabelweitersendung, eine effektivere Rechtsdurchsetzung sowie das Leistungsschutzrecht für Presseverleger enthalten sein. Letzteres hatte der Gesetzgeber im Frühjahr 2013 aber ausgesondert und gegen massiven Widerstand eines Internetgiganten mit dem Slogan „Schütze Dein Netz“ verabschiedet. Noch zu Beginn dieses Jahres und kurz vor Ende der 17. Wahlperiode sah es so aus, als bliebe es dabei. Aber ganz am Schluss, als schon keiner mehr damit rechnete, gab es sie dann doch noch: eine kleine Reform des Urheberrechts, die sich allerdings keiner mehr Korb zu nennen traute. Sie betrifft das Wissenschaftsurheberrecht. Der Bundestag hat am 27. Juni 2013 das Gesetz zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und einer weiteren Änderung des Urheberrechtsgesetzes7 beschlossen und damit den Zugang zu kulturellen Schätzen erleichtert sowie ein verbindliches Recht zur Zweitveröffentlichung von Zeitschriftenbeiträgen geschaffen. Damit kam der Gesetzgeber den Forderungen der deutschen Wissenschaftsorganisationen nach. Dies wird aber wohl nur eine Zwischenetappe auf dem Weg zu einem neuen Wissenschaftsurheberrecht für die digitale Gesellschaft sein. Es geht darum, auch in der digitalen Wissensgesellschaft einen gerechten Ausgleich zu schaffen zwischen den Interessen von Urhebern wissenschaftlicher Werke, Wissenschaftsverlagen und den Wissenschaftlern, die diese Werke an Hochschulen und insbesondere in Bibliotheken nutzen. Diesen herzustellen ist nicht trivial. Das wäre es, wenn das Urheberrecht nur aus dem Satz „Der Urheber hat alle Rechte an seinem Werk“ bestünde. So einfach ist es aber nicht. Der Gesetzgeber hat nämlich zugunsten der Nutzer zahlreiche Ausnahmen, die sogenannten „Schranken des Urheberrechts“ eingezogen. Gerade für den Wissenschaftsbereich gibt es zahlreiche solcher Ausnahmen. Zum Schutz des Urhebers gegenüber dem so genannten Verwerter existiert außerdem das Urhebervertragsrecht, welches den Rahmen für die finanzielle Verwertung setzt.8 Diese Sonderregelungen des Urheberrechts sorgen für einen gesetzlich normierten Ausgleich zwischen allen Beteiligten in der Verwertungskette: den Urhebern, Verwertern und Nutzern. Im Wissenschaftsbereich sind vor allem Wissenschaftler und Wissenschaftsverlage, Hochschulbibliotheken und deren Nutzer vom Urheberrecht betroffen. In der aktuellen Urheberrechtsdiskussion streiten sich diese Gruppen um die Ausgestaltung des 6   Schwartmann, Vergleichende Studie über Modelle zur Versendung von Warnhinweisen durch Internet-Zugangsanbieter an Nutzer bei Urheberrechtsverletzungen, abruf bar unter: http://www.bmwi. de/DE/Mediathek/publikationen,did=474202.html. 7   BT-Drs. 17/13423; am 20. September 2013 muss dieses Gesetz noch vom Bundesrat bestätigt werden. 8   Loewenhein/Nordemann in Loewenheim, Handbuch des Urheberrechts, 2. Auflage 2010, §  24 Rn.  2 .

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Urheberrechts im digitalen Zeitalter und damit um die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Wissenschaft und Lehre im 21. Jahrhundert. Hochschulen müssen ihren Nutzern einen möglichst ungehinderten Zugang zu Wissen bieten. Ihre Etats können jedoch mit den Kosten für die Veröffentlichungen kaum mithalten. Damit entsteht neben dem Anspruch auf Zugang zum Wissen auch ein Kostendruck. Hier kollidieren daher innerhalb der Wissenschaften die Interessen an einem Schutz der geistigen Leistungen und einem möglichst ungehinderten Zugang zu diesem Wissen. Hochschulen müssen sich daher in ganz besonderem Maße mit diesem Spannungsfeld auseinandersetzen und sich im eigenen Interesse in die Debatte einbringen.

II.  Die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen der Urheberrechtsdebatte9 Unsere Verfassung schützt den Urheber und sein Werk auf zweierlei Arten. All jene Rechtsbeziehungen des Urhebers zu seinem Werk, die nicht materieller Natur sind, werden über das Urheberpersönlichkeitsrecht gem. Art.  2 Abs.  1 in Verbindung mit Art.  1 GG gesichert. Die wirtschaftliche Verwertung einer geistigen Leistung wird hingegen vom Schutzbereich des Art.  14 GG umfasst. Zusammen mit den gewerblichen Schutzrechten wie den Leistungsschutzrechten wird der vermögenswerte Teil des Urheberrechts vom Bundesverfassungsgericht als Geistiges Eigentum bezeichnet.10 Die materielle und die immaterielle Seite des Urheberrechts sind dabei vielfach miteinander verwoben und lassen sich kaum voneinander trennen.11

1.  Schutzbereich und Inhalt des Geistigen Eigentums nach Art.  14 GG Der Eigentumsbegriff des Art.  14 GG umfasst alle dem Einzelnen im Sinne eines Ausschließlichkeitsrechts zugeordneten vermögenswerten Positionen.12 Mit der Formulierung des Art.  14 ist das GG zwar nicht endgültig auf eine Wirtschaftsordnung festgelegt.13 Im Laufe der Jahre hat das Bundesverfassungsgericht diesen Artikel indes mit einer umfangreichen Rechtsprechung ausgefüllt und so dem Eigentumsrecht seine heutige Gestalt verliehen.14 Der verfassungsrechtliche Begriff orientiert sich   Die nachfolgenden Ausführungen sind eine Aktualisierung von Schwartmann/Hentsch, ZUM 2012, 760–764 sowie Schwartmann, Das Wissenschaftsurheberrecht in Zeiten der Digitalisierung in: „Die Wissenschaft von der Praxis denken“ Festschrift für Joachim Metzner, S.  154–170, 2013. Sie sind teil­weise wortgleich mit den dortigen Ausführungen. 10   Vgl. BVerfGE 78, 101. 11   Dreyer in HK-UrhR, 3.  Aufl. 2013, Vor §§  12, Rn.  8. 12   Vgl. BVerfGE 1, 264, 278; 58, 300, 335?f.; 70, 191, 199; 79, 174, 191; 95, 64, 82; 95, 267, 300; zusammenfassend BVerfGE 83, 201?ff. oder auch 89, 1, 6; Jarass/Pieroth, GG, 11.  Aufl. 2011, Art.  14 Rn.  6 f.; ausführlich zur Rechtsprechung des BVerfGE zum Begriff des Geistigen Eigentums: Grzeszick, Geistiges Eigentum und Art.  14, ZUM 2007, 344; Jänich, Geistiges Eigentum – Eine Komplementärerscheinung zum Sacheigentum?, 2002, S.  138 ff.; Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Gehalt des geistigen Eigentums, FS Zeitler, 1987, Bd.  2 , 1639, 1652 ff. 13   Vgl. BVerfGE 4, 7, 17 f. 14   Vgl. dazu Maunz, Das geistige Eigentum in verfassungsrechtlicher Sicht, GRUR 1973, 107 ff. 9

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danach an dem normativen Ideal des zivilrechtlichen Sacheigentums im Sinne von §  903 BGB. Entsprechend unterfallen vermögenswerte Rechte nur dann der Eigentumsgarantie, wenn sie „dem Berechtigten ebenso ausschließlich wie Eigentum an einer Sache zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung“ zugeordnet sind.15 In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seines wegweisenden Schulbuch-Beschlusses16 und fortan in ständiger Rechtsprechung17 entschieden, dass das Urheberrecht als (ausschließliches) Nutzungsrecht „Eigentum“ im Sinne des Art.  14 Abs.  1 Satz 1 GG darstellt. Das Grundrecht auf Eigentum gewährleiste dem Grundrechtsträger durch Zubilligung und Sicherung von Herrschafts-, Nutzungs- und Verfügungsrechten in Form eines Ausschließlichkeitsrechts einen vermögensrechtlichen Freiheitsraum. Damit werde ihm die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens ermöglicht und die Eigentumsfunktion erfüllt. Dem entsprechend unterfallen auch die vermögenswerten Rechte des Urhebers an seinem Werk dem Eigentumsbegriff des Art.  14 GG. Der Inhalt des Eigentumsbegriffs muss gem. Art.  14 Abs.  1 GG durch die Gesetze bestimmt werden. Es handelt sich also um ein normgeprägtes Grundrecht: Ohne Gesetz kein Eigentum.18 Alle Eigentumsrechte sind nicht nur Nutzungsrechte für den Rechteinhaber, sondern gleichzeitig auch Ausschluss- bzw. Monopolrechte gegenüber Dritten. Deswegen geht das BVerfG auch nicht von einem vorgegebenen „natürlichen Eigentum“ aus, sondern gesteht dem Gesetzgeber die ordnungspolitische Ausformung der Eigentumsordnung zu. Dabei enthält Art.  14 Abs.  1 S.  1 GG einerseits eine Grundentscheidung für das Eigentum, andererseits legen Art.  14 Abs.  1 S.  2 GG und Art.  14 Abs.  2 S.  2 GG den Gesetzgeber darauf fest, eine soziale Bindung des Eigentums zu beachten. Der Gesetzgeber muss insofern die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls zu einem gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis bringen.19 Auch im Bereich des geistigen Eigentums lässt das Verfassungsrecht dem Gesetzgeber einen erheblichen Spielraum.20 Ihm ist es jedoch verwehrt, solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung vorzuenthalten oder zu entziehen, die zum elementaren Bestand einer Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich gehören und ohne die vom Eigentum im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden könnte.21 Im Wege der Institutsgarantie22 muss dem Schöpfer eines Werkes daher zumindest das vermögenswerte Ergebnis seiner Tätigkeit durch einfachrechtliche Normen zugerechnet werden. Dies kann nur durch die Einräumung eines ausschließlichen Nutzungsrechts geschehen, über das der Rechte­inhaber grundsätzlich verfügen und das er vor allem auch wirtschaftlich verwerten können muss. Zudem unterliegt der inhaltliche Regelungsgehalt des Art.  14 GG einer Be  BVerfGE 78, 58, 71; 83, 201, 208.   BVerfGE 31, 229. 17   Zuletzt BVerfG mit Beschluss vom 30.  8. 2010 („Drucker & Plotter“), ZUM 2010, 874 ff.; ausführlich dazu Paulus/Wesche, Zeitschrift für Geistiges Eigentum 2010, 385 ff. 18   Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6.  Aufl. 2010, Art.  14, Rn.  30; vgl. auch Kant, in Kant’s Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Bd.  X IX, 1934, Ziff.  7665. 19   BVerfGE 87, 138. 20   BVerfGE 31, 229, 240 f.; 49, 382, 392 ff. 21   BVerfGE 20, 351, 355; 58, 300, 338 ff. 22  Vgl. Badura, Zur Lehre von der verfassungsrechtlichen Institutsgarantie des Eigentums, betrachtet am Beispiel des „Geistigen Eigentums“, FS Maunz, 1981, S.  1, 8 ff. 15 16

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standsgarantie. Hat der Gesetzgeber das Urheberrecht in bestimmter Weise ausgestaltet, darf er bereits entstandene Rechte nachträglich daher nur beschneiden, wenn es dafür sachliche Gründe gibt, die einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten.23 Genau betrachtet schützt Art.  14 GG nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater24, das dem Eigentümer „als Grundlage privater Initiative und in eigenverantwortlichem Interesse von Nutzen sein“ soll.25 Das BVerfG gestaltet das Eigentumsgrundrecht daher konsequent als Freiheitsgrundrecht aus. Geschützt wird vor allem die Handlungsfreiheit zum Eigentumserwerb als „geprägte Freiheit“26. Dies gilt insbesondere für den Eigentumserwerb aufgrund eigener Leistung27 und das Eigentum zur Existenzsicherung und als Risikovorsorge.28 Gerade das Urheberrecht als vermögensrechtliche Position aufgrund kreativer Leistungen unterfällt damit grundsätzlich auch dem besonderen Schutz der Verfassung. Dem Grundrechtsträger steht zur Verteidigung der zugestandenen Eigentumsgrundrechte ein subjektiv-öffentliches Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe zu29, damit er den Bestand der durch die Rechtsordnung anerkannten einzelnen Vermögensrechte gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt bewahren kann.30 Dem Gesetzgeber sind daher bei Eingriffen in das Freiheitsgrundrecht der Urheber im Rahmen der Inhalts- und Schrankenbestimmungen besonders enge Grenzen gesetzt.31

2.  Grundrecht auf Informations- und Wissenschaftsfreiheit Art.  5 GG enthält verschiedene Grundrechte, die mit dem in Art.  14 GG verfassungsrechtlich garantierten geistigen Eigentum in Widerstreit geraten können. Insbesondere die Informations- und Wissenschaftsfreiheit bieten im Rahmen des Wissenschaftsurheberrechts Konfliktpotenzial gegenüber den Ausschluss- und Mono­pol­ rechten der Urheber. Klar ist, dass wissenschaftliches Arbeiten ohne wissenschaftliche Literatur nicht möglich ist und eine wissensorientierte Gesellschaft ein entsprechend großes Interesse an einem freien und ungehinderten Zugang zum Wissen haben muss. Andererseits bedeutet frei natürlich nicht kostenfrei. Dieses Spannungsfeld muss also in besonderem Maße durch einen Interessenausgleich aufgelöst werden.

a)  Schutzbereich der Informationsfreiheit Art.  5 Abs.  1 S.  1 Hs.  2 GG garantiert das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Hierzu gehört auch das Interesse der Allge  BVerfGE 31, 275, 289 f., 294.   BVerfGE 61, 82, 108 f. 25   BVerfGE 52, 1, 30; 100, 226, 241. 26   BVerfGE 97, 350, 371. 27   BVerfGE 30, 292, 334; 50, 290, 340; 70, 191, 201; 95, 64, 84; 100, 226, 241. 28   BVerfGE 69, 272, 304; 72, 9, 21. 29   Vgl. BVerfGE 24, 367, 400; 31, 229, 239. 30   BVerfGE 72, 175, 195; 83, 201, 208. 31   Vgl. BVerfGE 50, 290, 340; 53, 257, 292. 23 24

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meinheit am Zugang zu Kulturgütern.32 Das Grundrecht der Informationsfreiheit ergänzt damit die Freiheit der Meinungsäußerung aus der Empfängerperspektive. Der Kommunikationsprozess, den Art.  5 Abs.  1 Hs.  1 GG im Interesse der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung schützen will, wäre nur unvollkommen erfasst, wenn die Informationsaufnahme von dem Schutz ausgenommen bliebe.33 Die Informationsfreiheit ist in Art.  5 Abs.  1 Hs.  2 GG umfassend gewährleistet. Dem Einzelnen soll so ermöglicht werden, sich seine Meinung auf Grund eines weitgestreuten Informationsmaterials zu bilden. Er soll bei der Auswahl des Materials keiner Beeinflussung durch den Staat unterliegen.34 Eine Einschränkung auf bestimmte Arten von Informationen lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen. Geschützt sind allerdings nur Informationen, die aus allgemein zugänglichen Quellen stammen. Allgemein zugänglich ist eine Informationsquelle, wenn sie geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, also einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen.35 Diese Eignung richtet sich allein nach den tatsächlichen Gegebenheiten. Rechtsnormen, die den Informationszugang regulieren, umgrenzen nicht den Schutzbereich der Informationsfreiheit, sondern sind als grundrechtsbeschränkende Normen an der Verfassung zu messen.36 Urheberrechtlich geschützte Werke sind regelmäßig nach ihrer Veröffentlichung gemäß §  12 UrhG auch allgemein zugänglich, weil das Werk dadurch in den kulturellen Kommunikationskreislauf eintritt.37 Aus der grundrechtlichen Gewährleistung der allgemeinen Zugänglichkeit lässt sich gerade kein Anspruch auf Eröffnung einer Informationsquelle für die Allgemeinheit herleiten.38 Das Bestimmungsrecht richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften; für Privatpersonen insbesondere nach denen des bürgerlichen Rechts, für den Staat vornehmlich nach denen des öffentlichen Rechts.39 Gerade zum Schutz der Freiheit von Forschung und Lehre gibt es trotz §  25 Abs.  2 Hs.  2 Hochschulrahmengesetz auch keine Publikationspflicht.40 Der Urheber entscheidet selbst, ob sein Werk veröffentlicht wird und damit allgemein zugänglich sein soll. Nur soweit er sein Werk für die Allgemeinheit bestimmt hat, verbietet das Grundrecht der Informationsfreiheit dem Staat, den Zugang zu diesem Werk zu behindern oder derart zu verteuern, dass Informationswillige von der Nutzung faktisch ausgeschlossen sind. Die Ausübung dieses Bestimmungsrechts durch den Urheber stellt für Dritte keine Beschränkung im Sinne des Art.  5 Abs.  2 GG dar.41 Entscheidet er sich gegen eine allgemeine Zugänglichmachung seines Werkes, fehlt es grundsätzlich bereits an einer Eröffnung des Schutzbereichs der Informationsfreiheit. Wenn die Informationsinteressen der Allgemeinheit überwiegen, kann jedoch auch eine Erstveröffentlichung   BT-Drs. 16/1828, S.  20.   BVerfGE 90, 27, 32 – Parabolantenne. 34   BVerfGE 27, 71, 84. 35   BVerfGE 27, 71, 83 ff. 36   BVerfGE 90, 27, 32 – Parabolantenne. 37   KG ZUM 2008, 329, 331. 38   BVerfGE 103, 44, 59. 39   BVerfGE 103, 44, 60. 40  Vgl. Pflüger/Ertmann, ZUM 2004, 436, 441. 41   BVerfGE 103, 44, 60. 32 33

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ohne die Zustimmung des Urhebers trotz Verletzung im Sinne des §  97 Abs.  1 UrhG gerechtfertigt sein.42 Dies spielt in der Wissenschaft vor allem bei historischen Recherchen wie z. B. der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit eine wichtige Rolle.43 Hierbei ist aber in besonderem Maße auch der Urheberpersönlichkeitsschutz zu berücksichtigen.

b)  Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit Art.  5 Abs.  3 S.  1 GG erklärt Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Der gemeinsame Oberbegriff „Wissenschaft“ bringt den engen Bezug von Forschung und Lehre zum Ausdruck. Forschung als die geistige Tätigkeit mit dem Ziel, in methodischer, systematischer und nachprüf barer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen44 bewirkt angesichts immer neuer Fragestellungen den Fortschritt der Wissenschaft. Zugleich ist die Forschung notwendige Voraussetzung, um den Charakter der Lehre als wissenschaftlich fundierte Übermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse zu gewährleisten. Andererseits befruchtet das in der Lehre stattfindende wissenschaftliche Gespräch wiederum die Forschungsarbeit.45 Die Zwecksetzung des Art.  5 Abs.  3 S.  1 GG besteht gerade nicht darin, eine bestimmte Auffassung von der Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie zu schützen. Seine Freiheitsgarantie erstreckt sich vielmehr auf jede wissenschaftliche Tätigkeit, also auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Das folgt unmittelbar aus der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeglichen wissenschaftlichen Bemühens. Diese Wertentscheidung beruht auf der Schlüsselfunktion, die einer freien Wissenschaft sowohl für die Selbstverwirklichung des einzelnen als auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zukommt.46 Das in Art.  5 Abs.  3 S.  1 GG enthaltene Freiheitsrecht schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe und steht jedem zu, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will.47 Wo der Staat Einrichtungen oder Systeme der Förderung und Leistung geschaffen hat, die den Grundrechtsgebrauch erleichtern oder erst ermöglichen, besteht jedoch nicht nur ein Abwehrrecht, sondern zugleich ein Recht des Einzelnen auf Teilhabe. So hat der Staat die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fördern. Das bedeutet, dass er funktionsfähige Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung zu stellen hat. Dem einzelnen Trä42   Vgl. KG ZUM 2008, 329 – Veröffentlichung bislang nicht erschienener, privater Briefe an einen Politiker. 43  Hierzu Dietz/Peukert in Schricker/Loewenheim, 4.  Aufl. 2010, §  12, Rn.  22; dazu aber auch jüngst das Urteil des EGMR vom 10. Januar 2013 im Fall „Ashby Donald u. a. gegen Frankreich“, wonach für eine Abwägung zwischen Urheberrecht und freier Meinungsäußerung auf die Kommerzialisierung abgestellt wird. 44   Bundesbericht Forschung III, BT-Drs. V/4335 S.  4. 45   BVerfGE 35, 79, 113. 46   BVerfGE 47, 327, 367 f. 47   BVerfGE 15, 256, 263.

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ger des Grundrechts aus Art.  5 Abs.  3 S.  1 GG erwächst also ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerlässlich sind. Das rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass einerseits die Beteiligung am öffentlichen Leistungsangebot notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit ist. Andererseits ist aber auch dem Allgemeininteresse an einem funktionierenden Wissenschaftsbetrieb gedient, wenn sich die wissenschaftlich tätige Einzelpersönlichkeit schöpferisch entfalten kann.48

3. Grundrechtskollisionen Grundsätzlich werden also Wissenschaftler in der Regel sowohl aus Art.  14 als auch aus Art.  5 GG geschützt; als Urheber von eigenen wissenschaftlichen Beiträgen und als Nutzer anderer wissenschaftlicher Beiträge. Als Nutzer haben alle Wissenschaftler ein großes Interesse an einem ungehinderten und möglichst kostengünstigen Zugang zu wissenschaftlicher Literatur. Allerdings ist festzustellen, dass manche wissenschaftliche Literatur wie zum Beispiel juristische Lehrbücher sich besser verkaufen lassen als zum Beispiel Festschriften in einer geisteswissenschaftlichen Spezialdisziplin. Auch Druckkostenzuschüsse oder andere Förderungen führen zu einer gewissen Marktverzerrung, so dass ein transparenter Preis sich kaum bilden kann. Daher ist die Vergütung für den Urheber kompliziert und beispielsweise bei Promotionen teilweise sogar ein Zuschussgeschäft. Daher ist das Interesse der Wissenschaftler an einem grundrechtlichen Eigentumsschutz oft sehr unterschiedlich ausgeprägt. Vom urheberrechtlichen Schutz sind allerdings nicht nur die Urheber, sondern auch die Verlage erfasst. Mit der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe eines Werkes auf eigene Rechnung (§  1 S.  1 VerlG) erfüllt auch der Verleger eine wichtige kulturvermittelnde und zugleich investitionsträchtige Aufgabe. Durch ihn wird die Eröffnung des Werkes für die Allgemeinheit in geregelte Strukturen gelenkt und in gewissen Grenzen49 einer Qualitätskontrolle unterzogen. Nur so kann ein bestimmtes Werk unter vielen gezielt aufgefunden und sodann zweckgerichtet genutzt werden. Erscheint ein Werk in mehreren Auflagen, erstrecken sich die Leistung der Neubearbeitung durch den Urheber und die vermittelnde Leistung des aktualisierten Werkgenusses durch den Verleger über einen nicht unerheblichen Zeitraum hinweg. Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe der Rechtsordnung, sowohl dem Urheber als auch dem Verleger zu ermöglichen, von jedem Nutzer des veröffentlichten und verbreiteten Werkes entweder unmittelbar oder mittelbar in Form von Lizenzkosten ein angemessenes Entgelt zu erlangen. Es liegt auf der Hand, dass jedes dem Urheber gewährte Monopol zugleich die Handlungsfreiheit der Nutzer, die an einem möglichst weitgefächerten wissenschaftlichen Gedankenaustausch interessiert sind, einschränkt. Eine zu weitgehende Monopolisierung von wissenschaftlicher Literatur widerspricht dem Interesse der Allgemeinheit an der Teilhabe an Wissenschaft und Kultur und behindert den wissenschaftlichen Fortschritt. Daher muss das aus Art.  14 GG resultierende Ausschlussrecht   BVerfGE 35, 79, 114 ff.   Vgl. BGH GRUR 1960, 642, 644 – Drogistenlexikon.

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des Urhebers insbesondere mit den Grundrechten der Informations- und Wissenschaftsfreiheit gemäß Art.  5 Abs.  1 S.  1 Hs.  2 und Abs.  3 S.  1 GG in Einklang gebracht und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden. Die Informationsfreiheit zielt insoweit auf den ungehinderten Zugang zu jedem veröffentlichten Werkinhalt ab, während sich die Wissenschaftsfreiheit vor allem auf die Verarbeitung dieser Informationen konzentriert. Das Zusammenspiel zwischen geistigem Eigentum und Wissenschaftsfreiheit stellt sich insoweit als weniger konfliktträchtig dar. Denn der Schutzbereich des Geistigen Eigentums endet im Interesse des Fortschritts der Wissenschaft dort, wo eine neue selbstständige Schöpfung im Sinne des §  24 Abs.  1 UrhG von dem ursprünglichen Werk derart weit entfernt ist, dass die Belange des Urhebers durch die Benutzung seines Werkes nicht mehr tangiert werden. Die meisten Konflikte mit dem Urheberrecht ergeben sich daher regelmäßig aus dem Zusammentreffen mit der Informationsfreiheit.

a)  Informationsfreiheit versus geistiges Eigentum Der durch Art.  14 GG gewährleistete Schutz des Geistigen Eigentums des Urhebers einerseits und das Grundrecht auf Informationsfreiheit andererseits können indes nur dann kollidierend aufeinanderstoßen, wenn der Urheber sein Werk willentlich der Allgemeinheit eröffnet hat, da die Veröffentlichung eines Werkes ohne Zustimmung des Urhebers lediglich einen Eingriff in das über Art.   2 Abs.   1 in Verbindung mit Art.  1 GG geschützte Urheberpersönlichkeitsrecht darstellt. Nach Herstellung der allgemeinen Zugänglichkeit durch den jeweils Bestimmungsberechtigten, welcher insbesondere auch die Modalitäten des Zugangs beispielsweise durch das Erfordernis der Vergütung festlegen darf, ist regelmäßig auch der grundrechtliche Schutzbereich des Art.  5 Abs.  1 S.  1 Hs.  2 GG betroffen.50 Auch die Gesetzessystematik des Art.  5 GG führt zu demselben Ergebnis. Für die Informationsfreiheit wäre die Schranke der allgemeinen Gesetze im Sinne des Abs.  2 weitgehend gegenstandslos, wenn der Staat die Allgemeinzugänglichkeit bestimmen und auf diesem Wege den Umfang des Grundrechts beliebig begrenzen könnte.51 Sofern also der Urheber sein Bestimmungsrecht dahingehend ausübt, dass er sein Werk vergütungspflichtig der Allgemeinheit anbietet, besteht ein Abwehrrecht des Bürgers gegenüber Eingriffen des Staates, die eine ungehinderte Unterrichtung aus dieser Informationsquelle einschränken. Allerdings garantiert Art.  5 Abs.  1 S.  1 Hs.  2 GG keinen kostenlosen Zugang zu den gewünschten Informationen oder deren kostenlose Vervielfältigung.52 Auch der gesetzliche Urheberrechtsschutz ist keine Einschränkung der Informationsfreiheit, weil die Informationsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährt wird. Sie findet ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen gemäß Art.  5 Abs.  2 GG, zu denen auch die Bestimmungen des Urheberrechts gehören.

  BVerfGE 103, 44, 60.   BVerfGE 27, 71, 84 f. 52   BGH GRUR 2008, 996, 998 – Clone-CD; Schack, ZUM 2002, 497, 505. 50 51

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Es bleibt daher festzustellen, dass das Grundrecht der Informationsfreiheit den Urheber nicht bereits in seinem aus Art.  2 Abs.  1 GG folgenden Urheberpersönlichkeitsrecht beschneidet. Schließlich kommt das Recht auf ungehinderten Zugang erst dann zum Tragen, wenn der Urheber sein Bestimmungsrecht über das „ob“ der Werkveröffentlichung positiv ausgeübt hat. Vielmehr greift die Informationsfreiheit erst bei der gesetzlichen Ausgestaltung und verfassungskonformen Auslegung der urheberrechtlichen Schrankenbestimmungen ein. Insoweit ist das aus Art.  14 GG resultierende Ausschließlichkeitsrecht des Urhebers mit dem Informationsinteresse der Allgemeinheit in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Diese Abwägung kann ergeben, dass der Urheber bestimmte Nutzungen seines Werkes erlaubnis- oder sogar vergütungsfrei hinnehmen muss. Eine entsprechende Beschränkung des Urheberrechts zugunsten des Interesses an wissenschaftlicher Kommunikation und Auseinandersetzung ist beispielsweise in der Schranke der Zitierfreiheit gemäß §  51 UrhG zu finden. Grundsätzlich hat der Gesetzgeber in den §§  44aff. bereits die ihm zustehende Wertung und Abgrenzung in einem abschließend gedachten Schrankenkatalog vorgenommen.53

b)  Wissenschaftsfreiheit versus geistiges Eigentum Das Wissenschaftsurheberrecht ist durch Werkschöpfungen geprägt, die regelmäßig in Auseinandersetzung mit älteren Werken anderer Urheber entstehen. Wesentliche Zielsetzung solcher wissenschaftlicher Werke ist es wiederum, ihrerseits zum Gegenstand geistiger und gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu werden. Es liegt insofern auf der Hand, dass der entsprechende Freiraum, welcher zur Gewährleistung eines wissenschaftlich umfassenden Forschungs- und Lehrbetriebs notwendig ist, auch die Nutzung bereits veröffentlichter Werke beinhalten muss und es insoweit zu einer Kollision mit den Ausschluss- und Monopolrechten des jeweiligen Urhebers kommen kann. Der verfassungsrechtlich garantierte Freiraum des Wissenschaftlers ist – abgesehen von der Treuepflicht des Art.  5 Abs.  3 S.  2 GG – ohne Vorbehalt geschützt. Begrenzungen der Wissenschaftsfreiheit durch Gesetz sind demnach ausgeschlossen. Im Rahmen des grundrechtlich geschützten Bereichs herrscht daher Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt, und zwar auch im Bereich der Teilhabe am öffentlichen Wissenschaftsbetrieb in den Universitäten.54 Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat – vorbehaltlich der verfassungsmäßigen Treuepflicht – ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse.55 Die vorbehaltlose Gewährleistung eines Grundrechts bedeutet jedoch nicht, dass dessen Schutzbereich keinerlei Grenzen unterliegt. Auf die Schranken des Art.  5 Abs.  2 GG kann zur Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit allerdings nicht zurückgegriffen werden, weil sich Art.  5 Abs.  3 S.  1 GG gegenüber Art.  5 Abs.  1 GG als lex   So zuletzt auch BGH MMR 2010, 475, 477 f. – Vorschaubilder.   BVerfGE 47, 327, 367. 55   BVerfGE 35, 79, 112 f. 53

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specialis darstellt.56 Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit können daher ausschließlich aus der Verfassung selbst hergeleitet werden. Die Konflikte zwischen der Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit und dem Schutz anderer verfassungsrechtlich garantierter Rechtsgüter wie dem geistigen Eigentum müssen somit nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses Wertsystems durch Verfassungsauslegung gelöst werden. In diesem Spannungsverhältnis kommt der Wissenschaftsfreiheit gegenüber den mit ihr kollidierenden, gleichfalls verfassungsrechtlich geschützten Werten nicht schlechthin Vorrang zu. Auch ohne Vorbehalt gewährte Freiheitsrechte müssen im Rahmen gemeinschaftsgebundener Verantwortung gesehen werden.57 Die durch die Rücksichtnahme auf kollidierende Verfassungswerte notwendig werdende Grenzziehung oder Inhaltsbestimmung kann nicht generell, sondern nur im Einzelfall durch Güterabwägung vorgenommen werden.58 Dabei müssen die miteinander kollidierenden Rechte mit dem Ziel der Optimierung in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Insofern kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Im Rahmen der Herstellung der geforderten Konkordanz ist daher zu beachten, dass sich die konkurrierenden Verfassungsgüter gegenseitig beschränken. All dies erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Belange und verbietet es, einem davon generell Vorrang einzuräumen.59 Aus alledem folgt, dass die Distanz, welche der Wissenschaft um ihrer Freiheit willen zu Gesellschaft und Staat zugebilligt werden muss, diese nicht von vornherein jeglicher Auseinandersetzung mit anderen grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern enthebt. Denn der wissenschaftliche Freiraum ist nach der Wertung des Grundgesetzes nicht für eine von Staat und Gesellschaft isolierte, sondern für eine letztlich dem Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft dienenden Wissenschaft verfassungsrechtlich garantiert.60

c)  Kollidierende Grundrechte im Rahmen des UrhG Außerhalb des Verfassungsrechts ist eine unmittelbare Bezugnahme auf andere Grundrechte als Art.  14 GG indes ausgeschlossen61. Das UrhG ist hinsichtlich der dort geregelten Ansprüche und Beschränkungen grundsätzlich abschließend und stellt das gesetzlich normierte Ergebnis einer praktischen Konkordanz der insoweit kollidierenden Grundrechte dar.62 Andere Grundrechte als Art.  14 GG können daher lediglich im Rahmen der Schrankeninterpretation herangezogen werden, selbst aber keine neuen Schranken begründen; schon gar nicht wenn es sich um kollidierende   BVerfGE 47, 327, 368.   So BVerfGE 30, 173, 193 zu dem ebenfalls schrankenlos gewährleisteten Grundrecht der Kunstfreiheit. 58   BVerfGE 30, 173, 201. 59   So BVerfGE 83, 130, 143 zu dem ebenfalls schrankenlos gewährleisteten Grundrecht der Kunstfreiheit. 60   BVerfGE 47, 327, 370. 61   Vgl. hierzu BGH ZUM 2003, 777 – Gies-Adler; BGH ZUM 2002, 636. 62   So auch BGH MMR 2010, 475, 477 f. – Vorschaubilder. 56 57

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Grundrechte mit gesetzlichem Vorbehalt handelt. Gerade der fair-use-Gedanke der angelsächsischen Rechtstradition63 ist dem deutschen Recht aus Gründen der Rechtssicherheit fremd. Schranken werden daher auch grundsätzlich restriktiv ausgelegt.64 Soweit also die urheberrechtlichen Schrankenbestimmungen als Bindeglied zwischen den konkurrierenden Verfassungsgütern fungieren, bedarf es keiner weitergehenden Güter- und Pflichtenabwägung außerhalb dieser Normen. Weder die sachliche Reichweite des Urheberrechts noch die der Informationsfreiheit können jedoch jeglicher Relativierung durch ein einfaches Gesetz überlassen werden. Vielmehr müssen die allgemeinen Gesetze in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieser Grundrechte gesehen und so interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt dieses Rechts auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und allgemeinem Gesetz ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die allgemeinen Gesetze aufzufassen. Es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die allgemeinen Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.65 Auch die Wissenschaftsfreiheit findet ihre Begrenzung in der grundsätzlichen Zuordnung des vermögenswerten Ergebnisses der schöpferischen Leistung an den Urheber sowie in dessen Freiheit, eigenverantwortlich darüber verfügen zu können.66 Dieser grundgesetzlich geschützte Kern des Urheberrechts muss neben dem kollidierenden Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit stets gewahrt bleiben. Der Urheber hat nach dem Inhalt der Eigentumsgarantie grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass ihm der wirtschaftliche Nutzen seiner Arbeit zugeordnet wird, soweit nicht Gründen des gemeinen Wohls der Vorrang vor den Belangen des Urhebers zukommt. Das bloße Interesse an einer ungehinderten wissenschaftlichen Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke reicht indes nicht aus, um eine Erlaubnis- oder gar Vergütungsfreiheit zu Lasten des Urhebers zu rechtfertigen.67

  Dazu ausführlich Götting/Fikentscher, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, in: Assmann/ Bungert (Hrsg.), Handbuch des US-amerikanischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, Bd.  1, 2000, Rdnr.  262 ff. 64   Ständige Rspr. (spätestens) seit RGZ 122, 66, 68 – Tanzschlager-Liederbuch und BGHZ 11, 135, 143 – Lausprecherübertragung, zuletzt BVerfG GRUR 2001, 149, 151 – Germania 3. So auch die h.L. insbesondere Lüft in Wandtke/Bullinger, Praxiskommentar zum Urheberrecht, 3.  Aufl. 2009, Vor §§  4 4a, Rn.  1; Melichar in Schricker/Loewenheim, 4.  Aufl. 2010, Vor §§  4 4a, Rn.  15–15b; Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 4.  Aufl. 2007, 48 und 246; anders BGH MMR 2010, 475, 477 – Vorschaubilder oder Kröger, Enge Auslegung von Schrankenbestimmungen – wie lange noch?, MMR 2002, 18 sowie rechtsvergleichend Geiger, Die Schranken des Urheberrechts im Lichte der Grundrechte, in Hilty/ Peukert (Hrsg.), Interessenausgleich im Urheberrecht, Berlin 2004, 143, 150 f. jeweils m. w. N. 65   BVerfGE 7, 198, 208 f. 66   BVerfGE 31, 229, 240 f.; 31, 270, 273. 67   BVerfGE 31, 229, 243. 63

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III.  Schranken des Urheberrechts Das Urheberrecht kennt eine Fülle von Schranken der Eigentumsfreiheit, die belegen, dass der Gesetzgeber von seiner Eingriffsmöglichkeit umfassend Gebrauch gemacht hat. Seit dem Inkrafttreten des UrhG zum 1. Januar 1966 gab es bis auf den heutigen Tag insgesamt acht Urheberrechtsänderungsgesetze, den Einigungsvertrag, das Urhebervertragsgesetz, zwei Gesetze zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft (erster und zweiter Korb) und das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums, die sowohl den Inhalt des urheberrechtlich geschützten Geistigen Eigentums als auch die gesetzlichen Schranken verändert haben.68 Diese Änderungen brachten einerseits Schutzfristverlängerungen und in der Urheberrechtsnovelle von 1972 auch neue Vergütungspflichten, insbesondere aufgrund der Entscheidungen des BVerfG69 zum Kirchen- und Schulgebrauch und zu Schulfunksendungen. Gerade die letzten Urheberrechtsänderungsgesetze und die beiden Körbe brachten aber vor allem neue Schranken oder eine Ausweitung der bestehenden: Die §§  46, 47, 48, 49, 51, 52 und 53 wurden teilweise sogar erheblich erweitert, die §§  44a, 45a, 52a, 52b, 53a, 55a sowie die §§  69d, 69e, 87c UrhG wurden neu eingeführt. Damit wurden nahezu alle Schranken des Urheberrechts in den letzten beiden Jahrzehnten ausgeweitet und die Gesamtzahl der urheberrechtlichen Ausnahmen zugunsten der Nutzer wurde fast verdoppelt.

1.  Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art.  14 GG Das BVerfG definiert Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art.  14 Abs.  1 S.  2 GG als generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum zu verstehen sind.70 Für das geistige Eigentum wurde dem Gesetzgeber dabei durch die Kirchen- und Schulbuchgebrauch-Entscheidung grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zugesprochen.71 Die gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen können die Eigentumsfreiheit beschränken oder verkürzen. Verkürzen Sie die Eigentumsfreiheit, dann stellen sie, auch wenn sie dadurch das Eigentum für die Zukunft definieren, für das in der Vergangenheit begründete Eigentum Eingriffe dar. Ein Eingriff in den Schutzbereich des geistigen Eigentums erfolgt in der Regel unmittelbar durch den gesetzlichen Entzug der geschützten Positionen (Inhaltsbestimmung) oder durch die Beschränkung der geschützten Nutzung, Verfügung oder Verwertung (Schrankenbestimmung), bis hin zum Eigentumsentzug (Enteignung). Um welchen Eingriff es sich dabei handelt, ist grundsätzlich erst für die Rechtfertigung relevant.72

  Vgl. dazu Vogel, in Schricker/Loewenheim, 4.  Aufl. 2010, Einl., Rn.  118 ff.   Vgl. BVerfGE 72, 66, 76; 52, 1, 27; 58, 137, 144 f. 70   BVerfGE 72, 66, 76; 52, 1, 27; 58, 137, 144 f. 71   BVerfGE 31, 229, 241; vgl. auch 31, 275, 286; 79, 29, 40; 21, 73, 83. 72  Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11.  Aufl. 2011, Art.  14, Rn.  29. 68 69

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2.  Verfassungsmäßigkeit der urheberrechtlichen Schranken Dem Gedanken, dass Schranken des Urheberrechts verfassungsrechtlich nur zulässig sind, wenn sie gemäß Art.  14 Abs.  2 S.  1 GG insbesondere durch Gründe des Allgemeinwohls, nicht aber durch Individual- oder Partikularinteressen, gerechtfertigt sind, tragen die aktuell geltenden Schranken Rechnung. So sind die bisherigen urheberrechtlichen Schranken z. B. im Interesse der Rechtspflege und der öffentlichen Sicherheit in §  45 UrhG oder zur Bekämpfung der Diskriminierung behinderter Menschen in §  45a UrhG gerechtfertigt. Hinzu kommen berechtigte Interessen des Informationswesens und der Informationsfreiheit, §§  44a, 48 ff., 52, 53a, sowie der Abbildungsfreiheit, §§  57 ff. UrhG. Eine besondere Rolle spielt der „Schutz des geistigen Schaffens“ in §  51 UrhG und das Interesse am privaten und sonstigen eigenen Gebrauch, §§  53, 54 UrhG. Ausdrücklich abgelehnt hat der Gesetzgeber bislang Schranken, die Aufgaben der Allgemeinheit, die „keine engere Beziehung zum Werkschaffen des Urhebers haben, wie etwa Sozialvorsorge, Jugendpflege und Wohltätigkeit“ lediglich erleichtern würden.73 Die meisten Ausnahmen gibt es jedenfalls für Schule, Wissenschaft und Forschung, die in den §§  46 f., 52a f., 53 Abs.  3 UrhG sehr weitereichende Schranken erhalten haben.

3.  Dreistufigkeit des urheberrechtlichen Schrankensystems Der schwerste Eingriff in die vermögenswerte Position des Urhebers ist die vergütungsfreie Auf hebung des ausschließlichen Nutzungsrechts. Bei den meisten bestehenden urheberrechtlichen Schranken ist deswegen als weniger belastender Eingriff eine gesetzliche Lizenz vorgesehen, die für die Nutzung eines Werkes ohne Einwilligung wenigstens eine pauschale Vergütung vorschreibt. Ein noch weniger einschränkender Eingriff ist die zwingende Verwertung des ausschließlichen Nutzungsrechts über eine Verwertungsgesellschaft, vgl. §§  20b, 63a UrhG. Daneben gibt es aber auch Zwangslizenzen74, die allerdings keine Schranke im Rechtssinne darstellen, sondern wegen des Kontrahierungszwangs lediglich die Abschlussfreiheit beschränken.75 Das BVerfG hat in mehreren Entscheidungen76 Schranken ohne Vergütungsanspruch für unverhältnismäßig und somit für verfassungswidrig erklärt. Gerade weil das Interesse der Allgemeinheit an einem ungehinderten Zugang zum Werk in der Regel durch eine Einschränkung des Nutzungsrechts i. V. m. mit einer pauschalen Vergütung erreicht werden kann, bedürfe es für eine vergütungsfreie Auf hebung wegen der großen wirtschaftlichen Bedeutung für den Urheber eines gesteigerten öffentlichen Interesses. Nur solche Erwägungen des Allgemeinwohls können einen so weitgehenden Ausschluss des Verwertungsrechts legitimieren, denen auch bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Vorrang vor dem grundrecht  Amtl. Begr. UFITA 45, 1965, 240/278.   Nicht zu verwechseln mit der gesetzlichen Lizenz, die einer urheberrechtlichen Schranke entspricht. 75  So Melichar, in: Schricker/Loewenheim, 4.  Aufl. 2010, Vor §§  4 4a ff., Rn.  36. 76   BVerfGE 31, 229, 244 f.; BVerfGE 49, 382, 400; anders BVerfG ZUM 1989, 183. 73 74

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lich geschützten Anspruch des Urhebers zukommt.77 Je nach Eingriffsintensität können somit neue Schranken im Urheberrecht eher gerechtfertigt werden, wenn es sich zugunsten des Allgemeinwohls lediglich um Einschränkungen des Verfügungsrechts und nicht auch um Beschränkungen des Verwertungsrechts handelt. Aus der Sozial­ bindung lässt sich indes nicht herleiten, dass der Urheber seine Leistung der Allgemeinheit unentgeltlich zur Verfügung stellen muss.

4. Schranken-Schranken Allerdings muss bei der Bestimmung des Inhalts und der Schranken des geistigen Eigentums hinsichtlich der vermögensrechtlichen Komponente zunächst die grundrechtliche Anerkennung des Privateigentums durch Art.  14 Abs.  1 S.  1 GG mit dem Sozialgebot in Art.  14 Abs.  2 S.  2 GG in einen Ausgleich gebracht werden. Außerdem müssen der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG und auch der Gleichheitssatz des Art.  3 Abs.  1 GG beachtet werden.78 Der Gesetzgeber hat bei seinen Eingriffen also keine unbeschränkte Dispositionsbefugnis. Alle urheberrechtlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen, und damit auch die aktuell diskutierten Vorschläge in der Urheberrechtsdebatte, müssen gerechtfertigt sein und werden durch so genannten Schranken-Schranken wiederum beschränkt.79 Im Einzelnen ist es Sache des Gesetzgebers, im Rahmen der inhaltlichen Ausprägung des Urheberrechts nach Art.  14 Abs.  1 Satz 2 GG sachgerechte Maßstäbe festzulegen, die eine der Natur und der sozialen Bedeutung des Rechts entsprechende Nutzung und angemessene Verwertung sicherstellen.80 Dabei hat der Gesetzgeber einen verhältnismäßig weiten Entscheidungsraum.81 Eingriffe in das Verwertungsrecht des Urhebers können freilich nur durch ein gesteigertes öffentliches Interesse gerechtfertigt werden.82

a)  Gemeinwohlorientierung als Eingriffszweck Auch neue urheberrechtliche Schranken müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur durch ein konkretes Allgemeinwohlinteresse begründet werden, sondern auch in einer engen Beziehung zum Werkschaffen des Urhebers stehen. Sofern ein konkretes Allgemeinwohlinteresse gegenüber dem grundrechtlichen Schutz der vermögensrechtlichen Komponente des geistigen Eigentums geltend gemacht wird, muss der Eingriff verhältnismäßig sein.83 Die Schranke muss demnach geeignet sein, den begründeten Zweck tatsächlich zu fördern und sie muss erforderlich sein, weil der Zweck nicht durch mildere ebenso effektive Ein  BVerfGE 31, 229, 243; 49, 383, 400; 79, 29, 41.   Vgl. BVerfGE 70, 200; 31, 299; 34, 139, 146; 52, 1, 27; 87, 114. 79   Vgl. hierzu insb. Melichar, in: Schricker/Loewenheim, 4. Auflage 2010, Vor §§  4 4a ff., Rn.  9. 80   Vgl. BVerfGE 31, 229, 240 f.; 79, 1, 25. 81   Vgl. BVerfGE 21, 73, 83; 79, 29, 40. 82   Vgl. BVerfGE 31, 229, 243; 49, 382, 400; 79, 29, 41. 83   So BVerfGE 70, 278, 286; 49, 382, 400. 77 78

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griffe in das Eigentum erreicht werden darf. Und zuletzt muss sie schließlich auch angemessen sein, darf also den Betroffenen durch den Eingriff nicht übermäßig oder unzumutbar belasten. Gerade bei der Angemessenheit ist zu berücksichtigen, dass die Rechtfertigungsgründe für eine Beschränkung des Urheberrechts umso schwerwiegender sein müssen, je stärker die Schranke den Grundsatz des ausschließlichen Rechts aushöhlt.84 Maßgeblich für die Angemessenheit ist das Verhältnis zwischen den Auswirkungen der Schranke und der daraus resultierenden Gemeinwohlsteigerung. Dies setzt im Rahmen der „Zweck-Mittel-Relation“ ein annähernd ausgewogenes Verhältnis zwischen der Eingriffsschwere und dem Eingriffsnutzen voraus.85

b)  Instituts- und Wesensgehaltsgarantie Art.  14 GG gewährleistet das Eigentum nicht nur als subjektives Recht, sondern auch als Rechtsinstitut.86 Der Staat darf dieses Institut zwar regeln, inhaltlich ausgestalten und beschränken, muss es aber im Kern gewährleisten und darf es nicht bis auf Null reduzieren. Deswegen sichert die Institutsgarantie nach der Rechtsprechung des BVerfG87 einen Grundbestand von Normen, die als Eigentum im Sinne des Art.  14 GG bezeichnet werden: sie setzt dem Gesetzgeber damit äußerste Grenzen, die bei einer Inhalts- und Schrankenbestimmung nicht überschritten werden dürfen.88 Auch für neue Urheberrechtsschranken greift also die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG, die auch das von der Institutsgarantie erfasste geistige Eigentum schützt. Damit der Urheber über den Kernbereich des Urheberrechts, über das ob und wie der Werknutzung, entscheiden kann, reicht es nicht, ihm gesetzliche Vergütungsansprüche zuzugestehen. Für Nutzungsrechtseinräumungen muss das Urheberrecht daher als ausschließliches Nutzungsrecht gewährleistet werden. Für das Bundesverfassungsgericht gehören nämlich „zu den konstituierenden Merkmalen des Urheberrechts als Eigentum im Sinne der Verfassung die grundsätzliche Zuordnung des vermögenswerten Ergebnisses der schöpferischen Leistung an den Urheber im Wege privatrechtlicher Normierung sowie seine Freiheit, in eigener Verantwortung darüber verfügen zu können.“89

c)  Wahrung des Gleichheitssatzes Über eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes gemäß Art.  3 Abs.  1 GG durch eine unterschiedliche Behandlung von Sacheigentum im Sinne des BGB und Geistigem Eigentum zu Lasten der Urheber hat das BVerfG bisher noch nicht abschließend entschieden. Allerdings hat es in der Vollzugsanstalten-Entscheidung den Gleichheitsgrundsatz für anwendbar erklärt und bezogen auf §  52 Abs.  1 S.  3 UrhG   Vgl. BVerfGE 49, 382, 400.  Dazu Papier, in; Maunz/Dürig, Grundgesetz, 65.  Aufl. 2012, Art.  14, Rn.  315. 86   BVerfGE 20, 351, 355; 58, 300, 339. 87   BVerfGE 24, 367, 389; 50, 290, 339. 88  Vgl. Depenheuer, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6.  Aufl. 2010, Art.  14, Rn.  92. 89   BVerfG ZUM 2010, 874 ff. 84 85

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tatsächliche Verschiedenheiten als ausreichenden Grund für eine Ungleichbehandlung akzeptiert.90 Für zukünftige Schranken im Urheberrecht ist eine mögliche Ungleichbehandlung jedoch zu berücksichtigen.

IV. Wissenschaftsschranken Grundsätzlich kann bei den Wissenschaftsschranken, also zwischen vergütungsfreien Schranken, vergütungspflichtigen und solchen, die einen verwertungsgesellschaftspflichtigen Vergütungsanspruch begründen, unterschieden werden. Auch für die urheberrechtlichen Wissenschaftsschranken gelten grundsätzlich die gleichen hohen Voraussetzungen, welche im Folgenden kursorisch dargestellt werden.

1.  Vergütungsfreie Schranken: Zitatrecht, §  51 UrhG Das Zitatrecht ist der schwerwiegendste Eingriff in das Geistige Eigentum zugunsten der Wissenschaft und einzige erlaubnis- und vergütungsfreie Wissenschaftsschranke. Die Ausnahme von der Vergütungspflicht wird durch das besondere Allgemeininteresse an einer freien geistigen Auseinandersetzung begründet.91 Denn nur durch das Zitat können Urheber mit Werken anderer Urheber durch deren ganze oder teilweise Wiedergabe im Rahmen des eigenen Werks Kontakt herstellen und neue Werke schöpfen.92 In vielen Bereichen der Wissenschaft, die nach der hermeneutischen Methode arbeiten, könnte daher ohne diese Ausnahme nicht professionell gearbeitet und ein wissenschaftlicher Fortschritt erreicht werden. Das Zitat ist aber nur bei einem bestimmten Zitatzweck gerechtfertigt.93 Dazu muss es eine Belegfunktion haben und es muss eine innere Verbindung mit den eigenen Gedanken hergestellt werden.94 Bei einem so genannten wissenschaftlichen Großzitat gemäß §  51 S.  2 Nr.  1 UrhG, bei dem einzelne Werke in ein selbständiges wissenschaftliches Werk aufgenommen werden, ist eine Zitation sogar nur zur Erläuterung des Inhalts des zitierenden Werkes zulässig. Ist der Zitatzweck überschritten, dann ist nicht nur der überschießende Teil, sondern vielmehr das ganze Zitat unzulässig.95 Je umfangreicher also das Zitat, desto enger sind die gesetzlichen Bestimmungen.96 Nur wenn diese engen Voraussetzungen vorliegen, stellt ein Zitat eine zumutbare Beeinträchtigung der Verwertung des Werkes im Sinne des Drei-StufenTests dar und ist daher auch gerechtfertigt. Dies unterstreicht die Besonderheit dieses Wissenschaftsprivilegs und macht deutlich, dass diese erlaubnis- und vergütungsfreie Schranke eine Ausnahme darstellt.   BVerfG ZUM 1989, 183; vgl. auch BVerfGE 31, 255, 266.   BGH GRUR 1973, 216 f.; ausführlich dazu Schack, Festschrift Schricker, 2005, 511, 520. 92  BGH GRUR 1987, 362; Krause-Ablaß nennt das „produktive Interdependenz“, GRUR 1962, 231. 93   BGH MMR 2010, 475, 477 – Vorschaubilder II. 94   BGH GRUR 1987, 363 f. – Filmzitat. 95   Lüft in Wandtke/Bullinger, §  51, Rn.  6. 96   Vgl. auch BGH GRUR 1968, 607 f. – Kandinsky. 90 91

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2.  Vergütungspflichtige Schranken Abgesehen vom Zitatrecht, der einzigen vergütungsfreien Wissenschaftsschranke, sind alle Wissenschaftsschranken zwar erlaubnisfrei, aber vergütungspflichtig. Der Gesetzgeber kommt damit der zwingenden Vergütungspflicht der RBÜ und dem Drei-Stufen-Test in Art.  9 Abs.  2 RBÜ und der entsprechenden Regelung in Art.  5 Abs.  5 der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (EU-Urheberrechtsrichtlinie) nach.

a)  Vervielfältigungen zum privaten oder sonstigen eigenen Gebrauch, §  53 UrhG Die so genannte Privatkopieschranke wird vor allem mit dem besonderen gesellschaftlichen Interesse an einem geistigen und wissenschaftlichen Austausch und der Weitergabe von Wissen begründet. Grundsätzlich baut jeder Urheber auf den Werken anderer Urheber auf, so dass er auch die erlaubnisfreie Nutzung seiner Werke (gegen eine Vergütung) dulden muss.97 Hinzu treten aber sicherlich auch die neuen technischen Möglichkeiten zur Vervielfältigung und die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung. Daher erfolgt die Vergütung nicht anhand einzelner Vervielfältigungshandlungen, sondern durch eine Pauschalvergütung, die auf der Grundlage der Störerhaftung von den Verwertungsgesellschaften gegenüber den Herstellern von Geräten und Speichermedien zur Vornahme von Vervielfältigungen geltend gemacht wird.98 Für die Wissenschaft ist hier vor allem §  53 Abs.  2 Nr.  1 UrhG relevant, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Herstellung einzelner Vervielfältigungsstücke zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch zulässig ist. Im Gegensatz zum privaten Gebrauch kann der eigene Gebrauch auch durch juristische Personen und öffentlich-rechtliche Körperschaften wie Hochschulen und Bibliotheken ausgeübt werden sowie ferner dem behördeninternen Gebrauch dienen.99 Nicht zulässig ist jedoch die Vervielfältigung zur Benutzung durch Dritte.100 Als Obergrenze für die Anzahl einzelner Vervielfältigungsstücke hat sich in der Rechtsprechung101 die Zahl von sieben herausgebildet, die aber im Einzelfall mangels Erforderlichkeit auch niedriger liegen kann.102 Mit dieser Schranke für die Vervielfältigungen zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Wissenschaftler vor der Nutzung anderer Werke immer erst die Erlaubnis einholen müssen und dadurch ihre wissen  Vgl. auch BT-Drs. 10/837, 9.   Vgl. dazu BT-Drs. 218/94, 17 f. und 10/837, 18. 99   Loewenheim in Schricker/Loewenheim, §  53, Rn.  34. 100   Vgl. dazu insbesondere die Diskussion um die Annexvervielfältigungskompetenz im Rahmen von §  52b UrhG unter IV. 2. c). 101   BGH GRUR 1978, 474, 476 hat lediglich festgestellt, dass zu Unterrichtszwecken nicht mehr als 7 Vervielfältigungsstücke hergestellt werden dürfen; vgl. auch BT-Drs. IV/270, S.  73, wonach dem Werknutzer der Kauf von 5 oder 6 Zeitschriftenexemplaren erspart werden sollte. 102  So Loewenheim in Schricker/Loewenheim, §  53, Rn.  17 m. w. N. 97

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schaftliche Arbeit erheblich erschwert wird.103 Ein wissenschaftlicher Gebrauch ist insbesondere bei einem methodisch-systematisch ausgerichteten Streben nach Erkenntnis gegeben und ist damit nicht nur auf Wissenschaftler im engeren Sinne begrenzt, sondern umfasst auch Studierende oder Praktiker.104 Allerdings ist diese Schranke wiederum eingeschränkt, wenn der käufliche Erwerb der vervielfältigten Stücke problemlos möglich und zumutbar und daher nicht geboten ist. So ist insbesondere die Vervielfältigung ganzer Bücher oder Zeitschriften in der Regel nicht zulässig.105 Seit der Klarstellung des Gesetzgebers im zweiten Korb, dass die Vervielfältigung keinen gewerblichen Zwecken dienen darf 106, gilt diese Schranke für Hochschullehrer bei Auftragsgutachten oder Verlagspublikationen und bei ihrer Lehrtätigkeit zwar nicht mehr. Hier greift aber in den meisten Fällen die Ausnahme des §  53 Abs.  2 Satz 1 Nr.  4a UrhG.107 Letztendlich sorgen die vielen Voraussetzungen, Einschränkungen und eine ausführliche Rechtsprechung sowie eine umfassend geregelte Vergütungspflicht für eine stark ausdifferenzierte und daher auch verhältnismäßige Eingriffssystematik, die diese grundlegende Wissenschaftsschranke mit dem Drei-Stufen-Test in Einklang bringen. Zwar ist die Schranke des §  53 UrhG für viele Wissenschaftler nur nach eingehenden Recherchen verständlich und auch einzuhalten, aber gerade die Komplexität dieser Regelung macht die erlaubnisfreie Nutzung der urheberrechtlich geschützten Werke überhaupt erst möglich. Einfache Regelungen wären zwar grundsätzlich wünschenswert, werden aber wohl kaum den Interessen und dem Schutzanspruch des Urhebers gerecht werden.

b)  Wissenschaftsschranke, §  52a UrhG Gem. §  52a UrhG dürfen kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Veranschaulichung im Unterricht an Schulen, Hochschulen und weiteren Einrichtungen auch öffentlich zugänglich gemacht werden. Im Unterschied zur Vervielfältigung nach §  53 UrhG geht es hier also um das Einstellen von Vervielfältigungen im Intranet. Allerdings gilt dies nur für einen abgegrenzten Kreis von Personen, z. B. eine Klasse oder ein Seminar (§  52a Abs.  1 Nr.  2 UrhG) oder zu Forschungszwecken (§  52a Abs.  1 Nr.  2 UrhG). Außerdem muss die Zugänglichmachung zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur Verfolgung nichtkommerzieller Zwecke gerechtfertigt sein. Die Regelung des §  52a UrhG war jedoch durch §  137k UrhG zunächst bis zum 31.  12. 2006 befristet. Mit dem 5. Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes vom 10.  11. 2006 wurde die Befristung zunächst um zwei Jahre verlängert.108 Mit dem 6. Gesetz zur Änderung des Urhebergesetzes vom 7.  12. 2008 wurde sie um   BT-Drs. IV/270, S.  73.   Lüft in Wandtke/Bullinger, §  53, Rn.  26. 105   Hierzu ausführlich Loewenheim in Schricker/Loewenheim, §  53, Rn.  42 m. w. N. 106   BT-Drs. 16/1828, 26, S.  41. 107   Der Bundesrat hat dies als eine Behinderung des Technologie- und Wissenstransfers abgelehnt, BT-Drs. 16/1828, S.  41. 108   BGBl.  I S.  2587. 103

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weitere vier Jahre verlängert.109 Und mit dem jüngst verabschiedeten 7. Urheberrechtsänderungsgesetz wurde die Regelung gerade „letztmalig“ bis zum 31.  12. 2014 verlängert.110 Das Bundesministerium der Justiz hatte im Sommer 2012 eine Evaluierung vorgelegt und kam darin zu dem Schluss, dass eine abschließende Bewertung wegen der anhängigen Gerichtsverfahren nach wie vor nicht möglich sei. Die Rechts- und Bildungspolitiker der Koalitionsfraktionen waren sich über die Entfristung nicht einig, weil die Vergütung bislang nicht abschließend geklärt werden konnte. Angesichts des ausstehenden letztinstanzlichen Urteils dazu im Sommer 2013 wurde daher eine nochmalige Verlängerung beschlossen, allerdings mit der Auflage, zeitnah eine einheitliche Wissenschaftsschranke zu erarbeiten und damit auch den §  52a UrhG zu entfristen. Verfassungsrechtlich ist §  52a UrhG ebenso wie eine einheitliche Wissenschaftsschranke unbedenklich, weil hier eine nutzungsbezogene Vergütung vorgesehen ist. Eine pauschale Vergütung bedarf zu ihrer Verfassungsmäßigkeit hingegen eines gesteigerten öffentlichen Interesses. Eines der immer noch offenen Gerichtsverfahren ist natürlich die Höhe der gesetzlich vorgeschriebenen Vergütung, die an die Verwertungsgesellschaften zu zahlen ist. Für die Nutzung an Schulen wurden zwischen sämtlichen betroffenen acht Verwertungsgesellschaften mit den Ländern Gesamtverträge geschlossen. Für die Nutzung an Hochschulen haben die Länder bislang nur mit den Verwertungsgesellschaften VG Bild-Kunst, VG Musikedition, GEMA, GVL, VGF, GWFF und VFF Gesamtverträge geschlossen. Für den weit überwiegenden Teil der Nutzungen an Hochschulen im Verwertungsbereich der VG Wort konnte jedoch zwischen den Ländern und der VG Wort noch keine Einigung erzielt werden. Sowohl die Höhe als auch die Berechnungsweise der Vergütung sind streitig. Mangels einer Vertragsvereinbarung wurden bislang keine Zahlungen geleistet. In einem hierüber zwischen den Ländern und der Verwertungsgesellschaft geführten Rechtsstreit setzte das OLG München gemäß §  16 Abs.  4 S.  3 UrhWG den Inhalt des Gesamtvertrages fest.111 Streitpunkt dieser Entscheidung war in erster Linie, ob die Vergütung nutzungsbezogen berechnet werden muss oder ob sie pauschal erfolgen kann. Das OLG München verlangt Nutzungsbezogenheit112 mit der Begründung, dass nur wenn die Nutzung eines konkreten Werkes nach Gegenstand und Umfang erfasst werde, eine angemessene Vergütung ausgeschüttet werden könne. Zwar könne eine Erfassung für die Vergangenheit nicht mehr erfolgen; die für die schon erfolgte Nutzung anzusetzende Vergütung könne aber näherungsweise dadurch bestimmt werden, dass die durch die in Zukunft erfolgende Erhebung erzielten Ergebnisse auf die Vergangenheit übertragen werden. Gegen das Urteil des OLG München haben sowohl die Länder als auch die VG Wort Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.113 Der BGH hat das Urteil inzwischen in weiten Teilen bestätigt und das Verfahren zur

  BGBl.  I S.  2349.   BGBl.  2013 I S.  1774. 111   OLG München Urteil vom 24. März 2011 – 6 WG 12/09. 112   OLG München Urteil vom 24. März 2011 – 6 WG 12/09. 113   Az. I ZR 84/11. 109 110

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Festsetzung einer angemessenen Vergütung an das OLG München zurückverwiesen. Eine abschließende Entscheidung wird erst 2014 erwartet.114 Verfassungsrechtlich ist nach dem oben Ausgeführten natürlich nicht nur die nutzungsbezogene, sondern auch die pauschale Vergütung zulässig. Angesichts der ständigen Rechtsprechung und dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Pauschalvergütungen115 sind jedoch nutzungsbezogene Vergütungen wohl vorzugswürdig. Gerade wegen der abgestuften Schrankensystematik bedürfte es einer besonderen Rechtfertigung für eine pauschalisierte Vergütung. Der Verwaltungsaufwand auf Seiten der Bibliotheken ist bei der Abwägung zwischen geistigem Eigentum und öffentlichem Interesse grundsätzlich kein hinreichendes Argument. Die öffentliche Hand hat bei der Forschungsfinanzierung viele Möglichkeiten und muss bei staatlichen Eingriffen in das Privateigentum besonders zurückhaltend sein. Gerade vor dem Hintergrund des Eigentumsgrundrechts als Abwehrrecht des Individuums gegen Eingriffe des Staates und damit auch der Allgemeinheit drohten für eine solche Abrechnungslösung ansonsten Klagen, wie sie zuletzt die VG Wort erschüttert haben.116 Neben der Höhe der Vergütung geht es aktuell in einem weiteren aktuellen Rechtstreit zwischen der Fernuniversität Hagen und dem Alfred Kröner Verlag vor dem OLG Stuttgart um die Reichweite des §  52a UrhG im Hinblick darauf, was vom Wortlaut der Wendung „kleine Teile eines Werkes“ umfasst ist.117 Der Verlag hatte gegen die Universität geklagt, weil in deren Intranet ein knappes Fünftel eines bei ihm erschienenen, 476 Seiten umfassenden Lehrbuches zum Download, Abruf und Ausdruck zur Verfügung stand. Das OLG bestätigte das Urteil der Vorinstanz und entsprach der Klage des Verlages in vollem Umfang. Insbesondere handele es sich nicht um „kleine Werkteile“, wenn den Studierenden die gesamte Pflichtlektüre zur Verfügung gestellt werde, weshalb ein Erwerb des Buches tatsächlich nicht mehr erforderlich und geboten sei.118 Die streitgegenständliche Zurverfügungstellung von Literatur zur Ergänzung, Vor- bzw. Nachbereitung des Unterrichts falle daher nicht unter §  52a UrhG. Zudem erlaube die Vorschrift allenfalls das Bereithalten zur Ansicht am Bildschirm, nicht aber den Ausdruck oder die Möglichkeit des Downloads.119 Auch in diesem Fall ist die Revision beim BGH anhängig und die Entscheidung wird ebenfalls für den Sommer 2013 erwartet.120 Eine Beschränkung des Urheberrechts zugunsten der Wissenschaft ist auch hier natürlich verfassungsrechtlich zulässig. Aber es geht ebenso um die Abwägung, wie weit das Verwertungsrecht von Urhebern und Verlagen zugunsten der Wissenschaft   BGH Urteil vom 20. März 2013 – I ZR 84/11.   Beschluss vom 30.8.2010 („Drucker & Plotter“), ZUM 2010, 874 ff. 116  LG München I vom 24.5.2012 – 7 O 28640/11 und OLG München vom 18.10.2013 – 6 U 2492/12. 117   OLG Stuttgart Urteil vom 04.04.2012 – 4 U 171/11. 118   OLG Stuttgart Urteil vom 04.04.2012 – 4 U 171/11. 119   OLG Stuttgart Urteil vom 04.04.2012 – 4 U 171/11. 120   Der BGH hat nach Einreichung dieses Beitrags mit Urteil vom 29. November 2013 – I ZR 76/12 entschieden, dass kleine Teile eines Werkes höchstens 12 % des Gesamtwerks und nicht mehr als 100 Seiten ausmachen und in diesem Fall der Rechteinhaber der Universität keine angemessene Lizenz für die Nutzung angeboten hat. Das Verfahren wurde an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das nun über die Angemessenheit des Lizenzangebotes entscheiden muss. 114

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beschnitten werden darf. Gerade wenn es zugunsten der Wissenschaft eine Ausnahme gibt, so treffen die Hochschulen hier besondere Sorgfaltspflichten, dass die Nutzung eben nicht über das angedachte Maß hinaus erfolgen kann. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass viele Verlage inzwischen Campuslizenzen anbieten, die eine rechtssichere Nutzung der Verlagsprodukte ermöglichen, weswegen die Schranke des §  52a UrhG teilweise nicht mehr geboten ist. Qualitativ hochwertige Verlagsprodukte ermöglichen die Erstellung digitaler Bildungsmedien und gewährleisten gleichzeitig wissenschaftliche Standards. Auch diese Überlegungen müssen im Sinne der Wissenschaftsfreiheit in eine Gemeinwohlabwägung mit einfließen. Eine Überdehnung oder gar eine Ausnutzung des Privilegs bedeutete nicht nur einen unverhältnismäßigen Eingriff, sondern gefährdet letztendlich auch die Qualität der wissenschaftlichen Literatur.

c)  Elektronische Leseplätze, §  52b UrhG Der §  52b UrhG gestattet als Schranke für die Wissenschaft den Bibliotheken, Museen und Archiven die Wiedergabe (nicht die öffentliche Zugänglichmachung im Internet) von veröffentlichten Werken aus dem Bestand öffentlich zugänglicher Bibliotheken, die keinen unmittelbar oder mittelbar wirtschaftlichen oder Erwerbszweck verfolgen. Dies muss jedoch ausschließlich in den Räumen der jeweiligen Einrichtung an eigens dafür eingerichteten elektronischen Leseplätzen zur Forschung und für private Studien erfolgen, soweit dem keine vertraglichen Regelungen entgegenstehen. Im Gegenzug ist eine Vergütung an die Verwertungsgesellschaften zu zahlen. Die Vorschrift ist durch das „Zweite Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft“121 auf Grundlage von Art.  5 Abs.  3 Buchstabe n der EU-Urheberrechtsrichtlinie in das UrhG eingefügt worden. §  52b soll den Nutzern ermöglichen, in den privilegierten Einrichtungen deren Bestände an elektronischen Leseplätzen in gleicher Weise wie in analoger Form nutzen zu können. Es soll damit dem öffentlichen Bildungsauftrag insbesondere der öffentlichen Bibliotheken Rechnung getragen und zugleich ein Schritt zur Förderung der Medienkompetenz der Bevölkerung unternommen werden.122 Die konkrete Reichweite von §  52b UrhG ist umstritten. Unklar ist, ob nur ein Digitalisat je erworbenes Exemplar am Leseplatz zur Verfügung stehen darf. Während §  52a Abs.  3 solche Annexvervielfältigungen für die öffentliche Zugänglichmachung nach §  52a Abs.  1 ausdrücklich erlaubt, regelt §  52b eine solche Befugnis nicht. Die fehlende Regelung der Annexvervielfältigung wird teilweise als ein redaktionelles Versehen des Gesetzgebers angesehen.123 Weiterhin ist ungeklärt, ob der Tatbestand der Norm auch das Ausdrucken und Speichern auf Datenträgern umfasst.   BGBl.  2007 I S.  2513.   Begr. BT-Drucks. 16/1828, S.  26. 123   Jani in Wandtke/Bullinger, Urheberrecht 3. Auflage 2009, §  52b Rn.  19, a. A. Heckmann K&R 2008, 284, 287, der allerdings über eine analoge Anwendung von §  52 a Abs.  3 zum selben Ergebnis kommt. 121

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Um diese Fragen geht es auch im Rechtsstreit zwischen einem Lehrbuchverlag (Ulmer) und der TU Darmstadt.124 Die TU Darmstadt ermöglichte ihren Studenten an elektronischen Leseplätzen, die in ihrer Bibliothek befindlichen Bücher ganz oder zum Teil auszudrucken oder auf USB-Sticks zu kopieren. Auf das verlagsseitige Angebot der Nutzung eines entsprechenden E-Books war die Universität nicht eingegangen. Nach Ansicht des Landgerichts Frankfurt enthält §  52b UrhG als Annexkompetenz das Recht, ein digitales Vervielfältigungsstück herzustellen.125 Weiterhin steht der Anwendung der Schrankenregelung nur ein geschlossener Vertrag, nicht hingegen ein bloßes Vertragsangebot des Rechteinhabers entgegen.126 Hingegen sind Anschlussnutzungen wie Ausdrucke oder Speicherung auf Trägermedien ausgeschlossen.127 Der BGH ließ die Sprungrevision gegen die Entscheidung zu128 und legte das Verfahren im September 2012 dem EuGH vor.129 Er soll zunächst klären, ob „gemäß Art.  5 Abs.  3 Buchst. n der InfoSoc-RL Regelungen über „Verkauf und Lizenzen“ bereits (gelten), wenn der Rechtsinhaber den Bibliotheken den Abschluss von Lizenzverträgen über die Nutzung seiner Werke auf Terminals zu angemessenen Bedingungen anbietet.“ Zugleich wurde gefragt, ob „die Richtlinienbestimmung Mitgliedstaaten dazu (berechtigt), Bibliotheken das Recht zu gewähren, Druckwerke des Bibliotheksbestands zu digitalisieren, wenn dies erforderlich ist, um die Werke auf den Terminals zugänglich zu machen“. Schließlich ist zu entscheiden, ob „den Bibliotheksnutzern das ganze oder teilweise Ausdrucken oder Speichern der auf den Terminals zugänglich gemachten Werke zur Mitnahme ermöglicht werden“ darf. Grundsätzlich sind Schranken restriktiv auszulegen, so dass auch die Reichweite des §  52b UrhG eher eng anzunehmen ist. Zwar ist das Anliegen der Bibliothek nachvollziehbar, letztendlich jedoch ausschließlich von monetären Interessen getragen. Demgegenüber steht das Abwehrrecht des Verlages und seiner Urheber, die vor staatlichen Eingriffen geschützt werden sollen. Das öffentliche Interesse an einem freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur kann inzwischen auch durch die neu angebotenen Campuslizenzen gewährleistet werden. Damit wird letztendlich die Rechtfertigung dieser Ausnahme in Frage gestellt. Das öffentliche Interesse an einem freien Zugang beinhaltet eben nicht auch den kostenfreien Zugang.

d)  Elektronischer Kopienversand, §  53a UrhG Eine weitere Privilegierung für die Wissenschaft stellt der Kopienversand auf Bestellung dar, wonach unter den Voraussetzungen der Privatkopieschranke auf Einzelbestellung hin die Vervielfältigung und Übermittlung einzelner in Zeitungen und Zeitschriften erschienener Beiträge sowie kleiner Teile eines erschienenen Werkes per Post oder Fax oder elektronisch als pdf-Dokument durch öffentliche Biblio  LG Frankfurt Urt. v. 16.03.2011 – 2-06 O 378/10, ZUM 2011, 582.   LG Frankfurt Urt. v. 16.03.2011 – 2-06 O 378/10, ZUM 2011, 582. 126   LG Frankfurt Urt. v. 16.03.2011 – 2-06 O 378/10, ZUM 2011, 582. 127   LG Frankfurt Urt. v. 16.03.2011 – 2-06 O 378/10, ZUM 2011, 582. 128   BGH Beschluss vom 19.10.2011 – I ZR 69/11. 129   MMR-Aktuell 2012, 337366. 124

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theken ermöglicht wird. Auch hier handelt es sich um eine erlaubnisfreie, aber vergütungspflichtige Wissenschaftsschranke. Diese Regelung geht auf eine umfangreiche Rechtsprechung zurück130 und erweitert die Befugnis zur Herstellung von Vervielfältigungen durch einen Dritten. Damit sollte der Besuch einer Bibliothek substituiert und die wissenschaftliche Arbeit faktisch erleichtert werden. Sofern der Rechteinhaber jedoch diese Nutzung etwa durch ein eigenes Online-Angebot zu angemessenen Bedingungen anbietet, greift diese Schranke gemäß §  53a Abs.  1 Satz 3 UrhG nicht. In der Praxis ist dieses Angebot inzwischen durch vielfältige Verlagsangebote und Campuslizenzen kaum mehr relevant, lediglich bei vergriffenen und noch nicht digitalisierten Werken spielt dies noch eine Rolle.

e)  Verwaiste und vergriffene Werke Zum Ende dieser Wahlperiode hat die Regierungskoalition auch noch eine neue Regelung für verwaiste und vergriffene Werke geschaffen. Ziel dieser Regelung ist es, Wissenschaftseinrichtungen nach einer qualifizierten Suche eine Digitalisierung und Nutzung ausgewählter Werke zu gestatten. Sofern sich kein Urheber mehr ermitteln lässt, ist dies zukünftig gegen eine pauschale Vergütung an eine Verwertungsgesellschaft möglich. Schon im Sommer 2012 fand zu einem Regelungsvorschlag der Deutschen Literaturkonferenz, der von der SPD-Bundestagsfraktion als Gesetzentwurf aufgegriffen und in den Bundestag eingebracht wurde131, eine erste Anhörung statt. Zwischenzeitlich wurde auf europäischer Ebene auch eine Richtlinie132 über die verwaisten Werke verabschiedet, die bis zum 29. Oktober 2014 in deutsches Recht umgesetzt werden muss. Das Bundesministerium der Justiz hat diese Richtlinie aufgegriffen und um Regelungen zu vergriffenen Werken ergänzt. Der Gesetzentwurf zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und einer weiteren Änderung des Urheberrechtsgesetzes wurde am 10. April 2013 im Kabinett beschlossen und nach einer Anhörung im Rechtsausschuss am 10. Juni 2013 in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause mit wenigen Änderungen vom Bundestag verabschiedet.133 Urheberrechtlich geschützte Werke können grundsätzlich nur genutzt werden, sofern der Rechteinhaber dem zustimmt, auch wenn dieser nicht zu ermitteln ist. Dem steht hier das öffentlich Interesse an der Nutzung des kulturellen Erbes gegenüber. Die gefundene Treuhandlösung sieht vor, dass nach einer ausführlichen Suche für eine Nutzung eine pauschale Vergütung an eine Verwertungsgesellschaft gezahlt wird. Der Urheber kann dieses Geld anschließend einfordern. Damit sind seine verfassungsrechtlich geschützten Interessen an einer Vergütung gewahrt, lediglich hinsichtlich seines Urheberpersönlichkeitsrechts könnte es hier Schwierigkeiten geben. Auch die Regelung zu den vergriffenen Werken sieht eine nutzungsbezogene Vergü  BGH GRUR 1999, 707 – Kopienversanddienst.   Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion vom 6.  12. 2010 (BT-Drs. 17/3991). 132   EU-Richtlinie 2012/28 vom 25. Oktober 2012 über bestimmte zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke. 133   BT-Drs. 17/13423 vom 8.  5. 2013. 130 131

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tung vor und lässt dem Rechteinhaber Möglichkeiten, einer ungerechtfertigten Nutzung entgegenzutreten. Folglich sind beide Regelungen gemäß Art.  14 GG unbedenklich und stellen keine Schranke im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine pauschale Vergütungsregelung dar.

3.  Beschränkungen der Vertragsfreiheit: Unabdingbares Zweitverwertungsrecht, §  38 Abs.  4 UrhG Auch außerhalb des Bereiches der urheberechtlichen Schranken sieht sich der Gesetzgeber bisweilen veranlasst, den Bereich des Wissenschaftsurheberrechts den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen und den Zugang zu möglichst vielen Werken zu stärken. Neben der Zwangslizenz des §  5 Abs.  3 Satz 2 UrhG und derjenigen zur Herstellung von Tonträgern nach §  42a UrhG gehört dazu vor allem das für die Wissenschaft höchst relevante unabdingbare Zweitverwertungsrecht. Gleichzeitig mit den Regelungen zu den verwaisten und vergriffenen Werken wurde in §  38 Abs.  4 UrhG auch ein verbindliches Zweitverwertungsrecht für öffentlich geförderte wissenschaftliche Beiträge eingeführt.134 Einen entsprechenden Entwurf hatte die SPD-Bundestagsfraktion bereits vor zwei Jahren vorgelegt.135 Beide Gesetzentwürfe sehen vor, dass wissenschaftliche Beiträge, die im Rahmen einer mindestens zur Hälfte mit öffentlichen Mitteln geförderten Forschungstätigkeit (bei der SPD auch geförderte Lehrtätigkeit) entstanden sind und in Periodika oder Sammelwerken nach §  38 Abs.  2 UrhG erscheinen, auch bei Einräumung eines ausschließlichen Nutzungsrechts nach Ablauf einer so genannten Embargofrist noch einmal veröffentlicht werden können. Dieses so genannte Zweitveröffentlichungsrecht ist unabdingbar und verbindlich vorgeschrieben. Zweck soll die Stärkung des Urhebers gegenüber den Wissenschaftsverlagen und mittelbar die Förderung von Open-Access-Veröffentlichungen sein.136 Diese vorgeschriebene Unabdingbarkeit des Urheberrechts an wissenschaftlichen Werken stellt grundsätzlich einen Eingriff in die vermögenswerte Position des Urhebers dar, weil er dieses Recht nun nicht mehr uneingeschränkt einräumen kann und er damit in der Verfügung und auch in der Verwertung seines ausschließlichen Nutzungsrechts beschränkt wird. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Schranke des Urheberrechts, sondern um eine Beschränkung der Urhebervertragsfreiheit, die jedoch in gleicher Weise wirkt und gleichen Voraussetzungen unterliegt. Daher kann auch dieser Eingriff nur mit dem Allgemeinwohlinteresse an einer florierenden Wissenschaft gerechtfertigt werden. Die Eingriffsintensität ist hier niedrig, weil das ausschließliche Verfügungsrecht lediglich für einen gewissen Zeitraum beschränkt wird. Eine Vergütung oder eine Beteiligung kommt insofern nicht in Frage, weil der Urheber über das Nutzungsrecht anschließend wieder frei verfügen kann. Verfassungsrechtlich gibt es also keine grundlegenden Bedenken gegen ein verbindliches Zweitverwertungsrecht. Allerdings kann darüber gestritten werden, ob eine solche Ver  BT-Drs. 17/13423 vom 8.  5. 2013.   BT-Drs. 17/5053 vom 16.  3. 2011. 136   Vgl. BT-Drs. 17/5053, S.  4. 134 135

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pflichtung wirklich geeignet ist, den erstrebten Zweck zu fördern und die Urheber dazu gezwungen werden müssen. Im Übrigen ist dies auch eher als ein Eingriff in das Urheberpersönlichkeitsrecht zu werten, weswegen sich der Deutsche Hochschulverband als Vertretung der Hochschulprofessoren in der Anhörung des Rechtsausschusses gegen eine solche Regelung ausgesprochen hatte.

V. Fazit Der Gesetzgeber hat mit der letzten Urheberrechtsänderung wieder neue Änderungen im Wissenschaftsurheberrecht beschlossen. All diese Regelungen sind im Rahmen der bisherigen Schranken und verfassungsrechtlich zulässig. Es zeigt sich jedoch, dass die Bundesregierung das öffentliche Interesse der Wissenschaft immer stärker gewichtet und zu deren Vorteil immer neue oder weitergehende vergütungspflichtige Schranken geschaffen hat. In der Tendenz werden also die Eingriffe in das geistige Eigentum immer stärker und verschieben gleichzeitig die Grenzen der Verhältnismäßigkeit. Dies ist im Sinne der Wesensgehaltstheorie nicht unendlich fortzusetzen. Für die nächste Wahlperiode stellt sich die Frage des angemessenen Ausgleichs aber wieder neu. Dem Gesetzgeber wird hier wieder eine wichtige Rolle als Korrektiv zukommen. Er muss entscheiden, was wissenschaftspolitisch wünschenswert und rechtlich machbar ist. Auch im Hinblick auf die Forderungen nach einer einheitlichen Wissenschaftsschranke wird deutlich, dass eine solche zwar wünschenswert, aber gesetzestechnisch nur sehr schwer zu realisieren ist. Zunächst muss klar zwischen den verschiedenen erlaubten Nutzungen wie der Vervielfältigung, der öffentlichen Wiedergabe oder der öffentlichen Zugänglichmachung unterschieden werden. Darüber hinaus erfolgt die Vergütung bislang sowohl nutzungsbezogen als auch pauschal. Und nicht zuletzt werden alle Schranken durch Voraussetzungen und besondere Bestimmungen wieder eingeschränkt. Diese Differenzierungen gehen auf einen ständigen Prozess der Interessenabwägung zwischen den Interessen der Urheber und der Wissenschaft zurück, die weitgehend zu einzelfallgerechten und auch praktikablen Lösungen geführt haben. Gerade weil es sich hier um Eingriffe in das grundrechtlich geschützte geistige Eigentum handelt, müssen bei jeder gesetzlichen Änderung die Wechselwirkungen im Wissenschaftsurheberrecht berücksichtigt werden. Für eine einfache Lösung sind die Wissenschaftslandschaft und das Urheberrecht zu komplex. Die Digitalisierung mag die Nutzung wissenschaftlicher Werke via Internet einfacher gemacht haben. Die rechtlichen Lösungen werden dadurch jedoch komplizierter – wenn sie interessengerecht sein sollen.

Menschenrechte im Islam oder nur islamische Menschenrechte? Zum Menschen(rechts)bild im Koran von

Rechtsanwalt Dr. S˛ükrü Uslucan, LL.M. (Columbia), Berlin1 „There is always an easy solution to every human problem – neat, plausible, and wrong.“2 Henry Louis Mencken (1880–1956)

Einleitung Seit einiger Zeit ist „der Islam“ mit seinen derzeit ca. 1,2 Mrd. Anhängern in einen gewissen „fontanischen Sog“ geraten: Stets haben größere sozio- wie auch geopolitische Umstrukturierungen der Gesellschaften zu besonderen Schwierigkeiten und Spannungen in der sog. „islamischen Welt“ geführt, welche wiederum Irritationen in der übrigen Welt hervorriefen. Jüngst zählen dazu die Vorgänge im verpassten Anschluss an „die Moderne“, wenngleich der sog. „arabische Frühling“, auch „Arabellion“ bezeichnet, neue Hoffnungen einer Anschlussfähigkeit verspricht. Ande­ rerseits hatte selbst Charly Chaplin in „Moderne Zeiten“ so seine Schwierigkeiten mit „der Moderne“ – nur um auf das gleichnamige Phänomen zu rekurrieren. Bei Chaplin stand aber jene Erscheinung als Symbol für einen rigiden Fließband-Automatismus. Demgegenüber wird „der Islam“ zumeist mit einer dogmatischen Grobund Starrheit assoziiert. Der „Weg hin zu Gott“ (Islam)3, der Kernbestandteil der islamischen Glaubenslehre ist, erweist sich scheinbar nicht für alle Gläubigen gleichermaßen zugänglich.

  Der Verfasser arbeitet als selbständiger Rechtsanwalt in einer Berliner Kanzlei.   Mencken zuerst in: „The Divine Afflatus“, New York Evening Mail v. 16.11.1917. 3   Geläufig ist die Übersetzung des Wortes „Islam“ als „Hingebung (zu Gott)“ oder „Unterwerfung“, vgl. zum historischen Wandel des Begriffs ausführlicher – statt vieler – Nagel, Der Koran, Frankfurt a.M. / Wien 1983 S.  128 ff. Daneben enthält es den gleichen Wortstamm wie „Salam“, das bekanntlich Friede bedeutet. 1 2

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Der folgende Beitrag will der zentralen Frage nachgehen, welche Rolle dem Menschen im Islam zukommt, und zwar zunächst nach koranischer Lesart, um dadurch – anschließend – eine vage Vorstellung hinsichtlich des islamischen Menschenrechtsverständnisses zu erhalten, wohlwissend, dass es „den“ bzw. „einen Islam“ als einheitlichen Bezugsrahmen für die denkbar vielfältigen Rekursionsvariationen nicht gibt. Daran anknüpfend sollen etwaige Deutungsmöglichkeiten aufgeworfen werden, die sich auf die Vereinbarkeit islamisch-theologischer Vorstellungen von Staat bzw. Herrschaft und Gesellschaft mit der säkularen Menschenrechtsidee beziehen. Legt man das zu Grunde, was derzeit aus verschiedenen Richtungen hierzu gesagt und geschrieben wird, so muss man der muslimischen Gedankenwelt eine gewisse Starr- wie Uneinheitlichkeit und vor allem Unklarheit attestieren. Und wie wünschenswert eigentlich „einfache und klare Lösungen“ nun auch sind, sie müssen – im Anschluss an Menckens Geleitspruch – in einer modernen, demokratisch-pluralistischen Gesellschaft von Anfang an eher suspekt bleiben. Dieser Zusammenhang lässt sich in besonderer Weise auf die Geschichte der Menschenrechte übertragen: Sie startete zunächst als Leidensgeschichte. Inzwischen entwickelt sie sich allmählich zu einer Erfolgsgeschichte – aber eben nicht überall gleichermaßen: Sie markierte im Gewand der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zunächst die „kopernikanische Wende“ (Christian Tomuschat) für das Individuum im Völkerrecht und hat damit jene anthropozentrische Kosmologie eingeleitet, die den Einzelnen ein gehöriges Stück aus den Fängen der staatlichen Allmacht entrückt hat.4 Diese Entmediatisierung des Individuums dürfte – more mathematico – die Stärkung desselbigen zur Folge haben. Freilich gilt das in einigen Bereichen bzw. Re(li)gionen nur symbolisch oder allenfalls programmatisch, so dass die rechtliche und tatsächliche Emanzipation sich nicht allerorts zeitgleich vollzieht. In diesem engen Kontext hat Hannah Arendt die Staatsangehörigkeit als „die große Gleichmacherin“ bzw. als „das Recht, Rechte zu haben“ bezeichnet und begriff es als das „einzig wirkliche Menschenrecht“.5 Das „Paradoxe“ bzw. „Dilemma“ dabei sei jedoch, dass der Schutz dem sie „potentiell bedrohenden Staat“ anvertraut werden müsse. Genau genommen ist es ein „Trilemma“: Denn stets mussten sich die Menschenrechte nicht nur gegenüber dem Machtanspruch irdischer Machthaber behaupten, sondern auch gegenüber der (All)Macht und dem (All)Wissen jenseitiger Herrscher (im Koran z. B. 57,2ff.). Letztere regieren zwar nicht unmittelbar, ohne dass ihr Einfluss dadurch entscheidend geschmälert wäre. Sie dirigieren vielmehr das Verhalten des Einzelnen mittelbar und im Verborgenen, aber dafür mit über­irdischunwandelbaren und überzeitlich-vollkommenen „(Vorher-)Bestimmungen“ (vgl. Koran 57,22), denen das Dogma der Unfehlbarkeit anhaftet. Die darin enthaltenen Weisungen versprechen einen Halt in dem unsicheren Fahrwasser „der Moderne“. Deren „Ambivalenz“6 hat wiederum die Individualisierung gelegentlich soweit ins Extreme getrieben, dass sie für Diesseitige nur noch Isolation, für Jenseitige lediglich Ausgrenzung übrig hat. Zumindest glauben das jene Anhänger des Jenseitigen, die 4  Tiefgründiger Uslucan, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit: Deutet sich in Europa ein migrationsbedingtes Recht auf Staatsangehörigkeit an – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit?, Berlin 2012, S.  30 ff., m. w. N. 5   Arendt, Es gibt nur einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4 (1949), S.  754 ff. (764). 6  Erhellend Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a.M. 1992.

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eine Sicherheit bereits im Diesseitigen – als notwendige Vorstufe zum Jenseits (so z. B. im Koran, Sure 57) – benötigen. Beim Aufeinanderprallen der dahinter stehenden verschiedenen Selbst- und Weltverständnisse kommt es dann nahezu unausweich­ lich zu verschiedenen „Sollbruchstellen“, weil die wechselseitige Rezeption entweder die politische Macht oder die religiöse Autorität in Frage stellt(e). Denn es treffen dann Strömungen aufeinander, die sich aus unterschiedlichen „Quellen“ speisen: jede für sich mit arteigenem „Heilwasser“, das aber hinsichtlich „Qualität“ und „Frische“ z. T. erheblich voneinander abweicht. Als exemplarisches Beleg fürs Letztere – allerdings in gesellschaftlicher Form – sollen die nach Deutschland immigrierten islamischen – vorwiegend türkischen – Migranten dienen: Sie trafen hierzulande auf eine weitgehend säkulare Lebens- und Arbeitswelt, auf ein Welt- und Religionsverständnis, das weitgehend von einem aufgeklärten Rationalismus durchzogen war. Das wesentliche Charakteristikum bei diesem Zusammentreffen, bei dem Gesichtspunkte eines etwaigen „Religions- und Kultur-Clashs“ anfangs ausgeblendet schienen, war die wechselseitige Unkenntnis des jeweils anderen Sinn- und Wertkonzeptes. Hinzukam die Unerfahrenheit und Schwierigkeit im gegenseitigen Umgang mit dem – für beide Seiten – „Fremden“.7 Unwissenheit trug auf der einen Seite mitunter zur negativen Konnotation des Begriffs der „Säkularisierung“ bei, die vereinzelt sogar mit Religionsfeindlichkeit verwechselt wurde. Für die nachfolgende Untersuchung sollen jene potentiellen Konfliktlinien zwischen „dem Islam“ und der säkularen Idee bzw. den universellen Menschen­rech­ ten – vorab und etwas grobschlächtig, aber komplexitätsreduzierend – in folgende Antagonismen weiter differenziert werden, ohne sich gegenseitig ausnahmslos auszuschließen: – gottverliehene Rechte („fideistische Theozentrik“) versus angeborene Menschenwürde („rationale Anthropozentrik“); also theozentrische Vorstellungen gegen naturrechtliche Ideen – Vormoderne (anarchisch-archaisch strukturierte Herrschafts- bzw. Stammesverbände) versus Postmoderne (säkular-entgrenzte und „entzauberte Nationalstaa­ ten“ im Kontext der Global-, International- und Supranationalisierung); d. h. lose strukturierte Stammesverbände gegen stark institutionalisierte und säkularisierte Natio­nal­staaten – Kollektivität (Allgemeinwohl) versus Individualität (Subjektivität); sowie Partikularismus gegen Universalismus8

 „Es ist ein Grundzug der Kultur dass der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste misstraut, (...) Schließlich besteht das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung, (...) darum ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die tiefste Anlehnung an einen Menschen in dessen Ablehnung besteht.“, so Musil, Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1957, S.  26. 8   Indes wird in jüngeren Veröffentlichungen immer öfter das Individuum als Thema der Untersuchung gewählt, und zwar in einem Maße und in einer Weise, wie er es im traditionellen Selbstverständnis des Islams bisher nicht war, so Schwartländer, Einleitung, in: Schwartländer (Hrsg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, S.  4 4. 7

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Letzteres stellt den Kern der geläufigen Kulturrelativismus-Debatte dar. Vor dem Hintergrund des allmählichen Verblassens dieser ethisch imprägnierten Diskussion soll versucht werden, jene unheilvolle Büchse der Pandora in prometheuischer Vor­ aussicht nicht zu öffnen; allenfalls, um „die Hoffnung“, die bekanntermaßen sich dort am Boden befindet, als letztes herauszulassen. Dann ist nämlich wie auch namentlich nicht erst im „nachhinein zu Bedenken“9, welche „Übel und Seuchen“ man herausgelassen hat. Zugegebenermaßen wird das nicht so einfach sein. Denn es gelingt nicht durchweg, das (menschen-)rechtliche Extrakt im islamischen Denken frei von ethisch-kulturellen und politischen Elementen zu synthetisieren. Angesichts der vielfältigen strukturellen Unverträglichkeiten im untersuchten Themenfeld kann selbstverständlich hier nur ein kleiner Einblick zum Ganzen gewährt werden. Grundanliegen ist, auf einige ausgewählte Konstanten und Variablen in diesem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen „dem Islam und den Menschenrechten“ einzugehen. Dann lassen sich bereits im Vorfeld womöglich bestimmte theo­retische Missverständnisse und praktische Hindernisse ausloten und sogar ausräumen, die für die weiteren Diskussionen in diesem Feld unverzichtbar sind. Denn die Fortführung dieses Dialoges mit dem Islam ist sehr wichtig, um diesen nicht zu einem religiösen bzw. kulturellen Monolog verkommen zu lassen.10

1.  Gang der Untersuchung Im ersten Teil der Untersuchung, der den Schwerpunkt der Abhandlung bildet, wird das „Menschenbild im Koran“ – als dogmatische Ausgangslage – dargestellt, weil unser herkömmliches Menschenrechtsverständnis eine moderne Vorstellung ist.11 Eigentlich müsste zuvor auf den „Prozess der Verrechtlichung des Islams und Islamisierung des Rechts“12 eingegangen werden, weil nur dann sich einem die art­ eigene Menschenrechtskonzeption erschließt. Das würde zugleich zeigen, dass der Koran in seiner – damaligen wie heutigen – Auslegung nicht so starr ist bzw. war, wie oftmals behauptet wird, wenngleich ihm ein abschließender wie letztverbindlicher Charakter zukommt. Schließlich spricht dort Gott direkt zu den Menschen, was wiederum seine interpretatorische Enge wie auch seine „göttliche Natur“ erklärt („Offenbarungsreligion“). Das kann nachfolgend aber nur angedeutet und größtenteils vorausgesetzt werden, um den vorgegebenen Rahmen nicht zu sprengen wie auch die gewählte Blickrichtung nicht aus den Augen zu verlieren. Denn insoweit soll in diesem Beitrag vor allem die Brücke zum Völkerrecht geschlagen werden. Schließlich existieren inzwischen zahlreiche „islamische Menschenrechtserklä9   So ungefähr die wörtliche Übersetzung von „Epimetheus“ (griech.: „der im Nachhinein Bedenkende“), Ehemann der Pandora, der nach der griechischen Mythologie bekanntlich die unheilvolle Büchse öffnet. 10  Siehe Beck, Islam einbürgern – Auf dem Weg zur Anerkennung muslimischer Vertretungen in Deutschland, hrsg. v. BAMF, Nürnberg 2005, S.  6 ff. 11  Erhellend wie weiterführend zum Menschenbild noch immer, der von Peter Häberle verfasste Band, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, inzwischen in der 4. aktualisierten wie erweiterten Auf­ lage, Berlin 2008. 12   Dazu ausführlicher Uslucan, Islamisches Rechts- und muslimisches Gesellschaftsverständnis: Zur Verrechtlichung des Islam und Islamisierung des Rechts, ZAR 2006, S.  237 ff.

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rungen“ auf der internationalen Bühne, deren Verbindlichkeit für die „islamischen Staaten“ erhellt werden soll. Genau genommen müsste eine rechtliche Einteilung der „islamischen Welt“ auch anhand (verfassungs-)rechtlicher Kriterien erfolgen. Sie müsste damit noch deutlicher danach differenzieren, welchen Stellenwert und Einfluss die „Scharia“ – dann in der Bedeutung „als Rechtsquelle“13 – in dem jeweiligen Staats- und Verfassungssystem konstitutionell wie auch konzeptionell einnimmt.14 Der zweite Teil der Untersuchung will – im Anschluss an das Vorherige – jene Anzeichen untersuchen, die im Sinne eines säkularisierten Menschenrechtsverständnisses von Muslimen in Europa zu deuten wäre, und zwar speziell in Deutschland. Die Annahme ist, dass jene vermuteten Bruchstellen bzw. Konflikte hier kleiner ausfallen, sie also nicht so groß sind wie bisweilen unterstellt oder gar befürchtet werden. Denn es zeigt sich, dass Muslime in der Diaspora einer zeit- und kontextgemäßeren Islam-Auffassung weitaus offener gegenüber stehen. Die tatsächliche Anpassungs- bzw. Wandlungsfähigkeit soll anhand der am 3. Februar 2002 verabschiedeten sog. „Islam-Charta“ des „Zentralrates der Muslime“ (kurz: ZMD) aufgezeigt werden. Dieser Vorgang ist Ausdruck eines sich hierzulande nicht bloß allmählich etablierenden, sondern zugleich stetig institutionalisierenden Islams. Damit besteht – trotz vieler Vorbehalte gegen diese Charta wie auch den ZMD – zumindest eine textlich bzw. schriftlich fixierte Erklärung in Deutsch bzw. für die Muslime in Deutschland, deren Gehalt einer etwas tiefer gehenderen Analyse zugänglich ist, um damit zugleich die Problematik in diesem komplexen Bezugsverhältnis aufzuzeigen.

2.  An- bzw. Vorbemerkungen zum „islamischen Menschenrechtsdiskurs“ Die folgende Abhandlung wird ihre theoretische Grundierung nicht leugnen können. Zwar ist die Disparität zwischen der Menschenrechtsidee und ihrer sozialen Realität, also ihrer tatsächlichen Beachtung, ein wohlbekanntes und vielbeschriebenes Konfliktthema, so dass der Leitspruch passt: „Der Unterschied zwischen der Theo­ rie und Praxis ist in der Theorie viel kleiner als in der Praxis.“ Speziell im Fall „des Islams“ ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass der Prozess seiner „Verrechtlichung so­w ie Polit- und Ideologisierung“ den hiesigen Menschenrechtsdiskurs zusätzlich belastet. Resultat ist eine Verschmelzung zwischen den angedeuteten Sphären des Rechts (Autorität), der Religion (Ethik) und Politik (Macht und Herrschaft), die das eingangs erwähnte „trilemmatische Wirkungsverhältnis“ erzeugt. Denn nicht zuletzt schlugen hier Beweggründe der politischen Vorherrschaft sich wiederkehrend auf die 13   Andere Bedeutungen sind „Weg zur Quelle“ im Sinne von „Weg ins Paradies“ wie auch „Weg zur Tränke“. Dem Wortsinn nach steht es auch für „deutlicher, gebahnter Weg“. Im Koran ist der Begriff nur einmal in Sure 45, Vers 18 (kurz: 45,18) erwähnt und meint dort aber eher „religiöses Gesetz“ bzw. „Ritus“, vgl. zur Etymologie des Begriffs – neben Nagel (Fn.  3 ), S.  15 ff. – Schacht, in: Enzyklopädia des Islams, Bd.  I V, S.  4 4 f. Merad, Die Scharia – Weg zur Quelle des Lebens (Diskussionsbeitrag), in: Schwartländer (Fn.  8 ), S.  392 f. (392). 14   Vgl. zu einer (älteren) Untersuchung zum Stellenwert des Islams in den Verfassungen arabischer Staaten Tworuschka, Die Rolle des Islam in den arabischen Staatsverfassungen, Bonn 1976, S.  33 ff. Daneben Ebert, Arabische Verfassungen und das Problem der „islamischen Menschenrechte“, in: Verfassung und Recht in Übersee 30 (1997 – erstmals erschienen 1980), S.  520 ff.

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Schariainterpretation wie auch Koranexegese durch. Zudem weist bekanntlich die Scharia – als Schlüsselbegriff im islamischen Rechtsdenken – eine charakteristisch ganzheitliche Perspektive auf, die im Prinzip die rein juristische Dimension trans­ zendiert. Hierzu wäre die theozentrische bzw. -kratische Formel zu zitieren: „Der Islam ist Religion und (weltumspannender) Staat“ („din wa daula“).15 Das islamisch-theologische (Menschen-)Rechtsverständnis ist daher stets im Spiegel des göttlichen Rechts des „Korans“ („das Vorzutragende“) bzw. der Scharia zu sehen.16 Das wiederum führt zu vielfältigen Überschneidungen zwischen der Ebene des Rechts und Fragen der religiösen Ethik. Dieses arteigene Rechtsverständnis prägt letzten Endes auch das Menschen-„Rechtsdenken“. Rechtliche wie politische Auseinandersetzungen berücksichtigen diese zuvor genannte Wechselbeziehung bisweilen zu wenig.17 Sicherlich ist eine Differenzierung nicht so einfach, weil es nicht durchweg gelingt, das rechtliche Extrakt frei von re­ ligiösen (ethisch-kulturellen) und politischen (herrschaftlichen) Elementen zu synthetisieren. Auf dieser Linie scheint daher ein weiteres „Caveat“ angebracht: Die Diskussionen rund um das Thema „Islam und Menschenrechte“ sollten bestrebt sein – soweit es geht – „normativ-abstrakte“ sowie „reduktionistische“ oder „essentialistisch-relative“ Fragestellungen zu umgehen.18 Denn pauschale Fragen danach, ob denn das „islamisches Recht (das es in einheitlicher Form nicht gibt, ebenso wenig den „Muslim an sich“, weil die Religion stets einen unterschiedlichen Bedeutungsgehalt im jeweiligen Selbstkonzept des Einzelnen hat), überhaupt mit dem Konzept eines modernen (idealtypisch westlichen) Menschenrechtsverständnisses vereinbar ist, haben stets den Nachteil, dass sie „defensiv-apologetische“ Reaktionen hervorrufen. Das wiederum wirkt einem gemeinsamen und pragmatischen Menschenrechtsdialog abträglich. In gleicher Weise gilt das für Fragen nach einem „umfassenden Konzept“ des Umgangs mit dem Islam: Mit Blick auf die Vielfalt islamischer Lehr15   So der Titel z. B. bei Büttner, „Der Islam ist Religion und Staat!“, in: Berndt / El Masry (Hrsg.), Konflikt, Entwicklung, Frieden. Emanzipatorische Perspektiven in einer zerrissenen Welt, Kassel 2003. Kandel, Islam und Muslime in Deutschland, Internationale Politik und Gesellschaft, Bonn 1 / 2002, dort die Nachweise unter Fn.  15. 16   Der Koran (siehe bereits oben Fn.  12) stellt als absolut höchste Rechtsquelle die niedergeschriebene Sammlung der Offenbarungen des Propheten Mohammad dar. Er ist nicht auf den schriftlichen Text beschränkt, weiterführender Nagel (Fn.  3 ), a. a. O., ebd.; zum „rechtlichen Kontext“ eingehender Uslucan (Fn.  12), S.  238 ff. 17  So Kartal, Islam und Menschenrechte, Konturen des Konzepts vom Koran und der Scharia im Vergleich der UN-Konvention, KJ 2003, 382 ff., der zu lange auf der politischen Ebene (der Voreingenommenheit) verweilt. Größtenteils zutreffend die Replik von Tohidipur, Islam und Menschenrechte revisited, KJ 2004, 305 ff. Etwas überhöht und z. T. polemisch die Duplik (als Antwort auf Tohidipur) von Thiée, Muslimisches Recht – Zwischen liberaler Reform und reaktionärem Fundamentalismus, KJ, 2005, 187 ff. Letzten Endes kann – in Anlehnung an Michel Foucault – der Autor als menschliches Subjekt, mit seinen jeweiligen politischen Zusammengehörigkeiten, selbst im Rahmen der „Wissensproduktion“ wohl nicht vollständig ausgeblendet werden. 18   So auch Würth, Dialog mit dem Islam als Konfliktprävention? Zur Menschenrechtspolitik gegenüber islamisch geprägten Staaten, Berlin 2003, S.  10 ff. und 34 ff.; sowie dies. / Tillmann, Menschenrechte, Dialog und Islam: Überlegungen zu Strategien des Menschenrechtsschutzes, in: Der Bürger im Staat, hrsg. v. LpB Baden-Württemberg, Islam in Deutschland, 51. Jg., Heft 4, 2001, 38 ff. Ebenso der seinerzeitige Islam-Beauftragte der Bundesregierung, Gunter Mulack, am 10.3.2004 im AA, der dort vor „lehrmeisterhaften Ratschläge“ warnte.

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meinungen kann das allenfalls zu grobkörnigen Erkenntnissen führen.19 Vergleichbares gilt für Diskurse auf der dogmatisch-fundamentalen Ebene: Diese können eigentlich nur die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Koran und fundamentalen Menschenrechten konstatieren. Da hilft nicht wirklich weiter, dass eine derartige Methode zu vergleichbaren Schwierigkeiten bei den anderen beiden monotheistischen bzw. abrahamitischen Religionen führen würde. Demgegenüber ist es weitaus gewinnbringender auf die institutionalisierten und formalisierten Prozesse im Rahmen der UNO-Verfahren abzustellen und dabei die Umsetzung internationaler Menschenrechtsabkommen als Bezugspunkt zu wählen (wie hier) sowie die gegenwärtige, tatsächliche Einhaltung und Einstellung zu religiösen Vorgaben zum vordergründigen Maßstab zu machen und dabei den historischen Entstehungskontextes hinreichend zu würdigen.20 Anschließend sollte dann gezielter nach kontextualen Vereinbarungs- bzw. Harmonisierungsmöglichkeiten (s. u.) gefragt werden, unter gehöriger Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Menschenrechtsgewährleistungen. Im Weiteren darf beim Vergleich zwischen menschenrechtlich motivierten und religiös determinierten Handlungsgeboten der systemimmanente religiöse Charakter, d. h. die transzendente Bindung jener Dokumente, nicht vollständig ausgeblendet werden.21 Vielmehr ist empfehlenswert, zuerst die dahinter stehende Metaphorik als solche zu erkennen bzw. zu begreifen und erst danach die zeitgemäße Deu­tungs­ möglichkeiten auszuloten. Nur so lassen sich im Interesse der Menschenrechte Fortschritte erzielen. Und dieses wichtige Ziel sollte nicht aus den Augen verloren werden! Mit anderen, genaueren Worten: Wegen der transzendenten Bindung und Ausrichtung des Religiösen ist es wichtig, zuerst eine hinter dem jeweiligen Ge- bzw. Verbot stehende Metaphorik als solche zu erkennen und im Anschluss den damit generell verfolgten Sinn zu klären. Die Einbettung in zeit- und kontextgemäße Deutungsmöglichkeiten lässt sich erfahrungsgemäß erst dann sachgerecht angehen, wenn das mit dem Gebot beabsichtigte „Ziel“ feststeht. Demnach sollte nicht auf der Ebene der konkreten Umsetzung („Mittel“) einzelner Gebote stehen geblieben werden, weil diese zumeist in einer historisch ganz bestimmten Konstellation erfolgt sind. Diskurse sollten vielmehr mit der Benennung konkreter Einzelprobleme beginnen und anschließend gezielter nach systemimmanenten Vereinbarkeiten suchen.22 Nur eine solche Vorgehensweise könnte noch exakter den religionsspezifischen Inhalt bestimmter Ge- oder Verbote (als Destillat) feststellen. Im Ergebnis sollte nur das tatsächlich gelebte Verhältnis von Religion und Menschenrechten entscheidend sein, weil dadurch jene – hier oft anzutreffenden – formelhaften Lehrsätze sich als solche enthüllen ließen. Gleichzeitig ist aber zu beach­ ten, dass der Geltungsvorrang bzw. Absolutheitsanspruch der Scharia nicht allzu sehr vernachlässigt wird. Denn gelegentlich leiden zu weitgehende Auslegungen daran, dass sie den rechtlichen Charakter der Scharia ganz oder teilweise untergraben. Sie   Würth, a. a. O., S.  10 bzw. 18 ff. Dies. / Tillmann, a. a. O., S.  38 ff.   So auch Würth, a. a. O. 21  So Kartal (Fn.  17), der die verschiedenen islamischen Menschenrechtserklärungen in einer recht pauschalen und grobschlächtigen Manier als völlig unzureichend ablehnt. 22   In diese Richtung auch Würth (Fn.  18), a. a. O. 19

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setzen sich dann unweigerlich dem Vorwurf einer unzulässigen Überdehnung aus und haben schließlich keine normative Wirkungsmacht bei den Gläubigen. Das Gelingen dieses zuvor umrissenen diskursiven Balanceaktes bestimmt ganz entscheidend den künftigen islamischen Menschenrechtsdialog, der seine wichtigsten Kräfte aus einer innerislamischen Auseinandersetzung heraus erlangen muss, um von den praktizierenden Muslimen auch als authentische Interpretation akzeptiert und anerkannt werden zu können. Freilich sind in diesem Entwicklungsprozess Impulse von außen wichtig und richtig. Sie sollten aber nicht in pauschal-polemischen, unsubstantiierten Plädoyers präsentiert werden – wie immer wieder Mal zu be­obachten ist. Diese tendenziöse Art der Auseinandersetzung dient allenfalls den Talkshows und Boulevardblättern. Hingegen wird sie wenig in den Köpfen jener Muslime bewirken, bei denen ein Nach- und Umdenken zu einem menschenrechtsgemäßeren Umgang erhofft wird – worum es doch hauptsächlich geht oder eigentlich gehen sollte. In diesem Sinne ist es also weitaus erfolgversprechender, den jeweiligen religiösen Wahrheitsanspruch insgesamt praxisgerechter auszurichten, weil er nicht zwingend alle profanen Bezugsverhältnisse betrifft. Demzufolge ist es gewinnbringender, noch stärker die tatsächliche Einstellung der Muslime gegenüber den religiösen Vorgaben zum Maßstab zu machen, d. h. die wirkliche Einhaltung zum vordergründigeren Bezugspunkt zu wählen. Denn in diesem zentralen Punkt besteht – neben dem perspektivischen Unterschied zwischen der muslimischen (aus Sicht der Gläubigen) und islamischen (aus Sicht der Religion) – mitunter ein deutliches Abweichen des in­ dividuell-tatsächlichen Verpflichtungsgrades von der theoretisch-abstrakten, religiös-dogmatischen Sollensvorgabe wie vornehmlich bei den Diaspora-Muslimen. Hier zeigt sich zunehmend, dass mit dem Aufwachsen in einer weitestgehend säkularisierten Umgebung eine Relativierung der Religiosität einhergeht, die eine Harmonisierung mit der universalen Menschenrechtsidee – auf lange Sicht – zu erleichtern verspricht.23 Freilich ist nicht selten auch ein Abweichen in die entgegengesetzte Richtung zu beobachten, das mit dem jeweiligen Informations- bzw. Bildungshorizont korreliert: So werden hin und wieder bestimmte Verhaltensweisen vermeintlich religiös begründet, für die in Wirklichkeit keine echte religiöse Quelle existiert. Dieses Phänomen lässt sich gewissermaßen als „gefühlter Glaube“ interpretieren – quasi im Duktus eines „gefühlten Wissens“. Kurz zusammengefasst: Die Beherzigung dieser „An- bzw. Vorbemerkungen“ kann letzten Endes eher dazu beitragen, eine religiöse Bemäntelung politischer Motive als solche aufzudecken. Sie könnte zudem helfen, lediglich entstehungsgeschichtlich bedingte Verläufe als reine Zufallsprodukte der gesellschaftlichen Umstände aufzuzeigen, um sie in der Konsequenz von ihrer historischen Kontingenz zu entkleiden. Hierdurch erhöht sich die Anpassungsfähigkeit an veränderte Realitäten. Und um Letzteres soll es in diesem Beitrag hauptsächlich gehen, um der evolutiven Kraft der Menschenrechte auch in diesem sehr sensiblen Bezugsverhältnis einen weiteren Auftrieb zu vermitteln. 23  Vgl. Aydin / Halm / S˛en, „Euro-Islam“, Essen 2003, Das neue Islamverständnis der Muslime in der Migration.

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1. Teil:  Zum Menschenbild im Koran: Die besondere Stellung des Menschen aufgrund der koranischen Schöpfungsgeschichte Bevor noch gezielter Kurs auf das islamische Verständnis in Bezug auf Menschenrechte genommen wird, macht es Sinn, sich kurz die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Menschenrechte zu vergegenwärtigen, um den Entstehungskontext nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Insoweit ist der „ideologische Unterbau“ erst dann vernachlässigbar, wenn der Schutz auch tatsächlich – ohne Einbußen hinsichtlich Umfang und Reichweite – geschaffen wird. Einem modernen (westlich-säkularen) Menschenwürdebegriff, der vorwiegend durch Rationalität und Subjektivität bzw. Individualität bestimmt ist, stehen in der islamischen Theologie religiös fundierte Auffassungen von Dignität gegenüber. Sie werden in allererster Linie aus dem Koran abgeleitet.24 Selbst die moderne arabische Bezeichnung für die „Menschenwürde“ wird aus derselben sprachlichen Wurzel ent­ nommen wie das koranische „Ehrprinzip“ aus Sure 17,70:25 „Und wir haben die Kinder Adams geehrt“. In dieser Diktion gibt es einige Stimmen, die in apologetischer Absicht in der frühislamischen Zeit ausschließlich verweilen (wollen) und sich in Folge dessen einer Neubewertung islamischer Konzepte – nahezu vollständig – verweigern. Sie suchen den Würdegedanken ausschließlich mit dem Selbstwertgefühl gleichzusetzen, der bei hinreichendem Vertrauen auf Gott und völligem Gehorsam gegenüber seinen Geboten entstehe. In diesem Sinne wird die menschliche Freiheit als „der Wille und die Fähigkeit des Menschen, niemandes Knecht zu sein, außer dem Gottes“ begriffen.26 Schließlich stehe das irdische Leben wie auch die diesseitigen Güter dem Menschen nur als „Nießbrauch“ zur Verfügung, sie gehörten ihm nicht auf ewig, sondern befristet; er darf aber über Letzteres verfügen, vgl. Koran z. B. 28,61. Demgegenüber rekurrieren die meisten muslimischen Gelehrten noch stärker auf die Eigenschaften des Menschen als „Statthalter“ bzw. „Kalifen“, und zwar in der Bedeutung als „Stellvertreter“ Gottes auf Erden bzw. „Nachfolger“ der Engel, wie das ganz prominent in (der längsten wie zugleich am Anfang des Korans befindlichen) Sure 24  Nach Wielandt, Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer muslimischer Denker, in: Schwartländer (Fn.  8 ), S.  179 ff., seien unter muslimischen Gelehrten die folgenden Stellen am häufigsten zitiert: 1. „Und wir haben die Kinder Adams geehrt“ (Sure 17,70). 2. „Wahrlich ich werde auf der Erde einen Nachfolger/Statthalter einsetzen“ (Sure 2,30). 3. „Wahrlich, wir boten das Treuhänderamt den Himmeln und der Erde und den Bergen an; doch sie weigerten sich, es zu tragen, und schreckten davor zurück. Aber der Mensch nahm es auf sich. Wahrlich er ist ungerecht, unwissend.“ (Sure 33,72). So werde selbst die (moderne) arabische Bezeichnung für die Menschenwürde („karamat al-insan“) aus derselben Wurzel abgeleitet wie das koranische „Ehrprinzip“ (Sure 17,70). 4. „Und als dein Herr aus den Kindern Adams – aus ihren Lenden – ihre Nachkommenschaft hervorbrachte und sie zu Zeugen gegen sich selbst machte (‚indem er sprach’): ‚Bin ich nicht euer Herr?‘, sagten sie: ‚Doch, wir bezeugen es‘“ [Dies ist so,] damit ihr nicht am Tage der Auferstehung sprecht: ‚Siehe, wir wussten nichts davon.‘ (Sure 7,172). Zum Ganzen tiefgründiger Nagel (Fn.  3 ), S.  229 ff. Troll, Welchen Stellenwert haben Menschenwürde und Religionsfreiheit im Islam?, Frankfurt a.M. 2004, S.  2 ff., m. w. N. 25  Zum nicht zu unterschätzenden Problem der ungenauen Übersetzung aus der koranisch-arabischen „Wurzel-Sprache“, die z. T. zu Bedeutungsverlusten führt, siehe Talbi, Religionsfreiheit – Recht des Menschen oder Berufung des Menschen?, in: Schwartländer (Fn.  8 ), S.  242 ff. (254). 26   Zum Folgenden Wielandt (Fn.  24), S.  179 ff.

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2,30 („die Kuh“ bzw. „Al-Baqara“) anklingt:27 „Wahrlich ich werde auf der Erde einen Kalifen einsetzen“. Auf dieser „gottähnlichen Ebene des Menschseins“ habe jeder mit der Vernunftsnatur ausgestattete Mensch einen besonderen Anspruch auf Beachtung und Berücksichtigung seiner „Menschenrechte“. Diese Stellvertreterrolle ähnelt der Gottesebenbildlichkeit im Juden- bzw. Christentum. Insofern ist auch im Koran des Öfteren die Rede vom „Antlitz Gottes, was die Menschen erstreben sollen“, ohne an eine bestimmte Örtlichkeit oder Himmelsrichtung gebunden zu sein, Gott ist ja allgegenwärtig, vgl. z. B. 55,26 f. Wie soeben angedeutet, zählt zu den wichtigsten und meistbenutzten Rekursen im Koran der Passus, der die Vorzugstellung und Funktion des Menschen im göttlichen Schöpfungsplan bzw. -akt hervorhebt, d. h. die gesamte Schöpfung auf den Menschen nahezu ausschließlich hin ausgerichtet ist, hat er doch Gewalt über die anderen Geschöpfe. Danach habe der Mensch das ihm „anvertraute Gut“ (Amana) – hier im Sinne der sittlichen Verantwortlichkeit gemeint – als einziges Geschöpf selbst­bestimmt wie auch freiwillig angenommen: „Wahrlich, wir boten die Amana den Himmeln und der Erde und den Bergen an; doch sie weigerten sich, es zu tragen, und schreckten davor zurück. Aber der Mensch nahm es auf sich.“ (Sure 33,72). Gott habe nach Voll­ endung des Schöpfungswerkes dieses „Vertrauenspfand“ zunächst vergeblich versucht, jenen Mächten anzutragen, die es aber ablehnten, weil sie vor dieser schier unmöglichen Aufgabe zurückschreckten.28 Gott verzichtete aber darauf, sie zu nötigen und respektierte ihre Weigerung. Unter allen Geschöpfen sei am Ende aber nur der Mensch bereit gewesen, die Amana anzunehmen. Hierdurch erhalte er diesen „Mächten“ wie auch anderen Geschöpfen (v.a. den willfährigen bzw. gottgefälligen Engeln) gegenüber nicht nur eine überlegenere Sonderstellung, sondern darin sei zugleich seine besondere Würde begründet, zeichnet er sich doch durch seinen besonderen Verstand aus, womit zugleich – wenn man so will – seine „Einsichts- und Schuldfähigkeit“ fest steht, vgl. ganz prominent Koran 4,112. Angesichts des neuzeitlich immer relevanteren Freiheitsbewusstseins wird zunehmend auch ein starker Bezug zur Freiheit hergestellt. Die Bereitschaft, die Amana auf sich zu nehmen, belege indes, wie sehr der Mensch von Natur aus neige, „frevelhaft“ bzw. „töricht“ zu sein. Denn der mit der Amana verbundene „Sendungsauftrag“ zur Freiheit und Eigenverantwortlichkeit wie auch Erkenntnis gottgemäßen Handelns könne niemals endgültig erfüllt werden. Die damit verbundene Bürde stelle sozusagen eine „mission impossible“ dar: Welche Unverfrorenheit und Überheblichkeit des augenscheinlich zerbrechlichsten Geschöpfes? Wie kann gerade er es wagen, dieses geheimnisvolle wie auch kostbare Gut, das den Angelpunkt des gesamten Schöpfungsplanes darstellt, zur sicheren Verwahrung (vorbehaltlos) anzunehmen? Und zwar nachdem die anderen Mächte das abgelehnt haben! 29 Gleichwohl drückt diese Tollkühnheit den hervorgehobenen Stellenwert des Menschen aus und verleiht ihm 27   Diese Bedeutungsvariante habe sich nach der Jahrtausendwende durchgesetzt, so Troll (Fn.  24), S.  2 , m. w. N. Siehe zu den inhaltlichen Unterschieden der Begriffe eingehender Nagel (Fn.  3 ), S.  237 ff. 28  Mit dem Himmel sind spirituelle Kräfte gemeint, mit der Erde dagegen die materiellen. Die Berge sind Symbol für Beständigkeit, Festigkeit und physische Kraft, Talbi (Fn.  25), ebd., m. w. N. zur Etymologie. 29   Talbi, a. a. O., S.  255 f., mit Hinweis auf die vielfach schlechten Übersetzungen jener Sure, die zu vielen Sinnfehlern in der Vergangenheit geführt habe.

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eine ganz spezifische Stellung im Schöpfungsakt. Hieraus ziehen moderne und reformorientierte Kreise den Schluss, dass die Menschenwürde weder erst verdient werden müsse noch dass sie verloren gehen könne. Sie ergebe sich allein daraus, wie Gott den Menschen gewollt und wozu er ihn bestimmt habe. Jene Theologen und Philosophen, die diese Begründungen vertreten, bejahen damit eine „Würde ohne Würdigkeit“.30 Diese Auffassung einer jedem Menschen inhärenten Menschenwürde – unabhängig von der jeweiligen Religion und Geschlecht – ist innerhalb der islamischen Gelehrtenschaft indessen streitig. Das zeigt schon allein der Blick auf die traditionelle Benachteiligung der Frau: Ihr wird zwar eine „Gleichwertigkeit“ zugestanden, je­ doch aufgrund der komplementären Rollen keine volle „Rechtsgleichheit“.31 Wenn­ gleich das eigentlich eher patriarchalisch, denn ausschließlich religiös motiviert ist. Denn nach wie vor liegt die Definitionsmacht innerhalb der traditionellen Koranexegese bei den Männern, so dass eine patrimoniale Auslegung dominiert. Im Zuge des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels, der inzwischen auch vor islamischen Staaten nicht Halt macht, wird in dieser strukturellen Benachteiligung zunehmend ein Verstoß gegen die menschliche Würde gesehen. Dabei werden zusehends sogar koranexegetische Auslegungen herangezogen, um der angeblich festgeschriebenen Ungleichheit wirksamer entgegen zu treten.32 Nichtsdestoweniger wird der Würdegedanke allenthalben als Gnadenakt Gottes aufgefasst: Gott habe den Menschen mit der Freiheit als auch Vernunft ausgestattet. Diese befähigen ihn zur eigenständigen Ordnung der Welt, so dass er stets das Glaubensbekenntnis (Schahada: Zeugnis vor und für Gott) ablegen kann. Hierzu wird hauptsächlich auf Sure 7,172 Bezug genommen. Also jener Schlüsselszene, die unmittelbar nach der Schöpfung erfolgt. In dieser Passage lässt Gott alle Nachkommen Adams vor sich erscheinen und fordert sie auf, ihn als ihren Herrn zu bezeugen. Sie tun das, und zwar bewusst und gewollt in Kenntnis der Verweigerungsmöglichkeit.33 Sonst macht diese wichtige Ursprungsszene wenig Sinn. Denn sie will doch quasi den „Ur-Vertrag“ besiegeln, wodurch zugleich die Freiheit der Selbstbestimmung symbolisiert wird – als Ausdruck der besonderen Natur des Menschen: Er ist zwar im Verhältnis zu den anderen Mächten zerbrechlich, hingegen ist er bereit, die Amana zu übernehmen. Er besitzt daher das Vermögen, das „Absolute“ Gottes zu erfassen und zu empfangen.34 Nach diesem Verständnis sind alle Menschen als „Kalifen“ zum eigenverantwortlichen Handeln und Eintreten für Gerechtigkeit (auf Erden) aufgerufen, um so stets den Schöpfungsplan zu befolgen. Andererseits wird, wie erwähnt, auch ein spezifischer Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und dem „Verweigerungsrecht“ postuliert, so dass sich die zu verwirklichende Freiheit relativieren kann. Sie hängt nämlich davon ab, wie man die „Stellvertretung Gottes“ interpretiert: also ähnlich wie Gott selbst, d. h. völlig frei in  Vgl. Wielandt (Fn.  24), S.  191 ff., m. w. N.   Vor allem im Familien- und Erbrecht oder als Zeugen vor Gericht. 32   In Sure 4,34 heißt es, dass die Männer den Frauen „übergeordnet“ bzw. „vorangestellt“ seien. Der arabische Begriff „qawwamuna“ lässt sich in verschiedene Richtungen interpretieren, siehe dazu unten Fn.  131. 33   So die Koranexegese des Philosophen Lahbabi, vgl. Wielandt (Fn.  24), S.  190 f. 34  So Talbi (Fn.  25), S.  253 und 254 f., m. w. N. 30 31

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seiner Entscheidungsgewalt, die eben auch die Möglichkeit des Sichverweigerns einschlösse. Oder aber diese Freiheit in Verbindung zu seiner „schöpferischen Funktion“ sieht, die eben kein Selbstzweck enthält, sondern mit einem bestimmten „sittlich-religiösen Sendungsbewusstsein“ ausgestattet ist. Letzteres wiederum konfligiert mit dem Konzept des „freien Gehorsams“, wonach eine erzwungene Unterwerfung sittlich wertlos und vor allem Gottes selbst unwürdig erscheint. Hier spielt zwar die sog. „Prädestinationslehre“ hinein, wonach das Schicksal eines Menschen allein von der Entscheidung Gottes bestimmt wird, ja sogar im Vorhinein in einem dafür eigens vorgesehenen „Buch“ bzw. „Verzeichnis/Register“ (als Grundlage für die gerechte Beurteilung am Jüngsten Tag) notiert ist, – und weniger von menschlichen Willensakten (z. B. Koran 57,22). Spätestens seit dem Ende des vorletzten Jahrhunderts sieht die islamische Theologie darin wohl mehrheitlich kein Hindernis, trotzdem die (umfassende) Willensfreiheit zu bejahen. Dessen ungeachtet wird die „sittliche Autonomie“ jedoch weniger neuzeitlich begriffen, sondern überwiegend eben nur als „sittliche Verantwortung vor Gott“ interpretiert. Mit anderen Worten: die dem Menschen verliehene Freiheit entbindet ihn nicht notwendig von der „unbedingten Verantwortung vor“ und „Geschaffenheit zu Gott“ hin und seiner Rechtleitung, so dass die Menschen sich nicht von ihm abwenden.35 Im Ergebnis kann das Menschenbild des Korans als recht zuversichtlich, mithin positiv bewertet werden: Trotz der gegensätzlich bis z. T. widersprüchlichen Beschreibungen (nicht allerdings für den Koran!) gewinnt man (quasi als Beobachter, nicht Teilnehmer, also Gläubiger) am Ende den Eindruck, der Mensch werde die diesseitige, stets allgegenwärtige Bewährungs- wie Versuchungszeit nutzen, um sich rechts- bzw. gottestreu und -fürchtig zu verhalten, was gleichzeitig den engeren Rahmen der persönlichen Verantwortlichkeit und Freiheit bildet. Alles andere würde auch wenig Sinn ergeben, selbst wenn die Charakterschwächen der bzw. des Menschen immerzu durchschimmern, ohne allerdings mit der Erbsünde belastet zu sein wie im Christentum. Das ist Folge des „Urglaubens“, der religiösen Urgeste der völligen (wieder) Hinwendung zum gütigen und verzeihenden Gott; mithin kann der Mensch jederzeit mit Vergebung rechnen, wenn er uneingeschränkte Buße (Taw­ ba) tut, selbst bei den schwersten oder schlimmsten Verfehlungen, vgl. allen voran die „Josef-Sure“ (Koran 12). Schließlich ist das die Bedeutung des Wortes „Islam“ im wahrsten Sinne (s.o.).

1.  Vereinbarkeit mit der säkularen Menschenrechtsidee Um das eben beschriebene Spannungsverhältnis ein Stück weit aufzulösen, schließen zumindest modernere bzw. säkularere Positionen aus dem Glaubensbekenntnis nicht automatisch auf eine Selbstverpflichtung hinsichtlich der Scharia: In der überlieferten Form könne in ihr – jedenfalls nicht so ohne weiteres – der einfache (offenbarte) Wille Gottes erblickt werden, den es als gottgewollte Rechtsordnung aller zu   Wielandt (Fn.  24), S.  196 f., m. w. N. Nagel (Fn.  3 ), S.  253 f.

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installieren gelte. Schließlich hat sie sich ja erst einige Jahrhunderte später entwickelt, so dass die Offenbarung mit dem Tode des Propheten abgeschlossen und die „Reli­ gion vervollkommnet“ war, Koran 5,3.36 Insoweit zeige die (partikulare) Säkularisierung und gesellschaftliche Umwälzung in islamischen Staaten, dass der dafür notwendige islamische (Ideal-)Staat nicht bloß illusorisch, sondern vor allem auch anachronistisch sei.37 Zur Kernfrage, ob damit – in concreto – die säkulare Menschenrechtsidee endlich mit einem muslimischen Religionsverständnis zu vereinbaren ist, lassen sich – grosso modo – wohl drei verschiedene Strömungen ausmachen, die aber nicht immer einfach auseinander zu halten sind: eine grundsätzlich eher zu verneinende (dogmatisch-fundamentalistische), eine tendenziell zu bejahende (traditionell-konservative) sowie eine relativ klar bekennende (säkular-reformorientierte). Zugegebenermaßen ist das eine sehr vereinfachende Darstellung. Sie dient aber lediglich der Übersichtlichkeit. Denn die einzelnen Strömungen sind angesichts ihrer Heterogenität nicht immer klar voneinander abgrenzbar, mitunter variieren sie themenspezifisch. Abseits dessen versuchen islamistische Bewegungen, Organisationen und Autoren sowie Staatenvertreter wiederkehrend die Geltung der Menschenrechte für die „islamische Welt“ zu bestreiten, und zwar auf einer (internationalen) politischen Ebene. Sie begründen diese gelegentlich mit der angeblichen Überlegenheit des Islams gegenüber anderen Glaubens- und Weltanschauungen. Der Islam sei insoweit ein „älteres, umfassenderes und glaubwürdigeres Bezugs- und Wertesystem“, so dass für islamische Gesellschaften die Menschenrechte „westlicher“ Prägung unnötig, wenn nicht sogar verwerflich seien.38 Hintergrund sind, unter anderem, die Nachwirkungen der Kolonialzeit, in deren Folge eine umfassende Umformung der islamischen Gesellschaften einherging. Sie rief zugleich eine religiöse Krise hervor. In den nach der Befreiung entstandenen unabhängigen Nationalstaaten versuchte man die teilweise Wiedererrichtung der kolonialen Ordnung zu vermeiden. Menschenrechte galten dann in einigen Kreisen als Symbol der überwundenen Kolonialherrschaft und Ausdruck des Hegemonialstrebens jener (westlichen) Mächte. Vereinzelt wird selbst die fortschreitende Mo­ dernisierung kritisch beäugt, als deren Ausdruck sich die Etablierung der Menschenrechte darstelle und ebenso zum Verlust der kulturellen Traditionen beitrage. Übersehen wird allerdings, dass im kolonialen Befreiungskampf selbst die arabischen Völker sich auf säkulare Konzepte wie Menschenrechte und Demokratie sowie vor allem auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen haben.

a)  Dogmatisch-fundamentalistische Strömung Eine prinzipielle Unvereinbarkeit islamischer Vorstellungen von Staat (Herrschaft) und Gesellschaft mit säkularen Menschenrechtskonzeptionen lassen sich eigentlich 36   Alles, was später hinzukam, sei „schlicht Menschenwerk und besitze eigentlich keinen normativ gebietenden Charakter“, so Charfi, Die Menschenrechte im Bezugsfeld von Religion, Recht und Staat in den islamischen Ländern, in: Schwartländer (Fn.  8 ), S.  93 ff. (105). 37   Wielandt (Fn.  24), S.  197. 38  Vgl. Würth / Tillmann (Fn.  18), S.  42, m. w. N.

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nur rein dogmatisch begründen, und zwar mit der ausschließlichen Gottesbezogenheit der Menschenrechte. Diesem Verständnis liegt eine theozentrische Rechts- und Gesellschaftsordnung zugrunde, die als oberstes Prinzip die „Gerechtigkeit und Wertgleichheit“ aller Individuen postuliert, so insbesondere nach dem sog. „Medina-Modell als gerechte Stadt“.39 Rechte erscheinen danach als unmittelbar von Gott verliehen und werden traditionell als Kehrseite der auferlegten Pflichten begriffen, so dass sie dem Einzelnen weder angeboren noch vorgeordnet sind. Sie müssen vielmehr durch Erfüllung der religiösen Pflichten erst verdient werden.40 Ein Anspruch korreliert also stets mit der vorherigen Erfüllung. Diejenigen, die diesen Pflichten nicht nachkommen, haben keinen gleichwertigen Anspruch, weil daraus eine unterschiedliche „Staats- bzw. Gemeinschaftsloyalität“ impliziert wird.41 Insoweit wird das Personalitätsprinzip nicht wie in der klassisch nationalstaatlichen Idee auf die „Staats-Zugehörigkeit“ aufgebaut, sondern auf die zur islamischen Gemeinde, also durch Annahme der Religion, sprich Glaubensübertritt.42 Deshalb stellen nur die Gläubigen das Fundament eines islamischen Staates dar und sind die eigentlichen Bürger. Nicht-Muslime werden nur toleriert, ohne jedoch vollständig recht- und schutzlos zu sein. Genau genommen sind hier nur die Stellung der Juden und Christen näher geregelt. Sie erhalten den Status als „Schriftbesitzer“ (Religionen mit einer schriftlichen Überlieferung), weil traditionell der jeweilige Schutz bzw. die Anerkennung nach der Nähe zum Islam bemessen wird.43 Im Weiteren wird dann unterschieden zwischen den vorrangigen Rechten Gottes – Primat der Pflichten vor den Rechten. Die Pflichten beziehen sich auf die Ansprüche der Religion und des politischen Gemeinwesens. Denen stehen dann die Rechte des Menschen – als private Ansprüche der Rechtssubjekte – gegenüber. Die Trennung ist hingegen schwach ausgeprägt: Individuelle Rechte durchdringen kaum die Sphäre des gesellschaftlichen Lebens und haben somit auch keine klassische Abwehrfunktion, weil die jeweilige Herrschaftsgewalt durch die nahezu untrennbare Verbindung mit der Religion legitimiert wird. In diesem Sinne ist auch das „Widerstandsrecht“ zu verstehen, das als Ansatzpunkt für individuelle Abwehrrechte fungieren könnte. Es wird demgegenüber nur als Mittel der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung gegenüber

39   Arkoun, Die Frage nach dem Staat am islamischen Beispiel, in: Schwartländer (Fn.  8 ), S.  294 ff. (305 f.). 40  Sie sind eine Belohnung, ein Geschenk „Allahs“ an den Menschen nach Erfüllung seiner religiösen Pflichten, vgl. Said, Human Rights in Islamic Perspectives, in: Pollis / Schwab (Hrsg.), Human Rights – Cultural and Ideological Perspectives, New York 1979, S.  86 ff. 41  Siehe Schulze, Einführung, in: Otto / Schmidt-Dumont (Hrsg.), Menschenrechte im Vorderen Orient, Hamburg 1992, S.  V II ff. (XVI); ders., Integration der Menschenrechtskonzeption in die islamische Ideologie, in: Reissner / ders. (Hrsg.), Menschenrechte im Islam, Ebenhausen 1986, S.  17 ff. 42  Dessen ungeachtet benutz(t)en die neu gegründeten islamischen (National-)Staaten gleichermaßen das herkömmliche Konzept der Staatsbürgerschaft. 43  Hindus, Buddhisten oder Konfuzianer, die außerhalb des Nahen und Mittleren Ostens von größerer praktischer Bedeutung für das Zusammenleben sind, werden hingegen weniger thematisiert, vgl. Noth (Fn.  47), S.  527 ff. Petersohn, Islamisches Menschenrechtsverständnis unter Berücksichtigung der Vorbehalte muslimischer Staaten zu den UN-Menschenrechtsverträgen, Bonn 1999, S.  120 ff. und zwar bezogen auf Glaubens-, Religions-, Bekenntnisfreiheit, Eigentum, Personenstand, Beruf, Justiz, Freizügigkeit und Strafrecht sowie Apostasie.

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einem nicht-Scharia-konform regierenden Herrscher begriffen („Nomokratie“: Herrschaft des göttlichen Gesetzes).44 Ein einflussreicher – politisch-religiöser – Entwurf hierzu kommt z. B. von Maududi.45 Er gilt als einer der meistgelesenen muslimischen Autoren seiner Zeit. Seine eng am Worttext des Korans orientierte Auslegung trug maßgeblich zur Verbreitung eines normfixierten, autoritären und statischen Islambildes bei, welches die frühislamische Gesellschaft stark idealisierte. Als Quellen zog Maududi fast ausschließlich den Koran, Sunna (jene Worte, Handlungen und Gewohnheiten des Propheten)46, Hadithe (Aussprüche und Handlungen des Propheten, die ihm oder seinen engsten Gefährten zugeschrieben werden) sowie die frühe Jurisprudenz heran – obwohl ihm die unzulängliche Spezifizierung im Koran stets bewusst war. Gleichzeitig gebrauchte er aber eine moderne staatstheoretische und -politische Sprache. Damit versuchte er den Nachweis der Existenz zeitgenössischer politischer Institutionen wie auch Ideen in der islamischen Frühzeit zu führen und anschließend zu legitimieren. Maududis vorrangiges Ziel war die „Wiederherstellung jener einzig wahren, reinen Ordnung“ („Medina-Modell“), und zwar auf staatlicher Basis. Diese Idee gründet im Wesentlichen auf einer Art „Theo-Demokratie“, die als oberstes Staatsprinzip die „göttliche Souveränität“ vorsieht.47 Danach soll das jeweilige Staatsoberhaupt durch eine periodisch, in freien und gleichen Wahlen (der Muslime) gewählte Versammlung beraten werden. Religion und Staat sind zu einer untrennbaren Einheit verbunden. Die Souveränität erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Im Rahmen der Verwirklichung wird zunächst die nähere Kodifizierung der Scharia betrieben und ­sodann ihre Verankerung als oberstes Verfassungsrechtsprinzip eingefordert. Anschließend sind alle bestehenden Gesetze mit ihr in Einklang zu bringen. Nicht-Muslime erhalten den geläufigen Minderheiten- bzw. „Schutzbürgerstatus“ (Dhimmi), den (s)eine grundsätzliche Ungleichheit kennzeichnet.48 Sogar im wirtschaftlichen Bereich wird an frühislamische Vorstellungen angeknüpft: Privateigentum und -wirtschaft sollen erhalten bleiben, aber Monopole und Vetternwirtschaft sind zu bekämpfen, um echte oder wahre Chancengleichheit zu schaffen. Die Rechte des Einzelnen werden differenziert nach „allgemeinen Menschenrechten“49 für alle sowie nach „besonderen Bürgerrechten“ ausschließlich für Muslime.50 Wie erwähnt ist  Ausführlicher Petersohn, a. a. O., S.  70 ff. m. w. N.   Maududi, The Islamic Law and Constitution, Lahore 1987, 9.  Aufl., insbesondere Kapitel zur politischen Theorie des Islams, S.  146 ff. 46  Ausführlicher Uslucan (Fn.  12), S.  239 ff. 47  Kritisch Bielefeldt, Menschenrechte und Islam in der Diskussion, Aussch.Drucks. 15(16)0105, S.  9 f. mit zahlreichen Hin- und Nachweisen. 48  Siehe Noth, Der Islam und die nicht-islamischen Minderheiten, in: Ende / Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 2.  Aufl., München 1989, S.  527 ff.; sowie Bielefeldt, Menschenrechte und Menschenrechtsverständnis im Islam, EuGRZ 90, 489 ff.; ders., Die Menschenrechte als Chance in der pluralistischen Weltgesellschaft, ZRP 1989, 423 ff. 49  So z. B. das Recht auf Leben, Gewährung eines Existenzminimums, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleich­heit und Zusammenarbeit sowie das Recht der Frau auf ihre Keuschheit, Maududi, Human Rights in Islam, in: Al-Tawhid, Vol. IV, No. 3 (1980), 56 ff. Siehe hierzu ausführlicher Khushalani, HRLJ 1983, 403 ff. (408). 50   Hierzu zählen z. B. Ehre, Privatsphäre, persönliche Freiheit, Widerstandsrecht gegen Tyrannei, Meinungs- und Vereinigungs- und Gewissensfreiheit, wie auch Schutz der religiösen Gefühle, Schutz 44 45

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dieses klassische Rechtssystem der islamischen Ordnung in Bezug auf die Rechtsstellung von Nicht-Muslimen von einer grundsätzlichen Ungleichheit gekennzeichnet. Denn die islamische Gemeinschaft ist weniger nationalstaatlich verfasst, sondern begreift sich demgegenüber mehr als religiös begründet. Dementsprechend stellen nur die Gläubigen das Fundament eines islamischen Staates dar und sind insoweit die eigentlichen Bürger. Nicht-Muslime (als religiöse Minderheiten) werden im Prinzip nur toleriert (s. o. „Schriftbesitzer“). Diese fundamentalere Strömung ist bestrebt, die Menschenrechte für den Islam zu vereinnahmen. Sie versucht daher vor allem auf der internationalen Bühne die Menschenrechte einseitig zu „islamisieren“: menschen- und islamrechtliche Begriffe werden verquickt, um sie anschließend der Scharia unterwerfen zu können wie z. B. im Rahmen der sog. „islamischen Menschenrechtserklärungen“. Die Vertreter dieser Richtung sind sich aber uneins, ob Ungläubige ihre Würde durch ihren Unglauben verwirken. Das hängt zum Teil mit der Frage zusammen, ob letztlich die Ungläubigen den Schöpfungsakt als Glaubenssatz anerkennen, so dass ihnen dann die Menschenwürde auch allgemein zugesprochen werden kann – wenn auch nur in jener abgeschwächten Form. Insoweit sehen Konservative und islamistische Kreise den wahren Wert eines Menschen stets im Zusammenhang mit seiner spirituellen Verfassung. Als Beispiel kann auf die sog. „Kairoer Erklärung“ in Artikel 1 hingewiesen werden (s. u.), wo die gleiche Würde aller Menschen zwar deklaratorisch bzw. programmatisch postuliert ist. Sie aber gleichwohl nach Graden der Tugend und Rechtgläubigkeit beurteilt wird, so dass aus der gleichen Würde nicht stets auch gleiche Rechte folgen.51 Diese Deutung steht aber teilweise im Widerspruch zur koranischen Begründung wie auch Herleitung der Menschenwürde. Das gilt gleichermaßen für eine funktionale Betrachtungsweise, wonach zuvorderst darauf abzustellen ist, dass jene gottverliehenen Rechte einer menschlichen Disposition entzogen werden sollen.

b)  Traditionell-konservative bis säkular-reformorientierte Sichtweisen Gegen derlei fundamental-islamistische Entwürfe wenden sich modernere Strömungen, die einer integrierenden Konzeption folgen. Sie versuchen den Islam bzw. die Scharia mit universellen Menschenrechtsvorstellungen weitestgehend in Einklang zu bringen und stehen einem Dialog mit anderen (Welt)Anschauungen wesentlich positiver gegenüber. Insgesamt werden die Kompatibilitätsmöglichkeiten mit verschiedenen anderen Religionen noch deutlicher artikuliert. Gemeinsamkeiten wer-

vor willkürlicher Verhaftung, Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht, Sünde zu vermeiden, Mitwirkungsrecht bei öffentlichen Angelegenheiten, Maududi, a. a. O., ebd. 51   Bielefeldt (Fn.  47), S.  3 ff.; Krämer, Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999, S.  28. Ähnlich auch Petersohn (Fn.  43), S.  230 f. unter Hinweis auf Tabandehs (schiitische) Interpretation der verpönten Diskriminierungsmerkmale des Art.  2 „AllgErklMRe“, der dann zu einer erlaubten Ungleichbehandlung aufgrund des Glaubens zu gelangen sucht. Siehe dort zu weiteren Versuchen, den Koran in diese Richtung auslegen zu wollen.

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den gesucht und betont, vorhandene Gräben nicht weiter aufgerissen.52 Fragen der Reformier- und Umdeutbarkeit bestimmter islamischer (z. T. festgefahrener) Denk­ strukturen werden nicht vollständig tabuisiert. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Be- oder Umdeutung der Scharia als ausschließliches Rechtssystem.53 Die Vertreter sind „liberale“, d. h. aufgeschlossene bzw. aufgeklärte Moslems, die zu Koran­ inter­pretation gelangen, wonach Menschenrechte als Rechte aller von Gott erschaffenen menschlichen Geschöpfe erscheinen. Insoweit seien dort alle Menschen – unabhängig von der jeweiligen Konfession oder Glaubenseinstellung – angesprochen.54 Ungeachtet ihrer ethisch-spirituellen Einbettung wird die Normativität der Menschenrechte wohl von der überwiegenden Mehrheit der Muslime anerkannt: 55 Die Vertreter eines hier als „generelle Vereinbarkeitsthese“ zusammengefassten Deutungsspektrums begründen ihren Standpunkt meist damit, dass dem Islam die Menschenrechte quasi inhärent seien. Dabei wird allerdings nicht immer hinreichend klar beantwortet, ob damit die Menschenrechte speziell im „säkular-universellen“ Sinne gemeint sind, so dass die Vorstellungen der hier anzutreffenden Auffassungen bisweilen erheblich voneinander abweichen.56 Sie korrelieren jeweils mit der Einstellung zur Bedeutung der Scharia im Staatskonzept. Diese bestimmt dann den konkreten Inhalt der zu gewährenden Menschenrechte, den Kreis ihrer potentiellen Anspruchsberechtigten sowie das Ausmaß der religiösen und gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen. Zwar gibt es dabei pragmatische Interpretationsansätze, die mit modernen Rechtsvorstellungen durchaus zu vereinbaren wären. Programmierte Konflikte entstehen, wenn auf den schariarechtlichen Geltungsvorrang und Absolutheitsanspruch gepocht wird. So wird mitunter behauptet, dass der Islam bei der Gewährung der Menschenrechte sogar eine Vorreiterrolle einnehme, weil er von Anfang an sich den Menschenrechten verpflichtet fühle. Mehr noch: die Menschenrechte fänden in der islamischen Rechtstheorie „ihre solideste Grundlegung überhaupt“; mithin habe der „Islam sie besser verankert als der Okzident seinen Kodex“.57 Noch reformfreudigere Strömungen versuchen weitaus deutlicher den religiösen Kontext zurückzudrängen – ohne ihn jedoch vollständig aufzuheben. Die dahinter stehenden Auffassungen finden stetigen Zulauf bei jüngeren Muslimen sowie aufgeschlosseneren Theologen, die größtenteils in westlich-säkularen Gebieten leben bzw. dort ihre (Aus-)Bildung erfahren haben. Die Berührung mit andersartigen Denkweisen scheint bei ihnen die Dialogbereitschaft mit fremden (Welt)Anschauungen zu erhöhen. Deswegen artikulieren sie noch ausdrücklicher die Kompatibilitätsmög52   Die Universalität setzt in ihrem Absolutheitsanspruch voraus, dass zumindest ein „Kernbestand an Menschenrechten über historische, kulturelle und religiöse Unterschiede hinweg anerkannt ist“, vgl. Kuhn-Zuber, Universalität der Menschenrechte und der Islam, Baden-Baden 2001, S.  307, m. w. N. aus der Literatur wie z. B. David A. Bell, der für die Existenz eines „minimal and universal moral code“ mit Blick auf das Verbot des Genozid, Folter, Sklaverei und Rassendiskriminierung streitet. 53   Hierzu ausführlicher bereits oben Würth (Fn.  18), S.  43 ff. 54   So z. B. Falaturi, Westliche Menschenrechtsvorstellungen und Koran, Köln 1999, S.  7. 55  Siehe Krämer (Fn.  51), S.  156 ff., m. w. N. 56   Einen Überblick über die Strömungen im gegenwärtigen Meinungsbild des Islams gibt z. B. Bielefeldt, Muslim Voices in the Human Rights Debate, Human Rights Quarterly, Heft 4, 17 (1995), 587 ff. (600 ff.). 57  Vgl. Murad Hofmann, Der Islam als Alternative, München 1992, S.  156 ff.

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lichkeiten mit säkularen Konzeptionen sowie anderen Religionen.58 Ihre Absicht ist es, ernsthafter nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Hier zeichnen sich zunehmend Versuche einer „Entjuridifizierung und –politisierung“ der Scharia ab, um sie auf ihren „religiösen und humanen Kern“ hin zu konzentrieren sowie in neuer Weise auf die Verhältnisse der modernen Gesellschaft übertragen zu können.59 Dann wäre sie nicht primär als juridische Kasuistik, sondern als ethisch-spirituelle Orientierung zu verstehen, wie der Koran das ja eigentlich andeutet: zum einen durch die geringe Anzahl seiner Rechts- und Gesetzesverse; zum anderen durch die lediglich einmalige Verwendung des Begriffs in Sure 45,18. Selbst dort ist die Bedeutung als „religiöses Gesetz“ vielmehr als „Ritus“ bzw. „Weg zur (Rechts-)Quelle“ gemeint – und nicht als ein irgendwie geartetes juristisches Rechtssystem. Schließlich entwickelte die Scharia sich in einem ganz bestimmten Kontext und ist somit historisch kontingent. Diese aufgeschlosseneren Vertreter folgen daher jener Koraninterpretation, die Menschenrechte als Rechte aller von Gott erschaffenen menschlichen Geschöpfe betrachten, also unabhängig von der jeweiligen Konfession oder Glaubenseinstellung.60 Letzten Endes dominieren im „gesamtislamischen Menschenrechtsdiskurs“ derzeit wohl noch traditionalistische und konservative Positionen. Auf jeden Fall werden sie von der breiten Öffentlichkeit öfter wahrgenommen. Andererseits sind diese Versuche eines rationaleren und historisch-kritischeren Umgangs mit dem Koran jüngere, allerdings allmählich zunehmende Phänomene – vor allem in der muslimischen Diaspora. Sie begründen daher die hoffnungsvolle Aussicht, dass zumindest Muslime, die z. B. im säkularen Europa (als sog. „Land des Vertrages“) leben, aufgrund der dort herrschenden liberaleren und aufgeklärteren Positionen, sich viel eher damit identifizieren werden als mit orthodoxeren Ansichten wie größtenteils ihre Glaubensbrüder und -schwestern im sog. „Land des Islams“. Insoweit geht das islamische ­Staats- bzw. Weltverständnis von der Theorie der Einheit der islamischen Welt in der „Umma“ aus. Ausdruck dessen ist u. a. die Einteilung der Welt in Gebiete, in denen die Herrschaft des Islams bereits ausgeübt wird („dar al-Islam“) und Gebiete, die noch mittels des „Dschihad“61 unterworfen werden müssen („dar al-harb“). Später wurde – notgedrungen – die Kategorie des sog. „Land des Vertrages“ („dar-al-ahd“) eingeführt, die sich auf „islam-freundliche“ Länder bezieht, d. h. in dem Muslime leben und ihre Religion ungehindert praktizieren dürfen, aber zur Einhaltung der dort geltenden Rechtsordnung verpflichtet sind. Werden die ursprünglichen „Vertragsbe58  Siehe zur Möglichkeit einer „säkularen Hermeneutik im Islam“ das Forschungsprojekt des Arbeits­k reises „Moderne und Islam“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Islamische und jüdische Hermeneutik als Kulturkritik, www.wiko-berlin.de. 59   Ein in der Medienöffentlichkeit bekannter Vertreter eines reformorientierten Islams in Europa ist Soheib Bencheikh, bekannt als der „Großmufti in Marseille“. Er wendet sich wortgewaltig gegen die „Politisierung, Verstaatlichung und Beduinisierung des Islams“. Näher dazu Bielefeldt (Fn.  47), S.  7; Würth (Fn.  18), S.  42 ff. 60  Vgl. Falaturi (Fn.  54), S.  7 f. 61   Das wörtlich „sich Abmühen“ auf dem Wege Gottes heißt oder auch „innere Läuterung“ bedeutet. In der politischen Terminologie werde es aber heutzutage – fälschlicherweise – zumeist in erster Linie mit „heiliger Krieg“ gegen Ungläubige widergegeben. Geschichtliche und eher zufällige Anlässe hätten dazu geführt, dass der Krieg der Muslime – oftmals zu Unrecht – so bezeichnet werde , so Talbi (Fn.  25), S.  62, m. w. N.

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dingungen“ dort indes nicht mehr gewährt, wird das Land zum sog „dar-al-harb“: die Muslime müssen dann entweder für die „Islamisierung“ des Landes eintreten oder aber die Emigration antreten. Seit sich die Kontakte zu anderen Staaten bzw. zur Völkergemeinschaft vermehrt haben, mussten auch die islamischen Staaten bestimmte Regeln akzeptieren. Das „islamische Recht“ kennt insoweit bestimmte Verhaltensregeln, die sich in erster Linie als Kriegsrecht (Regelungen zum Dschihad) und somit als Ansätze zu einem Völkerrecht darstellen.62

2.  Das Menschenrechtsverständnis in „islamischen Menschenrechtserklärungen“ Erkenntnisse in Bezug auf das „islamische Menschenrechtsverständnis“ lassen sich zudem noch aus den eingangs erwähnten „islamischen Menschenrechtserklärungen“ erzielen, die auf internationaler Ebene existieren: 63 So ist für die arabische Region beispielsweise die sog. „Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung“64 (kurz: AIME) bedeutungsvoll, die vom „Islam-Rat für Europa“65 am 19.9.1981 in Paris verkündet wurde.66 Sie versteht sich als islamische Version der Menschenrechte – ist aber rechtlich unverbindlich. Der Menschenrechtskatalog enthält 23 (zumeist Abwehr-)Rechte, die auf den ersten Blick mit „herkömmlichen“ (fundamentalen) Menschenrechten vergleichbar sind. Insoweit lehnt der (kanonisierte) Text sich den bekannten Menschenrechtspakten an. Sodann fällt aber auf, dass die Rechte ein religiös-konservatives Menschenbild verkörpern – wie nahezu alle „islamischen Menschenrechtsdokumente“.67 Diese Verlautbarungen sind letztlich von ihrer religiösen Offenbarung nicht vollständig herauslösbar, sondern stets in diesem Zusammenhang zu betrachten. Fortwährend soll damit der „Weg in eine wahre islamisch verfasste   Vgl. ausführlicher z. B. Heine, Islam und Völkerrecht, in: Khoury / Hagemann / Heine, Islam-Lexikon: Geschichte – Idee – Gestalten, Bd.  1–3, Berlin 2001, S.  743 ff. 63   Zu den diversen Menschenrechtserklärungen in der islamischen Welt sowie zum Stand der Ratifikationen bzgl. der wichtigsten UNO-Menschenrechtskonventionen vgl. Würth (Fn.  18), S.  25 ff. 64   Text ist abgedruckt z. B. in: Menschenrechte, Dokumente und Deklarationen, 3. Auflage, hrsg. v. der BpB, Bonn 1999, S.  638 ff. 65   Eine im Prinzip von Saudi-Arabien dominierte private Organisation. Der Islam-Rat ist weder ein Gremium mit regionaler Bindungskraft noch repräsentiert er eine größere Anzahl von Muslimen, so Würth (Fn.  18), S.  36. 66   Der englische Text der sog. „Universal Islamic Declaration of Human Rights“ des Islamic Council ist abgedruckt z. B. in: Islamochristiana 9 (1983), S.  103 ff. Zum deutschen Text siehe Gewissen und Freiheit, Nr.  36 (1991), S.  93 ff. Zu einer kritischen Analyse sowie den teilweise unterschiedlichen Übersetzungen aus dem arabischen Original ins Englische bzw. Französische siehe Forstner, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam (1981), Cibedo / Dokumentation 15 / 16 (1982); ders., Inhalt und Begründung der Allgemeinen Islamischen Menschenrechtserklärung, in: Hoffmann (Hrsg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Frankfurt a.M. 1991, S.  249 ff. Erhellend zudem Bielefeldt, Die „Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung“ von 1981 – eine christliche Stellungnahme, in: Concillium, 30 (1994), S.  255 ff. sowie ders. (Fn.  46), S.  3 ff. Siehe zu den unterschiedlichen Auffassungen, und zwar speziell aus Sicht der diversen Richtungen innerhalb der islamischen Rechtswissenschaft aufschlussreich Mikunda-Franco, Das Menschenrechtsverständnis in den islamischen Staaten, Allgemeine Betrachtungen im Lichte vergleichender Rechtsphilosophie, JöR 44 (1996), S.  205 ff., hier: S.  215 ff., m. w. N. 67   Dieses Bild wird gleich zu Beginn in der jeweiligen Präambel, Einleitung bzw. dem Vorwort vermittelt. 62

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Gesellschaft“ aufgezeigt werden.68 Daher ist auch erklärbar, warum bestimmte Rechte wie die Religionsfreiheit nur eingeschränkt gelten: Moslems wird z. B. kein Recht auf Wechsel zugestanden. Symptomatisch ist auch ein geringerer Rechtsstatus von Frauen und Nichtmoslems.69 Für diesen Raum ergiebiger ist die (ebenfalls unverbindliche) sog. „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ vom 5.8.1990, die von der „Organisation der Islamischen Konferenz“ (nachfolgend: OIC) herausgegeben wurde.70 Die Erklärung wird ausdrücklich als spezifische islamische Ausformung der Menschenrechte verstanden. Sie begreift sich nach der Abschlusserklärung als eine „Inspirationsquelle“.71 Alles in allem ähnelt ihre Struktur der AIME. Sie bezieht sich aber noch allgemeiner auf das Menschenrechtsverständnis in der islamischen Staatenwelt und betont dabei die Prinzipien des Islams sowie die zivilisatorischen Errungenschaften des arabischen Kulturraumes.72 Formal ist sie zwar den internationalen Menschenrechtsabkommen 68   Einige islamische Staatenvertreter meinen, dass bestimmte Menschenrechte sich bereits aus dem Koran unmittelbar ableiten lassen. Insoweit seien sie schon zu Zeiten der Entstehung integrativer Bestandteil des Islams gewesen: so z. B. explizit die Einleitung im Text der „AIME“. Die islamischen Staaten müssten „nur“ für ihre Einhaltung sorgen. Die islamische Offenbarung habe nämlich die Menschenrechte vorweggenommen, so dass sie dort auch umfassender geschützt seien. Dieser Gesichtspunkt spricht eigentlich für die Ratifizierung der Menschenrechtspakte, so wie das einige NGO-Vertreter fordern, vgl. Würth (Fn.  18), S.  32 f., m. w. N. 69   Andererseits prangert das Vorwort recht freimütig die autokratisch-diktatorische Herrschaftsführungen und Gesellschaftsformen sowie Menschenrechtsverletzungen in islamischen Staaten an. Dieser Zustand sei ein „ernsthaftes Problem, dass die gesamte Menschheit berühre“, heißt es dort wörtlich. 70   Sie ist nach der Annahme durch die Außenminister jedoch nicht offiziell von der Organisation der Konferenz bestätigt worden, so dass sie lediglich den Charakter eines Entwurfs hat, Bielefeldt (Fn.  47), S.  3. Institutionell spielt die „OIC“ in der islamischen Welt eine wichtige Rolle. Sie ist aus einem lockeren Zusammenschluss von 56 Staaten aus dem Jahr 1969 hervorgegangen. Ihr Vorläufer war die „Muslim World League“ (MWL), gegründet 1962 in Mekka. Zwar ist die OIC ursprünglich in Rabat (Marokko) bzw. tatsächlich 1970 in Dschidda gegründet worden. Allerdings ist als endgültiger Sitz – programmatisch – das von „israelischer Besatzung befreite Jerusalem“ anvisiert. Die OIC akzentuiert nicht nur die politisch–kulturellen wie auch religiösen Gemeinsamkeiten, sondern tritt immer öfter geeint auf, um jene gemeinsamen „islamischen Positionen“ zu betonen. Ziele der 1972 verabschiedeten „Charta der OIC“ sind (u. a.): die Stärkung der islamischen Solidarität und Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet; Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus; Schutz der Heiligen (islamischen) Stätten; Unterstützung der Palästinenser; Förderung des Verständnisses zwischen den Mitgliedsstaaten und anderen Staaten, ausführlichere Informationen sind abruf bar unter: www.oic-oci.org sowie beim „Cairo Institute of Human Rights Studies“: www. cihrs.org. 71   Final Communique of the 19th Islamic Conference of Foreign Ministers, Cairo, 31.7.–5.8.1990, para. 58, zit. n. Würth (Fn.  18), S.  39, dort Fn.  111. 72   Die Struktur kann in vier Hauptkategorien eingeteilt werden: Präambel, klassische Schutzrechte, Verfahrensrechte, dann zivile und politische Rechte und als vierte Gruppe ökonomische, soziale und kulturelle Rechte. Indes ist ein Individualbeschwerderecht oder die Einrichtung eines Menschenrechtsgerichtshofs – der in den siebziger Jahren noch anvisiert war, vgl. Resolution No. 11 / 3-P(Is) on The Islamic Court Of Justice, verabschiedet auf dem dritten OIC-Gipfel, Mekka, 25.–28.1.1981 – nicht vorgesehen. Das „Arab Human Rights Committee“, das 2009 zur Überprüfung der Umsetzung der Charta eingerichtet wurde, hat bis heute nur eine Handvoll Sitzungen abgehalten. Als Überwachungsmechanismus ist eine Art Staatenberichtsverfahren vorgesehen, Art.  4 0. Das Gremium ist wiederum dem „Ständigen Komitee für Menschenrechte“ in der Arabischen Liga hinsichtlich der Umsetzung der Staatenverpflichtungen unter der Charta berichtspflichtig, Art.  41 Abs.  3.

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angepasst, weil sie nämlich in ihren Art.  2 bis 39 eine umfassende Liste von Menschenrechten enthält. Gleichwohl sehen die abschließenden Artikel 24 und 25 einen umfassenden bzw. einschränkenden Schariavorbehalt vor. Dieser fungiert dann gleichsam als Ableitungs- wie auch als Referenzrahmen und wirkt gleichermaßen als „Einbruchsstelle“ für das göttliche Recht. Damit ist zwar nicht zwingend eine Einschränkbarkeit verbunden, aber grundsätzlich möglich. Angesichts der vielfältigen Interpretationsvarianten sind hier gewisse Unklarheiten aber eher die Folge:73 So proklamiert diese Erklärung in Artikel 1 einerseits die gleiche Würde aller Menschen „ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, politischer Einstellung, sozialem Status oder anderen Gründen“, bemerkt aber andererseits: „Der wahrhafte Glaube ist die Garantie für das Erlangen solcher Würde auf dem Pfad zur menschlichen Vollkommenheit.“ Damit wird jene Gleichheit in Beziehung zur jeweiligen „Tugend und Rechtgläubigkeit“ des Einzelnen gesetzt, so dass letztlich unklar bleibt, ob aus der gleichen Würde dann tatsächlich auch gleiche Rechte folgen (sollen).74 Dagegen schreibt Artikel 6 völlig unmissverständlich die ungleiche Rechtsstellung in geschlechtlicher Hinsicht fest, in dem es auf die andersartige Rollenverteilung hinweist. Ein weiterer Widerspruch zu universellen Menschenrechten zeigt sich in Bezug auf die allgemeine Religionsfreiheit. Hier wird der Vorrang des Islams behauptet und jede Form der Missionstätigkeit unter Muslimen geächtet. Gleichzeitig aber der „religiöse Glaube“ als verbotener Anknüpfungspunkt einer Diskriminierung aufgeführt. Erhellend ist außerdem die sog. „Arabische Menschenrechtscharta vom 15.9.1994“ (kurz: „Arab-Charta“), die vom höchsten Gremium der „Arabischen Liga“ (Rat) verabschiedet wurde und seit dem 15. März 2008 in Kraft getreten ist: So bestätigt die „Arab-Charta“ in ihrer Präambel nicht nur die Geltung der „AllgErklMRe“ wie auch den „Zivil- und Sozialpakt“, sondern enthält darüber hinaus einen normativen Bezug auf die „Kairoer Erklärung“. Im letzten Punkt besteht eine Überschneidung mit der sog „Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker“ vom 27.6.1981, so dass zugleich ein afrikanischer Einfluss besteht. Bekanntlich ist die afrikanische Staats- und Gesellschaftsstruktur zumeist in ähnlicher Weise wie die islamische stärker auf den Zusammenhalt von Gruppe, Sippe und Stamm bedacht. Sie betont dementsprechend die kollektiven Rechten, in dem sie bestimmte afrikatypische Werte bzw. Traditionen bewusst aufnimmt.75 Letztbezüglich ist auf der ersten panarabischen Menschenrechtskonferenz 1999 in Casablanca sogar eine Erklärung angenommen worden, die „Arab-Charta“ auf internationale Standards anzuheben.76 Damit wurde einem Aufruf verschiedener NGOs gefolgt, genauer: ihrem Drängen nachgegeben, sie zusammen mit ihnen zu  So Würth (Fn.  18), S.  37.   Bielefeldt, (Fn.  47), S.  3 f., m. w. N. 75   Hierzu kann auf das Novum bzw. Spezifikum der Grundpflichten gegenüber der Gemeinschaft, Familie, Staat und Gesellschaft (Präambel und Art.  27 bis 29) hingewiesen werden, die in gewisser Hinsicht das dort vorherrschende Menschenrechtsdenken symbolisieren. Es betont den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum. Bezeichnend ist auch, dass dort kein subjektiver Anspruch auf ein Beschwerdeverfahren besteht, sondern lediglich eine Popularklage vorgesehen ist, an der sich NGOs und andere Gruppen beteiligen können. 76   „The Casablanca Declaration of the Arab Human Rights Movement“, zum Text wie auch zu den Hintergründen siehe näher: www.al-bab.com/arab/docs/international/hr1999.htm. Die Menschen73 74

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überarbeiten.77 Dadurch soll die Charta noch deutlicher mit der „AllgErklMRe“ in Einklang gebracht und zu einem wirklichen völkerrechtlichen Instrument ausgebaut werden. Diese grundlegende Überarbeitung ist 2004 erfolgt. Zudem haben Staaten wie Marokko und Saudi Arabien diese Charta endlich gezeichnet.78 Alles in allem mangelt es – neben der bekannten politischen Schwäche der „Arabischen Liga“ – der Charta an einem effektiven Durchsetzungsmechanismus, was schließlich das „Herz“ einer jeden Menschenrechtsverbürgung darstellt. Abseits dessen gibt es eine Reihe weiterer Chartea sowie Menschenrechtserklärungen bzw. –urkunden, die von verschiedenen Privatvereinen (Organisationen) zur Pflege der Menschenrechte im islamischen Raum herausgegeben worden sind.79 Ob nun eines Tages die vielfältigen Bemühungen der verschiedenen islamischen Orga­ nisa­tionen darin münden werden, eine „islamische Menschenrechtskonventionen“ einschließlich eines regionalen Menschenrechtsschutzsystem zu etablieren, das ­zugleich völkerrechtlichen Standards genügt, bleibt abzuwarten. 80 Es scheint aber nicht völlig ausgeschlossen, wenn man die Bestrebungen der letzten Jahre vor allem auf nationaler Ebene betrachtet.81

rechtsvertreter sprechen sich dort (u. a.) gegen jeden Versuch aus, zivilisatorische oder religiöse Besonderheiten dafür zu missbrauchen, um so die Universalität der Menschenrechte zu bestreiten. 77   Der Rat hatte bereits am 3.9.1968 ein permanentes Arabisches Komitee für Menschenrechte ein­ gesetzt, um eine bessere Zusammenarbeit mit den UN-Behörden in diesem Bereich, aber insbesondere in den israelisch besetzten Gebieten in Palästina zu bewerkstelligen. Daneben wurde er mit der Ausarbeitung einer arabischen Menschenrechtserklärung betraut, die aber bislang aus politischen bzw. an islamisch-motivierten Widerständen gescheitert ist, vgl. Resolution 5437 (102nd regular session). Zur Arabischen Liga bestehend aus derzeit 22 Staaten, siehe: www.arableagueonline.org/arableague/ index_en.jsp. Text der Kairoer Erklärung ist abgedruckt z. B. HRLJ 18 (1997), S.  151 ff.; siehe zum Pro­ blemkreis „Menschenrechte im arabischem Raum“ etwa Mattes, Menschenrechtsschutz in den arabischen Staaten, in: Faath / ders. (Hrsg.), Demokratie und Menschenrechte in Nordafrika, Hamburg 1992, S.  93 ff. sowie Krieger, Menschenrechte in arabo-islamischen Staaten, Frankfurt a.M. 1999, der an zwei konkreten Fallbeispielen – Ägypten und Sudan – den Zusammenhang von Menschenrechten und Islam untersucht. 78   Bislang haben erst 10 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga diese Charta ratifiziert: Jordanien, Bahrain, Algerien, Syrien, Palästina, Libyen, Quatar, Saudi Arabien, Jemen, die Vereinigten Arabischen Emirate 79   Wie z. B. die sog. „Marokkanische Charta über Menschenrechte“ (ausgerufen von fünf verschiedenen Vereinen zur Pflege der Menschenrechte in Rabat am 10.12.1990), „die Tunesische Charta der Menschenrechte“, die „Erklärung von Algier für die Menschenrechte im Maghreb“ bzw. die „Maghrebinische Charta“ vom 20.5.91 der „USTMA“, einem Zusammenschluss nationaler Gewerkschaften der fünf Staaten des Maghreb; wie auch die Charta der Tunesischen Menschenrechtsliga aus dem Jahre 1990, deren Mitglieder allerdings sowohl der Regierungspartei als auch legalen Oppositionsparteien angehören, vgl. Mikunda-Franco (Fn.  66), S.  218, m. w. N. sowie Petersohn (Fn.  43), S.  244 ff. 80   So hat sich am 15.10. 2009 das Arab Human Rights Committee mit vier internationalen und regionalen NGO‘s im Hauptsitz der Arabischen Liga zu weiteren Gesprächen getroffen. Bei diesem ersten Treffen waren Amnesty International, die International Federation for Human Rights, die Arab Organization for Human Rights und das Cairo Institute for Human Rights anwesend. Die Parteien betonten die Dringlich- wie Wichtigkeit eines weiteren Dialogs, www.fidh.org / Human-Rights-orga nizations-and. 81  Kritisch gegen die „Verstaatlichung des Menschenrechtsdiskurses“ Würth / Tillman (Fn.  18), S.  42 ff.

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a)  Typologisierung: säkular-laizistisch oder islamisch? Im Weiteren macht es Sinn, auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der oftmals nicht hinreichend gewürdigt wird. Es ist zu sehen, dass – theoretisch betrachtet – bereits der förmliche Beitritt zu Menschenrechtspakten eine „laizistische Konsequenz“ erzeugt. Schließlich wohnt diesem Vorgang infolge des damit verbundenen Bekenntnisses zu den Menschenrechten unweigerlich ein „laizistisches Momentum“ inne. Hier schlägt Mikunda-Franco82 eine weiterführende „Typologisierung“ vor, die er anhand einer „staatlichen“ bzw. „laizistischen“ oder „islamischen Prägung“ trifft: Ihm zu Folge ist eine „staatliche Prägung“ der jeweiligen Menschenrechte dann anzunehmen, wenn es sich dabei um Rechtsvorschriften handele, die bereits in der Rechtsordnung islamischer Staaten enthalten sind. Diese Prägung hätten auch jene Rechtssätze in den entsprechenden (universellen) Menschenrechtserklärungen bzw. -urkunden aller Art.  Das gleiche gelte, wenn Bestimmungen in den jeweiligen Verfassungen einen expliziten Beitritt zur UNO-Charta vorsehen oder einen ausdrücklichen Bezug zu universellen Menschenrechtserklärungen aufweisen. Maßgeblich sei zudem die Behandlung der „Religion in allen ihren Rechtsbereichen als staatsabhängiges Thema – und nicht umgekehrt“. Charakteristisch für eine „laizistische Prägung“ sei (u. a.) auch noch die Achtung und Bezugnahme auf ähnliche völkerrechtliche Grundsätze bzw. Übereinkünfte. Hierzu zähle ferner die Benut­ zung „westlicher Rechtsbegriffe“ unter Ausschluss jeglicher islamischer Rechts­vor­ schriften, d. h. der Scharia. Demgegenüber zeichneten sich Menschenrechte „islamischer Prägung“ dadurch aus, dass sie stets in der Verfassungspräambel islamischer Staaten auftauchten. Aus den entsprechenden Passagen bzw. Rechtsvorschriften müsse eindeutig hervorgehen, dass ihr „innerer Sinn“ mit dem „islamischen Rechtssinn“ übereinstimme und somit eine „innere Kohärenz“ bestehe. Als solche Charakteristika zählten etwa die explizite Behauptung, dass islamische Grundsätze – egal welcher Art – als Grundlage in den entsprechenden Texten benutzt worden seien. Dasselbe gelte beim Gebrauch einer (eigenen) traditionell islamischen Terminologie sowie die Behandlung der Religion in all ihren Erscheinungsformen als absolut vorrangig – selbst dem Staat wie auch anderen Rechtsquellen gegenüber. Verkürzt wäre es aber, hier schematisch zwei getrennte Lager ausmachen zu wollen: auf der einen Seite die säkularen (laizistischen) Staaten, die den jeweiligen Menschenrechtspakten mehr oder minder beigetreten sind und eine säkulare Auffassung mit Blick auf die Menschenrechte verfolgten. Und auf der anderen Seite, die sog. „islamischen Staaten“ einschließlich ihrer islamischen Auffassung. Denn einige Staaten verfolgen z. T. eine parallele Strategie, in dem sie versuchten beides irgendwie in Einklang zu bringen – selbst wenn dabei widersprüchliche Regelungen mit Blick auf die Normenhierarchie beider Rechtsregime entstehen so wie z. B. in Tunesien und Ägypten: Dort stehen zwar völkerrechtliche Verträge über der eigenen Staatsgesetzgebung. Gleichzeitig stellt der Islam die Staatsreligion dar, so dass er bzw. die Scharia letztlich einen Vorrang beansprucht. In letzter Zeit seien jedoch immer häufiger Versuche einer gewissen Harmonisierung beider Rechtsebenen – islamischen   Siehe zum Folgenden Mikunda-Franco (Fn.  66), S.  217 ff.

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und laizistischen – zu beobachten. Das gelte selbst bei so streng islamischen Staaten wie Saudi-Arabien, wo man z. B. versucht, eine Verdoppelung der Instanzenwege zu vermeiden.83 Beim Vergleich zwischen „laizistischer“ und „islamischer Strukturen“ darf – Mikunda-Franco zu Folge – jedoch die Methodik der Rechtsvergleichung nicht völlig aus den Augen geraten. So sei es mit Blick auf die bestehende Vielfalt islamischer Auffassungen und Begriffsdefinitionen nämlich sinnvoll, zuerst konkrete – menschenrechtlich motivierte – Rechtsfragen aufzuwerfen. Dann wären die dazu gegebenen Antworten auf ihre konkrete Vereinbarkeit zu vergleichen, und zwar anhand der jeweiligen staatlichen Rechtsordnung sowie unter Berücksichtigung der verschiedenen Lehrmeinungen.84 Erst im Anschluss seien die gefundenen Ergebnisse weiter danach abzutasten, ob ihnen eine „genuin islamische Rechtsethik eigen“ ist. Nur dann lasse sich wirklich klären, ob ein unvermeidbarer Konflikt tatsächlich besteht und damit den Vorrang islamischen Rechts hervorruft. Denn es komme immer wieder vor, dass sich beispielsweise ein eingelegter Schariavorbehalt – in concreto – dann doch nicht auswirke. Dieser Vorbehalt entpuppe sich dann nur als „salvatorisch“, um buchstäblich die Regeln des Islam zu „bewahren“, ohne sie zu verletzen. Wie bereits eingangs darauf hingewiesen, empfiehlt gerade eine derart vorgeschlagene Vorgehensweise sich eher, als einem Konzept zu folgen, dass dem jeweiligen (staatlichen) Menschenrechtsverständnis pauschal und damit vereinfacht als „islamisch“ oder „laizistisch“ be- oder wohl genauer aburteilt: je nach dem, ob ein als „islamisch“ ausgemachter Staat, den Menschenrechtspakten uneingeschränkt beige­ treten ist oder nicht. Denn im Ergebnis kann nur die hinreichende Berücksichtigung des konkreten Kontextes – in dem eine bestimmte Rechtsfrage eingebettet ist – grobschlächtige Ergebnisse verhindern und Fehlinterpretationen vermindern.85 Hier ist im Weiteren nämlich stets zu vergegenwärtigen, dass das „islamische Rechtssystem“ vorwiegend auf einer naturrechtlichen Grundhaltung sui generis beruht: bestimmte Rechtsbegriffe, die in beiden Rechtsstrukturen geläufig sind, haben mitunter völlig unterschiedliche Assoziationen und Konnotationen. Demgegenüber ist das herkömmlich „westliche Rechtsverständnis“ eher durch eine „positivistische Grundlage“ geprägt. Gelegentlich wird aus islamischer Perspektive der „westlichen Menschenrechtsbegründung“ eine gewisse Tautologie vorgehalten, die das gegenseitige Verständnis erschwert: Menschenrechte seien Rechte des Menschen, weil sie jedem Menschen inhärent seien.86 Folglich sind sie eben Menschenrechte, so ungefähr lautet die vereinfachte Formel. Daher sei es Mikunda-Franco zu Folge nicht zu „verwundern“, wenn islamische Juristen diese agnostische Definition ablehnten und Schwierigkeiten mit einer rein weltanschaulich neutralen Begründung hätten. Insoweit sei die „westliche Axiologie“ von einer Art Ethik durchzogen, die kaum noch etwas mit religiösem Gedankengut zu tun habe. Diese „entheologisierte Ethik“ sei 83   Saudi-Arabien hat kein kodifiziertes Privatrecht und verweist in seiner Verfassung (Art.  1) auf das „Buch Gottes“. Siehe zu weiteren Beispielen Mikunda-Franco, a. a. O., S.  222 und 228, m. w. N. 84   So ist, um nur ein prominentes Beispiel herauszugreifen, der arabische Begriff für Religion „adDîn“ weiter gefasst als das westliche Konzept der Religion, vgl. zur Methodik Würth (Fn.  18), ebd. 85   In diese Richtung Mikunda-Franco (Fn.  66), S.  224 und 233 f. 86  So Mikunda-Franco, a. a. O., S.  222 f. m. w. N.

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weit weg von der religiösen (islamischen) Ethik. Demgegenüber sei die „islamische Axiologie“ für islamische Theologen verständlicher, weil sie viel klarer erscheine. Vergleichbares gilt wohl auch für die „westliche Seite“, die ihre Ablehnung gegenüber dem Islam ähnlich begründe, heißt es dort weiter.

b)  Bedeutung und Reichweite eines Schariavorbehalts Im Rahmen eines besseren gegenseitigen Verständnisses schlägt Mikunda-Franco weiter vor, nicht bloß die Funktion, sondern auch die jeweilige Reichweite eines Schariavorbehalts sich genauer anzusehen, der bekanntlich einige Menschenrechtspakte „schmückt“. Das sei jedenfalls für die „westliche Interpretation“ wichtig. Denn erst die jeweilige Reichweite gewähre bessere Einsichten – anderenfalls drohten voreilige Fehlschlüsse. In gewisser Weise stelle der Vorbehalt einen völkerrechtlichen Ausdruck des zugrundeliegenden Verständnisses dar. Zudem sei wohl anzunehmen, dass er stets eine Rolle in islamischen Menschenrechtsdokumenten spielen wird. Blickt man nun – dem Vorherigen folgend – flüchtig auf das rein quantitative Ratifikationsverhalten islamischer Staaten, so fällt nicht sofort ein deutliches Abweichen gegenüber den übrigen UN-Mitgliedsstaaten auf. Insoweit nimmt schließlich die Scharia nicht überall den gleichen Stellenwert im Rechtssystem ein. Zudem bilden die islamischen Staaten auf der internationalen Bühne keinen uniformierten Block. Schließlich ist das Verständnis der islamischen Gemeinschaft „staatsfrei“ zu denken. Demgegenüber zeigen sich bei aber genauerem Hinsehen gleichwohl ein überproportionaler Vorbehalt gegen bestimmte Menschenrechtspakte, vor allem gegenüber der „Frauenrechts-, Folter- und Kinderrechtskonvention“, so dass der Verdacht aufkommt, dass mit jener religiösen Bemäntelung zugleich versucht wird, gewisse politische Strategien zu verwirklichen.87 Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die Gewährung der Menschenrechte im Islam aber zugleich Ausdruck seines „Kohärenzgebotes“: Die umfassende Pflichtenlehre führt nämlich zu jener schwer trennbaren Vermischung zwischen der Rechtslehre bzw. -theorie und -praxis. Die verschiedenen Bereiche sind dementsprechend systematisch wie auch strukturell kaum voneinander zu lösen.88 Insoweit ist dem Islam eine eigene „Axiologie“, also Wertvorstellung und Weltanschauung inhärent.89 Als Hauptbestandteil des islamisch geltenden Rechts schlägt diese sich dann stets in den Menschenrechtsdiskussionen wie auch islamischen Menschenrechtserklärungen nieder. Das hat dann zwangsläufig auch völkerrechtliche Implikationen, insbesondere bei der Auseinandersetzung mit „islamischen Menschenrechtserklärungen“. Letztere stellen nämlich nur einen ganz bestimmten Teil bzw. Ausschnitt aus der eigenen Rechtsordnung dar. Sie können daher weder isoliert – als Ganzes – für sich alleine   So die Einschätzung bei Würth (Fn.  18), S.  26 ff., m. w. N. Siehe Petersohn (Fn.  43), S.  167 ff.  Vgl. Mikunda-Franco (Fn.  66), S.  212 und 227, mit zahlreichen Nachweisen. 89   Nur am Rande sei bemerkt, dass die Lektüre bestimmter Sätze aus der „AllgErklMRe“ bei einigen Lesern in den USA – anlässlich einer Umfrage – den Verdacht nährte, dass es sich dabei wohl „um das Manifest der kommunistischen Partei handele“, vgl. Mikunda-Franco, a. a. O., S.  220, m. w. N. 87

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stehen noch haben sie stets einen Zusammenhang mit der inneren Staatsgesetzgebung – zumindest so gut wie keinen mit völkerrechtlichen Instanzen.90 Diesen Zusammenhang sehen wir immer wieder bei jenen Staaten, die bei bestimmten UN-Menschenrechtsverträgen oder Teilen davon einen Schariavorbehalt einlegen. Bei Rechtskollisionen wäre nach der Rechtslage in den wohl meisten westlich-europäischen Staaten vom Vorrang völkerrechtlicher Verträge bzw. Be­ stimmungen auszugehen. Übertragen auf das islamische Recht, käme das aber einer Gotteslästerung gleich (!), weil das Gottesrecht der Scharia stets den Vorrang beansprucht. In dieser Gestalt zeigt der Vorbehalt gleichsam nur das negative Abbild der sich dahinter verbergenden Auffassung. Es legt damit implizit die Nichtgeltung bestimmter – sonst gültiger – Rechte fest, ohne die positive Form des Verständnisses offen zu legen. Letzten Endes lassen sich aus den jeweiligen Vorbehalten oder Erklärungen nur grobe und vorläufige Erkenntnisse gewinnen. Denn die mit ihr verfolgten Absichten sind nicht immer ausschließlich religiös motiviert. Sie entspringen somit nicht ausnahmslos einer „religiös-fundamentalen Geisteshaltung“. Mit­unter werden sie eher mit „privatrechtlich“ nachteiligen Implikationen und Unvereinbarkeiten mit der (islamischen) Rechtsordnung begründet. Einem pauschalen Hinweis auf den Vorbehalt haftet im Grunde ein gewisser struktureller oder systematischer Mangel an. Meist wird nicht genauer danach gefragt, welche Motive tatsächlich oder vordergründig hierzu veranlassten. Aufschlussreicher sind dagegen die Bekundungen in den Sitzungen diverser Menschenrechtsgremien.91 Dort zeigt sich nicht selten, dass der Schariavorbehalt nicht wirklich „religiös-programmatisch“ begründet war, er nicht durchweg im Sinne eines „zwingenden von allen Gläubigen so akzeptierten Ge- oder Verbotes“ moti­ viert gewesen ist. Manchmal sind bestimmte „islamische Erklärungen“ eben nur pragmatisch begründet, um beispielsweise sich im Gefolge dominierender Staaten wie Saudi-Arabien bewegen zu können.92 In den Beratungen hat sich immer wieder Mal gezeigt, wie die Auffassung islamischer Staaten auch von pragmatischen Kompromissmöglichkeiten getragen sein kann. Diese waren eben nicht stets von bestimm­ ten unabdingbaren „islamischen Positionen“ durchzogen oder geprägt – abgesehen von der z. T. recht rigorosen Haltung Saudi-Arabiens. Anfangs stand da auch die Sorge vor „missionarischen Aktivitäten“ in den jungen islamischen Staaten. Diese hatten erst kürzlich ihre kolonialen – nahezu durchgehend aus „christlichem Eisen“ ge­schmiedeten – „Ketten“ abgelegt. Zu guter Letzt kann sich die jeweils dahinter stehende Staats- und Religionspolitik bekanntlich rasch ändern. Beste Beispiele sind die jüngsten regionalen Umstürze bzw. politischen Aufwallungen in islamischen Staa­ten, die als beginnende Umbrüche gedeutet werden können.93   So ausdrücklich Mikunda-Franco, a. a. O., S.  228.   Siehe ausführlicher Petersohn (Fn.  43), S.  176 ff., m. w. N. zu Haltungen islamischer Staatsvertreter im Rahmen verschiedener Menschenrechtspakte. 92   Saudi-Arabien tritt bekanntlich oft in exponierender Weise „als Hüter der Heiligen Stätten“ auf und erschwert damit ein „Ausscheren“ der anderen aus der „islamischen Reihe“. Es reklamiert insoweit eine besondere Verantwortung gegenüber der islamischen Gemeinschaft und geriert sich auf der internationalen Plattform oft als deren Erbe. So bekanntermaßen bei den Beratungen zur Verabschiedung der „AllgErklMRe“ und ihr folgender Menschenrechtspakte, den sog. „Bill of Rights“. 93  Vgl. Frankenberger, Demokratie als Notwendigkeit – Die arabischen Führungen wollen interne und internationale Erwartungen erfüllen, in: F.A.Z. vom 4.4.2005, S.  12. 90 91

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3.  Harmonisierungsbeispiel Religionsfreiheit bzw. Apostasie Abschließend soll kurz aufgezeigt werden, wie eine Harmonisierung dogmatischer Vorstellungen mit universellen Menschenrechten zu denken wäre, und zwar exemplarisch anhand der Religionsfreiheit – ganz im Sinne Ludwig Wittgensteins: „Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand“.94 Insofern veranschaulichte das bekannte Beispiel des Konvertiten Abdul Rahman 2006 in Afghanistan die Virulenz des Konflikts, weil ihm dort die Todesstrafe drohte. Theologisch wird in diesem Spannungsverhältnis zunächst auf eine Überlieferung des folgenden Ausspruchs des Propheten Mohammed Bezug genommen: „Wer immer seine (islamische) Religion wechselt, den tötet!“95 Auf der anderen Seite gibt es dagegen zahlreiche Stellen im Koran, die genau das Gegenteil beschreiben, sogar nahezu befehlen, wie allen voran: „In der Religion gibt es keinen Zwang“ (Koran, 2,256). Aufschlussreich ist zudem die Sure 10,99: „Wenn dein Herr wollte, würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der die Menschen zwingen kann, gläubig zu werden? “ Nicht viel anders Sure 12,40: „Die Entscheidung steht allein Gott zu“. Anders formuliert: Gott gebührt das letzte bzw. endgültige Urteil über die Wahrheit, so dass kein Mensch das Recht hat, unter Berufung auf die religiöse Wahrheit einen anderen in seiner religiösen Freiheit zu beschränken oder gar zu beherrschen.96 „Du kannst nicht rechtleiten, wen du gern möchtest. Gott ist es, der rechtleitet, wen Er will. Er weiß besser, wer der Rechtleitung folgt.“ (Sure 28,56). Diese zitierten Stellen belegen in klarer Weise den Verbot eines Glaubenszwangs und unterstreichen die Achtung der Freiheit des Einzelnen, weil sie nicht zuletzt der eigenen Wahl „des Schicksals im Jenseits“ entspricht.97 Die Achtung vor jener Freiheit kulminiert zwar an einigen Stellen zu einer „Warnung und Ermahnung des Menschen“, weswegen Gott stets seine Hilfe und „Rechtleitung“ („Huda“) anbietet – ohne sich letztlich aufzudrängen.98 Wie können nun diese Passagen mit dem ersten Vers des Propheten in Einklang gebracht werden? Hier spielt zunächst die Textinterpretation des Korans eine wichtige Rolle: So gibt es nach Auffassung anerkannter Korankommentatoren von generell formulierten Aussagen keine Ausnahmen und Distinktionen.99 Sie gelten dann für den gesamten religiösen Bereich und haben gewissermaßen Vorrang – entgegen dem in hiesigen Rechtskreisen geläufigen methodischen Spezialitätsgrundsatz: „lex specialis derogat legi generali“. Infolgedessen müssen andere Verse, die in diesem Zusam  Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1984 (1929), S.  73.   Eine religiöse Legitimation wird z. T. in Sure 4,88 und 89 gesehen, wo vor Heuchlern gewarnt wird, die auch andere zum Abfall bewegen wollen. Die Aufforderung Mohammeds lautet: „Und wenn sie sich abwenden, dann greift und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und nehmt euch niemand von ihnen zum Freund oder Helfer.“ Nicht viel anders im Alten Testament, wo für den Religionsabfall die Steinigung vorgese­ hen ist – als Strafe für falsche Propheten sowie Verführer zum Götzendienst, vgl. 5. Buch Mose (Deuteronomium) 13,11; gleichermaßen für Gotteslästerung im 3. Buch Mose (Levitikus) 24,16. 96  Vgl. Wielandt (Fn.  24), S.  204, dort m. w. N. auch zu gegenteiligen Auslegungsvarianten, die eine kompromisslose Theokratie zu begründen such(t)en. 97   In diese Richtung weisen auch die folgenden Verse hin: 5,105; 10,108; 17,15; 34,41; 88,21. 98  Vgl. Talbi (Fn.  25), S.  250. 99   Zum Ganzen ausführlicher Charfi (Fn.  36), a. a. O. 94 95

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menhang wesentlich „kriegerischer“ (v. a. im medinensischen Teil des Korans) verfasst sind, die besonderen Umstände ihrer Offenbarung berücksichtigen. Sie haben insoweit die schwierige Lage bzw. Periode im Leben des Propheten zum Bezug. Dieser musste aus seiner Geburtsstadt Mekka nach Medina fliehen und wurde selbst ein Opfer von Anfeindungen, so dass er gezwungen war, sich zu verteidigen. Folglich hat diese bekannte Passage den Sinn, das Verhalten in dieser prekären Lage zu rechtfertigen. Es geht also weniger darum, jene Prinzipien in Frage zu stellen, die in zahlreichen anderen Stellen des Korans – als Ausdruck der Glaubensfreiheit – eindeutig festgelegt sind. Denn gerade hier darf nicht vergessen werden, dass die konkrete Strafe ausnahmslos Gott anheimgestellt bleibt, also dem Jenseits überlassen ist. Die zeitweise gegenteiligen Vorgänge in der frühislamischen Zeit müssen also ihren entstehungsgeschichtlichen Kontext stärker berücksichtigen.100 Damals war die islamische Gemeinschaft eine noch junge, kleine und damit verletzliche Gruppe, die sich stets Angriffen ausgesetzt sah. Etwaige Aussagen oder Aufforderungen „Abtrünnige zu töten“ bezogen sich daher auf Personen, die anschließend ihre Waffen gegen die Muslime zogen. Diese Sorge muss eine maßgebliche Bedeutung bei der Formulierung gehabt haben, wie die klare Ausnahme im Hinblick auf Frauen belegt:101 Sie waren eben nicht für den „Krieg geschaffen“. Darum diente der Abschreckungscharakter eigentlich vielmehr dem Zusammenhalt der neuen Gemeinschaft und entstammte weniger einem religiös-fanatischen Überlegenheitsanspruch. Abseits dessen spielten wohl fiskalische Aspekte wie die des „Zakat“ (Almosengabe) keine unbedeutende Rolle. Denn hin und wieder weigerten sich die arabischen Stämme, diese an den ersten Kalifen (Abu Bakr) zu entrichten. Um das zu verhindern, wurden drakonische Maßnahmen ergriffen und schließlich mit dem Abfall vom Glauben zu rechtfertigen gesucht, obwohl sie überwiegend einem politischen Machtkalkül entsprachen. Die Verweigerung einer politischen Gefolgschaft wurde somit als „Abfall von der religiösen Gemeinschaft“ gedeutet. Diese Lesart entspricht derzeit scheinbar nicht einem verbreiteten Konsens innerhalb der gesamten islamischen Gelehrtenschaft. Nichtsdestoweniger beruht sie auf einer kontextsensitiven (liberalen) Lesart des Korans. Die Praxis islamischer Staaten ist hier zwar uneinheitlich. Sie scheint diese Deutung dennoch nicht durchweg bzw. generell zu widerlegen, sofern man von den wenigen öffentlichkeitswirksamen Ausnahmen absieht.102 Insoweit mangelt es jedenfalls an einer konsequenten Verfolgung der Apostasie sowie Vollstreckung der Strafe – zumindest in der letzten Zeit. Freilich konnte das im Fall des Konvertiten Rahman nur auf Druck der „westlichen Mächte“ verhindert werden. Diese kontextspezifischere Argumentationsweise lässt sich im Übrigen z. B. auch auf erbrechtliche Regelungen für die Frau übertragen: Bekannt­ lich erhält sie nur die Hälfte des Teils vom Mann. Hier darf als zentrale koranische   So und im Folgenden die Deutung bei Talbi (Fn.  25), S.  53 ff., insbesondere S.  64 ff., m. w. N.   So zumindest nach der hanefitischen Rechtsschule, Talbi, a. a. O., S.  65. 102   Wie der Mord an den sudanesischen Sufi-Gelehrten und Politiker Taha, der wegen des Abfalls vom Glauben – in sokratischer Manier – erhängt wurde, weil er sich weigerte, seinen „Irrtum“ zu widerrufen. Um sich nicht untreu zu werden, hielt er weiterhin an seiner liberalen Interpretation des Korans fest, die sich nahezu ausschließlich an den „mekkanischen Teil des Korans“ orientierte und den (strengeren bis kriegerischen) medinensischen Einfluss vernachlässigte, zur wichtigen Unterscheidung siehe statt vieler Nagel (Fn.  3 ), S.  76 ff. et passim. 100 101

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Botschaft jedoch die Anerkennung der Frau als prinzipiell erbberechtigt und damit als eigenständiges Rechtssubjekt nicht übersehen werden, was für die damaligen Verhältnisse geradezu revolutionär erschien. Das könnte dann als Zeugnis dafür gelten, dass die „historisch-konkreten Details“ (hier: lediglich die Hälfte) weniger bedeutsam sind oder waren.

2. Teil:  Islam und Deutschland: Deutscher Islam? Die meisten der rund 3,2 Mio. Muslime in Deutschland sind ethnisch türkischen Ursprungs, ohne damit die türkische mit der „islamischen Kultur“ gleichsetzen zu wollen. So definieren sich nach jüngsten Umfragen die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten als zumeist religiös: rund 93  % gehören dabei dem Islam an, darunter 88  % der sunnitischen und ca. 11  % der alevitischen Richtung.103 Bei der Frage der Religiosität zeigt sich insgesamt ein deutlicher Zusammenhang zur Schulbildung sowie wirtschaftlich-sozialen Lage: Je niedriger das Bildungsniveau ist, umso höher ist der Anteil derer, für die ihre Religion als „wichtig“ für das eigene Lebenskonzept gilt.104 Wegen der starken Individualisierung des Islams ist nur ein Teil seiner Anhänger (rund 10–15  %) organisiert.105 Dann attestieren neuere Studien dieser Gruppe einen recht hohen Integrationsgrad und stellen eine große Loyalität bzw. starke emotionale Verbundenheit zu Deutschland sowie Akzeptanz der Gesellschaftsordnung fest.106 Insoweit genießt der deutsche Staat und seine wichtigsten Institutionen ein relativ hohes Ansehen – im Gegensatz zu gesellschaftlichen Institutionen und Me­ dien. Säkularisierungstendenzen werden immer sichtbarer, weil der Islam allmählich an Bedeutung für die Lebensgestaltung einbüßt.107 Viele Türken orientieren sich zwar überwiegend noch an den Regeln des Islams und sind von dessen Überlegen103   Zwei Drittel sehen sich dabei als „eher religiös“ an, lediglich 7  % schätzen sich als „sehr religiös“ ein. Ein Viertel der Migranten sind „eher nicht religiös“ und 3  % empfinden sich als „gar nicht religiös“. Siehe ausführlicher dazu Aydin / Halm / S˛en (Fn.  23), S.  5 ff. 104   Bemerkenswert ist, dass unter türkischen Jugendlichen die Wichtigkeit der Religion als persönlicher Lebensinhalt im Vergleich mit anderen (ausländischen oder deutschen) Jugendlichen am höchsten ist: Rund 40  % schätzen Religion für das eigene Leben als „wichtig“ ein. Dennoch favorisieren mehr als 80  % den säkularen Rechtsstaat. Der Grad der ethnischen Selbstwahrnehmung hängt dann von verschiedenen Faktoren ab. Hierzu zählen in erster Linie Alter, Aufenthaltsdauer, Migrationsgrund, Bildungsgrad, Religion und das Geschlecht. Siehe S˛en / Sauer / Halm, Intergeneratives Verhalten und (Selbst-)Ethnisierung von türkischen Zuwanderern, Essen 2001, S.  89 ff. 105   Gleichwohl wird der Islam in Deutschland durch eine ganze Reihe von Vereinen, Dach- und Spitzenverbände vertreten, ohne wirklich für alle Muslime sprechen zu können. Zu den einzelnen Organisationen der Muslime in Deutschland siehe z. B. Spuler-Stegemann (2002), Muslime in Deutschland. Informationen und Klärungen. 106   Mittlerweile besteht sogar bei einem Großteil eine Verbundenheit zu Deutschland, das gewissermaßen zur „halben“ bzw. „zweiten Heimat“ geworden ist. Allerdings ist die Gefühlslage zum jeweiligen Land generationsabhängig unterschiedlich ausgeprägt. Siehe dazu ausführlicher die weitgehend repräsentative Studie hrsg. v. der Konrad-Adenauer-Stiftung, Projekt: „Zuwanderung und Integration, Türken in Deutschland“ – 2001 / 2; Nr.  53 / 2001. So auch eine der Kernaussagen bei Sackmann /  Prümm / Schulz, Kollektive Identität türkischer Migranten in Deutschland? InIIS-Arbeitspapier Nr.  20 / 2000; sowie Sackmann / Schulz, in: APuZ B 43 / 2001, S.  4 0 ff. 107   Um die „Säkularisierungsgeschwindigkeit des Islams“ genauer zu bestimmen, müsste sie eigentlich zu einer räumlich-zeitlichen Determinante in Bezug gesetzt und dabei zwischen einer Außen-

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heit zumeist überzeugt.108 Sie stimmen aber zugleich der Ansicht zu, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Islamistische oder antidemokratische Tendenzen konnten jedenfalls nicht belegt werden.

1.  Zentralrat der Muslime („ZMD“) Vor diesem Hintergrund und wie bereits in der Einleitung angedeutet, sind inzwischen auch erste Anzeichen eines Versuchs sichtbar, den „Islam in Deutschland“ schriftlich zu „verfassen“. Hier ist die Rede von der – freilich unverbindlichen – „Islam-Charta“ des ZMD.109 Gleich zu Beginn ist darauf hinzuweisen, dass das Dokument unter dem Ein- wie auch Rechtfertigungsdruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu sehen ist. Es versteht sich als eine „institutionelle Verlautbarung“ in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Verfassungs- bzw. Gesellschaftsordnung.110 Der ZMD will mit damit eine „klare Position“ in dieser gesellschaftspolitischen Debatte beziehen und zugleich zu ihrer „Versachlichung“ beitragen, wie es im Vorwort der Charta dazu heißt. Dementsprechend richtet sich dieses „erste Dialogangebot“ an die hiesige Gesellschaft. Fragen nach der Relevanz für maßgebliche Autoritäten in der (übrigen) islamischen Welt sollen (vorerst) ausgeblendet bleiben. Der ZMD wurde seinerzeit gegründet, um die vielfältigen – vor allem rechtlichen – Schwierigkeiten der Muslime in Deutschland zu beheben, die z. T. mit ihrer feh­ lenden organisatorischen bzw. institutionellen Verfasstheit zusammenhängen. Daher haben sich viele Organisationen zusammengeschlossen, um sich so zu einem muslimischen Ansprechpartner des Staates zu etablieren, aber zugleich auch Körperschaftsrechte als Religionsgemeinschaft erlangen zu können. Zugegebenermaßen ist die Repräsentativität des ZMD sehr eingeschränkt: bezogen auf alle Muslime in Deutschland liegt sie allenfalls bei ein bis zwei Prozent, so dass eine gewisse Selbstautorisierung nicht von der Hand zu weisen ist.111 Sie scheint aber bislang die Mehrheit und Binnenperspektive unterschieden werden: die Letztere bezöge sich auf alle sich „islamisch“ nennenden Gemeinschaften, die Erstere dagegen auf eine konkrete Gemeinde. 108   13  % gestalten ihr Leben vollständig und weitere 30  % überwiegend nach den Regeln des Islam. 27  % der Befragten befolgen die Regeln des Islam nur noch teilweise und etwas mehr als ein Viertel der Befragten hat mit der Religion nicht viel im Sinn. Sie richten sich in ihrem Leben weniger oder überhaupt nicht danach. 77  % bekennen sich „zu einem toleranten Islam, der das Christentum als gleichwertige Religion anerkennt“. Der Vorgabe, dass der Islam und das Christentum im Grunde die gleichen Werte vertreten, stimmt die Hälfte zu, 42  % lehnen sie ab – die Übrigen haben keine Meinung dazu, vgl. „KAS-Studie“ (Fn.  106), Teil 1, S.  13 / 16. 109   Zum Text der „Islam-Charta“ sowie zum Selbstverständnis des ZMD siehe www.zentralrat.de. 110   Hier soll allerdings nicht der Frage nachgegangen werden, warum eine derart wichtige Frage unter Zeitdruck erörtert und auf die Möglichkeit verzichtet wurde, zumindest auch die anderen Verbände einzubinden, selbst wenn das sicherlich mit Schwierigkeiten verbunden wäre. Siehe dazu näher z. B. v. Denffer, in: Al-Islam, Zeitschrift von Muslimen in Deutschland, Nr.  2 / 2002, S.  4 ff. und 8 ff. 111   Der multinationale „Zentralrat“ ist nur einer von drei islamischen Spitzenverbänden. Er hat zur Zeit 19 Mitgliederorganisationen, wobei eine genaue Mitgliederzahl schwer zu ermitteln ist. In den Anfangsjahren waren im ZMD etwa 30.000 Muslime organisiert. Nachdem im Jahre 2000 der „Verband der Islamischen Kulturzentren“ (VIKZ) aus dem ZMD ausgetreten ist, werden von den verblie­ benen Vereinen nur noch etwa 10.000 – 15.000 Muslime vertreten. Im März 2007 wurde dann der Koordinationsrat der Muslime von den vier großen Dachverbänden DITIB, VIKZ, Islamrat und ZMD gegründet. Er organisiert die Vertretung der Muslime in Deutschland und ist Ansprechpartner für

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der nichtorganisierten Muslime weniger zu tangieren. Mutmaßlich haben viele keine näheren Kenntnisse in diesem Zusammenhang. Anders dagegen die von ihrer Mitgliederzahl her stärkeren Organisationen wie die „Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion“ (DITIB) und der „Islamrat“ sowie weiterer Stimmen.112 Sie alle kritisierten seinerzeit den ZMD für dessen Alleingang öffentlich und warfen ihm vor, vorher keinen gesamtmuslimischen Konsens angestrengt zu haben – ohne jedoch eigene, vergleichbare Initiativen vorzulegen.113 Nichtsdestoweniger liegt mit der Charta jedenfalls bundesweit erstmals überhaupt ein Text vor, der zumindest als Auftakt oder Ausgangsbasis begriffen werden kann, das „islamische Menschenrechtsverständnis in Deutschland“ näher zu erforschen.114 Im Folgenden soll daher der konkreten Frage nachgegangen werden, ob sich der ZMD – mythologisch betrachtet – mit der Charta in das Bett des Prokrustes gelegt hat. Denn mit dieser als „Grundsatzerklärung“ gefassten Verlautbarung hat sich erstmals eine islamische Organisation in Deutschland in etwas ausführlicher Form aufgemacht, jene berühmte Gretchenfrage beantworten zu wollen, die stellvertretend für die Trennung von Glauben und Wissen bzw. Religion und Wissenschaft steht. Verbirgt sich dahinter also lediglich ein zahnloser Papiertiger, der gewissermaßen getreu dem Motto einer wieder abgesetzten Handwerker-Pfusch-Sendung entstanden ist: „Was nicht passt, wird passend gemacht!“?

2. Islam-Charta Wie erwähnt, versteht die „Islam-Charta“ sich als eine „Grundsatzerklärung zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft“. Im Vorwort heißt es dazu weiter: „Die Mehrheitsgesellschaft hat Anrecht darauf, zu erfahren, wie die Muslime zu den Fundamenten dieses Rechtsstaates, zu seinem Grundgesetz, zu Demokratie, Pluralismus und Menschenrechten stehen.“ Um die dahinter stehende Position ein Stück weit zu erhelPolitik und Gesellschaft, www.islamrat.de. Siehe hierzu Kandel, Organisierter Islam in Deutschland und gesellschaftliche Integration, hrsg. v. Politische Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2004; wie auch Heine (Fn.  62), S.  195 ff. 112   Der „Islamrat“ hat rund 185.000 und der „DITIB“ ca. 125.000 Mitglieder. Der Begriff „Zentralrat“, der an den „Zentralrat der Juden“ erinnert, kann insofern leicht irreführen, vgl. Kandel, a. a. O. 113  Vgl. ausführlicher z. B. die Ausgabe 2 / 2002 der islamischen (deutschsprachigen) Zeitschrift „al-Islam“, hrsg. v. Islamischen Zentrum München. 114   So hatte auf der Länderebene bereits 1995 die „Islamische Religionsgemeinschaft Hessen“ (IRH) ein religiöses Grundsatzpapier „Darstellung der Grundlagen des Islam“ herausgegeben und dort sein Islamverständnis – für seine Mitglieder verbindlich – niedergelegt, vgl. ausführlicher www.irh-info.de. Es wurde in Zusammenarbeit mit allen islamischen Organisationen auf Landes- und Bundesebene und mit vielen muslimischen Experten erstellt. Damit repräsentiert es den religiösen Konsens der sunnitischen und schiitischen „Fiqh-Schulen“. Die IRH vertritt dort den Islam, so wie er „weltweit von den Muslimen verstanden und gelebt“ werde. Das Dokument stellt insoweit ein religiöses Konsenspapier dar, um der hier immer wieder beklagten „Zerstrittenheit“ entgegenzutreten. Diese Heterogenität hänge meist mit soziologischen und migrationspezifischen Gegebenheiten sowie Bildungs- und insbesondere Sprachdefiziten zusammen; z. T. spielten dann noch unterschiedliche Traditionen hinein. Nicht zuletzt sei auf diesem gesamten Gebiet eine mangelhafte Integrationspolitik zu beklagen, so Zaidan (IRH), Institutionelle Voraussetzungen und pädagogische Konzepte der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen, in: Islamischer Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Deutschland, Berlin 2000, S.  46 ff. (50).

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len, sollen die zentralen Aussagen des Verhältnisses wie auch Verständnisses zu jenen Verfassungswerten näher dargestellt und dabei ein besonderer Blick auf etwaige Unvereinbarkeiten sowie Unzulänglichkeiten geworfen werden. Sollte sich am Ende dennoch kein umfassendes Bild ergeben, so können die folgenden Beispiele wenigstens ein Stück weit dazu beitragen, den Standpunkt des ZMD – wenn auch lediglich mosaik- bzw. schemenhaft – zu umreißen. Und zwar ganz im Sinne Senecas: „Über Vorschriften führt ein langer Weg, ein kurzer und wirkungsvoller über Beispiele.“115 Formal gliedert sich die Charta in 21 Thesen, denen am Ende (These 20) ein gewissermaßen rechtlicher Forderungskatalog eingefügt ist. Bereits im Vorwort wird die „Identifikations- und Integrations- sowie Dialogbereitschaft“ der Muslime betont, sofern kein Widerspruch zur „islamischen Identität“ entsteht. Eigentlich eine eher gewagte These, denn es gibt sicherlich viele Moslems, die im Grunde ihres Herzens sich mit der deutschen – weitgehend säkular geprägten – Gesellschaft nicht so sehr identifizieren, weil sie ihnen entweder zu unsittlich, unmoralisch und damit recht gottlos erscheint oder als zu christlich. Ferner steht dort, dass Deutschland bloß nicht „Gastland“, sondern vielmehr „Heimat“ geworden sei. Daher würden sich die Muslime auch als „Bürger“ dieses Landes sehen. Ob das nun alle Muslime so sehen, ist wohl nicht voll zutreffend – aber ein Trend in diese Richtung zeichnet sich ab. Das hier verwendete (Staats-)Bürgerkonzept entspringt jedenfalls einer säkularen Vorstellungswelt und hat meist eine nationalstaatliche Färbung. Im ersten eher „theozentrischen Teil“ (Thesen 1 bis 9) werden gängige Glaubensbekenntnisse wie auch ethisch-moralische Prinzipien sowie die „Ganzheitlichkeit“ des Islams im Leben eines Moslems angesprochen wie z. B. explizit in These 8. So wird gleich zu Beginn der Charta die „Friedfertigkeit des Islams“ betont und „neben“ die beiden anderen monotheistischen Religionen gestellt.116 Hier wird das eigene Selbstverständnis, das sich aufgrund einer historischen Betrachtungsweise als die abschließende Weltreligion begreift, untermauert. Genau genommen steht der Islam danach nicht wirklich „neben“, sondern eher „über“ den beiden anderen Religionen. Schließlich ist den Muslimen nach koranischer Lesart der oberste Rang in einer Gesellschaft zugewiesen: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je unter Menschen entstanden ist“ (Sure 3,110). Bekanntlich leugnet der Islam die Hauptdogmen der christlichen Lehre: Trinität, Inkarnation und Erlösung.117 Wegen seiner „Trinitätslehre“ wird der monotheistische Charakter des Christentums bestritten.118 Abgelehnt wird die Gottessohnschaft Jesu, der stellvertretende Sühnetod am Kreuz und seine Auferstehung. Im Koran ist nur Gott der Schöpfer. Er ist eben nicht als Vater seiner Kinder zu

115   Seneca, Epistulae morales 6, 5, zitiert nach Reclams Lateinisches Zitatenlexikon (1996), zusammengestellt von Muriel Kaspar, S.  127. 116   Klingt dort aber ein wenig danach, als sei der Islam die einzige und wahre Religion in dieser Hinsicht – so wie es wohl im Prinzip dem theologischen Selbstverständnis entspricht. 117   Schwartländer (Fn.  8 ), S.  17. 118   Der im Islam als „Tritheismus“ verstanden wird, als sog. „schirk“, d. h. die Beigesellung eines anderen Wesens neben Gott, das wiederum stellt wohl die größte, unvergebbare Sünde im Islam dar, erhellend hierzu die Sure 19 „Maria“, Vers 66 bis 96, weiterführend Nagel (Fn.  3 ), S.  2 .

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begreifen.119 Anders als beispielsweise im Alten Testament („Ich bin, der ich bin“ 2. Mose 3,14) bleibt Gott im Islam stets – wie ein Geheimnis – verborgen. Er ist von seiner Schöpfung vollkommen gelöst und dementsprechend in keiner Weise mit sei­ nen Geschöpfen vergleichbar. Sie dürfen sich keine Vorstellung über ihn machen. Ihm ist quasi „nichts gleich“.120 Sodann behandeln die Thesen 3 und 4 den für den Islam traditionsgemäßen Letztgültigkeits- und Monopolanspruch auf die ursprüngliche Wahrheit: Nach der islamischen Theologie ist der Prophet Mohammad gesandt worden, um hier auf Erden gewissermaßen den Schlusspunkt zu setzen und damit die beiden anderen abrahamitischen Religionen zu überwinden.121 Letzteren wird immer wieder vorgeworfen, das Wort Gottes mehr oder minder absichtlich verfälscht zu haben. Dieses Verständnis beeinträchtigt sicherlich einen gleichberechtigten Dialog zwischen allen Religionsgemeinschaften. Später erklärt These 8 den Islam als einen „Mittelweg“ zwischen dem dies- und jenseitigen Leben. Daher sei der Islam „Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lebensweise zugleich“. Die Muslime seien im täglichen Leben aufgerufen „aktiv dem Gemeinwohl zu dienen und mit Glaubensbrüdern und -schwestern in aller Welt solidarisch zu sein.“ Fraglich ist, ob damit wirklich ein Eintreten für die bundesdeutsche, säkulare und nichtislamische Gesellschaftsordnung gemeint ist. In der islamischen Theologie setzt das Entstehen von Gemeinwohl eigentlich die Herrschaft der Scharia voraus. Unverständlich ist hier jedenfalls der Aufruf zur „Solidarität“, der sich aber nur an die „muslimische Gemeinschaft in Deutschland und weltweit“ richtet. Er konterkariert damit diese Verlautbarung als Grundsatzerklärung an die deutsche Öffentlichkeit. Zudem widerspricht dieser Aufruf der vorherigen Aufforderung zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement, die vermutlich allen zugutekommen soll. Etwas irreführend ist auch die These 9 formuliert, die sich auf die „Förderung der unternehmerische Initiative“ sowie auf den „Schutz des Privateigentums“ bezieht, das der „Gemeinschaft verpflichtet“ sei. Insoweit gehe es dem Islam nicht um die „Abschaffung von Reichtum“, sondern vielmehr um die „Beseitigung von Armut“. Das klingt zwar ansatzweise nach Art.  14 des GG, ist aber dennoch schief formuliert. Hintergrund ist sicherlich, dass der Koran die Ungleichheit im Eigentum bzw. der Vermögensverhältnisse nicht verbietet. Insoweit wird dem Menschen eine gottgewollte Bewährung abverlangt: Die Reichen soll ihre Prunksucht und die Armen ihren Neid zügeln. Es fehlen aber Ausführungen wie z. B. mit dem islamischen Zinsverbot umgegangen werden soll.122 Nicht zu vergessen ist, dass bestimmte Erwerbsquellen, die als an119   Aus der Ablehnung des stellvertretenden Sühnetodes Jesu folgt nach islamischen Selbstverständnis die Eigenverantwortung des Menschen, so die Kernaussage der 5. These der Charta, zu diesem Themenkomplex aufschlussreich noch immer Nagel, a. a. O., S.  263 ff. 120   So in Sure 42,11. Das wird auch als „tauhid“ (die Einsheit Gottes) bezeichnet: „Er ist Gott, ein Einziger, Gott der Ewige! Er zeugt nicht, und er wurde nicht gezeugt! Und es gibt niemand, der ihm gleicht! “ (112,1–4), vgl. Schirrmacher, Die Eigenschaften Gottes im Koran und im Islam, S.  1, abruf bar unter: www.islaminstitut.de. 121   So z. B. im Koran, Sure 3,78, und 4,46 oder 7,162. 122   Das freilich nur noch Staaten wie Saudi Arabien, Iran, Pakistan und dem Sudan Bestandteil des staatlichen Rechts ist. Hier hat sich vor Kurzem der Londoner High Court – vom 13.  2 . 2002 in Sachen Islamic Investment Company of the Gulf (Bahamas) Ltd. vs. Symphony Gem N.V. & Ors. (2001 Folio 1226) – als erstes europäisches Gericht ausführlicher mit Fragen einer islamischen bzw. „zinsfreien“ sog.

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rüchig, unsittlich oder ausbeuterig angesehen werden, im Islam an und für sich verpönt und z. T. sogar verboten sind. Am Aufschlussreichsten zeigen sich insgesamt die anschließenden „Kernthesen“ 10 bis 15, die sich auf die „Diaspora-Situation“ im Allgemeinen beziehen.123 So beteuert These 10: „Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich (!) an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.“ Zunächst ist daran zu erinnern, dass es ein „islamisches Recht“ im Sinne einer einheitlichen Form – aus verschiedenen und wohlbekannten Gründen – nicht wirklich gibt.124 Daher ist nicht ganz auszuschließen, ob hier womöglich die Anwendung der Scharia zu verstehen ist und zwar der lokalen Rechtsordnung quasi übergeordnet. Ersteres klingt aber weniger dramatisch, Letztere ist mit negativen Assoziationen und Konnotationen hierzulande verbunden. Sodann drängt sich selbst­verständlich die Frage auf, wann denn Ausnahmen vom „Grundsätzlichen“ anzunehmen sind? Doch wohl in erster Linie, wenn ein Widerspruch zu islamischen Ge- oder Verboten zu erwarten ist, oder? Wenn ja, wären „Einbruchsstellen“ des religiösen Rechts – einschließlich seiner vielfältigen Interpretationsvarianten – in das deutsche Recht vorprogrammiert. Bei diesem Verständnis wäre mit der Charta aber letztlich keine Klarheit geschaffen, kein tatsächlicher Gewinn erzielt, weil das gesamte Dokument unter diesem Vorbehalt stünde.125 Obendrein erinnert die gewählte islamische Vertragskonstruktion an die Einteilung der Gebiete des Islams: Selbst wenn die Charta an keiner Stelle den Begriff „Vertrag“ eigens verwendet, kann man jedoch davon ausgehen, dass der ZMD sie doch als eine Art „Vertragsangebot“ betrachtet. Diese Aussage stützt sich neben der „Vertragskonstruktion“ zugleich auf eine bestimmte Auslegung des Korans, die in dieser Hinsicht immer häufiger zitiert wird: „In der Religion gibt es keinen Zwang“ (Koran, 2,256). Neben einigen anderen Stellen passt hier sicherlich auch der Koran„murabaha“-Finanzierung beschäftigt, siehe die Besprechung bei Bälz, Islamische Bankgeschäfte vor europäischen Gerichten, ZVglRWiss 101 (2002), S.  379 ff., m. w. N. Freilich sind hier nicht die Kompromiss- und Reformmöglichkeiten des Islamischen Rechts aus den Augen zu verlieren. Siehe zu den Schwierigkeiten wie aber auch Lösungsansätzen islamischer Staaten (z. B. Ägypten) hinsichtlich der Reichweite des in der islamischen Doktrin umstrittenen Themas des Zinsverbotes Yassari, Islamisches Recht oder Recht der Muslime – Gedanken zu Recht und Religion im Islam, ZVglRWiss 103 (2004), S.  103 ff. 123   Siehe hierzu ausführlicher Kandel (2002), Die Islamische Charta – Fragen und Anmerkungen, S.  6 f. sowie Brunner, Die „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Beitrag zur Integration oder Mogelpackung?, in: Die Gazette, vom 2.  9. 2002. Vgl. daneben noch Molthagen, Die „Islamische Charta“ des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD), in: Islam und christlicher Glaube, 2 / 2002. 124   Hier weist Yassari (Fn.  122), S.  105, auf ein Zitat eines islamischen Theologen hin, der auf einer Tagung die provokative die Aussage bzw. These formulierte: „das islamische Recht existiert (wegen seiner Uneinheitlichkeit) nicht“. 125   Zwar weisen Verlautbarungen der seinerzeitigen Vertreterin des ZMD (Alzayed) darauf hin, dass damit die deutsche Rechtsordnung „ohne Wenn und Aber“ einzuhalten sei – sofern sie jedoch nicht dem Glauben entgegen steht, so widergegeben bei Kaul, Menschenrechte, Kopftuch und Verfassungstreue – Die Islamische Charta des ZMD in der Diskussion, www.christa-tamara-kaul.de/wortwislamcharta.htm.

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vers 10,99: „Wenn dein Herr wollte, würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der die Menschen zwingen kann, gläubig zu werden? “ Hier wird der Glaubenszwang untersagt und die Freiheit des Einzelnen geachtet, weil sie letztlich der Wahl seines Schicksals entspricht (s.o.). In diese Richtung weisen auch die folgenden Verse: 5,105; 10,108; 17,15; 34,41; 88,21. Freilich ist das der früheren traditionellen Theologie gegenüber schon eine liberalere Auffassung. Insoweit entsteht der verbindliche Charakter, sobald der Staat bzw. die (nichtislamische) Gemeinschaft das Angebot akzeptieren bzw. annehmen. Was ist aber, wenn Muslime einen solchen „Vertrag“ nicht eingehen wollen oder dürfen, weil sie zum Beispiel nicht legal eingereist oder als Deutsche geboren sind? Letztlich spielt die Gültigkeit dieser Vertragskonstruktion eine zentrale Rolle, wenn es um die Rechtspflichten der Muslime im „Land des Vertrages“ geht. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob alle Thesen auch noch gelten, wenn – theoretisch betrachtet – die Muslime sich in einer Mehrheitssituation befinden? Denn als Bestandteil eines Vertrages würde mit dem Ende einer Diaspora-Situation diese These eigentlich ihre Grundlage verlieren. Als ebenso ambivalent erscheinen die Grundaussagen in These 11, die gewissermaßen als Pendant zum Vorwort stehen: Sie anerkennen die vom „Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung (...), einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit“. Dem zunächst klaren Bekenntnis zur Grundordnung steht jedoch nur eine einge­ schränkte Anerkennung der geschlechtlichen Gleichheit gegenüber. An anderer Stelle wirbt der ZMD aber für ein „zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen“ (These 15) und versucht damit seine Reformfreudigkeit im Allgemeinen zu betonen. Mithin bleibt der konkrete Standpunkt im Verborgenen. Im Übrigen sind Wahlrecht und Wählbarkeit von Frauen inzwischen gängige Praxis in islamischen Staaten, so dass ein gewisser Eindruck der „Verschleierung“ des konkreten Umfangs der Frauenrechte entsteht. Demgegenüber schließt das ausdrückliche Bekenntnis zur umfassenden Religionsfreiheit selbst das Recht ein, die Religion zu wechseln oder gar keine zu haben. Im Gegensatz dazu, steht zwar die Apostasie in bestimmten Ländern nach wie vor unter strenger Strafe. Nichtsdestotrotz steht diese umfassende Freiheit nach der Islam-Charta allerdings unter einem doppelten Vorbehalt: nämlich einerseits unter dem Grundsätzlichen nach These 10 sowie andererseits dem „vom Koran aner­ kann­ten religiösen Pluralismus“ nach These 14. Als nächstes verneint die 12. These das Streben nach einem „klerikalen Gottesstaat“ und schreibt die Unverbindlichkeit der Scharia in einem säkularen Gemeinwesen fest. Streng betrachtet gibt es – zumindest in der sunnitischen Glaubensrichtung – keinen „Klerus“.126 Eine auf die Scharia errichtete „Gottesherrschaft“ wäre demnach nicht gänzlich ausgeschlossen. Hier fehlen zudem Hinweise darauf, wie es beispielsweise um das Bemühen der Muslime steht, sich stets nach besten Kräften „abzumühen“, ihre Gesellschaft in eine islamgemäße umzuwandeln.127 Alles in allem lässt sich hier das ungeklärte Zusammenspiel von Religion, politischer Herrschaft und demo­   Der Begriff entstammt eigentlich einem christlichen Vokabular.   Anders die Forderung des Korans wie v. a. die Sure 5, Vers 44–50, siehe Denffer (Fn.  110), ebd.

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kratischer Legitimation in der Charta ablesen. Ungenau ist jedenfalls die Charakterisierung des Verhältnisses von Religion und Staat hierzulande als „harmonisch aufeinander bezogen“. Diesbezüglich besteht eine klare grundgesetzliche Trennung (Gewaltenteilung). Sie ist allenfalls durch ein lediglich rudimentär vorhandenes „Kooperationsmodell“ im Staatskirchenrecht ergänzt.128 Ähnlich wie bereits These 10, aber noch unspezifischer und mehrdeutiger sind die ausweichenden Aussagen in These 13: Sie behaupten, dass „zwischen der islamischen Lehre und dem Kernbestand der Menschenrechte“ kein Widerspruch bestehe; ebenso wenig „zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung“.129 Erneut fehlen nähere Ausführungen bzw. Anhaltspunkte darüber, wie diese gemeinhin als eher spannungsgeladen angesehene Beziehung zwischen dem islamischen Verständnis über „gottverliehene Rechte“ und den „westlichen“ – gemeint ist wohl universellen oder säkularen – Menschenrechten aufgelöst werden kann. Schließlich gilt die „AllgErklMRe“ universell und nicht bloß für den Westen. Weder sind hier die gottgewährten Individualrechte benannt noch ist geklärt, was als „Kernbestand der westlichen Menschenrechte“ gelten soll. Zwar hat eine Vertreterin des ZMD (im Rahmen einer Veranstaltung) erklärt, dass damit die Menschenrechtserklärung von 1948 in ihrer „Grundversion“ gemeint sein soll. Ungeklärt bleibt dann trotzdem, ob und wie die in den späteren Jahren hinzugekommenen Weiterentwicklungen Berücksichtigung erfahren. Die in dieser 13. These explizite „Anerkennung des deutschen Eherechts“ kann gleichwohl zu Schwierigkeiten führen, insbesondere mit Blick auf konfessionsverschiedene Ehen. Andererseits teilen diese Probleme die anderen Religionen ebenfalls – vor allem das Judentum mit seiner bekanntlich kategorischen Ablehnung.130 Im (juristischen) Alltag wirft dieser Bereich aber eher weniger Probleme auf.131 Ferner heißt es dort: „Das islamische Recht gebietet, Gleiches gleich zu behandeln, und erlaubt, Ungleiches ungleich zu behandeln.“ Die Krux hieran ist, dass nach vorherrschender Meinung im Islam zwischen dem Mann und der Frau zwar eine Gleichwertigkeit, aber aufgrund der komplementären Rollen keine volle Rechtsgleichheit besteht.132 Dementsprech128  Siehe Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Berlin / New York 1998. 129   Und weiter: „Der beabsichtigte Schutz des Individuums vor dem Missbrauch staatlicher Gewalt wird auch von uns unterstützt.“ Der konkrete Aussagewert ist unklar, weil das eigentlich evident ist. 130   Hierzu erklärte der damalige Vorsitzende des ZMD Elyas in der taz v. 21.  2 . 2002: „Nach dem Koran können wir eine solche Mischehe nicht legitimieren. Da wir allerdings das Eherecht respektieren, können wir das nicht verbieten. Wir können deshalb nur darauf hinwirken, dass es deshalb keine Störungen gibt“, so zitiert bei Leggewie, Auf dem Weg zum Euro-Islam?, Bad Homburg 2002. Freilich ist selbst das Christentum erst im Zuge der Ökumene zu einer toleranteren Einstellung gelangt. 131  Ausführlicher Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, Freiburg u. a. O. 2001, S.  93 ff. 132   Hier dient meist der Koran als Referenz, der an einer Stelle ausdrücklich davon spricht, die Männer seien den Frauen „übergeordnet“, zumindest „vorangestellt“ (siehe bereits Fn.  31) und zudem Krämer (Fn.  51), S.  29. Danach stehen Männer „über den Frauen, weil Gott sie vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben (oder: gehorsam).“ Und ähnlich Sure 2,228: „Die Männer stehen eine Stufe über ihnen.“ Dadurch wird letzt­ lich die Pflicht des Mannes zum Unterhalt betont und die Frau zu „Demut“ bzw. „Gehorsamkeit“ angehalten. Allerdings gibt es hier auch progressivere Interpretationen wie bei Hofmann, Islam und Menschenrechte (2003), wonach Männer für die Frauen einstehen müssen – „und zwar wegen ihrer normaler-

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end wird hier erneut die oben genannte Vertragskonstruktion gewählt: „Das Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige lokale Rechtsordnung anzuerkennen, schließt die Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechts ein.“ Nicht völlig klar ist ferner, ob oder inwieweit der ZMD von der Gleichheit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ausgeht. Denn nach islamischem Selbstverständnis ist das jedenfalls nicht selbstverständlich der Fall wie die mindere Rechtsstellung der sog. „Dhimmis“ (s.o.) bezeugt. Auf die gemeinsamen „geistesgeschichtlichen Wurzeln“ der monotheistischen Religionen weist sodann These 14 hin. Bekanntermaßen kamen (v.a. im Mittelalter) wichtige Anregungen für die „europäische Kultur“ auch aus dem islamischen Raum wie z. B. durch Ibn Sina (lat. „Avicenna“) oder Ibn Ruschd (lat. „Averroes), denen (u. a.) die Bewahrung des Gedankengutes sowie wichtiger Schriften der antiken Philosophie zu verdanken ist. Ebenso ist es zutreffend, dass gewisse Gemeinsamkeiten im Lauf der Geschichte bestanden haben und es zu wechselseitigen Beeinflussungen kam. Allerdings fehlt ein deutlicher Hinweis auf die letztlich völlig unterschiedlichen Entwicklungsverläufe und Denkstrukturen. Dass sich Koran und Altes sowie Neues Testament in ganz zentralen Aussagen unterscheiden und sich gegenseitig ausschließen gilt in diesem Diskurs wohl als Gemeinplatz. Mehr noch: christliche Kern- und Grundüberzeugungen wie im Fall der Trinitätslehre erscheinen dem Islam gleichsam als Gotteslästerung (s.o.). Unbeschadet dessen wird hierzu lapidar auch noch festgestellt, dass „die europäische Kultur (...) ganz wesentlich von der islamischen Philosophie und Zivilisation beeinflusst“ sei. Daher wollten die Muslime im „heutigen Übergang zur Postmoderne“ einen „entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen leisten“. Hierzu „zähle[n] u. a. die Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt.“ Inwieweit ein „koranischer Pluralismus“ tatsächlich existiert und wie dieser dann zu der in These 11 zugestandenen Religionsfreiheit steht, bleibt nach wie vor erklärungsbedürftig. Fest steht aber, dass vom Koran im Prinzip nur der Pluralismus der Buchreligionen („Schriftbesitzer“) anerkannt ist und deren Angehörige nur gegen die Entrichtung der „Kopfsteuer“ (Sure 9,29) jenen Status des „Schutzbefohlenen“ erhalten (s.o.). Vordergründig dürfte gegen die Ablehnung jener „Zivilisationskrankheiten“ nichts einzuwenden sein, sofern ein Konsens darüber zu erzielen ist, was eine „gesunde Le­ bens­weise“ oder „jede Art von Süchtigkeit“ ausmacht. An dieser Stelle schimmern Vorstellungen strengerer Muslime durch, die gerade in der westlichen Gesellschaftsform eine „ungesunde Lebensweise“ sehen, die den Menschen zur Sucht treibe bzw. verleite. Folglich will der Islam, der sich weniger materiell, sondern ideell ausgerichtet versteht, gerade hier einen entscheidenden „Beitrag zur Bewältigung von Krisen“ leisten.

weise größeren physischen oder finanziellen Möglichkeiten“, www.qantara.de/webcom/show_article.php/_ c-272/_nr-3/i.html. Zum Ganzen ausführlicher Rohe, Islamisches Recht und Menschenrechte – eine Problemskizze, in: Bendel / Fischer (Hrsg.), Menschen- und Bürgerrechte: Perspektiven der Region, Erlangen 2004, S.  439 ff. (442 ff.).

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Interessant ist auch These 15, die sich auf die Bildung einer „eigene[n] muslimische[n] Identität in Europa“ bezieht. Die Passage erinnert ein Wenig an den eher säkular konnotieren „Euro-Islam“. Demzufolge könnte damit die grundsätzliche Verträglichkeit von abend- und morgenländischer Tradition bzw. Kultur wie auch Gesellschaftsordnung gemeint sein. Schließlich fordert der Koran den Menschen auf „seine Vernunft zu gebrauchen“. „In diesem Sinne“ sei die „islamische Lehre“ auch inhärent „aufklärerisch“. Trotzdem ist damit nicht völlig ausgeschlossen, dass jene Formulierung auch als Gegenpart zu einer „christlich-europäischen Identität“ stehen könnte. Denn der Moslem soll sich ja als Teil der (weltumspannenden) „Umma“ begreifen bzw. sich stets mit ihr identifizieren. Die Verwendung des Adjektivs „auf klärerisch“ in diesem Zusammenhang wirkt aber recht ungewöhnlich oder eher merkwürdig, weil sie zumindest nicht sogleich mit der Realität bzw. Praxis islamischer Staaten assoziiert wird. Im Gegenteil: so beansprucht in der islamischen Theologie die Lehre von Ein(s)heit („Tauhid“) absolute Geltung und steht damit einer strikten Trennung prinzipiell entgegen. Am Ende der Charta (Thesen 16 bis 21) wird ganz allgemein die Funktion und Rolle des ZMD im künftigen gesellschaftlichen Integrationsprozess der Muslime thematisiert. Daneben wird auf bestimmte Vorhaltungen aus dem öffentlichen Dis­ kurs reagiert. Hierzu werden bestimmte Versicherungen abgegeben, dem sich bestimmte Forderungen anschließen. Diese werden als Voraussetzung für eine „würdige muslimische Lebensweise im Rahmen des Grundgesetzes und des geltenden Rechts“ beschrieben. So wird dort die eigene Rolle als Dialogpartner angesprochen. Diese will zum Abbau von Vorurteilen durch „Öffnung und Transparenz“ beitragen, um die „friedliche Koexistenz“ zu gewährleisten – „ohne die Verbindungen zur islamischen Welt zu vernachlässigen“ (These 16 und 17). Hier sieht sich der ZMD „der gesamten Gesellschaft verpflichtet“. Er will einen „wesentlichen Beitrag zu Toleranz, Ethik, Umwelt- und Tierschutz leisten“ sowie als „Partner im Kampf gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus und Gewalt“ auftreten (These 19). Der Hinweis auf den Tierschutz dürfte allerdings bei den Gegnern des Schächtens eher befremdlich klingen; in ähnlicher Weise gilt das wohl für das Stichwort „Sexismus“ (Rolle der Frau). Des Weiteren werden die Muslime in Deutschland aufgefordert, die gesamtgesellschaftliche „Integration unter Bewahrung der islamischen Identität“ voranzutreiben – ohne wiederum konkretere Aussagen über die Art und Weise zu treffen. Andererseits lassen sich gewisse Hinweise aus dem – vorwiegend rechtlichen – Forderungskatalog in der 20. These gewinnen. Zu den dort aufgezählten Voraussetzungen gehören bekannte Themen wie die rund um den Religionsunterricht sowie Bekleidungsvorschriften in der Schule.133 Auffallend ist hier eine recht klare und präzise Formulierung der eigenen Wünsche. Die Charta schließt mit der Aufforderung an die Parteien sich für die Belange der Muslime einzusetzen: Die wahlberechtigten Muslime stimmten nämlich für diejenigen Kandidaten, „welche sich für ihre Rechte und Ziele am stärksten einsetzen und für den Islam das größte Verständnis zeigen.“

133   Zu den Forderungen zählen u. a. auch „die (stärkere) Beteiligung von Muslimen an den Aufsichtsgremien der Medien“ sowie den staatlichen Schutz der beiden islamischen Feiertage.

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3.  Bewertung der Islam-Charta Zusammenfassend erscheint die Charta auf den ersten Blick als eine eigentümliche Zusammenstellung von allgemein gehaltenen theologischen Bekenntnissen und wohlformulierten politischen Aussagen. Nur wenn es um die Darstellung der eigenen Position geht, sind klarere Ausführungen zu finden. Ein Bekenntnis zu „Öffnung, Dialog, Aufklärung und Transparenz“ ist sicherlich als integrationsfördernd zu bewerten. Für eine größere „Vertrauensbasis“ wäre es hingegen förderlicher, wenn die eigenen Denkvorstellungen noch deutlicher offengelegt und formuliert würden. Das gilt vornehmlich bei den als kritisch oder schwierig zu bewertenden Punkten. Zumeist mangelt es gerade hier an einer Auseinandersetzung mit vorprogrammierten bzw. bekannten Gegenpositionen der Mehrheitsgesellschaft. Nur so ließen sich die z. T. verhärteten Fronten tatsächlich aufweichen und Bewegung in den Diskurs bringen. Im Einzelnen wirken die einzelnen Passagen bisweilen eklektisch: mal bauen sie aufeinander auf und ergänzen sich, klingen aber vereinzelt dennoch widersprüchlich (wenngleich das eigentlich dem Koran entspricht, s. o.); gelegentlich stehen sie einfach nur beziehungslos nebeneinander. Aktuell virulente bzw. kontroverse Fragen wie z. B. im Zusammenhang mit der Schule (v.a. Sport- und Sexualkundeunterricht) werden nicht angesprochen. Oft werden spannungsgeladene Bereiche, also wenn Reibeflächen mit schariarechtlichen Ge- oder Verboten oder mit den Lehren des Korans bzw. traditionell islamischer Sichtweisen drohen, nicht als solche erläutert. Sie bleiben meist schlichtweg ausgeklammert, so dass kaum echte Konsensmöglichkeiten aufgezeigt werden. Die unklaren und schwammigen Erklärungen und Formulierungen fordern nicht bloß ständig zu vielfältigen Interpretationen heraus, sondern verleiten überdies auch zu Mutmaßungen, warum nicht an neuralgischen Stellen eindeutiger formuliert wurde. Auffallend sind zudem stilistische Ungereimtheiten: der sprachliche Stil bzw. Ausdruck ist an mehreren Stellen recht holprig oder klingt zumindest schief; manchmal leidet selbst der Gehalt bzw. Inhalt darunter. Der Text ist daher handwerklich noch nicht voll ausgereift.134 Das liegt wohl daran, dass ein Spagat zwischen der islamischen und der christlich-abendländischen Begriffs- und Verständniswelt versucht wird. Dieser ist dann aber entweder dogmatisch kaum möglich oder wird einfach nicht fachgerecht bewerkstelligt. Folge dessen sind mehr oder minder un- / bewusste Missverständnisse. Im Übrigen muss die Charta selbst für Moslems an einigen Stellen merkwürdig klingen. Denn der Text korreliert nicht so ohne weiteres mit dem ansonsten ge134   Manchmal ist im Text nicht ganz klar, warum zwischen „Wir“ und „Die Muslime“ hin und her gewechselt wird. Dann steht die Überschrift mal für sich, und mal wird gleichsam von ihr in die jeweilige These über- oder eingeleitet. So werden typisch christliche Terminologien verwendet wie z. B. „Immanenz, Transzendenz“ in These 2. So klingt auch These 6: „Erlangung von Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit“ sehr nach der Französischen Menschenrechtserklärung. Hinzukommen Begriffsverwechslungen bzw. Ungenauigkeiten wie (Gott hat sich) „offenbart“ statt „geoffenbart“ (so nämlich im Christentum); wie auch „Muslime ehren“ und nicht „verehren“ im Sinne von „anbeten“ und „vergötzen“. Z.B. fehlt auch der im Koran und islamischen Alltag vorgegebene Brauch, bei der Erwähnung des Namens des Propheten den Segenswunsch für ihn zu sprechen, zum Ganzen näher Denffer (Fn.  110), ebd.

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wöhnlichen islamischen Selbstverständnis. Daher gibt es inzwischen auch Anzeichen dafür, dass Muslime die Charta gelinde ausgedrückt für sehr „verwestlicht“ halten und drastischer formuliert für „anbiedernd“ bzw. „latent opportunistisch“: Einige sehen in ihr sogar eine „populistische Propaganda“.135 Diese Kritiker vermissen in ihr die zentralen Botschaften des Islams, die eben nicht sofort ins Auge springe oder nicht in ihrer Deutlichkeit artikuliert worden sei – allen voran das Glaubensbekenntnis. Letzteres zu vermitteln wird aber gemeinhin als die eigentliche Aufgabe aller Muslime aufgefasst. Dem ZMD wird hier vorgeworfen, mit der Charta lediglich der hiesigen Gesellschaft gefallen zu wollen, ohne hinreichend die eigene Anhängerschaft zu berücksichtigen. Folglich könne diese sich kaum mit dem Dokument identifizieren. Letztlich kommt die Kritik aber aus verschiedenen Lagern, denen eines gemeinsam ist: nämlich die Undeutlichkeit der Aussagen an vielen, vor allem brisanten Punkten. Hier verlangen säkulare Kreise eine deutlichere Absage an theologischen Verwässerungen und fordern einen stärkeren Bezug zu fundamentalen Verfas­sungs­ prinzipien. Demgegenüber sehen islamische Vertreter darin eine Überdehnung oder -schreitung islamischer Kernprinzipien bzw. Glaubensinhalte. Sie wiederum sehen an mehreren Stellen einen klaren Bruch oder Widerspruch zu den Lehren des Korans und lehnen die Maßgeblichkeit der Charta ab. Daneben gibt es aber auch vermittelnde Stimmen die auf die Flexibilität im islamischen Recht und vielfältigen Interpretationen hinweisen und einen weiteren Dialog fordern.136 Der Kritik muss weitestgehend zugestimmt werden: Denn die Charta klammert Themen aus, die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit besonderes Interesse wecken wie beispielsweise das (Angst-)Thema rund um den „Dschihad“: Es wird an keiner Stelle explizit aufgenommen. Es fehlt an deutlicheren Absagen an Gewalt, Terrorismus und Kampf gegen die christlich-abendländische (westliche) Mehrheitsgesellschaft. Erst dann lässt sich nämlich das vorhandene Misstrauen gegen Muslime weiter abbauen und die Vertrauensbasis womöglich festigen.137 Abseits dessen wäre noch zu klären, welchen Stellenwert und Rückhalt der ZMD tatsächlich in der muslimischen Gesellschaft einnimmt, d. h. wie sein Verhältnis zu den weit größeren islamischen Organisationen bzw. Dachverbänden zu bewerten ist. Dazu wären Stellungnahmen auch von diesen (und weiteren) Organisationen einzufordern bzw. anzuregen. Des Weiteren fehlen in der Charta Ausführungen zur konkreten Beziehung zu den christlichen Kirchen, denen nach wie vor die absolute Mehrheit aller Deutschen angehört. Überhaupt scheint das Verhältnis zwischen der nichtmuslimischen Mehr­ heits­gesellschaft und der muslimischen Minderheit noch weitgehend ungeklärt zu sein. Letztlich müssen diese zentralen Punkte noch eingebaut und die ungeklärten Passagen wie auch Ungereimtheiten innerhalb des Textes bereinigt werden, die bis135   Vgl. neben den Anmerkungen von v. Denffer, a. a. O., z. B. den recht aussagekräftigen „Appell an die Muslime – Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen – Stellungnahme zur Islamischen Charta des ZMD“, v. 10.6.2002, abruf bar unter: www.islamheute.ch / Charta.htm. 136   So z. B. Bielefeldt (Fn.  56), passim. 137   So steht bereits im Koran 5,32: „Wer einen Menschen tötet, für den soll es sein, als habe er die ganze Menschheit getötet. Und wer einen Menschen rettet, für den soll es sein, als habe er die ganze Welt gerettet.“

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weilen schon bei flüchtiger Betrachtung ins Auge fallen.138 Insoweit kann eine Art „Zusatzerklärung“ nicht genügen. Im Übrigen ist es hier wohl treffender von einer „Charta von Muslimen aus und in Deutschland“ zu sprechen. Zudem müsste diese Debatte auf eine umfassendere Plattform gebracht werden, um auch die unzähligen nichtorganisierten Muslime einzubeziehen. Abschließend kann – als Fazit – leider nur konstatiert werden, dass dem ZMD mit seiner „Islamischen Charta“ nicht gelungen ist, eine deutliche Klärung des Verhältnisses der hier lebenden Muslime zur Mehrheitsgesellschaft herbeigeführt zu haben. Nach wie vor sind zentrale Fragen entweder gar nicht angesprochen oder verstecken sich hinter verklausulierten bzw. mehrdeutigen Formulierungen. Somit besteht hier noch viel Erklärungsbedarf. Das gilt gerade vor dem Hintergrund, dass die Vereinbarkeit der Scharia mit einem weltlichen Menschenrechtsregime letztlich von ihrer konkreten Anwendung und Auslegung abhängt. Hier muss der ZMD sein Verständnis des Korans bzw. der Scharia noch eindeutiger „offenbaren“. Erst dann kann auch die Vereinbarkeit mit der hiesigen Rechts- und Verfassungsordnung genauer diskutiert werden. Nichtsdestotrotz kann das Dokument aber immerhin als erstes Dialogangebot verstanden werden, so dass zumindest eine „Basis des Dialogs“ zur Verfügung steht. Diese ist jedoch noch weiter auszubauen und vor allem zu konkretisieren. Trotz aller hier geäußerten Vorbehalte kann sich der ZMD daher wenigstens zugutehalten, dass er zumindest versucht, die dringend notwendige Diskussion sowohl innerhalb der Muslime als auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen hierzulande neu zu beleben. Insoweit verspricht die Charta mehr „diskursive Offenheit als sie hiesige Vereine und Dachverbände bislang an den Tag leg(t)en“.139 Um diesen Diskurs noch weiter zu öffnen wäre der Text zusätzlich in die wichtigsten muslimischen Sprachen zu übersetzen. Dann könnte der Dialog erweitert und (weitere) anerkannte Autoritäten in der islamischen Welt womöglich einbezogen werden. Auch mit Blick auf die europäischen Zusammenhänge könnte hier auf die sog. „Grazer Erklärung“ angeknüpft werden, die eine weitaus gelungenere „Standortbestimmung des Islams in Österreich“ seitens der „Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (kurz: ­IGGiÖ) darstellt und auf Grund von zahlreichen Diskussionen und Beratungen von „Leitern islamischer Zentren und Imame in Europa“ im Juni 2003 verabschiedet wurde; weiterführend ist auch die „Verfassung“ des IGGiÖ.140

Ausblick Wie eingangs erwähnt, sollte deutlicher in diesem komplizierten Bezugsverhältnis zwischen „Islam und Menschenrechten“ die „verrechtlichte Seite“ des Islams betont werden. Dann ließe sich noch gezielter die Frage eines – wie auch immer auszugestaltenden – „schriftlich verfassten Islams“ beantworten. Diese Vorgehensweise verspricht etwas differenzierter zu veranschaulichen, ob und wie der Islam in einem  Ähnlich Kandel (Fn.  123), ebd.; noch drastischer die Einschätzung bei Brunner (Fn.  123), ebd.   So ausdrücklich Leggewie (Fn.  130), ebd. 140   Die Texte sind abruf bar unter: www.derislam.at. 138 139

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S˛ükrü Uslucan

säkularen Staat sich quasi verfassungsrechtlich bändigen, in eine säkulare Verfassung einbetten ließe. Hierzu bietet sich das Konzept des „Gemeinislamischen Verfassungsrechtes“ von Mikunda-Franco an, welches in Anlehnung an Peter Häberles „Gemein­ europäischem Verfassungsrecht“ bereits in groben Umrissen herausgearbeitet wurde und als wichtige Grundlage für die im Anschluss zu klärende Frage dienen könnte, welche islamischen Rechts- und Denkstrukturen (im Einzelnen) mit dem Europäischen (im Allgemeinen) in Einklang gebracht werden müssen respektive könn­ten.141 Seine Idee stellt jedenfalls gegenüber dem geläufigen „Euro-Islam“-Konzept, dessen Unschärfe wie Tauglichkeit hinlänglich bekannt ist, einen weitaus gelungeneren Versuch dar, aus der bekannten Heterogenität des Islams in den verschiedenen islamischen Staaten (und auch der europäischen Staatskirchenmodelle!), dennoch einige gemeinsame (Verfassungs-)Prinzipien zu deduzieren. Diese könnten dann im Rahmen der Weiterentwicklung operationalisierbar gemacht werden. Sie könnten dazu beitragen, passendere Antworten auf die Frage nach dem konkreten Umgang mit dem Islam in Europa zu finden – zumindest in juristischer Hinsicht. Die Vorstellung eines schriftlich „verfassten Islams“ sollte daher die Gemeinsamkeiten zwischen dem Gemeinislamischen und Gemeineuropäischen Verfassungsrecht noch deutlicher herausstellen. Insoweit ist es von großem Nutzen, dass zahlreiche islamische Staaten bereits viele Anleihen aus dem europäischen bzw. westlichen Rechtssystem in ihrer Rechtsordnung besitzen. Somit scheint – vorerst natürlich nur theoretisch – zumin­ dest eine taugliche Brücke vorhanden zu sein. Weitere Elemente müssten auf ihre Verträglichkeit und Anpassungsfähigkeit hin überprüft und ausführlicher diskutiert werden. Hier ist von weiterem Vorteil, dass die Anpassungswilligkeit und -fähigkeit bei europäischen Muslimen grundsätzlich höher zu sein scheint. Und gegenüber Letzteren muss die weitere Maxime lauten: „Anerkennung schafft Identifikation, die wiederum verstärkt die Integration.“ Bekanntlich gilt das für den Menschen im Allgemeinen, aber für Minderheiten bzw. Migranten im Besonderen. Schlussendlich ist alles in allem noch einmal zu betonen, dass zu einem gleichberechtigten Dialog auf gleicher Augenhöhe zwingend die Hinterfragung der eigenen Position gehört – und zwar auf beiden Seiten! In Anlehnung an eine Formulierung des Philosophen Gadamer sollte daher der Leitgedanke sein: „In den Dialog treten heißt, einzugestehen, dass auch der Andere mal Recht haben könnte!“

141   Mikunda-Franco (Fn.  66). Ders., Der Verfassungsstaat in der islamischen Welt, in: Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, Erträge des wissenschaftlichen Kolloquiums zu Ehren von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle aus Anlass seines 65. Geburtstages, Baden-Baden 2001, S.  151 ff. Ders., Gemeinislamisches Verfassungsrecht: eine Untersuchung der Verfassungstexte islamischer Staaten in rechtsphilosophisch vergleichender Perspektive, JöR 51 (2003), S.  21 ff. Aus der Vielzahl der Schriften Häberles sei an dieser Stelle exemplarisch nur auf „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“, in: EuGRZ 1991, S.  261 ff. sowie auf die erweiterte und überarbeitete „Europäische Verfassungslehre“, nunmehr schon in der 7. Auflage (2011), hingewiesen.

Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren von

Prof. Dr. Matthias Rossi, Universität Augsburg Einleitung Vor Gericht hat jedermann das Recht, gehört zu werden. Dieser Anspruch auf „rechtliches Gehör“ ist in Art.  103 Abs.  1 GG als grundrechtsgleiches Recht ausgestaltet, so dass eine Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden kann. Auch vor Maßnahmen der Verwaltung muss grundsätzlich eine Anhörung durchgeführt werden. Dieses Recht auf „administratives Gehör“ ist für die meisten Fälle einfachgesetzlich normiert,1 darüber hinaus aber auch verfassungsrechtlich fundiert. Es wird z. T. aus einer analogen Anwendung des Art.  103 GG,2 z. T. aus einem weiten Verständnis des Art.  19 Abs.  4 GG,3 mitunter aus der Menschenwürde,4 überwiegend aber aus dem Rechtsstaatsprinzip5 bzw. den jeweils betroffenen Grundrechten abgeleitet.6 Gegenüber Maßnahmen des Gesetzgebers besteht ein solches Recht dagegen nicht. Der naheliegende Grund für das Fehlen eines solchen Rechts – man mag es als Recht auf „legislatives Gehör“ bezeichnen – liegt darin, dass formelle Gesetze regelmäßig abstrakter und genereller Natur sind und deshalb grundsätzlich alle Personen gleichermaßen betreffen.7 Sie müssen schon deshalb nicht individuell am Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden, weil sie in diesem Verfahren vom Parlament repräsentiert werden, ihre Interessen also von den Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“ wahrgenommen werden.   Vgl. bspw. §  28 Abs.  1 VwVfG; §  91 AO, §  24 SGB X.   Rudolf Wassermann, AK-GG, Art.  103, Rn.  23. 3   Carl Hermann Ule, Zur Bedeutung des Rechtsstaatsbegriffs in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, DVBl. 1963, S.  475 (477 f.). 4   Friedhelm Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 1986, S.  127 f.; Ferdinand Otto Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, 1971, S.  30 ff. 5   Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz Kommentar, 64. EL 2012, Art.  103 Rn.  6. 6   Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S.  374. 7   Christoph Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S.  291 (296). 1 2

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Doch diese theoretische Betrachtung geht in vielen Fällen an der Wirklichkeit vorbei. Rekurriert man weniger auf die rechtlichen als vielmehr auf die tatsächlichen Auswirkungen von Gesetzen, ist nicht zu bestreiten, dass viele, vielleicht gar die meisten Gesetze einzelne Personen oder Personengruppen stärker betreffen als andere: Das Hochschulrecht, das Jagdrecht, das Treibhausgasemissionshandelsrecht seien als einige willkürlich gewählte Beispiele für Gesetze genannt, die wegen ihres Inhalts unmittelbar nicht für jeden, sondern nur für einen bestimmten, relativ eng umgrenzten Personenkreis von Bedeutung sind. Eine solche spezifische Betroffenheit dürfte in der Gesetzgebungspraxis sogar die Regel sein. Dennoch sieht das formelle Gesetzgebungsverfahren keine Beteiligung, kein legislatives Gehör solcher Personen vor, deren Interessen von dem jeweiligen Gesetz in besonderer Weise berührt werden. Diese Beobachtung ist nicht neu.8 Allerdings gab es in jüngerer Zeit verschiedene Impulse, die von einem Gesetz besonders betroffenen Personen auch in besonderer Weise in das Gesetzgebungsverfahren einzubinden. Im Vorfeld und in Vorbereitung eines „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ formulierte die Europäische Kommission im Jahre 2001 in ihrem Weißbuch „Europäisches Regieren“9 zahlreiche Maßnahmen mit dem Ziel, die Akzeptanz der Europäischen Politik und des Europäischen Rechts durch die Bürger zu stärken. Dabei wurde unter der Maxime „Bessere Einbindung aller Akteure und größere Offenheit“ eine „effektivere und transparentere Konsultation als Herzstück der EU-Politikgestaltung“ bezeichnet.10 Auch der sog. Mandelkern-Bericht aus demselben Jahr schlug unter dem Titel „Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Auf dem Weg zu besseren Gesetzen“11 ein grundsätzliches Konsultationsverfahren beim Erlass von Rechtsakten vor. Er versprach sich von dieser Art der Einbeziehung der betroffenen Parteien einen „inhaltlichen und demokratischen Mehrwert“.12 Weiterhin wurden auch im Rahmen des Programms der Bundesregierung „Moderner Staat – moderne Verwaltung“ unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten von Betroffenen am Rechtsetzungsverfahren erörtert, überwiegend unter Rückgriff auf entsprechende Vorarbeiten in den Sozialwissenschaften und in der Rechtswissenschaft. Als Stichworte aus diesen Überlegungen seien nur die kooperative Rechtserzeugung,13 die Koregulierung14 oder auch das paktierte Gesetz15 genannt. Alle diese Entwicklungen wurden von dem Gutachten „Gute Gesetzgebung“ aufgenommen, das Gunnar Folke Schuppert im Jahre 2002 im Auftrag des   Zu dem Befund und möglichen Konsequenzen vgl. bspw. Thomas Roser, Anhörung von Betroffenen im Gesetzgebungsverfahren – Können wir von ausländischen Erfahrungen lernen?, ZParl 15 (1984), S.  534 (536 ff.); Raimund Wimmer, Die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, DVBl. 1985, S.  773 (775); Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988, S.  510 f. 9   KOM (2001) 428. 10   KOM (2001) 428, S.  20. 11  Die Expertengruppe unter dem Vorsitz von Dieudonné Mandelkern war von den europäischen Ministern für die öffentliche Verwaltung einberufen worden, um Empfehlungen zur Umsetzung des Lissabon-Prozesses vorzubereiten. 12   Dieudonné Mandelkern, Moderner Staat – Moderne Verwaltung, 2002, S.  38. 13   Gunnar Folke Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG, Sonderheft 2003, S.  75 f. 14   KOM (2001) 428, S.  13, 40. 15   Vgl. hierzu auch Peter M. Huber, Konsensvereinbarungen und Gesetzgebung, ZG 2002, S.  245 ff. 8

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Bundesministeriums der Justiz erstellt hat.16 Schließlich hat sich auch der Deutsche Juristentag im September 2004 im Rahmen des Themas „Wege zu besserer Gesetzgebung“ mit der Frage befasst, ob Anhörungen im Rechtsetzungsverfahren intensiviert und verrechtlicht werden sollten.17 Und das aktuelle Thema des 69. Deutschen Juristentags aus dem Jahre 2012 weist mit „Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie“ in eine ähnliche Richtung, wenngleich hier wohl eher eine gegenständlich definierte, weniger eine formal begründete Bürgerbeteiligung betrachtet werden soll, so dass im Fokus in erster Linie Verwaltungsverfahren und nur am Rande auch Gesetzgebungsverfahren stehen werden. Während diese Impulse überwiegend rechtspolitischer Natur sind, ist mit dem Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des „Lissabon-Vertrages“ (EUV) ein rechtlicher Grundstein für eine Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren gelegt worden. Im Titel II „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ unterscheidet der Vertrag zwischen dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie (Art.  10) und dem Grundsatz der partizipativen Demokratie (Art.  11), wenn diese im Vergleich zum gescheiterten Verfassungsvertrag auch nicht ausdrücklich so benannt wird. Zur partizipativen Demokratie gehört dabei nicht nur die Verpflichtung der Organe der Union, „einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“ zu pflegen (Abs.  2 ). Vielmehr führt die Europäische Kommission nach Art.  11 Abs.  3 EUV „umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durch, um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten.“ Zwar ist dieses primärrechtliche Anhörungsrecht unabhängig davon, dass es der Konkretisierung ebenso fähig wie bedürftig ist, für die Beteiligung von Betroffenen im nationalen Gesetzgebungsverfahren rechtlich ohne Bedeutung, denn es verpflichtet nur die Europäische Kommission und somit noch nicht einmal die (anderen) Legislativorgane der Europäischen Union.18 Gleichwohl spiegelt Art.  11 Abs.  3 EUV in normativer Form eine Entwicklung wider, die auch für die nationale Rechtsetzung die Fragen aufwirft, ob die Beteiligung von Betroffenen am Gesetzgebungsverfahren als Maxime guter Gesetzgebung begriffen werden kann (I) und ob ein derartiges legislatives Gehör rechtlich normiert werden sollte (II).19

  Gunnar Folke Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG, Sonderheft 2003.   S.  i nsb. Peter Blum, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgeabschätzung und Wirkungskontrolle, Gutachten I zum 65. DJT, 2004, S.  I 121 u. passim. 18  Vgl. Matthias Rossi, Interparlamentarische Demokratie? – Zur Einbindung der nationalen Parlamente in die Rechtsetzung der Europäischen Union, in: Michael Kloepfer (Hrsg.)., Gesetzgebung als wissenschaftliche Herausforderung, Gedächtnisschrift für Thilo Brandner 2011, S.  47 (49). 19   Bezugsgegenstand der nachfolgenden Überlegungen ist in erster Linie das innerstaatliche parlamentarische Gesetzgebungsverfahren auf Bundes- wie auf Landesebene. Die Rechtsetzung in der Europäischen Union wird dagegen nur am Rande tangiert, die Rechtsetzung in Internationalen Organisationen bleibt außer Betracht. 16 17

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I.  Legislatives Gehör als Maxime guter Gesetzgebung Denn in der Tat kann eine Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren durchaus als Maxime guter Gesetzgebung begriffen werden, wenn man sie weniger als Ausdruck von Lobbyismus denn als Zeichen von Partizipation begreift (1.) und ihre Funktionen stärker betont (2.) als ihre Risiken (3.).

1.  Lobbyismus oder Partizipation? In Deutschland firmiert die Einbringung privater Interessen in das formelle Gesetzgebungsverfahren vor allem unter dem eher negativ konnotierten Begriff des Lobbyismus,20 der sich jedenfalls nicht ohne weiteres als Maxime guter Gesetzgebung verstehen lässt. In dem Begriff schwingt etwas Klandestines, etwas Anrüchiges, ja zuweilen etwas Verbotenes mit. Und auch der zunächst positiv, jedenfalls aber neutral verwendete Begriff der „Beratung“ steht nach den zumindest in ihrem Ausmaße umstrittenen Dienstleistungen, die insbesondere die Bundesregierung von Unternehmensberatern und Rechtsanwälten in Anspruch genommen hat,21 wenn vielleicht auch zu Unrecht als Synonym für eine illegitime Beeinflussung politischer Entscheidungen.22 Warum der in anderen Ländern durchaus positiv verwendete Begriff des Lobbyismus in Deutschland immer noch so viel pejorative Assoziationen weckt, liegt womöglich an der traditionellen deutschen Staatszentriertheit, an der Vorstellung, der Staat allein sei Garant des Gemeinwohls.23 Die Pluralismustheorien haben dagegen die Sicherung und Gewährleistung des Gemeinwohls von jeher dem Wechselspiel der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen überlassen.24 Unabhängig von solchen politikwissenschaftlichen Überlegungen ist jedenfalls zu beobachten, dass der Anstoß zu einer verstärkten Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren mit einer weitreichenden Privatisierung und Liberalisierung von Staatsaufgaben sowie einer Aktivierung der Bürgergesellschaft einhergeht und dass alle diese Entwicklungen ihren Ursprung in der Europäischen Union haben.25 20   Frank Daumann, Interessenverbände im politischen Prozess. Eine Analyse auf Grundlage der Neuen Politischen Ökonomie, 1999, S.  10. 21   Nachzulesen etwa in der Zeit v. 5.  2 . 2004, S.  9 ff.; s. auch Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneter, BT-Drs. 15 / 2458; wissenschaftlich auf bereitet in den verschiedenen Beiträgen in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, passim. 22   Vgl. die einzelnen Beiträge in Svenja Falk et al. (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, 23  Vgl. Ulrich von Alemann, Lobbyismus heute, Neue Herausforderungen durch Globalisierung, Europäisierung und Berlinisierung, 2000, S.  2 . 24  Grundlegend Ernst Frankel, Reformismus und Pluralismus, 1973, passim. Zur Adaption auf die Gegenwart vgl. Oliver Mross, Bürgerbeteiligung am Rechtsetzungsprozess in der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Stärkung der demokratischen Legitimation?, 2010, S.  239; zu den Strukturschwächen des Pluralismus schon Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988, S.  393 ff. 25  Ähnlich Martin Nettesheim, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 46. EL 2011, Art.  11 EUV Rn. 6.

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Möglicherweise ist in Bezug auf den Lobbyismus tatsächlich ein Bewertungswandel angezeigt. Zwar werden die Grenzen zwischen legitimer Wahrnehmung und Durchsetzung eigener Interessen auf der einen Seite und illegitimer Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsprozess auf der anderen Seite immer changierend bleiben. Doch die neuen politischen Ansätze weisen in gewissem Maße auf positive Aspekte der Einbeziehung von privaten Akteuren in den Gesetzgebungsprozess hin. Zu einseitig wird bislang der Lobbyismus in Deutschland allein aus der Perspektive des einflussnehmenden Privaten beäugt,26 zu wenig wird berücksichtigt, welche Vorteile sich aus einer Betroffenenbeteiligung für den Prozess der Gesetzgebung, damit zugleich für den Inhalt des Gesetzes und somit letztlich für das Gemeinwohl ergeben können.

2.  Funktionen einer Betroffenenbeteiligung Von den zahlreichen Funktionen, die einer Betroffenenbeteiligung (je nach wissenschaftlicher Perspektive) zugeschrieben werden können,27 sollen hier nur die folgenden hervorgehoben werden:

a)  Wechselseitige Informationsfunktion Einer Betroffenenbeteiligung kommt vor allem eine wechselseitige Informationsfunktion zu.28 Auf der einen Seite kann die Anhörung von Betroffenen den Gesetzgeber über den zu regelnden Gegenstand und die davon berührten Interessen näher informieren. Diese Informationen sind unerlässlich für die Beantwortung der Fragen, ob überhaupt ein Regelungsbedarf besteht, welche Rechtsgüter möglicherweise betroffen sind, welche Konfliktlagen und Überschneidungsbereiche zu berücksichtigen sind, ob und welche Regelungsalternativen zur Verfügung stehen und welche Folgen sich aus dem Gesetz ergeben würden – Fragen, zu denen die Begründung eines Gesetzentwurfs nach §  43 GGO explizit Stellung nehmen soll, Fragen auch, die der Gesetzgeber beantworten muss, um seinen umfassenden Auf klärungspflichten nachzukommen.29 Zwar verfügen die Gesetzgebungsorgane, verfügt insbesondere die Ministerialverwaltung regelmäßig über entsprechende Kenntnisse, doch kann das Informationsspektrum durch die Anhörung der Betroffenen erweitert und eine 26   Vgl. hierzu z. B. Thomas Hoeren, Was Däubler-Gmelin und Hunzinger gemeinsam haben – Die zehn Verfahrensgebote der Informationsgerechtigkeit, NJW 2002, S.  3303. 27  Auführlich Claus Leitzke, Die Anhörung beteiligter Kreise nach §§  51 BlmSchG, 60 KrW- / AbfG, 17 Abs.  7 ChemG, 6 WRMG, 20 BBodSchG. Funktionen, Merkmale, Verbesserungsmöglichkeiten, 1999, S.  41 ff. 28   Florian Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S.  113. 29   Deutlich BVerfGE 50, 50 (51): „Das Verfassungsgericht hat insbesondere nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber den für seine Maßnahmen erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und dem Gesetz zugrunde gelegt hat, ob er alle Gemeinwohlgründe sowie die Vorteile und Nachteile der gesetzlichen Regelung umfassend und in nachvollziehbarer Weise abgewogen hat und ob der gesetzgeberische Eingriff geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist und die Gebote der Sachgerechtigkeit und Systemgerechtigkeit beachtet.“

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Ausgewogenheit der Informationsgrundlage sichergestellt werden.30 Von besonderer Bedeutung ist die zusätzliche Informationsbasis vor allem, wenn die Gesetzgebungsorgane selbst nicht über den notwendigen Sachverstand hinsichtlich der zu regelnden Materie verfügen. In solchen Fällen wird eine vernünftige Normsetzung ohne das Fachwissen der Betroffenen gar nicht möglich sein.31 So erscheint es etwa durchaus angezeigt, bei einer Neuordnung des Chemikalienrechts den Verband der Chemischen Industrie um eine Stellungnahme zu bitten und diese Stellungnahme im weiteren Rechtsetzungsverfahren auch zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite erhalten auch die angehörten Betroffenen nähere Informationen über die Pläne des Gesetzgebers. Sie können sich frühzeitig auf neue rechtliche Regelungen einstellen und entsprechend disponieren, müssen dies angesichts der Vorwirkungen von Gesetzen gegebenenfalls sogar.32 Während also im Vordergrund des Informationsflusses von den Betroffenen an die Gesetzgebungsorgane tatsächliche Informationen stehen, betrifft die Informationsvermittlung von den gesetzgebenden Organen an die Betroffenen in erster Linie rechtliche Informationen.

b) Qualitätssicherung Die breitere und tiefere Informationsgrundlage der Gesetzgebungsorgane kann grundsätzlich die inhaltliche Qualität der Gesetze verbessern. Denn wenn die Verfassung das Parlament bzw. seine Mitglieder auch durch die Unmittelbarkeit der Wahl und die anderen Wahlrechtsgrundsätze in besonderer Weise legitimiert, stellt sie an deren Qualifikation doch keine Anforderungen.33 Erst eine umfassende Informationsbasis bietet deshalb die Gewähr für die sachliche Richtigkeit von Gesetzen.34 Das bedeutet nicht, dass die unzureichende Berücksichtigung relevanter Informationen – ähnlich wie bei der Ausübung von Ermessen oder planerischer Abwägung durch die Exekutive – zu einer sachlich unrichtigen oder gar rechtswidrigen Entscheidung des Gesetzgebers führen muss. Dem Gesetzgeber ist vielmehr eine legislative Einschätzungsprärogative zuzuerkennen, die es ihm insbesondere unter Zeitdruck auch erlaubt, auf ungesicherter tatsächlicher Grundlage zu entscheiden.35 Er hat seine Entscheidungen insofern nicht auf vollkommener, sondern auf optimaler Informationsgrundlage zu treffen.36 Dabei ist allerdings in der Regel erstens davon auszugehen, dass eine optimale Informationsgrundlage nur durch die Einbeziehung 30   Christoph Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S.  291 (292); zum „parzellierenden Wissen“ der Gesetzgebungsorgane Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S.  50 ff. 31   Axel Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S.  125 mit Hinweis auf weitere Erkenntnisquellen. 32   Hierzu grundlegend Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, passim. 33   Christoph Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S.  291 (297). 34   Alexander Ruch, Sachkunde und Entscheidungskompetenz in der Rechtsetzung, in: Kurt Eichenberger u. a. (Hrsg.): Grundfragen der Rechtsetzung, Basel 1978, S.  205 (208); Helmuth Schulze-Fielitz, Wege, Umwege oder Holzwege zur besseren Gesetzgebung durch sachverständige Beratung, Begründung, Folgeabschätzung und Wirkungskontrolle?, JZ 2004, S.  862 (868). 35   Ausführlich hierzu Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S.  954 m. w. N. 36   Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S.  955.

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der von dem Gesetz in besonderer Weise betroffenen Personen erlangt werden kann. Und zweitens kann grundsätzlich auch angenommen werden, dass die Berücksichtigung dieser Informationen grundsätzlich die sachliche Richtigkeit des Gesetzes verbessert.37

c) Akzeptanzsicherung Neben der Qualität der Normen kann die Beteiligung von Betroffenen im Gesetzgebungsverfahren auch die Akzeptanz der erlassenen Regeln verbessern.38 Dies ist ausweislich des Weißbuchs der Kommission und auch des Mandelkern-Berichts sogar die Hauptfunktion der Betroffenenbeteiligung. Sie gehen davon aus, dass Normen von ihren Adressaten eher befolgt werden, wenn sie an deren Erlass beteiligt waren. Besonders akzeptanzsteigernd wirke es dabei, wenn die Betroffenen nicht nur angehört, sondern ihre Anstöße auch in dem jeweiligen Gesetz berücksichtigt wurden.39 In solchen Fällen wird die Akzeptanzfunktion unterstützt durch eine Identifizierung der privaten Akteure mit dem Gesetzgeber. Sie erscheinen (sich selbst) nicht mehr nur als obrigkeitsstaatsunterworfene Bürger, sondern als aktive Gestalter ihrer eigenen Belange und zugleich der des Gemeinwohls.

d) Vollzugssicherung Geht man weiter davon aus, dass alle von einer Norm in besonderer Weise Betroffenen auch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens beteiligt wurden, sie also die Gelegenheit hatten, ihre Interessen zu äußern, geht man weiterhin davon aus, dass der Gesetzgeber die dieserart artikulierten Interessen im weiteren Gesetzgebungsverfahren auch berücksichtigt hat, dann folgt aus der (vermuteten) Akzeptanz der dieserart entstanden Norm auch eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Beachtung. Insofern dient die Betroffenenbeteiligung möglicherweise auch der Vollzugssicherung40. Denn die Gesetze werden in diesen Fällen nicht nur wegen des ihnen eigenen, auf die parlamentarische Legitimation zurückgehenden (formalen) Rechtsan37   Christian von Hammerstein, Verbesserung der Gesetzgebung durch neue Instrumente und Methoden, in: Hermann Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 56. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1988 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1989, S.  141 (142 f.); in diesem Sinne auch Julian Krüper, Lawfirm – legibus solutus? Legitimität und Rationalität des inneren Gesetzgebungsverfahrens und das „Outsourcing“ von Gesetzentwürfen, JZ 2010, S.  655 (660). 38   Fritz Ossenbühl, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd.  3, 1.  Aufl. 1988, §  63 Rn.  11. 39   Dieudonné Mandelkern, Moderner Staat – Moderne Verwaltung, 2002, S.  37; KOM (2001) 428, S.  13 f. 40   Hans-Joachim Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, Ein Beitrag zur Empirie und Theorie des Gesetzgebungsprozesses im föderalen Verfassungsstaat, 1997, S.  282; Jürgen Rödig, Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik sowie der traditionellen Methodenlehre, in: ders. / Eberhard Baden / Harald Kindermann (Hrsg.), Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S.  27 (29).

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wendungsbefehls beachtet, sondern auch wegen der (inhaltlichen) Akzeptanz der Norm.41

3.  Risiken einer Betroffenenbeteiligung Mögen die skizzierten Funktionen und (erhofften) Wirkungen die Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren auch als Maxime guter Gesetzgebung erscheinen lassen, so sehr sind doch auch die Risiken, die Nebenwirkungen,42 hervorzuheben, die von ihr ausgehen können.

a)  Einflussmöglichkeiten von Partikularinteressen Zum einen gehen mit der Beteiligung, selbst wenn sie nur als Anhörung ausgestaltet ist, erhebliche Einflussmöglichkeiten von Partikularinteressen einher. Denn die Betroffenen werden einseitig ihre Interessen darstellen, so dass nicht zwingend gewährleistet ist, dass etwaige widerstreitende Interessen ebenfalls in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden.43 Doch muss dies einer Einbindung von Betroffenen in das Gesetzgebungsverfahren nicht entgegenstehen. Denn ungeachtet der zahlreichen theoretischen und praktischen Untersuchungen zu der Frage, die im Zusammenhang mit dem Übergang von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung des Staates immer wieder neu gestellt wurde,44 zu der Frage, wie das Gemeinwohl am besten definiert und verwirklicht werden kann,45 hängt die Grenze zwischen einer mit den Grundsätzen repräsentativer Demokratie nicht vereinbaren Dominanz von Partikularinteressen und einer dem parlamentarischen Verantwortungsadressaten – das „ganze Volk“ – entsprechenden Möglichkeit der Stellungnahme doch einerseits von der abstrakten Ausgestaltung des Verfahrens der Betroffenenbeteiligung und andererseits von der Frage ab, wen das gesetzgebende Organ im konkreten Fall als Betroffenen hinzuzieht.

b) Chancengleichheit Unmittelbar im Zusammenhang mit dem Risiko einer Dominanz von Partikularinteressen steht die Gefahr, dass Gleichheitsrechte verletzt werden. Denn eine Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren steht und fällt, dies wird noch problematisiert werden, mit der Definition der besonderen Betroffenheit und der Aus  Georg Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, Zürich 2.  Aufl. 2006, Rn.  21.  Die Unterscheidung in §  44 GGO zwischen beabsichtigten Wirkungen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen unter dem Oberbegriff der Auswirkungen ist wohl das größte Eingeständnis der begrenzten Steuerungskraft von Gesetzen. 43   Thomas Hoeren, Was Däubler-Gmelin und Hunzinger gemeinsam haben – Die zehn Verfahrensgebote der Informationsgerechtigkeit, NJW 2002, S.  3303. 44  Resümierend Claudio Franzius, Der Gewährleistungsstaat, VerwArch 99 (2008), S.  351 ff. 45  Lesenswert Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006, passim. 41

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wahl der Betroffenen. Die allgemeine Willkürgrenze, die sich aus Art.  3 I GG ebenso wie aus dem Rechtsstaatsprinzip, darüber hinaus möglicherweise auch aus der Gemeinwohlorientierung des Gesetzgebers ableiten lässt,46 ist hier ebenso strikt zu beachten wie in Gefahr, missachtet zu werden. Doch auch dieses Risiko lässt sich möglicherweise durch eine Struktur und ein System der Betroffenenbeteiligung minimieren, die gewährleisten, dass alle relevanten Akteure in angemessener und gebührender Weise konsultiert werden.

c)  Charakter der repräsentativen Demokratie Vor allen Dingen aber darf ein eher theoretisches Problem nicht übersehen werden. In dem Maße, in dem die Betroffenenbeteiligung zu einer politischen Willensbildung außerhalb des Parlaments beiträgt, geht auch der repräsentative Charakter der grundgesetzlichen Demokratie verloren. Schon jetzt ist es häufig zu beobachten, dass eine Unterscheidung zwischen dem von der Regierung formulierten politischen Willen und einem vom Bundestag gefassten Gesetzesbeschluss kaum noch gemacht wird. Zwar bleibt der Gesetzesbeschluss des Bundestages conditio sine qua non für die Wirksamkeit von Recht, aber diese herausgehobene Stellung läuft ins Leere, wenn im Parlament nur die von der Regierung und den Betroffenen erarbeiteten Entwürfe ratifiziert werden. Das Parlament nimmt in solchen Fällen dann nur noch die Funktion eines Hausnotars der Regierung war. Mit der fehlenden materiellen Auseinandersetzung im Parlament geht aber nicht nur der Bedeutungsverlust dieser Institution einher, ausgeschlossen wird vielmehr auch die Öffentlichkeit mit ihrer kontrollierenden Funktion.47 Diese seit langem beobachteten Phänomene haben ihre Ursache nicht allein in der Möglichkeit der Betroffenenbeteiligung im inneren Gesetzgebungsverfahren, das sich ja vorrangig in der Entwurfsphase und damit faktisch überwiegend auf Regierungsebene abspielt, aber sie verstärken sich dadurch.48 Beide Zielsetzungen, die Betroffenenbeteiligung einerseits und die Wahrung der materiellen parlamentarischen Entscheidungsbefugnis andererseits, lassen sich allerdings in einen Einklang bringen. So könnten Betroffenenbeteiligungen grundsätzlich erst oder jedenfalls auch vor den Ausschüssen des Bundestages durchgeführt werden. Ausreichend wäre es unter Umständen aber auch schon, die im Ministerialbereich durchgeführten Betroffenenbeteiligungen öffentlich auszugestalten oder jedenfalls zu protokollieren.

46   Hans-Joachim Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, Ein Beitrag zur Empirie und Theorie des Gesetzgebungsprozesses im föderalen Verfassungsstaat, 1997, S.  282 f. 47   Vgl. hierzu Gunnar Folke Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG, Sonderheft 2003, S.  18. 48   Helge Ehler, 2000 Lobbyisten, 613 Abgeordnete, zwei Parteien und eine Regierung, Praktisch kein Gesetz ohne direkte oder indirekte Mitwirkung – Demokratische Legitimierung fehlt, VW 2006, S.  806.

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d) Vertrauensverlust Schwerer wiegt hingegen, dass jedenfalls die extensive Praxis einer Betroffenenbeteiligung zu einem Vertrauensverlust in das Recht führen kann. Diese These klingt angesichts der möglichen Akzeptanzsteigerung des mit einer Betroffenenbeteiligung gesetzten Rechts zunächst widersprüchlich. Doch erstens muss hervorgehoben werden, dass die privilegierte Betroffenenbeteiligung nur bei denjenigen zu einer gesteigerten Akzeptanz und Vollzugsbereitschaft führt, die tatsächlich am Rechtsetzungsverfahren beteiligt waren, hingegen zu einer entsprechenden Verringerung bei denjenigen, die trotz einer subjektiv empfundenen Betroffenheit außen vor geblieben sind. Und zweitens sinkt unter Umständen die Bereitschaft, solches Recht zu befolgen, daß ohne jede Beteiligung49, also im klassischen Sinne erlassen wird, weil es eben ausnahmsweise alle Bürger gleich und niemanden in besonderer Weise betrifft.

e)  Kompatibilität mit anderen Zielen guter Gesetzgebung Schließlich muss auch die Kompatibilität einer Betroffenenbeteiligung mit anderen Maximen guter Gesetzgebung hinterfragt werden. In der bis in die Antike zurückreichenden Geschichte guter Gesetzgebungslehren sind zahlreiche Maximen entwickelt worden, die sich auf den Inhalt der zu erlassenden Gesetze beziehen.50 Solche inhaltlichen Vorgaben können hier nicht näher betrachtet werden. Stattdessen soll die Vereinbarkeit der Betroffenenbeteiligung mit zwei strukturellen Anforderungen an gute Gesetzgebung thematisiert werden, mit der Forderung nach Transparenz sowie nach Verständlichkeit. Insoweit ist zunächst zu erinnern, dass die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens vor allem durch die Öffentlichkeit der Plenardebatten im Bundestag (Art.  42 Abs.  1 S.  1 GG) und im Bundesrat (Art.  52 Abs.  3 GG) gewährleistet wird. Die Ausschusssitzungen wie darüber hinaus vor allem auch das ministerielle Verfahren der Entwurfsaufstellung finden dagegen nach geltenden Rechtsvorschriften grundsätzlich nicht öffentlich statt. Wenn eine Betroffenenbeteiligung aber mehr ist bzw. sein soll als eine bloße Anhörung, wenn sie sich zu einem Instrument materieller Entscheidungsfindung herauskristallisiert oder herauskristallisieren soll, dann muss sie grundsätzlich öffentlich stattfinden, um nicht mehr zu verschleiern als zu erhellen.51 Die Ziele der Betroffenenbeteiligung einerseits und der Transparenz andererseits sind 49   Hans Joachim Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, Ein Beitrag zur Empirie und Theorie des Gesetzgebungsprozesses im föderalen Verfassungsstaat, 1997, S.  282; Jürgen Rödig, Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik sowie der traditionellen Methodenlehre, in: ders. / Eberhard Baden / Harald Kindermann (Hrsg.), Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S.  27 (29). 50   S.  k napp Erk Volkmar Heyen, Historische und philosophische Grundfragen der Gesetzgebungslehre, in: Waldemar Schreckenberger (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, 1986, S.  11 ff.; zur Gerechtigkeit als materiellem Ziel der Gesetzgebung Wolfgang Waldstein / Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 10.  Aufl. 2005, §  9 Rn.  3 ; zur Entwicklung im 19. Jahrhundert vgl. Sigrid Emmenberger, Gesetzgebungskunst, 2006, S.  29 ff. 51   Hans-Joachim Mengel, Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung, Zur Notwendigkeit einer Prozeßordnung des inneren Gesetzgebungsverfahrens, ZRP 1984, S.  153 (156).

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dabei aber wohl schon ausreichend in Einklang gebracht, wenn die Durchführung der Betroffenenbeteiligung protokolliert und publiziert wird, so dass sie rekapituliert werden kann. Was sodann die Verständlichkeit von Rechtsvorschriften betrifft, so ist diese nicht nur rechtsstaatlich gefordert,52 sondern auch zentrale Voraussetzung für eine größere Akzeptanz und bessere Befolgung von Rechtsnormen, wie der Mandelkern-Bericht hervorhebt. Er betont zugleich, dass verständliche Rechtsvorschriften auch aus der Perspektive des Rechtsschutzes geboten sind, weil weniger privilegierte und bildungsfernere Bevölkerungsschichten Schwierigkeiten hätten, ihre Rechte zu verstehen.53 Angesichts des Umstands, dass eine Ursache für unverständliche Regelungen im komplizierten Gesetzgebungsverfahren mit seinen zahlreichen Akteuren liegt, ist nicht unbedingt zu erwarten, dass eine zunehmende Betroffenenbeteiligung zu einer besseren Verständlichkeit führt. Freilich wird man hier wohl im Einzelfall differenzieren müssen und grundsätzlich die These wagen können, dass eine Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren zwar nicht die Verständlichkeit der Norm in einem absoluten Sinne verbessern wird, aber doch gerade zu einer besseren Verständlichkeit für die Normunterworfen, für die Betroffenen also, führen kann.54

4. Zwischenergebnis Um zu einer Antwort auf die erste Frage zu kommen: Die Beteiligung von Betroffenen im Gesetzgebungsverfahren lässt sich mit guten Gründen als eine Maxime guter Gesetzgebung begreifen. Die enge Kommunikation zwischen den Gesetzgebungsorganen und den Betroffenen kann sicherlich zur Verbesserung des Gesetzesinhalts im Sinne seiner sachlichen Richtigkeit beitragen. Allerdings dürfen die Risiken, die von einer Betroffenenbeteiligung ausgehen, nicht ignoriert werden. Sie können allerdings unter Umständen durch eine rechtliche Normierung der Betroffenenbeteiligung minimiert werden.

III.  Rechtliche Normierung der Betroffenenbeteiligung Damit sei die zweite Frage aufgeworfen, ob und gegebenenfalls wie eine Beteiligung von Betroffenen am Gesetzgebungsverfahren normiert werden sollte. Die Beantwortung der Frage geht von dem Befund aus, dass eine Betroffenenbeteiligung derzeit nicht verfassungsrechtlich (1.), sondern nur partiell in den Geschäftsordnungen verankert ist (2.). Vor diesem Hintergrund muss die Frage nach der Zulässigkeit eines Gesetzgebungsverfahrensrechts gestellt werden (3.), bevor die Ausgestaltung einer Normierung thematisiert wird (4.).

 Statt vieler Hellmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd.  2, 2.  Aufl. 2006, Art.  20 (Rechtsstaat) Rn.  141 mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur. 53   Dieudonné Mandelkern, Moderner Staat – Moderne Verwaltung, 2002, S.  57. 54   Axel Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S.  125. 52

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1.  Keine Verankerung im GG Im Unterschied zur erwähnten Vorschrift des Art.  11 Abs.  3 EUV schweigt das Grundgesetz nicht nur zu etwaigen Rechten von Betroffenen im Rechtsetzungsverfahren, es verhält sich vielmehr gar nicht zu dem sogenannten inneren Gesetzgebungsverfahren,55 demjenigen Verfahren, in dem die Gesetze in Umsetzung politischer Vorgaben vorbereitet und ausgearbeitet werden. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren regeln nur das sog. äußere Gesetzgebungsverfahren und setzen dabei mit der Einbringung eines Gesetzesentwurf in den Bundestag bzw. in den Bundesrat relativ spät an. Demgegenüber kennt bspw. die Bundesverfassung der Schweiz seit der Verfassungsreform von 1999 das sog. „Vernehmlassungsverfahren“, in dem „die Kantone, die politischen Parteien und die interessierten Kreise bei der Vorbereitung wichtiger Erlasse und anderer Vorhaben von großer Tragweite sowie bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen schon im Rahmen des inneren Gesetzgebungsverfahrens zur Stellungnahme eingeladen werden.“56 Ungeachtet seiner verfassungsrechtlichen Normierung auf Bundesebene hat das Vernehmlassungsverfahren eine lange, bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition57 und ist auch in den meisten Kantonen vorgesehen.58 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass das Vernehmlassungsverfahren in vielen Fällen in einem direkten Zusammenhang mit den direktdemokratischen Instrumenten steht und bspw. in den Deutschschweizer Kantonen vor allem darauf ausgerichtet ist, die referendumsfähigen Organisationen einzubinden. Nur zum Teil zielt es dagegen auf eine generelle öffentliche Diskussion,59 so dass gegenüber einer vorschnellen und undifferenzierten Übertragung auf die deutsche Rechtsordnung und Rechtskultur Vorsicht geboten ist.

2.  Teilweise Verankerung in den Geschäftsordnungen Im geltenden nationalen Recht finden sich Vorgaben über die Anhörung von Betroffenen dagegen nur in den Geschäftsordnungen der Gesetzgebungsorgane. Für das äußere Gesetzgebungsverfahren gestattet §  70 GO-BT den Bundestagsausschüssen, 55   Vgl. hierzu Gunther Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Rolf Stödter / Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S.  173 ff.; Sven Hölscheidt / Steffi Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwischen gutem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, S.  139 ff. 56   Art.  147 Bundesverfassung Schweiz, s. hierzu Thomas Sägesser, Das Vernehmlassungsverfahren im Schweizerischen Bundesstaat, ZG 2004, S.  364 ff.; sowie ausführlich ders., Vernehmlassungsgesetz, Bundesgesetz vom 18. März 2005 über das Vernehmlassungsverfahren, 2006, passim; zur möglichen Vorbildwirkung Thomas Roser, Anhörung von Betroffenen im Gesetzgebungsverfahren – Können wir von ausländischen Erfahrungen lernen?, ZParl 15 (1984), S.  534 (536 ff.). 57   Josef Blaser, Das Vernehmlassungsverfahren in der Schweiz, 2003, S.  23 ff. 58  Vgl. Kurt Nuspliger / Stephan Brunner, Das Vernehmlassungsverfahren in den Deutschschweizer Kantonen, LEGES 2011, S.  239 ff. 59  So das Resümee von Kurt Nuspliger / Stephan Brunner, Das Vernehmlassungsverfahren in den Deutschschweizer Kantonen, LEGES 2011, S.  239 (245).

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„zur Informationen über einen Gegenstand seiner Beratung ... öffentliche Anhörungen von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen vorzunehmen.“ Von größerer praktischer Bedeutung sind jedoch die Anhörungsmöglichkeiten im vorbereitenden inneren Gesetzgebungsverfahren. Nach §  47 Abs.  3 der im Jahre 2000 neu gefassten GGO soll der Entwurf einer Gesetzesvorlage den auf Bundesebene bestehenden Zentral- und Gesamtverbänden sowie den Fachkreisen möglichst frühzeitig zugeleitet werden, wenn ihre Belange berührt sind. Zeitpunkt, Umfang und Auswahl bleiben dabei ausdrücklich dem Ermessen des federführenden Bundesministeriums überlassen. Tatsächlich erfolgt eine Einbindung der beteiligten Fachkreise und Verbände aber schon früher. Abgesehen von dem informalen und deshalb zwangsläufig nicht normierten Informationsaustausch sieht §  44 Abs.  5 Nr.  2 S.  2 GGO vor, dass das federführende Ministerium von den betroffenen Verbänden (und insbesondere auch der mittelständischen Wirtschaft) Angaben über die zu erwartenden Auswirkungen des Gesetzes auf Einzelpreise, das Preisniveau sowie auf die Verbraucher einholt. Im Vordergrund dieser Beteiligungsform steht also vor allem das Informationsinteresse der gesetzesvorbereitenden Ministerialverwaltung. Hintergrund ist, dass die Gesetzesentwürfe seit der neuen Geschäftsordnung auch zu einer Gesetzesfolgenabschätzung verpflichtet sind, die vor allem auf die finanziellen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen, daneben aber eben auch die Kosten für die Wirtschaft und die Auswirkungen auf die Verbraucher (sowie auf das Geschlechterverhältnis – §  2 GGO) gerichtet ist.60 Die Tatsache, dass den Geschäftsordnungen nach ganz überwiegender Meinung keine Außenverbindlichkeit zukommt, ihnen somit keine subjektiven Rechte der Betroffenen auf Beteiligung zu entnehmen sind und etwaige Verstöße auch grundsätzlich nicht zur Ungültigkeit der auf ihnen beruhenden Entscheidungen führen,61 wird im Schrifttum von einigen als Vorteil,62 von anderen als Nachteil empfunden.63

3.  Zulässigkeit eines Gesetzgebungsverfahrensrechts Hintergrund dieses Streits ist die Frage, ob dem Gesetzgeber – abgesehen von den ausdrücklich verfassungsrechtlich normierten Vorgaben – überhaupt irgendwelche Verfahrensvorgaben auferlegt werden dürfen, ob das innere Gesetzgebungsverfahren also einer (verbindlichen) rechtlichen Normierung zugänglich ist oder nicht.

  §  4 4 Abs.  3 bis 6 GGO; näher Carl Böhret / Götz Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), 2001, passim, sowie rechtsvergleichend jüngst Sylvia Veit, Bessere Gesetze durch Folgenabschätzung? Deutschland und Schweden im Vergleich, 2010, S.  52 ff. 61   BVerfGE 1, 144 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  2 , Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, 1980, S.  307. 62   Hans H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 64. EL 2012, Art.  40 Rn.  55 ff. m. w. N. 63   Für eine weitergehende Beachtlichkeit Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S.  141 f. 60

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a) Meinungsstand Hier stehen sich zwei Ansätze – wie es scheint, unversöhnlich – gegenüber. Die eine findet sich in dem viel zitierten Satz von Klaus Schlaich wieder. Danach „schuldet der Gesetzgeber ... gar nichts anderes als das Gesetz.“64 Zuvor schon hat Willi Geiger ausgeführt: „Er schuldet weder eine Begründung noch gar die Darlegung aller seiner Motive, seiner Erwägungen und Abwägungen.“65 Mit der Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung (Art.  20 Abs.  3 GG) und insbesondere an die Grundrechte (Art.  1 Abs.  3 GG) lässt sich dieser Satz in seiner Stringenz freilich nicht aufrechterhalten. So hat Klaus Schlaich korrigierend hinzugefügt: Der Gesetzgeber schuldet „ein wirksames, also gültiges und verfassungsmäßiges Gesetz.“66 Mit diesem Zugeständnis ist aber gleichsam eine Einbruchstelle auch für verfahrensbezogene Vorgaben geöffnet, wenn sie sich nur aus der Verfassung ableiten lassen. Diesen Weg beschreitet die andere Position. Sie versucht, aus den verschiedensten Verfassungsbestimmungen das „Optimale Gesetzgebungsverfahren“67 oder die „Pflicht zum guten Gesetz“68 als Verfassungspflicht abzuleiten. Namentlich Jörg Lücke schlägt vor, die aus der Verfassung abgeleiteten materiellen und formellen Grundpflichten in einer allgemeinen Gesetzgebungsordnung zu verankern, die, obgleich vom Gesetzgeber selbst erlassen, für eben diesen verbindlich sein soll.69 Bereits zuvor sind – unter anderem auch von Michael Kloepfer – Überlegungen zu einem Normenerlassrecht oder zu einem Gesetzgebungsverfahrensrecht angestellt worden.70 In gewisser Weise erinnern diese Konstruktionen an die Grundsatzgesetze oder das vom Bundesverfassungsgericht erfundene Maßstäbegesetz,71 wobei diese ihre sachliche Rechtfertigung freilich daraus beziehen, dass sie für Bund und Länder gleichermaßen verbindlich sein wollen. Vermittelnd lässt sich zwar eine verfassungsrechtliche Pflicht zur optimalen Gesetzgebung ablehnen, weil nicht die abstrakte inhaltliche Richtigkeit, sondern „die politische Akzeptanz unter Wahrung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen und sonstiger verfassungsrechtlicher Vorgaben“ die praktische Grundlage eines im demokratischen Prozess zustande gekommenen Gesetzes darstelle.72 Mit dieser Ne64   Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S.  99 (109). 65   Willi Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Thomas Berberich u. a. (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S.  141. 66   Klaus Schlaich, in: ders. / Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 8.  Aufl. 2010, Rn.  542. 67   Gunther Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Rolf Stödter / Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S.  173 ff. 68   Axel Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, Berlin 1996, passim. 69   Jörg Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S.  1 (43). 70   Michael Kloepfer, Abwägungsregeln bei Satzungsgebung und Gesetzgebung, Über Regelungen für den Erlaß von Rechtsnormen, DVBl. 1995, S.  4 41 ff. 71   BVerfGE 101, 158 ff. 72   Horst Risse, Verfassungsrechtliche und politische Grenzen des Gesetzgebungsoutsourcing, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing, 2011, S.  109 (115); Fritz Ossenbühl, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd.  3, 1.  Aufl. 1988, §  63 Rn.  7.

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gierung einer verfassungsrechtlichen Pflicht muss nicht zugleich ausgeschlossen sein, dass aus dem Verfassungsrecht Vorgaben für die legislatorische Methode zur Regelung eines bestimmten Problemkreises erwachsen können, wenn dies auch weit hinter dem Konzept einer optimalen Gesetzgebung zurückbleibt.73

b)  Verfahrensvorgaben für sonstige abstrakt-generelle Regelungen Blendet man die demokratietheoretischen Überlegungen, die jedenfalls prinzipiell gegen eine über die Verfassung hinausgehende Bindung des parlamentarischen Gesetzgebers sprechen mögen, aus und versucht, aus der Perspektive des Verwaltungsrechts Funktionsbedingungen und -möglichkeiten des Verfassungsrechts zu entwickeln,74 so ist festzustellen, dass dem deutschen Rechtssystem der Gedanke, dass beim Erlass abstrakt-genereller Regelungen verbindliche Verfahrensvorgaben zu beachten sind, keinesfalls fremd ist. So ist bspw. der Erlass von Satzungen zahlreichen formellen und materiellen Voraussetzungen unterworfen. Als Beispiel sei nicht nur auf die entsprechenden Vorgaben in den Gemeindeordnungen verwiesen,75 sondern insbesondere an den Erlass von Bebauungsplänen erinnert.76 Neben den umfangreichen und in diesem Kontext nicht weiter interessierenden Vorgaben für die planerische Abwägung sieht das Baurecht vielfältige Beteiligungen der betroffenen Bürger vor.77 Auch für den Erlass von Rechtsverordnungen ist mitunter eine Anhörung der Betroffenen vorgesehen. So bestimmen verschiedene Regelungsermächtigungen im BIMSchG, im KrW- / AbfG, BbodSchG, im ChemG und im WRMG, dass beim Erlass bestimmter Rechtsverordnungen (wie im übrigen auch beim Erlass von Verwaltungsvorschriften und Zielfestlegungen) die „beteiligten Kreise“ anzuhören sind. Wer zu den beteiligten Kreisen gehört, ist in den Legaldefinitionen (§  51 BImSchG, §  60 KrW- / AbfG, §  20 BBodSchG, §  17 Abs.  7 ChemG, sowie §  6 WRMG) allerdings nur in allgemeiner Weise festgelegt. Die Betroffenen machen dabei nur eine zu beteiligende Gruppe neben denen der Wissenschaft, der beteiligten Wirtschaft sowie der jeweils zuständigen obersten Landesbehörden aus. Wer im Einzelnen anzuhören ist und wie das Verfahren im Einzelnen ausgestaltet ist, geht aus den Vorschriften über die Anhörung beteiligter Kreise nicht deutlich hervor. Unklar bleibt auch, welche Folgen sich aus dem Unterlassen der Anhörung oder aus sonstigen Verfahrensfehlern ergeben. Eine systematische Betrachtung der einzelnen Regelungsermächtigungen, die eine obligatorische Anhörung der beteiligten Kreise vorsehen, zeigt, dass die Anhörung beteiligter Kreise vor allem in solchen Fällen verlangt wird, in denen es darum geht, technisch-wissenschaftliche komplexe und interessenrelevante 73   Horst Risse, Verfassungsrechtliche und politische Grenzen des Gesetzgebungsoutsourcing, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing, 2011, S.  109 (117); Fritz Ossenbühl, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd.  3, 1.  Aufl. 1988, §  63 Rn.  7. 74  Instruktiv Jens Kersten, Was kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, DBVl 2011, S.  585 ff. 75   Vgl. bspw. Art.  24 GO Bayern, §  24 GO Rheinland-Pfalz, §§  6 –8 GO Sachsen-Anhalt. 76   Vgl. §§  8 ff. BauGB. 77  Grundlegend Ulrich Battis, Partizipation im Städtebaurecht, 1976, passim.

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Sachverhalte zu beurteilen. Nicht vorgeschrieben ist die Anhörung beteiligter Kreise dagegen von Regelungsermächtigungen, die dem Normgeber nur einen geringen eigenen Regelungsspielraum belassen, etwa weil sie der Umsetzung internationaler Standards dienen.78 Diese kurze Analyse zeigt, dass auch hier die Information des Normgebers im Vordergrund der Beteiligung steht.

c)  Übertragbarkeit auf formelle Gesetze Diese funktionale Kongruenz – oder besser: diese teilweise funktionale Kongruenz – zwischen der obligatorischen Einbindung der beteiligten Kreise in den Erlass von Rechtsverordnungen und der Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren lässt möglicherweise auf die Zulässigkeit von verbindlichen Verfahrensregelungen für den Gesetzgeber schließen. Ebenso wie der Verordnungsgeber in bestimmten Fällen die beteiligten Kreise anzuhören hat, könnte der Gesetzgeber zu einer Beteiligung der Betroffenen verpflichtet sein. Namentlich Michael Kloepfer hat für diesen Rückschluss von gesetzlichen Normierungen auf gesetzliche Verpflichtungen einen methodischen Weg bereitet.79 Politisch geht es dabei um das Lernen des Gesetzgebers von sich selbst, indem dieser aus seinen eigenen Produkten modifizierte Selbst-Bindungen ableitet. Zu einer Verpflichtung wird dieser Lernprozess freilich erst, wenn der Gesetzgeber – möglicherweise unwissend – Verfassungsprinzipien konkretisiert hat, an deren Inhalte er in modifizierter Form selbst gebunden ist.80 Um es ganz deutlich zu machen: Wenn es sich bei der obligatorischen Anhörung der beteiligten Kreise beim Erlass bestimmter Rechtsverordnungen um die gesetzliche Konkretisierung eines allgemeinen Verfassungsgebots handeln sollte, wäre der Gesetzgeber über Art.  20 Abs.  3 GG selbst an eben dieses Gebot gebunden. Michael Kloepfer selbst hat diesen Ansatz bislang nicht weiter verfolgt. In der Wissenschaft ist er – soweit ersichtlich – eher auf Skepsis gestoßen. Zu unterschiedlich seien die Satzungsgebung und der Erlass von Rechtsverordnungen durch die Exekutive auf der einen Seite und die Gesetzgebung auf der anderen Seite.81 Beide Auffassungen sind dabei aber möglicherweise stets über das Ziel hinausgeschossen: Die Auffassung, nach der bestimmte Elemente des Verwaltungs-, insbesondere des Planungsrechts auf die Gesetzgebung angewendet werden könnten, hat stets versucht,   Vgl. bspw. §§  7 Abs.  4, 37, 39, 48a BImSchG; §  65 KrWG.   Michael Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen? Zum Programm eines parlamentsbindenden Normenerlaßrechts, ZG 1988, S.  289 ff.; ders., Abwägungsregeln bei Satzungsgebung und Gesetzgebung, Über Regelungen für den Erlaß von Rechtsnormen, DVBl. 1995, S.  4 41 ff. 80   Hans-Joachim Konrad, Parlamentarische Autonomie und Verfassungsbindung im Gesetzgebungsverfahren, DÖV 1971, S.  80; Gunther Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Rolf Stödter / Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S.  173 ff; Michael Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen? Zum Programm eines parlamentsbindenden Normenerlaßrechts, ZG 1988, S.  289 (294). 81   Alexander Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S.  160 f. 78

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Parallelen zur Ermessens- und Abwägungsfehlerlehre zu entwickeln.82 An dieser massiven Beschränkung des gesetzgeberischen Prognose- und Gestaltungsspielraums mussten sich die Kritiker zu Recht stoßen. Das Gesetz sei als Ergebnis der demokratischen Entscheidung notwendig Ausdruck des Kompromisses sowie des politisch Gewollten, nicht aber der sachlichen Richtigkeit.83 Doch die grundsätzliche Absage an eine Übertragbarkeit verwaltungsverfahrensrechtlicher Institutionen auf die Gesetzgebung hat möglicherweise übersehen lassen, dass punktuell doch durchaus Parallelen geboten sind, die letztlich aus der gemeinsamen Verfassungsbindung von Exekutive und Legislative herrühren.84 Das gilt bspw. auch für die Frage der Anhörung von Betroffenen. Das Thema der Anhörung war auch Gegenstand einiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das erste Mal hatte sich das Bundesverfassungsgericht auf Beschwerde eines Schallplattenherstellers mit der Frage zu befassen, ob diese Firma im Gesetzgebungsverfahren, das auf die Änderung der Umsatzsteuer gerichtet war, hätte angehört werden müssen.85 Im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens sind eine ganze Reihe von Verbänden angehört worden, so dass sich die Beschwerde des Schallplattenherstellers insbesondere auf die Feststellung eines Gleichheitsverstoßes richtete. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde indes mit der Begründung zurück, es läge grundsätzlich im Ermessen der Gesetzgebungsorgane und ihrer Ausschüsse, ob und welche Verbände und Sachverständige in einem Anhörungsverfahren zu Wort kommen sollten, das nicht von der Verfassung vorgeschrieben sei.86 In einer weiteren Entscheidung (zum Verbot der Nachnahmesendung von Tieren) rügte das Bundesverfassungsgericht hingegen die Tatsache, dass eine gesetzliche Regelung ohne Anhörung der von dieser Regelung betroffenen Berufsgruppen in das Gesetz eingefügt wurde. Konkrete Folgen leitete es aus der fehlenden Anhörung aber noch nicht ab.87 Erst in späteren (und vereinzelten Fällen), die sich aber nur bedingt verallgemeinern lassen, hat das Bundesverfassungsgericht das Recht der Betroffenen auf Anhörung im Gesetzgebungsverfahren betont. Das betrifft etwa gesetzliche Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine entsprechende Anhörung voraussetzt.88 Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Südumfahrung Stendal – nicht zuletzt wegen der enteignungsrechtlichen Vorwirkung des Planungsgesetztes – be  Michael Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen? Zum Programm eines parlamentsbindenden Normenerlaßrechts, ZG 1988, S.  289 (301); ders., Abwägungsregeln bei Satzungsgebung und Gesetzgebung, Über Regelungen für den Erlaß von Rechtsnormen, DVBl. 1995, S.  4 41 (445). 83   So schon vorher Christoph Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre? ZRP 1985, S.  291 (298 f.). 84   Gunther Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Rolf Stödter / Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S.  173 (178 ff.). 85   BVerfGE 36, 321 ff. 86   BVerfGE 36, 321 (330 ff.). 87   BVerfGE 36, 47. 88   BVerfGE 50, 195 (202); 86, 90 (107). 82

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sonderen Wert auf Anhörungs- und Beteiligungsrechte der Betroffenen gelegt.89 Mögen diese Fälle nur kasuistisch zu fassen sein, so lässt sich doch schon erkennen, dass die Verpflichtung des Gesetzgebers, Betroffene im Gesetzgebungsverfahren frühzeitig anzuhören, dem Verfassungsrecht nicht so fremd ist, wie es die Gegner von Gesetzesverfahrensvorschriften gerne postulieren. Hinzu kommt, dass in den genannten Entscheidungen letztlich der Rechtsschutzgedanke im Vordergrund des festgestellten bzw. betonten Rechts auf Anhörung stand, während sich eine allgemeine Pflicht des Gesetzgebers zur Anhörung von Betroffenen auch auf eine andere dogmatische Begründung stützen lässt. In verschiedenen Entscheidungen begründete das Bundesverfassungsgericht nämlich die Pflicht des Gesetzgebers, sich vor Erlass eines Gesetzes über die bestehende Ausgangslage in korrekter und ausreichender Weise Kenntnis zu verschaffen.90 In der Literatur wird diese Pflicht zur zutreffenden und vollständigen Erfassung des Sachverhalts zu einer formellen Grundpflicht des Gesetzgebers erhoben.91 Dogmatisch lässt sich diese Pflicht unter anderem mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begründen, nach dem auch der Gesetzgeber verpflichtet ist, nur solche Mittel zu verwenden, die für die Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet, erforderlich und angemessen sind.92 Aus dieser materiellen, auf den gesetzlichen Inhalt bezogenen Verpflichtung erwachsen der Legislative und – auf das Gesetzgebungsverfahren vorwirkend – den Gesetzesinitianten formelle Verpflichtungen. So verlangt das Prinzip der Erforderlichkeit, dass der Gesetzgeber prüfen muss, ob nicht aus tatsächlichen Gründen ein milderes aber gleich geeignetes Mittel vorzuziehen ist.93 Aus dieser grundsätzlichen Pflicht des Gesetzgebers zur Tatsachenermittlung folgt mittelbar auch die Sekundärpflicht, Sachverständige oder eben auch Betroffene – und sei es in Form von Verbandsvertretern – im Gesetzgebungsverfahren anzuhören.

4.  Ausgestaltung der Normierung Wenn eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Anhörung von Betroffenen also grundsätzlich zulässig erscheint, so könnte die Betroffenenbeteiligung in einem für den Gesetzgeber verbindlichen Rechtsakt näher konkretisiert werden. Konkretisierungsbedürftig sind insbesondere die Fragen, wann eine Anhörung stattzufinden hat, wer eine solche Anhörung durchzuführen hat, wie die Anhörung durchzuführen ist sowie vor allem die entscheidende Frage, wer überhaupt zum Kreis der Anzuhö-

  BVerfGE 95, 1 (23).   Z.B. BVerfGE 39, 210 (226); 57, 139 (159 f.); 65, 1 (55). 91   Axel Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S.  124; Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980−1983), 1988, S.  490. 92   Christoph Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S.  291 (295). 93   Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988, S.  385 f.; Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, 2000, S.  353. 89

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renden zählen soll, wer also Betroffener bzw. von einem Gesetz in besonderer Weise betroffen ist. 94 Diese Frage scheint in vielen Fällen unmöglich zu beantworten. Denn zu unscharf werden sachliche, räumliche oder rechtliche Maßstäbe sein, um die besondere Betroffenheit von der grundsätzlichen Betroffenheit abzugrenzen, die sich aus der Unterwerfung unter eine allgemeine generellere Norm nun einmal ergibt. Zusätzlich erschwert wird diese Abgrenzung, wenn man die zeitliche Komponente berücksichtigt und insoweit realisiert, dass sich der Kreis der Betroffenheit im Laufe der Geltung einer Norm verändern kann. Doch die Schwierigkeit, den Betroffenenkreis zu definieren, sollte nicht der maßgebliche Grund sein, eine Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren nicht auf eine rechtliche Basis zu stellen. Denn erstens muss man sich darüber bewusst sein, dass wegen des abstrakt-generellen Charakters von Rechtsnormen stets eher ganze Personengruppen als einzelne Personen in besonderer Weise betroffen sein werden, so dass die Beteiligung der Betroffenen am Gesetzgebungsverfahren nur in den seltensten Fällen eine individuelle und eigene Einbindung in das Gesetzgebungsverfahren verlangt. Ausreichend ist vielmehr die repräsentative Beteiligung der betroffenen Personengruppe, bspw. durch einen Verbandsvertreter. Und zweitens und vor allem müssen weder absolute Kriterien für eine besondere Betroffenheit gefunden noch in relativer Weise definiert werden, welche Person oder Personengruppe von einer gesetzlichen Regelung im Vergleich zu dem allgemeinen Adressatenkreis in besonderer Weise berührt wird. Vielmehr kann insoweit doch dem schweizerischen Vorbild gefolgt werden, das im Vernehmlassungsgesetz, welches die verfassungsrechtliche Pflicht zur Vernehmlassung konkretisiert, zwischen „geladenen“ und anderen Beteiligten unterscheidet und hinsichtlich der anderen schlicht und einfach auf das individuelle Interesse abstellt.95 Betroffen ist, wer sich in besonderer Weise interessiert. Lässt sich die Betroffenenbeteiligung also insgesamt durchaus rechtlich fassen, dürfen die Nachteile einer solchen Regulierung doch nicht verkannt werden. Das Gesetzgebungsverfahren ist in weiten Teilen ein politischer Prozess mit zahlreichen Akteuren, der sich nur schwer formalisieren lässt.96 Die Gefahren, dass durch die verbindlichen Regelungen über die Betroffenenbeteiligung die Konsensfindung erschwert wird, dass das Gesetzgebungsverfahren insgesamt verlängert wird und dass 94   Skeptisch und zuversichtlich zugleich Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988, S.  510. 95   Art.  4 des schweizerischen Vernehmlassungsgesetzes lautet: Abs.  1 Jede Person und jede Organisation kann sich an einem Vernehmlassungsverfahren beteiligen und eine Stellungnahme einreichen. Abs.  2 Zur Stellungnahme eingeladen werden: a. die Kantone; b. die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien; c. die gesamtschweizerischen Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete; d. die gesamtschweizerischen Dachverbände der Wirtschaft; e. die weiteren, im Einzelfall interessierten Kreise. Abs.  3 Die Bundeskanzlei führt die Liste der Vernehmlassungsadressaten nach Absatz 2 Buchstaben a–d. 96  Vgl. Ulrich Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre. Beiträge zur Entwicklung einer Regelungstheorie, 1989, S.  41.

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das Bundesverfassungsgericht einen weiteren Ansatzpunkt für die Verwerfung von Gesetzen erhält, sind nicht von der Hand zu weisen.97 Darüber hinaus muss man sich darüber bewusst sein, dass sich mit einer Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren auch die Rationalitätsanforderungen an das Produkt des Gesetzgebungsverfahrens, an das Gesetz, ändern.98 Andererseits ist noch ein Mal an die Nachteile zu erinnern, die eine nichtregulierte Betroffenenbeteiligung für die Gesetzgebung mit sich bringt. Je mehr die eigent­liche Entscheidungsfindung im politischen Prozess auf das innere Gesetzgebungsverfahren verlagert wird und je einflussreicher hier die Betroffenen sein können, desto wichtiger ist es, die grundsätzlich erst im äußeren Gesetzgebungsverfahren gewährleistete Öffentlichkeit auf den inneren Gesetzgebungsprozess zu erstrecken und für eine gleichmäßige und gleichberechtigte Beteiligung der verschiedenen Interessengruppen Sorge zu tragen. Insofern wäre in einer Normierung der Betroffenenbeteiligung in jedem Fall vorzusehen, dass die Anhörung der Betroffenen öffentlich stattzufinden hat, soweit das mit ihren grundrechtlich geschützten Geheimnissen zu vereinbaren ist, dass die Ergebnisse der Anhörung protokolliert werden und dass die Begründung des letztlich zustande gekommenen Gesetzes darzulegen hat, inwieweit die Anhörung sich im Gesetzesinhalt widerspiegelt. Die Auswahl der anzuhörenden Verbände und Betroffenen muss nach kontrollierbaren Kriterien erfolgen und die Chancengleichheit gewährleisten.99 Nur wenn eine Betroffenenbeteiligung solchen Anforderungen genügt, wird sie auch die Vorteile hervorbringen können, die ihr zugedacht sind, wird sie vielleicht auch zu besseren Gesetzen beitragen können.

V. Resümee Eine Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren scheint ein geeignetes Instrument zu sein, um die parlamentarische Demokratie für partizipative bzw. direktdemokratische Aspekte behutsam zu öffnen. Doch ihre Vorteile wird sie nur entfalten können, wenn sie in rechtsverbindlicher Art und Weise normiert wird. Diese zusätzliche Regulierung des Gesetzgebungsverfahrens mittels eines Rechtsetzungsrechts ist nicht generell unzulässig, mag aber durchaus als nachteilig empfunden werden. Insoweit gibt es hinsichtlich einer Betroffenenbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren nur zwei Möglichkeiten: Regulierung oder Verzicht.

97   Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S.  99 (115 ff.); Christoph Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S.  291 (298). 98  Instruktiv Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988, S.  454 ff. 99   Hans-Joachim Mengel, Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung, ZRP 1984, S.  153 (156).

Soziale Elternschaft Regelungsdefizite und -optionen bei der Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern von

Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, Leibniz Universität Hannover I.  Gesellschaftlicher Wandel im Bereich der Familie: Pluralisierung familiärer Lebensformen Die Familie hat in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen gesellschaftlichen Wandel erfahren. Eine der gesellschaftlichen Veränderungen besteht darin, dass immer mehr Personen Verantwortung für Kinder übernehmen, die von ihnen nicht abstammen. Leibliche und soziale Elternschaft haben sich „zunehmend entkoppelt“1. An die Seite der „Normalfamilie“ sind Stieffamilien getreten 2, in denen heterosexuelle (sog. Patchworkfamilie) oder homosexuelle (sog. Regenbogenfamilie) Paare mit Kindern zusammenleben, die nur von einem Partner abstammen3. Die Mehrheit der Kinder aus geschiedenen Ehen erhält nach der Scheidung ihrer leiblichen Eltern Stief­eltern, weil etwa 50 % der geschiedenen Eltern in Deutschland eine neue Ehe schließen und von den geschiedenen Eltern, die nicht wieder heiraten, ca. 40 % 1   M. Feldhaus/J. Huinink, Multiple Elternschaften in Deutschland – eine Analyse zur Vielfalt von Elternschaft in Folgepartnerschaften, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  77 (78); R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  381 f. 2   Zum Teil werden Stieffamilien auch als „Fortsetzungsfamilien“ bezeichnet, s. A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153 (156); A. Maihofer/T. Böhnisch/A. Wolf, Wandel der Familie, in: Hans Böckler Stiftung (Hrsg.), Arbeitspapier Nr.  48, 2001, S.  28. 3   Zu dieser Entwicklung R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  331 f., 343; vgl. auch K. Muscheler, FamRZ 2004, 913. Der Anteil der in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften lebenden Kinder (Regenbogenfamilie) ist dabei vergleichsweise gering, s. D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  23; R. Nave-Herz, Familie heute, 4.  Aufl. 2009, S.  116; M. Wellenhofer, Familienrecht, 2.  Aufl. 2011, §  26 Rn.  10. Zu der Zahl und der Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften eingehend M. Rupp/P. Bergold, in: M. Rupp (Hrsg.), Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, 2009, S.  281 ff. Zu der Definition der Patchworkfamilie als Familie, bei der „mindestens ein Elternteil ein Kind aus einer früheren Beziehung mitgebracht hat“, B. Gückel, Bevölkerungsforschung Aktuell 03/12, S.  16; eine andere Definition nennt Sarres, FuR 2011, 611.

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(Westdeutschland) bzw. 25 % (Ostdeutschland) mit einem neuen Partner eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingehen4. Wenngleich die statistischen Daten zu Stieffamilien in Deutschland profunder sein könnten5, steht doch fest, dass die Zahl der Stieffamilien in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zugenommen hat6. Im Jahr 2004/2005 waren 13,6 % der Familien mit Kindern unter 18 Jahren in Deutschland Stieffamilien; 10,9 % der Kinder unter 18 Jahren waren Stief kinder7. Die Zahl der miteinander verheirateten oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebenden Eltern/Stiefeltern lag dabei über der Zahl nicht formalisierter faktischer Stieffamilien8. Im Jahr 2012 waren rund 14 % aller Familien Stieffamilien9. In Ostdeutschland sind Stieffamilien dabei häufiger zu finden als in Westdeutschland10, weil im Osten im Vergleich zum Westen Deutschlands mehr Alleinerziehende und mehr Paare in nichtehelichen Lebensgemeinschaften leben, die sich häufiger trennen als Verheiratete11. Da Kinder nach einer Trennung der Eltern in den meisten Fällen bei der Mutter bleiben, überwiegt die Zahl der Stiefvaterfamilien die Zahl der Stiefmutterfamilien erheblich12. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Stiefeltern und Stief kind ist in der Realität oft mit vielfältigen Problemen belastet. Stieffamilien weisen eine „hohe Be  K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (913 f.).   Näher, auch zu den Gründen für die magere Datenlage, M. Kreyenfeld, Demografische Forschung Aus erster Hand Nr.  4/2011 ( Jg. 8), S.  3; A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153 (156 f.); A. Maihofer/T. Böhnisch/A. Wolf, Wandel der Familie, in: Hans Böckler Stiftung (Hrsg.), Arbeitspapier Nr.  48, 2001, S.  28; s. auch Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familienreport 2012. Leistungen, Wirkungen, Trends, 2012, S.  20. 6   B. Gückel, Bevölkerungsforschung Aktuell 03/12, S.  16 – auch zu den in den vergangenen Jahrzehnten wechselnden Gründen für die Entstehung von Stieffamilien. 7   Unter Verwendung von Daten des Generations and Gender Surveys des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung 2005 A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153; vgl. auch R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  385. Im Jahr 1999 waren 6 % der Kinder unter 18 Jahren Stief kinder, s. W. Bien/A. Hartl/M. Teubner, in: W. Bien/A. Hartl/M. Teubner (Hrsg.), Stieffamilien in Deutschland, 2002, S.  9 (12); vgl. auch K. Muscheler, StAZ 2006, 189 (190). 8  Nach R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  385 waren im Jahr 2005 bei 84 % der Stief kinder in Westdeutschland und bei 61 % der Stief kinder in Ostdeutschland der leibliche Elternteil und der Stiefelternteil miteinander verheiratet; vgl. auch D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  26; C. Kraus, Grundlagen des Unterhaltsrechts, 2011, S.  32; K. Muscheler, StAZ 2006, 189 (190); bezogen auf 1999 W. Bien/A. Hartl/M. Teubner, in: W. Bien/A. Hartl/M. Teubner (Hrsg.), Stieffamilien in Deutschland, 2002, S.  9 (12); K. Muscheler, FamRZ 2004, 913. 9   B. Gückel, Bevölkerungsforschung Aktuell 03/12, S.  16. 10  Nach M. Kreyenfeld, Demografische Forschung Aus erster Hand Nr.  4/2011 ( Jg. 8), S.  3 waren im Jahr 2004/2005 13 % der Familien in Westdeutschland und 18 % der Familien in Ostdeutschland Stieffamilien; das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familienreport 2012. Leistungen, Wirkungen, Trends, 2012, S.  20 beziffert den Anteil der Stieffamilien in den neuen Bundesländern im Jahr 2012 mit 15 % und in den alten Bundesländern mit 10 %. 11   M. Kreyenfeld, Demografische Forschung Aus erster Hand Nr.  4/2011 ( Jg. 8), S.  3. 12   A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153 (160 ff.) auch zur Vielfalt der Stieffamilien im Übrigen; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familienreport 2012. Leistungen, Wirkungen, Trends, 2012, S.  20; K. Muscheler, StAZ 2006, 189 (190): Verhältnis 90 zu 10 R. Nave-Herz, Familie heute, 4.  Aufl. 2009, S.  109 f.; R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  385; W. Bien/A. Hartl/M. Teubner, in: W. Bien/A. Hartl/M. Teubner (Hrsg.), Stieffamilien in Deutschland, 2002, S.  9 (12). Einen Überblick über die Gründe für die Entstehung von Stieffamilien geben A. Maihofer/T. Böhnisch/A. Wolf, Wandel der Familie, in: Hans Böckler Stiftung (Hrsg.), Arbeitspapier Nr.  48, 2001, S.  28. 4 5

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ziehungskomplexität“ auf, da sie in den meisten Fällen durch Scheidung oder Trennung der Eltern entstehen und die Beziehungen der alten Familie in die neue Familie hineinwirken13. Die dadurch erforderlichen Rollenfindungen und Anpassungsprozesse werden rechtlich dadurch erschwert, dass die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Stieffamilie gesetzlich größtenteils nicht geregelt sind; dies gilt in besonderem Maße, wenn der leibliche Elternteil und der Stiefelternteil außerhalb einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft zusammenleben. In der Folge entsteht sowohl bei Stiefeltern als auch bei Stief kindern große Unsicherheit im Hinblick auf ihre Rolle namentlich bei Konflikten14. Diese gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich der Familie fordern den Gesetzgeber heraus und werfen Fragen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie auf. Bislang hat der Gesetzgeber auf die Pluralisierung familiärer Lebensformen zurückhaltend reagiert. Die Beziehungen zwischen Stiefeltern und Stief kindern haben vor allem durch zivilrechtliche Vorschriften zum Sorge- und Umgangsrecht sowie im Steuer- und Sozialversicherungsrecht15 eine gewisse rechtliche Absicherung erfahren. Die Regelungen sind allerdings eher fragmentarischer Art und in der Mehrzahl auf Stiefeltern beschränkt, die mit einem leiblichen Elternteil des Kindes verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben16. Stiefeltern, die mit dem leiblichen Elternteil des Kindes in einer Ehe oder Lebenspartnerschaft verbunden sind, kommt ein sog. kleines Sorgerecht zu, das inhaltlich indes mehrfach beschränkt ist (s. §  1687b BGB, §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG)17. Faktische Stiefeltern, die mit einem Kind und seinem biologischen Elternteil zusammenleben, ohne dass zwischen dem sozialen und dem biologischen Elternteil eine Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft besteht, haben keine vergleichbaren Sorgerechtsbefugnisse. Über ein kleines Sorgerecht hinausgehende Sorgerechtsbefugnisse für Stiefeltern kennt das Zivilrecht nicht. Diese hinkende Rechtslage zulasten faktischer Stiefeltern und das in der Praxis ausgemachte Bedürfnis, die Beziehungen zwischen sozialen Eltern und Kindern rechtlich stärker abzusichern18, werfen die Frage auf, ob der Gesetzgeber sozialen Eltern mehr Sorgerechtsbefugnisse als bislang (s. §  1687b BGB, §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG) einräumen darf. Die Erörterung dieser Frage setzt zunächst einen Überblick über die bereits gesetzlich geregelten familienrechtlichen Befugnisse sozialer Eltern voraus (s. II.). Anschließend wird gezeigt, dass der Gesetzgeber das für Ehe- und Lebenspartner von Eltern geltende kleine Sorgerecht (§  1687b BGB, §  9 LPartG) aus verfassungsrechtlichen Gründen auch auf andere soziale Eltern erstrecken muss (s. 13  Näher A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153 (175); R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  386 ff. 14   Zu diesen Problemen von Stieffamilien eingehend A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153 (157 f.); R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  386 ff.; zu dem Problem eines fehlenden „Patchworkrechts“ Sarres, FuR 2011, 611. 15   Das Steuer- und das Sozialversicherungsrecht bleiben außer Betracht. 16   Zum fragmentarischen Charakter der gesetzlichen Regelungen für die Stieffamilie auch L. M. Peschel-Gutzeit, FPR 2004, 47. 17   S. näher unter II. 1. und IV. 2. b) bb) (2) (a). 18   Hierzu eingehend N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 ff., insbesondere 161 f.; N.  D ethloff, ZKJ 2009, 141 (143 ff.); s. auch M. Wellenhofer, AnwBl 2008, 559 (564 f.); K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (920).

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III.). Ob der Gesetzgeber sozialen Eltern ein über das kleine Sorgerecht (s. §  1687b Abs.  1 BGB, §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG) hinausgehendes unwiderrufliches großes Sorgerecht übertragen darf, ist Gegenstand der Betrachtungen unter IV. Der Beitrag schließt mit einem Fazit zu den Gestaltungsoptionen des Gesetzgebers bei der rechtlichen Absicherung sozialer Elternschaft durch Sorgerechtsbefugnisse (s. V.). Terminologisch wird im Folgenden zwischen leiblichen und sozialen Eltern differenziert, wobei innerhalb der Gruppe sozialer Eltern echte und faktische Stiefeltern unterschieden werden. Leibliche Eltern eines Kindes sind diejenigen, von denen das Kind abstammt bzw. die nach dem Gesetz als leibliche Eltern des Kindes gelten (§§  1591, 1592 BGB). Gesetzliche Eltern, denen ein Kind rechtlich zugeordnet ist, das nicht von ihnen abstammt (v. a. Adoptiveltern, s. §§  1741 ff. BGB), bleiben vorliegend außer Betracht. Der Begriff der sozialen Eltern wird im Schrifttum unterschiedlich konnotiert. Vorliegend wird der Begriff in einem extensiven Sinne verstanden und werden soziale Eltern definiert als „jede Person, die tatsächlich Pflegeund Erziehungsverantwortung für ein Kind übernimmt, das nicht von ihr abstammt und das ihr nicht rechtlich als Kind zugeordnet ist“19. Auf eine Formalisierung der Beziehung zwischen dem leiblichem und dem sozialen Elternteil durch Ehe, Lebens­ partnerschaft iSd LPartG oder Verwandtschaftsbeziehung kommt es nicht an. Zu den solchermaßen definierten sozialen Eltern zählen vor allem die Stiefeltern eines Kindes, die als Partner des leiblichen Elternteils mit ihm und dem Kind in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben. Für die Einordnung als Stiefeltern ist es unerheblich, ob der leibliche Elternteil und der Stiefelternteil miteinander verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben oder ob die Beziehung zwischen ihnen nicht formalisiert ist20. Da das geltende Recht bei der Zuweisung familienrechtlicher Befugnisse indes zwischen Stiefeltern „mit und ohne Trauschein“ differenziert, werden terminologisch sog. echte Stiefeltern, die mit dem leiblichen Elternteil des Kindes verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, von sog. faktischen Stiefeltern, die mit dem leiblichen Elternteil außerhalb einer Ehe oder Lebenspartnerschaft zusammenleben, unterschieden.

II.  Familienrechtliche Befugnisse sozialer Eltern 1.  Sog. kleines Sorgerecht (§  1687b BGB, §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG) Seit dem 1. August 2001 haben Ehegatten und Lebenspartner eines allein sorgeberechtigten Elternteils, die nicht leibliche Eltern des Kindes sind, im Einvernehmen mit dem sorgeberechtigten Elternteil die Befugnis zur Mitentscheidung in Angele  C. Campbell, NJW-Spezial 2011, 644.   Zur Definition des Begriffs der Stiefeltern ähnlich wie hier A. Steinbach, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 33 (2008), 153 (159); D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  11; K. Muscheler, FamRZ 2004, 913; L. M. Peschel-Gutzeit, FPR 2004, 47; R. Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8.  Aufl. 2012, S.  383. Eine engere Begriffsdefinition findet sich bei F. Bernau, Krit. Justiz, 2006, 320 (323), der als Stiefeltern nur die mit der leiblichen Mutter oder dem leiblichen Vater durch Ehe verbundenen Personen ansieht, von denen das Kind nicht abstammt; ebenso S. Kremer, Das Stief kind im Unterhaltsrecht, 2000, S.  20. 19

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genheiten des täglichen Lebens des Kindes (sog. kleines Sorgerecht, §  1687b Abs.  1 S.  1 BGB, §  9 Abs.  1 S.  1 LPartG). Eine Ausnahme gilt für solche Angelegenheiten des täglichen Lebens, bei denen auch ein Vormund und entsprechend die leiblichen Eltern von der Vertretung ausgeschlossen sind (§  1687b Abs.  1 S.  2 BGB, §  9 Abs.  1 S.  2 LPartG iVm §§  1629 Abs.  2 S.  1, 1795 BGB). Die Entstehung des kleinen Sorgerechts von Ehegatten und Lebenspartnern setzt nach wohl überwiegender Auffassung voraus, dass zwischen dem allein sorgeberechtigten Elternteil und seinem Ehegatten bzw. Lebenspartner sowie dem Kind eine häusliche Gemeinschaft besteht21, wenngleich sich diese Bedingung im Normtext der §  1687b BGB und §  9 LPartG nicht findet. Bei Gefahr im Verzug sind die Stiefeltern abweichend von §  1687b Abs.  1 S.  1 BGB bzw. §  9 Abs.  1 S.  1 LPartG berechtigt, sämtliche Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes notwendig sind (§  1687b Abs.  2 BGB, §  9 Abs.  2 LPartG), was auch die Befugnis zur Entscheidung in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung umfasst22. Das Familiengericht kann das kleine Sorgerecht der Stiefeltern einschränken oder ausschließen, wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist (§  1687b Abs.  3 BGB, §  9 Abs.  3 LPartG). Leben die Ehegatten bzw. Lebenspartner nicht nur vorübergehend getrennt, enden die sorgerechtlichen Befugnisse der Stiefeltern (§  1687b Abs.  4 BGB, §  9 Abs.  4 LPartG). Die Reichweite der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG ist mehrfach beschränkt. Erstens: Personell kommen in den Genuss der sorgerechtlichen Befugnisse nur Ehegatten und Lebenspartner der Eltern des Kindes (echte Stiefeltern). Faktischen Stiefeltern, die unverheiratet bzw. außerhalb einer Lebenspartnerschaft mit Eltern eines Kindes zusammenleben, steht das kleine Sorgerecht gem. §  1687b BGB bzw. §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG nicht zu23. Der nichteheliche bzw. nichtverpartnerte Lebensgefährte eines leiblichen Elternteils kann sorgerechtliche Befugnisse für das Kind nur durch rechtsgeschäftliche Bevollmächtigung oder Gestattung seitens der sorgeberechtigten Eltern erhalten 24. Zweitens: Der Anwendungsbereich der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG ist zudem auf Konstellationen begrenzt, in denen das Sorgerecht für das Kind einem Elternteil allein zusteht und der andere Elternteil nicht sorgeberechtigt, sondern (allenfalls) umgangsberechtigt ist. Für gemeinsam sorgeberechtigte Eltern kommen §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG nicht zur Anwendung 25. Haben die leiblichen Eltern das gemeinsame Sorgerecht für ihr Kind, was nach §§  1626a, 1671 Abs.  1 BGB dem gesetzlichen Regelfall der elterlichen Sorge entspricht26, können Stiefeltern sorgerechtliche Befugnisse nur durch Erteilung einer Sorgerechtsvollmacht bzw. durch entsprechende Gestattung oder durch Stief21   S. etwa D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  143, die das Erfordernis der häuslichen Gemeinschaft aus §  1687b Abs.  4 BGB ableitet; hierzu auch B. Veit, FPR 2004, 67 (70). 22  Vgl. L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  16. 23   Vgl. nur L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  4, 8; W. Schlüter, BGB – Familienrecht, 14.  Aufl. 2012, §  25 Rn.  360a. 24   L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  8 ; s. auch D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  114. 25   Statt fast aller M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158). 26  Vgl. M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158).

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kindadoption (s. §  1741 Abs.  2 S.  3 BGB) erhalten 27. Drittens: Sachlich-inhaltlich sind die Sorgerechtsbefugnisse der Stiefeltern nach §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG außer in Fällen von Gefahr im Verzug auf Angelegenheiten des täglichen Lebens beschränkt. Der Begriff der „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ iSd §  1687b Abs.  1 S.  1 BGB und §  9 Abs.  1 S.  1 LPartG entspricht inhaltlich dem identischen Begriff des §  1687b Abs.  1 S.  3 BGB28, wonach „Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens .  .  . in der Regel solche (sind), die häufig vorkommen und die keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben.“ Dies umfasst zum Beispiel „Fragen der täglichen Betreuung und Versorgung des Kindes, aber auch Alltagsfragen, die im schulischen Leben und in der Berufsausbildung des Kindes vorkommen“ sowie „Entscheidungen, die im Rahmen der gewöhnlichen medizinischen Versorgung des Kindes zu treffen sind“29. An Entscheidungen in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind können (echte und faktische) Stiefeltern nur durch rechtsgeschäftliche Bevollmächtigung oder Gestattung seitens der sorgeberechtigten Eltern beteiligt werden30. Viertens: Nach überwiegender Auffassung wird mit dem kleinen Sorgerecht gem. §  1687b BGB bzw. §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG lediglich ein von dem (Allein-)Sorgerecht des Ehegatten oder Lebenspartners abgeleitetes akzessorisches Ausübungsrecht auf den Stiefelternteil übertragen, das jederzeit widerruf bar ist und mit dem Ende der elterlichen Sorge des allein sorgeberechtigten Elternteils oder dessen Tod endet 31.

2.  Umgangsrecht (§  1685 BGB) Großeltern und Geschwister haben ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient (§  1685 Abs.  1 BGB). Gleiches gilt nach §  1685 Abs.  2 S.  1 BGB für (andere) enge Bezugspersonen des Kindes, wenn diese für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben (sozial-familiäre Beziehung). Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung ist nach §  1685 Abs.  2 S.  2 BGB in der Regel anzunehmen, wenn die Person mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat. Zu den nach §  1685 Abs.  2 BGB umgangsberechtigten Personen gehören nicht nur der (auch geschiedene) Ehegatte und der (auch frühere) Lebenspartner eines Eltern-

27   B. Veit, FPR 2004, 67 (70); zu der Möglichkeit rechtsgeschäftlicher Einräumung von Sorgerechtsbefugnissen auch L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  8. 28   BT-Drs. 14/3751, S.  39. 29  BT-Drs. 14/3751, S.  39. Zu weiteren Beispielen der Angelegenheiten des täglichen Lebens D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (771) und R. Kemper, in: M. Bruns/R. Kemper (Hrsg.), Lebenspartnerschaftsrecht, Handkommentar, 2.  Aufl. 2006, §  9 Rn.  10. 30   D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  190. 31   S. näher unter IV. 2. b) bb) (2) (a).

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teils32, sondern auch (hetero- oder homosexuelle) faktische Stiefeltern33. Eine Umgangspflicht der engen Bezugsperson begründet §  1685 Abs.  2 BGB ebenso wenig34 wie ein Recht des Kindes auf Umgang mit der Bezugsperson35.

3.  Verbleibensanordnung (§§  1682, 1688 Abs.  4 BGB) Hat ein Kind längere Zeit in einem gemeinsamen Haushalt mit einem Elternteil und dessen Ehegatten gelebt und will der andere Elternteil, der nach den §§  1678, 1680, 1681 BGB den Aufenthalt des Kindes allein bestimmen kann, das Kind von dem Ehegatten wegnehmen, kann das Familiengericht anordnen, dass das Kind bei dem Ehegatten verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde (§  1682 S.  1 BGB). Diese Möglichkeit der Verbleibensanordnung besteht auch, wenn das Kind seit längerer Zeit in einem Haushalt mit einem Elternteil und dessen Lebenspartner oder einer nach §  1685 Abs.  1 BGB umgangsberechtigten volljährigen Person gelebt hat (§  1682 S.  2 BGB). Erlässt das Familiengericht eine Verbleibensanordnung zugunsten des Ehegatten, des Lebenspartners oder einer umgangsberechtigten volljährigen Person iSd §  1685 Abs.  1 BGB, hat diese Person eine Art alleiniges kleines Sorgerecht 36. Sie ist berechtigt, in Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes zu entscheiden und den Inhaber der elterlichen Sorge in solchen Angelegenheiten zu vertreten; hinzu kommt das Recht, den Arbeitsverdienst des Kindes zu verwalten sowie Unterhalts-, Versicherungs-, Versorgungs- und sonstige Sozialleistungen für das Kind geltend zu machen und zu verwalten (§  1688 Abs.  4 iVm Abs.  1 BGB). Faktische Stiefeltern, die mit einem Kind und dessen leiblichem Elternteil außerhalb einer Ehe oder einer eingetragenen Lebenspartnerschaft in einem Haushalt zusammenleben, sind nicht berechtigt, eine Verbleibensanordnung zu erwirken. Die §§  1682, 1688 Abs.  4 iVm Abs.  1 BGB sind auf Ehegatten und Lebenspartner leiblicher Eltern beschränkt 37. 32  Vgl. H. Hennemann, in: F. J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd.  8, 6.  Aufl. 2012, §  1685 Rn.  6 ; W. Schlüter, BGB – Familienrecht, 14.  Aufl. 2012, §  25 Rn.  411; T. Rauscher, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1685 Rn.  9c und e; H. Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.  Aufl. 2006, §  27 Rn.  15; S. Motzer, FamRB 2004, 231 (233); H. Tschernitschek/S.  C. Saar, Familienrecht, 4.  Aufl. 2008, Rn.  577. 33   H. Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.  Aufl. 2006, §  27 Rn.  15; N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (148); K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (920); T. Rauscher, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1685 Rn.  9d.; M. Wellenhofer, Familienrecht, 2.  Aufl. 2011, §  34 Rn.  30. 34   H. Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.  Aufl. 2006, §  27 Rn.  15; H. Tschernitschek/S.  C. Saar, Familienrecht, 4.  Aufl. 2008, Rn.  577. 35   T. Rauscher, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1685 Rn.  4 ; H. Tschernitschek/S.  C. Saar, Familienrecht, 4.  Aufl. 2008, Rn.  577; C. Campbell, NJW-Spezial 2011, 644 (645); H. Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.  Aufl. 2006, §  27 Rn.  15. 36   D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  256, die von einer „kleine(n) Alleinsorge“ spricht; vgl. auch J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  67 Rn.  12. 37   K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (921); N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die

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4.  Weitere Rechte und Pflichten der Stiefeltern Im Verhältnis zwischen echten Stiefeltern und Stief kind hat der Gesetzgeber eine Reihe weiterer Rechte und Pflichten vorgesehen. So gelten der Ehegatte bzw. der Lebenspartner eines Elternteils und sein Stief kind nach dem Gesetz als Verschwägerte (§  1590 BGB, §  11 Abs.  2 LPartG), womit sich gesetzliche Vorteile wie zum Beispiel Zeugnisverweigerungsrechte (s. §  51 Abs.  1 Nr.  3 StPO, §  383 Abs.  1 Nr.  3 ZPO) verbinden. Das Stief kind und der nichteheliche bzw. nichtlebenspartnerschaftliche Lebensgefährte seines Elternteils gelten hingegen nicht als Verschwägerte (s. §  1590 BGB, §  11 Abs.  2 LPartG)38 ; ihnen kommen die mit der Schwägerschaft verbundenen gesetzlichen Vergünstigungen daher nicht zugute. Leben ein (allein oder gemeinsam) sorgeberechtigter Elternteil und sein Ehegatte oder Lebenspartner, der nicht Elternteil des Kindes ist, in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Kind zusammen, können sie dem Kind durch Erklärung gegenüber dem Standesamt ihren Ehe- bzw. Lebenspartnerschaftsnamen erteilen (sog. Einbenennung, §  1618 S.  1 BGB, §  9 Abs.  5 LPartG). Ein solches Recht zur Einbenennung des Kindes steht faktischen Stiefeltern, die mit einem Kind und dessen sorgeberechtigtem Elternteil außerhalb einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft zusammenleben, nicht zu39. Ehegatten und Lebenspartnern eines Elternteils haben zudem die Möglichkeit der Stief kindadoption (§  1741 Abs.  2 S.  3 BGB, §  9 Abs.  7 LPartG). Andere Personen, die mit Eltern eines Kindes außerhalb einer Ehe oder Lebenspartnerschaft zusammenleben, können das Kind nicht adoptieren40. Sieht der Ehegatte oder Lebenspartner eines Elternteils von der Adoption seines Stief kindes ab, ist er dem Kind gesetzlich nicht zum Unterhalt verpflichtet. Ohne Adoption stehen dem Kind keine Unterhaltsansprüche gegen den Ehegatten bzw. Lebenspartner seines Elternteils zu; solche Unterhaltsansprüche folgen weder aus §§  1360, 1360a BGB noch aus §§  1601 ff. BGB41. Eine eng umgrenzte Ausnahme gilt für den Ausbildungsunterhalt des Kindes nach Maßgabe der §  1371 Abs.  4 BGB und §  6 S.  2 LPartG42. Im Verhältnis zwischen Stiefeltern und Stief kind bestehen ohne Adoption des Stief kindes auch weder gesetzliche Erbrechte noch Pflichtteilsansprüche43. Gesetzliche Unterhaltsansprüche und Erbrechte entstehen erst, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des leiblichen Elternteils sein Stief kind adoptiert (s.

Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (147); anderer Ansicht wohl D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  254 f. 38   D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  91. 39   D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  248. 40   N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (148); M. Wellenhofer, Familienrecht, 2.  Aufl. 2011, §  34 Rn.  30. 41  Näher D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  268 f.; K. Muscheler, StAZ 2006, 189 (194); S. Kremer, Das Stief kind im Unterhaltsrecht, 2000, S.  33, 39 f. 42  Hierzu H.-H. Rotax, in: H.-H. Rotax (Hrsg.), Praxis des Familienrechts, 3.  Aufl. 2007, S.  467 Rn.  413; K. Muscheler, StAZ 2006, 189 (194); S. Kremer, Das Stief kind im Unterhaltsrecht, 2000, S.  37. 43   Hierzu näher D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  274 f.; K. Muscheler, StAZ 2006, 189 (194).

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§  1741 Abs.  2 S.  3 BGB, §  9 Abs.  7 LPartG)44. Erbschafts- und Schenkungssteuerrechtlich kommen Stief kindern echter Stiefeltern allerdings selbst ohne Adoptivkindstatus in den Genuss der auch für leibliche Kinder geltenden Steuerklasse I (§  15 I Nr.  2, §  16 ErbStG). Im Verhältnis zwischen faktischen Stiefeltern und Stief kind bestehen weder gesetzliche Unterhaltspflichten noch Erb- oder Pflichtteilsrechte45. Die für Stief kinder echter Stiefeltern (und für leibliche Kinder) im Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht geltende Steuerklasse I kommt Stief kindern faktischer Stiefeltern nicht zugute (s. §  15 Abs.  1 Nr.  2, §  16 ErbStG)46.

III.  Erstreckung des kleinen Sorgerechts gem. §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG auf faktische Stiefeltern Der Gesetzgeber hat echten Stiefeltern, die mit dem leiblichen Elternteil des Kindes verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, mit dem kleinen Sorgerecht in §  1687b BGB bzw. §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG familienrechtliche Befugnisse eingeräumt, die faktischen Stiefeltern nicht zugutekommen. Faktische Stiefeltern, die mit dem leiblichen Elternteil des Kindes ohne Ehe oder Lebenspartnerschaft zusammenleben, haben mit Ausnahme des Umgangsrechts (s. §  1685 Abs.  2 BGB) keine familienrechtlichen Befugnisse gegenüber ihrem Stief kind. Diese hinkende Rechtslage zulasten faktischer Stiefeltern wirft die Frage auf, ob der Gesetzgeber ein kleines Sorgerecht auch zu ihren Gunsten vorsehen muss, etwa indem er den personellen Anwendungsbereich der §  1687b Abs.  1 BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG entsprechend erweitert. Eine Erstreckung der Regelungen der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG auf faktische Stiefeltern erscheint nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern unter dem Gesichtspunkt des allgemeines Gleichheitssatzes sogar geboten. Soziale Eltern, die mit einem Kind und dessen leiblichem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben und tatsächlich sowie rechtlich Pflege- und Erziehungsverantwortung für das Kind tragen, ohne leiblicher oder gesetzlicher Elternteil des Kindes zu sein, bilden eine Familie iSd Art.  6 Abs.  1 GG. Die Lebens- und Erziehungsgemeinschaft aus Kind, leiblichem Elternteil und dessen Ehe- oder Lebenspartner, die der Gesetzgeber durch Zuweisung von Sorgerechtsbefugnissen (s. §  1687b BGB, §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG) rechtlich anerkannt hat, ist eine durch Art.  6 Abs.  1 GG geschützte Familie47. Die Gemeinschaft aus sozialen Eltern und Kind, die der Gesetzgeber rechtlich nicht (durch Zuweisung von Sorgerechtsbefugnissen) konkre-

44  Näher L. M. Peschel-Gutzeit, FPR 2004, 47 (50); D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  274 f. 45  Näher H. Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.  Aufl. 2006, §  28 Rn.  75; N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (148). 46  Näher H. Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 4.  Aufl. 2006, §  28 Rn.  75. 47   Vgl. bezogen auf die sozial-familiäre Gemeinschaft von Kind, leiblichem Elternteil und eingetragenem Lebenspartner BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  60 ff.

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tisiert und anerkannt hat, begründet dagegen keine Familiengemeinschaft iSd Art.  6 Abs.  1 GG. Erkennt der Gesetzgeber nichtelterlichen Personen sorgerechtliche Befugnisse für ein Kind zu, muss er Personen mit gleichem Näheverhältnis zum Kind gem. Art.  3 Abs.  1 GG gleich behandeln. Echte und faktische Stiefeltern, die beide Pflege- und Erziehungsverantwortung für ein Kind übernommen haben und gleiche personelle und soziale Bindungen zum Kind haben, sind bei der Gewährung sorgerechtlicher Befugnisse und insofern bei der rechtlichen Anerkennung als Familie gleich zu behandeln. Ob die Beziehung zwischen dem leiblichen Elternteil des Kindes und seinem Partner durch eine Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft formalisiert ist oder ob der leibliche und der soziale Elternteil außerhalb einer Ehe bzw. Lebenspartnerschaft zusammenleben, ist für das Kindeswohl und entsprechend für die Wahrnehmung familiärer Verantwortung grundsätzlich unerheblich. Das Bestehen einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft zwischen dem leiblichen und dem sozialen Elternteil kann dem Gesetzgeber zwar als zulässiger Anknüpfungspunkt für die Einräumung sorgerechtlicher Befugnisse zugunsten des Ehe- oder Lebenspartners dienen. Der Gesetzgeber ist aber unter Gleichheitsgesichtspunkten gehalten, anderen sozialen Eltern mit einer vergleichbaren sozial-familiären Beziehung zum Kind gleiche Befugnisse einzuräumen. Erkennt der Gesetzgeber nichtelterlichen Personen kindbezogene Rechte zu, muss er soziale Eltern mit gleichem Näheverhältnis zum Kind gleich behandeln. Eine Diskriminierung faktischer Stiefeltern gegenüber Ehegatten und Lebenspartnern des Elternteils (echte Stiefeltern), die jeweils gleiche Nähebeziehungen zum Kind haben, ist sub specie des Gleichheitssatzes des Art.  3 Abs.  1 GG nicht zu rechtfertigen. Entsprechend lässt sich eine Ungleichbehandlung der betroffenen Kinder faktischer Stiefeltern im Verhältnis zu Kindern echter Stiefeltern nicht legitimieren. Aus diesem Grund ist das kleine Sorgerecht der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG auf faktische Stiefeltern, die in einer sozial-familiären Beziehung mit dem leiblichen Elternteil und seinem Kind leben, welche dem Näheverhältnis zwischen leiblichem Elternteil, seinem Ehe- oder Lebenspartner und Kind vergleichbar ist, zu erstrecken48. Darüber hinaus muss faktischen Stiefeltern auch die Möglichkeit eingeräumt werden, eine Verbleibensanordnung zu erwirken, wenn sie mit einem Kind und dessen leiblichem Elternteil längere Zeit in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben und der andere leibliche Elternteil, der nach den §§  1678, 1680, 1681 BGB den Aufenthalt des Kindes allein bestimmen kann, das Kind wegnehmen will (s. §§  1682, 1688 Abs.  4 iVm Abs.  1 BGB)49. Darüber hinaus sind faktische und echte Stiefeltern 48   Für eine gesetzliche Erweiterung der §  1687b BGB, §  9 LPartG auf faktische Stiefeltern A. Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, 2005, S.  74 f.; R. Kemper, FF 2001, 156 (161 f.); D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  331 ff.; anderer Ansicht M. Löhnig/A. Gietl/M. Preisner, Das Recht des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern, 3.  Aufl. 2010, S.  84; zweifelnd auch M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (159 f.); M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158); B. Veit, FPR 2004, 67 (70). 49  Für die Einbeziehung faktischer Stiefeltern in §§  1682, 1688 Abs.  4 iVm Abs.  1 BGB auch M. Wellenhofer, AnwBl 2008, 559 (564); M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158); für die Erstreckung der §§  1682, 1688 IV, I BGB auf Bezugspersonen iSd §  1685 BGB K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (921); D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  254 f.

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bei dem Anspruch auf staatliche Familienleistungen gleich zu behandeln (z. B. im Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht, s. §  15 Abs.  1 Nr.  2, §  16 ErbStG; bei der Gewährung von Kindergeld, s. §§  63 Abs.  1 S.  1 Nr.  2 EStG; bei der Übertragung steuerlicher Kinderfreibeträge, s. §  32 Abs.  6 S.  6 und 10 EStG; beim Anspruch auf Elterngeld, s. §  1 Abs.  3 S.  1 Nr.  2 BEEG; und bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, s. §  3 S.  1 Nr.  1 iVm. §  56 Abs.  1 S.  2 SGB VI, §  56 Abs.  1 S. Nr.  3, Abs.  3 Nr.  2 SGB I). Problematisch ist insoweit allerdings, unter welchen Voraussetzungen zwischen sozialen Eltern, die weder mit dem leiblichen Elternteil des Kindes verheiratet sind noch mit ihm in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, und dem Kind eine vergleichbare sozial-familiäre Beziehung besteht wie zwischen dem Ehegatten oder Lebenspartner des Elternteils und dem Kind. Der Gesetzgeber ist gem. Art.  3 Abs.  1 GG zur Gleichbehandlung echter und faktischer Stiefeltern nur verpflichtet, wenn die sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind vergleichbar ausgeprägt ist. Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ist das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zumindest für die Zuweisung elterlicher Verantwortung iSd Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG sogar erforderlich, damit der Gesetzgeber sozialen Eltern überhaupt elterliche Rechte einräumen darf 50. Unter welchen Voraussetzungen eine sozial-familiäre Beziehung zwischen einem Kind und Personen besteht, von denen es nicht abstammt, ist bislang nicht geklärt. Ein feststehender Kriterienkatalog, das Kriterium oder die Kriterien zur Ermittlung einer sozial-familiären Beziehung, existieren nicht51. Im Schrifttum wird die Anerkennung sozialer Elternschaft zum Teil an die Voraussetzung geknüpft, dass eine Person tatsächlich langfristig Verantwortung für ein Kind übernimmt, ohne dass sie leiblicher oder (durch Adoption) gesetzlicher Elternteil des Kindes ist52. Inhaltlich ähnlich wird von anderen darauf abgehoben, ob eine Person mit einem Elternteil und seinem Kind über längere Zeit zusammengelebt hat53. Nach anderer Ansicht ist das Bestehen einer engen emotionalen elternähnlichen Beziehung zwischen dem sozialen Elternteil und dem Kind maßgeblich54, wofür das Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft ein Indiz sein könne55. Einen anderen Standpunkt vertritt, wer 50   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  59: Die „soziale und personale Verbundenheit zwischen Eltern und Kind (ist) Voraussetzung dafür .  .  ., entsprechend dem Elternrecht Verantwortung für das Kind tragen zu können (vgl. BVerfGE 108, 82 [106] m. w. N.).“ 51   D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  377. 52  So C. Campbell, NJW-Spezial 2011, 644. 53   R. Kemper, FF 2001, 156 (162). 54  Vgl. D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  332, 341 f. Ähnlich bezogen auf ein großes Sorgerecht für faktische Stiefeltern D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  328, die im Ergebnis für eine umfassende Betrachtung möglichst vieler Indizien im Einzelfall plädiert, zu denen neben einer Ehe oder Lebenspartnerschaft das Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft, der Umfang der Beteiligung des faktischen Stiefelternteils am Kindesunterhalt, die Einbenennung des Kindes, die Dauer der Paarbeziehung, die Dauer der bisherigen Betreuung des Kindes durch den faktischen Stiefelternteil und der Wille des Kindes gehören könnten. 55  Vgl. D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  332, 341 f. Auf das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft stellt auch N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (150) ab, allerdings bezogen auf die Einräumung eines über §  1687b BGB, §  9 LPartG hinausgehenden großen Sorgerechts zugunsten faktischer Stiefeltern.

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die Einbeziehung sozialer Eltern in das kleine Sorgerecht nach §  1687b BGB, §  9 Abs.   1 bis 4 LPartG an die Bedingung einer gerichtlichen Kindeswohlprüfung knüpft56. Letztlich dürfte dem Gesetzgeber bei der Regelung, unter welchen Voraussetzungen zwischen einem Kind und nichtelterlichen Personen eine sozial-familiäre Beziehung besteht, ein weiter Gestaltungsspielraum zukommen. Der Gesetzgeber könnte zum Beispiel die Entstehung des kleinen Sorgerechts nach §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG für (echte und faktische) Stiefeltern generell von einer gerichtlichen Prüfung abhängig machen, ob zwischen dem Kind und dem Stiefelternteil eine personelle und soziale Verbundenheit besteht. Alternativ kann der Gesetzgeber das kleine Sorgerecht an die Voraussetzung knüpfen, dass eine Person tatsächlich Pflege- und Erziehungsverantwortung für ein Kind trägt, was nur bei einem Streit hierüber im Einzelfall auf Antrag gerichtlich zu überprüfen wäre. Insofern könnte der Gesetzgeber die §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG beispielsweise um eine Regelung ergänzen, die sich an den tatbestandlichen Voraussetzungen des Umgangsrechts enger Bezugspersonen des Kindes nach §  1685 Abs.  2 BGB orientiert. Der Gesetzgeber könnte das kleine Sorgerecht nach §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG auf faktische Stiefeltern unter der Bedingung erstrecken, dass sie „enge Bezugspersonen des Kindes sind, die für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen (sozial-familiäre Beziehung)“ und die Übernahme tatsächlicher Verantwortung in der Regel dann annehmen, „wenn die Person mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat“ (vgl. §  1685 Abs.  2 BGB) 57.

IV.  Gesetzliche Regelung eines unwiderruflichen großen Sorgerechts sozialer Eltern Die Zunahme der Zahl sozialer Eltern und das in der Praxis bestehende Bedürfnis, die Beziehungen zwischen sozialen Eltern und Kindern stärker als bislang rechtlich abzusichern58, wirft die Frage auf, ob der Gesetzgeber sozialen Eltern (echten und faktischen Stiefeltern) über das kleine Sorgerecht iSd §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG hinausgehende Sorgerechtsbefugnisse einräumen darf. Ein großes Sorgerecht sozialer Eltern ließe sich statuieren, indem der sachlich-inhaltliche Regelungsbereich der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG auf Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind erweitert würde. Das Sorgerecht könnte den so­ zia­len Eltern dabei entweder widerruflich oder unwiderruflich übertragen werden. Ein solches umfassendes (Mit-)Sorgerecht sozialer Eltern setzte voraus, dass es mit dem grundgesetzlichen Schutz des Elternrechts (Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG) vereinbar ist. Zweifel hieran können namentlich bei einem unwiderruflichen (Mit-)Sorgerecht sozialer Eltern bestehen, weil es das Elternrecht der leiblichen Eltern einschränkt. 56   A. Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, 2005, S.  75. Ebenso bezogen auf die Einräumung eines großen Sorgerechts zugunsten faktischer Stiefeltern N.  D ethloff, NJW 1992, 2200 (2203). 57   Als Richtschnur für ein Zusammenleben über längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft werden im Rahmen des §  1685 Abs.  2 BGB sechs Monate genannt, s. C. Campbell, NJW-Spezial 2011, 644; H. Tschernitschek/S.  C. Saar, Familienrecht, 4.  Aufl. 2008, Rn.  577. 58   S. oben bei Fn.  18.

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1.  Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern: Fremdnütziges Grundrecht und Grundpflicht der leiblichen Eltern (Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG) a)  Träger des Elterngrundrechts Die Pflege und Erziehung der Kinder obliegt als natürliches Recht und zuvörderst ihnen obliegende Pflicht den Eltern (Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG). Träger des Grundrechts und der korrespondierenden Grundpflicht zur Pflege und Erziehung des Kindes sind primär die leiblichen Eltern; mit der Bezeichnung „natürliches Recht“ bringt Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG zum Ausdruck, dass es sich um eine natürliche Freiheit der leiblichen Eltern handelt, denen bei der Pflege und Erziehung des Kindes Vorrang gegenüber anderen zukommt59. Die Zuweisung der Verantwortung für das Kind an die leiblichen Eltern stützt sich auf die Annahme, dass „diejenigen, die einem Kinde das Leben geben, von Natur aus bereit und berufen sind, die Verantwortung für seine Pflege und Erziehung zu übernehmen“60, und daher dem Wohl des Kindes am besten dienen61. Das Elternrecht und die korrespondierende Elternpflicht der leiblichen Eltern nehmen an dem durch die Institutsgarantie des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gesicherten Kernbereich teil. Weist der Gesetzgeber Dritten, von denen das Kind nicht abstammt, die rechtliche Elternschaft zu (z. B. durch Adoption), sind auch diese Eltern im verfassungsrechtlichen Sinne62. Soziale Eltern ohne einfachgesetzlich begründete Elternverantwortung sind keine Eltern iSd Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG; dies gilt auch dann, wenn sie mit dem Kind und dessen leiblichem Elternteil in einer sozial-familiären Gemeinschaft leben63.

b)  Grundrecht und Grundpflicht der Eltern im Interesse des Kindes Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gewährleistet mit den Worten, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind, ein Grundrecht und eine korrespondierende (Grund-)Pflicht der leiblichen Eltern. Die Eltern sind zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Art.  6 Abs.  2 Satz 1 GG schließt ein Elternrecht ohne Pflichtentragung gegenüber dem Kind aus. Mit dem Elternrecht ist von vornherein als dessen wesensbestimmender Bestandteil die Pflicht zur Pflege und Erziehung des Kindes verbunden“64. Die 59   BVerfGE 59, 360 (376); 79, 256 (267); 108, 82 (100); M. Burgi, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2007, Art.  6 Rn.  81; U. Steiner, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.  IV/I, 2011, §  109 Rn.  9; F. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd.  I, 3.  Aufl. 2013, Art.  6 Rn.  148. 60   BVerfGE 24, 119 (150); 108, 82 (100). 61   Vgl. BVerfGE 56, 363 (395); 59, 360 (376); 60, 79 (94); 61, 358 (371); 75, 201 (219). 62   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  48. 63   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  57, 59 f.; vgl. auch D. Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd.  I, 6.  Aufl. 2012, Art.  6 Rn.  70. 64   BVerfGE 108, 82 (101); s. auch BVerfGE 24, 119 (143); 52, 223 (235); 61, 358 (372); 68, 176 (190); 103, 89 (107); 121, 69 (92).

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im Grundgesetz nahezu einzigartige65 Kombination aus Grundrecht und -pflicht der Eltern beruht darauf, dass Kinder der Fürsorge und Anleitung Dritter bedürfen, um sich körperlich, geistig und seelisch entwickeln zu können66. Verfassungsdogmatisch ist die Pflege- und Erziehungspflicht keine Schranke, sondern eine tatbestandsimmanente Begrenzung des Elternrechts67. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG statuiert die Pflege und Erziehung des Kindes dabei zwar als eigenes Grundrecht und korrespondierende Pflicht der Eltern, stellt sie aber inhaltlich in den Dienst des Kindeswohls. Das Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern ist ein fremdnütziges Recht68, welches im Interesse der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gewährleistet ist69. Dem Kind steht aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG70 bzw. aus Art.  2 Abs.  1 iVm Art.  1 Abs.  1 GG71 ein korrespondierendes Grundrecht auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern zu.

c)  Schranken des Elternrechts: Wächter- und Trennungsamt des Staates (Art.  6 Abs.  2 S.  2 und Abs.  3 GG) Das durch die Institutsgarantie des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gesicherte Pflege- und Erziehungsrecht sowie die korrespondierende -pflicht der leiblichen Eltern ist Zugriffen des Gesetzgebers grundsätzlich entzogen. Den leiblichen Eltern gebührt bei der Wahrnehmung der Pflege- und Erziehungsverantwortung grundsätzlich Vorrang gegenüber Dritten wie sozialen Eltern, der gegen ihren Willen allein unter den Voraussetzungen des Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG (staatliches Wächteramt) oder des Art.  6 Abs.  3 GG (staatliches Trennungsamt) angetastet werden darf. Der Staat wird bei der Ausübung seines Wächteramtes ebenso wie seines Trennungsamtes ausschließlich in Situationen tätig, in denen sich die Eltern auf den Schutz des Grundrechts aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG nicht berufen können, weil sie ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden. Gem. Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG darf der Staat das Pflege- und Erziehungsrecht leiblicher Eltern gegen ihren Willen beschränken, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungspflicht aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG nicht gerecht werden und dadurch das Kindeswohl gefährden. Das Handeln der Eltern darf auch bei „weitester Anerkennung (ihrer) Selbstverantwort65  Vgl. A. Uhle, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2009, Art.  6 Rn.  46. 66   Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 24, 119 (144); 121, 69 (92 f.). 67   Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Pflege- und Erziehungspflicht einen „wesensbestimmenden Bestandteil des Elternrechts“, s. BVerfGE 10, 59 (76 ff.); 24, 119 (143); 56, 363 (382); a. A. C. von Coelln, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2011, Art.  6 Rn.  53, der die Pflicht zur Pflege und Erziehung als verfassungsunmittelbare Schranke einordnet. 68   BVerfGE 59, 360 (377); 61, 358 (372); 84, 168 (180); P. Badura, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2002, Art.  6 Abs.  2 , 3 Rn.  94, 109; A. Uhle, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2009, Art.  6 Rn.  46. 69   Ebenso BVerfGE 103, 89 (107); 121, 69 (92); F. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd.  I, 3.  Aufl. 2013, Art.  6 Rn.  142. 70   So BVerfGE 121, 69 (93); 56, 363 (381); 68, 256 (269); anders noch BVerfGE 28, 104 (112). 71   F. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd.  I, 3.  Aufl. 2013, Art.  6 Rn.  152 f.

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lichkeit .  .  . (nicht mehr) als Pflege und Erziehung gewertet werden“ können72, sondern muss sich als Versagen oder Missbrauch des Elternrechts darstellen73, so dass der Schutz des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG nicht eingreift. Art.  6 Abs.  3 GG gestattet dem Staat, das Kind von seinen Eltern zu trennen, wenn es infolge eines Versagens der Erziehungsberechtigten oder aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht.

2.  Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern: Verfassungsrechtliche Bedingungen und Grenzen der Übertragbarkeit Ob und unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber sozialen Eltern Pflegeund Erziehungsbefugnisse für ein Kind einräumen darf, ist ungeklärt. Die Antwort auf diese Frage bemisst sich zum einen danach, ob die Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen mit dem oder gegen den Willen der leiblichen Eltern erfolgt. Zum anderen ist maßgeblich, ob das Sorgerecht widerruflich oder unwiderruflich übertragen wird.

a)  Staatliche Übertragung des Sorgerechts auf soziale Eltern gegen den Willen der leiblichen Eltern Gegen den Willen der leiblichen Eltern darf der Gesetzgeber das Sorgerecht für das Kind nur dann (ganz oder teilweise) auf Dritte wie soziale Eltern übertragen, wenn die leiblichen Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden und dadurch das Wohlergehen ihres Kindes gefährden (Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG) oder das Kind gar zu verwahrlosen droht (Art.  6 Abs.  3 GG). Diese Voraussetzungen des Art.  6 Abs.  2 S.  2 bzw. Abs.  3 GG gelten sowohl für die widerrufliche als auch für die unwiderrufliche Übertragung von Sorge- und Umgangsrechtsbefugnissen auf Dritte und kommen unabhängig davon zum Tragen, ob sozialen Eltern lediglich die Befugnis zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes oder auch in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind zustehen soll.

b)  Freiwillige Übertragung des Sorgerechts auf soziale Eltern durch die leiblichen Eltern: Unzulässiger Verzicht oder zulässige Ausübung des Elternrechts? Ob und unter welchen Voraussetzungen die leiblichen Eltern Dritten freiwillig Sorgerechtsbefugnisse für ihr Kind übertragen dürfen und der Gesetzgeber eine entsprechende gesetzliche Ermächtigung vorsehen darf, ist ungeklärt. Liegt darin ein unzulässiger Verzicht auf das verfassungsrechtliche Elternrecht und die korrespondierende Elternpflicht oder eine zulässige Ausübung des Elternrechts?

  BVerfGE 24, 119 (143).   C. von Coelln, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2011, Art.  6 Rn.  77.

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aa)  Freiwillige Übertragung des Sorgerechts unter den Voraussetzungen des Art.  6 Abs.  2 S.  2, Abs.  3 GG Die leiblichen Eltern dürfen ihr Sorgerecht, das einen wesentlichen Bestandteil ihres Elternrechts bildet, zumindest dann (ggf. nach Prüfung und Entscheidung des Familiengerichts) ganz oder teilweise von sich aus auf Dritte übertragen, wenn von der Pflege und Erziehung des Kindes durch die Eltern Gefahren für die Entwicklung des Kindes ausgehen. Dies ergibt sich aus Art.  6 Abs.  2 S.  2 und Abs.  3 GG, wonach der Staat sogar gegen den Willen der Eltern berechtigt und verpflichtet ist, die Pflege und Erziehung des Kindes anstelle der Eltern sicherzustellen, wenn diese ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung gem. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG nicht gerecht werden und dadurch die Entwicklung ihres Kindes gefährden. Der Staat muss bei einer Gefährdung der Kindesentwicklung durch die Eltern in das elterliche Pflege- und Erziehungsrecht eingreifen und die Pflege und Erziehung des Kindes durch private Dritte wie z. B. Adoptiv- oder Pflegeeltern oder (subsidiär) durch eigene staatliche Einrichtungen und Organe sicherstellen. Ist der Staat bei Gefährdungen des Kindeswohls berechtigt und verpflichtet, das Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern gem. Art.  6 Abs.  2 S.  2 oder Abs.  3 GG zu beschränken, erscheint „erst Recht“ der willentliche Verzicht der Eltern auf ihr Elternrecht und die freiwillige Übertragung ihres Sorgerechts auf Dritte mit Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG vereinbar. Kommen die Eltern der Wahrnehmung des Wächter- oder Trennungsamtes durch den Staat zuvor und überlassen sie die Pflege- und Erziehung ihres Kindes freiwillig Dritten – etwa indem sie in eine Adoption einwilligen oder der Überweisung ihres Kindes in eine Pflegefamilie oder zu sozialen Eltern zustimmen –, verstoßen sie nicht gegen ihre Elternpflicht aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG, sondern werden ihrer Elternpflicht im Gegenteil gerecht bzw. ist ihr Handeln durch Art.  6 Abs.  2 S.  2 oder Abs.  3 GG „gerechtfertigt“.

bb)  Freiwillige Übertragung des Sorgerechts ohne Gefährdung des Kindeswohls Schwieriger zu beantworten ist, ob die leiblichen Eltern auf ihr Sorgerecht auch dann ganz oder teilweise verzichten dürfen, wenn von ihnen keine Gefahren für das Wohl ihres Kindes ausgehen. Dürfen leibliche Eltern „im Alltag“ Dritte mit der Wahrnehmung von Pflege- und Erziehungsbefugnissen für ihr Kind betrauen und wie weit darf diese Betrauung inhaltlich reichen? Insoweit ist zu differenzieren zwischen der widerruflichen und der unwiderruflichen Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen, die sich auf Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens und auf Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind beziehen können.

(1)  Widerrufliche Übertragung des Sorgerechts auf soziale Eltern Die freiwillige Übertragung sorgerechtlicher Befugnisse der leiblichen Eltern auf Dritte ist mit dem verfassungsrechtlichen Elternrecht und der korrespondierenden Elternpflicht aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG vereinbar, wenn die Befugnisse lediglich zeitweise widerruflich zur Ausübung übertragen werden.

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Den leiblichen Eltern obliegt gem. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG ein Grundrecht und eine korrespondierende (Grund-)Pflicht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Als fremdnütziges Recht im Interesse des Kindeswohls ist das Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern nicht verzichtbar. Die Eltern kommen ihrer Pflege- und Erziehungspflicht nach allgemeiner Ansicht nicht nach, wenn sie auf die Wahrnehmung ihres verfassungsrechtlichen Elternrechts und entsprechend auf das zivilrechtlich ausgeformte Sorge- oder Umgangsrecht, die Ausfluss der Elternverantwortung aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG sind, verzichten74. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gewährt keine negative grundrechtliche Freiheit, das Elternrecht nicht auszuüben75 und auf das Sorge- oder Umgangsrecht76 zu verzichten. Vereinbarungen zwischen Eltern und Dritten, die einen Verzicht der Eltern auf ihr Sorge- oder Umgangsrecht beinhalten, sind unwirksam77. Die gesetzliche Verpflichtung der Eltern zum Umgang mit ihrem Kind (§  1684 Abs.  1 BGB) stellt sich als „zulässige Konkretisierung der den Eltern grundrechtlich zugewiesenen Verantwortung für ihr Kind“ dar78. Hiervon zu unterscheiden ist die zeitweise Übertragung von Sorge- oder Umgangsrechtsbefugnissen durch die leiblichen Eltern auf Dritte, welche das Sorge- und Umgangsrecht der Eltern unangetastet lässt und von den Eltern jederzeit beendet werden kann. Das Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern umfasst die Befugnis zu entscheiden, ob und welche anderen Personen in die Kinderpflege und -erziehung eingebunden werden sollen79. Die vorübergehende Übertragung einzelner Pflegeund Erziehungsbefugnisse auf nichtelterliche Personen begründet keinen Verzicht auf das Elternrecht, sondern stellt sich als Ausübung des Elternrechts dar80. 74   BGH, NJW 1984, 1951 (1952); FamRZ 1986, 444; BayOLGZ 9, 433 (440); 33, 408; N.  D ethloff, in: H. Grziwotz (Hrsg.), Notarielle Gestaltung bei geänderten Familienstrukturen, 2012, S.  7 (15); D. Coester-Waltjen, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2012, Art.  6 Rn.  82; B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1545); D. Schwab, Familienrecht, 20.  Aufl. 2012, §  60 Rn.  689; L. Peschel-Gutzeit, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: April 2007, §  1626 Rn.  24 f.; H.-H. Rotax, in: H.-H. Rotax (Hrsg.), Praxis des Familienrechts, 3.  Aufl. 2007, S.  488 Rn.  500; S. Hammer, FamRZ 2005, 1209 (1211); M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161); T. Rauscher, Familienrecht, 2.  Aufl. 2008, §  33 Rn.  955; M. Lipp, Elternschaft, „sozial-familiäre Beziehung“ und „Bindungsperson“, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  121 (126); D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  203; H. Tschernitschek/S.  C. Saar, Familienrecht, 4.  Aufl. 2008, Rn.  530. 75   S. nur BVerfGE 24, 119 (143); A. Uhle, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2009, Art.  6 Rn.  46. 76  BVerfGE 121, 69 (92 ff.); W. Thalmann/G. May/S. A. Benner, Praktikum des Familienrechts, 5.  Aufl. 2006, Rn.  275. Unzulässig ist auch ein Verzicht auf Unterhaltspflichten, die ebenfalls Ausdruck der verfassungsrechtlichen Elternverantwortung sind, vgl. BGH, FamRZ 1984, 788; L. Peschel-Gutzeit, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: April 2007, §  1626 Rn.  25. 77   BGH, FamRZ 1984, 778; FamRZ 1986, 444; H.-H. Rotax, in: H.-H. Rotax (Hrsg.), Praxis des Familienrechts, 3.  Aufl. 2007, S.  4 04 Rn.  151. 78   BVerfGE 121, 69 (92). 79   Vgl. BVerfGE 24, 119 (143); 99, 216 (231 f.); 103, 89 (107); 105, 313 (354); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  I V/1, 2006, S.  523. 80   Vgl. nur BVerfGE 105, 313 (354): „Dabei umfasst der Schutzbereich des Elternrechts grundsätzlich auch die Entscheidung darüber, wer Kontakt mit dem Kind hat und wem durch Übertragung von Entscheidungsbefugnissen Einfluss auf die Erziehung des Kindes zugestanden wird“; BVerfGE 99, 216

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Übertragen Eltern sorgerechtliche Befugnisse zeitweise widerruflich auf Dritte, etwa auf faktische Stiefeltern, Verwandte, Freunde oder Kindergärtner, liegt darin kein unzulässiger Verzicht auf ihr Elternrecht, sondern eine zulässige Ausübung ihres Elternrechts81. Eine vorübergehende, einseitig beendbare Übertragung der Kinderpflege und -erziehung auf Dritte sichert den leiblichen Eltern jederzeitigen Einfluss auf die Pflege und Erziehung und lässt ihr alleiniges Entscheidungsrecht unberührt. Die leiblichen Eltern übertragen in diesem Fall zwar die „Erfüllung“ der Pflege und Erziehung ihres Kindes auf Dritte, behalten aber die „Gewährleistungsverantwortung“ in den Händen. Sie können die Wahrnehmung der Pflege und Erziehung ihres Kindes durch den Dritten kontrollieren und bei Missfallen jederzeit einseitig beenden. Solange und soweit Eltern die Ausübung von Sorgerechtsbefugnissen durch Dritte kontrollieren und jederzeit beenden können, werden sie ihrer verfassungsrechtlichen Elternpflicht gerecht. Den leiblichen Eltern obliegt nach Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG keine (durchgängige) eigenhändige Erfüllungspflicht, sondern lediglich eine Gewährleistungspflicht dafür, dass die mit der Ausübung der Kinderpflege und -erziehung betrauten Dritten sorgfältig ausgewählt sind und ihrer Verpflichtung ordnungsgemäß, d. h. ohne Gefährdung des Kindeswohls (arg. e. Art.  6 Abs.  2 S.  2, Abs.  3 GG) nachkommen82. Das Elternrecht der leiblichen Eltern wird insofern nicht (ganz oder teilweise) auf Dritte übertragen; diese erhalten keine eigenständige, unabgeleitete Elternposition, sondern lediglich ein von dem Elternrecht der leiblichen Eltern abhängiges, akzessorisches Ausübungsrecht. Der Dritte wird nicht – zumindest nicht uneingeschränkt – Träger des verfassungsrechtlichen Elternrechts und der korrespondierenden -pflicht (Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG) 83, sondern ist lediglich Ausübungsberechtigter. Das verfassungsrechtliche Elternrecht und die -pflicht der leiblichen Eltern werden nicht beschnitten. Vielmehr ändern die Eltern lediglich die Modalitäten der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für das Kind, nämlich von der eigenhändigen Erfüllung zur sorgfältigen Auswahl und Kontrolle Dritter, die die Pflege und (232); 103, 89 (107); BayOLGZ 9, 433 (440); 33, 408; D. Schwab, Familienrecht, 20.  Aufl. 2012, §  60 Rn.  689; D. Coester-Waltjen, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2012, Art.  6 Rn.  82; C. von Coelln, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2011, Art.  6 Rn.  65 Fn.  484; B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1545); L. Peschel-Gutzeit, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: April 2007, §  1626 Rn.  28 f.; T. Rauscher, Familienrecht, 2.  Aufl. 2008, §  33 Rn.  955; H. Tschernitschek/S.  C. Saar, Familienrecht, 4.  Aufl. 2008, Rn.  530; N.  D eth­ loff, in: H. Grziwotz (Hrsg.), Notarielle Gestaltung bei geänderten Familienstrukturen, 2012, S.  7 (15). 81  Ähnlich M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 1995, Art.  6 Abs.  2 und 3 Rn.  131. 82   Vgl. bezogen auf die Erteilung einer widerruflichen Sorgevollmacht B. Hoffmann, ZKJ 2009, 156 (161). 83   Ob für die Entstehung verfassungsrechtlicher Elternverantwortung iSd Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG die gesetzliche Zuweisung umfassender und unabgeleiteter, d. h. grds. unwiderruflicher Sorge- und Umgangsrechtsbefugnisse erforderlich ist (in diese Richtung deutet BVerfG 1 BvL 1/11 vom 19.  2 . 2013, Rn.  47 ff.) oder ob auch partielle und widerrufliche Sorgerechtsbefugnisse zumindest für ein Elternrecht „minderen Ranges“ genügen, ist ungeklärt. Gegen die Einbeziehung von Stiefeltern in den Schutzbereich des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG D. Coester-Waltjen, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2012, Art.  6 Rn.  74; H. D. Jarass, in: H. D. Jarass/B. Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 12.  Aufl. 2012, Art.  6 Rn.  41; M. Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 1995, Art.  6 Abs.  2 und 3 Rn.  82; A. Uhle, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2009, Art.  6 Rn.  57.

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Erziehung des Kindes übernehmen. Unter diesen Voraussetzungen stellt die Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen der leiblichen auf soziale Eltern keinen unzulässigen Verzicht auf das verfassungsrechtliche Elternrecht und die damit verknüpfte Elternpflicht dar, sondern eine zulässige Form der Ausübung des Pflege- und Erziehungsrechts sowie der korrespondierenden -pflicht. Hieraus folgt, dass die §  1687b Abs.  1 BGB, §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG, die dem Ehegatten bzw. dem Lebenspartner eines allein sorgeberechtigten Elternteils die akzessorische und widerrufliche Befugnis zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes zur Ausübung einräumen84, mit dem verfassungsrechtlichen Elternrecht der leiblichen Eltern in Einklang stehen85. Unter dem Gesichtspunkt des allgemeines Gleichheitssatzes (Art.  3 Abs.  1 GG) erscheint allerdings eine Erstreckung dieser Vorschriften auf faktische Stiefeltern86 sowie auf Konstellationen, in denen die leiblichen Eltern gemeinsam sorgeberechtigt sind87, geboten. Über eine widerrufliche Ausübungsbefugnis sozialer Eltern in Angelegenheiten des täglichen Lebens hinaus (s. §  1687b Abs.  1 BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG) dürfte auch eine widerrufliche Ausübungsbefugnis in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind (großes Sorgerecht) zulässig sein. Eine Ausnahme könnte allenfalls für höchstpersönliche Angelegenheiten des Kindes und solche Entscheidungen anzuerkennen sein, die auch den sorgeberechtigten leiblichen Eltern versagt sind (vgl. §§  1629 Abs.  2 S.  1, 1795 BGB) 88. Nicht der Umfang der sozialen Eltern zur Ausübung übertragenen Sorgerechtsbefugnisse, sondern die Möglichkeit der jederzeitigen Kontrolle und einseitigen Widerruf barkeit durch die leiblichen Eltern entscheidet darüber, ob das Pflege- und Erziehungsrecht der leiblichen Eltern gem. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gewahrt bleibt. Eine Erstreckung der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG auf Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind stünde daher mit dem verfassungsrechtlichen Schutz des Elternrechts in Einklang89.   S. noch näher unter IV. 2. b) bb) (2) (a).  Statt vieler BVerfGE 105, 313 (353 f.); a. A. H. Hofmann, in: B. Schmidt-Bleibtreu/H. Hofmann/A. Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 12.  Aufl. 2011, Art.  6 Rn.  48. 86   S. bereits oben unter III. 87   So mit näherer Begründung M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (165 f.); M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158); D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (772); K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (919); L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  8 ; H. Hennemann, in: F. J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd.  8, 6.  Aufl. 2012, §  1687b Rn.  2 ; D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  344 ff.; B. Veit, FPR 2004, 67 (70). 88   B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1548) – auch dazu, dass Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind nicht per se eine höchstpersönliche Entscheidung des Sorgeberechtigten erfordern. 89  Für die Einführung eines großen Sorgerechts zugunsten von Stiefeltern N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (146 ff.); N.  D ethloff, NJW 1992, 2200 (2202 f.); S. v. Puttkamer, Stieffamilien und Sorgerecht in Deutschland und England, 1994, S.  115 ff.; D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  289 ff., 383 ff., die für die Regelung eines großen Sorgerechts sozialer Eltern bei Bestehen einer Eltern-Kind-ähnlichen Beziehung zwischen Kind und Stiefelternteil plädiert; K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (920) mit dem Vorschlag, Stiefeltern iSd §  1687b BGB, §  9 LPartG ein großes (Mit-)Sorge84 85

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Konsequenz der akzessorischen und widerruflichen Ausübungsübertragung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern ist, dass die Ausübungsbefugnis neben dem Fall des Widerrufs automatisch mit dem Tod des leiblichen Elternteils, von dem sich die Befugnis ableitet, sowie bei einem Verlust oder Ruhen der elterlichen Sorge des leiblichen Elternteils endet90. Eine Ausnahme von dem Erlöschen der Ausübungsbefugnis der sozialen Eltern in diesen Fällen könnte der Gesetzgeber – in Parallele zu §§  1682, 1632 Abs.  4, 1688 Abs.  4 iVm Abs.  1 BGB – allenfalls vorsehen, wenn der soziale Elternteil seit längerer Zeit Verantwortung für das Kind übernommen hat und zwischen ihm und dem Kind eine elternähnliche Bindung entstanden ist. Unter diesen Voraussetzungen kann der Gesetzgeber für den Fall des Widerrufs der Sorgebefugnis, der Trennung der leiblichen und sozialen Eltern, des Todes des leiblichen Elternteils und des Verlusts dessen Sorgerechts die Möglichkeit einer Verbleibensanordnung des Familiengerichts einschließlich der Übertragung des Sorgerechts auf den sozialen Elternteil regeln. Überträgt man die für das Verhältnis von leiblichen Eltern und Pflegeeltern entwickelten Grundsätze auf das Verhältnis leiblicher und sozialer Eltern, käme eine Übertragung des Sorgerechts auf soziale Eltern nur unter den Voraussetzungen des Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG (Gefährdung des Kindeswohls bei Nichtübertragung der elterlichen Sorge, vgl. §§  1682, 1632 Abs.  2 BGB) in Betracht 91.

(2)  Unwiderrufliche Übertragung des Sorgerechts auf soziale Eltern Alternativ zur widerruflichen Übertragung der Ausübung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern können die leiblichen Eltern eines Kindes sorgerechtliche Befugnisse unwiderruflich auf Dritte übertragen, so dass diese ein eigenes Mitsorgerecht erhalten, das in seinem Fortbestand von den leiblichen Eltern unabhängig ist. In der Konsequenz können die leiblichen Eltern die erforderlichen Pflege- und Erziehungsentscheidungen nicht mehr allein, sondern nur noch gemeinsam mit den Dritten treffen und das Pflege- und Erziehungsrecht des Dritten nicht einseitig beenden. Ob eine unwiderrufliche Ermächtigung sozialer Eltern zur Wahrnehmung von Pflege- und Erziehungsbefugnissen für das Kind mit dem verfassungsrechtlichen Elternrecht und der korrespondierenden Pflege- und Erziehungspflicht der leiblichen Eltern (Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG) in Einklang steht, ist ungeklärt. Soweit sich das Bundesverfassungsgericht in einzelnen Judikaten mit Fragen sozialer Elternschaft zu befassen hatte, lassen sich ihnen sowohl Argumente gegen als auch für die Zulässigkeit des Konzepts elterlicher Mitverantwortung entnehmen. Soweit die Frage im Schriftrecht einzuräumen – allerdings beschränkt auf den Fall, dass der nicht sorgeberechtigte leibliche Elternteil verstorben oder unbekannt ist. 90   B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1550). 91  Vgl. H.-H. Rotax, in: H.-H. Rotax (Hrsg.), Praxis des Familienrechts, 3.  Aufl. 2007, S.  408 Rn.  165 f. und S.  463 Rn.  393 f., wonach ein Sorgerecht von Pflege- und Stiefeltern aufgrund gerichtlicher Verbleibensanordnung nach §§  1632 Abs.  4, 1682, 1688 BGB stets voraussetze, dass anderenfalls, bei einer Herausgabe des Kindes an seine leiblichen Eltern, das Kindeswohl gefährdet würde, weil leibliche Elternschaft gem. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG höheren Schutz genieße als soziale Elternschaft. Eine „einfache Kindeswohlprüfung“ mit dem Maßstab, bei wem das Kind besser aufgehoben sei, genüge nicht.

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tum diskutiert wird, wird die unwiderrufliche Übertragung eines (Allein- oder Mit-)Sorgerechts durch die leiblichen Eltern auf Dritte überwiegend als unzulässiger Verzicht des Elternrechts eingeordnet (s. [a]). Es gibt allerdings Gegenargumente, die die unwiderrufliche Einräumung elterlicher Mitverantwortung als zulässig erscheinen lassen (s. [b] bis [d]).

(a)  Unwiderrufliches Mitsorgerecht sozialer Eltern als unzulässiger Verzicht auf das Elternrecht? Übertragen die leiblichen Eltern eines Kindes Dritten, von denen das Kind nicht abstammt, ein Mitsorgerecht, das die leiblichen Eltern nicht einseitig widerrufen können und in dessen Folge sie die elterliche Sorge nicht mehr allein, sondern nur noch einvernehmlich mit dem sozialen Elternteil ausüben können, entspricht dies der gemeinsamen Sorge leiblicher Eltern. Der Dritte erlangt ein den leiblichen Eltern vergleichbares eigenständiges, d. h. nichtakzessorisches Mitsorgerecht und wächst damit in die Elternstellung nach Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG hinein92. Die elterliche Sorge, die zuvor allein den leiblichen Eltern zustand, wird fragmentiert und multipliziert. Mit dieser Multiplizierung des Elternrechts wird das Elternrecht der leiblichen Eltern eingeschränkt. Sie können fortan nicht mehr allein und unabhängig von Dritten über die Pflege und Erziehung ihres Kindes entscheiden, sondern sind hierbei an ein Einvernehmen des sozialen Elternteils gebunden. Eine solche freiwillige Beschränkung der eigenen elterlichen Befugnisse kommt einem teilweisen Verzicht auf das verfassungsrechtliche Elternrecht gleich, der allgemein für unzulässig gehalten wird. Da Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG keine negative grundrechtliche Freiheit gewährt, das Elternrecht nicht auszuüben, ist das Elternrecht – außerhalb der Voraussetzungen des Art.  6 Abs.  2 S.  2, Abs.  3 GG – unverfügbar. Zwar können Eltern ihrer Pflicht zur Pflege und Erziehung ihres Kindes „auch dadurch nachkommen, dass sie das Kind der Obhut anderer anvertrauen. Eine solche Delegation der Erziehung entbindet jedoch nicht von der Verantwortung, die Eltern für ihr Kind tragen.“93 Ohne die Möglichkeit, die Sorgerechtsbefugnisse Dritter bei einer Gefährdung des Kindeswohls einseitig beenden zu können, könnte es schwierig sein, „als Elternteil so auf das Kind Einfluss zu nehmen, wie es dessen speziellem Wohl entspricht und dessen persönlicher Entwicklung förderlich ist.“94 Dies spricht dafür, das Allein- und Letztentscheidungsrecht der leiblichen Eltern und die Möglichkeit des freien Widerrufs der Mitsorge Dritter als „wesentliche Voraussetzung und Grundlage für die Ausübung des Elternrechts im Interesse des Kindes“95 anzusehen. Dass die leiblichen Eltern die elterliche Sorge untereinander grundsätzlich frei verteilen können (vgl. §§  1626a Abs.  1 Nr.  1, 1671 Abs.  2 Nr.  2, 1672 BGB), legitimiert die unwiderrufliche Übertragbarkeit des elterlichen Sorgerechts auf Dritte

 Vgl. S. v. Puttkamer, Stieffamilien und Sorgerecht in Deutschland und England, 1994, S.  115, 130 f.   BVerfGE 121, 69 (97). 94   Diese Formulierung stammt aus BVerfGE 121, 69 (97). 95   Formulierung aus BVerfGE 121, 69 (97). 92 93

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nicht96. In der Verteilung der Sorge zwischen den leiblichen Eltern liegt kein Verzicht auf das Sorgerecht, sondern die „Positionierung der elterlichen Sorge zwischen den Inhabern des Elternrechts“ und damit die Ausübung des Elternrechts97. Zudem kommt es, anders als bei der Gewährung elterlicher Befugnisse zugunsten sozialer Eltern, nicht zu einer Pluralisierung der Elternschaft. Dementsprechend wird im (überwiegend zivilrechtlichen) Schrifttum vertreten, dass Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG den sorgeberechtigten leiblichen Eltern untersage, ihre elterliche Sorge (ganz oder teilweise) unwiderruflich auf andere natürliche oder juristische Personen zu übertragen98. Die unwiderrufliche Bevollmächtigung zur Ausübung des Sorgerechts (unwiderrufliche Sorgerechtsvollmacht) wird als unwirksam angesehen99. Auch der Gesetzgeber dürfe die „Statuszuschreibung an die Eltern“ nicht ändern und sozialen Bezugspersonen des Kindes nicht statusgebundene Elternrechte und -pflichten übertragen100. Der Gesetzgeber sei nach Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG zudem an einer Regelung gehindert, die sorgeberechtigte leibliche Eltern an das Einvernehmen nichtsorgeberechtigter Dritter binde oder gestatte, dass Dritten nach §  1628 BGB die Entscheidungsbefugnis übertragen werden könne. Dementsprechend erlaube Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG nur ein akzessorisches Ausübungsrecht, nicht hingegen ein eigenständiges Sorgerecht von Stiefeltern101. Soziale Elternschaft könne die Zuweisung eines eigenen, unabgeleiteten Sorgerechts auch im Fall tatsächlicher Verantwortungsübernahme nicht rechtfertigen, solange die sorgeberechtigten Eltern vollständig handlungsfähig seien102. Nur wenn Eltern bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes versagen, dürfe das Familiengericht das Sorgerecht der Eltern einschränken und auf andere übertragen103. 96   Vgl. ebenso D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (764). 97   D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (764); D. Coester-Waltjen, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6.  Aufl. 2012, Art.  6 Rn.  82. 98   M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161); M. Löhnig, FPR 2008, 157; D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (763 ff.); vgl. auch B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1545); M. Lipp, Elternschaft, „sozial-familiäre Beziehung“ und „Bindungsperson“, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  121 (128); im Ergebnis wohl ebenso G. Knöpfel, FamRZ 1983, 317 (327), der dem Gesetzgeber die Befugnis abspricht, faktische Eltern als Eltern im Rechtssinne anzuerkennen; nur leiblichen Eltern oder Personen, die anstelle der leiblichen Eltern die dauernde und uneingeschränkte Elternverantwortung tragen, könne die Rechtsordnung Elterneigenschaft zuerkennen. 99   OLG Hamm, ZKJ 2011, 303; B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1547); D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  203. 100   M. Lipp, Elternschaft, „sozial-familiäre Beziehung“ und „Bindungsperson“, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  121 (126, 134), der vor einer gesetzlichen Pluralisierung der Elternschaft durch Aufspaltung der Elternstellung warnt. 101   M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158); M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (162). 102   T. Rauscher, Familienrecht, 2.  Aufl. 2008, §  35 Rn.  1134. 103   B. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544 (1545).

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Aus diesem Grund ist das kleine Sorgerecht iSd §  1687b Abs.  1 BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG nach herrschender Meinung im Schrifttum aus verfassungsrechtlichen Gründen restriktiv auszulegen. Da die elterliche Sorge als Ausfluss des verfassungsrechtlichen Elternrechts unverzichtbar, unteilbar und unübertragbar sei104, verstoße eine Übertragung der elterlichen Sorge gegen Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG105. §  1687b Abs.  1 BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG müssten daher verfassungskonform so interpretiert werden, dass nicht die elterliche Sorge als solche (ganz oder teilweise) auf den Stiefelternteil übertragen werde106 und dass das Sorgerecht des allein sorgeberechtigten Elternteils nicht eingeschränkt werde107. Vielmehr begründeten die Normen ex lege108 lediglich die Übertragung der Ausübung der elterlichen Sorge auf den Stiefelternteil109. Der Stiefelternteil erhalte kein eigenständiges Sorgerecht, sondern nur ein von dem (Allein-)Sorgerecht seines Ehegatten oder Lebenspartners abgeleitetes, ak  D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (764); M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161). 105   R. Battes, FuR 2002, 113 (117); M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161); vgl. auch D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (763 f., 765), nach deren Ansicht ein Übergang der elterlichen (Mit-) Sorge auf den Stiefelternteil sowohl im Fall einer vertraglichen bzw. einvernehmlichen Begründung als auch bei einer ex lege-Entstehung der Mitsorge verfassungswidrig ist; T. Rauscher, Familienrecht, 2.  Aufl. 2008, §  35 Rn.  1134 attestiert §  1687b BGB und §  9 LPartG wegen Verstoßes gegen das Elternrecht des sorgeberechtigten und des nicht sorgeberechtigten Elternteils aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG Verfassungswidrigkeit, wenn die Bestimmungen das Sorgerecht des allein sorgeberechtigten Elternteils beschränkten. 106   J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  67 Rn.  1; M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161, 164); D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  417 f. 107   R. Battes, FuR 2002, 113 (117); D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (763); J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  60 Rn.  4 ; D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  417; anderer Ansicht L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  14, wonach das Alleinsorgerecht des Elternteils teilweise eingeschränkt werde. 108   Für die Entstehung des Ausübungsrechts des Stiefelternteils ex lege mit Heirat oder Eingehung der Lebenspartnerschaft D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (771 f.); M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161 f.); L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  10; J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  60 Rn.  2 ; A. Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, 2005, S.  75; D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  417; D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  155 f.; R. Battes, FuR 2002, 113 (122). Das Erfordernis einer vertraglichen Vereinbarung zwischen allein sorgeberechtigtem Elternteil und Stiefelternteil für die Entstehung des Ausübungsrechts des Stiefelternteils entnimmt dem Begriff des „Einvernehmens“ iSd §  1687b Abs.  1 S.  1 BGB, §  9 Abs.  1 S.  1 LPartG wohl Schwab, FamRZ 2001, 385 (394). 109   M. Löhnig, FPR 2008, 157. 104

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zessorisches Ausübungsrecht110. Sorgeberechtigter Elternteil und Stiefelternteil seien nicht gleichberechtigte Sorgerechtsinhaber, sondern Sorgerechtsinhaber einerseits und Ausübungsberechtigter andererseits111. Hieraus wird die Konsequenz gezogen, dass das Recht des Stiefelternteils zur Alltagssorge für das Kind gem. §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG unter dem Vorbehalt des Einvernehmens des allein sorgeberechtigten Elternteils stehe. Bei Meinungsverschiedenheiten über die Ausübung der Angelegenheiten des täglichen Lebens komme dem allein sorgeberechtigten Elternteil Vorrang zu112. Während der Stiefelternteil nur im Einvernehmen mit dem allein sorgeberechtigten Elternteil handeln könne, behalte der allein sorgeberechtigte Elternteil das Alleinentscheidungsrecht und habe im Konfliktfall die Letztentscheidungsbefugnis („Stichentscheid“)113. Bei Streitigkeiten habe die Auffassung des allein sorgeberechtigten Elternteils Vorrang vor der des Stiefelternteils, so dass sie sich nicht einigen und ggf. eine Entscheidung des Familiengerichts entsprechend §  1628 BGB herbeiführen müssten114. Insofern legitimerten die §  1687b Abs.  1 BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG aus verfassungsrechtlichen Gründen lediglich das Recht zur Ausübung der Alltagssorge mit halbseitiger Gesamtvertretungsmacht des Stiefelternteils115. Zugleich folge aus der Akzessorietät des Ausübungsrechts des Stiefelternteils zum Alleinsorgerecht des leiblichen Elternteils, dass der allein sorgeberechtigte Elternteil die Ausübungsbefugnis seines Ehegatten bzw. Lebenspartners jederzeit einseitig widerrufen könne116. Im 110   J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  67 Rn.  5 ; M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (161); B. Veit, FPR 2004, 67 (72); D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (765 f.); A. Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, 2005, S.  76. In diesem Sinne lässt sich auch BVerfGE 103, 313 (354) verstehen, wonach sich das „kleine Sorgerecht“ iSd §  9 LPartG „aus der Alleinsorge des in Lebenspartnerschaft lebenden Elternteils ableitet“. 111   M. Löhnig, FPR 2008, 157 f. 112   D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (766). 113   J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  67 Rn.  7; D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (766); R. Battes, FuR 2002, 113 (117); R. Kemper, in: M. Bruns/R. Kemper (Hrsg.), Lebenspartnerschaftsrecht, Handkommentar, 2.  Aufl. 2006, §  9 Rn.  11; M. Löhnig, FPR 2008, 157 (158); B. Veit, FPR 2004, 67 (72); D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  417 f. 114   M. Löhnig, Das Kind zwischen Herkunftsfamilie und neuer Familie eines Elternteils, in: D. Schwab/L. A. Vaskovicz (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Familienrecht, -soziologie und -psychologie im Dialog, 2011, S.  157 (162). 115   So v. a. D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (771); J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  60 Rn.  4 und §  67 Rn.  6 ; anderer Ansicht L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  12, der von einer beidseitigen Gesamtverantwortung von Elternteil und Stiefelternteil ausgeht, so dass beide nur gemeinsam vertretungsberechtigt seien. 116   J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  60 Rn.  5, 8 unter Hinweis auf das Erziehungsprimat des allein sorgeberechtigten Elternteils aus Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG; gleichsinnig R. Kemper, FF 2001, 156 (161); D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  163; D. Coes­terWaltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (767 f.); W. Schlüter, BGB – Familienrecht, 14.  Aufl. 2012, §  25 Rn.  360a;

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Übrigen erlösche das Ausübungsrecht außer in den Fällen des §  1687b Abs.  3 und 4 BGB bzw. des §  9 Abs.  3 und 4 LPartG mit dem Ende der elterlichen Sorge des allein sorgeberechtigten Elternteils, etwa bei einer gerichtlichen Änderung der Sorgerechtsentscheidung oder mit dem Tod des sorgeberechtigten Elternteils117. Nur eine solche restriktive Interpretation der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG im Sinne eines streng akzessorischen Ausübungsrechts, welches das elterliche Sorgerecht des allein sorgeberechtigten Elternteils unberührt lässt, werde dem verfassungsrechtlichen Elternrecht des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gerecht.

(b)  Kindeswohl als bestimmender Faktor des verfassungsrechtlichen Elternrechts Diese auf dem Dogma der Unverzichtbarkeit des Elternrechts fußenden Argumente gegen die Übertragbarkeit eines unwiderruflichen Mitsorgerechts auf soziale Eltern erscheinen nicht zwingend. Bestimmt man die Reichweite und die Grenzen des Elternrechts im Lichte des Kindeswohls, in dessen Dienst die Pflege- und Erziehungsverantwortung der Eltern steht, kann die unwiderrufliche Einräumung eigenständiger elterlicher Mitverantwortung zugunsten Dritter verfassungsrechtlich zulässig sein. Das Theorem der Unverfügbarkeit des Elternrechts bedarf insofern der Konkretisierung nach Maßgabe des Kindeswohls. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gewährleistet die Pflege und Erziehung der Kinder als fremdnütziges Grundrecht und korrespondierende Grundpflicht der Eltern. Die Pflegeund Erziehungsverantwortung der Eltern steht inhaltlich im Dienst des Kindeswohls und sucht die körperliche, geistige und seelische Entwicklung der Kinder zu gewährleisten, die für ihre Entwicklung auf die Fürsorge und Anleitung Dritter angewiesen sind118. Mit Blick auf diese dienende Funktion der Elternverantwortung ist der Inhalt des verfassungsrechtlichen Elternrechts und der korrespondierenden Elternpflicht nach Maßgabe des Kindeswohls zu bestimmen. Als fremdnütziges Recht bemisst sich der Inhalt dessen, was den Eltern als Pflege und Erziehung des Kindes erlaubt (und geboten) ist, nach dem Wohl des Kindes. Leben die leiblichen Eltern mit ihrem Kind und Dritten in einem gemeinsamen Haushalt zusammen und übernimmt der Dritte ebenso wie der leibliche Elternteil tatsächlich Pflege- und Erziehungsverantwortung für das Kind, kann die Einräumung eines gleichberechtigten (Mit-)Sorgerechts zugunsten des Dritten jedenfalls dann mit Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG vereinbar sein, wenn R. Kemper, in: M. Bruns/R. Kemper (Hrsg.), Lebenspartnerschaftsrecht, Handkommentar, 2.  Aufl. 2006, §  9 Rn.  8, 11; D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  418; J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  67 Rn.  7; K. H. Johannsen/D. Henrich, Familienrecht, Kommentar, 5.  Aufl. 2010, §  1687b BGB Rn.  2 ; H. Hennemann, in: F. J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd.  8, 6.  Aufl. 2012, §  1687b Rn.  1. Anderer Ansicht unter Hinweis auf den abschließenden Regelungsgehalt des §  1687b Abs.  3 BGB D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  235; L. Salgo, in: J. von Staudinger (Hrsg.), BGB, Kommentar, Buch 4, Stand: Okt. 2005, §  1687b Rn.  14, 19. 117   B. Veit, FPR 2004, 67 (72); D. Coester-Waltjen, in: S. Hofer/D. Klippel/U. Walter (Hrsg.), Pers­ pektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, 2005, S.  761 (768 f.); J. Gernhuber/D. Coes­ ter-Waltjen, Familienrecht, 6.  Aufl. 2010, §  60 Rn.  5 ; D. Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, 2.  Aufl. 2008, S.  419; D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  231. 118   Näher oben unter IV. 1. b).

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sie dem Wohlergehen des Kindes dient. Droht sich die Wirkung, die mit einem Ausschluss des Mitsorgerechts sozialer Eltern verbunden ist, „in ihr Gegenteil zu verkehren“, dann kommt der Ausschluss dem Kind nicht zugute, „sondern kann ihm zu Schaden gereichen.“119 In diesem Fall entfällt der Grund dafür, den leiblichen Eltern die Übertragung eines eigenständigen (Mit-)Sorgerechts auf Dritte zu untersagen120. Diese Interpretation des Elternrechts im Lichte des Kindeswohls kann sich auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts stützen, namentlich auf das Urteil zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungswidrigkeit des Verbots der Sukzessivadoption durch Lebenspartner (s. §  9 Abs.  7 LPartG) argumentativ maßgeblich darauf gegründet, dass die Sukzessivadoption das Wohl des betroffenen Kindes nicht gefährde, sondern ihm im Gegenteil diene. Aus Art.  2 Abs.  1 iVm Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG folge die Verpflichtung des Staates, „das Wie und Ob elterlicher Pflichtenwahrnehmung in Ausrichtung auf das Kindeswohl zu sichern.“121 Das Kindeswohl sei „wesensbestimmender Bestandteil“ des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG, das Elternrecht sei „um des Kindes willen gegen Eingriffe des Staates geschützt“122. Nach der Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts dient es dem Wohl des Kindes, wenn es in einer Gemeinschaft aufwächst, die „auf Dauer angelegt und durch verbindliche Verantwortungsübernahme geprägt“ ist123, wenn es also in „behüteten Verhältnisse(n)“ groß wird124. Das Gericht betont die „stabilisierende(n) entwicklungspsychologische(n) Effekte“ der Sukzessivadoption, die das Kind in seine neue Familie integriere. Insbesondere das gemeinsame Sorgerecht der (Adoptiv-) Eltern könne „das Zugehörigkeitsgefühl der Kinder und das Verantwortungsgefühl der Eltern stärken und die gemeinsame Erziehung erleichtern. Hingegen könnte das Kind die Verweigerung der rechtlichen Anerkennung seines Verhältnisses zum sozialen Elternteil als Abwehr und Ablehnung seiner Person und seiner Familie erleben.“125 Hinzu komme, dass die Sukzessivadoption die Rechtsstellung des Kindes verbessere, indem der Adoptivelternteil ein Sorgerecht erwerbe und das Kind von der doppelten Elternschaft durch Unterhalts- und Erbansprüche gegen den Annehmenden profitiere126. Die Sukzessivadoption bewirke insoweit einen Zugewinn an Rechten und keinen Rechtsverlust127. Schließlich stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass eine Gefährdung des Kindeswohls bei einer Zulassung der Sukzessivadoption durch Lebenspartner auch deshalb nicht zu befürchten sei, „weil jeder Adoption eine Einzelfallprüfung vorausgeht, bei der etwaige individuelle Nachteile der konkret in Frage stehenden Adoption berücksichtigt werden. Gem. §  1741 Abs.  1 BGB darf das Familiengericht die Annahme nur aussprechen, wenn sie dem Wohl des Kindes dient. Ob eine Adoption dem Wohl des Kindes dient, ist nach Prüfung des   Die Formulierungen stammen aus BVerfGE 121, 69 (102).  Vgl. ähnlich BVerfGE 121, 69 (101 ff.) bezogen auf die zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht leiblicher Eltern. 121   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  43. 122   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  49. 123   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  77. 124   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  80. 125   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  83. 126   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  84 ff. 127   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  9 0. 119

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Einzelfalls im Wege einer Prognoseentscheidung durch das Familiengericht zu beantworten.“128 Interpretiert man das verfassungsrechtliche Elternrecht im Lichte der Bedürfnisse und des Wohls des Kindes, erscheint die unwiderrufliche Übertragung elterlicher Sorgebefugnisse auf soziale Eltern unter der Voraussetzung, dass die Übertragung dem Kindeswohl dient, mit Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG vereinbar. Leben die leiblichen Eltern mit ihrem Kind und Dritten zusammen und übernimmt der Dritte tatsächlich Pflege- und Erziehungsverantwortung für das Kind, kann die Übertragung eines Mitsorgerechts zu seinen Gunsten im Interesse des Kindes liegen. Die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner tragenden Gründe lassen sich auf die Übertragung elterlicher Sorgebefugnisse auf soziale Eltern transferieren: Die unwiderrufliche Übertragung elterlicher Mitverantwortung auf Dritte kann dem Kindeswohl ebenso dienen wie eine Sukzessivadoption. Durch die Übernahme elterlicher Verantwortung (unwiderrufliches Mitsorgerecht) durch soziale Eltern wird das Kind regelmäßig in eine Familiengemeinschaft integriert, die „durch verbindliche Verantwortungsübernahme geprägt“ ist, so dass es in „behüteten Verhältnisse(n)“ aufwächst und in seine neue Familie auch rechtlich integriert wird. Das Mitsorgerecht der sozialen Eltern kann „das Zugehörigkeitsgefühl der Kinder und das Verantwortungsgefühl der Eltern stärken und die gemeinsame Erziehung erleichtern.“129 Umgekehrt besteht bei einer Verweigerung der rechtlichen Anerkennung des Verhältnisses des Kindes zu seinen sozialen Eltern die Gefahr, dass es dies als Ablehnung seiner Person und Familie empfindet. Auch die Rechtsstellung des Kindes wird verbessert, wenn der soziale Elternteil ein Mitsorgerecht erhält und das Kind ggf. sogar Unterhaltsansprüche gegen den sozialen Elternteil erwirbt. Die Übernahme elterlicher Mitverantwortung durch soziale Eltern bewirkt mithin einen Zugewinn an Rechten und keinen Rechtsverlust für das Kind. Versieht der Gesetzgeber die Übernahme elterlicher Mitverantwortung mit Unterhaltspflichten des sozialen Elternteils gegenüber dem Kind, dürfte gerade die Unterhaltspflicht die Gewähr dafür bieten, dass nur solche Personen Mitverantwortung für ein Kind übernehmen, die tatsächlich eine enge sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind haben. Ein unwiderrufliches Mitsorgerecht stabilisiert und festigt in diesem Fall eine bereits bestehende Bindung auch rechtlich, was dem Kindeswohl dient. Diese Überlegungen gelten umso mehr, als ein Mitsorgerecht sozialer Eltern – im Gegensatz zur Adoption – die rechtliche Beziehung des Kindes zu seinen leiblichen Eltern nicht zerstört, sondern das Kind hierdurch weitere (soziale) Eltern hinzugewinnt130. Die unwiderrufliche Übertragung elterlicher Mitverantwortung auf Dritte gefährdet daher nicht stets das Kindeswohl, sondern kann die Belange des Kindes schützen. Da das Kindeswohl sub specie des Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Zulässigkeit elterlicher (Sorge-)Entscheidungen ist, erscheint die unwiderrufliche Einräumung eines Mitsorgerechts zugunsten sozialer Eltern, das dem Kindeswohl dient, nicht als unzulässiger Verzicht auf das Eltern  BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  91.   Diese Zitate stammen aus BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  77 ff. 130  Vgl. N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (149). 128 129

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recht, sondern als zulässige Ausübung elterlicher Verantwortung. Anhaltspunkte dafür, dass ein unwiderrufliches Mitsorgerecht sozialer Eltern dem Kindeswohl dient, können neben dem Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft zwischen den sozialen Eltern und dem Kind und der tatsächlichen Übernahme von Pflege- und Erziehungsverantwortung durch den sozialen Elternteil vor allem die Entwicklung einer elternähnlichen Beziehung zwischen den sozialen Eltern und dem Kind sein.

(c)  Parallele zur Stiefkindadoption Für die Vereinbarkeit einer unwiderruflichen Übertragung sorgerechtlicher Befugnisse der leiblichen Eltern auf Dritte mit Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG spricht auch die Parallele zur Stief kindadoption des Kindes durch den Ehepartner oder Lebenspartner des leiblichen Elternteils (s. §  1741 Abs.  2 S.  3 BGB, §  9 Abs.  7 LPartG). Bei der Stiefkindadoption stimmt ein leiblicher Elternteil der Adoption seines Kindes durch den neuen Ehe- oder Lebenspartner des anderen leiblichen Elternteils zu; er verzichtet, ohne dass von ihm (notwendig) Gefahren für das Kind ausgehen, auf sein Elternrecht und willigt in die Entstehung des Elternrechts des Adoptierenden ein. Durch die Stief kindadoption wird das Elternrecht des der Adoption zustimmenden leiblichen Elternteils grundsätzlich unwiderruflich auf einen sozialen Elternteil übertragen, wobei das Elternrecht des leiblichen Elternteils vollständig erlischt (§  1755 Abs.  1 und 2 BGB). Der annehmende Ehe- oder Lebenspartner erhält die Stellung eines echten Elternteils mit verfassungsrechtlichem Elternrecht iSd Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG (vgl. §  1754 Abs.  1, 3 BGB)131. Die Stief kindadoption unterscheidet sich im Hinblick auf den Übergang des Elternrechts von einem leiblichen auf einen sozialen Elternteil nicht von der unwiderruflichen Begründung eines Mitsorgerechts sozialer Eltern; ein Unterschied besteht nur insoweit, als das Mitsorgerecht sozialer Eltern das Elternrecht des leiblichen Elternteils lediglich einschränkt und nicht vollständig zum Erliegen bringt. Erachtet man die Stief kindadoption mit der ganz überwiegenden Auffassung für verfassungsrechtlich zulässig132, steht auch die unwiderrufliche Ausübung elterlicher Mitsorgebefugnisse durch soziale Eltern mit Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG in Einklang. Dies gilt umso mehr, als die Beteiligung sozialer Eltern an der Pflege und Erziehung des Kindes dem Kindeswohl im Einzelfall sogar besser gerecht werden kann als die Stief kindadoption, weil dadurch die rechtliche Beziehung zwischen dem Kind und seinen leiblichen Eltern erhalten bleibt. Hiergegen spricht nicht, dass bei der Stief kindadoption ebenso wie bei anderen Adoptionen ein Elternwechsel eintritt; der Ehegatte des einen Elternteils tritt an die Stelle des anderen Elternteils, dessen Verwandtschaftsverhältnis mit dem Kind erlischt (s. §§  1754 Abs.  1, 1755 Abs.  1, 2 BGB). Im Gegensatz dazu führt die unwiderrufliche Einräumung eines Mitsorgerechts sozialer Eltern zu einer Pluralisierung der Elternschaft; anstelle von bislang einem Elternteil oder zwei Elternteilen sind fortan drei oder mehr Elternteile (mit-)sorgeberechtigt. Die mit einer solchen Mehrfachel  BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  48.   S. nur EGMR, Nr.  19010/07 vom 19.  2 . 2013 (X u. a. ./. Österreich) bezogen auf die Stief kind­ adoption durch unverheiratete gleichgeschlechtliche Paare in Österreich. 131

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ternschaft verbundenen Gefahren der Verantwortungsunklarheit und Sorgerechtskonflikte lassen sich durch entsprechende verfahrensrechtliche Regelungen ausräumen (s. hierzu sogleich unter [d]).

(d)  Beherrschbarkeit der Gefahren einer Pluralisierung von Elternschaft (Mehrfachelternschaft) Unüberwindbare Hindernisse für die Übertragung eines elterlichen (Mit-)Sorgerechts auf soziale Eltern errichtet Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG nicht deswegen, weil es zu einer Pluralisierung von Elternschaft, einer Mehrfachelternschaft kommt. Das Bundesverfassungsgericht steht einer Mehrfachelternschaft ablehnend gegenüber. In seiner Entscheidung iS Biologischer Vater hat es bezogen auf das Verhältnis zwischen dem rechtlichen Vater (Ehemann der Mutter) und dem biologischen Vater ausgeführt, Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG gehe davon aus, dass nur zwei Elternteile gleichzeitig Verantwortung für ein Kind tragen sollen. Wörtlich heißt es: „Träger des Elternrechts nach Art.  6 Abs.  2 Satz 1 GG können für ein Kind nur eine Mutter und ein Vater sein. .  .  . Dabei lässt schon der Umstand, dass ein Kind nur von einem Elternpaar abstammen kann, darauf schließen, dass der Verfassungsgeber auch nur einem Elternpaar das Elternrecht für ein Kind hat zuweisen wollen. .  .  . Ein Nebeneinander von zwei Vätern, denen zusammen mit der Mutter jeweils die gleiche grundrechtlich zugewiesene Elternverantwortung für das Kind zukommt, entspricht nicht der Vorstellung von elterlicher Verantwortung, die Art.  6 Abs.  2 Satz 1 GG zugrunde liegt. Auch der Wandel familiärer Lebenszusammenhänge fordert nicht, ein Kind der Elternverantwortung zweier Väter zugleich zu unterstellen. .  .  . Wenn Art.  6 Abs.  2 Satz 1 GG zuvörderst den Eltern die Verantwortung für das Kind überlässt, beruht dies auf der Erwägung, dass sie in gemeinsamer Ausübung dieser Verantwortung in aller Regel die Interessen ihres Kindes am besten wahrnehmen (vgl. BVerfGE 103, 89 [108]). Eine solche Erwägung kann aber nicht auf eine aus zwei Vätern und einer Mutter bestehende Gemeinschaft bezogen sein, bei der die Vermutung nicht trägt, die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung diene dem Kindeswohl am besten. Vielmehr wären mit einer solchen Konstellation Rollenkonflikte und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Eltern gleichsam angelegt, die negativen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nehmen könnten. Eine effektive Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindes wäre jedenfalls nicht gewährleistet. Zugleich nähme die Schwierigkeit zu, elterliche Verantwortung personell festzumachen, um der Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft, über die Ausübung des Elternrechts zu wachen, zur Wahrung des Kindeswohls nachkommen zu können. Der Gehalt des Elternrechts setzt damit seiner Trägerschaft Grenzen.“133

Diesen Standpunkt zur Mehrfachelternschaft hat das Bundesverfassungsgericht jüngst in seiner Entscheidung zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner bestätigt. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf seine Entscheidung iS Biologischer Vater erklärt das Bundesverfassungsgericht: „In dieser Entscheidung (scil: iS Biologischer Vater) ging es .  .  . um die Begrenzung der Trägerschaft des Elternrechts zur Vermeidung von Verantwortungsunklarheit und Kompetenzkonflikten. Beim Nebeneinander von zwei Vätern, denen zusammen mit der Mutter jeweils die gleiche grundrechtlich zugewiesene Elternverantwortung für das Kind zukäme, nähme   BVerfGE 108, 82 (101 ff.).

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die Schwierigkeit zu, elterliche Verantwortung personell festzumachen; zudem wären Rollenkonflikte und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Eltern gleichsam angelegt, die negativen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nehmen könnten (vgl. BVerfGE 108, 82 [103]).“134

Mit diesen Ausführungen hat das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht eine konkrete Mehrfachelternschaft für unzulässig erklärt – um sie ging es in dem zu entscheidenden Fall nicht –, sondern klargestellt, dass dadurch eine verfassungsrechtliche Anerkennung der Elternschaft zweier gleichgeschlechtlicher Personen nicht ausgeschlossen sei135. Die Entstehung einer Mehrfachelternschaft ist bei Lichte betrachtet kein tragfähiges Argument gegen die unwiderrufliche Übertragung von Sorgeverantwortung auf soziale Eltern. Abgesehen davon, dass eine Mehrfachelternschaft auch in anderen Konstellationen bestehen kann (z. B. leibliche Mutter, leiblicher Vater und Ehemann der Mutter; Mehrfachelternschaft bei einem durch assistierte Reproduktion geborenen Kind)136, lassen sich die hiermit verbundenen Gefahren für das Kindeswohl durch verfahrensrechtliche Regelungen ausräumen. Die mit einer Pluralisierung von Elternschaft verbundenen möglichen Sorgerechtskonflikte sind ebenso lösbar wie in den Fällen des gemeinsamen Sorgerechts leiblicher Eltern, etwa durch familiengerichtliche Zuweisung der Entscheidungsbefugnis an einen (leiblichen oder sozialen) Elternteil (vgl. §  1628 BGB). Auch die Befürchtung des Bundesverfassungsgerichts, dass bei einer Mehrfachelternschaft die Schwierigkeit bestünde, „elterliche Verantwortung personell festzumachen, um der Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft, über die Ausübung des Elternrechts zu wachen, zur Wahrung des Kindeswohls nachkommen zu können“137, ist unbegründet138. Einer solchen Gefahr kann der Gesetzgeber durch die zahlenmäßige Begrenzung sozialer Eltern und eine Eintragung der sozialen Eltern in geeignete Register begegnen.

V.  Fazit: Gestaltungsoptionen des Gesetzgebers bei der Übertragung von Sorgerechtsbefugnissen auf soziale Eltern 1. Räumt der Gesetzgeber sozialen Eltern Sorgerechtsbefugnisse ein wie in §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG mit der Übertragung des widerruflichen kleinen Sorgerechts, muss er nach dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art.  3 Abs.  1 GG sämtliche sozialen Eltern mit vergleichbaren sozial-familiären Beziehungen zu einem   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.2.2013, Rn.  52.   Vgl. BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.2.2013, Rn.  52. 136   Eine Mehrfachelternschaft erkennt auch der EGMR an, vgl. EGMR, Nr.  19010/07 vom 19. 2 . 2013 (X u. a. ./. Österreich); näher F. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd.  1, 3.  Aufl. 2013, Art.  6 Rn.  150. 137   BVerfGE 108, 82 (103). 138  Für die Zulässigkeit einer Mehrfachelternschaft auch U. Steiner, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.  I V/I, 2011, §  109 Rn.  9, demzufolge es mehr als zwei elterliche Grundrechtsträger geben kann; F. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd.  I, 3.  Aufl. 2013, Art.  6 Rn.  150. Einen Überblick über ausländische Rechtsordnungen, die mehr als zwei Personen elterliche Verantwortung zugestehen, gibt I. Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705 (725 f.). 134 135

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Kind gleich behandeln. Die Bestimmungen der §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG sind daher über Ehegatten und Lebenspartner eines Elternteils (echte Stiefeltern) hinaus auch auf andere Personen zu erstrecken, die ein vergleichbares Näheverhältnis zum Kind haben, etwa weil sie außerhalb einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft mit dem leiblichen Elternteil und seinem Kind in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben und tatsächlich Pflege- und Erziehungsverantwortung für das Kind tragen (faktische Stiefeltern). Darüber hinaus ist die Möglichkeit einer Verbleibensanordnung (s. §§  1682, 1688 Abs.  4 iVm Abs.  1 BGB) auch für faktische Stiefeltern vorzusehen. Echte und faktische Stiefeltern sind zudem im Kontext staatlicher Familienförderung gleich zu behandeln139. 2. Der Gesetzgeber darf sozialen Eltern unter der Voraussetzung des Einverständnisses der leiblichen Eltern über die §  1687b BGB und §  9 Abs.  1 bis 4 LPartG hinausgehende Sorgerechtsbefugnisse einräumen, wobei er auch insoweit zur Gleichbehandlung echter und faktischer Stiefeltern verpflichtet ist. Ein Mitsorgerecht sozialer Eltern ist sowohl bei widerruflicher als auch bei unwiderruflicher Übertragung mit Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG vereinbar. Hierin liegt nicht per se ein unzulässiger Verzicht der leiblichen Eltern auf ihr Elternrecht, sondern unter der Voraussetzung, dass die Übertragung des Sorgerechts dem Kindeswohl dient, eine zulässige Ausübung des Elternrechts. Das unwiderrufliche Sorgerecht muss dabei nicht auf Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes beschränkt werden, sondern kann grundsätzlich auch auf Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung erstreckt werden. Bei der konkreten Ausgestaltung eines unwiderruflichen Mitsorgerechts sozialer Eltern steht dem Gesetzgeber in den Grenzen des Art.  6 Abs.  2 GG ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Um negative Auswirkungen auf das Kindeswohl zu vermeiden (vgl. Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG) erscheinen verfahrensrechtliche Regelungen sowohl für die Begründung des Mitsorgerechts sozialer Eltern als auch für die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts durch die leiblichen und die sozialen Eltern und für die Beendigung des Mitsorgerechts geboten. Zur Begründung eines unwiderruflichen Mitsorgerechts sozialer Eltern könnte der Gesetzgeber entweder eine einvernehmliche Erklärung der leiblichen und der sozialen Eltern (und ggf. des Kindes bei fortgeschrittenem Alter) genügen lassen oder eine Übertragung nur nach Prüfung des Familiengerichts zulassen, das im Einzelfall drohenden Gefahren für das Kindeswohl Rechnung tragen kann. Gegen die Notwendigkeit einer Entscheidung des Familiengerichts spricht, dass gem. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG primär die leiblichen Eltern dazu berufen sind zu entscheiden, (ob und) wem sie Mitsorgebefugnisse für ihr Kind einräumen. Der Staat darf dieses Entscheidungsprimat nur antasten, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls bestehen (Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG). Entstehen mit der Übernahme elterlicher Mitverantwortung zugleich Unterhaltspflichten des sozialen Elternteils gegenüber dem Kind140, dürfte die Unterhaltspflicht die Gewähr dafür bieten, dass nur solche   S. näher unter III.   Zu der Frage, ob der Gesetzgeber sozialen Eltern eine Unterhaltspflicht auferlegen darf oder sogar muss, N.  D ethloff, in: J. M. Scherpe/N.  Yassari (Hrsg.), Die Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, 2005, S.  137 (154 ff.); V. Lipp, Solidarität und Status im Unterhaltsrecht, in: V. Lipp/ 139 140

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Personen Mitverantwortung für ein Kind übernehmen, die bereits tatsächlich Pflege- und Erziehungsverantwortung für das Kind tragen und zu ihm in einer engen, elternähnlichen Beziehung stehen. Unter diesen Voraussetzungen dürfte die Übernahme elterlicher Mitverantwortung regelmäßig im Interesse des Kindeswohls liegen. Für die Notwendigkeit einer familiengerichtlichen Entscheidung spricht aber, dass auch die Übertragung der elterlichen Sorge von einem auf den anderen leiblichen Elternteil (vgl. §§  1671, 1672 BGB) und die Übertragung der elterlichen Sorge auf Adoptiv- und Pflegeeltern (vgl. §  1630 Abs.  3 S.  1 und §§  1752 Abs.  1, 1741 Abs.  1 S.  1 BGB) einer familiengerichtlichen Entscheidung bedürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner betont, dass eine Gefährdung des Kindeswohls durch Zulassung der Sukzessivadoption auch deshalb nicht zu befürchten sei, weil jeder Adoption eine Einzelfallprüfung vorausgeht und das Familiengericht gem. §  1741 Abs.  1 BGB die Annahme nur aussprechen darf, wenn sie dem Wohl des Kindes dient141. Überträgt man diese Überlegungen auf die Begründung eines unwiderruflichen Mitsorgerechts sozialer Eltern, legen sie eine vorgelagerte einzelfallbezogene Kindeswohlprüfung nahe. Für die Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts bieten die §§  1626, 1627 BGB ein geeignetes Modell, um es auf das Verhältnis leiblicher/sozialer Eltern zu übertragen. Entsprechend den §§  1626, 1627 BGB gälte: Die leiblichen und die sozialen Eltern müssen die gemeinsame elterliche Sorge grundsätzlich einvernehmlich zum Wohl des Kindes ausüben. Können Sie Einvernehmen über die Ausübung der Sorge nicht erzielen, ist eine Entscheidung des Familiengerichts zu beantragen, das die Entscheidungsbefugnis dem leiblichen oder dem sozialen Elternteil zuweist. Eine Beendigung des unwiderruflichen Mitsorgerechts sozialer Eltern auf Antrag oder durch Verzicht des sozialen Elternteils scheidet grundsätzlich ebenso aus wie die einvernehmliche Beendigung der Mitsorge durch die leiblichen und die sozialen Eltern. Der soziale Elternteil erhält durch ein unwiderrufliches Mitsorgerecht eine eigene Elternrechtsposition iSd Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG. Da „Art.  6 Abs.  2 Satz 1 GG .  .  . ein Elternrecht ohne Pflichtentragung gegenüber dem Kind“ ausschließt, mit dem Elternrecht „von vornherein als dessen wesensbestimmender Bestandteil die Pflicht zur Pflege und Erziehung des Kindes verbunden“ ist142, wäre der soziale Elternteil nicht befugt, auf die ihm eingeräumte elterliche Sorge zu verzichten (auch nicht im Einvernehmen mit den leiblichen Eltern)143. Das Mitsorgerecht endete daher auch nicht automatisch mit dem Tod des leiblichen Elternteils, mit dem der soziale Elternteil zusammenlebt, oder mit dem Verlust der elterlichen Sorge des leiblichen Elternteils. Analog den für leibliche Eltern geltenden Regeln (s. §§  1666, 1666a BGB; Art.  6 Abs.  2 S.  2 GG) kommt eine Beendigung des Mitsorgerechts des sozialen Elternteils aber in Betracht, wenn von ihm Gefahren für das Wohl des Kindes ausgehen144.

A. Röthel/P. A. Windel (Hrsg.), Familienrechtlicher Status und Solidarität, 2008, S.  53 ff.; K. Muscheler, FamRZ 2004, 913 (919). 141   BVerfG 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 vom 19.  2 . 2013, Rn.  91. 142   BVerfGE 108, 82 (101); 24, 119 (143); 52, 223 (235); 61, 358 (372). 143  Ebenso D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  370 f. 144  Ähnlich D. Drischmann, Das Sorgerecht in Stieffamilien, 2007, S.  370 ff.

„Denken in Grundrechtssituationen“ versus eindimensionales und bipolares Grundrechtsverständnis Dargestellt am Beispiel der Organtransplantation1 von

Prof. Dr. Josef Aulehner, Ludwig-Maximilians-Universität München Die überkommene Grundrechtsdogmatik und -praxis zerteilt eine einheitliche Grundrechtssituation, von der mehrere Grundrechtsträger in unterschiedlicher und jedenfalls teilweise gegenläufiger Weise betroffen sind, in mehrere, jeweils eindimensionale und zweiseitige Verhältnisse, die dann quasi nacheinander „abgearbeitet“ werden. Verfassungspositionen der Allgemeinheit geraten gegenüber solchen einzelner Grundrechtsträger geradezu notwendigerweise ins Hintertreffen. Das Herausgreifen eines singulären, eindimensionalen und bipolaren Grundrechtsverhältnisses aus einer komplexen, pluralen, multipolaren und multilateralen Grundrechtssituation ist insbesondere deshalb unbefriedigend, weil die Grundrechte des Grundgesetzes in der Regel nicht bestimmte Tätigkeiten, sondern ganze Lebensbereiche oder Motivationslagen schützen. Ausgehend vom Grundrechtsverhältnis wird der Versuchung widerstanden, insbesondere die Verhältnismäßigkeit als Lösung jeder grundrechtlichen Problemlage zu nutzen. Stattdessen wird dafür plädiert, unter jedem Punkt des herkömmlichen Prüfungsschemas für Freiheitsgrundrechte – Schutzbereich, Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung – nicht nur das jeweils thematisierte Grundrecht des jeweils Betroffenen, sondern alle Grundrechte aller möglicherweise Betroffenen und der Allgemeinheit zu aktualisieren. Das hier propagierte Denken in umfassenden Grundrechtssituationen statt in singulären Grundrechtsbetroffenheiten stellt das herkömmliche Prüfungsschema für Grundrechte gleichsam „vom Kopf auf die Füße“: Statt der bisher nacheinander erfolgenden Erörterung der einzelnen Grundrechte der einzelnen Grundrechtsträger werden nunmehr die Schutzbereiche aller Grundrechte, die Eingriffe in alle Grundrechte und die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Eingriffe in alle Grundrech1   Der Beitrag fußt auf der Habilitationsschrift des Verfassers (Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, 2011, JusPubl 203) und wendet deren Erkenntnisse auf die Organtransplantation an.

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te gemeinsam geprüft. Dabei beschränkt sich die Erörterung nicht auf die in der jeweiligen Situation betroffenen Grundrechte, sondern bezieht auch nicht-grundrecht­ liche Verfassungspositionen mit ein.

A.  Dogmatische Grundlagen für ein „Denken in Grundrechtssituationen“ I.  Grundsätzliche Gleichordnung aller Grundrechte und Verfassungspositionen Die herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung stellt zumeist willkürlich und zufällig ein singuläres Grundrecht eines Einzelnen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Sie kreiert damit implizit ein Rang- und Hierarchieverhältnis zwischen den unterschiedlichen Grundrechten und den an einer im Allgemeinen äußerst komplexen Grundrechtssituation beteiligten Verfassungspositionen. Aus einer komplexen, eher einem Konglomerat gleichenden Grundrechtssituation wird gleichsam selbstverständlich eine singuläre Grundrechtsbeziehung herausgegriffen. Tatsächlich sind die in einer komplexen Grundrechtssituation tangierten Grundrechts- und Verfassungspositionen grundsätzlich ranggleich und stehen in einem Koordinations-, nicht aber in einem Subordinations- oder gar Substitutionsverhältnis. Zwischen unterschiedlichen, in einer konkreten Grundrechtssituation tangierten Grundrechts- und Verfassungspositionen ist gleichsam nicht das „Ob“, sondern allein das „Wie“ der gegenseitigen Abhängigkeit fraglich. Die herrschende Meinung trägt dem Umstand nicht hinreichend Rechnung, dass mit jeder Beobachtung eine Unterscheidung einhergeht. Unterscheidung bedeutet, dass eine Seite eines Beobachtungsobjekts thematisiert, die andere bzw. die anderen aber diskriminiert, wenn nicht negiert werden. Die dadurch entstehende Asymmetrie kann allein durch Zeit und das Hintereinanderschalten mehrerer Beobachtungen relativiert werden. Die herrschende Meinung reagiert hierauf, indem sie die möglicherweise betroffenen Grundrechts- und Verfassungspositionen nacheinander prüft. Auch das „Denken in Grundrechtssituationen“ kann die mit jeder Beobachtung einhergehende Asymmetrie nicht überwinden; sie kann sie aber stärker als die herrschende Meinung relativieren.

II. Grundrechtskonkurrenzen Dementsprechend schwer fällt der herrschenden Meinung der Umgang mit Norm­ konkurrenzen, d. h. der tatbestandlichen Anwendbarkeit gleichrangiger Rechtsnormen auf ein und denselben Sachverhalt2. Eine Grundrechtskonkurrenz liegt vor, wenn für einen Lebenssachverhalt zugunsten desselben Grundrechtsträgers mehrere 2  Normkollisionen – die Kollision von Normen unterschiedlicher Rangstufen und die Kollision gleichrangiger Normen unterschiedlichen Alters – sind demgegenüber nach den Grundsätzen „lex superior derogat legi inferiori“ und „lex posterior derogat legi priori“ lösbar, wenngleich zweifelhaft ist, ob eine niederrangigere Norm, die im Widerspruch zu höherrangigerem Recht steht, von vorneherein nicht entsteht (v. Olshausen, JZ 1967, 116 (117); Lippold, Der Staat 29 (1990), 185 (190 ff.)) oder nur die

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Grundrechtsnormen tatbestandlich anwendbar sind 3. Eine Grundrechtskollision besteht demgegenüber, wenn die Grundrechtsgewährleistungen verschiedener Personen aufeinander treffen4. Mit der herrschenden Meinung ist anzunehmen, dass eine Grundrechtskonkurrenz bzw. Grundrechtskollision nicht nur dann vorliegt, wenn die konkurrierenden bzw. kollidierenden Grundrechte und Verfassungspositionen einander widersprechen5, sondern auch dann wenn diese widerspruchsfrei und pa­ rallel anwendbar sind. Widersprüche zwischen gleichrangigen und tatbestandlich einschlägigen Grundrechten und Verfassungspositionen bedürfen im Hinblick auf den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung der Auflösung. Dabei können mehrere Grundrechte und Verfassungspositionen alternativ oder kumulativ angewendet werden. Ein Grundrecht bzw. eine Verfassungsposition kann ein anderes Grundrecht bzw. eine andere Verfassungsposition verdrängen, mit ihm bzw. ihr parallel angewendet werden oder es kann zu einer Vermischung und Verzahnung unterschiedlicher Regelungen und Regelungskomplexe kommen6. Rechtsprechung und Literatur bestimmen zunächst die Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte bzw. den Garantiegehalt der betroffenen Verfassungspositionen präzise und zerlegen den Sachverhalt. Bei letzterem wird entweder das tatsächliche Geschehen in einzelne geschützte Handlungen zerlegt7 oder jedem Eingriff die nach seiner Zielrichtung betroffenen Grundrechte zugeordnet8. Ersteres hilft bei Handlungseinheit nicht. Letzteres scheitert mangels hinreichender Konkretheit der staatlichen Beschränkungsmaßnahmen, wenn der Eingriffsakt ein Gesetz oder eine sonstige Norm ist9. Die Verdrängung eines Grundrechts bzw. einer Verfassungsposition durch ein anderes Grundrecht bzw. eine andere Verfassungsposition kommt bei normlogischer oder normativer Spezialität in Betracht. Normlogische Spezialität10 liegt vor, wenn die Tatbestände zweier Grundrechte bzw. Verfassungspositionen deckungsgleich sind, der Tatbestand eines Grundrechts bzw. Verfassungsposition aber eine oder mehrere zusätzliche Voraussetzungen enthält. Sieht das tatbestandlich engere Grundrecht bzw. die tatbestandlich engere Verfassungsposition eine vom tatbestandlich weiteren Grundrecht bzw. von der tatbestandlich weiteren Verfassungsposition abweichende Rechtsfolge vor, ist anzunehmen, dass durch die Sonderregelung des tatMöglichkeit einer Vernichtung dieser Norm besteht (Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  93 Rdnr.  34; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 1991, §  20 Rdnr.  14). 3   Herrschende Meinung; Heß, Grundrechtskonkurrenzen, 2000, S.  49 m. Fußn.  10 u. 12. 4   Breuer, HdBStR VI, §  147 Rdnr.  96. 5   So aber Fohmann, EuGRZ 1985, 49 ff. 6   Heß, Grundrechtskonkurrenzen, 2000, S.  4 4 ff. 7   Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band  III/2, 1994, S.  1381. 8   Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S.  324 f.; Windthorst, Verfassungsrecht Band  I, 1994, Rdnr.  38; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, 1981, S.  294. 9   Heß, Grundrechtskonkurrenzen, 2000, S.  52 ff. 10   Die normlogische Spezialität im grundrechtlichen Bereich grds. bejahend BVerfGE 85, 219 (223); 84, 34 (58); 79, 292 (304); Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 28.  Aufl. 2012, Rdnr.  351 ff.; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (57); verneinend hingegen Berg, Konkurrenzen schrankendivergierender Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, 1968, S.  161 ff.; Peters, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Festschrift zu Ehren des Ministerpräsidenten Karl Arnold, 1955, S.  117 ff, S.  117 ff., 121 f.; Berkemann, NVwZ 1982, 85 (85).

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bestandlich engeren Grundrechts bzw. der tatbestandlich engeren Verfassungsposition die Rechtsfolge des tatbestandlich weiteren Grundrechts bzw. der tatbestandlich weiteren Verfassungsposition gerade ausgeschlossen bzw. modifiziert werden sollte. Eine normlogische Spezialität wird insbesondere im Verhältnis zwischen den besonderen Freiheitsrechten einerseits und Art.  2 Abs.  1 GG andererseits sowie zwischen den besonderen Gleichheitssätzen auf der einen und dem allgemeinen Gleichheitssatz auf der anderen Seite angenommen. Streitig ist hingegen, ob auch besondere Freiheitsrechte zueinander in einem Verhältnis der Spezialität stehen können. Im Fall der normativen Spezialität sind die Tatbestände zweier oder mehrerer Grundrechte bzw. Verfassungspositionen nicht deckungsgleich, sondern überschneiden sich nur. Das speziellere Grundrecht bzw. die speziellere Verfassungsposition soll dabei die allgemeinere verdrängen, wenn sie für den zu entscheidenden Sachverhalt eine abschließende Sonderregelung darstellt11, weil sie die höhere Sachnähe12 aufweist oder bzw. und die jeweilige Tätigkeit besonders schützt13. Im Gegensatz zur tatbestandsorientierten Normverdrängung ist nach der eingriffsorientierten entscheidend, welches Schutzgut eher betroffen ist14. Die normkumulierenden und -kombinierenden Lösungen versuchen demgegenüber alle in einer Grundrechtssituation einschlägigen Grundrechtsnormen zur Geltung zu bringen. Eben dies gelingt dem hier propagierten „Denken in Grundrechtssituationen“ ohne weiteres.

III.  Das Grundrechtsverhältnis – eine Bestandsaufnahme Dogmatischer Ausgangspunkt für das „Denken in Grundrechtssituationen“ ist das Grundrechtsverhältnis. Das Grundrechtsverhältnis hat in der Rechtsprechung keine, in der Literatur (zu) wenig Konjunktur.

1.  Das Grundrechtsverhältnis in der Rechtsprechung In der Rechtsprechung wird das Grundrechtsverhältnis, wenn überhaupt, vornehmlich im Zusammenhang mit dem europäischen Mehrebenensystem thematisiert. Das Bundesverfassungsgericht führt im „Görgülü-Beschluss“15, in dem es zum Verhältnis zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem nationalen Recht grundlegend Stellung genommen hat, aus:   Breuer, HdBStR VI, §  147 Rdnr.  98; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S.  331 f.; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, 1981, S.  297 f. – Zweifelnd Herzog, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  5 Abs.  1, 2 Rdnr.  36. 12   BVerfGE 67, 186 (195); 65, 104 (112); 64, 229 (238); P. Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, 1975, S.  4 0 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  5 Abs.  3 Rdnr.  13. 13   Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band  1, 5.  Aufl. 2005, Art.  1 Abs.  3 Rdnrn.  290 f. 14   Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  5 I, II GG, Rdnr.  38; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band  III/2, 1994 S.  1406. 15   BVerfGE 111, 307, 324 f.; vgl. dazu z. B. H. Radtke, NStZ 2010, 537, 540. 11

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„Hat der Gerichtshof in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. Gerade in Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders ausfallen können. Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden, mit der Folge, dass der insofern „unterlegene“ und möglicherweise nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte.“

Das Bundesverfassungsgericht bringt hier seine Sorge zum Ausdruck, die Rechte Drittbetroffener könnten vernachlässigt werden. Dabei handelt es sich um eine der wenigen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf das Grundrechtsverhältnis hinweist. Den dem Grundrechtsverhältnis verwandten Terminus „Verfassungsrechtsverhältnis“ verwendet das Bundesverfassungsgericht in prozessualem Sinn insbesondere im Rahmen von Bund-Länder- und Organstreitigkeiten16, vereinzelt spricht das Gericht auch von einem „Verfassungsverhältnis“17.

2.  Das Grundrechtsverhältnis in der Literatur In der Literatur findet der Begriff des „Grundrechtsverhältnisses“ bislang wenige, aber zunehmende Verwendung18. H.-U. Gallwas differenziert zwischen klassischem, zivilrechtlichem und kombiniertem Grundrechtsverhältnis: Im klassischen Grundrechtsverhältnis tritt der Einzelne mit seinem Individualinteresse dem Staat als Repräsentanten eines Allgemeininteresses gegenüber. Im zivilrechtlichen Grundrechtsverhältnis stellt ein Privater sein Interesse im Rahmen eines Rechtsstreits gegen einen Dritten gegen dessen Interesse und nimmt für den Vorrang seines Interesses die Grundrechte unmittelbar oder deren Wertordnungsgehalt in Anspruch. Im kombinierten Grundrechtsverhältnis schließlich begehrt der Einzelne vom Staat zivilrechtlichen Schutz seines Interesses gegen das Interesse eines anderen und zwar im Verhältnis zu dem anderen Pri16   BVerfGE 95, 250 ff.; 94, 351 ff.; 92, 203 (226); 90, 286 ff.; 81, 310 (329); 64, 301 ff.; 62, 295 ff.; 42, 103 (113); 41, 291 (303); 13, 54 (72 f.); 8, 122 (128); 2, 143 (155, 159) sowie BVerwG, NJW 1985, 2346 ff.; NJW 1976, 637 f. 17   BVerfGE 72, 330 ff. 18   Gallwas, Grundrechte, 2.  Aufl. 1995, Rdnrn.  119 ff.; Forsthoff, Der Staat 2 (1963), 385 ff.; Müller, DRiZ 1973, 333 (333 f.); Ossenbühl, FamRZ 1977, 533 (533 f.); Reinemann/Schulz-Henze, JA 1995, 811 ff.

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vaten unter Inanspruchnahme der Grundrechte unmittelbar bzw. als Wertordnungsnorm und im Verhältnis zum Staat unter Inanspruchnahme der aus demselben Grundrecht abgeleiteten öffentlich-rechtlichen Schutzpflicht19. Das von H.-U. Gallwas so bezeichnete Grundrechtsverhältnis erfasst indessen nur eine oder mehrere Grundrechtsdimensionen, nicht aber eine gesamte – hier gemeinte – Grundrechtssituation. Die geringe Konjunktur des Grundrechtsverhältnisses in der Literatur verwundert, zumal die Rechtsverhältnislehre dafür das Fundament bereitet20. Die Übertragung der Rechtsverhältnislehre aus dem Zivilrecht in das öffentliche Recht ist zwar vehement umstritten. Dies gilt schon für die bislang ganz im Vordergrund stehende Diskussion um eine Anwendung der Rechtsverhältnislehre allein im Verwaltungsrecht21. Dabei wird teilweise übersehen, dass das Rechtsverhältnisdenken für das Verwaltungsrecht kein Novum ist, sondern bereits die ältere Lehre hierauf zurückgriff, um verwaltungsrechtliche Rechte und Pflichten einander zuzuordnen. Trotz der äußerst kontroversen Aufnahme in der Literatur – P. Häberle sieht hierin den „neuen archimedischen Bezugspunkt des Verwaltungsrechtes“22, O. Bachof billigt dem Verwaltungsrechtsverhältnis, eine „beherrschende“ oder „zentrale Stellung im Verwaltungsrecht“23 zu; H. Meyer hingegen bezeichnet es als „das inhaltsloseste Instrument, das jemals angeboten worden ist“24, W. Löwer kritisiert die „Impulslosigkeit des Begriffs“25 – thematisiert die Rechtsverhältnislehre zu Recht Gesamtkonstellationen und nicht einzelne Rechtsbeziehungen. Eben dies bestätigt auch E. Schmidt-Aßmann, der dem Denken vom Verwaltungsrechtsverhältnis her attestiert, zu einer Gesamtbetrachtung des erfassten Lebenssachverhalts zu veranlassen und zwischen einer heuristischen, einer strukturierenden und einer dogmatischen Funktion des Verwaltungsrechtsverhältnis differenziert. E. Schmidt-Aßmann betont zugleich die Bedeutung des Verwaltungsrechtsverhältnisses, indem er die Rechtsverhältnislehre neben dem Verwaltungsrecht, der Rechtsformenlehre, dem Verfahrensrecht und der Maßstabslehre als Ordnungsmuster des Handlungssystems der Verwaltung identifiziert26. Dem angedeuteten hohen Abstraktionsniveau des Rechtsverhältnisses korrespondieren relativ weite Definitionen. N.  Achterberg beschreibt das Rechtsverhältnis als die „rechtsnormgestaltete Beziehung zwischen zwei oder mehreren Subjekten“27. Die Übertragung der Rechtsverhältnislehre nicht nur in das Verwaltungs-, sondern auch in das Verfassungsrecht und namentlich in den Bereich der Grundrechte lässt zwar weiteren und ebenso vehementen Widerspruch erwarten, erscheint aber aus den gleichen Gründen wie im Hinblick auf das Verwaltungsrecht als berechtigt. Erste Ansätze hierzu finden sich sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung:   Gallwas, Grundrechte, 2.  Aufl. 1995, Rdnrn.  119 ff.   Henke, DÖV 1980, 621 ff. 21   Zur Rechtsverhältnislehre Aulehner, in: Haratsch/Kugelmann/Repkewitz (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft, 1996, S.  195 ff., 205. 22   Häberle, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S.  248 ff., 250. 23   Bachof, VVDStRL 30 (1972), 193 (231). 24   Meyer, VVDStRL 45 (1987), 272 – Diskussionsbeitrag. 25   Löwer, NVwZ 1986, 793 (794). 26   Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S.  250 ff. 27   Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, 1982, S.  31. 19

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IV.  Die Binnendifferenzierung zwischen Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung als Entscheidungsprämisse Die Binnendifferenzierung zwischen Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung stellt eine Entscheidungsprämisse unterster Ordnung dar. Entscheidungen sind keine bloße Selektion aus einer oder mehreren Alternativen, sondern mehrgliederige Prozesse. Sie setzen sich aus Entscheidungen über Zweckund Zielprogramme, Prioritäten, Definitionen der Umwelt, Suchvorgänge und Bewertungen alternativer Maßnahmen, Auswahl von Maßnahmen, Rechtsform der ausgewählten Maßnahme, Implementationsvorgänge und Entscheidungen über Erfolg oder Misserfolg. Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik markieren Entscheidungsprämissen oberster und mittlerer Ordnung zusammen.

B.  Anwendung des „Denkens in Grundrechtssituationen“: Organtransplantation Bereits bei der Prüfung des Schutzbereichs wird nicht ein singuläres Grundrecht und bzw. oder eine einzelne Verfassungsposition herausgegriffen. Vielmehr werden schon auf dieser Stufe sogleich alle Grundrechte und Verfassungspositionen aller möglicherweise Betroffenen und damit auch diejenigen der Allgemeinheit thematisiert. In hochsensiblen Grundrechtssituationen wird daher nicht ein – insgesamt vielleicht eher nachrangiges – Grundrecht bzw. eine – im Gesamtkontext eventuell weniger wichtige – Verfassungsposition herausgegriffen und die schwerwiegenderen gegenläufigen Grundrechte bzw. Verfassungspositionen erst gegen Ende der Prüfung des nachrangigen Grundrechts bzw. der weniger wichtigen Verfassungsposition im Rahmen der Abwägung thematisiert. Alle Grundrechte und Verfassungspositionen werden zwar auch nicht gleichzeitig aber zeitnäher betrachtet. Im Bereich der namentlich in Deutschland seit langem hochkontroversen Diskussion über Organspenden werden nicht allein die Grundrechte und Verfassungspositionen der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt gestellt, die sich mit dem Thema Organspende überhaupt nicht befassen wollen, sondern es werden zeitnah auch die zentralen Grundrechte und Verfassungspositionen der Organempfängerinnen und Organempfänger sowie die Grundrechte und Verfassungspositionen anderer – bspw. der Transplanteure – mit in die Betrachtung einbezogen. Zwingt der Gesetzgeber die Bürgerinnen und Bürger, sich für oder gegen eine Lebendspende bzw. für oder gegen eine postmortale Organentnahme zu entscheiden (sog. Entscheidungslösung) oder bzw. und fingiert er die Zustimmung, wenn Verstorbene der Organentnahme nicht zu Lebzeiten widersprechen (sog. Widerspruchslösung), werden nicht zuvörderst die Grundrechte und Verfassungspositionen der Bürgerinnen und Bürger thematisiert, die sich mit der Möglichkeit einer Organspende befassen müssen.

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I.  Regelungsmodelle für die Organtransplantation Organtransplantationen können – vereinfacht ausgedrückt – zu sehr erleichtert und damit die Grundrechte der Organspenderinnen und Organspender und deren Angehöriger verletzt bzw. – umgekehrt – zu sehr erschwert und hierdurch die Grundrechte der Organempfängerinnen und Organempfänger sowie der Transplantationsmedizinerinnen und Transplantationsmediziner in verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Weise beeinträchtigt werden. Allgemein werden für die Organtransplantation namentlich folgende Regelungsmodelle diskutiert.

1. Notstandslösung Die sog. Notstandslösung, die in Gesetzentwürfen der Berliner CDU-Fraktion 1973 und 1978 vorgeschlagen worden war, lässt eine Organtransplantation ohne bzw. gegen den – auch ausdrücklichen – Willen der Organspenderin bzw. des Organspenders zu, wenn hierdurch das Leben der Organempfängerin bzw. des Organempfängers gerettet oder ihre bzw. seine Gesundheit erhalten werden kann. Das Notstandsmodell orientiert sich ausschließlich an den Interessen der Organempfängerinnen und Organempfänger und stellt damit eine Extremposition dar28.

2. Widerspruchslösung Die sog. Widerspruchslösung erklärt eine Organentnahme bereits dann für zulässig, wenn ihr die Organspenderin bzw. der Organspender selbst nicht widersprochen hatte. Ihr bzw. sein Schweigen zu einer Organentnahme wird wie eine Zustimmung gewertet. Angehörige müssen weder befragt noch informiert werden 29.

3.  Erweiterte Zustimmungs- und Informationslösung Nach der erweiterten Zustimmungslösung sind, wenn keine Erklärung der Organspenderin bzw. des Organspenders vorliegt, deren bzw. dessen Angehörige einzuschalten. Die Organtransplantation ist zulässig, wenn die Angehörigen zustimmen. Die Informationslösung modifiziert die erweiterte Zustimmungslösung insofern, als die Angehörigen bei einer Nichterklärung der Organspenderin bzw. des Organspenders nur verständigt werden müssen, die Organentnahme aber bereits dann zu28   Vgl. z. B. Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Transplantation und Sektion, 1992, S.  53 f.; Schmidt-Didczuhn, ZRP 1991, 264 (267); Kloth, Rechtsprobleme der Todesbestimmung und der Organentnahme von Verstorbenen, 1994, S.  138 ff. 29  BT-Drs. 13/4355, S.  13; Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Transplantation und Sektion, 1992, S.  54 ff.; Schmidt-Didczuhn, ZRP 1991, 264 (267 ff.); Kloth, Rechtsprobleme der Todesbestimmung und der Organentnahme von Verstorbenen, 1994, S.  149 ff.

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lässig ist, wenn sie nicht innerhalb einer ihnen mitgeteilten bzw. mit ihnen vereinbarten Frist widersprechen.

4.  Enge Zustimmungslösung Nach der sog. engen Zustimmungslösung ist – ebenso wie bei der Widerspruchslösung – allein der Wille der Organspenderin bzw. des Organspenders entscheidend. Soweit die Organspenderin bzw. der Organspender selbst keine Erklärung abgegeben hat, wird dies aber – anders als bei der Widerspruchslösung – als Ablehnung der Organtransplantation bewertet 30.

5.  Einwilligungs-/Widerspruchs- und Erklärungslösung An die zweifelhafte Bewertung des Schweigens der Organspenderin bzw. des Organspenders als Zustimmung oder Ablehnung einer Organspende knüpft namentlich die Einwilligungs-/Widerspruchslösung an. Nach diesem Modell wird jede Bürgerin und jeder Bürger verpflichtet, einer Organspende zuzustimmen oder ihr zu widersprechen. Die Erklärungslösung relativiert die den Bürgerinnen und Bürgern aufgebürdete Einwilligungs- bzw. Widerspruchspflicht, indem sie als dritte Möglichkeit die Erklärung, derzeit keine Erklärung abgeben zu wollen, zulässt.

II.  „Grundrechtssituation“ Organtransplantation 1.  Schutzbereich eines „Gesamtgrundrechts“ Die gleichzeitige Erfassung aller Schutzbereiche aller betroffenen Grundrechte aller erkennbarer Grundrechtsträger und deren Ergänzung durch die Verfassungspositionen anderer Betroffener macht die verfassungsrechtliche Betroffenheit in der jeweiligen Verfassungssituation umfassend transparent. Damit können auch Situationen grundrechtlich gewürdigt werden, die sich nicht durch eine gleichgerichtete, kollektive Grundrechtsnutzung im herkömmlichen Sinn31 auszeichnen, sondern durch eine Vielzahl von Grundrechtsinanspruchnahmen und Grundrechtsbeziehungen charakterisiert sind. Nunmehr können auch Grundrechtssituationen angemessen betrachtet werden, die nicht allein durch die Addition individueller Grundrechtsbetätigungen beschrieben werden können, sondern in denen die spezifische Grundrechtssituation gerade erst Voraussetzung für die Grundrechtsbetätigung des Einzelnen ist 32. 30  BT-Drs. 13/4355, S.  13; Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Transplantation und Sektion, 1992, S.  61 f.; Schmidt-Didczuhn, ZRP 1991, 264 (269); Kloth, Rechtsprobleme der Todesbestimmung und der Organentnahme von Verstorbenen, 1994, S.  171 ff. 31   Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, S.  79 f. 32   Exemplarisch hierfür sind Infrastrukturnetze für Energieversorgung, Telekommunikation etc.,

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a)  Schutzbereiche der Grundrechte und Verfassungspositionen der Organempfänger: Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG – Leben und körperliche Unversehrtheit Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG gibt jedermann das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diese Verbürgung wird berührt, wenn staatliche Regelungen dazu führen, dass einem kranken Menschen eine nach dem Stand der medizinischen Forschung prinzipiell zugängliche Therapie, mit der eine Verlängerung des Lebens, mindestens aber eine nicht unwesentliche Minderung des Leidens verbunden ist, versagt bleibt. Bei vielen schwerkranken Menschen kann heute durch eine Organtransplantation das Leben gerettet oder die Krankheit weitgehend geheilt oder gelindert und damit die Lebensqualität entscheidend verbessert werden. Es handelt sich um eine in der medizinischen Wissenschaft anerkannte und praktizierte Therapie. Schafft der Staat nicht alle vertretbaren Möglichkeiten zur Organtransplantation wird er seinen aus den Grundrechten resultierenden Schutzpflichten nicht gerecht. Das Grundgesetz regelt Schutzpflichten nicht ausdrücklich. Art.  1 Abs.  1 Satz 2 GG weist zwar insbesondere in Verbindung mit Art.  1 Abs.  3 GG auf die Möglichkeit von Schutzpflichten hin33, bedarf aber der interpretatorischen Erläuterung, zumal „schützen“ i. S. d. Art.  1 Abs.  1 Satz 2 GG auch als Durchsetzung der grundrechtlichen Abwehrfunktion verstanden werden kann34. In eben diesem Sinn war auch eine frühere, nicht in das Grundgesetz aufgenommene Fassung des Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG gemeint, derzufolge jeder das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf persönliche Freiheit und Sicherheit“35 haben sollte. Dieses Recht auf Sicherheit sollte nur die Sicherheit vor dem staatlichen Eingriff gewährleisten36. In seiner heutigen Fassung begründet das Grundgesetz keine allgemeine, ausdrückliche, staatliche Schutzpflicht, sondern schreibt nur einzelne, besondere Schutzaufträge explizit vor. Zu nennen sind hier Art.  6 Abs.  1 und 4, Art.  7 Abs.  4 und Art.  5 Abs.  3 Satz 1 GG37. Soweit das Grundgesetz Schutzpflichten auch nur ansatzweise vorsieht, kommt dies in den Schranken der Freiheitsgrundrechte zum Ausdruck38.Die Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten ist zwar allgemein anerkannt. Vehement umstritten sind aber die näheren Modalitäten der staatlichen Schutzpflicht 39. Rechtsprechung und Literatur ordnen die staatlichen Schutzpflichten unterschiedlichen Grundrechtsdimensionen zu. Dabei wird nahezu das gesamte Spektrum an Möglichkeiten vertreten: Die staatlichen Schutzpflichten werden ebenso als Aspekte der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Wertordnung wie als Teil der abwehr- und leistungsrechtlichen Dimensionen der Grundrechte verstanden. Das vgl. dazu Kutzschbach, Grundrechtsnetze. Netzbetrieb und Netzzugang als Grundrechtsfrage, 2004, S.  13 ff., 148 ff. 33   Stein/Frank, Staatsrecht, 20.  Aufl. §  2007, §  58 V. 34   Isensee, HdBStR V, §  111 Rdnr.  13. 35   Siehe hierzu Maatz, JöR n. F. Bd.  1 (1951), S.  59 ff. 36   Isensee, HdBStR V, §  111 Rdnr.  23 m. Fußn.  49. 37   Siehe hierzu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  III/1, 1988, S.  934 ff. 38   Deutlicher demgegenüber Art.  101 BV: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Gesetze und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet.“ – Seewald, Zum Verfassungsrecht der Gesundheit, 1981, S.  79 ff., 141 ff. leitet die Schutzpflichten aus den Grundrechtsschranken ab. 39   Vgl. z. B. den Überblick bei Pietrzak, JuS 1994, 748 ff.

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Bundesverfassungsgericht40 und weite Teile der Literatur41 identifizieren die grundrechtlichen Schutzpflichten mit dem Charakter der Grundrechte als objektive Wert­ entscheidungen. Dabei wird teilweise sogar ein Vorrang der grundrechtlichen Qualität als Schutzpflicht vor derjenigen als objektiver Wertentscheidung erwogen42 und bejaht43. Andere44, insbesondere D. Murswiek45 und J. Schwabe46 ordnen die Schutzpflichten der Abwehrdimension der Grundrechte zu47, indem sie dem Staat die Erteilung einer Erlaubnis oder allgemein: das Unterlassen eines Verbots als Handlung zurechnen. Wegen des staatlichen Gewaltmonopols müsse nämlich – so wird argumentiert – der Bürger nicht verbotene Beeinträchtigungen anderer hinnehmen. Die Grundrechtsbeeinträchtigung komme hierbei zum einen im Verbot zur Selbstverteidigung und zum anderen im Fehlen eines Eingriffsverbots gegen Dritte zum Ausdruck48. Hierdurch wird die tripolare Beziehung zwischen Staat/Bürger einerseits und Bürger/Bürger andererseits, die den staatlichen Schutzpflichten zugrunde liegt, auf den bipolaren Antagonismus zwischen Staat und Bürger zurückgeführt. Diese vornehmlich von D. Murswiek gefundene Ableitung der Schutzpflichten aus der grundrechtlichen Abwehrdimension unter Hinweis auf eine umfassende staatliche Garantenpflicht entspricht zudem einer insbesondere von N.  Luhmann hervorgehobenen soziologischen Beobachtung49: Die zunehmende Komplexität von Handlungsund Verursachungszusammenhängen erfordert die Bestimmung eines ersatzweisen Verantwortlichen. Als solcher stellt sich der Staat dar, da er sich die gesellschaftlich produzierten Risiken zurechnen lassen muss50. Die Leistungsdimension der Grundrechte thematisieren die Schutzpflichten insofern, als sie es nicht genügen lassen, dass der Staat selbst die Freiheitssphäre der Bürger nicht beeinträchtigt. Gefordert wird vielmehr, dass der Staat dem Bürger auch im „horizontalen“ Bürger/Bürger-Verhältnis Sicherheit gegenüber seinen Mitbürgern gewährleistet51. Gleichwie welcher Grundrechtsdimension man die Schutzpflichten auch zuordnet, sind sie jedenfalls nicht generell aus einem einzelnen Grundrecht abzuleiten, sondern werden durch das jeweils sachlich einschlägige aktualisiert. Die Rechtsprechung des Bundesverfas40   BVerfGE 77, 170 (214); 65, 1 (45 f.); 56, 54 (73, 78); 53, 30 (53, 57); 49, 89 (141 f.); 49, 24 (53); 39, 1 (41 f.). 41   Hesse, HdBVerf R, §  5 Rdnrn.  26, 50; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 28.  Aufl. 2012, Rdnr.  99; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (12 f.); Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S.  121, 194 f.; Jarass, AöR 110 (1985), 363 (378 f.); Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S.  21 ff., 33 ff.; Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167 (183). A. A. Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S.  106. 42   Vgl. insb. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (12). 43   Klein, DVBl.  1994, 489 (491 m. Fußn.  38). 44   Vgl. dazu Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S.  79 ff. 45   Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S.  62 ff., 91 ff., 102 ff. – ders., WuV 1986, 179 (182 ff.); ders., NVwZ 1986, 611 f.; ders., NVwZ 1987, 481 (Stellungnahme zu Langer, NVwZ 1987, 195 ff.). 46   Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S.  213 ff.; ders., Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S.  16 f., 26 ff., 62 ff. 47   Zusammenfassend dazu Illig, Das Vorsorgeprinzip im Abfallrecht, 1992, S.  29 ff. 48   Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S.  104, 109. 49   Auf diesen Zusammenhang weist Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S.  58 hin. 50   Vgl. dazu Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S.  35. 51   Zum Leistungsgehalt der Schutzpflichten vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  III/1, 1988, S.  947 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S.  418.

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sungsgerichts hierzu ist zwar uneinheitlich, weil das Gericht einerseits teilweise nur auf die speziellen Grundrechte – insbesondere Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG – abstellt und diesen eine objektive Wertentscheidung entnimmt, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gilt und verfassungsrechtliche Schutzpflichten begründet52, andererseits aber – sei es allein, sei es ergänzend – Art.  1 Abs.  1 Satz 2 GG zur Begründung heranzieht53. Art.  1 Abs.  1 Satz 2 GG spiegelt zwar die Existenz staatlicher Schutzpflichten wider. Diese beschränken sich auch nicht auf die Menschenwürde, sondern sind im Hinblick auf das staatliche Gewaltmonopol und aus der Perspektive des Rechts- und Sozialstaatsprinzips auf alle Grundrechte zu übertragen54. Entscheidend für die Annahme von Schutzpflichten ist aber nicht der Wortlaut des Art.  1 Abs.  1 Satz 2 GG; diesem sind vielmehr nur in der Zusammenschau mit dem Grundgesetz insgesamt staatliche Schutzpflichten zu entnehmen. Die Schutzpflichten sind dabei insbesondere aus den „unspezifizierten, ganzheitlichen Verweisungsklauseln“55 der benannten Schranken der Freiheitsgrundrechte – insbesondere „verfassungsmäßige Ordnung“ (Art.  2 Abs.  1 GG), „um straf baren Handlungen vorzubeugen“ (Art.  11 Abs.  2 GG), „zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (Art.  13 Abs.  3GG) sowie der „Rechte anderer“ (Art.  2 Abs.  1 GG) – abzuleiten. Da die Nachfrage nach Spenderorganen das Angebot weit überschreitet, muss die Regelung der Organspende auf diese extreme Knappheitslage eingestellt werden. Mithin ist grundrechtsdogmatisch die Schutzpflichtenkomponente der Grundrechte angesprochen. Einwände gegen die Schutzpflichtendogmatik im Kontext der Regelung der Organtransplantation könnten sich allenfalls daraus ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgeführt hat, der Staat habe die Grundrechtsträger insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Im Schrifttum ist dieser Passus dahin gehend ausgelegt worden, dass eine staatliche Schutzpflicht nur dann bestehe, wenn die Bedrohung von Dritten ausgehe. Dies ist in der Tat die klassische Gefährdungslage, die das Bundesverfassungsgericht zum Anlass für die Entwicklung der Schutzpflichtendogmatik genommen hat. Eine solche Gefährdungslage liegt für einen potenziellen Organempfänger typischerweise nicht vor. Behandlungsbedürftige Erkrankungen sind keine Eingriffe in Grundpositionen. Der restriktiven Interpretation der Schutzpflichten als einer Art „Dritt­ abwehrrechte“ kann jedoch nicht gefolgt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat stets formuliert, dass die staatliche Schutzpflicht „insbesondere“ bzw. „vor allem“ ausgelöst werde, wenn Gefahren aus gefährlichem Tun Dritter resultieren. Durch diesen Vorbehalt hat es deutlich gemacht, dass es durchaus auch um den Schutz von anders verursachten Gefahren gehen kann. Auch die Ratio der Schutzpflichtendogmatik legt eine solche Auffassung nahe. Dem Individuum ist in vielen Fällen wenig geholfen, wenn der Staat – so wie es die Abwehrfunktion der Grundrechte fordert – nur von unzulässigen Eingriffen in geschützte Rechtspositionen Abstand nimmt oder solche Eingriffe Dritter verhindert. Die Pflicht des Staates, sich fördernd und schützend vor die Grundrechte zu stellen, dient dazu, den effektiven Grundrechtsge  BVerfGE 85, 191 (212); 79, 174 (201 f.); 77, 170 (214).   BVerfGE 49, 89 (142); 46, 160 (164); 39, 1 (41). – Zu BVerfGE 88, 203 (251) siehe in diesem Zusammenhang insbesondere Hermes/Walther, NJW 1993, 2337 (2339). 54   Isensee, HdBStR V, §  111 Rdnrn.  83 ff.; Klein, DVBl.  1994, 489 (493). 55   Isensee, HdBStR V, §  111 Rdnr.  13. 52

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brauch in jeder Lebenslage zu ermöglichen. Die staatliche Schutzpflicht kann sich daher ebenso angesichts bedrohlicher Naturkräfte, bewusster Selbstgefährdung oder Selbstschädigung und somit auch hier aktualisieren.

b)  Schutzbereiche der Grundrechte und Verfassungspositionen der Transplanteurinnen und Transplanteure Die in Deutschland unzureichende Anzahl an Spenderorganen kann die Transplanteurinnen und Transplanteure in ihren Grundrechten verletzen.

aa)  Art.  4 Abs.  1 GG – Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit Für Ärztinnen und Ärzte, die ihr gesamtes Verhalten darauf ausrichten, Leiden zu beheben, können Einschränkungen der Organtransplantation die Freiheit der Gewissensentscheidung und damit den Schutzbereich des Grundrechts aus Art.  4 Abs.  1 GG tangieren. Das einheitliche Grundrecht des Art.  4 Abs.  1 GG schützt über die glaubensbezogenen Handlungen im engeren Sinn hinaus auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln56. Die von der Verfassung gewährte Gewissensfreiheit umfasst nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu haben, sondern grundsätzlich auch die Freiheit, von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote und Verbote des Gewissens zu handeln. Ärztinnen und Ärzte möchten ihre Patientinnen und Patienten heilen, ohne dabei Gewissenskonflikten ausgesetzt zu sein. Insofern wird der Schutzbereich des Art.  4 Abs.  1 GG durch Beschränkungen der Organtransplantation dann berührt, wenn die zur Heilung erforderlichen Organe nicht zur Verfügung gestellt werden können. Zum einen wird Ärztinnen und Ärzten dadurch die Möglichkeit verwehrt, ihrem Heilungsauftrag nachzukommen. Zum anderen werden Transplantationsärztinnen und Transplantationsärzte durch den Mangel eventuell gezwungen, auszuwählen, welchen Menschen sie heilen und welchen sie sterben lassen.

bb)  Art.  5 Abs.  3 GG – Wissenschaftsfreiheit Regelungen der Organtransplantation können den Schutzbereich der durch Art.  5 Abs.  3 GG gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit tangieren. Wissenschaft ist dabei alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist57. Die Wissenschaftsfreiheit stellt hierbei den Oberbegriff zur Forschungs- und Lehrfreiheit dar. Geschützt ist daher die wissenschaftliche Forschung und die wissenschaftliche Lehre58. Regelungen der Organtransplan  BVerfGE 108, 282 (297); Czermak, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, 2008, Rdnr.  119.   BVerfGE 35, 79 (113). 58   Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  5 III Rdnr.  85. 56 57

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tation betreffen damit die Wissenschaftsfreiheit kaum. Ihr Ziel wird es sein, durch eine Regelung rechtlicher und organisatorischer Rahmenbedingungen für die Organtransplantation Leben zu erhalten und schwerwiegende Krankheiten zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern. Sie zielen auf die Erhaltung von Leben und Gesundheit, nicht auf die Regelung wissenschaftlicher Betätigung. Eine gegenteilige Einschätzung kommt nur insofern in Betracht, als Routine, Behandlungsmethoden und medizinische Forschung und Wissenschaft durch eine höhere Zahl von Organtransplantationen gefördert werden59. Dem ist entgegen zu halten, dass die Transplantation zumindest einiger Organe mittlerweile zur medizinischen Routine gehört und bei ihrer Durchführung kein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn mehr zu erwarten ist. Der Schutzbereich des Art.  5 Abs.  3 GG ist mithin nach hiesiger Ansicht nicht eröffnet.

cc)  Art.  12 Abs.  1 GG – Berufsfreiheit Die in Deutschland unzureichende Anzahl an Spenderorganen kann die Transplanteure in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art.  12 Abs.  1 GG) tangieren. Der sachliche Schutzbereich des Art.  12 Abs.  1 GG ist durch den Berufsbegriff geprägt. Darunter versteht man jede auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage. Dies ist nicht eng zu verstehen. Unter den Berufsbegriff fallen daher sowohl selbstständige als auch unselbstständige Tätigkeiten. Der Wortlaut des Art.  12 Abs.  1 GG unterscheidet weiter zwischen Berufswahl und Berufsausübung. Das hinderte das Bundesverfassungsgericht indes nicht, in seinem für die Dogmatik des Art.  12 GG grundlegenden „Apothekenurteil“ von einem einheitlichen Grundrecht auszugehen und Wahl und Ausübung als einzelne Facetten der Berufsfreiheit zu deuten. Diese Sicht hat sich trotz vereinzelter Kritik durchgesetzt. Der Beruf der Transplantationsmedizinerin bzw. des Transplantationsmediziners ist ein Beruf, dessen freie Wahl und freie Ausübung durch Art.  12 Abs.  1 GG geschützt sind. Dabei kann es dahin stehen, ob nur die Tätigkeit der Ärztin bzw. des Arztes allgemein Beruf i. S. d. Art.  12 Abs.  1 GG ist oder die Transplantationsmedizinerin bzw. der Transplantationsmediziner einen gesonderten Beruf i. S. d. Art.  12 Abs.  1 GG ausübt. Denn diese Differenzierung ist vornehmlich für die Einstufung des Eingriffs als Regelung der Berufsausübung oder der Berufswahl und damit erst für die Eingriffsrechtfertigung entscheidend. Die Berufsdefinition ist in der älteren Rechtsprechung vor allem des Bundesverwaltungsgerichts durch das beschränkende Merkmal der erlaubten bzw. nicht verbotenen Betätigung ergänzt worden. In der Kommentarliteratur findet sich mit ähnlicher Zielrichtung der Hinweis, die betreffende Betätigung dürfe nicht sozial- oder gemeinschädlich sein bzw. dem Menschenbild des Grundgesetzes widerstreiten. Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Rechtsprechung inzwischen geändert und klargestellt, dass auch Verbote grundsätzlich an Art.  12 Abs.  1 GG zu messen sind. Aus diesem Grunde ist das Merkmal „erlaubte Betätigung“ nicht in die Berufsdefinition aufzunehmen, wie es auch in der 59   In diese Richtung Kloth, Rechtsprobleme der Todesbestimmung und der Organentnahme von Verstorbenen, 1994, S.  115 f.

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neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts praktiziert wird. Damit können sich auch diejenigen Transplantationsmediziner auf das Grundrecht der Berufsfreiheit berufen, die Organtransplantationen vornehmen, welche nach dem TPG unzulässig sind.

c)  Schutzbereiche der Grundrechte und Verfassungspositionen der potenziellen Organspenderinnen und Organspender Für die potenziellen Organspenderinnen und Organspender streiten eine Vielzahl möglicherweise tangierter Grundrechte und Verfassungspositionen. Dabei ist zwischen der Befassung mit einer Organspende zu Lebzeiten und der Organentnahme zu differenzieren.

aa) Organentnahme (1)  Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG – Leben und körperliche Unversehrtheit Für die Organspenderinnen und Organspender stellt Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG bei der postmortalen Organspende allenfalls eine schwache Verfassungsposition dar. Das in Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG garantierte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit erfasst die Körper Verstorbener nicht. Allein Maßnahmen im Vorfeld einer Organtransplantation wie die Feststellung des Todeszeitpunktes und der Gewebeverträglichkeit tangieren Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG60. Teilweise wird auch angenommen, Menschen seien nach dem Hirntod sterbende Menschen, aber keine Leichname. Organentnahmen nach Hirntod könnten danach Art.  1 Abs.  1 und Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG berühren61. Bei Lebendspenden kann Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG demgegenüber eine zentrale Rolle zukommen. Nach dem Wortlaut des Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG wird dem Einzelnen zunächst ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt. Dieses Recht beinhaltet unmittelbaren Schutz vor Eingriffen in die physische Existenz des menschlichen Körpers. Dies schützt den Einzelnen jedenfalls vor Organentnahmen ohne seine Zustimmung zu Lebzeiten. Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG kann drüber hinaus umgekehrt ein Recht zur Lebendspende vermitteln. Der Begriff der körperlichen Unversehrtheit beschränkt sich nämlich nicht auf die objektiv materielle Substanz des Körpers, sondern erfasst auch das subjektive Interesse an seiner Unversehrtheit. Das Freiheitsrecht aus Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG beinhaltet als negative Komponente das Recht des Einzelnen auf Freiheit vor und Freisein von Eingriffen. Entsprechend wird im Schrifttum teilweise vertreten, dass sich hieraus als positive Komponente die Freiheit zur Verfügung über diese Unversehrtheit ergeben müsse; denn nur so werde das Recht auf körperliche Unversehrtheit umfassend geschützt, zumal sich ein derartiges Freiheitsrecht grundsätzlich   Maurer, DÖV 1980, 7 (14).   Kadelbach/Müller/Assakkali, JuS 2012, 1093 ff.

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in der Verfügungsfreiheit über das Rechtsgut äußere62. Da die Entscheidung des Einzelnen über die Verletzung der eigenen körperlichen Integrität nach dieser Auffassung in den Kernbereich der menschlichen Autonomie fällt, kann man insofern ein Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowohl wörtlich als auch systematisch dem Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG zuordnen63. Auch die mit einer Lebendspende verbundene Selbstgefährdung steht diesem Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper nicht von vorneherein entgegen. Das Bundesverfassungsgericht erkennt an, dass der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf, weil auch selbstgefährdendes Verhalten Ausübung grundrechtlicher Freiheit sei; unabhängig davon meint das Gericht allerdings, ein legitimes Gemeinwohlanliegen darin sehen zu können, dass Menschen davor bewahrt werden, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen. In der verfassungsrechtlichen Diskussion wird demgegenüber hervorgehoben, dass zur grundrechtlichen Freiheit die Möglichkeit gehöre, für die eigene Person Risiken einzugehen oder Schäden in Kauf zu nehmen, soweit nicht Dritte oder die Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden und deshalb ein Grundrechtsschutz vor sich selbst nicht mit dem freiheitlichen Konzept der Grundrechte vereinbar sei. Dies muss in besonderer Weise für Entscheidungen über die eigene körperliche Integrität gelten. Auch das Bundesverfassungsgericht verneint ein Recht auf Selbstgefährdung nur ausnahmsweise, wenn die Betroffenen nicht hinreichend selbstverantwortlich handeln können, oder für Alltagshandlungen, die auch fremdschädigend sind. Auch ein Verhalten, das Risiken für die eigene Gesundheit oder gar deren Beschädigung in Kauf nimmt, ist grundrechtlich geschützt64.

(2)  Art.  1 Abs.  1 GG – Menschenwürde Regelungen der Organtransplantation können gegen Art.  1 Abs.  1 GG verstoßen. Die Rechtsnatur des Art.  1 Abs.  1 GG und seine Einstufung als Grundrecht sind streitig. Zur Begründung der Grundrechtsqualität des Art.  1 Abs.  1 GG wird auf die Überschrift vor Art.  1 GG und den Inhalt und die Bedeutung der Norm verwiesen. Dagegen kann indessen die Formulierung des Art.  1 Abs.  3 GG, der von den nachfolgenden Grundrechten spricht, angeführt werden. Unabhängig hiervon verkörpert Art.  1 Abs.  1 GG einen überpositiven Rechtsgrundsatz und stellt im Hinblick auf Art.  79 Abs.  3 GG eine oberste Wertentscheidung des Grundgesetzes dar.

 Vgl. Wolffgang/Ugowski, Jura 1999, 593 (595), m. w. N.  z um Meinungsstand.   Vgl. auch die abweichende Meinung der Verfassungsrichter Hirsch, Niebler und Steinberger zum Beschluss BVerfGE 52, 131 (171 ff.); dort heißt es: „Die Bestimmung über seine leiblich-seelische In­ tegrität gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist er aus Sicht des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu leben und zu entscheiden. Eben diese Freiheit zur Selbstbestimmung wird [.  .  .] durch Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG besonders hervorgehoben und besonders verbürgt.“ 64   Vgl. BVerfGE 59, 275 (278); 90, 145 (171); BVerfG, NJW 1987, 180 (180); BVerfG, NJW 1999, 3399 (3402). 62

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Die Grundrechte stehen grundsätzlich nur Lebenden zu. Dies ergibt sich teilweise schon aus dem Wesen der einzelnen Grundrechte. Tote können keine Meinung äußern, sich versammeln, einen Verein gründen oder Beruf ergreifen. Gleichwohl werden für einige Grundrechte Vor- bzw. Nachwirkungen des Grundrechtsschutzes für die Zeit vor der Geburt bzw. nach dem Tod anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht wendet namentlich Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG auch auf den noch nicht geborenen Menschen an. Für Art.  1 Abs.  1 GG hat das Bundesverfassungsgericht in der „Mephisto“-Entscheidung 65 die Geltung auch für Tote bejaht. Zur Begründung hat das Gericht angeführt, es würde mit dem verfassungsverbürgten Verbot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem Achtungsanspruch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend ende die in Art.  1 Abs.  1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tod66. Die Menschenwürde endet also nicht mit dem Tod. Auch der würdevolle Umgang mit dem Leichnam sowie die Achtung der Totenruhe als Auswirkung des nachwirkenden Substrats der Menschenwürde sind rechtlich beachtlich. Art.  1 Abs.  1 GG schützt den Menschen als geistig-sittliches Wesen und verbietet es dem Staat, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen. Danach ist die Menschenwürde beeinträchtigt, wenn der Mensch zum Objekt, „zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe“ degradiert wird67. Die Garantie der Menschenwürde umfasst dabei auch den Leichnam. Die Organentnahme aus dem Körper eines Verstorbenen zur Organtransplantation stellt keine unwürdige Behandlung i. S. d. Art.  1 Abs.  1 GG dar. Der durch Art.  1 Abs.  1 GG geschützte fortdauernde Achtungsanspruch des Verstorbenen wird durch eine Regelung, die die Entnahme von Organen beim Verstorbenen auch ohne dessen zu Lebzeiten ausdrücklich erklärten Willen gestattet, grundsätzlich nicht tangiert. Die Organtransplantation für einen lebenden, schwerkranken Menschen entspricht im Gegenteil gerade den gemeinschaftsbezogenen und sozialen Wertvorstellungen des Grundgesetzes, wenngleich sich auch aus der Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen allenfalls eine moralisch-sittliche, nicht aber eine rechtliche Verpflichtung zur Organspende ableiten lässt. Weder aus dem Sozialstaatsprinzip noch aus der Menschenwürde derjenigen, die auf eine Organspende angewiesen sind, kann ein Anspruch gegen andere Bürgerinnen und Bürger auf Aufgabe höchstpersönlicher Rechtsgüter abgeleitet werden68. Eine – auch postmortale – Organentnahme übersteigt nach einer teilweise vertretenen Ansicht das, was dem Einzelnen als Solidarpflicht auch zur Rettung menschlichen Lebens zugemutet werden darf69. Darin spiegelt sich auch die Unabwägbarkeit der Menschenwürde wider. Auch der   BVerfGE 30, 173 (194). – Vgl. auch BVerfG, NJW 1994, 783.   Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 28.  Aufl. 2012, Rdnrn.  132 ff. 67   Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Vorauflage, Art.  1 Abs.  1 Rdnr.  28, zitiert nach Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  1 Abs.  1 Rdnr.  36 68   Kelle, Widerspruchslösung und Menschenwürde, 2011, S.  23; Kluth/Sander, DVBl.  1996, 1285 (1289 ff.). 69   Kluth/Sander, DVBl.  1996, 1285 (1293). 65

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Gedanke, dass die Organspende den durch Art.  1 Abs.  1 GG geschützten Wertvorstellungen entspreche, steht unter dem Vorbehalt der freiwilligen Einwilligung der Spenderin bzw. des Spenders70. Art.  1 Abs.  1 GG ist nicht tangiert.

(3)  Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht Das von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG abgeleitete Persönlichkeitsrecht wirkt zwar auch über den Tod hinaus, ist aber nicht tangiert, solange die Regelungen zur Organtransplantation es der jeweiligen Person überlassen, ob sie zu einer Organspende bereit ist oder nicht.

(4)  Art.  4 Abs.  1 GG – Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit Art.  4 Abs.  1 GG wirkt zwar ebenfalls über den Tod hinaus und umfasst auch das Recht auf eine der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung entsprechende Behandlung des Leichnams. Die Regelungen zur Organtransplantation tangieren Art.  4 Abs.  1 GG aber nicht, solange sie es der jeweiligen Person überlassen, ob sie zu einer Organspende bereit ist oder nicht.

bb)  Befassung mit einer Organspende zu Lebzeiten (1)  Art.  1 Abs.  1 GG – Menschenwürde Die nach Art.  1 Abs.  1 Satz 1 GG unantastbare Menschenwürde kann auch dann betroffen sein, wenn der selbstbestimmte, mündige Mensch durch das Unterlassen einer Erklärung zur Organspende eine freie Verfügung trifft. Es besteht nämlich die Gefahr, dass es zu einer postmortalen Organentnahme ohne oder gegen den Willen der Organspenderin bzw. des Organspenders kommt, die bzw. der sich aus welchen Gründen auch immer nicht zu dieser Frage geäußert hat. Ein Mensch kann ohne oder gegen seinen Willen zur „Organressource“ werden71.

(2)  Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht Ein Grundrechtsverstoß wegen Verletzung der Verfügungsbefugnis über den eigenen Körper könnte sich im Zusammenhang mit Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG ergeben. Da bei der Organspende der Selbstbestimmungsgedanke eine wichtige Rolle spielt, ist eine derartige Verfügungsfreiheit möglicherweise aus dem allgemeinen   Maurer, DÖV 1980, 7 (10).   Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 7.  Aufl. 2012, Art.  1 Rdnr.  72.

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Persönlichkeitsrecht abzuleiten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist vom Bundesverfassungsgericht aus Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG entwickelt worden. Es hat seine Wurzeln in Art.  2 Abs.  1 GG, weil es wie die allgemeine Handlungsfreiheit nicht auf bestimmte Lebensbereiche begrenzt ist, sondern in allen Lebensbereichen relevant wird. Die Verbindung zu Art.  1 Abs.  1 GG erklärt sich daraus, dass es wie die Menschenwürde den Einzelnen weniger mit seinem Verhalten als vielmehr in seiner Qualität als Subjekt schützt. Ferner hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verschiedene Ausformungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hervorgebracht, die verschiedenen Entfaltungsweisen (u. a. der Selbstbestimmung) gelten. Daran anknüpfend kann auch das Verfügungsrecht über den eigenen Körper dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugerechnet werden72.

(3)  Art.  4 Abs.  1 GG – Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit Art.  4 Abs.  1 GG schützt auch die Bekenntnisfreiheit, d. h. die Freiheit, religiöse Einstellungen zu äußern73. Folgerichtig gewährt das Grundrecht aber als negative Ausprägung auch die Freiheit, sich nicht zu seinem Glauben zu bekennen74.

d)  Schutzbereiche der Grundrechte und Verfassungspositionen der Angehörigen und bzw. Vertrauenspersonen potenzieller Organspenderinnen und Organspender: Art.  2 Abs.  1 GG – allgemeine Handlungsfreiheit – und Art.  6 Abs.  1 GG – Ehe und Familie Das auf der persönlichen Verbundenheit mit dem Verstorbenen beruhende Totensorgerecht der Angehörigen wird durch Art.  2 Abs.  1 GG geschützt. Art.  6 Abs.  1 GG schützt zudem die besonders enge Beziehung zwischen Angehörigen und entfaltet insoweit auch eine Nachwirkung. Das durch Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  6 Abs.  1 GG geschützte Totensorgerecht umfasst auch ein subsidiäres Entscheidungsrecht der Angehörigen, soweit die Organspenderin bzw. der Organspender selbst keine Erklärung abgegeben hat. Wird die Entscheidung über eine Organspende einer Vertrauensperson überantwortet, kann ein Verstoß gegen das durch Art.  2 Abs.  1 GG geschützte Selbstbestimmungsrecht der Vertrauensperson vorliegen

e)  Schutzbereiche der Grundrechte und Verfassungspositionen – Ertrag Die gleichzeitige Erfassung aller Schutzbereiche aller betroffenen Grundrechte aller erkennbarer Grundrechtsträger und deren Ergänzung durch die Verfassungspositionen anderer Betroffener macht die verfassungsrechtliche Betroffenheit in der je So Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  2 Abs.  1 Rdnr.  204, der allerdings auch auf den Zusammenhang mit Art.  2 Abs.  2 GG abhebt. 73   Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2013, Art.  4 Rdnr.  81. 74   BVerfG, NJW 2008, 2978. 72

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weiligen Verfassungssituation umfassend transparent. Es kann nunmehr bereits auf der Ebene der Schutzbereiche ein Ausgleich zwischen allen betroffenen Grundrechten und Verfassungspositionen für die konkrete Verfassungssituation geschaffen werden. Soweit hierbei keiner der in Rede stehenden Verfassungs- bzw. Grund­ rechts­belange tangiert oder alle in gleicher Weise betroffen werden, ist der aus der Summe der Einzelgrundrechte und Verfassungspositionen resultierende Gesamtschutzbereich zwar betroffen, es wird aber nicht in ihn eingegriffen.

2.  Eingriff in ein „Gesamtgrundrecht“ a)  Eingriff in die Grundrechte und Verfassungspositionen der Organempfängerinnen und Organempfänger: Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG Soweit Regelungen der Organtransplantation nicht die für die Organempfängerinnen und Organempfänger günstigste Notstandslösung wählen und damit mögliche weitere Transplantationen verhindern, schränken sie ein in den Schutzbereich des Art.  2 Abs.  2 Satz 1 GG fallendes Verhalten ein. Dies ist als Eingriff zu bewerten.

b)  Eingriff in die Grundrechte und Verfassungspositionen der Transplanteurinnen und Transplanteure aa)  Art.  4 Abs.  1 GG – Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit Wenn der Staat nicht die für Organtransplantationen günstigste Notstandslösung wählt, wird auch in die Gewissensfreiheit der Transplantationsmedizinerinnen und Transplantationsmediziner eingegriffen. Die Transplantationsmedizinerinnen und Transplantationsmediziner werden in der Verwirklichung ihres Gewissens beschränkt, mithin kann ein Eingriff in Art.  4 Abs.  1 GG bejaht werden.

bb)  Art.  12 Abs.  1 GG – Berufsfreiheit Nach dem erweiterten Eingriffsbegriff jedenfalls stellen Regelungen der Organtransplantation auch einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar. Eingriff ist dabei nach dem klassischen Eingriffsbegriff jede finale, unmittelbare, rechtlich wirkende und mit Befehl und Zwang angeordnete und durchsetzbare Beeinträchtigung. Nach dem erweiterten Eingriffsbegriff, welcher der Entwicklung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat Rechnung trägt, ist Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich fällt, unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt75. Mit Ausnahme der Notstands75

  Wie hier Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 28.  Aufl. 2012, Rdnrn.  263 ff.

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lösung schränken die Regelungen der Organtransplantation die quantitativ möglichen Organspenden ein und stellen mithin einen Eingriff dar.

c)  Eingriff in die Grundrechte und Verfassungspositionen der potenziellen Organspenderinnen und Organspender – Befassung mit einer Organspende aa)  Art.  1 Abs.  1 GG – Menschenwürde Beeinträchtigungen der Menschenwürde sind nach herrschender Meinung nicht rechtfertigungsfähig76. Zur Begründung wird auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art.  1 Abs.  1 Satz 1 GG und auf Art.  79 Abs.  3 GG verwiesen. Eine Verletzung der Menschenwürde kommt nur in Betracht, wenn eine Organtransplantation ohne oder gegen den Willen der Organspenderin bzw. des Organspenders erfolgen soll. Denn solange dem Willen der Organspenderin bzw. des Organspenders entsprochen wird, liegt hierin die Beachtung seiner auf die menschliche Würde zurückgehenden autonomen Entschlussfreiheit77. Problematisch könnte allenfalls Organentnahmen sein, wenn die Organspenderin bzw. der Organspender sich zur Möglichkeit einer Organspende nicht geäußert hat.

bb)  Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht Wegen des weiten Schutzbereichs des Art.  2 Abs.  1 GG und wegen der Auflösung des klassischen Eingriffsbegriffs mit der Folge, dass jegliche Beeinträchtigung einen Eingriff darstellt, ergibt sich das Problem, dass die Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, ausufert78. Ein erwägenswerter Lösungsansatz besteht darin, die Auflösung des klassischen Eingriffsbegriffs nur für die speziellen Grundrechte und die Einzelverbürgungen des Art.  2 Abs.  1 GG gelten zu lassen, nicht aber für die allgemeine Handlungsfreiheit. Dafür lässt sich anführen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insoweit nur gezielte oder adressierte Belastungen zum Gegenstand gehabt hat. Ein Eingriff in Art.  2 Abs.  1 GG würde danach nur anzunehmen sein, wenn es sich – erstens – um eine rechtliche (im Unterschied zu einer faktischen) und – zweitens – eine gegenüber dem betroffenen Einzelnen (im Unterschied zu Dritten) ergehende Maßnahme handelt.

  Vgl. z. B. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, 28.  Aufl. 2012, Rdnr.  365; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S.  83. 77   Maurer, DÖV 1980, 7 (12). 78   Siehe hierzu Pieroth/Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 28.  Aufl. 2012, Rdnrn.  379 f. 76

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cc)  Art.  4 Abs.  1 GG – Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit Ein Eingriff liegt vor, wenn potenzielle Organspenderinnen und Organspender sich gehindert sehen, sich ihrem Glauben, ihrem Gewissen und ihrer Religion entsprechend für oder gegen eine Organspende zu entscheiden.

d)  Eingriffe in die Grundrechte und Verfassungspositionen – Ertrag Ein Eingriff liegt nur vor, wenn der Ausgleich der verfassungs- und namentlich grundrechtlichen Betroffenheiten scheitert, weil in den aus den Einzelgrundrechten und singulären Verfassungspositionen resultierenden Gesamtschutzbereich eingegriffen wird und der Ausgleich zwischen allen betroffenen Verfassungspositionen und Grundrechten missglückt. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn einzelne Grundrechte Einzelner oder einzelne Verfassungspositionen Einzelner durch die gesetzliche Regelung vollständig verdrängt werden. Ein Eingriff in das situativ ermittelte Gesamtgrundrecht ist darüber hinaus aber auch dann zu bejahen, wenn der Ausgleich der betroffenen Verfassungspositionen und Einzelgrundrechte der einzelnen Grundrechtsträger scheitert, weil man sich bei der Gestaltung des Ausgleichs entweder von sachfremden Erwägungen leiten lässt („innerer Gestaltungsfehler“) oder der Gestaltungsspielraum über- oder unterschreitet („äußerer Gestaltungsfehler“), weil er nicht bzw. nicht in vollem Umfang erkannt wird.

3.  Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Aus der Feststellung eines Eingriffs in einen aus den Grundrechten aller betroffenen Grundrechtsträger und aus allen sonstigen betroffenen Verfassungspositionen resultierenden Gesamtschutzbereichs folgt noch nicht die Verfassungswidrigkeit des untersuchten Gesetzes. Der Eingriff kann vielmehr verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Dieser Prüfungspunkt divergiert nach dem hier befürworteten Paradigmenwechsel in der Grundrechtsprüfung zwar weniger als die bereits geschilderten Prüfungspunkte. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit i. e. S. finden hier nämlich auch schon bei der herkömmlichen Grundrechtsprüfung andere Verfassungspositionen und andere Grundrechte anderer Grundrechtsträger Eingang in die Erörterung. Gleichwohl dürfen die Divergenzen der hier vertretenen Ansicht zum bisherigen Verständnis auch insoweit nicht unterschätzt werden: Nach hiesiger Meinung sind hier neben dem Gesetzesvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot die Anforderungen des Art.  19 Abs.  1 und 2 GG – das Verbot der gesetzlichen Einzelfallregelung (Art.  19 Abs.  1 Satz 1 GG), das Zitiergebot (Art.  19 Abs.  1 Satz 2 GG) und die Wesensgehaltsgarantie (Art.  19 Abs.  2 GG) – zu prüfen. Erst danach darf auf die Verhältnismäßigkeit i. w. S. rekurriert werden. Auch innerhalb der Verhältnismäßigkeit i. w. S. sind primär die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung zu erörtern. Erst danach ist auf die Verhältnismäßigkeit i. e. S. einzugehen. Darüber hinaus ist auch im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auf jeder Unterstufe der Prü-

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fung der Einfluss aller Grundrechte aller Grundrechtsbetroffener und aller Verfassungspositionen zu beachten.

C.  Zusammenfassung und Ausblick Die moderne Gesellschaft verlangt mit der Abkehr von einer eindimensionalen und bipolaren Grundrechtstheorie und der Hinwendung zu einer mehrdimensionalen und multipolaren einen Paradigmenwechsel. Der Blick darf sich nicht auf die Verletzung eines Grundrechts eines Grundrechtsträgers verengen, sondern muss die grundrechtliche Betroffenheit aller Grundrechte aller Grundrechtsträger erfassen. Der Ausgleich dieser Grundrechtspositionen sowie tangierter nicht-grundrechtlicher Verfassungspositionen darf nicht der Verhältnismäßigkeit i. w. S. oder i. e. S. überantwortet werden, sondern muss auf jeder Ebene der herkömmlichen Grundrechtsprüfung – Schutzbereich, Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung – erfolgen. Einen Ansatz für das Denken in Grundrechtssituationen und einen ersten Schritt bei der Erfassung komplexer Grundrechtssituationen stellen die unbenannten Freiheitsrechte und die Grundrechtsfortbildung im allgemeinen dar, wenngleich auch sie ihren Blick regelmäßig auf die einer Person zukommenden, miteinander konkurrierenden Grundrechte richten und die gegenläufigen Grundrechte und Verfassungspositionen Dritter sowie des Staates zumeist unberücksichtigt bleiben bzw. keine hinreichende Beachtung finden. Die Beispiele für Grundrechtsfortbildungen reichen von der Ausdifferenzierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dessen Fortentwicklung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung und schließlich zu einem Grundrecht auf Datenschutz über das Grundrecht auf Sicherheit und die sozialen Grundrechte. Die Grundrechtsfortbildung betrifft zwar bislang überwiegend die Auslegung eines singulären Grundrechts, versucht aber durch die Ausdifferenzierung „einheitlicher Grundrechte“ und „grundrechtlicher Wirkungsverbunde“, aus mehreren grundgesetzlich normierten Grundrechten neue Grundrechte zu entwickeln.

Die Logiken des „neuen Sicherheitsrechts“ im Waffengesetz: Vorsorge und Kostenüberwälzung von

Prof. Dr. Kathrin Groh, Universität der Bundeswehr München A.  Von der Gefahrenabwehr zur Risikosteuerung im Waffenrecht Staatliche Maßnahmen des objektiven Rechtsgüterschutzes und des Schutzes des subjektiven Sicherheitsgefühls1 greifen zunehmend in das Vorfeld der Gefahrenabwehr aus. Das zunächst im Umwelt- und Technikrecht entwickelte und dort in Gesetzesform gegossene Vorsorgeprinzip, mit dem der Staat hofft, die Risiken der „technischen Realisation“, die sich durch ihre komplexen und zum Teil unerforschten Wirkungszusammenhänge auszeichnen, zu minimieren, diffundiert in die weniger komplexen Materien des klassischen Gefahrenabwehrrechts. Wie im Umweltund Technikrecht2 und im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht ändert sich auch im Waffenrecht 3 der Steuerungsansatz des Gesetzgebers. Er driftet weg von punktuell und reaktiv abzuwehrenden Gefahren hin zur permanenten und proaktiven Risikosteuerung als Daueraufgabe des Waffengesetzes4 und der dieses Gesetz ausführenden Behörden.5 Der Gesetzeszweck in §  1 Abs.  1 WaffG ist ausdrücklich nicht auf die 1   BT-PlenProt. 16 / 146, S.  15453: Auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ist Schutzzweck des Waffenrechts. Umfassend Christoph S.  S chewe, Das Sicherheitsgefühl und die Polizei, Berlin 2008, S.  93 ff. 2  Zum BImSchG vgl. Alfred Schindler, Die Anlagenüberwachung im Immissionsschutzrecht, in: ­GewArch 2010, S.  181 (232 ff.); zum Lebensmittelrecht Utz Schliesky, Kosten und Gebühren, wer zahlt für die neue Sicherheit?, in: ZLR 2004, S.  283 (284 f.). 3   BVerwGE 97, 245 (252); Wolfgang Sailer, Waffenrecht, in: Hans Lisken / Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4.  Aufl., München 2007, S.  283 ff. Rn.  2 : Das Waffengesetz hat materielle Polizeiaufgaben zum Gegenstand. 4   Christian Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staatsund Verfassungsverständnisse, in: DVBl. 2003, S.  1096 (1096 ff.); Rainer Pitschas, Polizeirecht im kooperativen Staat, in: DÖV 2002, S.  221 (224); kritisch Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Tübingen 2002, S.  275, 191 ff.; Ralf Poscher, Gefahrenabwehr, Berlin 1999, S.  86 ff. 5   Sachlich zuständig für die Ausführung sind nach §  48 Abs.  1 WaffG die durch Rechtsverordnungen der Länder bestimmten Landesbehörden, i.d.R. die Landkreise, kreisfreien Städte bzw. Kreisverwaltungsbehörden, z. B. §  1 Abs.  1 AVWaff BeschR Bay (GVBl. 2010 S.  851); §  4 Nr.  4 ZustVOSOG

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Gefahrenabwehr beschränkt, sondern mit der Zielvorgabe, den Umgang mit Waffen „unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ zu regeln, so weich formuliert,6 dass alle anschließenden Vorsorgemaßnahmen, mit denen vermieden werden soll, dass Gefahren überhaupt erst entstehen, abgedeckt sind.7 Das erscheint zunächst plausibel. Denn wie umweltrelevanten Anlagen oder gesundheitsrelevanten Produkten generell eine Gefahrenneigung innewohnt, ist ebenso der legale Waffenbesitz mit Besorgnispotenzial behaftet.8 Deshalb zeigt sich auch auf dem Gebiet des Waffenrechts, dass der Gesetzgeber die Eingriffsschwellen für die Behörden ohne nähere Lokalisierung der tatsächlichen Gefahrenquellen9 entweder direkt oder durch indirekte Verhaltenssteuerung absenkt, Verkehrssicherungspflichten für Gefahrenquellen ausformuliert, standardisiert und intensiviert und dadurch ein durch Mitwirkung oder Kooperation geprägtes, kostenpflichtiges und dauerhaftes Überwachungsrechtsverhältnis entstehen lässt,10 das den Umgang mit der Unsicherheit gegenüber dem Risiko der Schusswaffenkriminalität steuern soll. Dieses Überwachungsrechtsverhältnis ist in seinen verfassungsrechtlichen Anforderungen noch nicht geklärt. Höchstrichterliche Rechtsprechung zu einigen der gravierendsten Neuerungen des Waffengesetzes fehlt.

B.  Die sicherheitsrechtlichen Entwicklungen im Waffenrecht I.  Ein Grundrecht auf Sicherheit gegen den Waffengesetzgeber? Der Staat ist zum Schutz der Freiheit und zur Gewährleistung von Sicherheit verfassungsrechtlich verpflichtet. Während die Freiheitsverpflichtung des Staates bei der Lektüre des Grundgesetzes ins Auge springt, fehlt der verfassungstextliche Hinweis auf den Staat als Sicherheitsgaranten. Die Selbstverständlichkeit und das Selbstverständnis des Staates, innere Sicherheit für seine Angehörigen produzieren zu müssen, sind zum einen geschichtlich gewachsen und zum andern theoretisch durch die Verbindung der Rechtfertigung des Staates mit den Staatszwecklehren unterfangen.11 Dogmatisch finden der Staatszweck, die Staatsaufgabe, das Staatsziel, oder auch der Verfassungsauftrag „Sicherheit“ ihren Platz in den grundrechtlichen SchutzpflichNds. (GVBl. 1994 S.  457) oder die Kreispolizeibehörden, z. B. §  1 WaffGDVO NRW (GV. NRW. 2003 S.  217) und §  1 DVOWaffG BW (GBl. 2003 S.  166). 6  Zustimmend Dittmar Hahn, Das neue Waffenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: GewArch 2008, S.  383 (383). 7   Möstl, (Fn.  4 ), S.  201. 8   Nach BVerwGE 49, 1 (11) sollen deshalb so wenige Waffen wie möglich ins Volk. 9   So zum Polizeirecht Uwe Volkmann, Polizeirecht als Sozialtechnologie, in: NVwZ 2009, S.  216 (217 f.). 10  Umfassend Peter M. Huber, Überwachung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, München 2009, §  45 Rn.  28 ff. 11   BVerfGE 49, 24 (56 f.): „(…) die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung“ sind „Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung“ erhält.

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ten.12 Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Grundrechte um diese – objektiv-rechtliche – Dimension angereichert, um aus ihr eine mit Verfassungsrang ausgestaltete Pflicht des Staates abzuleiten, sich schützend und fördernd vor die grundrechtlich geschützten Rechte der Einzelnen zu stellen, und sie insbesondere vor rechtswidrigen Übergriffen von Seiten privater Dritter zu bewahren.13 Obwohl die Schutzpflichtdimension der Grundrechte vor allem die Risiken der „technischen Realisation“ adressiert, wirkt sie auch gegen die weniger komplexe rechtswidrige Gewalt, die von Privaten vor allem auch durch den Missbrauch von Schusswaffen gegen Leib und Leben ausgeübt werden kann. Ein Grundrecht auf Sicherheit14 dagegen, dessen Gegner neben seiner dogmatischen Unausgereiftheit15 vor allem die ihm innewohnende Tendenz kritisieren, durch Versubjektivierung und Klagebewehrung des Kollektivguts „Sicherheit“ die prekäre Balance von Freiheit und Sicherheit im Grundgesetz zu verschieben und damit vor allem das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip mit der verfassungsdogmatischen Konsequenz aus den Angeln zu heben, dass künftig nicht mehr der Staat seine Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen, sondern vielmehr der Bürger seine Freiheitsausübung gegenüber seinen Mitbürgern rechtfertigen müsse, hat zumindest in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Waffengesetz bislang keinen Eingang gefunden. In seinem Nichtannahmebeschluss zu einer auf die Verletzung gesetzgeberischer Schutzpflichten gestützten Verfassungsbeschwerde gegen den Waffengesetzgeber vor und nach Winnenden machte das Bundesverfassungsgericht nicht allein Zulässigkeitsbedenken gegen die Verfassungsbeschwerde geltend. Es stützte seine Entscheidung darüber hinaus gerade nicht auf ein Grundrecht auf Sicherheit, sondern auf die aus den objektivrechtlichen Schutzpflichtgehalten der Grundrechte fließende Formel des Untermaßverbots: Schutzpflichtverletzungen durch den Gesetzgeber auf dem Gebiet des Waffenrechts sind nur bedingt justiziabel und nur dann zu bejahen, wenn er Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht oder in gänzlich ungeeigneter oder völlig unzureichender Weise getroffen hat. Diesen Totalausfall des Gesetzgebers hat das Gericht im Waffenrecht nicht feststellen können.16 Denn der bundesdeutsche Waffengesetzgeber hat das Waffenrecht mittlerweile an die prospektive Vorsorge gegen diejenigen Gefahren, die mit dem legalen Waffenbesitz verbunden sind, angepasst, und nimmt verbleibende Risiken, wenn überhaupt, dann nur unter der Bedingung fortlaufender Kontrollen in Kauf.

  Möstl, (Fn.  4 ), S.  10 ff., 43 ff.   BVerfGE 39, 1 (41 ff.); 46, 160 (164); 49, 89 (140 ff.); 56, 54 (73 ff.); BVerfG, NJW 1998, 2961 (2962). 14   Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, Baden-Baden 1987; Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, Berlin 1983. 15   Weniger kritisch Winfried Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S.  101 (130 ff.): Akzentverschiebungen bei konkreten Abwägungsfragen seien undramatisch, da der zwischen dem Untermaßund Übermaßverbot liegende Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ausreichend groß bleibe. 16  BVerfG, 2 BvR 1645 / 10 v. 23.1.2013, Rn.  5 ff. Ob die Schutzpflicht des Waffengesetzgebers verfassungsbeschwerdefähig war, ist zu bezweifeln, da die hierfür erforderliche Schutzlücke nicht ersichtlich scheint. 12 13

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II.  Risikominimierung und Zuverlässigkeitsprognostik Grundsätzlich dem klassischen Konzept der Gefahrenabwehr verhaftet bleibt die Gesetzestechnik der präventiven und repressiven Verbote mit Erlaubnis- bzw. Dispensvorbehalt, mit der auch das Waffengesetz arbeitet.17 Es stellt sicher, dass nach §§  4 ff. WaffG allein persönlich geeignete und zuverlässige Personen, die nach §§  13 ff. WaffG ein Bedürfnis nachweisen können, in den Besitz von erlaubten oder ausnahmsweise auch verbotenen Waffen gelangen können. Dieses traditionelle Kon­ trollinstrument des Gefahrenabwehrrechts ist nach §  4 Abs.  3 WaffG durch das Instrumentarium der Regelüberprüfungen aller Waffenbesitzerlaubnisse in einem Turnus von spätestens allen drei Jahren als Dauerüberwachungsverhältnis ausgestaltet. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich damit ein grundlegender Wandel in der deutschen Waffenkultur vollzogen. Über die Jahrhunderte war der private Waffenbesitz derart selbstverständlich, dass entweder durch innenpolitische Gefahrenlagen oder durch außenpolitischen Druck motivierte Entwaffnungen der Bevölkerung18 seltene und fruchtlose Experimente blieben. Erlaubnispflichten, Beschränkungen, Verbote und Strafen betrafen auf Länderebene zwar auch den zunächst großzügig gehandhabten Waffenbesitz als solchen, konzentrierten sich mehr aber auf das Führen bzw. Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit. Eine Kehrtwende fand mit Zeitverzögerung nach dem „technologischen Take Off “ der Schusswaffenentwicklung und der Skandalisierung von vor allem fahrlässigen Schusswaffendelikten statt,19 mündete aber erst 1928 in ein reichsweites Waffengesetz.20 Dieses Gesetz nahm im Namen der Sicherheit der Bürger voreinander21 die mehr oder weniger erfolgreich erprobten Kriterien der Zuverlässigkeit und des nachzuweisenden Bedürfnisses auf und gilt mit dem Reichswaffengesetz von 193822 als Vorbild des bundesdeutschen Waffenrechts.23 Stärker als im Technik- und Umweltrecht steht im Waffenrecht der Mensch als Risiko im Mittelpunkt.24 Waffen sollen nicht in die Hände derjenigen gelangen, denen der Staat kein Vertrauen entgegenbringt. Die Zuverlässigkeit des Waffenbesitzers ist deshalb nach §  5 WaffG eine zwingende Voraussetzung für alle waffenrechtlichen Erlaubnisse. Nach der Systematik des Waffengesetzes als Regularium der Eingriffsverwaltung hat die Behörde dem Waffenbesitzer diejenigen Tatsachen nachzuweisen, die aus seinem Verhalten in der Vergangenheit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit25 einen Schluss auf seine zukünftige Unzuverlässigkeit rechtfer  Jean Doumet, Die Erlaubnistatbestände des Waffenrechts, Bonn 2011, S.  126 ff.: Waffenbesitzkarten, die ein anerkanntes Bedürfnis legalisieren sind präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalten. 18   Z.B. Verordnung über den Waffenbesitz v. 13.1.1919, RGBl. 1919 S.  31. 19  Umfassend Dagmar Ellerbrock, Frivole Schüsse. Private Waffen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, noch unveröffentlichtes Habilitations-Manuskript, S.  125 ff., 177 ff., 237 ff., 319 ff., 374 ff., 435 ff. u.ö. (Zitat S.  219). 20   Reichsgesetz über Schußwaffen und Munition, RGBl. 1928 I S.  143. 21   Verh. RT, III. WP 1924 / 28, Band 39, Nr.  4105, S.  9. 22   RGBl. 1938 I S.  265. 23  Umfassend Hartmut Runkel / Horst-Walter Schmidt, Waffenrecht, Ordner 2, Heidelberg, Stand 2005, S.  1 ff. 24   Hans-Heinrich Trute, Gefahr und Prävention in der Rechtsprechung zum Polizei- und Ordnungsrecht, in: Die Verwaltung 36 (2003), S.  501 (502). 25   VGH Mannheim, NVwZ-RR 2011, S.  815 (815); Runkel / Schmidt, (Fn.  24), §  5 Rn.  23; Werner 17

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tigen.26 Zumindest nach dem Wortlaut einer Vielzahl an Gerichtsentscheidungen zur Zuverlässigkeit von Waffenbesitzern aus dem letzten Jahrzehnt ist das Waffenrecht derzeit das einzige „restrisikofreie“ Gebiet des Gefahrenabwehrrechts, da bereits leise Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Waffenbesitzers ausreichen, um seine Erlaubnisse nach §  45 WaffG aufzuheben und seine Waffen nach §  46 WaffG sicherzustellen.27

III.  Mitwirkungslasten in der waffenrechtlichen Risikovorsorge In der Funktionslogik des Präventionsstaates liegt es, den Gebrauch von Freiheitsrechten als Risiko fördernd zu betrachten. Anders als das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip des liberalen Rechtsstaats dies dem Staat aufgab, bürdet der Vorsorgestaat die Begründungslast dafür, dass seine Freiheitsausübung ungefährlich sei, demjenigen auf, der sich auf seine Freiheit beruft. Denn aus seinem Einfluss- und Verantwortungsbereich stamme schließlich dasjenige Risiko, dessen Realisierung es zu minimieren gelte, und von dort stammten auch diejenigen Tatsachen, derer die Verwaltung bedürfe, um dieses Risiko einzuschätzen.28 Zu den risikorelevanten Tatsachen im Waffenrecht gehört der vom Waffenbesitzer zu erbringende Nachweis der sicheren Auf bewahrung seiner Waffen, mit dem die Gefahr ihres Abhandenkommens und ihres Einsatzes gegen Dritte reduziert werden soll. In einem ersten Schritt hat der Waffengesetzgeber deshalb die bis dato als Holschuld charakterisierte Pflicht des Waffenbesitzers, auf Verlangen der Waffenbehörde die sichere Auf bewahrung seiner bereits erworbenen Waffen nachzuweisen, in eine Bringschuld verwandelt,29 die bereits den Waffenbesitzer in spe gesetzlich verpflichtet, vor dem Erwerb von Waffen deren kleinteilig vorgeschriebene, sichere Auf bewahrung darzutun (§  36 Abs.  3 S.  1 WaffG, §§  13, 14 AWaff V). Wie kann aber die sichere Auf bewahrung der Waffen dauerhaft gewährleistet werden: Durch Kontrolle.

Meyer, Die neuere waffenrechtliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: GewArch 1998, S.  89 (90); kritisch Robert E. Heller / Holger Soschinka, Die absolute waffenrechtliche Unzuverlässigkeit nach §  5 Abs.  1 Nr.  2 WaffG, in: Die Polizei 99 (2008), S.  305 (305 f.): Die Unzuverlässigkeit werde in der Regel nicht begründet, sondern unterstellt. Nachvollziehbare Begründungen für die Zukunftsprognose fehlten. 26   Sailer, (Fn.  3 ), S.  283 ff. Rn.  36 ff. 27   BayVGH, 7.11.2008, 21 ZB 07.2711, juris, Rn.  7; BayVGH, 9.1.2008, 21 C 07.3232, juris, Rn.  6 ; VG Ansbach, 31.3.2009, AN 15 K 08.01666, juris, Rn.  10; VG Hamburg, 14.9.2010, 4 E 1895 / 10, juris, Rn.  15 f. 28   Christian Calliess, Vorsorgeprinzip und Beweislastverteilung im Verwaltungsrecht, in: DVBl. 2001, S.  1725 (1731): Dem Vorsorgeprinzip entspreche es, den Risikoverursacher mit einer widerlegbaren rechtlichen Gefährlichkeitsvermutung zu belegen, die er, z. B. um eine Genehmigung für sein riskantes Verhalten zu erhalten, erschüttern müsse. Markus Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, Tübingen 2011, S.  68 f. 29   Holger Soschinka / Robert E. Heller, Verschärfungen im Waffenrecht 2009, in: NVwZ 2009, S.  993 (994).

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1.  Der Wohnraum im Überwachungsrechtsrechtsverhältnis Kontrolle über die Einhaltung seiner Vorschriften übt der Staat durch Sachverhaltsermittlungen bei den Betroffenen aus. Betretungs- oder Nachschaurechte durchziehen deshalb seit je her alle Rechtsgebiete, auf denen Überwachungsrechtsverhältnisse üblich sind, vor allem das Wirtschaftsverwaltungs-, das Technik- und das Umweltrecht.30 Auch das frühe Waffenrecht der Bundesrepublik, das wegen der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet der allgemeinen Gefahrenabwehr vor allem das Waffengewerbe regelte, enthielt mit §§  16 und 17 WaffG 6831 Auf bewahrungspflichten, Auskunfts- und Nachschaurechte. Letztere beschränkten sich jedoch auf die Grundstücke und Geschäftsräume der gewerbsmäßig mit Waffen umgehenden Personen. In den folgenden Neufassungen des Waffengesetzes, dessen Zielsetzung sich dank der im Zuge des RAF-Terrors neu geschaffenen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes nun auch auf gefahrenabwehrrechtliche Belange erweiterte,32 dehnten sich die noch eher vage formulierten Auf bewahrungspflichten33 auch auf private Besitzer von Schusswaffen aus.34 Doch blieb es zunächst bei den Nachschaurechten der Behörden gegenüber den Gewerbetreibenden, die allerdings zur „Abwehr“ (!) dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auch auf deren Wohnräume erstreckt wurden.35 Nach den Amokläufen von Bad Reichenhall (1999) und Erfurt (2002) und schließlich nach dem Amoklauf von Winnenden (2009) krempelte der Gesetzgeber sein Gefahrenabwehrkonzept auf ein umfassendes Vorsorgeprinzip hin um und erscheint seither zur Prüfung der sicheren Auf bewahrung auch in den Wohnungen privater Waffenbesitzer.36 Wie ist dieses Zutrittsrecht verfassungsrechtlich zu bewerten? Auf der einen Seite gehört es zum Allgemeinwissen im Gefahren abwehrenden Staat, dass „Ermittlungen ins Blaue hinein“, die mit Grundrechtseingriffen verbunden werden, nicht zulässig sind.37 Der Waffengesetzgeber hatte sich mit §  36 Abs.  3 WaffG 02 deshalb damit begnügt, die in Art.  13 GG eingreifende Pflicht des privaten Waffenbesitzers, der Waffenbehörde Zutritt zu seinen bewohnten Räumlichkeiten zu gestatten, auf die Schrankenregelung des Art.  13 Abs.  7 GG abzustimmen. Ein 30   Jürgen Vahle, Staatliche Eingriffe in die durch das Wohnungsrecht (Art.  13 GG) geschützte Privatsphäre, in: DuD 1995, S.  388 (388). 31   BGBl. I 1968 S.  633. 32   Dagmar Ellerbrock, Waffenrecht: Vertrauenskonjunkturen oder kontinuierlicher Vertrauensverlust, in: Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen, Göttingen 2003, S.  306 (318 ff.); Reinhard Scholzen, Mehr Sicherheit per Gesetz? Die Genese des deutschen Waffengesetzes, in: Die politische Meinung Nr.  4 07 v. Oktober 2003, S.  33 (33 ff.); BT-Drs. 6 / 2678, S.  23. 33  Dazu Gunther Dietrich Gade / Edgar Stoppa, Waffengesetz, München 2011, §  36 Rn.  8; BT-Drs. 8 / 3259; BT-PlenProt. 8 / 222, S.  17728 ff. 34   Z.B. §  42 WaffG 76 (BGBl. I 1976 S.  432); Runkel / Schmidt, (Fn.  23), §  36 Rn.  1 ff. 35   Z.B. §  46 Abs.  2 WaffG 76 (BGBl. I 1976 S.  432). 36   BT-Drs. 14 / 7758, S.  73 f.; BR-Drs. 173 / 09; BT-PlenProt. 16 / 217, S.  23628 ff. 37  BVerfGE 115, 320 (361); Fritz Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, in: NVwZ 1986, S.  161 (166). Nahe an „Ermittlungen ins Blaue hinein“ reichen nach Uwe Volkmann, Broken Windows, Zero Tolerance und das deutsche Ordnungsrecht, in: NVwZ 1999, S.  225 (229) z. B. Durchsuchungen, die allein auf der vagen Hoffnung beruhen, entweder Anhaltspunkte für Straftaten zu finden oder doch den erfassten Personenkreis so zu belästigen, dass er bestimmte räumliche Bereiche meidet oder bestimmte Handlungen unterlässt.

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Betretungsrecht war allein für den Anlass eines „Gefahrenverdachts“,38 nämlich bei begründeten Zweifeln an der sicheren Auf bewahrung der Waffen durch ihren Besitzer normiert.39 Auf der anderen Seite befindet sich jedoch der Staat als Sicherheitsgarant. Von ihm wird verlangt, dass er mit Rücksicht auf seine Befriedungsfunktion nicht einmal den Anschein erweckt, er nehme seinen Risiko-Kontrollauftrag nicht wahr, ohne dass er damit gleichzeitig Zweifel an seiner Legitimation auf kommen lasse.40 Der Waffengesetzgeber hat daher mittlerweile verdachtslose Vorortkontrollen gegen private Waffenbesitzer in §  36 Abs.  3 S.  2 WaffG 09 normiert,41 mit denen er den grundrechtlichen Schutzschild des Art.  13 GG zugunsten von jederzeit auch ohne Ankündigung möglichen, flächendeckenden Wohnungskontrollen42 im Auftrag des Schutzes der Allgemeinheit vor den Risiken des Waffenbesitzes43 perforiert. In der waffenrechtlichen Risikosteuerung steht deshalb nun die rechtsstaatliche Disziplinierungsfunktion der Grundrechte, genauer die Schranke des Art.  13 Abs.  7 GG, gegen den sicherheitsstaatlichen Bewirkungsauftrag des Überwachungsrechtsverhältnisses: Zwar verknüpft sich im Waffenrecht das Kollektivgut Sicherheit in Form von Rechtsgüter- und Erwartungssicherheit mit dem Rechtsstaatsprinzip und setzt voraus, dass die staatliche Sicherheitsordnung nicht nur geschrieben steht, sondern auch effizient durchgesetzt wird, will heißen, der Staat die Einhaltung der Auf bewahrungsvorschriften kontrolliert und sanktioniert.44 Doch was darf in der einfachgesetzlichen Rechtsordnung geschrieben stehen und durchgesetzt werden? Ein Staat, der alle Risiken ausschließen will, muss alles wissen, alles können und alles dürfen.45 Weil dem Staat des Grundgesetzes bei seiner Mission der von Amts wegen zu verfolgenden Risikoauf klärung durch die von den Grundrechten beschirmten Privatsphären aber Eingriffsgrenzen gezogen werden, legt er seinen gewerbetreibenden und privaten Bürgern deshalb entweder Mitwirkungslasten oder Mitwirkungs-

38   Ein Gefahrenverdacht liegt vor, wenn es Indizien für die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts gibt, es möglich, aber ungewiss ist, dass der Schaden eintreten wird, Friederike Wapler, Alles geklärt? Überlegungen zum polizeilichen Gefahrerforschungseingriff, in: DVBl. 2012, S.  86 (86 f.); BVerwG, DVBl. 2002, 1562 (1563); OVG NRW, NJW 1988, 2968 (2968); abweichend Bernhard Petri, Der Gefahrerforschungseingriff, in: DÖV 1996, S.  4 43 (445). Bereits der Gefahrenverdacht aber hat den „großen Weichmacher“ der Vorsorge ins Gefahrenabwehrrecht eingelassen, Udo di Fabio, Gefahr, Vorsorge, Risiko, in: Jura 1996, S.  566 (569). 39   BT-Drs. 14 / 7758, S.  134. Die Linken, BT-Drs. 14 / 8934, BT-PlenProt. 16 / 217, S.  23634 hielten und halten bereits diese Einschränkungen von Art.  13 GG für rechtsstaatswidrig, ebenso die FDP, vgl. BT-PlenProt. 16 / 227, S.  25178. 40   Michael Ronellenfitsch, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung durch das Verwaltungsrecht, in: DVBl. 1989, S.  851 (856). 41   Christian Papsthart, in: Bernd Heinrich / Ders. (Hrsg.), Waffenrecht, 9.  Aufl., München 2010, Art.  36 Rn.  10. 42   BT-Drs. 17 / 1305, S.  2 . 43   Ein wirksamer Schutz sei nur dadurch zu erreichen, dass jeder Waffenbesitzer jederzeit mit einer unangekündigten Kontrolle zu rechnen habe, Klaus Mundiger, Sichere Auf bewahrung von Waffen und Kontrolle der Einhaltung der waffenrechtlichen Vorschriften, in: Kriminalistik 2010, S.  161 (161 f.); BT-Drs. 16 / 13423, S.  71; LT-Drs. S.-H. 17 / 1874. 44   Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, Tübingen 1997, S.  463, 493 ff. 45   Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staatsund Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S.  151 (160 f.).

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pflichten auf, damit sie ihm bei der Informationsbeschaffung aus ihrem Rechtskreis heraus „freiwillig“ behilflich seien.46 So sollen Eingriffe vermieden werden. Die allseits üblichen verdachtslosen Kontrollen von Geschäftsräumen auch im Waffengewerbe sind Dank der skurrilen Dogmatik,47 die das Bundesverfassungsgericht seit der Schnellreinigungsentscheidung von 1971 ihrem Schutz durch Art.  13 Abs.  1 GG beschert,48 nicht als Eingriffe in das Wohnungsgrundrecht zu bewerten. Obwohl das Gericht Geschäftsräume mit viel unnötigem Begründungsaufwand zunächst unter den Schutzbereich des Art.  13 Abs.  1 GG fallen lässt,49 unterstellt es sie nicht dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art.  13 Abs.  7 GG, weil sie wegen ihrer Zugänglichkeit und der nach außen wirkenden Tätigkeiten, die in ihnen stattfinden, im Ergebnis doch weniger schutzwürdig seien als privater Wohnraum. Für andere Eingriffe als Durchsuchungen oder technische Überwachungen, also eben für jenen Fall der Betretungs- und Nachschaurechte,50 erfindet das Gericht für Geschäftsräume eine außerhalb von Art.  13 GG liegende einfache Schrankenregelung, um dem sachlichen Bedürfnis der Verwaltungsbehörden nach Kontrolle Rechnung zu tragen. Es komponiert die extra-konstitutionelle Schrankenregelung aus dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot und dem Übermaßverbot: Fußen Nachschauen in Geschäftsräume auf einem bestimmten Eingriffsgesetz und halten sie sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, dann sind sie auch ohne konkreten Anlass laufend möglich.51 Bei privatem Wohnraum sind dem Erfindungsreichtum von Gesetzgeber, Praxis und Judikative durch Art.  13 Abs.  7 GG allerdings geschriebene qualifizierte Schranken gezogen, die ein Betreten gegen den Willen des Berechtigten allein zur Abwehr bestimmter oder zur Verhütung dringender Gefahren gestatten. Während Geschäftsräume mit steigender Tendenz zum Objekt legitimer und überraschender Kontrollen durch die Risikoverwaltung geworden sind,52 wurde der Wohnraum im Gegenzug   Alexander Schink, Amtsermittlung und Gefahrerforschung, in: DVBl. 1989, S.  1182 (1185).  Kritisch Eggert Schwan, Art.  13 und die gefahrenabwehrenden Eingriff in die Wohnungsfreiheit, in: DÖV 1975, S.  661 (661); Prodomos Dagtoglou, Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, in: JuS 1975, S.  753 (761); befürwortend Philipp Kunig, Grundrechtlicher Schutz der Wohnung, in: Jura 1992, S.  476 (482). 48   BVerfGE 32, 54 (63 ff.); BVerfG, 15.3.2007, 1 BvR2138 / 05, juris, Rn.  27 f. 49   H.M. BVerfGE 42, 212 (219 f.); 76, 83 (89 f.); BVerwGE 78, 251 (254). 50   Ohne die z. T. sehr unterschiedlich weiten Formulierungen der Regelungen zu beachten, sollen die Betretungs- und Nachschaurechte i.d.R. über das Recht des Rundumblicks hinausgehen und je nach den Erfordernissen des Rechtsgebiets auch weitere Verhaltensweisen erfassen wie die Beseitigung von Hindernissen, das Öffnen von Türen und Schränken, das Durchsehen von Unterlagen und vieles mehr, ohne dass die Nachschau in eine Durchsuchung umschlägt. Sehr pauschal BVerwGE 78, 251 (254); differenzierter OVG Hamburg, 23.  10. 1996, Bf V 21 / 96, juris, Rn.  8 ff., kritisch Michael Sachs, Behördliche Nachschaubefugnisse und richterliche Durchsuchungsanordnung nach Art.  13 II GG, in: NVwZ 1987, S.  560 (560 f.). Nach 36.7 Waff VwV dürfen auch die Waffenbehörden den Inhalt des Waffenschrankes überprüfen und mit dem aktenkundigen Bestand abgleichen, ohne dass dies in der Befugnisnorm Erwähnung findet. 51  Umfassend Christel Figgener, Behördliche Betretungsrechte und Nachschaubefugnisse, Köln 2000, S 11 ff.; Vahle, (Fn.  30), S.  392; Martin Kemper, Kontrollbesuche der Finanzbehörde, in: DStZ 2008, S.  527 (529). 52   Z.B. §  42 Abs.  2 LFGB; §  101 WHG; §  52 Abs.  3 BImSchG; §  47 KrWG; §  25 GentG; §  64 AMG; §  17 Abs.  2 HwO; §  22 Abs.  2 GastG. 46 47

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gegen Eingriffe daher zusehends immunisiert,53 indem er von Routinekontrollen weitestgehend ausgenommen blieb. Gegenläufige Tendenzen finden sich ausschließlich auf den Gebieten der Steuer- und der Sozialverwaltung, werden dort aber kritisch beäugt und von der Literatur in der Regel für verfassungswidrig gehalten.54

2.  Die Vorortkontrolle nach §  36 Abs.  3 S.  2 WaffG als „freiwillige“ Mitwirkungslast? In der überwiegenden Zahl der Überwachungsrechtsverhältnisse ist die Pflicht zur Gestattung oder zur Duldung des Zutritts der zuständigen Behörden zur privaten Wohnung als echte Mitwirkungspflicht des Wohnungsinhabers ausgestaltet. Sie ist von einem Anlass im Einzelfall,55 z. B. der „Mutmaßung“,56 dem „Verdacht“,57 „tatsächlichen Anhaltspunkten“58 oder „konkreten Anhaltspunkten“59 eines Rechtssatzverstoßes abhängig 60, soll auf Ausnahmefälle beschränkt sein61 und wird in der Regel durch eine vorangehende Duldungsverfügung konkretisiert.62 Verweigert der zu Kontrollierende den Zutritt, kann die Behörde gegen den Willen des Betroffenen ihre Verfügung mit Verwaltungszwang durchsetzen, da sie in der Regel bereits bei ihrem Erstersuchen um Zutritt eine nach Art.  13 Abs.  7 GG zu verhütende, dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit annimmt.63   Georg Hermes, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, 2.  Aufl., Tübingen 2004, Art.  13 Rn.  14; BT-Drs. 14 / 7758, S.  114: Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum WaffG 02 hatte der Bundesrat anlasslose Vorortkontrollen eingefordert, allerdings bemerkt, dass diese eine Einschränkung des Art.  13 Abs.  1 GG darstellten. Mit Verweis auf §  1 Abs.  3 des damaligen Schornsteinfegergesetzes, der die Eigentümer und Besitzer von Wohnungen verpflichtete, den Schornsteinfegern Zutritt zu verschaffen, bekräftigte er, dass ein verfassungsrechtlicher Dammbruch dadurch nicht zu befürchten sei. Mit dem Schornsteinfeger-Handwerksgesetz von 2008 beschränkt sich dieses Nachschaurecht mittlerweile allerdings auf die im Dreijahresrythmus stattfindende Feuerschau (§  14) oder anlassbezogene Kontrollen (§  15), vgl. BT-Drs. 16 / 9237, S.  9 ; BayVGH, 2.  10. 2012, 10 BV 09.1860, juris, Rn.  13. 54   Stefan Müller-Thele, Hartz IV – Kontrollmaßnahmen gegen Leistungsmissbrauch, in: RdV 2005, S.  257 (258); Manfred Hammel, Der Hausbesuch vom Jobcenter, in: Zf F 2012, S.  57 (58 f.). 55   Für §  27b UStG Jörg Grune, Die Umsatzsteuer-Nachschau gemäß §  27b UStG, Stuttgart 2012, S.  64 ff., der bemängelt, dass die geringsten Verdachtsmomente bereits ausreichten. 56   VG München, 27.  9. 2012, M 11 K 11.4166, juris, Rn.  35. 57   BayVGH, 26.  3. 2012, 9 ZB 08.1359, juris, Rn.  15. 58   BFH, 8.  11. 2005, VII B 249 / 05, juris, Rn.  6 ; VG Regensburg, 29.  11. 2006, RN 3 K 06.01452, juris, Rn.  31. 59   VG Würzburg, 15.  5. 2007, W 5 S 07.624, juris, Rn.  17 zu §  16 TierSchG. 60   Nach Art.  54 Abs.  2 S.  4 BayBO muss für die Überprüfung ein sachlicher Grund vorliegen, vgl. Alfons Simon / Jürgen Busse, Bayerische Bauordnung, München 2007, Art.  83 a.F. Rn.  4. Gleiches gilt für §  27b UStG, der einen konkreten Überprüfungsanlass voraussetzt, vgl. Johann Bunjes, Umsatzsteuergesetz, 11.  Aufl., München 2012, §  27b Rn.  8; oder gar den Verdacht einer Steuerstraftat, vgl. Klaus ­Tipke / Joachim Lang, Steuerrecht, 21.  Aufl., Köln 2013, §  21 Rn.  259; a.A. Otto Solch / Karl Ringleb, Umsatzsteuergesetz, München 2012, §  27b Rn.  9 : Ein konkreter ist Anlass nicht erforderlich, es reichen Anhaltspunkte, dass ein steuerrechtlich relevanter Sachverhalt vorliege, im Klartext: Jeder Umsatzsteuerpflichtige kann zuhause besucht werden. 61   Bunjes, (Fn.  60), Rn.  11; Solch / Ringleb, (Fn.  60) Rn.  19 ff. 62   BayVGH, BayVBl. 1987, S.  21 (22); a.A. Simon / Busse, (Fn.  60), Rn.  9. 63   Der fragmentarische Wortlaut des Art.  54 Abs.  2 S.  4 BayBO muss bzgl. der dringenden Gefahren 53

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Da zwangsweise durchsetzbare, anlass- oder verdachtslose Routinekontrollen als echte Mitwirkungspflichten im privaten Wohnraum also weder üblich noch vor Art.  13 Abs.  7 GG zu rechtfertigen sind, hat der Waffengesetzgeber die Gestattung des Wohnungszutritts in §  36 Abs.  3 S.  2 WaffG als Mitwirkungsobliegenheit normiert, durch die der Waffenbesitzer freiwillig am Nachweis seiner eigenen Zuverlässigkeit mitarbeitet. Denn da das Wohnungsgrundrecht die Dispositionsbefugnis des Wohnungsinhabers nicht nur schützt, sondern vor allem auch beinhaltet, liegt ein Eingriff in Art.  13 Abs.  1 GG nicht vor, wenn der Grundrechtsträger in eine Nachschau freiwillig eingewilligt hat.64 Lässt er die Waffenbehörde nicht freiwillig in seine Wohnung, können sich deren Mitarbeiter den verdachtslosen Zutritt nicht zwangsweise verschaffen. Doch bleibt die Weigerung für den Waffenbesitzer nicht rechts-folgenlos. Obwohl kein Grundrecht der Rechtspflicht unterliegt, dass von ihm ein „richtiger“ oder richtig begründeter Gebrauch gemacht werde,65 trägt die verwaltungsverfahrensrechtlichen Konsequenzen einer Weigerung, seine Mitwirkungslast zu erfüllen, grundsätzlich derjenige, der seine gesetzlich angeordnete Mitwirkung ohne plausible Gründe verweigert: 66 Der Waffenbesitzer sieht sich deshalb dem Vorwurf der Unzuverlässigkeit und der anschließenden Gefahr des Verlusts seiner waffenrechtlichen Erlaubnisse ausgesetzt, wenn er den Staat nicht ins Haus lässt. Auf dem Gebiet der Eingriffsverwaltung, zu dem die waffenrechtliche Erlaubniserteilung zählt, gilt zwar auch bei einem non liquet die allgemeine Beweislastregel fort, dass der Behörde die Feststellungs- und Beweislast für die Voraussetzungen ihrer eingreifenden Maßnahmen wie z. B. für den Widerruf einer Waffenbesitzerlaubnis obliegen.67 Eine Modifikation findet diese Regel jedoch nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung dann, wenn ein Beteiligter entscheidungserhebliche Tatsachen aus seiner Sphäre nicht preisgibt, und die Verwaltung damit vor unzumutbare Beweisschwierigkeiten stellt.68 Hierauf ist der Betroffene hinzuweisen.69 Zwar sehen einzelne gefahrenabwehrrechtliche Gesetze vor, dass die Behörde im Rahmen ihrer Beweiswürdigung wegen einer verweigerten Mitwirkungshandlung nicht erwiesene Tatsachen als gegeben zugrunde legen kann.70 Doch darf in Fällen einer fehlenden Mitwirkungshandlung eine Beweislastumkehr grundsätzlich nicht stattfinden.71 Aus diesem Grund arbeitet der Gesetzgeber im Waffenrecht mit gesetzlichen Vermuverfassungskonform ausgelegt werden, BayVerfGH, NVwZ-RR 2006, 585 (586); Franz Dirnberger, in: Alfons Simon / Jürgen Busse (Hrsg.), Bayerische Bauordnung, München 2012, Art.  54 Rn.  136 ff. 64   VG Berlin, DVBl. 1984, 1186 (1187). 65   Gerhard Robbers, Der Grundrechtsverzicht, in: JuS 1985, S.  925 (926). 66   BVerwGE 74, 222 (225). Als schlüssige Gründe werden genannt: Ein Behördenbesuch zur Unzeit und berechtigte Interessen wie Familienfeiern, berufliche oder private Termine, vgl. Ferdinand Bauer / Wolfgang Fleck, Die wichtigsten Neuregelungen im Waffengesetz 2009, in: GewArch 2010, S.  16 (20). 67   Zur Unzuverlässigkeitsprüfung im Waffenrecht Runkel / Schmidt, (Fn.  23), §  5 Rn.  3. 68   Dieter Kallerhoff, in: Paul Stelkens / Heinz Joachim Bonk / Michael Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 7.  Aufl., München 2008, §  26 Rn.  52. 69   A.A. VG Freiburg, 4.5.2011, 4 K 623 / 11. 70   So z. B. §  7 Abs.  8 FeV für den Fahrerlaubnisentzug bei nicht beigebrachter MPU. Kritisch Konrad Redeker, Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkung der Beteiligten im Verwaltungsprozess, in: DVBl. 1981, S.  83 (85 f.). 71   Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2.  Aufl., Stuttgart 2010, §  26 Rn.  18 ff.; Klaus Grupp, Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren, in: VerwArch 80 (1989), S.  4 4 (50 ff.); vgl. aber auch

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tungsregeln. Nach §  45 Abs.  4 WaffG kann die Waffenbehörde die Unzuverlässigkeit desjenigen Waffenbesitzers vermuten, der bei seiner Zuverlässigkeitsprüfung nicht mitwirkt, und muss anschließend seine waffenrechtlichen Erlaubnisse nach §  45 Abs.  2 WaffG widerrufen. Gleiches gilt über §  5 Abs.  2 Nr.  5 WaffG, der die Regelvermutung normiert, dass derjenige Waffenbesitzer die erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitze, der, wie im Fall der Zutrittsverweigerung, gröblich gegen Vorschriften des Waffengesetzes verstößt.72 Wie bei Vermutungsregeln üblich, muss der die Vor­ ortkontrolle verweigernde Waffenbesitzer hier nicht das Gegenteil, nämlich seine Zuverlässigkeit beweisen, um im Besitz seiner Erlaubnisse zu bleiben, sondern nur die Vermutung seiner Unzuverlässigkeit erschüttern.73 Das gelingt ihm in der Regel jedoch nicht.74 Und deshalb wird er den Zutritt gestatten. In der Literatur zum Waffengesetz wird nur vereinzelt vertreten, dass die Last der Vorortkontrollen in Zusammenschau mit den verfahrensrechtlichen Konsequenzen der verweigerten Mitwirkung einen – zumindest faktischen – Eingriff in Art.  13 Abs.  1 GG bewirkten.75 Und auch im allgemeinen Schrifttum zu verwaltungsrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten wird nur selten von zumindest mittelbar nachteiligen Rechtsfolgen verweigerter Mitwirkungshandlungen gesprochen.76 Der Großteil der Literatur zum Waffenrecht,77 vor allem aber die Verwaltungsgerichte vertreten dagegen mit einigen argumentativen Verrenkungen die Auffassung, ein Eingriff in Art.  13 Abs.  1 GG liege nicht vor, da der von einer Vorortkontrolle betroffene Waffenbesitzer die Behördenmitarbeiter freiwillig in seine Wohnung lasse. Einen Eingriff durch unmittelbar wirkenden Zwang übten weder das gesetzliche Regularium noch die Behörden auf den waffenbesitzenden Wohnungsinhaber aus. Doch stimmt das wirklich? Das altgediente Konzept der zwangsbewehrten Steuerung gesellschaftlichen Handelns reicht zum einen zur Bewältigung der Staatsaufgabe Sicherheit nicht mehr aus. Zum anderen wird es vor dem Hintergrund der vorsorgebedingten Absenkung von Eingriffsschwellen in die Grundrechte prekär. Deshalb bedient sich der Gesetzgeber zunehmend indirekt ansetzender Instrumente der Verhaltenslenkung. Im Gegenzug pflegt die Grundrechtsdogmatik einen sensibleren Umgang mit dem grundrechtliKlaus Rittgen, in: Hans-Joachim Knack / Hans-Günter Henneke, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9.  Aufl. Köln 2010, §  24 Rn.  18 ff. 72   Obwohl der gröbliche Verstoß eine schwer wiegende Zuwiderhandlung voraussetzt, soll für einen gröblichen Verstoß eine einmalige Zutrittsverweigerung grundsätzlich ausreichen, vgl. VG Hamburg, 5.  7. 2012, 4 K 724 / 12, Abdruck S.  21 ff.; a.A. Gade / Stoppa, (Fn.  33), §  36 Rn.  93 f.; VGH Mannheim, NVwZ-RR 2011, 815 (815). 73   Dass die Waffenbehörden bei einer verweigerten Vorortkontrolle deshalb zuweilen auch auf den absoluten Unzuverlässigkeitsgrund des §  5 Abs.  1 Nr.  2b WaffG abstellen, der ohne Widerlegungsmöglichkeit von der absoluten Unzuverlässigkeit eines Waffenbesitzers ausgeht, bei dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er Waffen oder Munition nicht sorgfältig verwahren wird, ist nicht zulässig. 74   VG Ansbach, 21.  6. 2006, AN 15 K 05.02678, juris, Rn.  43 f., 56 (§  5 Abs.  1 Nr.  2 WaffG). Aus der Reihe fällt VG Dresden, 7.  4. 2010, 4 L 621 / 09, juris, Rn.  48, das trotz eines Verstoßes gegen die Aufbewahrungsvorschriften die Unzuverlässigkeit verneint. 75   Stefan Braun, Änderungen im Waffenrecht, in: VBlBW 2010, S.  373 (377); ders., Die verdachtsunabhängige Kontrolle der Auf bewahrung von Waffen nach den Verschärfungen im Waffengesetz 2009, in: HFR 2011, S.  11 (17). 76   Kallerhoff, (Fn.  68), 7.  Aufl. 2008, §  26 Rn.  47; BSG, 19.9.2008, B 14 AS / 07 R, juris, Rn.  23 ff. 77   Offengelassen bei Bauer / Fleck, (Fn.  66), S.  19 f.

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chen Eingriffsbegriff. Aus dem klassischen Eingriffsbegriff ist der moderne Eingriffsbegriff geworden. Während sich der klassische Eingriffsbegriff aus den Komponenten Rechtsakt, Befehl und Zwang, Finalität und Unmittelbarkeit zusammensetzt, und damit vor allem den staatlichen Imperativ adressiert, mit dem der Gesetzgeber unmittelbar und zwangsweise durchsetzbare Verhaltenspflichten normiert, deckt der moderne Eingriffsbegriff auch die mittelbar faktische Verhaltenslenkung durch den Staat ab: Eingriff ist jede freiheitsverkürzende Maßnahme des Staates. Um einem allzu ausufernden Grundrechtsschutz und damit dem staatlichen Stillstand vorzubeugen, werden jedoch im Einzelnen umstrittene, eingrenzende Kriterien entwickelt, damit der moderne Eingriffsbegriff sich als funktionales Äquivalent nicht allzu weit vom klassischen entferne. Diese Kriterien docken sowohl an die Imperativität als auch an die Finalität des klassischen Eingriffsbegriffs an. Hierzu gehören die Feststellung einer Lenkungsabsicht des Staates und einer zumindest zwangsgleichen Wirkung seiner Maßnahmen auf Seiten des Grundrechtsträgers, damit auch ein moderner Grundrechtseingriff bejaht werden kann.78 Vor allem bei speziellen Grundrechten und besonders dann, wenn Informationsermittlungsmaßnahmen der Behörden im Raume stehen, schaut das Bundesverfassungsgericht mittlerweile also weniger auf die Mittel, die der Staat gegen das Grundrecht einsetzt, als vielmehr auf deren Wirkungen beim Grundrechtsberechtigten: Die den Grundrechtsinhaber treffenden Nachteile oder Belastungen sind, soweit sie zurechenbar aus der staatlichen Sphäre kommen, konstitutiv für den Eingriffsbegriff.79 So stellen z. B. Lenkungsabgaben einen Eingriff in Art.  12 GG dar, wenn sie, ohne den Grundrechtsträger gesetzlich zu zwingen, mit finanziellen Sanktionen oder über bloß „belohnende“ Anreize sein staatlicherseits gewünschte Verhalten – oder Unterlassen – dirigieren.80 Auch für das Versammlungsrecht ist höchstrichterlich entschieden, dass selbst ungewollte Ne­ben­ folgen und einschüchternde Effekte von Überwachungsmaßnahmen dem Staat als Eingriffe in Art.  8 GG zuzurechnen sind, wenn der Versammlungsteilnehmer dadurch, dass er damit rechnet, dass ihm bei Ausübung seines Grundrechts Nachteile entstehen könnten, auf seine Grundrechtsausübung lieber verzichtet.81 Die mit Befehl und Zwang eingreifende Gefahrenabwehrverwaltung funktioniert vor allem deshalb, weil die Bürger die Sanktionen, die ihnen aus der Nichtbefolgung eines staatlichen Befehls erwachsen, nicht auf sich nehmen wollen. Keinen anderen „Anreiz“ leisten die negativen verfahrensrechtlichen Folgen im Falle einer verweigerten Mitwirkungshandlung des Waffenbesitzers. Staatlicherseits steckt hinter ihnen die Intention, die Entscheidung des Waffenbesitzers, die Waffenbehörde in seine Wohnung zu lassen, herbeizuführen. Dass die Anwendung der auf die Weigerung folgenden Vermutung, die Zuverlässigkeit des Waffenbesitzers sei entfallen, nicht gesetzlich zwingend angeordnet ist, sondern im Ermessen der Behörden liegt,82 spielt   Michael Sachs, Die relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen, in: JuS 1995, S.  303 (306 f.).   Herbert Bethge, Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL 57 (1998), S.  7 (40); Beatrice Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, in: ebda., S.  59 (69 f., 86). 80   BVerwGE 115, 32 (38); BVerfGE 16, 147 (161); 50, 217 (227); BVerfG, 3.  9. 2009, 1 BvR 2384, juris, Rn.  33. 81   VG Münster, 21.  8. 2009, 1 K 1403 / 08, juris, Rn.  25: eingriffsgleiche Belastung; OVG NRW, 23.  11. 2010, 5 A 2288 / 09, juris, Rn.  13; VG Berlin, 5.  7. 2010, 1 K 905.09, juris, Rn.  15 ff. 82   So die Argumentation bei VG Stuttgart, 6.  12. 2011, 5 K 4898 / 10, juris, Rn.  59 ff., 68 ff.; VG 78

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im Kontext des erweiterten Eingriffsbegriffs keine Rolle. Hier reicht das Drohpotential des Gesetzes, wenn es die Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers beeinträchtigt.83 Gleiches gilt für die Argumentation der Gerichte, der Waffeninhaber könne einen Eingriff in seine Privatsphäre dadurch vermeiden, dass er seine Waffen anderswo verwahre oder auf den Waffenbesitz verzichte.84 Die finale Verhaltenslenkung, die in der gesetzlichen Erlaubnis an die Waffenbehörden liegt, negative Folgen für die Zuverlässigkeit eines Waffenbesitzers aus einem grundrechtlich geschützten Verhalten zu ziehen, wirkt umso intensiver, als Art.  13 Abs.  1 GG mit der Wohnung einen elementaren privaten Lebensraum schützt, innerhalb dessen jedermann das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden,85 und der einen engen Bezug zum Persönlichkeitsschutz als solchem hat.86 Es verwundert nicht, dass deshalb das Selbstbestimmungsrecht des Wohnungsinhabers, wer wann und unter welchen Bedingungen Zutritt zu seiner Wohnung haben soll, ganz besonders geschützt ist.87 Freiheit als Selbstbestimmung heißt aber, dass der Inhaber der Freiheit die Prämissen seiner Entscheidung, ob und wie er seine Freiheit ausübt, selbst bilden und alle anderen Bestimmungsmächte ausschließen darf.88 Um Asymmetrien in der Grundrechtsdogmatik zu vermeiden, müssen Freiwilligkeitsbegriff und Eingriffsbegriff deshalb aneinander angepasst werden: Ein punktueller Grundrechtsverzicht, den der Gesetzgeber durch einen beabsichtigten und zwangsgleichen, also modernen Eingriff motiviert, kann nicht zugleich freiwillig sein,89 selbst wenn sich viele Fälle in der Praxis der Waffenkontrollen durch eine im Einzelfall tatsächlich freiwillige Einwilligung lösen. Auch das Bundesverfassungsgericht geht mit dem wirksamen, weil vermeintlich freiwilligen Grundrechtsverzicht in Konstellationen, in denen ein Grundrechtsberechtigter um ein größeres Staatsübel zu vermeiden, ein kleineres wählt, eher verhalten um.90 Die Hinweise in den Kommentierungen zu Art.  13 Abs.  1 GG und in der Literatur zum Grundrechtsverzicht, dass nämlich eine freiwillige Einwilligung gegenüber dem Zugang begehrenden Staat allein dann ausgeschlossen sei, wenn der Staat die Tür zur Wohnung mit Befehl und Zwang, Drohung oder Täuschung öffne,91 scheinen deshalb nicht nur allzu sehr Hamburg, 5.  7. 2012, 4 K 724 / 12, Abdruck S.  15 ff.; VGH Mannheim, 3.  8. 2011, 1 S 1391 / 11, juris, Rn.  8. 83   VG Berlin, 5.  7. 2010, 1 K 905.09, juris, Rn.  15 ff.; Sebastian Söllner, Anmerkung, in: DVBl. 2010, S.  1248 (1248 f.); Frederik Roggan, Polizeiliche Bildaufnahmen von friedlichen Versammlungen unter freiem Himmel, in: NVwZ 2010, S.  1402 (1403). 84   VG Hamburg, 5.  7. 2012, 4 K 724 / 12, Abdruck S.  24.; VG Freiburg, 14.  6. 2012, 4 K 914 / 12, juris, Rn.  17. 85   BVerfGE 42, 212 (219); 65, 1 (40); 103, 142 (150 f.). 86   Hans-Jürgen Papier, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, München, Art.  13 Rn.  4 (Stand 2012). 87   Hermes, (Fn.  53), Rn.  12 f. Die oft zu lesenden Hinweise, dass „überspannte Anforderungen“ an den Freiwilligkeitsbegriff nicht gestellt werden dürften, verfängt daher nicht. So aber Jörg Ennuschat, Behördliche Nachschau und die Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art.  13 GG, in: AöR 127 (2002), S.  252 (273). Zur Herleitung des Verzichts aus dem Selbstbestimmungsrecht Gerhard Spieß, Der Grundrechtsverzicht, Frankfurt / M. 1997, S.  75 ff. 88   Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993, S.  380 ff. 89   Zu undifferenziert Sachs, (Fn.  78), S.  306 f. 90   BVerfG, NStZ 1981, 446 (447); BVerfG, NJW 1982, 375 (375); Robbers, (Fn.  65), S.  930. 91   Hermes, (Fn.  53), Rn.  106; Philipp S.  Fischinger, Der Grundrechtsverzicht, in: JuS 2007, S.  808

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an einem strafrechtlichen Freiwilligkeitsverständnis orientiert, das nur bedingt auf das Staat-Bürger-Verhältnis übertragbar ist,92 sondern vor allem einem veralteten Eingriffsverständnis geschuldet.

3.  Routinekontrollen wegen der abstrakten Gefahr des (ungesicherten) Waffenbesitzes? Es bleibt der Versuch, Routinekontrollen der Waffenbehörden auch gegen den Willen des Wohnungsinhabers unter die Schranke des Art.  13 Abs.  7 GG als Maßnahmen zur Verhütung dringender Gefahren zu subsumieren, wie dies auch in Überarbeitung der verfassungsgerichtlichen Dogmatik zur Überwachung von Geschäftsräumen angedacht wird.93 Das Gros der überwachungsrechtlichen Vorsorgemaßnahmen des Staates in Geschäfts- und Wohnräumen wird zum Teil der Bekämpfung abstrakter Gefahren, zum Teil der Gefahrenerforschung zugeordnet.94 Beide Varianten finden Anhaltspunkte nicht nur im Wortlaut der Schrankenregelung des Art.  13 Abs.  7 S.  2 GG, sondern auch in der Systematik eines Wortlautvergleichs der Absätze vier und sieben des Grundrechts. Während Art.  13 Abs.  4 GG die Tür zur technischen Wohnraumüberwachung erst von der Schwelle der Abwehr von konkreten Gefahren an öffnet,95 erlaubt Art.  13 Abs.  7 GG bereits vorsorgende Maßnahmen zur Verhütung von dringenden Gefahren. Da eine Verknüpfung der Begriffe der Verhütung und der dringenden Gefahr paradox zu sein scheint, legte man die dringende Gefahr des Art.  13 Abs.  7 GG im polizeirechtlichen Sinne einer zeitlich nah bevorstehenden Gefahr aus,96 wird aus der dringenden Gefahr nolens volens die erhebliche Gefahr und meint nach überwiegender Ansicht die Gefahr für ein hochwertiges Rechtsgut. Da es gelte, eine erhebliche Gefahr zu verhüten, müsse sich diese Gefahr noch nicht an der Schwelle ihrer Realisierung befinden, damit der Staat sich Zugang zu einer Wohnung verschaffen dürfe. Es genüge, dass der Kontrolleingriff dem Zweck diene, einen Zustand nicht eintreten zu lassen, der seinerseits eine dringende Gefahr darstelle.97 Diese Definition des Bundesverfassungsgerichts meint nach herrschender Meinung die abstrakte Gefahr:98 Mit der Wohnungskontrolle soll Schäden vorgebeugt werden, die typischerweise von einem bestimmten Zustand oder einem Verhalten in einer Wohnung zu erwarten sind. Waffenbehörden und Gerichte tendieren dazu, die für Art.  13 Abs.  7 GG erforderliche abstrakte Gefahr bereits in den bloßen Waffenbesitz hinein vorzuverlagern und (809 f.); Gilbert Gornig, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, 6.  Aufl., München 2010, Art.  13 Rn.  4 4 f.; Andreas Voßkuhle, Behördliche Betretungs- und Nachschaurechte, in: DVBl. 1994, S.  611 (614). 92   Knut Amelung, Grundsätzliches zur Freiwilligkeit des Verletzten, in: NStZ 2006, S.  317 (317 ff.). 93   Ennuschat, (Fn.  87), S.  252 ff. 94   Bodo Pieroth / Bernhard Schlink / Michael Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7.  Aufl., München 2012, §  5 Rn.  4. 95   Trute, (Fn.  24), S.  516 f. 96   A.A. zu Recht Papier, (Fn.  86), Rn.  132 ff.; Gornig, (Fn.  91), Rn.  159. 97   BVerfGE 17, 232 (251). 98   Hermes, (Fn.  53), Rn.  111; Papier, (Fn.  86), Rn.  128; Vahle, (Fn.  30), S.  389.

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diesen mit dem Gefahrenabwehrrecht bislang unbekannten Begriffen wie der „potenziellen Gefahr“ oder der „gesteigerten potenziellen Gefährlichkeit“ zu belegen.99 Die überfälligen Versuche der Polizeirechtsdogmatik, die notorisch unklaren Gefahrenbegriffe des Polizei- und Ordnungsrechts100 als am Übermaßverbot ausgerichtete, differenzierte Eingriffsschwellen dingfest zu machen, bleiben in der grundrechtlichen Spezialliteratur zu Art.  13 Abs.  7 GG bislang eher unbemerkt. In der Regel werden im Schrifttum zu den einzelnen Nachschaubefugnissen der Behörden zwar Ausführungen zum Erfordernis der dringenden Gefahr gemacht und das Schutzgut des jeweiligen Nachschaugesetzes mit Leichtigkeit unter den Begriff des hochwertigen Rechtsguts subsumiert. Eine nähere Beschäftigung mit einer ebenfalls erforderlichen Prognose über die typische Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, um Kontrolltätigkeiten der Behörden auf dem jeweiligen Rechtsgebiet zu rechtfertigen, bleibt jedoch in der Regel eine Fehlanzeige.101 Der Begriff der abstrakten Gefahr wurde durch die Rechtsprechung zu den Kampfhunde- und Alkoholverbotsverordnungen geschärft. In den einschlägigen Urteilen finden sich vor allem Konturierungen der Wahrscheinlichkeitsprognostik. Klar wird zum einen: Die abstrakte Gefahr ist keine fiktive Gefahr.102 Mit ihr wird vielmehr eine Vielzahl gleichgelagerter Zustände oder Verhaltensweisen angesprochen, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, um festzustellen, ob sich aus diesen Zuständen oder Verhaltensweisen heraus mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schäden in Einzelfällen typischerweise zu entwickeln pflegen, auch wenn sich die Gefahr dann nicht in jedem Einzelfall realisieren muss.103 Gefordert wird zum andern: Soll die abstrakte Gefahr als gesetzlich positivierte Eingriffsschwelle zum Einsatz kommen oder wollen die zuständigen Behörden zur Bekämpfung abstrakter Gefahren einschreiten, dann haben entweder der Gesetzgeber oder die Verwaltung hinreichende Anhaltspunkte darzutun, dass das zu regulierende, zu kontrollierende, zu unterbindende oder zu verhütende Verhalten regelmäßig und typischerweise die angenommenen Rechtsgutverletzungen zur Folge hat.104 Die Schadensneigung bei der abstrakten Gefahr muss auf einer hinreichend gesicherten Prognose beruhen, der, da eben jene Typizitäten und Regelmäßigkeiten von Schäden nachzuweisen sind, vor allem durch Statistiken abgesicherte, empirische Erfahrungswerte zugrunde zu legen sind.105 99   VG Stuttgart, 6.12.2011, 5 K 4898 / 10, juris, Rn.  10, 37 ff.; VG Stuttgart, GewArch 2012, S.  72 (74 ff.). 100   So zu Recht Ralf Poscher, Eingriffsschwellen im Recht der inneren Sicherheit, in: Die Verwaltung 41 (2008), S.  345 (252 f.). 101  Unverständlich Figgener, (Fn.  51), S.  104 ff.; Grune, (Fn.  55), S.  123; Binke Marit Schlig, Die Umsatzsteuer-Nachschau, Frankfurt / M. 2009, S.  135 ff. Auch wenn es richtig ist, dass einfachgesetzliche Begriffe verfassungsrechtliche Begriffe i.d.R. nicht authentisch „legaldefinieren“ können, scheint es angesichts des Zwecks und des Gleichklangs der Schranke des Art.  13 Abs.  7 GG mit dem polizeirechtlichen Gefahrenbegriff nicht vertretbar, in Art.  13 Abs.  7 GG auf das Wahrscheinlichkeitsurteil verzichten zu wollen, so aber Hermes, (Fn.  53), Rn.  111; Matthias Herdegen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, Heidelberg 2010, Art.  13 Rn.  77. Dagegen BVerwG, 22.8.2012, 6 C 30 / 11, juris, Rn.  31. 102   Vgl. aber Erhard Denninger, Polizeiaufgaben, in: Hans Lisken / Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4.  Aufl., München 2007, Abschnitt E Rn.  42. 103   Pieroth / Schlink / Kniesel, (Fn.  94), §  4 Rn.  9 ff. 104   VGH Bad.-Württ., 26.  7. 2012, 1 S 2603 / 11, juris, Rn.  11 – Glasflaschenverbot. 105   BVerwGE 116, 347 (355 ff.); Trute, (Fn.  24), S.  504: Gerade die Typizität und die ihr zugrunde

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Allerdings fließt wie bei der konkreten Gefahr auch bei der abstrakten Gefahr der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits in die abwägende Schadensprognose hinein und mündet in eine der vielen Je-Desto-Formeln des Gefahrenabwehrrechts: Je hochwertiger die typischerweise schadensgeneigten Rechtsgüter sind, desto geringer braucht die Wahrscheinlichkeit der Schädigung auszufallen, um eine abstrakte Gefährdung durch ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Zustand anzunehmen. Da Wahrscheinlichkeitsprognosen im klassischen Gefahrenabwehrrecht in der Regel nicht auf mathematischen Berechnungen beruhen können, sind die Übergänge von der Noch-Nicht-Gefahr, die auch von der Rechtsprechung zum Polizei- und Ordnungsrecht mittlerweile als Besorgnispotential, Gefährdungspotential oder Risiko benannt wird,106 bis hin zur Schwelle der abstrakten Gefahr zwar skalierbar, nicht jedoch bezifferbar. Die Gerichte schwanken in der Schnittmengenbildung über die für die abstrakte Gefahr zu erreichende relative Häufigkeitsverteilung von Schadensfällen nicht unerheblich: Eine Mehrzahl oder auch eine größere Zahl an nachgewiesenen Schadensfällen muss vor allem bei hochrangigen Rechtsgütern wie Leib und Leben nicht erreicht werden. Ausreichen soll vielmehr die entferntere, allerdings nicht völlig atypische Möglichkeit eines Schadenseintritts, um eine abstrakte Gefahr zu bejahen.107 Nur wenige, eine nur geringe Anzahl dokumentierter Fälle zum Beispiel im Promillebereich oder Schadensmöglichkeiten, die sich nur deshalb nicht ausschließen lassen, weil ein Erfahrungswissen über Kausalverläufe nicht vorliegt,108 sollen dagegen den Anforderungen an eine ex ante richtig prognostizierte abstrakte Gefahr wiederum nicht genügen.109 Im Waffenrecht müssten also drei „Typiken“ für die Annahme einer mit dem (ungesicherten) Waffenbesitz verbundenen abstrakten Gefahr prognostiziert werden können: (1) Typischerweise werden vorschriftswidrig auf bewahrte Waffen gegen Dritte eingesetzt, (2) vorschriftswidrig auf bewahrte Waffen Privater gelangen typischerweise in falsche Hände oder (3) private Waffenbesitzer bewahren ihre Waffen typischerweise vorschriftswidrig auf. In Deutschland haben etwa 1,4 Millionen Schützen und Jäger Waffenbesitzkarten und es sind etwa 5,7 Millionen private Schusswaffen registriert.110 Legale Waffen haben nach den Lagebildern „Waffenkriminalität“ des BKA eine nur geringe Deliktsrelevanz. Im Langzeitvergleich ist die Schusswaffenkriminalität rückläufig. Etwa liegende gesicherte Wissensbasis rechtfertigten es, vom Nachweis der Gefahr im konkreten Einzelfall abzusehen. 106   BVerwG, NVwZ 2002, S.  598 (600). 107  A.A. Volkmar Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14.   Aufl. München 2008, Rn.  142 ff.: Die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts reicht für die Annahme einer Gefahr niemals aus. 108  Allerdings lässt sich der Eindruck gewinnen, dass im Bereich der Risikovorsorge unter dem Begriff der „potenziellen Gefährlichkeit“ die – modifizierte – Figur des latenten Störers ins Gefahrenabwehrrecht zurückfinden wird, vgl. BVerwGE 116, 347 (355). Zum latenten Störer Christoph Schmelz, Die Entwicklung der dogmatischen Figuren des Zweckveranlassers und der latenten Gefahr, in: BayVBl. 2001, S.  550 (553 f.). 109   VGH Bad.-Württ., 26.7.2012, 1 S 2603 / 11, juris, Rn.  29 ff.; VG Köln, 16.9.2010, 20 K 441 / 10, juris, Rn.  22, 25 ff. – Glasverbot im Karneval: Von 70.000 Teilnehmern wurden 71 ärztlich versorgt, davon hatten 8 Glasverletzungen. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer abstrakten Gefahr wurde verneint. Unverständlich VG Düsseldorf, 5.3.2009, 6 K 5937 / 07, juris. 110   Handelsblatt v. 17.1.2013: „Waffenrepublik Deutschland“.

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2 bis 5  %111 aller im Zusammenhang mit Straftaten benutzten Waffen sollen aus legalem Besitz stammen. Nur etwa 0,2  % aller Straftaten werden mit legalen Waffen begangen112. Ob sie vorher aus ungesicherter Lage bei Privaten abhandengekommen sind, bildet die Statistik nicht ab. Vor allem aber ist nach Ansicht von Sachverständigen ein kausaler Zusammenhang zwischen einem einfachen Zugang zu nicht ordnungsgemäß auf bewahrten Waffen und Aufsehen erregenden Straftaten, der innerhalb statistisch signifikanter Parameter liegt, nicht darstellbar.113 Allerdings werden im Jahr etwa 6.000 Schusswaffen gestohlen.114 Die aus dem Alltagswissen heraus sicherlich auch für den Waffenbesitz empirisch belegbare Prognose, dass ungesicherte Dinge eher abhandenkommen als ordnungsgemäß verschlossene,115 hat der Waffengesetzgeber in ein regel- oder regelwerkorientiertes Verständnis der Verhütung dringender Gefahren im Rahmen des Art.  13 Abs.  7 GG gegossen116 und die Gefahrenschwellen des Waffenrechts damit vorverlagert: Stellt n ­ ämlich der Gesetzgeber Verhaltenspflichten zur Vorsorge gegen Gefahren für hochwertige Rechtsgüter auf, wie durch die nach §§  53 Abs.  1 Nr.  19 u. 52a WaffG bußgeld- und straf bewehrten Auf bewahrungsvorschriften des §  36 Abs.  1 u. 2 WaffG geschehen, dann führt deren Nichtbeachtung durch die Verpflichteten rechtstechnisch gesehen zu einer Gefährdung bzw. Störung der öffentlichen Sicherheit unter dem Blickwinkel des Schutzes der Unversehrtheit der Rechtsordnung, ohne dass in der Kontrollsituation zugleich diejenigen Rechtsgüter, die der Gesetzgeber durch die Verhaltenspflichten schützen will, ebenfalls gefährdet sein müssten.117 Allerdings gilt auch bei dieser Eingriffsvariante, dass Routinekontrollen zur Aufdeckung und Vermeidung von einfachen Rechtsverstößen vor Art.  13 Abs.  7 GG eine abstrakte Gefahr voraussetzen. Dass sich allerdings aus dem Zahlenmaterial über beanstandete Waffenbesitzer, das die Länder bislang vorgelegt haben, auf den Regelsatz schließen läßt, dass Waffenbesitzer typischerweise gegen Auf bewahrungsvorschriften verstoßen, bleibt einstweilen zu bezweifeln.118

  BT-PlenProt. 16 / 137, S.  14509; Braun, (Fn.  75), S.  22; BKA, Waffenkriminalität Bundeslagebild 2010, S.  9. 112   BKA, Waffenkriminalität Lagebild 2010, S.  11. 113   Rainer Hofius, Stellungnahme, Innenausschuss, Ausschussdrucksache 17(04)510 E, S.  2 f. 114   BKA, Waffenkriminalität Lagebild 2010, S.  8 : Ein leichter Anstieg seit 2009 erklärt sich aus der verstärkten Überprüfungstätigkeit der Kontrollbehörden. 115   Ohne empirische Belege Bauer  /  Fleck, (Fn.  66), S.  21: Von einer unverschlossen auf bewahrten Waffe gehe die abstrakte Gefahr des Abhandenkommens aus. Kritisch Robert E. Heller  /  Holger Soschinka, Waffenrecht. Handbuch für die Praxis, München 2013, S.  295 Rn.  1119b. 116  Kritisch Gertrude Lübbe-Wolff, Satzungsrechtliche Betretungsrechte und Art.  13 GG, in: DVBl. 1993, S.  762 (764 Fn.  12); BayVGH, 26.3.2012, 9 ZB 08.1359, juris, Rn.  15. Als regelwerkorientiert gelten die Betretungsrechte im Baurecht, z. B. Art.  54 Abs.  2 S.  4 BayBO, vgl. Henning Jäde, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die neue Bayerische Bauordnung, Band 2, Stuttgart, 2012, Art.  54 Rn.  169; BVerwG, NJW 2006, 2504 (2505) zur BauORP; a.A. zu §  111 HBO HessVGH, NVwZ-RR 1991, 526 (526 f.). 117   Thiel, (Fn.  28), S.  51; Möstl, (Fn.  4 ), S.  23, 197. 118   In Baden-Württemberg wurden etwa 50  % der kontrollierten 1.527 Waffenbesitzer beanstandet, die Kontrollen allerdings auf Besitzer beschränkt, die der Aufforderung zum Nachweis der sicheren Auf bewahrung nicht nachgekommen waren. In Brandenburg wurden bei 1.500 Kontrollen nur 54 Beanstandungen erfasst. BT-Drs. 17  /  1305, S.  2 . 111

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4.  Der private Waffenbesitz als (abstrakte) Dauergefahr? Aus der Entwicklungsgeschichte des Waffenrechts lässt sich ebenfalls entnehmen, dass Gesetzgeber und Gerichte zusehends dazu neigen, den Waffenbesitz mit der Dauergefahr119 oder dem vorzusorgenden Risiko in Verbindung zu bringen. Auch wenn oftmals auf den Aliud-Charakter des Risikos gegenüber der Gefahr hingewiesen wird,120 ist das Risiko im Recht in seiner Definition an den Gefahrenbegriff angelehnt, verlangt aber eine weitaus geringere Schadeneintrittswahrscheinlichkeit als die Gefahr. Es wird als Sachlage definiert, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten möglicherweise zu einer Beeinträchtigung von Rechtsgütern führen kann. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, die den Gefahrenbegriff kennzeichnet, wird im Risikorecht durch die reine Möglichkeit oder auch die diffuse Besorgnis einer Schädigung ersetzt und als Eingriffsschwelle für Vorsorgemaßnahmen etabliert.121 Das das Umwelt- und Technikrecht beherrschende Konzept der Risikovorsorge war unter den Begriffen des Vorfelds, der Gefahrenvorbeugung und der Gefahrenvorsorge zunächst breitflächig auf das klassische Referenzgebiet des Gefahrenabwehrrechts, nämlich das allgemeine Polizeirecht, hinübergeschwappt, und hatte dort zur Neuschaffung nicht bloß vereinzelter gefahrenloser, störerloser, verdachtsoder gar anlassloser Befugnisnormen für polizeiliches Handeln Sorge getragen. Vor allem diese Vorfeldbefugnisse hatten in der Folge ihres regen Gebrauchs durch die Polizei- und Ordnungsbehörden zu vielstimmigen Klagen über die Erosion des Polizei- und Ordnungsrechts122 und das Ende des Rechtsstaats geführt.123 Denn der Rechtsstaat hatte sich bislang auf dem Feld der einfachgesetzlichen Gefahrenbekämpfung bewusst Fesseln angelegt, um den verfassungsrechtlichen Freiheits­ versprechen der Grundrechte gerecht zu werden.124 Deshalb geht der beobachtbare Trend in der Rechtsprechung der Ober- und höchsten Gerichte mit dem Konzept des „bringing the rule of law back in“ nun dahin, Rechtssetzung und Rechtspraxis zumindest auf den Gebieten der klassischen Gefahrenabwehr zurückzubesinnen auf die determinierenden Kriterien polizei- und ordnungsbehördlichen Handelns. Zu ihnen gehören der Vorrang des Gesetzes, der Bestimmtheitsgrundsatz, die grundrechtliche Bereichsspezifik, die überfällige Präzisierung der Gefahrenbegriffe125 und das Übermaßverbot, das nicht nur eine angemessene Ausbalancierung von Eingriff  VG Freiburg, 4.5.2011, 4 K 623  /  11, juris, Rn.  8 ; BVerwG, 1.9.2009, 6 C 30.08, Rn.  18: „prinzipiell gefährlicher Waffenbesitz“. 120   Arno Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem. Ein neues Paradigma für das technische Sicherheitsrecht, in: VerwArch 84 (1993), S.  484 (498). 121   Karl-Heinz Ladeur, Risikowissen und Risikoentscheidung, in: KV 74 (1991), S.  241 (241); Calliess, (Fn.  28), S.  1727. 122   Dieter Kugelmann, Der polizeiliche Gefahrenbegriff in Gefahr?, in: DÖV 2003, S.  781 (781 f.). 123  Kritisch Volkmar Götz, Innere Sicherheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band IV, 3.  Aufl., Heidelberg 2006, §  85 Rn.  16. 124   Wolfgang Hoffmann-Riem, Abbau von Rechtsstaatlichkeit durch Neubau des Polizeirechts?, in: JZ 1978, S.  335 (335); Rainer Wolf, Die Risiken des Risikorechts, in: Alfons Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, Berlin 1998, S.  65 (75). 125   Die Rechtsprechung thematisiert die dogmatischen Brüche im Gefahrenbegriff sehr wohl. A.A. Michael Johannes Pils, Zum Wandel des Gefahrenbegriffs im Polizeirecht, in: DÖV 2008, S.  941 (943). 119

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sintensität, Eingriffsanlass und Eingriffsschwellen,126 sondern vor allem eine „Revitalisierung des Gefahrenbegriffs“127 verlangt. Der zuvor beobachteten Entwicklung in der Dogmatik, dass die ausgeklügelte Schrankensystematik der Grundrechte ihre dirigierende Rolle zugunsten des flexibleren Übermaßverbots eingebüßt habe,128 scheint die Rechtsprechung der höchsten Gerichte nun ein Stoppschild entgegenhalten zu wollen. Wenn also Art.  13 Abs.  7 GG von Gefahrverhütung spricht, dann ist dieser Begriff als Eingriffsschwelle ernst zu nehmen. Selbst wenn der Wortlaut Gefahrenvorsorgemaßnahmen abzudecken scheint, die idealerweise einsetzen, bevor eine Gefahr entstehen kann, liegt in den sich im Turnus wiederholenden und flächendeckenden Wohnungskontrollen ein intensiver Grundrechtseingriff, der zudem permanent eine kritische Masse der nichtstörenden Bevölkerung in Gestalt von Waffenbesitzern, die ihre Waffen ordnungsgemäß auf bewahren, trifft. Für intensive Grundrechtseingriffe gilt aber ebenfalls eine Je-Desto-Formel: Je intensiver der Eingriff, desto höher muss die Eingriffsschwelle sein. Nach dem Bundesverfassungsgericht müssen für intensive Grundrechtseingriffe gewisse Gefahrenschwellen überschritten sein. Das Gericht lässt z. B. bei Informationseingriffen in das mit einem nur einfachen Gesetzesvorbehalt versehene Recht auf informationelle Selbstbestimmung zwar auch eine (konkrete) Dauergefahr genügen, lehnt deren Vorliegen aber ab, wenn die Behörden keine tatsächlichen Anhaltspunkte vorzubringen haben, aus denen sich mehr ergibt als eine nur diffuse Bedrohungslage.129 Wenn es aber an jeder hinreichenden Konkretion eines auch nur in seinen Konturen annähernd bestimmbaren Kausalverlaufs, der zu einem Schaden an Rechtsgütern oder zumindest an der Rechtsordnung führen könnte, fehlt, wenn die Behörde keine Kenntnis über einen oder mehrere Störer, den Ort eines Rechtsverstoßes, die Art und Weise des Rechtsverstoßes oder die Art des möglichen Schadens hat, wenn sie nur nicht ausschließen kann, dass irgendwann irgendetwas durch irgendjemanden passieren kann, dann fehlt es an allen Tatsachen, die eine solide Gefahrenprognose erlauben.130 Hier handelt die Behörde dann aufgrund von diffusen Befürchtungen, die nach der neueren Rechtsprechung nur dann zu Eingriffen ermächtigen, wenn die Rechtsordnung dies vorsieht131 und die Grundrechte dies zulassen. Art.  13 Abs.  7 GG lässt mit seiner qualifizierten Schrankenregelung diese niedrigschwellige Überwachung in der Wohnung nicht zu.132 Jedenfalls solange nicht, als man nicht, wie früher zum Teil vertreten, Art.  13 Abs.  1 GG unter einen ungeschriebenen Gemeinwohlvorbehalt stellen will,133 oder, wie dies neuerdings angedacht wird, die textlich differenzierende Schrankensystematik des Art.  13 Abs.  7 GG im Übermaßverbot aufgelöst wird, das zwar einen legitimen Eingriffszweck verlangt, die Eingriffsschwelle   BVerfGE 100, 313 (376 ff.); 113, 348 (385 ff.); 115; 320 (347).   Volkmann, (Fn.  9 ), S.  219 f. 128   Morlok, (Fn.  88), S.  4 09. 129   BVerfGE 115, 320 (360 f.). 130   So dezidiert Trute, (Fn.  24), S.  511 f. 131   BVerwGE 116, 347 (349). 132   Voßkuhle, (Fn.  91), S.  615: Andernfalls könnten die qualifizierten Eingriffsvorbehalte ihren besonderen grundrechtssichernden Schutz nicht entfalten. 133   Gornig, (Fn.  91), Rn.  170. 126 127

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jedoch nicht zwingend auf die Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit anhebt.134 Liegt also wegen des Fehlens der Regel, dass nicht vorschriftsmäßig auf bewahrte Waffen typischerweise abhandenkommen und gegen Dritte eingesetzt werden, oder dass gegen die Auf bewahrungsvorschriften typischerweise verstoßen wird, keine abstrakte Gefahr vor, die zu Routinekontrollen ermächtigt, dann braucht es, und so werden die Eingriffsgrundlagen bei Vorortkontrollen auf anderen Rechtsgebieten üblicherweise gehandhabt, eines (konkreten) Gefahrenverdachts in Form von Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass gegen Auf bewahrungsvorschriften verstoßen wird, damit die Behörden mit verfassungsrechtlicher Rechtfertigung vor Art.  13 Abs.  7 GG Vorortkontrollen in der Wohnung des Waffenbesitzers durchführen dürfen.

C.  Zur Überwälzung der Überwachungskosten Vor allem in umwelt- und technikrelevanten Überwachungsrechtsverhältnissen ist es üblich, Kosten und Gebühren für staatliche Überwachungsmaßnahmen auf die Kontrollierten abzuwälzen.135 Im allgemeinen Polizeirecht dagegen ist die Gebührenfinanzierung kaum ausgeprägt und wird dort, wo sie über traditionelle Kostenfolgen hinaus erweitert wird, in der Regel mit dem Argument der grundsätzlichen Gebührenfeindlichkeit des Polizeirechts als steuerfinanzierter Kernaufgabe des Staates abgelehnt.136 Weil (Vollzugs-)Polizei und Ordnungsverwaltung institutionell voneinander getrennt sind, laufen die Kostentragungspflichten der auf diesen Rechtsgebieten Inanspruchgenommenen weitestgehend nach unterschiedlichen Logiken – zumindest was die einfachrechtliche Ausgestaltung des Verwaltungskostenrechts betrifft. Der Grund hierfür liegt in der Unvordenklichkeit. Denn während die Vollzugspolizei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer schon grundsätzlich kostenfrei handelt,137 stellen die Sonderpolizeien bzw. Ordnungsbehörden seit jeher Kosten für ihre Tätigkeiten in Rechnung und füllen mit ihnen einen Gutteil des staatlichen Gebührensäckels.138 Trotz des anders lautenden §  50 WaffG überlässt es das Waffengesetz als Sonderordnungsrecht des Bundes den Ländern zu entscheiden, ob und in welcher Höhe sie für die von ihren Ordnungs- oder Polizeibehörden durchzuführenden Maßnahmen Gebühren erheben. Der Wille des Bundesgesetzgebers, dass Gebühren für Vorort134   Ennuschat, (Fn.  87), S.  284 ff.: Es müsse nur ein Überwiegen der öffentlichen Belange gegenüber dem privaten Rechtsinteresse an der Wohnung festgestellt werden. 135   Kay Waechter, Das „Gebührenmodell“ zur Finanzierung der inneren Sicherheit, in: Monika Jachmann / Rolf Stober (Hrsg.), Finanzierung der inneren Sicherheit, Köln 2003, S.  65 (68 ff.): Rechtfertigung durch eine Analogie zu zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflichten. 136   Christof Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat, in: Der Staat 36 (1997), S.  267 (274 ff.). 137   Thomas Würtenberger, Erstattung von Polizeikosten, in: NVwZ 1983, S.  192 (196). 138   G. Adolf Arndt, Über Gebühren, in: VerwArch. 11 (1903), S.  432 (432 f.); Franz-Ludwig Knemeyer, Polizeikosten im System von Verwaltungsabgaben und -kosten, in: JuS 1988, S.  866 (866 f.); Volkmar Götz, Kostenrecht der Polizei- und Ordnungsverwaltung, in: DVBl. 1984, S.  14 (18).

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kontrollen nicht erhoben werden sollen,139 ist für die Länder unerheblich, da das Gebührenwesen zur Refinanzierung des Verwaltungsaufwands als Teil des Verwaltungsverfahrens nach Art.  84 Abs.  1 GG zur Regelungskompetenz der Länder gehört.140 Deshalb weichen nicht nur das Gebührenrecht der Länder untereinander,141 sondern auch die Praxis der Gebührenerhebung der zuständigen Verwaltungskörperschaften für Vorortkontrollen innerhalb der einzelnen Länder voneinander ab.142 In Ermangelung eines bundesrechtlichen Gebührentatbestandes fallen die Gebühren für Vorortkontrollen, so sie erhoben werden, in der Regel unter die „sonstigen Amtshandlungen“ oder den noch weniger bestimmten Begriff der „öffentlich-rechtlichen Tätigkeiten“143 der Verwaltungsbehörden in den Verwaltungskosten- oder Gebührengesetzen der Länder. Nicht nur dass Bund und Länder bei der Erhebung von Gebühren für Kontrollen nach dem Waffengesetz keiner einheitlichen Linie folgen, auch ein Teil der Literatur bestreitet ihre Verfassungsmäßigkeit: Das Steuerstaatsprinzip144 und die Kernaufgabe „Sicherheit“ ständen in ihrer Kombination der Gebührenerhebung für Waffenschrankkontrollen entgegen. Aus dem Steuerstaatsprinzip des Grundgesetzes lassen sich jedoch allein zwei normative Schlussfolgerungen ableiten: Da das Grundgesetz den vorrangig steuerfinanzierten Staat als Regel voraussetzt,145 zieht es zum einen eine quantitative Grenze für die Gebührenerhebung. Das Auf kommen aus Gebühren darf das Auf kommen aus Steuern nicht übertreffen.146 Diese nominelle Grenze spielt bei der Einführung eines einzelnen Gebührentatbestandes wie im Waffenrecht jedoch keine Rolle. Um zu verhindern, dass die in Art.  105 ff. GG positivierten Regelungen über die Verteilung des Steuerauf kommens unterlaufen werden, oder dass die durch den verfassungsrechtlichen Steuerbegriff 147 indizierte Lastengleichheit der Bürger abbedungen wird, bedürfen Gebühren, die immer nur einen begrenzten Personenkreis zusätzlich zur   36.7 Waff VwV (Bundesanzeiger v. 22.  3. 2012 Nr.  47a).   BVerwGE 126, 222 (225 f.); Claudia Perlitius, Die vorteilsabschöpfende Verwaltungsgebühr, Berlin 2010, S.  61 ff.; a.A. BVerfGE 108, 1 (13): Gebühren folgen als Annexkompetenz der Sachkompetenz. 141   Für Bremen vgl. BS-Drs. 18 / 309 u. PlenProt. 18 / 23, S.  1466 sollen 139 Euro Gebühr anfallen. In Bayern sind nach Art.  3 Abs.  1 Nr.  2 KG Amtshandlungen, die von Amts wegen im überwiegenden öffentlichen Interesse vorgenommen werden, grundsätzlich kostenfrei, so auch die Vorortkontrollen nach 2 II 7 / 35.1 des Gebührenverzeichnisses. In Ländern, die noch keine Gebührenregelungen erlassen haben, gilt die BWaff KostVO weiter, die keinen Gebührentatbestand für die Vorortkontrolle vorsieht, vgl. Stefan Braun, Gebühren für waffenrechtliche Auf bewahrungskontrollen, Eintragungen und Zuverlässigkeitsüberprüfungen, in: GewArch 2012, S.  243 (245); so für Hessen VG Gießen, 29.6.2012, 4 J 4571 / 11.GI, juris, Rn.  12 f.; für Niedersachsen OVG Lüneburg, 19.4.2011, 11 LC 255 / 10, juris, Rn.  26. 142   Z.B. LT-Drs. B.-W. 14 / 5672, S.  3 ff.: Da, anders als in anderen Ländern, nach dem Bad.-Württ. Gebührengesetz die Festsetzung von Verwaltungsgebühren in allen Aufgabenbereichen in den Kreis der Selbstverwaltungsangelegenheiten der Kreise und Gemeinden fällt (§  4 Abs.  1 u. 3 LGebG BW), erheben einige Kreise Gebühren, andere nicht, VG Stuttgart, GewArch 2012, 72 (72 f.); VG Stuttgart, 6.12.2011, 5 K 4898 / 10, juris, Rn.  25 f.; VG Freiburg, 4.5.2011, 4 K 623 / 11, juris, Rn.  2 . 143   VG Potsdam, 22.3.2011, VG 3 L 2 / 11, juris, Rn.  6 ff. 144   Zum Steuerstaatsprinzip als Staatsstrukturentscheidung Klaus Vogel / Christian Waldhoff, in: Bonner Kommentar, Heidelberg, Vor Art.  104a−115 Rn.  338 (Stand 2012). 145   BVerfGE 93, 121 (134). 146   BVerfGE 105, 185 (194 f.); Perlitius, (Fn.  140), S.  82. 147   BVerfGE 55, 274 (299). 139 140

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Steuerpflicht belasten, als ausnahmsweise einsetzbares Finanzierungsmittel zum anderen aber einer besonderen Rechtfertigung.148 Dass die Erhebung von Gebühren für Amtshandlungen, die der Produktion der inneren Sicherheit dienen, nicht nur nicht zu rechtfertigen, sondern sogar verfassungsrechtlich verboten sei, da der Staat hier vorwiegend im öffentlichen Interesse agiere, seine Amtshandlungen also allen gemeinsam zugutekämen und deshalb auch von allen gleichermaßen über die Steuer als Gemeinlast zu finanzieren seien,149 wird nicht nur für das Polizeirecht,150 sondern auch für das Sonderordnungsrecht151 vertreten. Seit der Überprüfung von TÜV-Gebühren Ende der 1950er Jahre urteilen Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht dagegen in ständiger Rechtsprechung, dass kein staatlicher Aufgabenbereich existiere, in dem die Erhebung von Gebühren von vornherein ausgeschlossen sei:152 Auch die Produktion innerer Sicherheit ist individuell abrechenbar. In Ermangelung eines kleinteiliger definierten verfassungsrechtlichen Gebührenbegriffs153 reicht es zur besonderen Rechtfertigung von Gebühren nach dem doppelgliedrigen Gebührenbegriff aus, dass mit der Abgabe entweder ein individuell zugeflossener Vorteil abgegolten wird, oder ein Ausgleich von Kosten stattfindet, die der Gebührenschuldner individuell zu verantworten hat,154 egal ob er die zugrundliegenden Maßnahmen erbeten oder provoziert hat oder ob sie ihm oktroyiert wurden. Da Gebühren für aufgedrängte und unwillkommene Amtshandlungen wie die Vorortkontrollen nach §  36 Abs.  3 S.  2 WaffG weder einem wirtschaftlichen noch einem ideellen Vorteilsausgleich dienen,155 kommt es für ihre Verfassungsmäßigkeit 148   BVerfGE 92, 91 (115); 93, 319 (342); 108, 1 (15 ff.); Werner Heun, Die Entwicklung des Steuerstaatskonzepts in theoretischer und tatsächlicher Hinsicht, in: Ute Sacksofsky / Joachim Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, Baden-Baden 2000, S.  10 (15 ff.); Paul Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, in: Josef Isensee / Ders. (Hrsg.), HStR, Band V, 3.  Aufl., Heidelberg 2007, §  119 Rn.  20. 149  Diese Meinung findet einen historischen, allerdings keinen verfassungsrechtlich zwingenden Anknüpfungspunkt in §  2 Preuß. Gesetz über staatliche Verwaltungsgebühren (Preuß. GS 1923 S.  455). Aus vielen Landesgebührengesetzen ist die Kostenfreiheit für Amtshandlungen im überwiegenden öffentlichen Interesse getilgt, mit Ausnahmemöglichkeiten versehen oder umgewandelt in die Gebührenpflichtigkeit von Maßnahmen im „überwiegenden Interesse des Einzelnen“, z. B. §  2 Abs.  1 GebG Bln; §  3 Abs.  1 Nr.  3 HbgGebG; aber auch §  3 Abs.  1 Nr.  3 SächsVwKG; BVerwGE 13, 214 (219). 150  So Stefan Habermann, Gebühren für Gefahrenabwehr, Berlin 2011, S.  259, 268 u.ö.; Volkmar Götz, Polizeikosten zwischen Verursacher- und Gemeinlastprinzip, in: Monika Jachmann / Rolf Stober (Hrsg.), Finanzierung der inneren Sicherheit, Köln 2003, S.  25 (25 f.). 151   Rupert Scholz, Staatliche Sicherheitsverantwortung zu Lasten Privater?, in: Festschrift Karl Heinrich Friauf, Heidelberg 1996, S.  439 (448 ff.); BT-Drs. 8 / 3431, S.  23. 152   BVerwGE 8, 93 (95); BVerfGE 91, 207 (223); 112, 194 (204 ff.); BVerfG, DVBl. 1998, 1220 (1221); vgl. aber BVerfG, DVBl. 1995, 613 (616). Dass das öffentliche Interesse gebühren- bzw. beitragsmindernd zu berücksichtigen sei, so BVerwGE 69, 242 (245 f.); 81, 371 (374), sind Einzelfallentscheidungen geblieben. 153  BVerfGE 50, 217 (226); 97, 322 (345): Gebühren sind öffentlich-rechtliche Geldleistungen, die aus Anlass individuell zurechenbarer öffentlicher Leistungen dem Gebührenschuldner durch eine öffentlich-rechtliche Norm auferlegt werden und dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken. 154   Klaus Vogel, Vorteil und Verantwortlichkeit, in: Festschrift Willi Geiger, Tübingen 1989, S.  518 (530 ff.). 155   Anders die Kosten der Sicherheitskontrollen nach §  17 Abs.  2 LuftSiG u. §  3 LuftSiVO auf Flughäfen. Nach BVerfG, NVwZ 1999, 176 (177); BVerwGE 95, 189 (201) entstehen dem gebührenpflich-

Das neue Sicherheitsrecht im Waffengesetz

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also darauf an, dass sie vom Gebührenschuldner veranlasst wurden. Das Veranlasserprinzip des ordnungsbehördlichen Verwaltungskostenrechts geht in der individuellen Zurechenbarkeit einer kostenpflichtigen Verwaltungsmaßnahme auf. Das Merkmal der individuellen Zurechenbarkeit allerdings ist kaum geeignet, den weiten Gebührenspielraum des Gesetzgebers einzuschränken. Trotz aller dem Anschein nach Grenzen ziehender Definitionsangebote wie z. B. der besonderen Rechtfertigung aus Sachgründen, aus einer spezifischen Verknüpfung zwischen Gebühr und Leistung, aus Gründen der gegenüber der Allgemeinheit näheren Beziehung zwischen Staat und Gebührenschuldner oder einer im Pflichtenkreis oder im Interesse des Gebührenschuldners vorgenommenen Amtshandlung,156 gilt in Praxis und Rechtsprechung: Individuell zurechenbar sind gebührenpflichtige Leistungen dann, wenn der Gesetzgeber sie individuell zurechenbar macht.157 Die individuelle Zurechenbarkeit kann sich dabei aus dem blanken Gebührentatbestand selbst ergeben158 oder, wie im Waffenrecht, aus dem Pflichtenkreis des Waffenbesitzers. Diesen steckt der Gesetzgeber mit einer Vielfalt an Sorgfaltspflichten ab, deren Einhaltung die Behörden kontrollieren, um letztlich die Zuverlässigkeit als Voraussetzung für die Erteilung der waffenrechtlichen Erlaubnisse bejahen zu können.159 Trifft die Kastenpflicht damit jeden kontrollierten Waffenbesitzer? Zum Teil wird von und in den Ländern ein Kostenkonzept angedacht, das dem Polizeirecht entlehnt und auch dort vor dem Grundsatz der Amtsermittlungspflichten der Behörden aus §§  24 u. 26 VwVfG nicht unumstritten ist:160 Einen ex ante prognostizierten und auf der Primärebene zu Recht in Anspruch genommenen „Verdachtsstörer“ soll nur deshalb und nur dann die Folge der Kostenlast der Inanspruchnahme treffen, weil er entweder seiner waffenrechtlichen Nachweispflicht trotz Aufforderung nicht nachgekommen ist,161 oder wenn sich der „Gefahrenverdacht“ gegen ihn ex post bestätigt hat.162 Diese störerbezogene Begrenzung der Kostenlast entspricht allerdings weder der Logik der Gefahrenvorsorge des Waffenrechts noch der-

tigen Luftfahrtunternehmen und den Fluggästen individuelle Sicherheitsvorteile. Zustimmend Dieter Nirschl, Kosten der Polizei-und Sicherheitsbehörden in der Systematik des deutschen Abgabenrechts, München 1993, S.  172 ff.; Michael Ronellenfitsch, Die Luftsicherheitsgebühr, in: VerwArch 86 (1995), S.  307 (325). 156   BVerfGE 91, 207 (223); BVerwGE 91, 109 (110); 109, 272 (276); 115, 125 (129); Frank Braun, Die Finanzierung polizeilicher Aufgabenwahrnehmung im Lichte eines gewandelten Polizeiverständnisses, Stuttgart 2009, S.  131 ff. 157   Dieter Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, München 1973, S.  88. 158   BVerwG, NVwZ 1999, 191 (191). 159   BVerwG, 22.8.2012, 6 C 29 / 11, juris, Rn.  24 ff.; VG Stuttgart, GewArch 2012, 72 (74 ff.); Runkel / Schmidt (Fn.  23), §  36 Rn.  51a. 160   Vgl. einerseits Wolf-Rüdiger Schenke, Gefahrenverdacht und polizeirechtliche Verantwortlichkeit, in: Festschrift Karl Heinrich Friauf, Heidelberg 1996, S.  455 (490 ff.); Claus Dieter Classen, Gefahrerforschung und Polizeirecht, in: JA 1995, S.  608 (611 f.): Da der Bürger gehalten ist, in seinem Verantwortungsbereich Ordnung zu halten, wäre es unangemessen, die Kosten der Klärung, ob seine Handlungen zu Schäden Dritter führen können, der Allgemeinheit aufzubürden. Andererseits VGH Mannheim, NVwZ 1986, 325 (326); Wapler, (Fn.  38), S.  92. 161   LT-Drs. B.-W. 14 / 5672, S.  3 ff.; LT-Drs. B.-W. 14 / 5838, S.  3. 162   So z. B. allgemein §  6 Abs.  1 Nr.  2 BremGebBeitrG; Volkmar Götz, Die Entwicklung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts, in: NVwZ 1987, S.  858 (861 f.).

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jenigen der unterschiedlichen Gebührendogmatiken im Polizei- bzw. Ordnungsrecht.

D. Ergebnis Verfassung und Gebührendogmatik in der Ordnungsverwaltung stehen der Erhebung von Kontrollgebühren gegenüber dem Waffenbesitzer nicht entgegen, solange ihre Höhe dem Kostendeckungsgrundsatz entspricht. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Erhebung von Gebühren für verfassungswidrige Maßnahmen wie Routinekontrollen in der Wohnung des Waffenbesitzers ihrerseits rechtswidrig ist.

Interaktion erwünscht! Anmerkungen zur Wechselwirkung von Roman und Realität anläßlich des „Esra“-Beschlusses von

Dr. Kathrin Bünnigmann, LL.M., M.A., Münster* Gesetzt den Fall, ein Journalist berichtet von pikanten Sexualpraktiken eines TVModerators, die in keinem Zusammenhang zum später auch entkräfteten Vorwurf der Vergewaltigung stehen: Dann rechtfertigen weder die Neugier des Lesers noch die ambitionierte Verdachtsberichterstattung der Presse eine derartige Veröffent­ lichung1. Details aus dem Intimleben könnten sich dem Rezipienten dauerhaft einprägen, so zuletzt das Oberlandesgericht Köln 2. Persönlichkeitsschutz rangiert vor Pressefreiheit 3. Gesetzt den abgewandelten Fall, ein Erzähler in einem Roman läßt sich nicht minder reizend zu den erotischen Begegnungen mit seiner chiffrierten Exfreundin aus. Insofern sind die Schilderungen nach disziplingerechter Feststellung Teil einer fiktiven Kunstwelt. Danach sind sie nicht Kopie der – realen, nunmehr beendeten – Partnerschaft. Die Kunstfreiheit rechtfertigt die Veröffentlichung von intimen Begegnungen mit einer anonymisierten Romanfigur4. Kunstfreiheit rangiert vor Persönlichkeitsschutz. Gesetzt den nochmals modifizierten Abwandlungsfall, die Verschlüsselung der Ex-Freundin mißlingt und sie erkennt sich – wie ihre ebenfalls betroffene Mutter – in Romangestalt wieder. Die Protagonisten haben die gleichen Freunde, Beziehungen und Jobs; sie weisen vergleichbare biographische Einzelheiten wie ihre realen Vorbilder auf. Jetzt gilt ebenso wie nach journalistischer Spielart: Details aus der Kunstwelt könnten sich dem Rezipienten dauerhaft als real einprägen, so denn auch der Erste *   Die Verfasserin arbeitet in der Kanzlei Baumeister Rechtsanwälte Partnerschaft. Der Beitrag beruht auf der Dissertation der Verfasserin „Die ‚Esra‘-Entscheidung als Ausgleich von Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Rechtsprechung im Labyrinth der Literatur“, 2013. 1   OLG Köln ZUM 2012, 330 (332 ff., 336). 2   OLG Köln ZUM 2012, 330 (334). 3   OLG Köln ZUM 2012, 330 (333). 4   BVerfGE 119, 1 (20, 33 ff.).

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Senat des Bundesverfassungsgerichts5. Die aktuelle Brisanz dieser latent bedeutsamen Konstellationen wurde zuletzt in dem aufflammenden Skandal um Thomas Steinfeld und Frank Schirrmacher deutlich6. Spätestens jetzt sollte man einen Moment einhalten: Geht es nicht hier um Kunst, dort um Tatsachenberichte? Warum sind die gleichsam erotischen Darstellungen in einem Roman nur erlaubt, wenn sie ihre Herkunft – die Inspiration durch die Realität – verschweigen? Handelt es sich nicht in jedem Fall um gleich schützenswerte Kunst? Mißt man nicht im dargestellten dritten Fall Kunst nach presserechtlichen Grundsätzen? Zählt man nicht Äpfel mit Birnen zusammen, Äpfel der Fiktion und Birnen der Realität? Läßt sich ein Roman überhaupt als Produkt der Realität etikettieren? Wenn ja, wie? Was geschieht, wenn der Konsument die verschiedenen Früchte zusammenzählt? Welche Folgen ergeben sich für den Persönlichkeitsschutz, wenn die Äpfel den Birnen so überaus ähnlich sehen, sie als solche etikettiert sind, daß der Leser fiktionale Erzählung und außerliterarische Wirklichkeit gleichsetzt? Die folgenden Ausführungen stellen den Versuch dar, anhand des „Esra“-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts Hinweise zum literarisch angemessenen wie praxistauglichen Umgang mit dem Konflikt – vielmehr der Interaktion – von Roman und Realität zu geben. Ausgangspunkt der Analyse ist die versuchte Annäherung an das Verhältnis von Roman und Realität (I.). Sodann wird an der für dieses Feld maßgeblichen „Esra“-Entscheidung Hand angelegt, um den Fortschritt hinsichtlich einer kunstadäquaten Herangehensweise des Gerichts und einige noch notwendige Präzisierungen und interdisziplinäre Ergänzungen festzustellen (II.). Die in dem Beschluß aufgeworfenen Fragen um Fiktion – Wie gestaltet sich Fiktion, und wie ist sie in rechtliche Parameter im Ausgleich mit Persönlichkeitsrechten in den sozialen Realien zu gießen? – geben Anregung, dem (Nicht-)Erscheinen von Fiktion vom Schauplatz der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung her, also aus den Augen des verständigen Durchschnittsrezipienten, auf den Grund zu gehen (III., IV.). Auf der Basis der gewonnen Erkenntnisse wird dem Rechtspraktiker abschließend eine Orientierungshilfe zum Umgang mit fiktionaler Literatur an die Hand gegeben (V.).

I.  Geht es nicht hier um Kunst, dort um Tatsachenberichte? 1.  Erkennbarkeit der realen Personen im Fall von Esra und Lale Schon jetzt ist klar, daß allein die Konstellationen virulent werden, in denen sich reale Personen in Kunstfiguren tatsächlich wiedererkennen (Eingangsfall 3), beispiel5   Gleichsinnig die Formulierung in BVerfGE 119, 1 (34): „Die eindeutig als Esra erkennbar gemachte Klägerin zu 1) muss aufgrund des überragend bedeutenden Schutzes der Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den Roman nahegelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse auch in der Realität zugetragen haben.“ 6   Vgl. hierzu S. Hammelehle, „SZ“-Kulturchef soll Schirrmacher-Krimi geschrieben haben, http:// www.spiegel.de/kultur/literatur/der-sturm-schrieb-thomas-steinfeld-ueber-frank-schirrmacher-a849919.html (14.8.2012).

Interaktion erwünscht!

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haft am Kunstwerk von Maxim Biller, in Gestalt des Romans „Esra“7. Der Ich-Erzähler Adam aus München-Schwabing führt in dem im Jahr 2003 erschienenen Buch in sein turbulentes Liebesleben mit der Protagonistin und Schauspielerin Esra ein8. In 73 Kapiteln spricht Adam von seiner Beziehung zu Esra, die nicht zuletzt an dem Widerstand von Lale, der intriganten Mutter Esras, scheitert9. Zwei Frauen aus dem sozialen Umfeld Maxim Billers, Ays¸e Romey und Birsel Lemke, Tochter und Mutter, erkennen sich in den Kunstfiguren aus dem sozialen Umfeld Adams, Esra Adrian-Werkmeister und Lale Schöttle, Tochter und Mutter, aufgrund zahlreicher biographischer Ähnlichkeiten wieder: Die türkische Schauspielerin Esra wurde wie Frau Romey mit dem Bundesfilmpreis geehrt10. Beide heirateten im Alter von 17 Jahren und gingen eine derweil gescheiterte Beziehung zum Trauzeugen ihres Ehemannes, im Roman zu Adam, in den sozialen Realien zu Biller, ein11. Aus der nunmehr entzweiten Ehe stammt die schwer erkrankte Tochter von Ur- wie von Abbild12. Die Übereinstimmungen von Lale und Lemke sind nicht minder prägnant: Vorlage und Romanfigur sind Inhaber eines Hotels in der Türkei und Träger des Alternativen Nobelpreises13. Die Mutter von Esra engagiert sich wie die von Romey gegen Goldabbau in der Türkei14. Die Schilderungen ähneln sich insgesamt hinsichtlich der Beschreibung und Anzahl von Partnern, Kindern, Beziehungskonstellationen, Handlungs- und Wohnorten15. Der Reigen vorgeblicher Analogie schließt sich denn auch bei dem Autor selbst: Der Erzähler Adam, der zeitweilige Partner von Esra, arbeitet als Schriftsteller, ist jüdischer Abstammung, stammt aus Prag und ist Vater eines Mädchens, das bei ihrer Mutter lebt; genauso läßt sich Biller beschreiben16.

2.  Persönlichkeitsrecht der realen Personen im Fall von Esra und Lale Wenn Billers Roman persönlichkeitsrelevante Materie anfaßt, so begegnet er doch mit dem Charme des aristotelischen Kunstverständnisses. 7  Vom Bundesverfassungsgericht als Kunstwerk im rechtlichen Sinne lokalisiert BVerfGE 119, 1 (20 ff.). Die Bedeutung Billers im literarischen Bereich wurde zuletzt durch die Auszeichnung mit dem Würth-Literaturpreis bestätigt; vgl. FAZ vom 2.7.2012, S.  26. 8   M. Biller, Esra, 2003, S.  9 ff., 14 ff., 24 ff., 42 ff. u. ö. 9   Die Untersuchung trägt wesentliche Ergebnisse der Arbeit der Verfasserin „Die ‚Esra‘-Entscheidung als Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Rechtsprechung im Labyrinth der Literatur“, 2013 zusammen und stützt sich auf die dort gewonnenen Rechercheergebnisse. Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  11, 75 ff. u. ö. 10   Vgl. BVerfGE 119, 1 (3 f., 26, 34 f.); vgl. LG München I ZUM 2004, 234 (234, 237); vgl. Biller, Esra (Fn.  8), S.  31 ff., 49 ff., 124 ff., 131 ff., 140 ff.; vgl. Munzinger Online/Personen, Internationales Biographisches Archiv, Eintrag „Lemke, Birsel“, http://www.munzinger.de/document/00000024630 (28.6.2012). 11   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  32 ff. 12   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  32 ff., 36 ff. 13   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9. 14   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  83 ff., 152 ff. 15   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9, 24 ff., 78 f., 101 ff. 16   Vgl. BVerfGE 119, 1 (3 f., 34); LG München I ZUM 2004, 234 (234); Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  110 ff., 185; Munzinger Online/Personen, Internationales Biographisches Archiv, Eintrag „Lemke, Birsel“, http://www.munzinger.de/document/00000024630 (31.7.2012).

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Zwar wird Lale als verbitterte Schwiegermutter in spe präsentiert, die sich ihre Zeit mit dem Spinnen von Intrigen und dem Austeilen von Gehässigkeiten vertreibt17. Reizvoller, aber nicht weniger pikant sind die Sexszenen mit Esra, die Adam aus seiner Beziehung mit der Protagonistin schildert18. Diese Passagen – zusammen mit der Enthüllung der Krankheit von Esras Tochter19 – sind den Frauen Anlaß, gegen die Veröffentlichung des Romans vorzugehen 20. Im Fall einer journalistischen Meldung könnte die Veröffentlichung der pikanten Details angesichts des betroffenen Kernbereichs privater Lebensgestaltung verboten werden. Doch derselbe Satz erhält abhängig von seinem Kontext eine gänzlich unterschiedliche Bedeutung: erzählend in einem Roman, berichtend in der Realität, einen Faktizitätsanspruch verneinend oder erhebend. Die Aufgabe eines Journalisten besteht in der sorgfältigen Recherche und Wiedergabe intersubjektiv wahrnehmbarer Umstände der Außenwelt. Der Faktizitätsanspruch ist grundsätzlich distinktiv für die Einteilung von Presse- und Kunstwerken 21. So ist denn auch die Relation „Informationsinteresse – Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung“ das journalistische Pendant zur „Je-desto“-Formel „Fiktionalisierung – Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung“ der Literatur im „Esra“-Beschluß22. Aber tatsachenunabhängige Kunst – in Beantwortung der Eingangsfrage, allein darum geht es bei dem Roman, dem autofiktionalen Text Billers23 – ist keine Abbildung der sozialen Realien. Seit Aristoteles kommt Kunst ein Eigenwert zu, in der Literatur entsteht eine von der Außenwelt selbständige Welt24. Man ist bestrebt, sich Allgemeinheiten anzunähern. Kunst steht von ihrem Selbstverständnis her losgelöst von Zweckmäßigkeitserwägungen und der Indienstnahme anderer gesellschaftlicher Bereiche25. In genau dieses Selbstverständnis ordnet sich auch der Roman von Biller   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9, 11, 24 ff., 76.  Exemplarisch Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  163 f. 19   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  28, 31, 39 ff., 44. 20   Die Prozeßgeschichte im zivilrechtlichen Fall „Esra“ umfaßt BGH NJW 2005, 2844 (2844 f.); OLG München ZUM 2003, 870 (873); OLG München NJOZ 2005, 4343 (4344); LG München I ZUM 2003, 692 (693); LG München I GRUR-RR 2004, 92 (92). 21   Stellt sich bei Bejahung dessen weiterhin die Frage des öffentlichen Interesses, dazu OLG Köln ZUM 2012, 330 (333, 336), so ist bei negierter Faktizitätsproklamation der Umfang der Fiktionalisierung entscheidend; BGHZ 73, 120 (121). 22   BVerfGE 119, 1 (30); in Hinsicht auf das Informationsinteresse E 35, 202 (233 f.); 120, 189 (203 ff., 208 ff.). 23   Es würde den Rahmen dieses Beitrags überschreiten, sollte die Autofiktionalität des Textes literaturwissenschaftlich eruiert werden, so daß hier allein eine schlichte Feststellung möglich erscheint. Zur Autofiktion instruktiv C. Schaefer, Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion, in: I. O. Rajewsky/U. Schneider (Hrsg.), Im Zeichen der Fiktion, 2008, S.  299 (307); F. Zipfel, Autofiktion, in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hrsg.), Grenzen der Literatur, 2009, S.  285 (286 ff.). 24   Konsens aus rechtlicher Sicht BVerfGE 119, 1 (22, 27 ff.); OLG Hamburg GRUR-RR 2006, 231 (232); wie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive A. Assmann, Fiktion als Differenz, in: Poetica 21 (1989), 239 (249 f.); H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: H. R. Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, 3. unveränderter Nachdruck der 2.  Aufl. (1969) 1991, S.  9 (17 f.); M.-L. Ryan, Narrative as Virtual Reality, Baltimore/London 2001, S.  91. 25   Assmann, Fiktion (Fn.  24), S.  248; O. Marquard, Kunst als Antifiktion – Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in: D. Henrich/W. Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, 2.  Aufl. 2007, S.  35 (36 f.). – Aus rechtlicher Sicht auch A. v. Arnauld, Freiheit der Kunst, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  VII, Freiheitsrechte, 3.  Aufl. 2009, 17

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ein: „Esra“ erschließt im aristotelischen Sinne einen Zugang zu einer allgemeineren Ebene, die sich zwischen bloßer Kopie und reiner Erfindung positioniert. Hier werden universale Aspekte von zwischenmenschlichen Konflikten und Bindungen, Individualismus und gesellschaftlich-kulturellen Verhaltensregeln diskutiert. Der Autor bezieht sich dabei auf die erlebten und verarbeiteten autobiographischen Erlebnisse, die in der Literatur eine originäre Neugestaltung finden.

3.  Interaktion: Ein- und Ausgang der realen Personen im Fall von Esra und Lale Kunst begreift sich also als Bearbeitungsmodus der Realität, um eine neue künstlerische Wirklichkeit zu schaffen. Diese Wechselwirkung ist nicht obiter dictum anzufügen, sondern als Eigenwert und Intention von Kunst hervorzuheben: Die Interaktion von Kunst und Wirklichkeit ist ausdrücklich erwünscht. Literatur nimmt zur Verarbeitung Ereignisse aus der Realität auf, in der sie sich bewegt. Esra und Lale sind nicht Frau Romey und Frau Lemke. Vielmehr gehen die Persönlichkeiten letzterer in erstere ein, inspirieren diese. Wenn nun in die Literatur Geschehnisse der Wirklichkeit Eingang finden, dann wirken im Rückfluß auch die Kunstfiguren – gleichsam durch eine permeable Wand – auf die sozialen Realien ein. Esra und Lale beeinflussen die Betroffenen und ihr soziales Umfeld.

II.  Verbotene „Esra“: kunstinadäquate Gleichsetzung von Fiktion und Realität? In der „Esra“-Entscheidung mußte das Bundesverfassungsgericht einen modus vivendi für das Verhältnis des Persönlichkeitsschutzes der beiden Klägerinnen, Frau Romey und Frau Lemke, nach Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG und der Kunstfreiheit aus Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG des „Esra“ publizierenden Verlags finden. Die Frauen haben im zivilgerichtlichen Verfahren ein Publikationsverbot des Romans erstritten, da sie sich in ihrem Recht auf freie Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit in der Darbietung von Esra und Lale verletzt sahen 26. Zum Teil hatte die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde der Verlagsgesellschaft – in Hinsicht auf Frau Lemke – Erfolg, das Publikationsverbot blieb aber – mit Rücksicht auf Frau Romey – bestehen 27. Grundlage des Umgangs von Äpfeln der Fiktion und Birnen der Realität bilden in dem Beschluß die Aspekte von gerichtlicher Prüfungskompetenz, Fiktio-

§  167 Rn.  2 ff. – In der Renaissance wird sie als Neuschöpfung gefeiert; hierzu F. Wittreck, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  I, 3.  Aufl. 2013, Art.  5 III (Kunst), Rn.  2 . – Zur Wissenschaft und Mimesis­ lehre in der Renaissance A. Perrig, Der Renaissance-Künstler als Wissenschaftler, in: W. Busch (Hrsg.), Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, Bd.  II, 1987, S.  649 (649 ff.); A. Schmitt, Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance, in: A. Kablitz/G. Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, 1998, S.  17 (17 ff.). 26  Zur zivilrechtlichen Prozeßgeschichte BGH ZUM 2005, 735 (735 ff.); OLG München NJOZ 2005, 4343 (4344 ff.); LG München GRUR-RR 2004, 92 (92 ff.). 27   BVerfGE 119, 1 (1 f., 20, 33).

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nalitätsvermutung, „Je-desto“-Formel und den beiden stets verbotenen Zonen von Intimsphäre und Eltern-Kind-Beziehung:

1.  Erweiterung des gerichtlichen Prüfungsumfangs In der „Esra“-Entscheidung beginnt der erkennende Senat direkt mit der Ausdehnung seines Prüfungsumfangs28 und rückt damit unvermittelt ohne weitere Bedenken oder Erklärungen von der grundsätzlich eingeschränkten Prüfungskompetenz nach der „Heckschen Formel“ ab29. Die Prüfungserweiterung erscheint zwar vor dem Hintergrund einer möglicherweise nachhaltig ruf- und finanzschädigenden Untersagung einer Publikation durchaus nachvollziehbar; die gegebene, knappe Begründung aber kaum. Um im Bild der unterschiedlichen Obstsorten zu bleiben, könnte man diese Erweiterung ebenso schlicht wie euphorisch mit der damit verbundenen Intensivierung des Prüfungsumfangs, notwendig aufgrund des hohen Rangs der Kunstfreiheit, Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG, also mit einer genaueren Untersuchung der doch hochwertigen Früchte, rechtfertigen: „Das Verbot eines Ro­ mans stellt allerdings einen besonders starken Eingriff in die Kunstfreiheit dar. Das Bundesverfassungsgericht kann seine Überprüfung daher nicht (.  .  .) beschränken, (.  .  .).“30 Eine Relation von Beeinträchtigungsintensität und Prüfungsumfang hatte das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor häufiger hergestellt 31. Verständlicher würde dieses Vorgehen durch den Hinweis auf die Entscheidungsbrisanz vor dem Hintergrund des bedeutenden Stellenwerts der Kunstfreiheit, der nachhaltigen Wichtigkeit der Entscheidung, der Eingriffsintensität in wirtschaftlichem wie rechtlichem Bezug sowie der gesellschaftlichen Folgen eines Buchverbots. Dann nämlich wird eine Prüfungsintensivierung geradezu zwingend.

2.  Zwei Fiktionalitätsvermutungen: Stärkung der Kunstfreiheit Die Fiktionalitätsvermutung kann in ihrem Aussagegehalt überzeugen, der sich allerdings noch treffender in zwei Fiktionalitätsvermutungen präzisieren läßt. Die   BVerfGE 119, 1 (22).   Instruktiv BVerfGE 18, 85 (93); 22, 93 (97 f.); 30, 173 (196 f.). – Erörtert von S.  Vogel, Der Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts bei Verfassungsbeschwerden am Beispiel der Kunstfreiheitsrechtsprechung, 2004, S.  33 ff., 90 ff., 195 ff. – Differenzierend; durch die Aufweichung des Prüfungsrahmens befürchtet Rechtsunsicherheit J. Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, 1994, S.  66. 30   BVerfGE 119, 1 (22). Dem Vorgehen stimmen zumindest im Ergebnis zu C. Enders, Anmerkung zu BVerfG. Az. 1 BvR 1783/05, in: JZ 2008, S.  581 (581 f.); F. Wittreck, Esra, Mephisto und Salomo, in: Jura 2009, S.  128 (132); R. Müller-Terpitz, BVerfGE 119, 1 – Esra. Zum schwierigen Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht, in: J. Menzel/ders. (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung. Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2.  Aufl. 2011, S.  830 (832). – Ein weiterer interessanter Aspekt des Gleichgewichts der Prüfungskompetenzen hinsichtlich Schutzpflicht und Abwehrrecht kann an dieser Stelle nicht vertieft werden; hierzu C. Calliess, Schutzpflichten, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  II, 2006, §  4 4 Rn.  36. 31   BVerfGE 67, 213 (222 f.); 75, 369 (376). 28 29

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Fiktionalitätsvermutung ist wie in den Ausführungen des Senats gesehen direkt an die Annahme eines „mündig(en)“ Lesers gebunden32. Offen bleibt, weshalb von den Erwartungen an den Leser („mündig“) direkt („daher“) auf die Qualifizierung eines Textes („als Fiktion“) geschlußfolgert werden kann. Verständlicher wird dieses Konstrukt mit Hilfe eines Zwischenschritts: Bei einem literarischen Text handelt es sich vermutlich um einen fiktionalen Text (erste Fiktionalitätsvermutung). Ein fiktionaler Text wird vermutlich als solcher rezipiert (zweite Fiktionalitätsvermutung). Eine Einteilung der Annahmen in bezug auf Texteigenschaft und Rezeption entzerrt die vom Senat eingeführte Annahme in zwei, aufeinander auf bauende Fiktionalitätsvermutungen und wirkt damit insgesamt klarstellend 33. „Ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, ist daher zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das keinen Faktizitätsanspruch erhebt.“34 Mit dieser im Anschluß an den (doch hoffentlich) „mündig(en)“ Leser35 ebenso apriorisch wie leichtgewichtig anmutenden Formel verbindet sich ein künstlerisches Schwergewicht: In der Tat ist es fachgerecht, bei einem literarischen Text von Fiktionalität auszugehen. Zwar ist das Verhältnis von Literarizität und Fiktionalität nicht unumstritten36 ; doch kann durchaus plausibel eine deutliche Nähe der beiden Bereiche – ohne jede Zwangsläufigkeit – angenommen werden37. Bildlich gesprochen ist im Apfelregal lagerndes 32   Wörtlich BVerfGE 119, 1 (28): „Die Gewährleistung der Kunstfreiheit verlangt, den Leser eines literarischen Werks für mündig zu halten, dieses von einer Meinungsäußerung zu unterscheiden und zwischen der Schilderung tatsächlicher Gegebenheiten und einer fiktiven Erzählung zu differenzieren. Ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, ist daher zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das keinen Faktizitätsanspruch erhebt.“ 33   Es sei angemerkt, daß Streit unter den Literaturwissenschaftlern hinsichtlich der Qualifizierung als Fiktion besteht, der hier allerdings nicht in gebotenem Umfang betrachtet werden kann; vgl. hierzu K. Hamburger, Die Logik der Dichtung, 4.  Aufl. 1994, S.  56 ff.; F. Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, 2001, S.  159; J. Gertken/T. Köppe, Fiktionalität, in: S. Winko/F. Jannidis/G. Lauer (Hrsg.), Grenzen der Literatur, 2009, S.  228 (230). – Den konstruktiven Charakter von Fiktion betont auch M. Tamen, The matter of the facts, Stanford 2000, S.  115. Die Fiktion läßt sich durch ihre Funktion, die Ermöglichung der Beteiligung an dem Spiel des „make believe“, bestimmen: A. J. Bareis, The Role of Fictionality in Narrative Theory, in: L.-Å. Skalin (Hrsg.), Narrativity, Fictionality, and Literariness, Örebro 2008, S.  155 (157, 159). – Die Rezipientensicht verstehen als Maßstab S. J. Schmidt, Ist „Fiktionalität“ eine linguistische oder eine texttheoretische Kategorie?, in: E. Gülich/W. Raible (Hrsg.), Textsorten, 1972, S.  59 (65 ff., 69 ff.); J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. (Vorlage für Zwecke einer Seminardiskussion), in: ders./N.  Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, 10.  Aufl. 1990, S.  101 (102 ff., 115 ff., 138 ff.); J. Anderegg, Das Fiktionale und das Ästhetische, in: D. Henrich/W. Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, 2.  Aufl. 2007, S.  153 (156). – Angesichts des Rahmens des Beitrags wird allein die hier vertretene Auffassung von der Fiktion als Texteigenschaft der Untersuchung zugrunde gelegt. 34   BVerfGE 119, 1 (28). 35   BVerfGE 119, 1 (28). 36   Statt vieler R. Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, 4.  Aufl. 1994, S.  42 ff.; O. Jahraus, Literaturtheorie, S.  117. – Die Merkmale in einen rhetorischen und strukturalistischen Bereich teilt ein R. Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 2004, S.  25; R. J. Gerrig/D. N. Rapp, Psychological Processes Underlying Literary Impact, in: Poetics Today 25 (2004), S.  265 (265 ff.). – Anders J. Fohrmann/H. Müller, Einleitung: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, in: dies. (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, 1992, S.  9 (16 f.); J. Derrida, Die différance, in: P. Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion, 2007, S.  76 (88 ff.); M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, in: A. Honneth/M. Saar (Hrsg.), Michel Foucault, 2008, S.  7 (64 ff., 69 ff., 76 f.). 37   Zu diesem Fragenkreis nur G. Genette, Fiktion und Diktion, 1992, S.  19 ff., 34; R. Bunia, Fal-

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Obst vorerst sortengetreu zu sortieren. Da ein literarischer Text nach literaturwissenschaftlichen Maßstäben durchaus als fiktional qualifiziert werden kann, ist die Fiktionalitätsvermutung ein gelungener Transfer von literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen in einen rechtlichen Entscheidungsrahmen. Berücksichtigt man nun – vorausschauend in Richtung „Je-desto“-Formel38 –, daß die Fiktionalisierung ein die Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung kompensierendes Element ist, so ergibt ein „Mehr“ an Fiktion ein „Weniger“ an Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung; damit ein „Wahrscheinlich“ der Zulässigkeit, letztlich ein begrüßenswertes „Mehr“ an Schutz für die Kunstfreiheit aus Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG.

3.  „Je-desto“-Formel: mehr künstlerischer Freiraum durch klare Etikettierung Stellte die Fiktionalitätsvermutung einen echten Ausbau des Schutzes für die Kunstfreiheit dar, so ist die „Je-desto“-Formel kein Novum. Sie beinhaltet allein eine Aktualisierung des althergebrachten Grundsatzes der praktischen Konkordanz39. Eine Manifestierung des aus Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG zusammengesetzten allgemeinen Persönlichkeitsrechts bildet sich in der Sphärenlehre ab, die als Entscheidungsorientierung im „Esra“-Beschluß herangezogen wird40 und nahtlos in die „Je-desto“-Formel überführt: „Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders geschützten Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“41 Je deutlicher ein Apfel der Fiktion als solcher etikettiert ist, desto größer ist die Gestaltungsfreiheit, die dem Anbietenden zukommt. In dem von der „Je-desto“-Formel angestrebten Abgleich künstlerischer Bearbeitung und Ausstrahlung auf die Wirklichkeit geht es um die begrüßenswerte Präzisierung der Interaktion von Realität und Kunst. Gleichwohl macht die nicht immer glückliche Wahl der Termini eine Klarstellung der Formulierungen der „Je-desto“-Formel ihrerseits erforderlich: Wie bereits plakatungen. Fiktion, Erzählung, Medien, 2007, S.  24; L. v. Laak, Fiktionalität, in: D. Burdorf/C. Fasbender/B. Moennighoff (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, 3.  Aufl. 2007, S.  240 (240); J. R. Searle, Der logische Status fiktionaler Rede, in: M. E. Reicher (Hrsg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit, 2007, S.  21 (21 f.). 38   BVerfGE 119, 1 (30); sogleich II.3. 39   BVerfGE 67, 213 (228); BVerfGE 119, 1 (30); hierzu W. Seitz, „Gute Kunst war immer decouvrierend“. Aber Tabuzonen dürfen nicht überschritten werden, in: ZRP 2005, S.  141 (141); R. Hahn, Persönlichkeitsrecht und Buch, in: ZUM 2008, S.  97 (101); P. Raue, Kunstfreiheit, Persönlichkeitsrecht und das Gebot der praktischen Konkordanz. Gedanken zum Esra-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem Contergan-Fall, in: Af P 2009, S.  1 (1 ff.). 40   Explizit BVerfGE 119, 1 (30): „Die unterschiedlichen Dimensionen des Persönlichkeitsrechts sind nicht im Sinne einer schematischen Stufenordnung zu verstehen, wohl aber als Anhaltspunkte für die Intensität der Beeinträchtigung durch das literarische Werk.“ 41   BVerfGE 119, 1 (30).

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tiv vorangestellt, besteht tatsächlich eine Interaktion, allerdings zwischen Wirklichkeit und Literatur, nicht – wie in der „Je-desto“-Formel etwas flüchtig formuliert – von künstlerischer Wirklichkeitsbearbeitung und Persönlichkeitsrechtsverletzung: Der Begriff der Persönlichkeitsrechtsverletzung beschreibt allein eine mögliche, mitunter mißglückte Erscheinungsform der Wirkung von Kunst auf Wirklichkeit. Bleibt man im Rahmen der Interaktion, so illustriert die Persönlichkeitsrechtsverletzung allein ein zu vermeidendes Resultat des Einflusses von Kunst – im Bereich der „Je-desto“-Formel dabei innerhalb der Fiktionalisierung – auf Wirklichkeit. Daß die Realität ihrerseits Effekte in der Kunstwelt setzt, steht zwar außer Frage. Daß diese sich aber bei einer Persönlichkeitsrechtsverletzung in den sozialen Realien gerade auf die Form der Wirklichkeitsbearbeitung, die Fiktionalisierung, auswirkt, erscheint ungewiß, eine diesbezügliche Wechselbeziehung damit nicht feststellbar. Somit besteht zwischen Fiktion und Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung – anders als in der „Je-desto“-Formel formuliert – allein eine einseitige Beeinflussung von Fiktionalisierung auf die Persönlichkeitsrechtsverletzung. Betrachtet man die beiden Aussagen der „Je-desto“-Formel, so stellt sich die erste als Konkretisierung der nachvollziehbaren Ansicht dar, daß das Maß der Fiktionalisierung („Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen [.  .  .]“) ein Parameter – unter anderen42 – der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung ist („desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts“). Fiktionalisierung wirkt also diametral zur Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung. Je weniger Fiktion, desto intensiver die Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung. Dann aber wird die zweite Aussage als tautologisch hinfällig: „Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders geschützten Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“43 Sie formuliert allein die erste Relation in eine Forderung um und ist damit letztlich als Doppelung zu vernachlässigen.

4.  Abwägungsfeste Ausnahmegruppen a)  Verletzung der Intimsphäre Sollte der Konsument, also der verständige Durchschnittsrezipient44, den fiktionalen als faktualen Text auffassen, wird er auch die fiktiven Ereignisse als tatsächlich ausdeuten, die Sexszenen mithin dem realen Vorbild zuordnen. Die Voraussetzungen des Bundesverfassungsgerichts sind insgesamt nachvollziehbar: intime Details, dargestellt in einer Faktizität vermittelnden Erzählhaltung. Dann aber fügt sich diese Wertung tatsächlich nahtlos in die genannte Entscheidungspraxis zum Kernbereich des Menschenwürdegehalts ein. 42   Es fehlt der Raum, um die anderen Einflußgrößen erschöpfend darzustellen. Daher sei allein am Rande auf die Persönlichkeitsrechtsintensität orientiert an der Sphärenlehre hinsichtlich Darstellungsinhalt und -art verwiesen. 43   BVerfGE 119, 1 (30). 44   Zum Rezeptionsmaßstab IV.3.

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Der Senat beschreibt im „Esra“-Beschluß die beiden Ausnahmezonen durchaus sinnfällig: Eine Persönlichkeitsrechtsverletzung „geschieht insbesondere durch die genaue Schilderung intimster Details einer Frau, die deutlich als tatsächliche Intimpartnerin des Autors erkennbar ist“45. Genau genommen handelt es sich hierbei nicht um eine Ausnahme von der Fiktionalitätsvermutung46, sondern vom Abwägungsvorgang: Der Kernbereich der Menschenwürde47 verschließt sich einer Gegenüberstellung48. Diese Einschätzung deckt sich mit den in der Rechtsprechung vergleichbar vorgenommenen Beurteilungen im Bereich des Menschenwürdekerns49. Der Einwand, daß hier allein Esra, also eine Kunstfigur, in ihrem Sexualleben dargestellt wird, diese aber nicht Trägerin des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit in ihrem Grundrecht nach Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG verletzt sein kann, bietet sich auf den ersten Blick an50. Auf den zweiten läßt sich die Kritik allerdings durch den Verweis auf die Interaktion von Wirklichkeit und Kunst entkräften: Eine literarische Darstellung hat zwar keine persönlichkeitsrelevanten Auswirkungen auf eine Kunstfigur, aber durchschlagende auf die Realität, namentlich auf die dadurch erkennbare Person. Allein wenn man sich Literatur und Wirklichkeit als zwei voneinander abgeschiedene, ghettogleiche Parallelwelten vorstellt, erscheint eine Beschneidung des realen Persönlichkeitsschutzes durch Mittel der Ästhetik ausgeschlossen, vor dem Hintergrund der achtenswerten Interaktion hingegen verständlich. Kunst wirkt zumeist ohne Beschränkung in den sozialen Realien, „inter omnes“, wird nicht selten inadäquat rezipiert, entfaltet aber ungemindert Wirkung in der sozialen Wirklichkeit: Mit anderen Worten, auch ein als Birne der Realität deklarierter Apfel der Fiktion wird konsumiert.

b)  Bloßstellung des Eltern-Kind-Verhältnisses Die Ergänzung um die zweite Ausnahmegruppe des Eltern-Kind-Verhältnisses wirkt in der Begründung etwas kontingent, im Ergebnis durchaus nachvollziehbar und damit als Beispiel für folgende, ähnlich plausible Exzeptionen begrüßenswert. Knapp also wie euphorisch im Ergebnis erscheint diese Tabuisierung: „Angesichts des besonderen Schutzes von Kindern und der Mutter-Kind-Beziehung (vgl. BVerfGE 101, 361 [385 f.]) hat die Darstellung der Krankheit der dadurch gekennzeichneten Beziehung von Mutter und Kind bei zwei eindeutig identifizierbaren Personen, wie es das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.“51 Angesichts der ergebnisorientierten Begeisterung – Ist es mit verfassungs  BVerfGE 119, 1 (34).   So aber BVerfGE 119, 1 (50 ff.) – Sondervotum Hoffmann-Riem. 47   BVerfGE 119, 1 (34). 48   Anders KG Berlin NJW-RR 2004, 1415 (1416 f.); ähnlich BGHSt 50, 80 (89 ff.). Somit könnte die Formulierung des Senats spezifiziert werden BVerfGE 119, 1 (34): „Daher fällt die Abwägung zwischen der Kunstfreiheit des die Verfassungsbeschwerde führenden Verlags und des Persönlichkeitsrechts der Klägerin zu 1) zu deren Gunsten aus (vgl. auch BVerfGE 75, 369 [380]).“ 49   BVerfGE 75, 369 (380); 80, 367 (373 f.); 89, 69 (82 f.). 50  Hierzu F. Seifert, Realität oder Fiktion – Dichtung und allgemeines Persönlichkeitsrecht, in: R. Jacobs/H.-J. Papier/P.-K. Schuster (Hrsg.), Festschrift für Peter Raue, 2006, S.  695 (709). 51   BVerfGE 119, 1 (34 f.). 45

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rechtlichen Grundsätzen vereinbar, daß ein schwer erkranktes, minderjähriges Mädchen von seiner Erkrankung möglicherweise bei der Gelegenheit einer Romanveröffentlichung erfährt? – verblaßt die etwas schwache, durchaus ausbaufähige Begründung dieser Ausnahmegruppe52.

5.  Würdigung der Interaktion von Roman und Realität im „Esra“-Beschluß Auch ohne pathetische Überhöhung ist eine Würdigung des „Esra“-Beschlusses in Fortentwicklung der „Mephisto“-Entscheidung als Konkretisierung und Schutzverstärkung angemessen. Die „Esra“-Entscheidung beinhaltet eine deutliche Präzisierung der Parameter im Umgang mit Kunst. Die kunstspezifische Betrachtungsweise verhindert ein Zusammenzählen von Äpfeln und Birnen, namentlich in Form des Erkennbarkeitskriteriums und der Fiktionalitätsvermutung. So wurden die entsprechend dem Bekanntheitsgrad divergierenden Bedingungen für die Erkennbarkeit egalisiert: Das Kriterium „ein nicht unbedeutender Leserkreis“53 wurde durch den nunmehr maßgeblichen „mehr oder minder großen Bekanntenkreis“54 ersetzt. Ersteres bleibt naturgemäß hinreichende, nicht aber notwendige Voraussetzung. Der Maßstab des Bekanntenkreises ist hinsichtlich der Größe variabel und beschränkt sich auf die Wiedererkennbarkeit in dem – individuell angepaßten – alltäglichen sozialen Umfeld. Durch diesen Austausch werden die Unterschiede zwischen prominenten und unbekannten Personen aufgehoben, da es nicht mehr auf den erhöhten Bekanntheitsgrad ankommt, der die Identifizierung in einem nennenswerten Leserkreis ermöglicht. Eine Privilegierung Prominenter ist damit ausgeschlossen55. Die Kunstfreiheit wird selbstredend durch die Einführung der Fiktionalitätsvermutung verstärkt gestützt56. Denn wenn die Fiktionalisierung im Rahmen der „Je-desto“-Formel ein Argument der Zulässigkeit ist, so beinhaltet eine Vermutung für Fiktion folgerichtig einen Zuwachs an Schutz57. Resümierend erstaunt es nicht, daß der Roman „Mephisto“ nach den kunstfreundlichen „Esra“-Grundsätzen – hier sei 52   So auch Raue, Kunstfreiheit (Fn.  39), in: Af P 2009, S.  1 (4 f.); F. Wittreck, Persönlichkeitsbild und Kunstfreiheit, in: Af P 2009, S.  6 (11); H.-G. Knothe, Freiheit der Kunst versus Persönlichkeitsrecht, in: Greif Recht 2010, S.  79 (94). 53   BVerfGE 30, 173 (198). 54   BVerfGE 119, 1 (25); der Gedanke des Bekanntenkreises war schon vor dem „Esra“-Beschluß bekannt: So im „Meere“-Verfahren für einen weiteren Bekanntenkreis LG Berlin Af P 2004, 287 (289 f.). 55  Redlicherweise ist einzuräumen, daß sich auch dem „Mephisto“-Beschluß eine Intention zur Bevorzugung Prominenter nicht entnehmen läßt. Denn tatsächlich stellte sich bei einer Persönlichkeit von allgemeiner Bekanntheit wie Gustaf Gründgens nicht die Frage, ob er – wenn schon von weiten Bevölkerungsteilen – wohl in seinem sozialen Umfeld identifiziert wird. Nach dem „a maiori ad minus“-Gedanken konnte dieser Umstand vom Gericht ohne weiteres unterstellt werden. 56   BVerfGE 119, 1 (28 f.). – Noch in den „Mephisto“-Grundsätzen verhaftet blieb vorhergehend LG Berlin Af P 2004, 287 (291 f.). 57   Ein weiterer Vorteil der „Esra“- gegenüber der „Mephisto“-Entscheidung liegt in der Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, vgl. BVerfGE 30, 173 (187 ff.); 119, 1 (35 f.). Denn ein zivilgerichtliches Urteil, ein Akt öffentlicher Gewalt, §  9 0 Abs.  1 BVerfGG, ist selbstredend an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art.  1 Abs.  3 GG i. V. m. Art.  20 Abs.  1 GG, gebunden.

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namentlich die Fiktionalitätsvermutung ins Feld geführt – heute nicht mehr verboten würde.

III.  Läßt sich ein Roman als Produkt der Realität etikettieren, und wenn ja wie? Es bleibt die praxisbezogene Frage des gerichtlichen Umgangs mit der Interaktion von Kunst und Wirklichkeit, des Ausgleichs von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz im Fall realitätsinspirierter Literatur. Das Gericht sieht sich einer Reihe von Fragen gegenüber: Lassen sich Äpfel der Fiktion als Birnen der Realität etikettieren? Wenn ja, wie? Wie wird denn ein Apfel der Fiktion als Fiktion und eine Birne der Realität als Realität beschriftet? Welche Merkmale bedeuten eine Beschilderung der Obstsorten, die mitunter beim Austausch der Beschriftung zu einem Zusammenzählen von Äpfeln mit Birnen durch den Konsumenten führen können?

1.  Fiktionssignale als Etikett der Fiktion Äpfel der Fiktion wie „Esra“ werden grundsätzlich als solche aufgrund von Fiktionssignalen – textueller und paratextueller Art, konkretisiert als Fiktivitäts- und Fiktionalitätssignale58 – gekennzeichnet. Fiktionssignale zeigen die Fiktion in Darstellungsform und/oder -gegenstand an59. So zählen zu den textuellen Merkmalen, die sich auf das Dargestellte beziehen (Fiktivitätssignale), Texteigenschaften von Zeit-, Raum- und insbesondere Figurenangaben, die das Phantastische beispielhaft in Form der singenden Blume oder des sprechenden Pferdes ausdrücken60. Neben den Darstellungsinhalten kann zweitens auch durch die Darstellungsweise, die textuellen Fiktionalitätssignale, die Fiktionalität des Textes ausgewiesen werden: Überdurchschnittliche Erinnerungskapazitäten in Form ausgeprägter Detailgenauigkeit in der Erzählung, anachronistischer Textauf bau mit Vor- und Rückblicken, nichtidentische Namen von Erzähler und Autor, eine nichtgeschlossene Erzählsituation innerhalb des Textes und eine auffallend detailverspielte Darstellung von Gefühlen und Gedankengängen der Kunstfiguren zeugen von Fiktion61. Entsprechend vermehrt erfolgt der Einsatz von Verben der Wahrnehmung und Empfindung 62. Bevorzugt werden die Erzählhaltung der erlebten Rede und spezifische Formen der 58  Zu dieser Aufgliederung Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  233 ff.; in diesem Zusammenhang ähnlich Genette, Fiktion (Fn.  37), 1992, S.  81. 59   Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  232. – In diesem Kontext auch M. Riffaterre, Fictional Truth, Baltimore/London 1993, S.  9 f., 29 ff.; M. Fludernik, Fiction vs. Non-Fiction: Narratological Differentiations, in: J. Helbig (Hrsg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, 2001, S.  85 (95 ff.); T. Benkel, Soziale Welt und Fiktionalität, 2008, S.  28 ff.; T. Köppe, Literatur und Erkenntnis: Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, 2008, S.  39 f. 60  Hierzu Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  234. 61   K. Kasics, Literatur und Fiktion, 1990, S.  43; Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  236. – Differenzierend J. Schneider, Einführung in die Roman-Analyse, 3.  Aufl. 2010, S.  9, 12. 62   Hamburger, Logik (Fn.  33), S.  72 ff.

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Eröffnung („es war einmal“; offene, nicht distinktive Eröffnungen) gewählt63. Außerdem legen der innere Monolog als auch die Präsensform – unter Umständen ebenso das Präteritum – die Zuordnung zur Fiktion nahe64. Selbstreflexion65, Intertextualität66, Erzählmodi des Ich- oder auktorialen Erzählers67, situationsabhängige, verweisende Ausdrücke68 sowie eine bestimmte Gliederung und Dramaturgie des Textes69 weisen einen Text als Fiktion aus. Auf paratextueller Ebene erfüllen die gleiche Funktion beispielsweise den Text begleitende Kontextangaben wie Titel, Untertitel, Autor, Verlag und Layout70. Auch das Verhalten des Autors kann in Form von veröffentlichten Interviews, Essays und Tagebuchauszügen die Fiktionalität des Textes erklären71. In gleichem Zungenschlag sind Merkmale wie Vor- und Nachwort, Gattungsbezeichnung, Widmung, Fußnoten, Disclaimer und Klappentext zu nennen72.

2.  Wird „Esra“ als Fiktion etikettiert? Kehrt man nun zu der initialen Frage zurück, ob sich ein Roman – konkret „Esra“ – als Realität – konkret als Autobiographie – etikettieren läßt, so erhält man anhand der Fiktions- und Faktizitätssignale eine ambivalente Antwort:

a)  Etikettierung als Realität Einerseits mischen sich auffallend, an markanten Stellen und damit nachhaltig viele Faktizitätssignale in die Grundierung der Fiktion: Textuelle Fiktivitätssignale sendet der Roman nicht aus: Die Protagonisten tragen gewöhnliche Vornamen und zeigen Fähigkeiten und Verhaltensweisen durchschnittlich begabter Personen, den Erzähler in seinem Erinnerungs- und Einsichtsvermögen inbegriffen. Vielmehr eröffnen Ereignisse aus dem Leben der Protagonisten klare Parallelen zur Wirklichkeit: Die genannten Übereinstimmungen mit den realen Vorbildern hinsichtlich Preisverleihungen, örtlichem als auch zeitlichem Geschehen sowie Lebens- und Berufsweg 63   Genette, Fiktion (Fn.  37), 1992, S.  90; Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  140; v. Laak, Fiktionalität (Fn.  37), S.  240; J. Vogt, Aspekte erzählender Prosa, 10.  Aufl. 2008, S.  28. 64   Hamburger, Logik (Fn.  33), S.  59 ff., 65 f., 78 ff.; Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  236 ff.; Vogt, Aspekte (Fn.  63), S.  29, 31, 37; M. Martínez/M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 8.  Aufl. 2009, S.  16. 65  So die Thematisierung von Fiktion in einem fiktionalen Text Martínez/Scheffel, Einführung (Fn.  64), S.  16 f. 66   Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  238 f.; A. Nünning, Fiktionssignale, in: ders. (Hrsg.), Metzler Lexikon, 4.  Aufl. 2008, S.  202 (202). 67   Genette, Fiktion (Fn.  37), S.  78 f. 68   Nünning, Fiktionssignale (Fn.  66), S.  202. 69   Nünning, Fiktionssignale (Fn.  66), S.  202. 70   Hierzu LG Leipzig ZUM 2008, 617 (618); G. Genette, Paratexte, 2001, S.  41 ff.; Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  134, 232 ff.; M. E. Reicher, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit, 2007, S.  7 (8). 71   VG Köln ZUM 2006, 501 (505 f.); O. Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, 2001, S.  231. 72   Genette, Paratexte (Fn.  70), S.  22 ff.; Martínez/Scheffel, Einführung (Fn.  64), S.  16.

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der Protagonisten drängt den Gedanken an die Realität beim Leser auf 73. Die Widmung des Autors lenkt den Blick des Lesers in Richtung realer Person: „Liebe Ays¸e, dieses Buch ist für Dich. Ich habe es nur für Dich geschrieben, aber ich verstehe, daß Du Angst hast, es zu lesen. Vielleicht liest Du es, wenn wir alt sind – und siehst dann noch einmal, wie sehr ich Dich geliebt habe.“74 Biller selbst läßt keinen Zweifel am Realitätsbezug seiner Arbeiten auf kommen75. In Interviews und Stellungnahmen weist er auf die Verständlichkeit als primäres Anliegen seiner Arbeit und die Wirklichkeit als vorrangige Inspirationsquelle hin76.

b)  Etikettierung als Fiktion Andererseits handelt es sich bei „Esra“ weiterhin uneingeschränkt um einen fiktionalen Text, genauer gefaßt um einen autofiktionalen, der Aspekte der Fiktionalität und Autobiographie vereint77. Die Kombination aus Fiktion und Realität ist durchaus plausibel, zumal auch fiktive Handlungen häufig realitätsbezogenen Abläufen verwandt sind78. Auf Fiktion deutet paratextuell das äußere Erscheinungsbild des Romans – angefangen mit Schutzumschlag, Bucheinband, über wiederholte Nennung von Titel, Untertitel „Roman“, Autor und Verlag, Buchformat von 13  cm x 20.5  cm und letztlich abgerundet durch den von Realitätsabgleich freizeichnenden Disclaimer und den umseitigen Klappentext hin79. Erzählt wird die Handlung um Adam und Esra in 73 überschaubaren Kapiteln im epischen Präteritum, zwanglos   Vgl. I.1.; Biller, Esra (8), S.  9 ff., 49 ff., 62 ff., 83 ff., 110 ff., 124 ff., 131 ff., 140 ff.   Vgl. LG München I ZUM 2008, 537 (537). – Die Widmung wird ähnlich kritisch beleuchtet von H. Müller-Dietz, Zwischen Fiktion und Realität – Zur literarischen Verarbeitung persönlicher Beziehungen, in: M. Wittinger (Hrsg.), Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz, 2011, S.  231 (239 f.). Der durch trashige Reality-Shows und enthüllende Autobiographien „literarisch verzogene“ Rezipient wird auch bei folgendem Zusatz hellhörig: „Geliebte Freundin, hier ist das Buch, das mich nervöser macht als Dich. Ich habe es trotzdem geschrieben und veröffentlicht – weil ich nicht anders konnte. Vielleicht zeigt sich mit der Zeit, dass es ein Fehler war, vielleicht/hoffentlich geschieht das Gegenteil. Zumindest die Widmung wird die Jahre überstehen, da bin ich mir sicher. Bleib meine Freundin, bitte – Maxim P. S. Unsere Kinder sollten es erst lesen, wenn sie wirklich erwachsen sind.“ Vgl. LG München I ZUM 2008, 537 (537). 75   M. Biller, Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel, in: A. Köhler/R. Moritz (Hrsg.), Maulhelden und Königskinder, 1998, S.  62 (62 ff.). 76   Biller, Sinnlichkeit (Fn.  75), S.  64 ff., 68 ff.; ders., Maxim Biller: Stellungnahme zum Prozess um „Esra“, in: Volltext: Zeitung für Literatur 7 (2003), S.  7. 77   Zur Autofiktion Schaefer, Autofiktion (Fn.  23), S.  306 ff.; Zipfel, Autofiktion (Fn.  23), S.  286 ff., 290. 78  Zum „Reality Principle“ K. L. Walton, Mimesis as Make-Believe, Cambridge/London 1990, S.  13 ff., 35; R. Ronen, Possible worlds in literary theory, Cambridge/UK u. a. 1994, S.  142 f.; Zipfel, Fiktion (Fn.  33), S.  91; B. Bourbon, Finding a Replacement for the Soul, Cambridge/MA 2004, S.  79. 79   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  5, 216; Genette, Paratexte (Fn.  70), S.  22 ff.; Vogt, Aspekte (Fn.  63), S.  16 ff.; C. Eichner/Y.-G. Mix, Ein Fehlurteil als Maßstab?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 32 (2007), S.  183 (189 f.). – Kritisch insbesondere zur freizeichnenden Wirkung von Disclaimern neben BVerfGE 119, 1 (58 f.) – Sondervotum Hoffmann-Riem aus der Literatur auch B. v. Becker, Überlegungen zum Verhältnis von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht, in: Af P 2001, S.  466 (470); E. Wanckel, Der Schutz der Persönlichkeit bei künstlerischen Werken, in: NJW 2006, S.  578 (579); R. Bunia, Fingierte Kunst, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 32 (2007), S.  161 (167 f.); Knothe, Freiheit (Fn.  52), in: Greif Recht 2010, S.  85. 73 74

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unterbrochen von Passagen im Präsens80, spielt mit der Fiktion in der Fiktion81 und eröffnet als durchaus typisches textuelles Fiktionszeichen mitten im Geschehen82. Der Erzähler Adam unterscheidet sich namentlich von dem Autor Biller. Der Ablauf der Erzählung wird durch Rückblenden zersetzt83 und endet mit einem offengehaltenen, der Phantasie entlehnten Schluß84.

c)  Verwechslung von Fiktion und Realität bei „Esra“ „Esra“ ist ein fiktionaler Text. So läßt sich angesichts der dominierenden Fiktionssignale – und zwar ein- und ganzheitlich – resümieren. Gleichwohl weist dieser vor dem Hintergrund der durchaus vehementen, insbesondere an biographisch markanten Stellen gesendeten Faktizitätssignale einen – für autofiktionale Texte nicht ungewöhnlichen85 – eher geringen Fiktionsgrad auf 86. Der Roman bleibt Apfel der Fiktion, der allerdings – bei nur flüchtigem, mitunter oberflächlichem Blick des Konsumenten auf die weniger nachdrückliche Kennzeichnung – als Birne der Realität konsumiert werden kann.

IV.  Was geschieht, wenn der Rezipient Wirklichkeit und Fiktion gleichsetzt? 1.  Fachgerechte Beurteilung in der Nachschau: Fiktionsgutachten Wie also sollte man in der gerichtlichen Prüfung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung ex post vorgehen, wenn sich Äpfel und Birnen so überaus ähnlich sahen, daß man sie kaum unterscheiden kann87? Man könnte dann den Experten, hier den Obst  Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  33, 35 ff., 52, 110.   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  75 f., 185 ff. Einer Vertiefung der Anspielungen auf literarische Texte im Roman „Esra“ fehlt an dieser Stelle der Raum. 82   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9 ; hierzu Genette, Paratexte (Fn.  70), S.  285 ff. 83   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9 ff., 19 f., 21 ff., 24 ff., 28 ff., 32 ff., 44 ff., 49 ff., 62 ff., 71 ff., 110 ff., 131 ff. 84   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  214. 85  Vertiefend S. Doubrovsky, Fils, Paris 1977, S.  10; P. Lejeune, Le pacte autobiographique, 2.  Aufl. Paris 1996, S.  14; Umsicht ist bei der Übersetzung von „pacte“ geboten: ders., Der autobiographische Pakt, 4.  Aufl. 2010, S.  50, 418; M. Löschnigg, Theoretische Prämissen einer „narratologischen“ Geschichte des autobiographischen Diskurses, in: J. Helbig (Hrsg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, 2001, S.  169 (173, 180); Sill, Literatur (Fn.  71), S.  234; Schaefer, Autofiktion (Fn.  23), S.  306 ff.; Zipfel, Autofiktion (Fn.  23), S.  286 ff., 290. 86   Die Möglichkeit der Kategorisierung anhand von Fiktionssignalen ist umstritten, doch kann an dieser Stelle keine adäquate Auseinandersetzung mit der Thematik geleistet werden. Hierzu H. Weinrich, Fiktionssignale, in: ders. (Hrsg.), Positionen der Negativität, 1975, S.  525 (525 f.); W. Haug, Die Entdeckung der Fiktionalität, in: ders. (Hrsg.), Die Wahrheit der Fiktion, 2003, S.  128 (133); O. Marquard, Das Fiktive als ens realissimum, in: D. Henrich/W. Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, 2.  Aufl. 2007, S.  489 (489 ff.); Köppe, Literatur (Fn.  59), S.  4 4. – Hier ist angesichts der Platzbegrenzung kommentarlos von der wenn auch umstrittenen Möglichkeit der Fiktionalitätsabstufung auszugehen. So auch BVerfGE 119, 1 (30). 87   Die Gefahr einer Verwechslung räumt bei Mischformen auch ein J. Neumeyer, Person – Fiktion – Recht, 2010, S.  240. 80 81

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händler, dort den Literaturwissenschaftler, um Rat fragen. Bei Gerichtsverfahren um fiktionale Texte ist ein fachkundiger Rat in Form eines literaturwissenschaftlichen Gutachtens notwendig88. Die Bearbeitung von Wirklichkeit in der Literatur prägt das Selbstverständnis von Kunst und erfordert damit eine disziplininterne Auseinandersetzung mit der neuen eigenständigen Schöpfung. Eine Gutachtenlösung auf Basis literaturwissenschaftlicher Kenntnisse ist opportun.

2.  Fachgerechte Beurteilung in der Nachschau: Begriffspräzisierungen Wenn die Gutachtenanfertigung zur Beurteilung von Fiktion auch in die Hände eines Literaturwissenschaftlers gelegt werden kann, erscheint eine Begriffspräzisierung für den gerichtlichen Umgang mit Literatur nicht weniger notwendig: Einige Termini aus den Beschlüssen „Mephisto“ und „Esra“ verstellen nicht nur den Blick auf Kunst, sondern lenken ihn durchaus in eine verkehrte Richtung.

a)  Irreführende „Ur-/Abbild“-Formel Eine begriffliche Klarstellung – beispielhaft in einem Wortpaar von (realer) Vorlage und (literarischer) Gestalt – wäre im rechtlichen Umgang mit Kunst sowohl ohne weiteres gangbar als auch überaus fruchtbar. Das seit der „Mephisto“-Entscheidung übliche Begriffspaar von „Urbild“89 und „Abbild“90 wird zwar in der Rechtsprechung unkritisch und kommentarlos ange-

88   In diesem Beitrag wird ein punktueller Einsatz eines Fiktionsgutachtens empfohlen. Dieser unterscheidet sich im konkreten Einsatz (Gutachten allein bezogen auf Fiktion als Texteigenschaft) von der weiter gehenden – auch die Persönlichkeitsrelevanz beurteilenden – Gutachtenlösung nach BVerfGE 119, 1 (45, 47) – Sondervotum Hohmann-Dennhardt, Gaier: „Vielmehr ist dafür auf literaturwissenschaftlichen Sachverstand zurückzugreifen. [.  .  .] Bei alledem kommt man aus literaturwissenschaftlicher Sicht übereinstimmend zu dem Schluss, dass der Roman ‚Esra‘ weder Erfahrungswelten reproduziert noch Autobiographisches darstellt, sondern einer literaturästhetischen Programmatik folgt und eine narrative Konstruktion, ein Roman ist [.  .  .]. Dies bestätigt nicht nur unser Verständnis des Buchs, sondern führt dazu, dass auch im Hinblick auf die Klägerin zu 1) eine Persönlichkeitsverletzung weder ersichtlich ist noch angenommen werden kann.“ – In der Literatur auf allgemeinerer Ebene erörtert von D. Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, 1997, S.  76 ff. Als unerläßlich versteht die Einholung fremder Sachkunde W. Palm, Öffentliche Kunstförderung zwischen Kunstfreiheitsgarantie und Kulturstaat, 1998, S.  64 ff., 68. – Auf die Unsicherheiten der Gerichtsurteile zur Beurteilung der Frage von Fiktion weist hin K. v. Bassewitz, Mehr und weniger fiktive Darstellungen bekannter Personen als Romanfiguren, in: jurisPR-WettbR 3/2010 Anm.  6. – Eindeutige Plädoyers von Eichner/Mix, Fehlurteil (Fn.  79), S.  218, 226; A. Schiemann, Persönlichkeitsrechtsverletzung contra Kunstfreiheit – Die Mephisto-Entscheidung und ihre Auswirkung auf die neuere Rechtsprechung, in: C. D. Conter (Hrsg.), Justitiabilität und Rechtmäßigkeit, 2010, S.  27 (44 f.); M. Ujica/R. Loef, Quod licet jovi, non licet bovi, in: ZUM 2010, S.  670 (676); M. Riedel, Vermutung des Künstlerischen, 2011, S.  5. 89   BVerfGE 30, 173 (195, 198). 90   BVerfGE 30, 173 (195, 198).

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wandt91, gewinnt dadurch allerdings nicht an Kunstadäquanz92. So liegt es bei einer Bezeichnung als „Abbild“ doch nahe, literarische Figuren als Reproduktion von Personen, Kunst damit als Kopie der Wirklichkeit zu begreifen. Eine derartige Deutung widerspricht allerdings dem seit Aristoteles geprägten Selbstverständnis von Kunst als Bearbeitung und Neuschöpfung von Wirklichkeit93.

b)  Verfehlter Einsatz von „Verselbständigung/Verfremdung“ Ähnlich verhält es sich mit dem hier vorgeschlagenen Ersatz der Termini von „Verselbständigung/Verfremdung“94 durch die Umschreibung als „Fiktionalisierung“ oder – unter Betonung eines entfremdenden Moments durch Kunst – „distanzschaffende Bearbeitung“. Verselbständigung beschreibt einen Prozeß, der einem inhaltlichen Gehalt durch das Streifen gesellschaftlicher Anliegen nach Erkenntniszuwachs Relevanz verschafft 95. Sie umschreibt den Gewinn an Wichtigkeit durch eine Bedeutungsaktualisierung in der Gesellschaft und steht nicht – wie in der Rechtsanwendung vermutet – in einem direkten Kontext von Erkennbarkeit und Fiktion. Der Plazierung von „Verfremdung“ in Gerichtsentscheidungen erscheint nicht weniger kontingent, hält man sich die begriffliche Festlegung der „Verfremdung“ im Rahmen von Brechts „V“-Effekten vor Augen96.

c)  Leichtfertiger Gebrauch von „Schmähung“ und „Schmähschrift“ Letztlich ist auch vom Gebrauch der Vokabeln „Schmähung“ und „Schmähschrift“ im Kontext von Kunstwerken dringend abzuraten97. Sie drängen nämlich den Gedanken an die in der Äußerungsfreiheit nach Art.  5 Abs.  1 GG domestizierte „Schmähkritik“ auf 98. Eine derartige Assoziation wirkt fehlleitend, da die Freiheiten aus Abs.  1 und Abs.  3 von Art.  5 GG doch deutlich zu 91   Zuletzt nur BVerfGE 119, 1 (28, 30); OLG Frankfurt a. M. ZUM 2009, 952 (955); KG Berlin ZUM-RD 2009, 181 (181); OLG Hamm ZUM 2010, 453 (455); LG Frankfurt a. M. ZUM 2009, 308 (310); LG Köln GRUR-RR 2009, 247 (250). 92   Zur frühen Kritik schon BVerfGE 30, 173 (204 ff.). 93   Vgl. I.2. 94  Hierzu nur KG Berlin ZUM-RD 2004, 466 (468); OLG Köln ZUM 2008, 335 (337 f.); LG Münster NJW-RR 2003, 692 (693 ff.); LG Essen ZUM-RD 2007, 92 (93); LG Hagen ZUM-RD 2007, 249 (251). 95   Bunia, Fingierte Kunst (Fn.  79), S.  173 f. 96   B. Brecht, Neue Techniken der Schauspielkunst, in: Suhrkamp Verlag/E. Hauptmann (Hrsg.), Bertolt Brecht, Bd.  7, 1967, S.  337 (341); vgl. J. Knopf, Brecht-Handbuch, 1996, S.  378 ff. 97   Etwas unsicher in der Abgrenzung von den Freiheiten aus Art.  5 Abs.  1 und 3 GG erscheinen beispielsweise BGHZ 149, 247 (258 ff.); OLG Dresden ZUM 2010, 597 (598 ff.); LG München I ZUM 2007, 936 (937); LG Köln ZUM 2011, 84 (85 ff.). – Feinsinnig-kritisch hingegen schon BVerfGE 119, 1 (59) – Sondervotum Hoffmann-Riem. 98   Unter Schmähkritik wird allgemein nicht eine künstlerische Bearbeitung, sondern eine Äußerung verstanden, die sich von einer Auseinandersetzung mit Sachargumenten derart entfernt hat, daß allein eine Herabsetzung der Person erfolgt. So nur BVerfGE 93, 266 (293 f.); KG Berlin ZUM-RD

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unterscheiden sind99. Da es sich bei „Esra“ nicht um eine sachliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen in einem journalistischen Format, sondern eine Verwandlung der Welt um Biller und Romey in eine originäre Kunstlandschaft um Adam und Esra handelt, wären persönlichkeitsrelevante Interaktionen von Roman und Realität treffender schlicht als „Bloßstellung“ oder „Herabsetzung“ zu bezeichnen100. Die notwendige Sensibilisierung im Einsatz literaturwissenschaftlicher Termini ist Ausfluß erforderlicher interdisziplinärer Zusammenarbeit.

3.  Realitätsgerechte Beurteilung: verständiger Durchschnittsleser Ex post ist also eine literarisch angemessene Auseinandersetzung mit persönlichkeitsrelevanter Literatur durch Fiktionsgutachten des Literaturwissenschaftlers und Begriffssensibilisierung des Richters möglich. Was aber geschieht in der alltäglichen Situation des Obstverzehrs, wenn der Konsument hastig in das Regal greift, einen Apfel der Fiktion faßt, der aber erstaunliche Ähnlichkeiten mit einer Birne der Realität hat, nicht eindeutig gekennzeichnet ist, mithin vom Käufer für eine Birne gehalten wird? Wie also wirken sich Verwechslungen, die sich ex ante ereigneten, aus, sind sie für die Persönlichkeitsrechtsverletzung maßgeblich? Wer beurteilt nach dem ersten Teil der Interaktion – dem Einfluß von Wirklichkeit auf Kunst – den zweiten, also den von Kunst auf Wirklichkeit? Sollte man als Maßstab die exklusive kleine Expertengruppe wählen, die in der Lage ist, trotz undeutlicher Etikettierung eine richtige Einordnung vorzunehmen, oder eher einen Käufer, der nahezu blind in das Obstregal greift?

a)  Romantisierung der Wirkung durch Maßstab „Idealleser“ Gegen die Orientierung an dem Idealleser, der alle im und um den Text angelegten Kennzeichen fachgerecht deutet, spricht allein ein Argument, dem allerdings durchschlagende Wirkung zukommt: Ein Idealleser wird in der breiten Masse des Rezipientenkreises ein nur randständiges Phänomen bleiben, seine Einschätzung steht nicht pars pro toto. Auch Biller hat seinen Roman nicht allein für einen elitären Kreis von Bildungsbürgern geschrieben, die ausgeprägtes Feingefühl und Kenntnis hinsichtlich künstlerischer Wirklichkeitsbearbeitung mitbringen. „Esra“ war vielmehr für die allgemeine Leserschaft frei zugänglich101. Wenn ein Autor also seine 2007, 341 (342 f.); G. Seyfarth, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf zivilrechtliche Ehrschutzklagen, in: NJW 1999, S.  1287 (1290). 99   Verbreitete Ansicht, siehe nur BGHZ 130, 196 (202 f.); 156, 206 (208 ff.); OLG Köln Af P 2009, 264 (266); A. Brauneck, Kritische Anmerkungen zur konventionellen gerichtlichen Prüfungsmethodik bei satirischen Darstellungen, in: ZUM 2004, S.  887 (893); I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  I, 2.  Aufl. 2004, Art.  5 III (Kunst), Rn.  50; C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd.  1, 6.  Aufl. 2010, Art.  5 Abs.  3 Rn.  311; M. Siegle, Das Spannungsverhältnis von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht, 2012, S.  68 ff. 100   In Betracht kämen auch „Verächtlichmachung“ oder „Verunglimpfung“. 101   So grundsätzlich auch BGE 135 III 145 (152); Schweizerisches Bundesgericht sic! 10 (2003), 792

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Arbeit an einen unbegrenzten Leserkreis adressiert, sollte eben dieser auch als Empfänger, als Beurteilungsinstanz, verstanden werden. Eine Beschränkung auf partikuläre Gruppen wäre realitätsfern und würde den Willen des Autors ignorieren.

b)  Herabsetzung der Kunst durch hemdsärmeligen Durchschnittsleser Andererseits würde eine ausschließliche Ausrichtung am Durchschnittsrezipienten – abgesehen von der Gefahr von finanzieller Untragbarkeit, Ruf beeinträchtigungen und widersprüchlichen Resultaten der Befragungen102 – nicht der insoweit unabdingbaren kunstspezifischen Betrachtung gerecht. Eine ausschließlich empirische Orientierung ist auch in anderen Rechtsgebieten, die sich auf Abstraktionen und normative Konstruktionen verlegen, weithin unbekannt103.

c)  Kompromiß: verständiger Durchschnittsleser Als Kompromiß der soeben vorgestellten Modelle bietet sich der verständige Durchschnittsleser an, der in sich deskriptive, empirische als auch normative, kunstadäquate Gesichtspunkte vereint. Entscheidend ist ins Bild gesetzt ein Konsument ohne Fachwissen bezüglich Obstsorten, der gleichwohl nicht willentlich Äpfel mit Birnen zusammenzählt, sondern einer adäquaten Einschätzung offen gegenübersteht. Bei der Beurteilung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen in literarischen Texten sollte also ein Leser maßgeblich sein, der ohne ausgewiesene literarische Vorkenntnisse die Neigungen von Klatsch und Sensationslust kennt, sich gleichwohl einer fachgerechten Textinterpretation nicht verschließt. Eingestandenermaßen ist diese Figur kein bahnbrechendes Novum, sondern ein vorläufiger Kompromiß. Daß es sich zudem um ein Konstrukt handelt, daß im Einzelfall dem Gericht einen erheblichen Deutungsspielraum beläßt, bleibt ebenso unvermeidbar.

V.  Interaktion eingeordnet: zum rechtlichen Umgang mit Fiktion Die Sequenz von literaturwissenschaftlichem (I.), gerichtlichem (II.) und rezipierendem Auge (III., IV.) ist nun Grundlage, auf der ein abschließender Vorschlag zur praktischen Prüfung von literarischen Texten hinsichtlich Persönlichkeitsrechtsverletzungen auf baut (V.)104: Ein gangbarer Untersuchungsweg des Richters, einen (794); K. Stüssel, Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel, in: U. Breuer/B. Sandberg (Hrsg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd.  1, 2006, S.  19 (32). 102   W. Reese-Schäfer, Literarische Rezeption, 1980, S.  78 ff.; Wittreck, Persönlichkeitsbild (Fn.  52), in: Af P 2009, S.  6 (11). 103   So beispielhaft die nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gebildete zivilrechtliche Figur des Erklärungsempfängers BGHZ 36, 33; 103, 280 (280 ff.); R. Singer/J. Benedict/R. Singer, in: J. v. Staudinger (Hrsg.), BGB, §  133 (2003, 2010), Rn.  4 4, 48. 104   Daß es sich hierbei allein um einen Versuch aufgrund der erarbeiteten Kenntnisse handelt, der seinerseits weiterer Verfeinerung bedarf, steht außer Frage.

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möglichst interessengerechten Ausgleich von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz vorzunehmen, soll am Beispiel des „Esra“-Falls illustriert werden.

1.  Worum geht es? Kunst oder Meinungskundgabe/Tatsachenbehauptung Um einen Text adäquat auf die Persönlichkeitsrelevanz abzutasten, wird der erkennende Richter den streitgegenständlichen Text dahingehend abklopfen, ob er sich als Kunstwerk im Sinne von Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG darstellt. Denn nur dann, wenn es sich um ein solches und nicht um eine Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung nach Art.  5 Abs.  1 GG handelt, kommt es auch in den durch den „Esra“-Beschluß gefestigten Schutz der Kunstfreiheit: Namentlich bedeuten einen Schutzgewinn die vorbehaltlose Gewährleistung, die Fiktionalitätsvermutungen und die kunst­adäquat angelegten Bereiche von Erkennbarkeit und spezifiziertem Ausgleich im Rahmen der „Je-desto“-Formel, nebst feiner Abstimmung von Fiktionsgraden und eng begrenzter Ausnahmegruppen von der Abwägung (Intimsphäre, Eltern-Kind-Beziehung)105. Zugleich entfallen hinsichtlich Tatsachenbehauptungen die relevanten Aspekte von Faktizitätsanspruch, allgemeinem Informationsbedürfnis, Gegenschlagsgrundsatz und öffentlichen Funktionen des Betroffenen. Wenn im Einzelfall die präzise Zuordnung zur Kunst- und Meinungsfreiheit auch Schwierigkeiten bereiten kann106, so stellt sich die Frage der Abgrenzung im Regelfall bei literarischen Werken wie „Esra“ als durchaus lösbar dar. So ging es Biller nicht um eine persönliche Bewertung seiner Exfreundin, das Buch war nicht durch das – eine Meinungsäußerung kennzeichnende107 – Merkmal der Subjektivität bestimmt. Wie die zusammengetragenen textuellen und paratextuellen Fiktionssignale veranschaulichen108, war es ersichtlich nicht Anliegen des Verfassers, Tatsachen aus seinem Leben mitzuteilen.

Woran erkennt man nun Kunst? Ein literarischer Text ist ein Kunstwerk109. Die Frage der Literarizität ist äußerst umstritten110 und bietet Anlaß, die Prüfung auf die Ebene des Selbstverständnisses von Literatur zu heben. Allerdings wäre damit nicht zwangsläufig ein erhöhter Schutz der Kunst verbunden, wenn ein Sachverständiger nach den Regeln seiner Disziplin Kunst von Nicht-Kunst – soweit seine Einschätzung überhaupt einen handhabbaren Konsens in der Fachdiskussion finden kann – scheidet. Ein Richten über Kunst ist weder Richter noch Künstler gestattet. Daher 105  Es ist allerdings einzuräumen, daß diese Ausnahmen am konkreten Fall im „Esra“-Beschluß konstituiert wurden. Es erscheint also nicht ausgeschlossen, daß weitere in ähnlichen Einzelfallerwägungen sich anschließen. 106   BVerfGE 30, 173 (200); 75, 369 (377 ff.); 81, 278 (289 f.); 81, 298 (305 f.); 82, 43 (52 ff.); 86, 1 (99); 102, 347 (369); BVerfG (Kammer), NJW 2001, 596 (596 f.); BVerfG (Kammer), NJW 2001, 598 (598 f.); C. Degenhart, in: R. Dolzer/W. Kahl/C. Waldhoff/K. Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art.  5 Abs.  1 und 2 (2006), Rn.  939. 107   BVerfGE 30, 336 (352); 93, 266 (289); 102, 347 (359); erörtert von H. Schulze-Fielitz, Grundgesetz (Fn.  99), Art.  5 I, II Rn.  62. 108  III.2.b. 109   BVerfGE 119, 1 (23, 27 f.). 110   Siehe nur statt vieler Searle, Status (Fn.  37), S.  22 f.; Köppe, Literatur (Fn.  59), S.  46 f.

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sollte eine weite Auslegung der Kunstfreiheit aus Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG ohne frühzeitige Schutzbereichsrestriktionen Basis für die Untersuchung sein. Der allgemein anerkannte offene Kunstbegriff111 könnte hier unter Korrektur durch den jüngeren relationalen Kunstbegriff112 Orientierung für die richterliche Einordnung bieten. Danach ist also alles als Kunst zu fassen, das sich in einem Kommunikationsprozeß auf bereits als Kunst anerkanntes bezieht, ob fortsetzend oder opponierend. Dieses Gerüst bietet in der richterlichen Entscheidungspraxis Orientierung, ohne das Kunstverständnis übermäßig zu determinieren.

2.  Wer wird dargestellt? Einfluß von Realität auf Roman (Interaktion I) Nach Einordnung als Kunstwerk im Sinne von Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG auf erster Stufe setzt das Gericht auf zweiter Stufe einen ersten Filter durch die Erkennbarkeitsprüfung in bezug auf den Persönlichkeitsschutz: Eine Persönlichkeitsrechtsverletzung von fiktiven Figuren ist naturgemäß ausgeschlossen, die einer realen Vorlage als Trägerin des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG hingegen greif bar. Ein Verstoß kommt dabei nur in Betracht, wenn die Realität derart Einfluß auf den Roman genommen hat, daß hinter der künstlerischen Zeichnung eine menschliche, nicht unerheblich beeinträchtigte (V.2.b) Vorlage in ihrem Bekanntenkreis sichtbar (V.2.a) bleibt (Interaktion I). Der Text ist auf die Erkennbarkeit im Bekanntenkreis zu durchleuchten, die sich aufdrängt und in Verbindung mit einer nicht gänzlich unerheblichen Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung steht113. Daraus ergeben sich die Kriterien für eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung zur Bejahung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung. Demgemäß ist auch der Einwand, von der reinen Erkennbarkeit nicht auf einen Grundrechtsverstoß zu schließen, etwas vorschnell114.

a)  Aufdrängen der Identifizierung im Bekanntenkreis Die Festlegung des Maßstabs ist – im Gegensatz zur Frage auf dem Gebiet der konkreten Persönlichkeitsrechtsverletzung115 – im Rahmen der Erkennbarkeit un BVerfGE 67, 213 (227). – Zu verschiedenen Rezeptionsweisen am Beispiel von „Esra“ K.-H. Ladeur, Nochmals: Der Fall „Esra“ und das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, in: Af P 2008, S.  30 (31). 112   Arnauld, Freiheit (Fn.  25), §  167 Rn.  28 ff. 113   BVerfGE 119, 1 (26). 114   So aber BVerfGE 119, 1 (39 f.) – Sondervotum Hohmann-Dennhardt, Gaier. 115   Hierzu IV.3.a-c. Könnte zunächst eine Differenzierung des Maßstabs verwundern, so erklärt sie sich durch die Egalisierungsfunktion der Meßlatte im Rahmen der Erkennbarkeit: Die Wahl des Bekanntenkreises – der „mehr oder minder“ große Umfang kann als redundant entfallen – verhindert deklaratorisch eine Privilegierung Prominenter, die durch ihren erhöhten Bekanntheitsgrad einen größeren Rezipientenkreis erreichen. Dies geschieht in klarer Abgrenzung zum „Mephisto“-Beschluß, der insoweit noch von dem Kriterium „ein nicht unbedeutender Leserkreis“ ausging, BVerfGE 75, 173 (198). Allein das Abstellen auf einen verständigen Durchschnittsleser wie im Bereich der konkreten Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung stellt eine unzumutbare Hürde für in der Öffentlichkeit weniger 111

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problematisch: Ist auch nicht eine paßgenaue Schablone für die Gestaltung der Kunstfigur zu fordern, so sollte die Erkennbarkeit doch deutlicher als nur „möglich“ sein116. Die Identifizierung muß sich anbieten, aufnötigen, naheliegen, sich empfehlen, sich geradezu hartnäckig aufdrängen. Diese Hartnäckigkeit kann in qualitativer und/oder quantitativer Hinsicht erfolgen: Qualitativ erbieten besonders augenfällige, weithin bekannte Vorkommnisse oder ausnehmend renommierte Personen eine Wiedererkennbarkeit an. So sind im Fall des Romans „Esra“ die Auszeichnungen mit dem Bundesfilmpreis und Alternativen Nobelpreis Ereignisse, die den Lesern häufig aufgrund des verbreiteten Unterhaltungsinteresses geläufig sein werden117. Stellt man gerade auf den Bekanntenkreis der beiden Klägerinnen ab, so werden derartige Preisverleihungen – seltene Ehrungen sowohl von Mutter als auch Tochter – das soziale Umfeld der Frauen umgehend an die beiden Klägerinnen erinnern.

Von quantitativer Seite drängt eine auffallende Anhäufung von übereinstimmenden, wenn auch gewöhnlichen Kennzeichen die Erkennbarkeit der literarischen Vorlagen auf. Durchgreifendes Argument ist hier also die hohe Dichte von gleichgelagerten Umständen118. In Betracht kommen beispielsweise personenbezogene Angaben wie Alter, Wohnort, Beruf, Freizeitaktivitäten, Nationalität, Geschlecht, Familienstand, Religionszugehörigkeit oder die Darlegung des sozialen Umfelds in bezug auf verwandtschaftliche, soziale und freundschaftliche Beziehungen. In Billers Roman stehen die Klägerinnen auch in einem vergleichbaren Beziehungsgeflecht wie Esra und Lale: Die Nationalität und Anzahl der Partner und Kinder gleichen sich. Esra hat wie ihr Vorbild ihren späteren Partner auf der eigenen Hochzeit, namentlich als Trauzeugen ihres Ehemannes, kennengelernt119. Beide arbeiten als Schauspielerin und Illu­ stratorin. Lale und ihre reale Vorlage engagieren sich für den Umweltschutz in der Türkei gegen Goldabbau120. Adam hat wie der Autor eine Tochter, die mit ihrer Mutter in Hamburg wohnt121.

b) Bagatellvorbehalt Zweite Voraussetzung zur Bejahung der Betroffenheit einer Person ist, daß diese mehr als nur vollständig unerheblich beeinträchtigt ist. Es sollte ausgeschlossen sein, präsente Personen auf. Genau genommen handelt es sich also auch im Anschluß um das Konstrukt des verständigen Durchschnittslesers – aus dem Bekanntenkreis des Betroffenen. 116   BVerfGE 119, 1 (24 ff.). – Damit in Abgrenzung zu presserechtlichen Erkennbarkeitsvoraussetzungen BGHZ 13, 334 (339); S. Seelmann-Eggebert, Die Entwicklung des Presse- und Äußerungsrechts in den Jahren 2005 bis 2007, in: NJW 2008, S.  2551 (2552); J. Soehring, Presserecht, 4.  Aufl. 2010, S.  301. 117   Vgl. BVerfGE 119, 1 (26); Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9 ff., 50, 131. 118   BVerfGE 119, 1 (26): „Das setzt regelmäßig eine hohe Kumulation von Identifizierungsmerkmalen voraus.“ 119   Vgl. BVerfGE 119, 1 (3 f., 26, 34 f.); vgl. LG München I ZUM 2004, 234 (234, 237); vgl. Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  31 ff., 49 ff., 124 ff., 131 ff., 140 ff. 120   Vgl. BVerfGE 119, 1 (4, 26, 31 f.); vgl. LG München I ZUM 2004, 234 (234, 237); vgl. Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9 ff., 24 ff., 71 ff., 83 f. 121   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  111 f.

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daß die Belastung sich derart geringfügig ausgestaltet, daß der Persönlichkeitsschutz im voraus hinter die Kunstfreiheit zurücktritt122. Im Fall „Esra“ stellte dieser Bagatellvorbehalt zweifellos keinen Hinderungsgrund dar. Anders wäre zu entscheiden, wenn sie beispielsweise nur punktuell bei einem Gang über den Zebrastreifen oder als wartende Einkäuferinnen in einer Supermarktschlange – am Rande der eigentlichen Handlung gleichsam als Statisten – dargestellt würden.

3.  Wer wird beeinträchtigt? Rückfluß von Roman auf Realität (Interaktion II) In einem dritten Prüfungsschritt ist der Rückfluß von Roman auf Realität, von Literatur auf Wirklichkeit, der Ausgleich von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz zu untersuchen (Interaktion II). Hinsichtlich des durch Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG garantierten Schutzes ist zum einen die Bearbeitung der Kunst anhand der Fiktionalisierung zu konkretisieren (V.3.a, b). Zum anderen sollte der Persönlichkeitsschutz nach Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG entlang der Sphärenlehre präzisiert werden (V.3.c). Der Ausgleich der beiden Grundrechte erfolgt wie gewohnt im Wege der praktischen Konkordanz, nunmehr spezifiziert durch die „Je-desto“-Formel (V.3.d).

a)  Erste Fiktionalitätsvermutung: Fiktion als Texteigenschaft Bei einem literarischen Text streitet eine Vermutung für die Fiktionalität. Genau genommen liegen nach Ansicht der Verfasserin zwei Vermutungen vor, die aufeinander auf bauen: Es wird erstens vermutet, daß ein literarischer Text auch ein fiktionaler ist. Zweitens folgt die Annahme, daß ein fiktionaler Text von dem Rezipienten auch als derartiger erkannt wird. Es handelt sich bei der ersten wie bei der zweiten Vermutung um eine widerlegbare: Die erste sollte nach hier vertretener Auffassung anhand eines vom Gericht einzuholenden Fiktionsgutachtens durch einen Literaturwissenschaftler untersucht werden. Kommt dieser zu dem Ergebnis, daß der vorliegende Text nicht vertretbar als fiktional qualifiziert werden kann, so wird die Prüfung ohne den durch die Fiktionalitätsvermutungen erhöhten Schutz – Fiktion stellt einen kompensierenden Faktor zur Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung im Rahmen der „Je-desto“-Formel dar – fortgesetzt. Bei „Esra“ handelt es sich aufgrund des Überwiegens der Fiktionskennzeichen um einen fiktionalen Text123.

Sollte bereits die erste Fiktionalitätsvermutung widerlegt sein, es sich also um einen nicht-fiktionalen Text handeln, so wird ein solcher auch als faktual rezipiert und muß sich die Grundsätze des Art.  5 Abs.  1 GG entgegenhalten lassen124.   BVerfGE 119, 1 (26).   III.2.b, c. 124   Es bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung, daß es sich auch im Fall eines nicht-fiktionalen Textes gleichwohl um Literatur im disziplineigenen und damit – das literarische Selbstverständnis als Auslegungshilfe, nicht als Automatismus gedacht – Kunst im rechtlichen Sinne handeln kann. Denn die 122

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b)  Zweite Fiktionalitätsvermutung: Fiktion in den Augen des Rezipienten In der akzessorischen zweiten Fiktionalitätsvermutung liegt nun der gordische Knoten in bezug auf eine mögliche und für diese Untersuchung virulente Persönlichkeitsrechtsverletzung: Das Gericht kann grundsätzlich davon ausgehen, daß ein fiktionaler Text auch als solcher verstanden wird. Ein Verstoß gegen Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG ereignet sich – wenn überhaupt – allein in den Augen des Betrachters, zur Verallgemeinerung gemessen am Maßstab des verständigen Durchschnittsrezipienten. Bei einem – im Zweifelsfall nach Beratung durch einen Philologen – als fiktional betrachteten Text liegt eine adäquate Rezeption zunächst nahe125. Wenn der fiktionale Text als fiktional gelesen wird, ist der Rückfluß von Roman auf Realität, der zweite Teil der Interaktion, in bezug auf den Persönlichkeitsschutz zu untersuchen. Allerdings erscheint es ebenso einsichtig, daß sich literarische Texte dann vermehrt ihrer – fraglos und mit Recht intendierten – Wirkung als realitätsnah, mithin abbildend stellen dürfen. Nur so kann die Interaktion von Literatur und Wirklichkeit hinreichend ernst genommen werden. Im Fall des autofiktionalen Romans „Esra“ ist nicht davon auszugehen, daß der verständige Durchschnittsleser aufgrund der – für Mischformen wie der Autofiktion typischen – gemischten Signale den fiktionalen Text als solchen rezipiert.

c)  Sphärenlehre zur Stufung der Eingriffsintensität Die Sphärenlehre mit ihrer Einteilung in die Intensitätsbereiche von Intim-, Privat- und Sozialsphäre dient nicht als Korsett der Beeinträchtigungseinteilung, sondern als Orientierungshilfe zur Umschreibung der Beeinträchtigungsintensität in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG der realen Vorlage126. Diese Unterscheidung findet in der Rechtspraxis Ausdruck, wenn beispielsweise deutlich die hohe Persönlichkeitsrechtsrelevanz der Klägerin, nicht aber die gefährdete Intimsphäre einer Romanfigur wie Esra in den Entscheidungsgründen thematisiert wird. Die Sphärenlehre betrifft allein die reale Person, die durch die Darstellung einer fiktiven Figur in einer persönlichkeitsintensiven Sphäre beeinträchtigt ist.

Bereiche von Literarizität und Fiktionalität weisen zwar deutliche Schnittmengen auf, sind aber – nach hier vertretener Ansicht – keineswegs im Sinne einer Zwangsläufigkeit deckungsgleich; vgl. Bunia, Faltungen (Fn.  37), S.  24; v. Laak, Fiktionalität (Fn.  37), S.  240; Searle, Status (Fn.  37), S.  21 f. Die Aktivierung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit ist von der Einordnung des Textes als Fiktion unabhängig. 125   Diese Einschätzung steht in Einklang mit der Rechtsprechung nach BVerfGE 30, 173 (190 ff.); 119, 1 (28 f.). 126   Gegen jeden Schematismus im „Esra“-Fall verwehrt sich BVerfGE 119, 1 (29 f.); so auf allgemeiner Ebene auch H. Dreier, Grundgesetz (Fn.  99), Art.  2 I Rn.  88. – Zuversichtlicher hinsichtlich des strukturierenden Werts der Sphäreneinteilung H. Lang, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2009, Art.  2 Rn.  34 f.

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d)  Ausgleich von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz nach „Je-desto“-Formel Gemäß der in dem „Esra“-Beschluß angewandten „Je-desto“-Formel läßt sich die Fiktionalisierung eines Textes und das Ausmaß der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung als ein Abhängigkeitsverhältnis beschreiben127. Die Formulierungen können letztlich auf den Kern reduziert werden, daß ein „Weniger“ an Fiktion ein „Mehr“ an Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung mitverursacht128. „Mit“-verursacht, da die Fiktion ein (ausgleichender) Parameter, allerdings einer unter weiteren Faktoren ist. Die Fiktion geht also als ein Element in die Summe der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung ein.

e)  Ausnahmen von der Abwägung nach der „Je-desto“-Formel Den „Esra“-Fall nahm der Erste Senat zum Anlaß, zwei Ausnahmegruppen von dem entlang der „Je-desto“-Formel spezifizierten Abwägungsprozeß zu benennen, namentlich Darstellungen von erkennbaren Personen in als faktual rezipierten Texten in den besonders persönlichkeitssensiblen Bereichen von Intimsphäre und Eltern-Kind-Verhältnis, ohne daß diese Aufzählung abschließend sein muß. Vielmehr deuten diese für den streitgegenständlichen Roman maßgeblichen Gebiete auf eine Orientierung an der genannten, altbekannten Sphärenlehre im Bereich des Persönlichkeitsschutzes hin129. Demgemäß kann auch im Fall von fiktionalen Texten, die als faktual gelesen werden, die gleiche Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung in den Augen des zur Differenzierung von Realität und Roman angehaltenen, darum bemühten, hierbei aber durchaus überforderten Durchschnittslesers geschehen. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Bereichen also nicht – wie in der Kritik vermutet130 – um Ausnahmen von der Fiktionalitätsvermutung, sondern vom Abwägungsvorgang von Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG und Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG und damit um Anwendung gängiger Praxis im Bereich des sphärengestuften Persönlichkeitsschutzes. Das Publikationsverbot wurde in bezug auf die Expartnerin des Autors, die sich in „Esra“ wiedererkannt hatte, auch durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die dargestellten und nach Ansicht der Senatsmehrheit als faktual rezipierten Sexszenen der Klägerin sowie ihr Verhältnis zu ihrer erkrankten Tochter bedingten einen uneingeschränkten Schutz der Frau. Hinsichtlich ihrer Mutter, die allein äußerst negativ vorgestellt wurde („[.  .  .] diese herrische, ehrgeizige Frau“131; „[.  .  .] war es doch so gewesen, daß die dickköpfige, rücksichtslose Lale   BVerfGE 119, 1 (29).   Der zweite Teil der „Je-desto“-Formel wird an dieser Stelle nicht weiter thematisiert, da der Gehalt eher tautologischer Natur ist: Ein „Mehr“ an Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung erfordere ein „Mehr“ an Fiktionalisierung. Diese Forderung ergibt sich unmittelbar aus der im ersten Teil umschriebenen Relation. 129   Instruktiv zur Sphärenlehre nur H. Kube, Persönlichkeitsrecht, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  VII, Freiheitsrechte, 3.  Aufl. 2009, §  148 Rn.  86 ff.; Lang, Grundgesetz (Fn.  126), Art.  2 Rn.  35 ff. 130   BVerfGE 119, 1 (50 ff.) – Sondervotum Hoffmann-Riem. 131   Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  9. 127

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sich etwas genommen hatte, was ihr nicht gehörte, [.  .  .]“132 ), erkannten die Richter keinen besonders schützenswerten Ausnahmefall von der Abwägung mit der Kunstfreiheit des Verlags. Mit anderen Worten: Persönlichkeitsschutz wird mit Kunstfreiheit abgestimmt. Die Wertungen richten sich dabei nach der Sphärenlehre, die bei faktual rezipierten Texten zur Orientierung dienen kann. Es ist möglich, daß – in engen Grenzen – weitere Ausnahmegruppen neben den beiden genannten ergänzt werden: So erscheint beispielsweise die Zulässigkeit von Figurendarstellungen zweifelhaft, die in Form eines dauerhaft rückfälligen Mörders das Resozialisierungsrecht ihrer realen Vorlage gefährden oder aufgrund der Erkenntnisse aus Patientenakten auf eine Aids-Erkrankung schließen lassen133. Durch diese Regelungen wird der Kunst nicht ihre Freiheit entzogen: Weder wird der Einfluß der Realität auf den Roman beschnitten, der überhaupt erst das Wesen von Kunst konstituierend prägt (erster Teil der Interaktion); noch wird der Bearbeitungsprozeß der Wirklichkeit durch Literatur beeinträchtigt. Allein der Rückfluß des Romans auf die Realität wird näher beleuchtet (zweiter Teil der Interaktion): In Achtung des erwünschten Effekts von Literatur auf Realität wird erstere an den Maßstäben des Erscheinens in letzterer beurteilt. Das scheinbare Zwängen der Kunst in das Korsett der Realität ist tatsächlich Zeichen, Kunst aufrichtig zu respektieren, da man ihre Wirkungen in den sozialen Realien und darauf auf bauend ihre überragende Bedeutung und Schutzwürdigkeit im Sinne von Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG ernst nimmt.

4.  Quo vadis Wechselwirkung: Wie ist das Interaktionsspiel zu entscheiden? Abschließend sollen allein Musterbeispiele, keine Patentrezepte, vorgestellt werden, die zur Orientierung im rechtspraktischen Umgang dienen. Notwendiges Kriterium ist die erörterte Erkennbarkeit der mehr als nur völlig unerheblich betroffenen Person. Im konkreten Fall sei es die in der Kleinstadt identifizierbare Frau H aufgrund einer Fülle von biographischen Übereinstimmungen, von denen einzelne wie illustrativ die Ermordung ihres Ehemannes bei einem Tankstellenüberfall durch die überregionale Presse bekannt sind. Folgende Varianten sind denkbar: (1) Frau H sieht sich in einer Märchenwelt als sprechendes Pferd dargestellt. Angesichts der eindeutigen Fiktionalität des Textes ist jede Persönlichkeitsrechtsverletzung – auch im Fall eines kopulierenden Pferdes – ausgeschlossen. (2) Frau H erkennt ihr alter ego in einer Erzählung wieder, die aufgrund zahlreicher Wiedererkennungseffekte erinnernd an die Wirklichkeit und einer realitätsnahen Ich-Erzählung der Frau H vom verständigen Durchschnittsleser als faktual rezipiert werden. Sie wird als unsympathische Intrigantin dargestellt, die weitgehend mit sich selbst und dem Gängeln ihres sozialen Umfelds beschäftigt ist. Da der faktual gelesene Text den Persönlichkeitsschutz nach Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG beeinträchtigen kann, ist entlang der „Je-desto“-Formel mit der Kunstfreiheit aus Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG abzuwägen. (3) Frau H glaubt sich wiederum in einer Geschichte zu erkennen, die wie in Fall (2) vom verständigen Durchschnittspublikum als nicht-fiktional verstanden wird; allein dieses Mal wird die Frau H nachempfundene Kunstfigur in ihrem Sexualverhalten während mehrerer Affären dargestellt. Hier ist eine der im „Esra“-Beschluß benannten Ausnahmegruppen ein-

  Biller, Esra (Fn.  8 ), S.  72.   Zur Schutzwürdigkeit aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes H. D. Jarass/B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 11.  Aufl. 2011, Art.  2 Rn.  63 ff., 69. 132 133

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schlägig, der Weg zur Abwägung damit verschlossen, der Roman darf nicht (weiter) in dieser Form erscheinen.

Wirkt diese Anreihung der drei Fälle auch etwas hemdsärmelig, so entkräftet sich der Eindruck von voreiligem Pragmatismus, wenn man die notwendigen gedanklichen Zwischenschritte von Erkennbarkeit, doppelter Fiktionalitätsvermutung, Fiktionsgraden, Fiktionsgutachten, Empfinden des verständigen Durchschnittsbetrachters vor dem Hintergrund von Fiktions- und Faktizitätssignalen sowie der diesbezüglichen Einschätzung des Gerichts entlang der „Je-desto“-Formel und der Sphärenlehre nebst Ausnahmebereichen bedenkt. Die Wechselwirkung von Literatur und Realität führt also zu äußerst unterschiedlichen Schlußfolgerungen im Ausgleich von Art.  5 Abs.  3 S.  1 1. Alt. GG und Art.  2 Abs.  1 i. V. m. Art.  1 Abs.  1 GG. Entlang der „Esra“-Grundsätze kann die – erwünschte – unbegrenzt vielfältige Interaktion von Roman und Realität in ebenso – erwünschter – rechtlicher Praxis begleitet werden – für alle noch folgenden „Esras“ und „Lales“.

Das Kruzifix in den europäischen Klassenzimmern Ein kontextueller Ansatz zur staatlichen Neutralitätspflicht von

Leonardo Álvarez Álvarez1, Universität Oviedo In seinem Lautsi-Urteil vom 3. November 20092 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sich im Wesentlichen der Meinung angeschlossen, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits in dessen sog. Kruzifix-Beschluss vom 16. Mai 1995 geäußert hatte.3 Beide Gerichte kamen zu dem Ergebnis, dass das Aufhängen eines Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen ein Ausdruck der christlichen Religion ist und als solcher der staatlichen Neutralitätspflicht und dem Grundsatz des Pluralismus im Erziehungswesen widerspricht.4 Die damals von den Bundesverfassungsrichtern Seidl, Söllner und Haas verfasste abweichende Meinung regte jedoch eine wichtige und bis heute andauernde Debatte in der rechtswissenschaftlichen Literatur über die Frage an, ob und inwieweit man das „Phänomen Kruzifix“ eher als Ausdruck der christlich-abendländischen Kultur begreifen sollte. Nach ihrer Auffassung ist das Auf hängen eines Kruzifixes unter dem Blickwinkel der kulturellen Tradition gerechtfertigt und stellt deshalb auch keine Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht dar.5 Die in diesem Sondervotum entfaltete Argumen1   Professor an der Universität Oviedo. Dieser Beitrag wurde mit Hilfe eines Forschungsstipendiums der Max-Planck-Gesellschaft zum Thema „Rechtliche Dilemmata der Erziehung in einem multikulturellen Europa“ im Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Heidelberg) erarbeitet. Für Hinweise und Kritik bedanke ich mich bei Armin von Bogdandy, András Jakab, Holger Hestermayer und Sina van den Bogaert. Aus dem Spanischen übersetzt von András Jakab und Valentin Pfisterer. 2   EGMR, Urteil vom 3. November 2009, Beschw. Nr.  30814 / 06 – Lautsi. 3   BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995, BVerfGE 93,1 (= EuGRZ 1995, 359 ff.) – Kruzifix. 4   Das schweizerische Bundesgericht war bereits in seinem Urteil vom 26. September 1990 zum selben Resultat gelangt. Danach widerspricht das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen der staatlichen Neutralitätspflicht in der Erziehung, vgl. BG, Urteil vom 26. September 1990, BGE 116 Ia 252 (= EuGRZ 1991, 89 ff.) – Kruzifix. 5   Siehe für kritische Stimmen zum Kruzifix-Beschluss des BVerfG Joseph Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, ZRP 12 (1996), S.  10–15; Ernst Benda, Das Kruzifix-Urteil ist zu apodiktisch, ZRP 11 (1995), 427; Walter Czermak, Der Kruzifix-Beschluss der Bundesverfassungsgerichts, seine Ursachen und seine Bedeutung, NJW 51 (1995), 3348; Martin Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum, DVBl. 9 (1996), 453; Walter Gut, Kreuz und Kruzifix in öffentlichen Raumen (1997). Für po-

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tation scheint fünfzehn Jahre, nachdem sie so prominent vorgetragen wurde, nichts von ihrer Aktualität und Bedeutung – und zwar für ganz Europa – verloren zu haben: Denn in seinem jüngsten Lautsi-Urteil vom 18. März 20116 hob der EGMR (Große Kammer) seine frühere Entscheidung in der Rechtssache auf. Er argumentierte darin, dass das Kruzifix die Werte und Prinzipien symbolisiere, auf denen die Demokratie und die westliche Kultur gegründet seien.7 Folglich könne das Auf hängen eines Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen keine Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht im Erziehungswesen darstellen. Die Entscheidung des EGMR erging nur neun Tage nach einer ähnlichen Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH), in der dieser in Bezug auf das Kruzifix in den Räumen staatlicher Kindergärten zu demselben Resultat gelangte.8 Diese Rechtsprechungsentwicklung auf europäischer Ebene fördert eine der Grundfragen im Zusammenhang mit dem eigentlichen rechtlichen Inhalt der staatlichen Neutralitätspflicht im Erziehungswesen zutage: Soll das staatliche Erziehungswesen den Multikulturalismus, also das (pluralistische) Nebeneinander von Überzeugungen, Religionen und Kulturen, fördern? Oder soll es die Werte fördern, die der christlich-abendländischen Kultur zugrunde liegen? 9 Diese (verfassungs-)rechtliche Spannungslage ist heutzutage insofern von besonderer Bedeutung, als sie zur Frage überleitet, was eigentlich die europäischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zusammenhält. Der soziale Zusammenhalt wird heute in erster Linie – und nachhaltig – durch die Schulen und die den neuen Generationen dort weitergegeben die Werte und Prinzipien garantiert. Dies erklärt das allgemeine Interesse und auch das Interesse des vorliegenden Beitrages an dieser Frage und der damit verbundenen (verfassungs-)rechtlichen Spannungslage. Im Folgenden sollen deshalb drei Kernfragen erörtert werden: (1) Warum wird vom staatlichen Erziehungswesen eines demokratischen Gemeinwesens überhaupt Neutralität erwartet? (2) Welche verschiedenen Neutralitätsmodelle gibt es? Und bildet eines von ihnen die (rechts-) theoretische und -philosophische Grundlage der jüngsten Kruzifix-Entscheidungen in Europa? (3) Welches Neutralitätsmodell sollte im Europa des 21. Jahrhunderts die Antwort auf die Kruzifix-Frage bestimmen? In sitive Stimmen siehe Peter Badura, Das Kreuz im Schulzimmer. Inhalt und rechtliche Tragweite des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 16.5.1995, BayVBl. 33 (1996), 17. 6   EGMR (Große Kammer), Urteil vom 18. März 2011, Beschw. Nr.  30814 / 06 – Lautsi II. 7   EGMR (Fn.  6 ) – Lautsi II, Rdnr. 67 ff. 8   Vgl. VfGH, Erkenntnis vom 9. März 2011, Beschw. Nr.  G 287 / 09-25 (= Österreichisches Archiv für Recht und Religion 57 (2010), 472 ff.) – Kruzifix im Kindergarten. Darin stellte der VfGH Folgendes klar: „Das Kreuz ist ohne Zweifel zu einem Symbol der abendländischen Geistesgeschichte geworden“ (Rdnr. 66). Für Stimmen aus der österreichischen Literatur, die das Auf hängen des Kruzifixes in Klassenzimmern auch schon früher für rechtens hielten siehe Theo Mayer-Maly, Die Kreuze in den österreichischen Schulklassen“, in: Buhardt Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag (1997), S.  1489–1492; Christoph Grabenwarter, „Artikel 9 EMRK“ in: Karl Korinek / Alexander Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar (Loseblattausgabe, Stand 2003), Rn.  22. 9   Zum aktuellen Dilemma im Zusammenhang mit dem Auf hängen des Kruzifixes in der Schule siehe Christian Walter, Religiose Symbole in der öffentlichen Schule – Bemerkungen zum Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Lautsi, EuGRZ 22–23 (2011), 673 ff. (674 f.).

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anderen Worten: Sollten wir eher den Multikulturalismus fördern oder eher die traditionellen Werte des westlichen Kulturkreises pflegen?

1.  Neutralität als Charakteristikum der Erziehung in einem demokratischen Gemeinwesen a)  Erziehung als sozialer Kommunikationsprozess. Der Unterschied zwischen Erziehung und Unterricht Soziale Subsysteme garantieren ihre jeweilige Existenz durch Erziehung. Im religiösen, im moralischen und im politischen sowie im rechtlichen Subsystem lassen sich mehr oder weniger organisierte soziale Kommunikationsprozesse identifizieren, die darauf abzielen, die neuen Mitglieder der Gesellschaft auf die jeweils maßgebenden Werten und Prinzipien hin zu erziehen.10 Wohlbekannt ist die religiöse Pflicht der Eltern, ihre Kinder auf das Wort Gottes zu unterrichten – ein Erziehungsmodell, das in Europa vom Mittelalter11 bis zum Zeitalter der konstitutionellen Monarchien (18. und 19. Jahrhundert) prägend war.12 Ähnlich lässt sich im politischen Subsystem an den mittelalterlichen Fürstenspiegeln (mirrors for princes) oder den arcana imperii des 16. und 17. Jahrhunderts ablesen, wie künftige Fürsten mittels sozialer Kommunikationsprozesse auf die Werte und Prinzipien des guten Regierens verpflichtet werden sollten.13 Die Erziehung als sozialer Kommunikationsprozess, in dessen Rahmen Werte und Prinzipien als Verhaltensmaßstäbe und -regeln vermittelt werden, ist das Resultat eines lange währenden historischen Differenzierungsprozesses. In dessen Verlauf hat sich die Erziehung von anderen Kommunikationsprozessen (wie z. B. dem techné im antiken Griechenland) abgesetzt, in deren Mittelpunkt die schlichte Vermittlung von Kenntnissen stehen.14 Für diese Letzteren steht das paradigmatisch, was heute mit dem Begriff Unterricht bezeichnet wird. Der Unterschied zwischen Unterricht und Erziehung, der trotz ihrer Ähnlichkeit als Kommunikationsprozesse zur Vermittlung 10  Diese Funktion wurde auch schon in der Antike erkannt und bewusst ausgeübt, siehe Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd.  I, 3.  Aufl. (1954), S.  1 ff. 11   Die Erziehung zur „Verehrung Gottes“, zur „Treue zum Gott“ und zur „Liebe um den Nächsten“ waren die wichtigsten Werte, welche die Erziehungsinstitutionen der Katholischen Kirche im Mittelalter propagierten, siehe Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  I. Reform und Restauration (1960), S.  263 f. 12   Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts konnte der Staat aufgrund der voranschreitenden Zentralisierung der Hoheitsgewalt die Werte und Prinzipien der lokalen Erziehung bestimmen und verband diese konsequent mit religiösen Werten. So sah die Preußische Schulordnung von 1801 in ihrem Artikel 8 beispielsweise die Pflicht zur Erziehung im „Geiste des Christentums“ vor. Im Rahmen einer noch weiter voranschreitenden Zentralisierung wurden diese religiösen Werte später wiederum durch staatliche Werte ersetzt, siehe Rudolf Gneist, Die confessionelle Schule (1869), 6 ff.; Ernst Rudolf Bierling, Die konfessionelle Schule in Preußen (1885), S.  70 f. 13  Siehe Michael Stolleis, Arcana imperii und ratio status. Bemerkung zur politischer Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, 1980, S.  12; ders., Geschichte des öffentliches Rechts in Deutschland, Bd.  I (1988), S.  201 f. Siehe ferner Roman Schnur, Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs (1975), S.  74, 84. 14  Vgl. Jäger (Fn.  10), S.  1 ff.

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von Werten und Prinzipien bzw. von Wissen durchaus existiert, wird auf europäischer Ebene ausdrücklich in Artikel 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EuGrCh) und Artikel 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte (ZP I zur EMRK) anerkannt15 – aber auch in einigen Verfassungen europäischer Staaten wie etwa in Artikel 33 der italienischen Verfassung von 1947 oder in Artikel 27 Absatz 1 der spanischen Verfassung von 1978.16 Wie noch zu zeigen sein wird, sollte das Problem des Kruzifixes in den Klassenzimmern mit Rücksicht auf den Unterschied zwischen Unterricht und Erziehung begriffen werden, da mit beiden Kommunikationsprozessen jeweils unterschiedliche Neutralitätsbegriffe verbunden sind.17

b)  Erziehung und Formung des Willens als Prämissen des Erziehungsdilemmas: Die Neutralität des demokratischen Staates Das oben aufgezeigte Erziehungsdilemma lässt sich nur im Zusammenhang mit der Vorfrage adäquat begreifen, wieso die verschiedenen sozialen Subsysteme – darunter das rechtliche – Erziehung überhaupt regulieren. Wie schon Aristoteles sagte, ist Erziehung der effektivste Mechanismus, mit Hilfe dessen sich die Gesellschaft selbst erhalten kann.18 Dies ist eine Folge der hier sog. „willensformenden Funktion“ (noch anschaulicher: willensprogrammierenden Funktion) der Erziehung.19 Danach soll durch die Formung der Persönlichkeit des zu Erziehenden dessen psychische Konstitution begründet und stabilisiert werden – und zwar mit Hilfe von Werten und Prinzipien, die ihrerseits den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern.20 Die Regulierung der Erziehung drückt also die Erwartung der Gesellschaft aus, dass sich der zu Erziehende in Zukunft freiwillig gemäß den vermittelten Werten und Prinzipien 15   Zu diesem Unterschied in der EuGrCh, siehe Hans D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäische Unión (2010), S.  148 f.; Norbert Bernsdorf, Artikel 14. Recht auf Bildung in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3.  Aufl. (2011), S.  276. Zum entsprechenden Unterschied in der EMRK, siehe Luzius Wildhaber, Artikel 2 in: Wolfram Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Bd.  2 (Loseblattausgabe, Stand 1995), S.  9. Dieser Unterschied wurde auch in der Rechtsprechung thematisiert, vgl. EGMR, Urteil vom 25. Februar 1982, Beschw. Nr.  7511 / 76 – Campbell and Cosans v. UK, Ziff. 50. 16   Siehe zu diesem Unterschied in der italienischen Verfassungsrechtsprechung das Urteil 297 / 1994, entsprechend in der spanischen Verfassungsrechtsprechung das Urteil STC 5 / 1981 und STC 297 / 1994. 17   Zur Debatte in der Literatur über das Verhältnis zwischen den zwei Begriffen John Rawls, Political liberalism, 2.  Aufl. (2005), S.  198–200; Amy Gutmann, Unity and Diversity in Democratic Multicultural Education: Creative and Destructive tensions in: James A. Banks (Hrsg.), Diversity and Citizenship Education (2004), S.  82. Siehe ferner den hervorragenden Beitrag zum Thema des Kruzifixes anhand des Unterschiedes zwischen Erziehung und Unterricht Winfred Brugger / Stephan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates (1998). Aus der italienischen Literatur zu dieser Frage schließlich Roberto Bin ea, La laicità crocifissa. Il nodo costituzionale del simboli religiosi nei luoghi pubblici (2004). 18   Aristoteles, Politik, Ziff. 1307a. 19  Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik in: ders., Werke VI (1964), S.  697–700; Fritz März, Personengeschichte der Pädagogik. Ideen, Initiativen-Illusionen, 3.  Aufl. (2003), S.  28. 20  Vgl. Wolfgang Brezinka, „Was sind Erziehungsziele?“, Zf P 72 (1971), 497 (497 ff.); Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002), S.  51–52; Peter Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat (1981), S.  13.

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verhalten und diese nicht verletzen wird.21 Deshalb kann man die Erziehung – neben ihrer Willensformungsfunktion – auch als einen der effektivsten (präventiven) gesellschaftlichen Ordnungsmechanismen ansehen.22 Dass religiöse Symbole über das Potenzial der Willensformung verfügen, hat der EGMR in seiner Rechtsprechung anerkannt. So hat er das muslimische Kopftuch einer Lehrerin als ein „mächtiges äußeres Symbol“ (powerful external symbol) bezeichnet, welches das Verhalten der Schüler zu beeinflussen und zu bestimmen vermöge.23 Denselben Begriff verwandte der EGMR im ersten Lautsi-Urteil auch im Hinblick auf das Kruzifix,24 da es den Willen der Schüler beeinflussen könne. Das Erziehungsdilemma, das in der wechselhaften Rechtsprechung des EGMR im Zusammenhang mit der Rolle des Kruzifixes zum Ausdruck kommt (in anderen Worten die Frage, ob man im Geiste des Multikulturalismus oder nach Maßgabe der christlich-abendländischen Kultur erziehen sollte), tritt in einem ganz besonderen – und nicht wiederholbaren – Augenblick im Leben eines Individuums auf: Nämlich in dem Moment, in dem dessen Persönlichkeit geformt wird. Hier muss man sich entscheiden, wie dessen Wille sich entwickeln soll, das heißt in anderen Worten: welche Art Bürger der Staat „bilden“ soll. Die falsche Auflösung dieser Spannungslage kann später in einem nicht mehr zu korrigierenden Fehler resultieren. Die Spannungslage tritt auch in anderen Zusammenhängen zutage, wenngleich weniger intensiv, wie etwa im Fall eines Kruzifixes im Gerichtssaal.25 Dort sind die Adressaten des Kruzifixes und seiner Botschaft nicht in erster Linie junge Menschen, die sich noch in der Phase ihrer Persönlichkeitsbildung befinden. Nicht hingegen tritt sie – selbst in der Schule – auf, soweit es nur um die Vermittlung von Kenntnissen und nicht von Werten geht. Der eigentliche Kern des juristischen Problems drängt sich also dort auf, wo es um die Vermittlung von Werten und Prinzipien geht (und das Kruzifix soll ja gerade dies tun) und wo junge Menschen im Zentrum stehen, deren Persönlichkeit noch nicht ausgebildet ist mit der Folge, dass ihr Wille nachhaltig beeinflusst und geformt werden kann. Nun, da die Voraussetzungen und Gründe für das Dilemma und seine hohe Intensität konturiert sind, wird auch verständlich, weshalb zu dieser Frage in Europa so unterschiedliche (und einander bisweilen widersprechende) Lösungen angeboten und praktiziert werden. Hieran knüpft die nächste Frage an: Welche Werte und Prinzipien sind im Europa des 21. Jahrhunderts in ihrer Willenbildungsfunktion überhaupt akzeptabel? Die Antwort auf diese Frage wird auch die Antwort auf die 21  Siehe Hans-Ulrich Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft (1979), S.  107; Herbert Krüger Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen in: Horst Ehmke et al (Hrsg.), Um Recht und Gerechtigkeit. Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag (1973), S.  286–287. 22  Vgl. Ulrich Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz in: ders. (Hrsg.), Um Recht und Gerechtigkeit. Festgabe für Erich Kaufmann zu seinem 70. Geburtstag (1950), 325; Armin Scherb, Der Bürger in der streitbaren Demokratie. Über die normativen Grundlagen politischer Bildung (2008), S.  53. 23  EGMR, Urteil vom vom 15. Februar 2001, Beschw. Nr.  42393 / 98 (= EuGRZ 2003, 595) – Dahlab v. Switzerland, Ziff. 89. 24   EGMR (Fn.  2 ) – Lautsi, Ziff. 54. 25   BVerfG, Entscheidung vom vom 17. Juli 1973, Beschw. Nr.  1 BvR 308 / 69, BVerfGE 35, 366 (= NJW 1973, 2196) – Kreuz im Gerichtsaal.

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hieran anschließende Frage vorgeben, ob die Erziehung am Geist des Multikulturalismus oder der christlich-abendländischen Kultur ausgerichtet werden sollte. Im Mittelalter bildete die Religion das Vehikel zur Vermittlung der Werten und Prinzipien, welche die Gesellschaft zusammenhielten. Heute aber können diese Werte und Prinzipien nur diejenigen sein, die sich auf dem Demokratieprinzip ableiten.26 Sie sind die einzigen, die das friedliche Zusammenleben eines multikulturellen Europas zu garantieren vermögen.27 Wie in der Literatur und Rechtsprechung bereits erkannt und betont wurde, stellt in einer freiheitlichen Demokratie das Verbot der Indoktrination (oder anders gewendet: die Neutralitätspflicht des Staates) ein wichtiges Charakteristikum der Erziehung dar.28 Die Neutralität bildet also eine Grenze für die Willensformungsfunktion der Erziehung. Die entscheidende Frage ist aber, welche Art der Neutralitätspflicht dem Staat in diesem Zusammenhang aufzuerlegen ist. Denn man kann in Bereich der Erziehung, wie noch im Einzelnen zu sehen sein wird, von drei verschiedenen Neutralitätsmodellen sprechen (radikale, politische und multikulturelle Neutralität), welche die Erziehung jeweils unterschiedlichen Werten und Prinzipien unterwerfen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden aufgezeigt, dass sich auch die Kruzifix-Frage in Europa anhand der verschiedenen Neutralitätsbegriffe konzeptionalisieren lässt.

c)  Die Neutralitätsmodelle im Erziehungswesen: radikal, politisch und multikulturell Die verschiedenen Neutralitätsmodelle im Erziehungswesen orientieren sich an unterschiedlichen Werten und Prinzipien und wurzeln in einem jeweils unterschiedlichen Verständnis vom Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Konket betrachten sie jeweils eine andere staatliche Erziehungsfunktion als wünschenswert. Es handelt sich bei diesen Modellen um die radikale Neutralität (aa), die politische Neutralität (bb) und die multikulturelle Neutralität (cc).

aa)  Radikale Neutralität und soziale Homogenität Das radikale Neutralitätsverständnis geht von der theoretischen Annahme einer politisch, religiös und kulturell homogenen Gesellschaft aus, die auch schon vor dem Staat und seiner Rechtsordnung existiert.29 Es nicht schwer, dahinter die klassische  Vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1994), S.  18.  Vgl. Eamonn Callan, Creating citizens. Political education and liberal democracy (1997), S.  13. 28  Siehe aus der Literatur Bodo Pieroth, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBl. 17 (1994), 949 (960 f.). Zur Rechtsprechung auf europäischer Ebene siehe insbesondere die folgenden Entscheidungen des EGMR: Urteil vom 7. Dezember 1976, Beschw. Nr.  5095 / 71, 5920 / 72, 5926 / 72 – Kjeldsen, Busk Madsen and Pedersen v. Denmark, Rdnr. 53; Urteil vom 9. Oktober 2007, Beschw. Nr.  1448 / 04 – Hassan Eylem Zengin v. Turkey, Rdnr. 69; Urteil vom 29. Juli 2007, Beschw. 15472 / 02 – Folgero and others v. Norway, Ziff 85. Aus der Verfassungsrechtsprechung siehe insbesondere die Aussage in BVerfG (Fn.  3 ) – Kruzifix, Rdnr. 35 ff. Aus der Literatur siehe das klassische Werk von Ekkehart Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule (1967). 29   Siehe für die Annahme, dass ein Konsenses über Werte und Prinzipien existiert, der an den den 26 27

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liberale Idee vom Nationalstaat auszumachen. Nach diesem Paradigma beruht die Legitimität des Staates auf der politischen, religiösen und kulturellen Homogenität der ihn tragenden Gesellschaft, und seine juristische Hauptaufgabe ist, die hierdurch vermittelte Stabilität zu sichern.30 Neutralität bedeutet hier das strikte – eben radikale – Verbot der Erziehung durch den Staat: Der Staat darf nur unterrichten, aber nicht erziehen (radikale Neutralität). Vielmehr ist gegenüber dem Staat ein grundlegendes Misstrauen angezeigt, da dieser den Willen der Bürger beeinflussen und dadurch auch die politische, religiöse und kulturelle Homogenität gefährden könnte. Konsequent verbannt dieses Modell den Staat in den Bereich des Unterrichts, da danach nur die reine Vermittlung von Kenntnissen akzeptabel ist.31 Auf die Kruzifix-Frage hin gewendet bedeutet dies, dass das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern eine Kompetenzüberschreitung seitens des Staates darstellen würde, da dieser keine Werte und Prinzipien vermitteln darf.32 Das eigentliche Ziel dieser radikalen Auffassung von Neutralität ist es, die Erziehungsfunktion nicht dem Staat zuzuweisen, sondern gänzlich der Gesellschaft zu überlassen.33 Tatsächlich gibt es keine bessere Lösung, um die Garantie der Erziehung nach Maßgabe der Werte und Prinzipien, welche die Gesellschaft zusammenhalten, genau denjenigen aufzuerlegen, die den religiösen, politischen und kulturellen Zusammenhalt mit Leben erfüllen. Deshalb ist mit der radikalen Neutralität auch die Möglichkeit des sog. homeschooling vereinbar,34 das in den letzten Jahren auch in Europa immer wieder kontrovers diskutiert wurde.35

bb)  Politische Neutralität und soziale Homogenität Die theoretische Annahme, wonach eine vorstaatliche politische, religiöse und kulturelle Homogenität existiert und von der das radikale Verständnis von Neutralität ausgeht, lässt sich aber auch mit der Erziehungsfunktion des Staates in Einklang Staat gründenden liberalen Gesellschaftsvertrag gebunden ist, Rawls (Fn.  17), S.  14. Auch, wenngleich anders nuanciert, bei Bruce Ackerman, Social Justice in the liberal state (1980), 29; Ronald Dworkin, A matter of principle (1995), S.  191 ff.; Stephen Macedo, Diversity und distrust. Civic Education in a Multicultural Democracy (2000), S.  146. 30  Vgl. John Stuart Mill, On Liberty, 2.  Aufl. (1859), 145 f., 188 ff. 31  Vgl. Albert Otto Hirschman, The passions and the interests. Political arguments for capitalism before its triumph (1977), 106 f. Dieses radikal-liberale Neutralitätsverständnis ist allerdings unrealistisch, da die Vermittlung von Wissens in der Wirklichkeit stets zugleich auch Vermittlung von Werten bedeutet, vgl. Stephan Huster, Die ethische Neutralität des Staates (2001), 326. Siehe auch Badura (Fn.  5 ), 71 ff.; Dieter Lorenz, Schulgebet und Toleranz, JuS 1974, 436 ff. (436–438); Ulrich Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen der christlichen Gemeinschaftsschulen in: Theodor Maunz / Hans Spanner (Hrsg.), Festgabe für Theodor Maunz zum 70. Geburtstag (1971), S.  307, 323. 32  Vgl. Stephan Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht in: Brugger / Huster (Fn.  17), S.  9 0. 33  Siehe John Locke, Two treatises of government (1821), Rdnr. 68. 34   Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die (durchaus liberale) Entscheidung des U.S.  Supreme Court in Wisconsin v. Yoder (406 U.S.  205) aus dem Jahre 1972, die den Eltern erlaubt, die staatliche Erziehungsfunktion zu übernehmen, um die Erhaltung der religiösen und moralischen Eigenständigkeit der Amischen Gemeinschaft zu sichern. 35   Siehe z. B. EGMR, Urteil vom 11. September 2006, Beschw. Nr.  35504 / 03 – Fritz Konrad and others v. Germany.

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bringen.36 Nach dem politischen Neutralitätsmodell soll der Staat im Rahmen der Erziehung die Vermittlung derjenigen Werte und Prinzipien gewährleisten, die der Homogenität der Gesellschaft entsprechen.37 Neutralität des Staates bedeutet hier das Verbot, die Vermittlung von Werten und Prinzipien zu behindern, welche die Gesellschaft als für die Erziehung maßgeblich definiert (politische Neutraliät). Deshalb ist das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen auch mit der politischen Neutralität vereinbar, sofern es die Werte der den jeweiligen Staat tragenden Gesellschaft ausdrückt.38 In diesem Sinne bestimmt zum Beispiel §  2.b.1 des österreichischen Religionsunterrichtgesetzes Folgendes: „In den unter §  1 Absatz 1 fallenden Schulen, an denen die Mehrzahl der Schüler einem christlichen Religionsbekenntnis angehört, ist in allen Klassenräumen vom Schulerhalter ein Kreuz anzubringen.“39 Auch lassen sich unschwer Elemente dieses politischen Neutralitätsverständnisses im zweiten Lautsi-Urteil des EGMR ausmachen, wonach das Kruzifix die christlich-abendländische Kultur verkörpert.40 Konsequent geht dieses Verständnis von Neutralität mit einem Anpassungsdruck einher, in dessen Rahmen die Minderheit die Symbole der Werte und Prinzipien der Mehrheit in den Klassenzimmern dulden muss.41

cc)  Multikulturelle Neutralität und soziale Heterogenität Das dritte Neutralitätsverständnis verwirft die theoretische Annahme von der Homogeneität der Gesellschaft, die den beiden anderen Modellen zugrunde liegt. Der Ausgangspunkt dieses multikulturellen Neutralitätsmodells ist vielmehr eine heterogene und plurale Gesellschaft. Danach existiert keine vorstaatliche politische, religiöse oder kulturelle Homogenität (mehr), die der Staat garantieren soll – sei es nun durch Verzicht auf die Erziehungsfunktion, da diese von der Gesellschaft übernommen wird (radikale Neutralität), oder sei es durch die Vermittlung der Werte und Prinzipien der gesellschaftlichen Mehrheit (politische Neutralität).42 Deshalb soll der Staat – nicht die Gesellschaft – Werte und Prinzipien entwickeln, welche diese hete-

36  Vgl. Christian Schlaich, Radikale Trennung und Pluralismus. Zwei Modelle der weltanschaulichen Neutralität des Staates in: Paul Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung (1980), S.  417 ff. 37  Diese Art der Neutralität bezeichnete John Rawls als „politischer“ Liberalismus, vgl. Rawls (Fn.  17), S.  14; dazu William Galston, Goods, virtues and duties in the liberal state (1991), S.  253 f. Die im Beitrag verwandte Terminologie der politischen Neutralität ist durchaus von Rawls inspiriert. 38  Vgl. Isensee (Fn.  5 ), S.  10 ff.; Czermak (Fn.  5 ), 3351; Heckel (Fn.  5 ), 465 ff.; Gut, (Fn.  5 ), 16–20. 39   BGBl. Nr.  190 / 1949. 40   Ähnliches gilt für das Urteil des EGMR im Fall Dahlab v. Switzerland (Fn.  23), insb. Rdnr. 112, in dem der EGMR das Verbot des islamischen Schleiers akzeptierte (unter Hinweis auf dessen symbolischen Widerspruch zur Gleichstellung von Mann und Frau). Der Hinweis auf die Gleichheit von Mann und Frau bedeutet allerdings nicht, dass es kein Problem der verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen wäre. 41  Siehe William Galston, Civic education in the liberal state, in: Nancy L. Rosenblum (Hrsg.), Liberalism and the moral life (1989), S.  89; Callan (Fn.  27), S.  13. 42  Siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat (1978), S.  22.

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rogene und plurale Gesellschaft zusammenhalten (multikulturelle Neutralität).43 Diese Entwicklung von Werten und Prinzipien stellt sogar die Hauptfunktion der Erziehung dar, die dann vom Staat übernommen und von diesem – nicht von der Gesellschaft – praktiziert wird.44 Das multikulturelle Neutralitätsmodell richtet an den Staat die Erwartung, dass dieser erstens die Pluralität der politischen, religiösen und kulturellen Vorstellungen in der Gesellschaft wiederspiegelt und zweitens gewährleistet, dass sie alle auch in der Zukunft wählbar bleiben45 – ganz so wie es von einem integrativen Erziehungsverständnis verlangt wird.46 Dies ist zugleich auch, was die heutigen multikulturellen Gesellschaften in Europa zusammenhält: die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens. Im Hinblick auf das Erziehungsdilemma stellt sich deshalb die Frage, ob das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen mit der Achtung vor anderen kulturellen und religiösen Präferenzen vereinbar ist. Dabei ist das Einzige, was dem Staat verwehrt ist, die Ausübung der Erziehungsfunktion in einer Weise, die es erschwert, andere religiöse Überzeugungen zu haben. Ein solches multikulturelles Neutralitätsverständnis kommt im ersten Lautsi-Urteil des EGMR ebenso wie schon im Kruzifix-Beschluss des BVerfG zum Ausdruck.47 Beide Entscheidungen untersagten das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern mit der Begründung, dass es den Schülern den Eindruck vermittelte, dass der christliche Glaube die einzig richtige religiöse Überzeugung in der Gesellschaft sei.

2.  Das Fehlen eines einheitlichen Neutralitätsbegriffes im europäischen Erziehungswesen und der Ursprung der Kruzifix-Frage Im Vorangegangenen wurde aus juristischer Perspektive die Willensformungsfunktion der Erziehung erörtert (a), ferner die Notwendigkeit staatlicher Neutralität bei der Erziehung in einer demokratischen Gesellschaft (b) sowie schließlich die verschiedenen Neutralitätsmodelle im Erziehungswesen, die jeweils unterschiedliche Lösungen auf die Frage des Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen anbieten: Erziehung im Geiste des Multikulturalismus (multikulturelles Neutralitätsmodell) oder in der christlich-abendländischen Kultur (politisches Neutralitätsmodell). Nachfolgend wird zu zeigen sein, welches oder welche dieser Modelle in der Realität im heutigen Europa funktioniert. Dabei wird deutlich werden, dass die demokratischen Staaten das radikale Verständnis von Neutralität zwar hinter sich gelassen haben; dass aber nach wie vor unklar ist, ob man sich künftig nach dem politischen oder dem multikulturellen Neutralitätsmodell richten wird. Es ist dieser Zu Vgl. Thomas Meyer, Parallelgesellschaft und Demokratie in: ders. / Reinhard Weil (Hrsg.), Die Bürgergesellschaft. Perspektiven für Bürgerbeteiligung und Bürgerkommunikation (2002), S.  343 ff. 44  Siehe Will Kymlicka, Politics in the Vernacular. Nationalism, Multiculturalism and Citizenship (2001), S.  301 ff. 45   Diese multikulturelle Funktion der Erziehung kommt im Verständnis von der „Schule als sozialer Mikrokosmos“ zum Ausdruck, vgl. Lawrence Kohlberg, Essays on moral development, 2.  Aufl. (1984), S.  498 ff. 46  Siehe Gutmann (Fn.  17), S.  82. 47   Siehe noch einmal EGMR (Fn.  2 ) – Lautsi und BVerfG (Fn.  3 ) – Kruzifix. 43

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stand der Unentschlossenheit, der sich auch in der wechselhaften Rechtsprechung des EGMR manifestiert hat.

a)  Die Ablehnung des radikalen Neutralitätsmodelles in der Erziehung Die Rechtsordnungen der demokratischen Staaten im heutigen Europa teilen die Erziehungsfunktionen zwischen Staat und Gesellschaft auf. Dies wird anhand der zwei Normgruppen deutlich, in denen die Erziehung dort rechtliche Gestalt angenommen hat: Da sind zum einen die Normen, die den Staat dazu ermächtigen, die Erziehung (bzw. den Unterricht) zu regeln und zu organisieren; und zum anderen die Normen, die den Eltern (das heißt der Gesellschaft) das Recht einräumen, ihre Kindern in einer Weise zu erziehen, die ihren eigenen Vorstellungen entspricht. In Artikel 2 ZP I zur EMRK finden beide Normgruppen zusammen: „Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“48 Auch Artikel 14 Absatz 3 EuGrCh geht von einer Aufteilung der Erziehungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft aus: „Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausübung regeln.“49 Schon allein auf dieser Grundlage lässt sich feststellen, dass in Europa kein Raum ist für das radikale Neutralitätsmodell. Entsprechend übt der Staat in Europa nicht nur eine Unterrichtsfunktion aus; ihm kommt also nicht nur die Aufgabe der Wissensvermittlung zu (hätte der Staat nur eine Unterrichtsfunktion, wäre das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern staatlicher Schulen ohnehin nicht erlaubt, da es religiöse und kulturelle Werte vermittelt). Aus der Ablehnung des radikalen Neutralitätsmodelles folgt auch, dass das sog. homeschooling in Europa nicht grundrechtlich geschützt ist, da die im Rahmen der Erziehung zu vermittelnden Werte und Prinzipien nicht allein von den Eltern, sondern auch vom Staat bestimmt werden. Die EMRK, die EuGrCh und andere internationale Menschenrechtsverträge (z. B. Art.  26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMr) und Art.  13 Abs.  1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)) 50 gehen alle von einem Erziehungssystem aus, in dem Werte und Prinzipien zumindest auch vom Staat vermittelt werden. Die Überzeugung der Eltern wirkt hier als Schranke dieser Vermittlung. Allerdings hat der EGMR entschieden, 48   Siehe zu dieser Aufteilung der Erziehungsunktionen zwischen Staat und Gesellschaft im Zusammenhang mit der EMRK, Wildhaber (Fn.  15), S.  5 ff. 49  Vgl. Jarass (Fn.  15), S.  150 f. Siehe ferner Art.  14 Abs.  1 der Europäischen Sozialcharta sowie Art.  165 Abs.  1 des Vertrages über die Arbeitswiese der Europäischen Union, welche die Erziehungsfunktionen in ähnlicher Weise zwischen Staat und Gesellschaft aufteilen. 50  Siehe Klaus Dieter Beiter, The protection of the right to education by international law (2006), S.  19, 30 ff.

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dass die Erziehungskompetenz des Staates – und damit auch die Befugnis zur Vermittlung von Werten und Prinzipien – so weit reicht, dass er sie sogar gegen den Willen der Eltern zum Tragen bringen kann.51 Diesen wird also keineswegs ein schrankenloses Erziehungsrecht in Bezug auf ihre Kinder zugebilligt.52 Diese den Staat begünstigende Lösung haben sich auch die staatlichen Verfassungsordnungen in Europa zueigen gemacht – und zwar auch in solchen, die ansonsten sogar Züge eines radikalen Neutralitätsmodells tragen. So scheint etwa die österreichische Rechtsordnung einem radikalen Neutralitätsmodell zuzuneigen, in dem der Staat nur unterrichten, nicht aber erziehen darf. Dies folgt aus Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder53 – einem Relikt aus dem 19. Jahrhundert, das bis heute gültig ist (und zwar im Verfassungsrang): „[...] Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen und an solchen Unterricht zu erteilen, ist jeder Staatsbürger berechtigt, der seine Befähigung hierzu in gesetzlicher Weise nachgewiesen hat. Der häusliche Unterricht unterliegt keiner solchen Beschränkung. [...].“ In dieser Bestimmung manifestiert sich eindrucksvoll die vollständige Trennung von Staat und Gesellschaft, wie sie ideengeschichtlich zu jener Zeit vorherrschend war. Tatsächlich wurde dieses Recht jedoch durch andere Verfassungsnormen aus dem 20. Jahrhundert eingeschränkt, die dem Staat eine wesentlich größere Rolle einräumen (vgl. Art.  14 B-VG).54 Deshalb lässt sich das radikale Neutralitätsmodell inzwischen auch für Österreich ausschließen. Die erst jüngst ergangene Entscheidung des VfGH, wonach das Auf hängen des Kruzifixes in staatlichen Kindergärten verfassungsmäßig ist, bestätigt diesen Befund.55 Ähnlich ist die Lage in Deutschland. Dort verbürgt Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) den Eltern zwar ein „natürliches“ Recht zur Erziehung ihrer Kinder, was Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur dazu geführt hat, diesem Recht eine 51   EGMR (Fn.  28) – Kjeldsen, Busk Madsen and Pedersen v. Denmark, Rdnr. 53. Richter Alfred Verdross verfaste zu der Entscheidung eine abweichende Meinung, die dem radikalen Neutralitätsmodell nahesteht. Daraus: „Wir sollen unterscheiden zwischen einerseits den faktischen Informationen über die menschliche Sexualität, die ein Objekt der Naturwissenschaften (vor allem der Biologie) sind, und andererseits die Fragen der sexuellen Aktivitäten, wie z. B. der Verhütung. Der Unterschied stammt aus der Tatsache, dass meiner Meinung nach die ersten einen moralisch neutralen Charakter haben, die zweiten hingegen (wenn nicht in einer objektiven Weise vermittelt) werden das Bewusstsein der Schüler für immer formen. Deshalb können auch objektive Informationen über die sexuellen Aktivitäten das Erziehungsrecht der christlichen Eltern verletzen, wenn diese den Kindern in der Schule zu früh vermittelt werden.“ 52   Siehe auch die Entscheidung des EGMR (Fn.  35) – Fritz Konrad and others v. Germany, Rdnr. 1. 53   RGBl. 142 / 1867. 54   Ebenso durch die EMRK, die in Österreich von Verfassungsrang ist. Siehe die Ablehnung der radikalen Neutralität in der österreichischen Literatur, z. B. bei Thomas Kröll, Kulturelle Rechte in: Detlef Merten / Hans Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  VII / 1 – Österreich – (2009), S.  363; ferner Walter Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht, 2.  Aufl. (2008), S.  391 f.; Brigitte Gutknecht, Artikel 2 I in: Karl Korinek / Alexander Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht: Textsammlung und Kommentar, Bd.  3 (Loseblattausgabe, Stand 2005), S.  8. Auf einfachgesetzlicher Ebene ist Art.  11 Abs.  2 des Schulpflichtgesetzes (BGBl. Nr.  76 / 1985) zu erwähnen, wonach Schüler, die im Rahmen des homeschooling unterrichtet werden, die Prüfungen in den staatlichen Schulen ablegen sollen, wodurch wiederum die prominente Rolle des Staates anerkannt wird. 55   VfGH (Fn.  8 ) – Kruzifix im Kindergarten.

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Höherrangigkeit gegenüber dem staatlichen Erziehungsrecht zuzubilligen.56 Allerdings wurde diese Auffassung später sowohl vom BVerfG als auch von anderen Vertretern der Literatur zurückgewiesen.57 So hat das BVerfG entschieden, dass der Staat durchaus dazu befugt ist, Werte und Prinzipien zu vermitteln: Konkret hat es in einer Entscheidung aus dem Jahre 1977 dem Staat die Kompetenz zugebilligt, Kindern auch gegen den Willen ihrer Eltern Sexualunterricht zu erteilen.58 Eine eingehendere Analyse der Rechtsprechung des BVerfG offenbart, dass weder das Kruzifix noch andere religiöse Symbole in den Klassenzimmern staatlicher Schulen automatisch verfassungswidrig sind.59 Auf Grundlage des bisher Gesagten lässt sich festhalten, dass die verfassungsrechtlichen Normtexte und die gerichtlichen Entscheidungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene keine einheitliche Antwort auf Erziehungsfragen im Allgemeinen und die Kruzifix-Frage im Besonderen vorgeben. Einig sind sie allein in der Ablehnung des radikalen Neutralitätsmodells.60 Das rechtliche Problem spitzt sich also auf die Frage zu, ob das politische Neutralitätsmodell (Erziehung nach Maßgabe der christlich-abendländischen Kultur) oder das multikulturelle Neutralitätsmodell (Erziehung im Geiste des Multikulturalismus) maßgeblich ist (oder werden sollte).

56  Siehe zu dieser Frage Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd.  1, 2.  Aufl. (1957), S.  273 sowie auch Hans Peters, Elternrecht, Erziehung, Bildung und Schule, in: Karl August Bettermann / Hans Carl Nipperdey, Die Grundrechte, Bd.  I V (1960), S.  369 ff. Diese Interpretation, wonach den Eltern generell das Recht zur freien Wahl der Art und Weise der Erziehung ihrer Kinder zusteht, kommt auch in einigen Gerichtsentscheidungen zum Ausdruck, darunter das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes vom 30. Dezember 1981 (= JZ 1982, 463 ff.). 57   Aus der Rechtsprechung siehe BVerfG, Entscheidung vom 6. Dezember 1972, BVerfGE. 34 – Förderstufe, Rdnr. 86. Aus der Literatur siehe Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  I V (2011), S.  425, 444. 58   BVerfG, Entscheidung vom 21. Dezember 1977, BVerfGE 47, 46 – Sexualkundeunterricht, Rdnr. 99. 59   Mutatis mutandis BVerfG (Fn.  3 ) – Kruzifix, Rdnr. 56; BVerfG, Entscheidung vom 24. September 2003, BVerfGE 108, 282 – Kopftuch, Rdnr. 130–132. 60   Nicht einmal das im laizistischen Frankreich praktizierte (religiöse) Neutralitätsmodell lässt sich zutreffend als radikal bezeichnen, wennglich dieses der radikalen Neutralität am nächsten kommen mag. Art.  1 Abs.  1 der französischen Verfassung garantiert den Laizismus als Grundprinzip der Verfassung. Gemäß einer strikten Interpretation dieses Prinzips ist es dem Staat verwehrt, religiöse Werte und Symbole in der Erziehung zu verbreiten oder auch nur zu dulden. Die Religionsfreiheit ist danach eine private Angelegenheit, die strikt vom Staat getrennt ausgeübt werden soll. Allerdings wurde dieser strikte Zugriff in der Zwischenzeit aufgeweicht, so dass im Sinne eines „toleranten“ Laizismus in Klassenzimmern nun auch einige religiöse Symbole zugelassen sind. Siehe zu alledem Sara Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England. Eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung der EMRK (2009), S.  39; Nathalie Deffainis, Le principe de laïcité de l‘enseignement public à l‘épreuve du foulard islamique, Revue Trimestrielle des Droits de l’Homme, 34 (1998), S.  203 ff. (212).

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b)  Politische Neutralität versus multikulturelle Neutralität in der Erziehung am Beispiel des Kruzifixes aa)  Das multikulturelle Neutralitätsmodell in der Erziehung In seinem ersten Lautsi-Urteil aus dem Jahre 2009 entschied der EGMR, dass das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern das in Artikel 2 ZP I zur EMRK verbürgte Recht der Eltern, ihre Kinder „entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen“ zu erziehen, verletzt. Die Argumentation des EGMR geht – ähnlich wie die entsprechende Entscheidungen des BVerfG und des schweizerischen Bundesgerichts 61 - von der Prämisse aus, dass im Kontext der Erziehung „die Neutralität (...) den Pluralismus garantieren“ sollte.62 Pluralismus sei das einzige, was die Rechte der Eltern gemäß Artikel 2 ZP I zur EMRK garantieren könnten. Diese Rechte könnten verletzt werden, so der EGMR, wenn der Staat im Erziehungswesen bestimmte religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen gegenüber anderen bevorzugt.63 Wie bereits erwähnt nahm der EGMR in seinem ersten Lautsi-Urteil das multikulturelle Neutralitätsmodell zum Ausgangspunkt, das die Existenz (und den Wert) einer religiösen oder kulturellen Homogenität in Abrede stellt und die Überzeugungen von Minderheiten gegenüber der jeweiligen Mehrheit garantiert. Er anerkennt darin die prinzipielle Gleichrangigkeit aller religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in der Gesellschaft. Diese Gleichrangigkeit solle vom Staat „auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts“ (Art.  2 ZP I zur EMRK) gewärleistet werden.64 Hierauf auf bauend stellt der EGMR fest, dass es „schwer einzusehen [ist], wie das Auf hängen eines Symbols, das mit dem Christentum verbunden ist, zum für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft so wichtigen Erziehungspluralismus beitragen könnte.“65 Für den EGMR – wie auch für das BVerfG in seiner Kruzifixentschei  Siehe jeweils BVerfG (Fn.  3 ) – Kruzifix, Rdnr. 56 und BG (Fn.  4 ) – Kruzifix, Rdnr. 24.   EGMR (Fn.  2 ) – Lautsi, Rdnr. 84. Diese Logik folgt der Rechtsprechung des EGMR in Folgero v. Norway (Fn.  27). Ähnlich auch das BVerfG: „Aus der Glaubensfreiheit des Art.  4 Abs.  1 GG folgt im Gegenteil der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Be­ kennt­n issen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt“, so BVerfG (Fn.  3 ) – Kruzifix, Rdnr. 35. 63   Der EGMR knüpfte hierbei an seine Rechtsprechung aus Kjeldsen, Busk Madsen, Perdersen v. Denmark (Fn.  27) an, wonach die Erziehung „objektiv, kritisch und pluralistisch“ sein soll. Auch in seinem ersten Lautsi-Urteil (Fn.  2 ) heißt es: „Die Schule sollte kein Ort für missionarische und Predigt-Aktivitäten sein; sie sollte ein Ort sein, an dem die verschiedenen Religionen und weltanschaulichen Überzeugungen zusammentreffen und wo die Schüler Kenntnisse über die jeweiligen Denkweisen und Traditionen erlangen können“ (Rdnr. 47 c). 64   Ähnlich die Auffassung des BVerfG zum islamischen Kopftuch: „Die dem Staat vom Grundgesetz auferlegte Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität ist keine distanzierende, abweisende im Sinne der laizistischen Nichtidentifikation mit Religionen und Weltanschauungen, sondern eine respektierende, ‚vorsorgende‘ Neutralität, die den Staat verpflichtet, dem Einzelnen wie auch den Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften einen Betätigungsraum zu sichern“, so BVerfG (Fn.  59) – Kopftuch, Rdnr. 10. 65   EGMR (Fn.  2 ) – Lautsi, Rdnr. 56. Dieses Argument findet sich bereits bei EGMR, Urteil vom 61

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dung aus dem Jahre 1995 – wird mit dem Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern einer Minderheit die religiöse Überzeugung der Mehrheit aufgezwungen und somit die Gleichrangigkeit der Überzeugungen negiert.66 Der dadurch ausgelöste Anpassungsdruck sei mit den Prämissen des multikulturellen Neutralitätsmodells nicht vereinbar67 und verletze deshalb die Rechte der Eltern gemäß Artikel 2 ZP I zur EMRK.

bb)  Das politische Neutralitätsmodell in der Erziehung In seinem zweiten Lautsi-Urteil aus dem Jahre 2011, mittels dessen die Große Kammer des EGMR als Rechtsmittelinstanz das erste Lautsi-Urteil korrigierte, gelangte der EGMR allerdings zu einem anderen Resultat. Zwar hat er die Prämisse, dass durch die Neutralität in der Erziehung Pluralismus gewährleistet werden soll, wohl beibehalten.68 Jedoch findet sich in seiner Argumentation keine Unterstützung mehr für das multikulturelle Neutralitätsmodell. Vielmehr wird ein politisches Neutralitätsmodell propagiert, das eine in der Gesellschaft präexistente religiöse und kulturelle Homogenität zum Ausgangspunkt nimmt, die dann vom Staat in der Erziehung sichergestellt werden soll. Letztlich bezweifelt der EGMR, dass das aufgehängte Kruzifix die Rechte der Eltern gemäß Artikel 2 ZP I zur EMRK überhaupt beeinträchtigen kann.69 Zu diesem Schluss ist auch der österreichische VfGH in seinem Erkenntnis aus dem Jahre 2011 über das Kruzifix in Kindergärten gelangt.70 Der EGMR erzielte dieses Resultat, indem er das Kruzifix als ein rein passives Symbol begriff – im Gegensatz zu einem aktiven Symbol, das bei religiösen Aktivitäten verwendet wird.71 Entscheidender ist allerdings, dass sich der EGMR das Verständnis zueigen gemacht hat, wonach das Kruzifix vielmehr ausdrückt, „als nur den Glauben einer Religion; es ist der Ausdruck der Werte, auf denen die Demokratie und die westliche Zivilisation ruhen.“72 Ähnlich stellte der österreichische VfGH fest, 18. Februar 1999, Beschw. Nr.  24645 / 94 – Buscarini and others v. San Marino. Darin wurde argumentiert, dass der Umstand, dass ein Text schon seit langem als Schwurtext benutzt wird, nicht zur Folge hat, dass die religiösen Elemente in diesem Text nicht mehr als religiös verstanden werden können. 66   Das erste Lautsi-Urteil (Fn.  2 ) des EGMR bezieht sich hierbei auf die Rechtsprechung der Kommission in EKMR, Entscheidung vom 3. Mai 1993, Beschw. Nr.  16278 / 90 – Karaduman v. Turkey. Darin: „In der Mehrheit der Länder, in denen die Bevölkerungsmehrheit einer bestimmten Religion zugehört, bewirkt die Vermittlung der Riten und Symbole dieser Religion (unabhängig von Ort und Form) zugleich auch ein Druck auf die Schülern, welche nicht dieser Religion oder einer anderen Religion angehören.“ 67   Siehe nochmals den Abschnitt 2 c bb. 68   EGMR (Fn.  6 ) – Lautsi II, Rdnr. 62. 69   Mit dieser Differenzierung in aktive und passive religiöse Symbole nimmt der EGMR Abstand von seiner früheren Auffassung bezüglich des Erziehungspotenzials des Kruzifixes, die in dessen erstem Lautsi-Urteil (Fn.  2 ) zum Ausdruck kam. Dort hielt er das Kruzifix noch für ein powerful external symbol und verwandte damit einen Begriff, den er in seinem Urteil Dahlab v. Switzerland (Fn.  23), Rdnr. 89, eingeführt hatte. 70   VfGH (Fn.  8 ), Kruzifix im Kindergarten, Rdnr. 66. In der Literatur wurde die Ansicht vertreten, dass das Kruzifix weder die Rechte der Eltern, noch die der Schüler beeinträchtigt, siehe Mayer Maly (Fn.  7 ), S.  219 ff. 71   EGMR (Fn.  6 ) – Lautsi II, Rdnr. 72. 72   EGMR (Fn.  6 ) – Lautsi II, Rdnr. 67 und 68. Dieses Verständnis des Kruzifixes als Ausdruck einer

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dass das „ Kreuz (...) ohne Zweifel zu einem Symbol der abendländischen Geistesgeschichte geworden“ ist.73 Für den EGMR fällt es damit jedenfalls in die margin of appreciation eines Mitgliedsstaats, ob dieser seine “(kulturelle) Tradition unterstützt oder nicht.“74 Aus alledem wird erkennbar, dass der EGMR seiner Argumentation ein politisches Neutralitätsmodell zugrunde gelegt hat, das es dem Staat erlaubt, diejenigen Werte und Prinzipien zu fördern, die von einer präexistenten, religiös und kulturell homogenen Gesellschaft bestimmt werden.75 Den Werte- und Prinzipienkanon, der aus dieser Homogenität folgt, bezeichnet der EGMR mit dem Begriff der „westlichen Kulturtradition“ und er manifestiert sich nach seiner Auffassung im Kruzifix. Deshalb dürfe der Staat diese Tradition in der Schule pflegen, auch wenn dadurch einer Minderheit die Überzeugung der Mehrheit aufgezwungen werde und so ein Anpassungsdruck hervorgerufen werde.76 Auf ähnlichen Prämissen ruht die Entscheidung des österreichischen VfGH, in der dieser betonte, dass es die Verfassung nicht ausschließe, „Jugendliche gegenüber dem religiösen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen zu machen.“77

3.  Die Bestimmung der Erziehungsziele als Voraussetzung für die Bestimmung des Neutralitätsmodells Wie soeben verdeutlicht wurde ist die Rechtsprechung im Hinblick auf das Neutralitätsmodell, das die Gerichte gegenwärtig der Interpretation der einschlägigen Normen (darunter Art.  2 ZP I zur EMRK und Art.  14 Abs.  3 EuGrCh) zugrunde legen, nicht einheitlich. Um bestimmen zu können, ob im Bereich der Erziehung ein politisches oder ein multikulturelles Neutralitätsmodell zum Tragen kommen soll, sind zunächst die Erziehungsziele in ihrer rechtlichen Gestalt zu fassen. gesellschaftlichen Tradition wurde in der Literatur von Isensee (Fn.  5 ), S.  13 vertreten. Kritisch dazu aber Huster (Fn.  31), S.  87. 73   VfGH (Fn.  8 ), Kruzifix im Kindergarten, Rdnr. 66. 74   EGMR (Fn.  6 ) – Lautsi II, Rdnr. 66, 68 und 70. Dieser Ausdruck taucht bereits in den abweichenden Meinungen der Richter Seidl, Söllner und Haas zum Kruzifix-Beschluss des BVerfG (Fn.  3 ), Rdnr. 87, auf. Auch ein großer Teil der Literatur bezweifelt das Indoktrinationspotential des Kruzifixes und betont seine Rolle als Ausdruck der Werte der christlich-abendländischen Kulturtradition (und anderer Religionen), siehe statt aller Christian Link, Staat crux? Die Kruzifix-Entscheidung des BVerfG, NJW 51 (1995), 3355 (3357 ff.). 75  Siehe Josef Isensee, „Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche“ in: Burkhard Kämper / Hans Werner Tönnes (Hrsg.), Die Verantwortung der Kirche für den Staat. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd.  25 (1991), S.  104, 141. 76   Ähnlich argumentierte der EGMR, als er im Hinblick auf das islamische Kopftuch einer schweizerischen Lehrerin äußerte, dass die Pflicht, dieses zu tragen, auf einer Vorschrift des Koran beruhe, „die nur schwer mit dem Prinzip der Gleichheit der Geschlechter vereinbar ist“, so EGMR (Fn.  23) – Dahlab v. Switzerland, Rdnr. 112. Auch hier bildet ein politisches Neutralitätsverständnis den Ausgangspunkt der Argumentation, und eine kulturelle und religiöse Haltung wird mit Hilfe des Gleichheitsgrundsatzes praktisch einer anderen untergeordnet. 77   VfGH (Fn.  8 ) – Kruzifix im Kindergarten, Rdnr. 67. Dem entspricht Art.  12 Abs.  2 des Kindergartengesetzes des Landes Niederösterreich vom 30 Juni 2006 (LGBl. 5060-2), das im Erkenntnis des VfGH letztlich als verfassungsmäßig eingestuft wurde.

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a)  Das Fehlen einer positivrechtlichen Bestimmung der Erziehungsziele in Europa Die überwiegende Mehrheit der europäischen Rechtsordnungen regelt die Erziehung dergestalt, dass sie dem Staat die entsprechenden Kompetenzen zuweist – oder eben gerade nicht, so dass dieser Bereich der Gesellschaft überlassen bleibt. So verfahren etwa Artikel 2 ZP I zur EMRK und Artikel 14 EuGrCh, die zwar einerseits die staatliche Kompetenz zur Organisation von Erziehung und Unterricht anerkennen, den Eltern aber andererseits das Recht einräumen, ihre Kinder gemäß ihrer religiösen oder philosophischen Überzeugung zu erziehen.78 Diese Lösung, die hauptsächlich dazu dient, das radikale Neutralitätsmodell auszuschließen,79 wurde auch in den Verfassungen der meisten europäischen Staaten umgesetzt.80 Nur in einigen wenigen europäischen Rechtsordnungen sowie in einigen völkerrechtlichen Rechtsquellen entschied man sich für die Regelungstechnik, wonach bestimmte Erziehungsziele ausdrücklich festgelegt werden, welche gleichsam als „finale Willensformungsnormen“ die Verwirklichung konkreter Ziele und Werte als Auftrag der Erziehung festlegen.81 Dieses Vorgehen wählte man etwa bei manchen internationalen Menschenrechtsverträgen, darunter Artikel 26 Absatz 2 AEMr und Artikel 13 Absatz 1 IPwskR. Ersterer legt Folgendes fest: „Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.“ Die wohl detaillierteste Regelung der Erziehungswerte und -ziele im Völkerrecht findet sich aber in Artikel 29 Absatz 2 der UN-Kinderrechtskonvention. Diese Vorschrift listet folgende Erziehungsziele auf: „a) die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen; b) dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen zu vermitteln; c) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln; d) das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten; e) dem Kind Achtung vor der natürlichen Umwelt zu vermitteln.“ 78  Siehe Cecile Günter, Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der Europäischen Grundrechtsordnung (2007), S.  286 ff. Vgl. auch Jarass (Fn.  15), S.  155 f. 79   Siehe nochmals den Abschnitt 2 a. 80   Siehe unter anderem Art.  33 der italienischen Verfassung oder die Art.  6 und 7 GG. 81   Siehe zur normativen Struktur dieser Bestimmungen Häberle (Fn.  20), S.  46 ff.; Pieroth (Fn.  28), 954; Michael Bothe, „Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im Freiheitlichen Verfassungsstaat“, VVDStRL 54 (1995), 22.

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Indes enthalten nur einige wenige Verfassungen europäischer Staaten konkrete Erziehungsziele. Die österreichische (Art.  14 Abs.  5a), die spanische (Art.  27 Abs.  2 ), die griechische (Art.  16 Abs.  2) und die portugiesische (Art.  73 Abs.  2) legen verschiedene Erziehungswerte, -prinzipien und -ziele fest, von denen die Mehrzahl aber bereits in den erwähnten völkerrechtlichen Dokumenten aufgelistet sind.82 Die meisten Rechtsordnungen enthalten keine solchen Ziele – und wenn sie es doch tun, dann vermögen sie zahlreiche wichtige Fragen nicht zu beantworten. Diese notwendigen Antworten – darunter auch die auf die Frage, ob hinter diesen Bestimmungen ein politisches oder ein multikulturelles Neutralitätsverständnis steht – müssen also mit Hilfe der Rechtsdogmatik gefunden werden.

b)  Die Notwendigkeit der rechtsdogmatischen Konstruktion der Erziehungsziele Der rechtlichen Analyse der Erziehungsziele wurde in der Rechtswissenschaft bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt – und zwar selbst in denjenigen Rechtsordnungen, in welchen solche positivrechtlich geregelt sind.83 Am dringlichsten sind dabei wohl die Systematisierung und Konkretisierung dessen, was von der Erziehung von Rechts wegen erwartet wird.84 Die Unmenge an positivrechtlich verankerten, abstrakten Werten und Zielen wie Humanität, Offenheit, Pluralismus, Freundschaft, friedliches Zusammenleben, Patriotismus, Verständnis, Toleranz etc. trägt indes kaum dazu bei, die Neutralität im Erziehungswesen zu konturieren und definieren.85 Die Abstraktheit und Heterogenität der Erziehungsziele hat sogar dazu geführt, dass in der rechtswissenschaftlichen Literatur argumentiert wurde, sie seien von nicht82   Art.  14 Abs.  5a des österreichischen B-VG sieht als Grundwerte der Erziehung „Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen“ vor. Art.  27 Abs.  2 der spanischen Verfassung besagt: „Ziel der Erziehung ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen unter Achtung der demokratischen Prinzipien des Zusammenlebens und der Grundrechte und -freiheiten.“ Art.  16 Abs.  2 der griechischen Verfassung bestimmt: „Die Bildung […] hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen sowie die Entwicklung ihres nationalen und religiösen Bewusstseins und ihrer Entwicklung zu freien und verantwortungsbewussten Staatsbürgern zum Ziel.“ Die portugiesische Verfassung äußert sich, etwas anders nuanciert, wie folgt: „Der Staat fördert die Demokratisierung der Erziehung sowie die weiteren Voraussetzungen dafür, dass die den Schulen und den übrigen Bildungseinrichtungen obliegende Erziehung zur Chancengleichheit, zur Überwindung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ungleichgewichte, zur Entfaltung der Persönlichkeit und des Sinns für Toleranz, gegenseitiges Verständnis, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein im Dienste des sozialen Fortschritts und der demokratischen Teilhabe am Gemeinschaftsleben beiträgt“ (Art.  73 Abs.  2 ). 83   In Österreich erfolgte eine juristische Analyse der Erziehungsziele auf Grundlage der ausdrücklichen Regelung von Art.  14 Abs.  5a B-VG. Zu ihrer Struktur, ihrem Inhalt und ihrer Funktion vor dem Hintergrund der Trennung von Staat und Gesellschaft, siehe etwa Robert Walter / Heinz Mayer / Gabriele Kucsko-Stadlmayer (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, 10.  Aufl. (2007), S.  754–755. 84   Hierzu konnte insbesondere die völkerrechtliche Literatur nicht viel beitragen, da diese in erster Linie die Willensformungsfunktion in Bezug auf Minderjährige und praktisch kaum die Eingrenzungsfunktion gegenüber dem Staat bzw. gegenüber den Eltern zum Gegenstand hat, siehe etwa Gudmundur Alfredson, The right to human rights education, in: Asjborn Eide / Catarina Krause / Allan Rosas (Hrsg.), Economic, Social and Cultural Rights, 2.  Aufl. (2001), S.  213. 85  Siehe Heirich Roth, „Die Lern- und Erziehungsziele und ihre Differenzierung nach Entwicklungsund Lernstufen“, DDS 63 (1991), 67 ff.

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rechtlichem Charakter.86 Dies ist allerdings insofern fragwürdig, als jede positivrechtliche Bestimmung einen rechtlichen Sinn haben sollte und hat.87 In einigen Fällen lässt sich den positivrechtlich verankerten Erziehungszielen allerdings doch die Wahl eines bestimmten Neutralitätsmodells entnehmen. So stützte etwa der österreichische VfGH, als er (unter der Voraussetzung, dass die Mehrheit der Kinder der christlichen Religion angehört) 88 das Auf hängen des Kruzifixes in staatlichen Kindergarten für verfassungsmäßig erklärte, seine Argumentation auf Artikel 14 Absatz 5a B-VG. Diese Vorschrift benennt als Erziehungsziele Diversität und Toleranz, ruft darüber hinaus aber auch dazu auf, „an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen.“ Der VfGH verwarf also das multikulturelle Neutralitätsmodell, das sich ja gerade auf Diversität und Toleranz stützen würde, und machte sich ein politisches Neutralitätsmodell zueigen, nach dessen Maßgabe spezifische soziale, religiöse und moralische Werte zu unterstützen sind. Das Kruzifix wird dabei den in der Vorschrift erwähnten Werten zugeordnet, da sich in ihm „abendländische Geistesgeschichte“ manifestiere.89 Wie zu sehen war ist es selbst in denjenigen Rechtsordnungen, in welchen Erziehungsziele ausdrücklich festgelegt sind, schwierig, das jeweils zugrunde liegende Neutralitätsmodell zu rekonstruieren. In den meisten europäischen Rechtsordnungen sind Erziehungsziele aber nicht einmal ausdrücklich geregelt. Die Zuordnung der Erziehungskompetenz zum Staat oder zur Gesellschaft setzt allerdings zumindest implizit bestimmte Erziehungsziele voraus, die sich dann bisweilen mit Hilfe der Rechtsdogmatik rekonstruieren lassen.90 Die Rechtsprechung auf europäischer wie auch auf nationaler Ebene zeigen, wie notwendig dies ist.91 86   Dazu haben vor allem die Kommentatoren der Weimarer Reichsverfassung (WRV) beigetragen, welche als erste demokratische Verfassung ausdrücklich Erziehungsziele vorsah. Art.  148 Abs.  1 WRV besagte: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben“. Siehe dazu Friedrich Giese, Die Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919 (1921), S.  332. Siehe auch die Ablehnung eines rechtlichen gegenüber einem rein moralischen Charakter der Erziehungsziele bei Gerd Röllecke, „Erziehungsziele und der Auftrag der Staatsschule“ in: ders., Aufgeklärter Positivismus. Ausgeklärte Schriften zu den Voraussetzungen des Verfassungsstaates (1995), S.  261. Ähnlich, wenngleich weniger strikt, die klassische monographische Ausarbeitung von Häberle (Fn.  20), S.  62, in der die Erziehungsziele als soft law bezeichnet werden. 87   In einigen Verfassungen der deutschen Länder findet man allerdings bis heute solche religiösen Elemente unter den Zielen wie etwa „Ehrfurcht vor Gott“ oder „christliche Nächstenliebe“. Sie sind freilich eher als Relikte aus früheren Zeiten zu betrachten, als Religion und Staat noch stark miteinander verbunden waren. Siehe beispielsweise Art.  11 ff. der Verfassung Baden-Württembergs, Art.  128 der bayerischen Verfassung, Art.  26 der Verfassung Bremens, Art.  56 der hessichen Verfassung, Art.  7 der Verfassung Nordrhein-Westfalens, Art.  27 der. rheinland-pfälzischen Verfassung und Art.  26 der Verfassung des Saarlands. Kritisch zur „Verrechtlichung“ solcher Ziele Roellecke (Fn.  86), S.  257 ff. 88   Siehe noch einmal Art.  12 Abs.  2 des niederösterreichischen Kindergartengesetzes (Fn.  77), das Gegenstand des Erkenntnisses des VfGH zum Kruzifix im Kindergarten (Fn.  8 ) war. 89   VfGH (Fn.  8 ) – Kruzifix im Kindergarten, Rdnr. 66 und 67. 90   Pieroth (Fn.  28), 952, 960. 91   Siehe insbesondere das Problem der Vereinbarkeit von Sexualkundenunterricht (dessen Legitimität darin wurzelt, dass er zur integralen Persönlichkeitsentwicklung der Schüler beitragen kann) mit dem Erfordernis, dass die Erziehung „objektiv, kritisch und pluralistisch“ sein soll. Siehe zu dieser Frage noch einmal EGMR (Fn.  28) – Kjeldsen, Busk Madsen, Perdersen v. Denmark, Rdnr. 53. Das BVerfG

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Selbst die Autoren, welche die rechtliche Natur der Erziehungsziele bezweifeln, setzen letztlich bestimmte Erziehungsziele implizit voraus.92 Die entscheidende Frage ist aber, woher und wie genau man diese Erziehungsziele ableitet, wenn sie nicht positivrechtlich verankert sind.

c)  Die Verfassungsprinzipien als Kriterien zur Bestimmung der Erziehungsziele Wie zu Beginn festgestellt lässt sich Erziehung als ein Kommunikationsprozess begreifen, mittels dessen die Gesellschaft ihren neuen Mitgliedern Werte und Prinzipien weitergibt, welche das gesellschaftliche Zusammenleben ermöglichen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.93 Diese Kohäsionsfunktion kann – rechtlich betrachtet – nur in den Verfassungsprinzipien der jeweiligen Rechtsordnung wurzeln. Denn diese legen in erster Linie fest, wie in dieser Rechtsordnung Recht gesetzt wird, und – hier von besonderer Bedeutung – wie dort das Verhältnis von Staat und Gesellschaft strukturiert ist.94 Da aber die Wahl des Neutralitätsmodells im Erziehungswesen gerade die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Staat und Gesellschaft betrifft, sollen auch die Verfassungsprinzipien zu dieser Wahl beitragen.95 Es sind heute die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Sozialstaatlichkeit und der Demokratie, die sowohl auf nationaler als auch auf europäischer und internationaler Ebene den rechtlich verfassten Gesellschaften als maßgebende normative Kriterien soziale Kohäsion verleihen.96 Diese Prinzipien sollen deshalb auch die eigentlichen Erziehungsziele und somit auch das einschlägige Neutralitätsmodell bestimmen.97 Betrachtet man die positivrechtlich verankerten Erziehungsziele in denjenigen Rechtsordnungen, in welchen solche überhaupt existieren (z. B. Art.  26 Abs.  2 AEMr, Art.  13 Abs.  1 IPwskR, Art.  14 Abs.  5a B-VG, Art.  27 Abs.  2 der spanischen Verfassetzte die dogmatische Rekonstruktion ohne ausdrückliche positivrechtliche Erziehungsziele um, vgl. BVerfG (Fn.  58) – Sexualkundeunterricht, Rdnr. 90 und 91. Auch das schweizerische Bundesgericht führte eine dogmatische Rekonstruktion der Erziehungsziele durch, da eine positivrechtliche Festlegung dieser Ziele fehlte, vgl. BG (Fn.  4 ) – Kruzifix, Rdnr. 32 Aus der Literatur zur Rechtslage in Deutschland siehe Ekkehard Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule (Fn 28); Evers (Fn.  20), S.  59. Für die Schweiz Astrid Epiney / Berdhard Walmann, „Soziale Grundrechte und Soziale Zielsetzungen“ in: Hans Jürgen Papier / Detlef Merten (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Grundrechte in der Schweiz und in Liechtenstein, Bd.  V II / 2 (2007), S.  625 f. 92   Zur Lage in Deutschland Pieroth (Fn.  28), 952; Stern (Fn.  56), S.  435 ff. In der schweizerischen Bundesverfassung sind keine Erziehungsziele ausdrücklich erwähnt. Die Literatur hat jedoch sechs Prinzipien (von verfassungsrechtlichem Charakter) entwickelt: 1) Wohl des Minderjährigen, 2) Integration, 3) Chancengleichheit, 4) Transparenz 5) Qualität der Erziehung und 6) Pluralismus. Allerdings kehrt in der Literatur bis heute die Idee wieder, diese Grundsätze seien rein moralischer Natur, vgl. Stephan Hördegen, Grundziele und -werte der „neuen“ Bildungsverfassung, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, Nr.  3 (2007), 113 (119 f ). Siehe zu dieser Frage auch Herbert Plotke, Schweizerisches Schulrecht, 2.  Aufl. (2003), S.  4 02 f. 93  Vgl. Häberle (Fn.  20), S.  42; Meyer (Fn 43), S.  343 ff. 94  Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925), S.  320 ff. 95  Siehe Pieroth (Fn.  28), 960. 96  Siehe Armin von Bogdandy / Jürgen Bast, Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und Dogmatische Grundzüge (2009), S.  25–30. 97  Vgl. Thomas Opperman, Nach welchen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen?, Gutachten C zum 51. Deutschen Juristentag (1976), S.  51 ff.

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sung), so wird deutlich, wie sehr die Verfassungsprinzipien und die Erziehungsziele miteinander verbunden sind.98 Hier sind die Erziehungsziele rein deklarativer und nicht konstitutiver Natur (die konstitutiven Erziehungsziele sind ja gerade die Verfassungsprinzipien); ihre rechtliche Qualität lässt sich also durchaus in Frage stellen,99 ja sogar nicht anerkennen. Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und Teilhabe sind die maßgeblichen Grundsätze, auf welche sich als Prinzipien von allgemeinem Charakter die (sehr heterogenen, von Rechtsordnung zu Rechtsordnung unterschiedlichen) Unterziele aus dem Bereich der Erziehung zurückführen lassen.100 Diese Position hat sich in Literatur und Rechtsprechung in den Rechtsordnungen letztlich durchgesetzt, in welchen die Erziehungsziele nicht positivrechtlich geregelt sind.101 Deshalb ist auch das europäische Kruzifix-Dilemma ausgehend von diesen Verfassungsprinzipien zu lösen: Ob die Erziehung im Geiste des Multikulturalismus oder nach Maßgabe der westlichen Kultur erfolgen soll, hängt nämlich entscheidend von den Prinzipien der Rechts- und Sozialstaatlichkeit ab – vor allem aber vom Demokratieprinzip, auf das sich Erziehungswerte wie Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und Teilhabe zurückführen lassen. Es fragt sich deshalb, welche Elemente und Konsequenzen des multikulturellen bzw. des politischen Neutralitätsmodells mit diesen Erziehungszielen vereinbar sind.

98   Eine Studie scheint allerdings auf einen Zusammenhang zwischen Erziehungsziele und Verfassungsprinzipien hinzudeuten, siehe Berka (Fn.  54), S.  420. Überzeugend aus der (spärlichen) spanischen Literatur zu dieser Frage Benito Aláez, „El ideario educativo constitucional como fundamento para la exclusión de la educación diferenciada por razón de sexo de la financiación pública“, Revista Española de Derecho Constitucional 86 (2009), 31 (35 ff.). 99   So aber jüngst Häberle (Fn.  20), S.  62 und Röllecke (Fn.  86), S.  261. 100  Siehe Evers (Fn.  21) 123. Das Prinzip des demokratischen Pluralismus kann etwa mit Unterprinzipien wie „Offenheit“ und „Toleranz“ (Art.  14 Abs.  5a B-VG), „Solidarität“ (Art.  73 Abs.  2 der portugiesischen Verfassung), „Verständnis“, „Toleranz“, „Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen“ und „Wahrung des Friedens“ (Art.  26 Abs.  2 AEMr und Art.  13 Abs.  1 IPwskR) sowie “Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten“ (Art.  29 Abs.  2 der UN-Kinderrechtskonvention) identifiziert werden. 101   So wurden z. B. die fehlenden Erziehungsziele des GG von der Literatur mit Hilfe verschiedener Verfassungsnormen herausgearbeitet, vgl. Stern (Fn.  57), S.  435ff.: 1) Die Prinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit (Art.  20 Abs.  1 und Art.  79 Abs.  3 GG), welche gleichzeitig Grundprinzipien der deutschen Verfassungsordnung sind; 2) die liberale demokratische Ordnung der Art.  9 Abs.  2 , Art.  18 und Art.  21 Abs.  2 GG, welche konsequent von den zuvor erwähnten Grundprinzipien der deutschen Verfassungsordnung abgeleitet werden (insb. dazu Christoph Gusy, „Die ‚freiheitliche Demokratische Grundordnung’ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, AöR 105 (1980), 279 (279ff )). Die Auflistung der Erziehungsziele lässt sich auf der Grundlage des GG auch weiterführen: 3) Menschenwürde (Art.  1 Abs.  1 GG), freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art.  2 Abs.  1 GG), Gleichheitsprinzip (Art.  3 GG) und Meinungsfreiheit (Art.  5 GG). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte die schweizerische Literatur, die ebenfalls ohne eine ausdrückliche positivrechtliche Bestimmung der Erziehungsziele auskommen musste, und somit gezwungen war, implizite Erziehungsziele herauszuarbeiten, vgl. jüngst Hördegen (Fn.  92), 119.

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4.  Das multikulturelle Neutralitätsmodell als Anforderung des Demokratieprinzips. Die Lösung der Kruzifix-Frage in Europa a)  Das multikulturelle Neutralitätsmodell und die Erziehungsziele Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und Teilhabe Eine demokratische Rechtsordnung, die Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und Teilhabe gewährleisten will, sollte die Prämissen des politischen Neutralitätsmodells ablehnen, wonach der Staat die politische, religiöse und kulturelle Homogenität der Gesellschaft garantiert. Die Übertragung dieses Modells auf die Rechtswirklichkeit hat zur Folge, dass in der Schule der Minderheit die Überzeugungen der Mehrheit aufgezwungen werden – auch wenn dies im zweiten Lautsi-Urteil des EGMR und im Kruzifix-Erkenntnis des österreichischen VfGH für rechtens befunden wurde. Die Erziehungsziele, die sich aus dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip ableiten lassen, führen gerade zum gegenteiligen Resultat: Alle religiösen und kulturellen Werte und Praktiken sind Ausdruck der Ausübung der Freiheit; sie sollten in der Schule gleich behandelt werden; es sollte sichergestellt sein, dass sie der pluralen Wirklichkeit entsprechen; und dies würde dem Ziel dienen, dass die künftigen Bürger diese gesellschaftliche Pluralität im Wege ihrer Teilhabe auf den Staat übertragen. Die Frage der Erziehungsziele betrifft ja letztlich nicht nur die Frage, in welcher Gesellschaft man leben möchte, sondern auch, welchen Staat man sich wünscht. Die Erziehungsziele eines demokratischen Gemeinwesens verlangen vom Staat eine multikulturelle Neutralität, keine politische. Bereits im Jahre 1976 stellte der EGMR dies zu Recht fest: Der Staat soll eine „objektive, kritische und pluralistische“ Erziehung sicherstellen.102 Nur auf diese Weise kann das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäß ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen, garantiert werden.103 Das Erfordernis der „objektiven, kritischen und pluralistischen Erziehung“ ist allerdings nicht erfüllt, wenn das Kruzifix (als Ausdruck einer bestimmten kulturellen und religiösen Tradition) obligatorisch in den Schulen aufgehängt wird und so den Schülern seinen symbolischen Gehalt auferlegt.104 Konsequent stellte der EGMR, wie bereits erwähnt, in seinem ersten Lautsi-Urteil fest, dass es „schwer einzusehen [ist], wie das Auf hängen eines Symbols, das mit dem Christentum verbunden ist, zum für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft so wichtigen Erziehungspluralismus beitragen könnte.“105 Für diese Erwägung ist auch die in seinem zweiten Lautsi-Urteil begründete Differenzierung irrelevant, ob das Kruzifix als ein aktives oder (nur) passives oder als ein religiöses oder (nur) kulturelles Symbol anzusehen ist. Das unter dem Blickwinkel des multikulturellen Neutralitätsmodells Entscheidende ist, dass das ständige und obligatorische Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern – gleich ob man es als religiöses oder als kulturelles Symbol einordnen   EGMR (Fn.  28) – Kjeldsen, Busk Madsen and Pedersen v. Denmark.   Art.  2 ZP I zur EMRK, Art.  14 Abs.  3 EuGrCh. Ferner (aus den nationalen Verfassungen) Art.  6 Abs.  2 GG und Art.  27 Abs.  3 der spanischen Verfassung. 104  Vgl. Peter Badura (Fn.  5 ), S.  36; Steffen Detterbek, „Gelten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch in Bayern?“, NJW (1996), 426 (427 ff.). 105   EGMR (Fn.  2 ) – Lautsi, Rdnr. 56. 102 103

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möchte – die Überzeugung der Schüler formt, indem es den Eindruck erweckt, die mit ihm verbundenen Werte seien die einzig gültigen und richtigen in der Gesellschaft.106 Vor dem Hintergrund des oben Gesagten bedeutet dies gerade nicht, dass es dem Staat verwehrt wäre, die existierenden kulturellen und religiösen Traditionen auch in der Schule zu vermitteln und weiterzugeben. Ganz im Gegenteil: Die multikulturelle Neutralität verlangt vom Staat, die gesellschaftliche Heterogenität und Pluralität möglichst umfassend widerzuspiegeln. Das Auf hängen des Kruzifixes in den Klassenzimmern könnte also den Anforderungen der multikulturellen Neutralität entsprechen, wenn der Staat seinen Inhalt gegenüber den Schülern relativiert, so dass sich die mit ihm verbundene Überzeugung nur noch als eine von mehreren möglichen religiösen / kulturellen Überzeugungen dartellt. Entscheidend ist, dass den Schülern klar wird und ist, dass auch andere Überzeugungen existieren und wählbar sind. Die Frage ist nun, wie sich diese Relativierung erreichen lässt.

b)  Die multikulturelle Neutralität und der demokratische Gesetzgeber. Die Kruzifix-Frage als Tatsachenproblem Natürlich ist es wichtig, die rechtlichen Vorgaben zu den staatlichen Kompetenzen im Erziehungswesen herauszuarbeiten, um entscheiden zu können, wozu der Staat befugt und was ihm verwehrt ist. Dies ist eine der vornehmsten Aufgaben der Rechtswissenschaft. Allerdings ist es nicht immer möglich, diese rechtlichen Vorgaben in abstracto herauszuarbeiten; so ist insbesondere die Frage der multikulturellen Neutralität in der Schule in erster Linie eine Tatsachenfrage.107 Multikulturelle Neutralität bedeutet, die plurale gesellschaftliche Wirklichkeit in der Schule widerzuspiegeln. Was dies im konkreten Fall bedeutet, hängt deshalb entscheidend von der gesellschaftlichen Wirklichkeit dieses Falles ab. Es ist die Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers, zu entscheiden, wie sich die multikulturelle Neutralität in Schule – unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Wirklichkeit – am besten realisieren lässt. Der (Verfassungs-)Richter hingegen sollte nur kontrollieren, ob der Gesetzgeber dabei eine möglichst „objektive, kritische und pluralistische“ Erziehung sicherstellt. Natürlich wäre es lobenswert, würde der Gesetzgeber versuchen, alle religiösen und kulturellen Traditionen der Gesellschaft in der Schule zu vermitteln. Dies ist jedoch eine realitätsferne Vorstellung108 , die auch vom EGMR zurückgewiesen wurde.109 Der Gesetzgeber verfügt über eine margin of appreciation dahingehend, welche Traditionen und in welcher Weise sie den Schülern vermittelt werden sollen.110 Konsequent sollte sich der Gesetzgeber in einer stark multikulturellen Gesellschaft dafür entscheiden, das Kruzifix im Interesse der Wahrung des gesellschaftlichen

  BVerfG (Fn.  3 ) – Kruzifix, Rdnr. 39.  Vgl. Huster (Fn.  31), S.  239 ff.; Pieroth (Fn.  28), S.  949. 108  Siehe Huster (Fn.  31), 93. 109   EGMR, Beschw. Nr.  1474 / 62, 1677 / 62, 1691 / 62, 1769 / 63, 1994 / 63, 2126 / 64 – Belgian linguistic case. 110  Siehe Pieroth (Fn.  28), 953; Walter (Fn.  9 ), S.  675 f. 106 107

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Friedens nicht in der Schule aufzuhängen.111 Vielmehr sollten die religiösen und kulturellen Traditionen in solchen Gesellschaften „objektiv, kritisch und pluralistisch“ dargestellt werden. Man könnte aber diese Traditionen den Schülern sogar als Religion vermitteln, sofern dabei die Rechte und Interessen der jeweiligen Minderheiten gewahrt werden.112 In einer religiös / kulturell verhältsnimäßig homogenen Gesellschaft hingegen ist das Auf hängen des Kruzifixes mit der multikulturellen Neutralität vereinbar, wenn nur die jeweiligen Minderheiten jederzeit verlangen können, dass das Kruzifix abgenommen wird. In diesem Fall geht e also weder um die Dominanz der Mehrheit gegenüber der Minderheit, noch um die Dominanz einer Minderheit gegenüber der Mehrheit, sondern um die demokratische Funktion der Erziehung: Wenn die christlichen Schüler sehen, dass das Kruzifix auf Ersuchen der Minderheit abgenommen werden muss, werden sie verstehen, dass auch andere religiöse und kulturelle Überzeugungen existieren und wählbar sind. Die Wahl zwischen diesen Handlungsalternativen hängt letztlich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Homogenität oder Heterogenität) ab und ist – zumindest in erster Linie – keine (abstrakte) Rechts- sondern eine Tatsachenfrage.

5. Zusammenfassung Die Kruzifix-Entscheidungen des EGMR und einiger europäischer Verfassungsgerichte haben ein schwieriges Dilemma im Hinblick auf das Zusammenleben und den Zusammenhalt in den multikulturellen Gesellschaften in Europa aufgeworfen. Dabei wurden von den Gerichten zwei völlig verschiedene Lösungswege eingeschlagen: Im ersten Lautsi-Urteil des EGMR aus dem Jahre 2009 wie auch bereits zuvor im Kruzifix-Beschluss des BVerfG (1995) wurde im Kruzifix in den Klassenzimmern staatlicher Schulen eine Verletzung der staatlichen Neutralität gesehen, da dieses eine bestimmte religiöse Überzeugung privilegiert. Im zweiten Lautsi-Urteil des EGMR, das dessen Große Kammer im Jahre 2011 fällte, sowie im nur kurz zuvor ergangenen Erkenntnis des österreichischen VfGH hingegen wurde das Kruzifix nicht als Beeinträchtigung der religiösen Neutralität des Staates begriffen, sondern als ein Ausdruck der westlichen Kultur. Das hiermit aufgeworfene juristische Dilemma gründet letztlich in zwei verschiedenen Verständnissen von Neutralität: einerseits einem multikulturellen Neutralitätsverständnis, wonach vom Staat zu verlangen ist, dass er auch in der Schule die volle Pluralität und Heterogenität der Gesellschaft abbildet und verwirklicht; und andererseits einem politischen Neutralitätsverständnis, wonach vom Staat zu fordern ist, dass er die Überzeugung der jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheit in der Schule unterrichtet (was im vorliegenden Kontext mit dem Begriff der „christlich-abendländischer Kultur“ ausgedrückt wurde). Das Dilemma hat seinen Grund ferner darin, dass in der überwiegenden Mehrheit der Rechtsordnungen in Europa – sei es auf 111   Der Schulfriede wurde auch vom EGMR als Grund für die Ablehnung des Auf hängens religiö­ser Symbole anerkannt, so in EGMR, Beschw. Nr.  4 4774 / 98 – Leyla Sahin v. Turkey, Rdnr. 115. 112   Aus der Rechtsprechung des EGMR, siehe EGMR (Fn.  28) – Hassan Eylem Zengin v. Turkey; EGMR (Fn.  28), Folgero v. Norway; und aus der Rechtsprechung des BVerfG, siehe BVerfG, BVerfGE 52, 223 – Schulgebet.

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nationaler Ebene oder auf supra- oder internationaler Ebene – die Ziele der Erziehung nicht rechtlich geregelt sind. Deshalb muss man sie in all diesen Rechtsordnungen dogmatisch rekonstruieren, um sie als Hilfe zur Auslegung der einschlägigen Normtexte verwenden zu können. In einem demokratischen Gemeinwesen sollten Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und Teilhabe die Ziele sein, auf welche hin die Erziehung auszurichten ist, da sie als demokratische Erziehungsziele den Prinzipien der Pluralität und der Heterogenität entsprechen. Dies bedeutet aber, dass der Staat in der Schule eine multikulturelle Neutralität zum Tragen bringen sollte. Dies wiederum bedeutet aber nicht, dass der Staat nicht auch weiterhin die verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen in der Schule gestatten dürfte. Denn das juristische Dilemma, das sich in den europäischen Rechtsordnungen aus dem Gegensatz zwischen einer „Erziehung im Geiste des Multikulturalismus“ und einer „Erziehung nach Maßgabe der westlichen kulturellen Tradition“ ergeben hat, existiert in dieser Extremform eigentlich gar nicht, da zwischen diesen beiden Erziehungsidealen kein absoluter Gegensatz besteht. Denn die multikulturelle Neutralität ist nicht mit absoluter Neutralität gleichzusetzen (dies entspräche der radikalen Neutralität, welche aber in Europa nicht akzeptiert ist). Eine solche absolute, d. h. radikale Neutralität würde jegliche Vermittlung religiöser und kultureller Werte und Prinzipien verbieten und folglich nur Unterricht, nicht aber Erziehung gestatten. Die multikulturelle Neutralität hingegen verlangt nur eine Relativierung der religiösen und kulturellen Traditionen, die in der Schule auftreten – oder in den Worten des EGMR: Diese Traditionen sollen in einer „objektiven, kritischen und pluralistischen“ Weise vermittelt werden. Dabei verfügen der Staat und sein demokratischer Gesetzgeber über eine margin of appreciation im Hinblick auf die Art und Weise, wie die multikulturelle Neutralität in der Schule realisiert werden kann. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Verwirklichung der multikulturellen Neutralität entscheidend von der faktischen Heterogenität oder Homogenität der jeweiligen Gesellschaft abhängt. Während man in einer heterogenen Gesellschaft erwarten kann, dass kein Kruzifix aufgehängt wird, sollte dies in einer homogenen Gesellschaft kein Problem darstellen, sofern nur eine bestimmte Anzahl an Schülern oder Eltern dessen Entfernung beantragen kann. Die multikulturelle Neutralität verlangt lediglich, dass auch andere kulturelle und religiöse Überzeugungen möglich und wählbar sind. Wie dieses Ziel zu erreichen ist, sollte dem demokratischen Gesetzgeber überlassen bleiben. Die Frage, ob das Kruzifix an die Wand der Klassenzimmer staatlicher Schulen darf, ist deshalb nur teilweise eine Rechtsfrage: Es ist teilweise auch eine Tatsachenfrage, nämlich eine Frage der sozialen Wirklichkeit in der jeweiligen Gesellschaft.

European Identity, Citizenship and the Model of Integration* by

Francisco Balaguer Callejón Professor of Constitutional Law at the University of Granada and Jean Monnet Professor ad personam of European Constitutional Law and Globalisation

1. Introduction The question of European identity will be examined by considering three key points. The first of these consists in determining if European integration is necessary. The recent economic crisis has generated a paralysis in the process of integration, which has put into question the viability of the European project. As such we have to ask ourselves if it makes sense to follow the European integration project as a prior step to analyse whether it is possible to construct a European identity that for now does not exist1. The second question that we have to consider is whether the current model of integration is compatible with the building of a European identity. As such, if it will be possible to shape a European identity through a model of integration that is already more than fifty years old and that could be regarded as a factor, which hinders its very construction. The third question attempts to settle whether it is possible to advance the building of European identity without altering the current model of integration. Or on the contrary, if substantial change is needed for the model that has been in place until now. *   Translation from Spanish to English by Helen Kerr, revised by the Author. Lecture given at the Conference Citizenship and Solidarity in the EU – from the Charter of Fundamental Rights to the Crisis, the State of the Art, organized by Alessandra Silveira in the Universidade do Minho, Campus de Gualtar (Portugal) in May 2012. The Acts of the conference will be published in Portugal under the same title. 1   As Gustavo Zagrebelsky indicates, “La verità è che l’identità, come la legittimità, è qualcosa che si esperisce silenziosamente e che, quando in proposito ci si interroga espressamente, ciò significa che non c’è più e che deve essere costruita, come un compito, e non può semplicemente essere appresa come un dato”, G. Zagrebrelsky “La identidad europea”, Spanish version by Juan Francisco Sánchez Barrilao. Revista de Derecho Constitucional Europeo, no. 12, July – December 2009 in: http://www.ugr.es/~redce/ REDCE12/articulos/01Zagrebelsky.htm.

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Finally, we have to consider the kind of configuration of identity that is necessary and possible for Europe. The type of model of integration that would make this viable must also be considered.

2.  Is European integration necessary? This is a question that cannot be solved by looking solely at the past, which takes into account the positive contributions of the integration process. Nor can it be achieved by considering the current situation, which has been conditioned by an economic crisis that is generating growing scepticism amongst European citizens. Many of the problems that the European Union currently faces derive from a model of integration that is inadequate and insufficient for the needs of the European project in the twenty-first century. We have to remember that the last important reform that was formalised through the Lisbon Treaty was designed for a Europe in the year 2000 rather than a Europe at the end of 2009 when the Treaty came into force. In the context of globalisation this delay of ten years has been exacerbated. The response to the question of whether European integration is necessary should look to the future; to the development of globalisation in the coming years and the geopolitical changes that it is going to provoke in the world. In this context, it is clear that there are no alternatives to supranational integration, though there are alternatives within supranational integration models that could be implemented. In reality, supranational integration in Europe has been propelled since the beginning of the globalisation process. It may be said that it has been configured as a response to the first developments of the second stage of globalisation, which began around the fifties in the twentieth century. However, this response is inadequate and insufficient to cope with the development of this process. Supranational integration is a natural response to globalisation. Small and medium – sized nation States must group together to confront this process. They cannot be limited to concerting actions and developing lines of cooperation, because state power is less and less relevant in the decision-making process at national and international level. It is not only multinational companies that influence state policies, which was the case forty or fifty years ago. It is also financial speculators who decide by means of their economic power the orientation of policies in the internal sphere. It is comprehensible, therefore, that the processes of supranational integration may be impelled as a result of the need to gain economic size in order to respond to the pressures of these global actors. If we take into account the way in which the new world order is taking place, there will be few States that can avoid the need for supranational integration in the future2 The majority of the States, including those that have an important territorial dimension, are not going to have a sufficiently strong 2   Cf. my work, “Federalismo e integração supranacional. As funçoes do Direito constitucional nos processos de integração supranacional no contexto da globalização”, in Paulo Roberto Barbosa Ramos (Org.) Constitução e federalismo no mundo globalizado, EDUFMA, São Luis, 2011, pp.  24–47; See also Chapter 1, “El Derecho Constitucional de la integración supranacional” in Francisco Balaguer Callejón (Coordinador), Gregorio Cámara Villar, María Luisa Balaguer Callejón, José Antonio Montilla Martos, Introducción al Derecho Constitucional, 1st edition, Tecnos, Madrid, 2011, pp.  27 et seq.

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enough economic leverage in order to act as important actors in the adoption of decisions on a global level. It is clear that the future development of this process cannot be predicted but we can advance a constant and progressive way of increasing the wealth of emerging countries, which are closing the gap with the more economically developed countries. In fact, the current economic crisis has heavily reduced these differences3 to the point that every year predictions change in respect to the time that is needed for emerging powers to assume the top positions in global leadership. In effect, an example of the acceleration of the process can be observed through the predictions made with respect to the changing position of the emerging countries in the context of the global economy. Of pertinent value is the case of China. In four years China has moved from being the fourth global power to the second – overtaking Germany (in 2007) and Japan (in 2010). China has also succeeded Germany to become the number one exporting power (in 2009). In just five years the prediction concerning when China will surpass the United States as the biggest global power has been reduced by more than thirty years. In 2006 it was predicted that it would take place in 2050. In 2008 the date was reduced to the year 20254. More recent figures indicate that it will happen before 2020 if we take into account the GDP in terms of PPP5. The same may be said in keeping with the seven principle emerging countries6 (that will surpass to the G7 countries by 2020 if we take into account the GDP in terms of purchasing power parity)7. For its part the United States will not only yield its global position as first place to China but also by 2050 will lose second place to India, or will be very close to losing it depending on the means of measurement that we use8. Furthermore, we should take into account that China will not only overtake the United States as the leading economic power but could acquire an economic dimension superior than 57% than that of the United States by 20509. This means that the 3   As such, in the Report “The World in 2050. The accelerating shift of global economic power: challenges and opportunities”, PricewaterhouseCoopers January 2011, it indicates that the global financial crisis has accelerated the change in the position of global economic power in favour of the emerging economies. Cf. “The World in 2050”, p.  3, in http://www.pwc.com/gx/en/world-2050/the-accelerating-shift-of-global-economic-power.jhtml. 4   Therefore, according to the PWC Report released in March 2006, in 2050, the Chinese economy could represent 95% of the size of the American economy if the GDP of market prices is measured and if it exceeds 40%, if it is measured in terms of purchasing power parity. Cf. the Report, “The World in 2050. How big will the major emerging market economies get and how can the OECD compete?”, PricewaterhouseCoopers, released March 2006, p.  4 in: http://www.pwc.com/gx/en/world-2050/ pdf/world2050emergingeconomies.pdf. Only two years later, in the Report by PricewaterhouseCoopers updated in March 2008, “The World in 2050. Beyond the BRICS: A broader look at emerging market growth prospects” it has moved forward to the year 2025 the prediction that China will overtake the United States, taking into account the GDP in terms of purchasing power parity, cf. p.  2 in: http://www.pwc.com/gx/en/world-2050/pdf/world_2050_brics.pdf. 5   Cf. the Report, “The World in 2050. The accelerating shift of global economic power: challenges and opportunities”, January 2011, cit., pp.  3, 9 et seq. 6   The E7 are: China, India, Brazil, Russia, Indonesia, Mexico and Turkey. 7   United States, Japan, Germany, France, United Kingdom, Italy and Canada. 8   Cf. the Report, “The World in 2050. The accelerating shift of global economic power: challenges and opportunities” cit., pp.  3, 8 & 13. 9   37% if we measure the GDP in terms of market prices and not purchasing power parity. Cf. the

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leadership of China will be of huge relevance if we take into account not only economic considerations, but also demographic and territorial ones. The centre of gravity of the world will shift towards Asia, having been displaced from the Euro-American axis. From a constitutional point of view, this transformation can have a significant impact because of the way in which the community of values exists between European and American constitutionalism; values that are completely absent in China where there is no constitutional or democratic system in place. On the other hand, the position of these countries on a scale that is ordered on economic power is not the only figure that should be of relevance. There are also important differences in the economic weight in each of these countries. For example, the three leading powers of 2050 (China, India and the United States) will come to acquire 50%, in place of 40% of the gross world product that they currently represent. The next country with this dimension will be Brazil, but the fourth global economy will only have 25% of the GDP of the third (United States) that will, in terms of economic relevance, be very inferior to China. There will therefore be a significant gap between the economic (and demographic) power of China, India and the United States and the rest of the States of the world, regardless of what their international ranking is in the global economic scale10. For Europe this will mean a complete loss of relevance on a global level if the process of supranational integration does not intensify. Only a united Europe will be able to acquire an economic dimension comparable to that of each of the three leading powers; China, India and the United States11. This may be somewhat difficult. It is suffice to think that Germany, the number one European power (and since not too long ago, third world power) will be eighth or ninth on the global scale. Even Turkey, which at present is encountering difficulties joining the European Union, will have an economy that is similar, from the point of view of the GDP of Germany, the United Kingdom or France, and will overtake Italy in terms of economic size12. It is foreseeable, therefore, that the process of supranational integration in Europe will intensify as the development of new processes of integration in other regions is expected, or the enlargement and reinforcement of those that already exist. The countries that do not integrate in regional structures are going to have difficulties in the struggle for natural resources, (in particular, energy resources) and in the defence of their economic spaces. This could mean that European countries that do not advance in political integration will face a decline in their economic situation and a greater difficulty in the redistribution of resources and the implementation of social policies. European integration, therefore, is not only necessary but it will have to Report “The World in 2050. The accelerating shift of global economic power: challenges and opportunities”, cit. p.  19. 10   Cf. the Report, “The World in 2050. The accelerating shift of global economic power: challenges and opportunities” by PricewaterhouseCoopers updated January 2011, cit., pp.  9, 13 & 18, in: http://www.pwc.com/gx/en/world-2050/the-accelerating-shift-of-global-economic-power.jhtml. 11   According to the Report mentioned in the previous note, p.  18: “The EU economy might be of broadly comparable scale to these Big 3 economies in 2050, but only if it acts as a single entity, which will always be challenging for a union of 27 member states. Individual EU member states will inevitably be much smaller than any of the Big 3 by 2050”. 12   Ibid, pp.  13 & 18.

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intensify by means of a new model (a federal one) if the European countries want to be able to face the challenges that the process of globalisation raises.

3.  Is the building of a European Identity compatible with the current model of integration? At a minimum, we will have to respond to this question in the sense that it is more difficult to form a European identity with the current model of integration. In fact, we can even say that it will be impossible if this model persists in the future. That is not to deny that in many ways European integration has been positive until now. However its genetic configuration, that still exists today puts a brake on the construction of a European identity and a political community. In effect, an overview of more than fifty years of integration enables us to show some of the benefits that, from a constitutional point of view, it has facilitated. For example, the fact that the European States have combined their strengths in order to confront the process of globalisation, constituting an economic power with the capacity to face this process since its initial development, establishing limits for large multinational companies, that could have been acting with a greater margin of manoeuvre in each one of the national markets of the Member States and that fortunately have seen their power stalled on many occasions by the European institutions. From this perspective, it can be said that European integration has served as an instrument of control for the agents of power that act on a global level, in the same way that it has done so in relation to their own national political processes. With respect to these processes, the European Union today is a guarantee against political regression, although not always, lamentably, against antidemocratic attitudes that infringe the principles that inspired European integration. Nevertheless, due to the inadequate techniques used in the integration process, there are dysfunctional aspects of the control of power and the guarantee of the rights that can be observed, from the point of view of constitutional law and democracy. The main reason that explains why integration and constitutional law have so far followed divergent paths has been the functionality that the integration process has had for European States allowing them to decide together in Europe and without submitting to constitutional control established by internal constitutions13. In effect, political decisions adopted in Europe cannot be subjected to internal political control because they correspond to European competencies. But there does not exist yet a developed public European sphere that could make a European space equivalent to the one performed in the national public arena. The result has been the deactivation of the historical function of constitutional law in the European level: the control of political power, by means of constitutional instruments.

13   Cf. my work “Le Corti Costituzionali e il processo di integrazione europea” Italian version by Angelo Schillaci, in AAVV, Annuario 2006 – La circolazione dei modelli e delle tecniche del giudizio di costituzionalità in Europa, Jovene Editore, Napoli 2010, pp.  257–308.

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In addition, the second historical function of constitutional law has been deactivated: the articulation of social conflict14. Indeed, social conflict suffers an essential transformation when social interests pass to the European level. This is such because state mediation on European questions provokes the conflict between majority and opposition – which is inherent in any modern democratic society – will disappear. In European matters the social conflict turns into a national conflict against Europe15 and in this way it demands a simulated unity that impedes the contraposition of interests and pluralism. In front of Europe the government in turn raises the banner of national interests, in a way that does not leave room for the expression of alternatives like those that are manifested in the internal democratic process. In this way the national governments have managed to do something that their own democratic system does not accept: the exercise of power without responsibility. At the same time, and in keeping with this acquired capacity, such governments demand from citizens an unconditional backing for their European policies that are considered to be policies of national interest and because of that are left out of discussion. In the end the political conflict is not resolved, at least by democratic means, as before supranational integration. Instead the conflict becomes a national one against Europe and disappears at domestic level. It is evident that this way of understanding the process of integration that has inspired it until now, is not Europeanist in a profound sense, because it strives to attribute to Europe all the negative aspects of public policies, in a such a way that every time they put into action unpopular programmes, the responsibility of the national governments is diverted to the European institutions. In this way, the building of a European identity is hindered, because the relationship with Europe is manifested by way of a tension that ends up reinforcing national identity and weakening European identity. This genetic shaping of the process of integration has aggravated its deficiencies as a consequence of the recent economic crisis. It has shifted the democratic deficit from European level to the internal constitutional systems of some of the Member States. In effect, States such as Spain, Italy, Portugal or Greece are subjected at present to an economic pressure that has practically suppressed the value of pluralism in which they 14   This assumes, as Carlos de Cabo indicates, the destruction of “a definitive element of the Constitution: the dialectics of the Constitution, that is to say, its capacity to shelter conflict. An authentic constitutionalisation of Europe, on the contrary, as well as generating a “reconstitutionalisation of the States”, which would assume that “it will move to the European ambit that which is characteristic of the Constitution and of the constitutional system: understanding social integrity, which assumes the capacity to integrate in the European Constitution what has been called: dialectics of the Constitution: the capacity of the Constitution to shelter the conflict and this case, admit the possibility of new “Pact” forms, of the reformulation of a new social Contract, that the current crisis seems to demand, that was in its moment, as said at the beginning, basic in order to establish the foundations of a European constitution so that it should include in the “constitutional traditions” of Europe and it is maintained in the constitutions that still prevail in the social State”, C. De Cabo Martín, “Constitucionalismo del Estado social y Unión Europea en el contexto globalizador” Revista de Derecho Constitucional Europeo, no. 11, January-June 2009, pp.  31 & 47. Also available in the Internet in: http://www.ugr.es/~redce/. 15  Cf. my work “Diritto e giustizia nell’ordinamento costituzionale europeo”, Italian version by Angelo Schillaci in Giustizia e diritto nella scienza giuridica contemporanea, a cura di Antonio Cantaro, G. Giappichelli Editore, Torino, 2011, pp.  31–49. Spanish version in ReDCE no. 16, July-December 2011: http://www.ugr.es/~redce/REDCE16/articulos/07FBalaguer.htm.

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have based their constitutional systems until now, impeding any democratic alternative to economic policies that are imposed by the states with the best economic situation in the Eurozone16. In this way, the image of Europe is decomposing in the majority of the Member States because the democratic arrangement based on the contraposition between majorities and opposition, that is part of European constitutional culture is not only absent in the European sphere but also in the national public arena. Like a contagious disease, the democratic deficit has extended to the national level, producing the end of alternative policy options and establishing a perverse system of the imposition of economic policies that do not match the competencies of the EU nor follow the procedures established in the Treaties, but by informal means and through the pressure of second-level European authorities. This situation does not derive from the crisis, but from the absence of real democratic structures in Europe that had allowed options for economic policies to be decided for European citizens as a whole on the basis of pluralism instead of determined by leaders of countries that impose unilaterally their political positions on all of Europe. The result is that a great number of Europeans cannot identify with policies which they have not decided and that seem imposed from the outside, weakening more and more the European project.

4.  Is it possible to advance in the building of European identity without modifying the model of integration? One of the problems that arise in relation to shaping a European identity is that it has tried to be promoted in a purely formal way, by means of activities of pro-European propaganda, destined for the public opinion and unrelated to the material factors that can contribute to building identity. The idea that European integration can develop along the parameters in which it has done until now and that this model of integration can make possible the development of a European identity doesn’t have much sense. In reality European identity cannot be separated, as it is intended to from the model of integration. Not only because the current model is not a promoting factor of European identity but because, in general, it is not possible to promote a feeling of identity for a project that is not previously defined or that is in contradiction with the cultural patterns in which political identity is based in the Member States. We need to take into account that right now we have dissociation between the constitutional culture of the nation State and the still early constitutional configuration of the European Union that in its current situation involves a loss of democratic quality in relation with the political power that the State previously exercised in the framework of national constitutional structures. A political power that now is exercised in a context that is not equivalent to the nation States, not only from an insti16   Cf. my work, “El final de una época dorada. Una reflexión sobre la crisis económica y el declive del Derecho constitucional nacional” in Estudos em Homenagem ao Professor J. J. Gomes Canotilho, Coimbra, Portugal, in print.

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tutional point of view, but from the perspective of the material conditions that make possible a democratic system. In effect, they are not political parties of European reach. They lack European mass media that could make possible a European public opinion, but in particular, there is no public European sphere based on the democratic division between majority and opposition. That is to say the problem of the European public sphere is not its incipient character that has barely been developed but rather its inadequate configuration derived from the model of integration that has been in place until now. A model based on the contraposition of national interests and not on the pluralist and democratic articulation of alternative policy options at European level. The question of democratic and constitutional deficit in the European Union is closely linked with that of identity. As Europe lacks democratic structures equivalent to nationals ones, it is not possible to forge a European attitude in citizens that could be capable of forming the basis of a specific identity. In accordance with European constitutional culture, citizens identify themselves with the public space in which they have the capacity to decide the government with their votes. And also by way of participation in the democratic processes that condition and orient state policies by means of the exercise of constitutional rights (demonstrations, meetings, strikes, freedom of expression, etc.). In the case of the European Union this is not possible because citizenship is practically absent in the European public sphere, where decisions are made through mediation by the Member State. This model means the reinforcement of national identity against Europe and impedes, in practice, the building of a European identity. In the European sphere there does not exist democratic alternatives but nationals ones, in this way it projects national identity as an inherent part of the European integration process. Thus, the transformation of the model of integration is a prerequisite for the construction of a European identity. It is necessary to adopt a democratic and constitutional model that facilitates the participation of European citizenship: the development of a decision-making sphere at European level and the configuration of alternatives of European scope in relation to the significant problems that Europe currently has.

5.  What model of integration does Europe need and what kind of identity is possible for the European project? a)  A Federal European model With regard to the first question the answer is very simple: Europe needs a model of integration based on democracy and constitutional law. This needs to be a model of integration that enables the fulfilment of the historical functions of constitutional law at European level: the control of power, the guarantee of rights and the channelling and articulation of political and social conflicts of fundamental rank. In my opinion this model can only be a federal model.

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It is not acceptable, therefore, to call for a European Sonderweg that is based on an asymmetric combination of federal structures in the juridical field and confederal ones in the political ambit, similar to which Europe has at the present time17. Nor is it acceptable to have forms of legitimating like the idea of the transference of representativeness that is behind multilevel constitutionalism theory18. This doesn’t mean to ignore the difficulties that the construction of a constitutional European order supposes without the existence of a structured political community19. However, starting from the combination of the incipient European constitutional sphere and the internal sphere20 of each Member State will it be possible to advance in the construction of Europe, generating the conditions that permit the configuration of a political community and of a European identity if reforms to intensify the process of integration and subject it to democratic and constitutional parameters are implemented 21. Certainly, we may talk about the material elements of a European Constitution before the Lisbon Treaty that have increased notably with its entry into force. For example, the Charter of Fundamental Rights of the European Union is the nucleus of an authentic European Constitution 22. However, a transformation of the structural components of the model of integration is needed to make possible the building of a European constitutional identity in the future. The elements of constitutional character that are today present in the European Union are not sufficient to define a material Constitution because it requires certain aspects which define an authentic constitutional regime. First, it lacks the systematic ambition that every Constitution has that makes possible the conforming of a constitutional order. Second, the material elements are absent that define a substantial 17   For Weiler, who does not assess this formulation in critical terms, in the European Union there exists a normative primacy (he calls it hierarchy) of European Law over the state, but not as such a hierarchy of authority or of real power; while primacy is constructed from top to bottom (Union above the States), the hierarchy of authority and of real power is constructed from bottom to top (States above the Union). In the end, the real power continues being the State, in which the Sonderweg Europe characterises its form and special identity: the combination of a confederal institutional order and a federal juridical order (cf. J. H. H. Weiler, “El principio de tolerancia constitucional: la dimensión espiritual de la integración europea”, Spanish version by Miguel Azpitarte Sánchez, in Francisco Balaguer Callejón (Coordinador), Derecho constitucional y cultura. Estudios en Homenaje a Peter Häberle, Tecnos, Madrid, 2004, pp.  107–108). 18   ‘The question “Does Europe need a Constitution” is not relevant, because Europe already has a “multilevel constitution”: a constitution made up of the constitutions of the Member States bound together by a complementary constitutional body consisting of the European Treaties “(Verfassungsverbund)”, Ingolf Pernice, “Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making revisited?”, in Common Market Law Review, 36, 1999. Electronic version available in: http://www.whi-berlin.de/documents/whi-paper0499.pdf, p.  707. 19   Cf. D. Grimm “Braucht Europa eine Verfassung?”, 1994, Spanish version: “¿Necesita Europa una Constitución?” Debats, no. 55, 1996. 20   Cf. on the interaction of the constitutional orders that already partially determine the actual constitution of every Member State that is now in part European and in part internal: P. Häberle, ¿Tienen España y Europa una Constitución?. Spanish version by Miguel Azpitarte Sánchez, with the Prologue by Angel López López, Fundación El Monte, Sevilla, 2004, also published in ReDCE, no. 12, July-December 2009. 21   Cf. my work, “Die europäische Verfassung auf dem Weg zum Europäischen Verfassungsrecht”, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Mohr Siebeck, Tübingen, Bd.  53, 2005, pp.  4 01–410. 22   Cf. my work, “A Carta dos Direitos Fundamentais da União Europeia”, Portuguese version by Mariana Rodrigues Canotilho, in Direitos Fundamentais & Justiça, n°  11 – Abr./Jun. 2010.

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constitutional order and that have to do with the real conditions that characterise a public democratic space. Thirdly, a developed European political community does not exist that – beyond the normative references of constitutional nature present in the European Union – shapes the foundation necessary to lay down a constitutional system. The inexistence of a political community is not only the reflection of a previously real situation in which social, economic, juridical and cultural conditions make the development of a common public sphere and the building of a European constitutional identity difficult. There are also objective factors of normative and institutional character that form part of the model of integration followed until now and that act as delaying elements of identity building. Finally, this model impedes the fulfilment of the functions that have been attributed historically to modern constitutionalism: controlling power, and channelling and resolving in a peaceful manner social and political conflicts. For this reason, the model of European integration has generated some structural conditions in which it makes it difficult to speak about a Constitution and constitutional identity to the extent that the existing material constitutional norms do not comply with the historical functions that correspond to all democratic Constitutions. These functions have been developed in modern constitutionalism in the framework of the State. Constitution and national State have been constructed as such in the last two hundred years like two images that have led to an inevitable identification that today we should question in the context of supranational integration and territorial decentralisation in Europe. Ultimately, the misgivings facing the idea of the constitutionalisation of Europe have been based on the fear that the European Union will end up becoming a Superstate. In this way, a model of supranational integration has been promoted that tries to offer an alternative to federalism. In my opinion, on the contrary, Europe should opt for federalism as a historically accredited instrument of integration of States in a common political project instead of the current model of supranational integration. A model that is ineffective at the functional level and that generates a loss of democratic quality in the Member States.

b)  A Constitutional identity articulated around the idea of citizenship With respect to the second question, relative to the kind of identity that is possible for the European project, it seems evident that there is no way of thinking about a national identity that substitutes that of the Member States. Indeed, identity is constructed on the basis of historical conditions that currently are not those that gave rise to the development of national identities23. We can talk about, therefore, a possible future European constitutional identity, but not that of a national European identity. However, even from the perspective of a European constitutional identity we have to consider which elements of this identity will no longer be operative because they 23  Cf. Habermas, ‘Geschichtsbewusstein und posttraditionale identität’, 1987, Spanish version by Manuel Jiménez Redondo, ‘Conciencia histórica e identidad postradicional’ in J. Habermas, Identidades nacionales y postnacionales, Tecnos, Madrid, 2007, pp.  83 et seq.

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are connected to a constitutional configuration linked to the origins of the constitutional modern state and to the national configuration of this kind of State24. From this perspective, the diversity of identities and values inherent in a pluralist and progressively multicultural society makes it difficult to appeal to concepts from religious, ethical or cultural origin to promote social integration amongst all sectors. The same could be said with respect to other concepts that continue to occupy a central place, for the inertia of their historical deployment in constitutional law, but which will barely serve to articulate citizens’ identities that we should build in current democratic society. This can be observed in the constituent power where some constitutions are already incorporating the concept of citizenship in order to make reference to the constituent subject that comes to accompany or to substitute other subjects such as the People or the Nation as constituent powers25. The concepts of the People or the Nation not only as constituent powers but also as holders of sovereignty can present difficulties in defining the nature of power that is exercised in constitutional systems. Both concepts appeal to a collective identity so that we can refer in a natural way to a homogeneous group with common interests and values. This historical idealisation has been bound with these concepts from their formulation as the core of modern constitutionalism that places the People or the Nation in the position of the absolute monarch but has never corresponded to reality. Naturally, the political value of these concepts is still present because they define collective identities that for many citizens are still essential for a political community. However, they are not concepts that make possible the integration of all the groups of the population that exist in European societies and are subjected, furthermore, to the tensions provoked by internal territorial manifestations of identity in many countries. The construction of a European constitutional identity can be founded, however, on the idea of a juridical status of citizenship that is compatible with national or territorial identities within Member States. The concept of citizenship has a clear projection of the future for the articulation of diverse constitutional spheres that coexist in Europe. Spheres with a substantial continuity derived from their constitutional nature because they define the rights of citizens. This continuity favours an interaction between them that can contribute to the development of a statute of rights more and more advanced. In essence, the concept of citizenship makes possible the conciliation of the political, territorial, cultural and religious identities of the citizens and an opening for the new constitutional experiences that are developing internally and externally of the State. It is, therefore, a concept with a projection of the future. This is not to say that it is a concept without problems and that it doesn’t present some incoherencies that may make its performance difficult. As a core concept of constitutional law citizenship is going to experience the repercussions of the transformations that are gener  Cf. Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, Spanish version by Manuel Jiménez Redondo, Facticidad y validez, Trotta, Madrid, 2005, p.  619 et seq. 25  Cf. Peter Häberle, “La ciudadanía a través de la educación como tarea europea”, in ReDCE, no. 4, July to December 2005, pp.  613–630. 24

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ated in the relationship between the different constitutional spheres. It will also be influenced by the process of globalisation and the social transformations that it generates. The effect of these processes should be the enlargement of the rights and freedoms of European citizens and also the extension of the concept of citizenship, breaking its historically restrictive configuration derived from its link with the formation of the nation State26. A concept of citizenship that should incorporate solidarity internally in the European States and in the conception of the role that Europe should develop in the international context to contribute to the reduction of damaging effects of the process of globalisation 27.

c)  A common juridical status of fundamental rights The construction of a European citizenship identity takes two essential lines: institutional reforms that enable the advancement of political integration, and the enhancement of democracy as well as the configuration of a common juridical status of fundamental rights for European citizenship. It is in this second line where the most significant advance has been produced through the Lisbon Treaty and the binding character of the Charter of Fundamental Rights of the European Union. It is a fundamental advancement because it assumes the incorporation of the citizen in the European sphere, while not yet in the strictly political sense, where it continues being the States that monopolise the adoption of decisions, at least in the juridical-political field of fundamental rights. Despite the political limitations on the European public sphere the Charter will contribute to the widening of a juridical citizenship space at European level, an ambit of discussion on European public policies and a powerful instrument of interpretation opened to European constitutional law28. The European 26   During the process of drawing up the Constitutional Treaty, the question of extending citizenship took a first step in relation to long-term residents. The proposal by the European Economic and Social Committee brought to the Convention, of dissociating citizenship and nationality to make possible the concession of citizenship to long-term immigrants without the necessity being nationals of the Member States, although it was not accepted in the end it can mark a future plan of action in this matter. Cf. the opinion of the EESC on 14th May 2003 concerning, “Access to European Union citizenship” in which the EESC “proposes to the Convention that Article 7 (Citizenship of the Union) be granted not only to nationals of the Member States but to all persons who reside on a stable or long-term basis in the European Union. Union citizenship will be additional to but will not replace national citizenship. In this way such persons will be European citizens and therefore equal before the law”. 27   In the Laeken Declaration it should be remembered here (December 2001) that there is a reference contained to “Europe’s new role in a globalised world” and it affirms, amongst other things that: “Now that the Cold War is over and we are living in a globalised, yet also highly fragmented world, Europe needs to shoulder its responsibilities in the governance of globalisation. The role it has to play is that of a power resolutely doing battle against all violence, all terror and all fanaticism, but which also does not turn a blind eye to the world’s heartrending injustices. In short, a power wanting to change the course of world affairs in such a way as to benefit not just the rich countries but also the poorest. A power seeking to set globalisation within a moral framework, in other words to anchor it in solidarity and sustainable development”. 28   P. Häberle, “Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten” (1975) and “Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß – ein Pluralismuskonzept” (1978), now in compilation by the same author, Die Verfassung des Pluralismus, Athenäum, Königstein/Ts., 1980, pp.  79 and 45, respectively.

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constitutional debate will pass from the theoretical to the tangible and it will be fuelled by the potential conflict inherent in the exercise of citizens’ rights. The Charter will establish a direct link between the European institutions and citizenship. This will reinforce the shaping of a juridical status of European citizenship and contribute to the configuration of a specific European constitutional identity. Naturally, the Charter cannot on its own change the model of integration, but it is a step in the right direction from the point of view of a different model based on constitutional and democratic parameters. The identity of the citizens of Europe in their national public spheres is articulated around a system of constitutional and democratic values. This system is an essential component of their identity that is manifested by way of an order of legitimate institutions, by means of which they can channel the integration of diverse social sectors. The symbols: the flag, the anthem, amongst others, contribute to the reinforcement of integration on the basis of a common project of coexistence29 in which fundamental rights have a central place. The Charter of Fundamental Rights of the European Union can assume an important role in the process of the democratisation and constitutionalisation of the European Union that also enables advancement in the construction of a European identity of citizenship. Especially if we take into account the progressive distancing of the citizens of the European institutions as a consequence of the chaotic development of the process of reforms of the last ten years, which culminated in the Lisbon Treaty. A Treaty that has moved away from European citizenship in its process of elaboration and also, unfortunately, in its text, removing Article 1.1 of the Constitutional Treaty Project through which the same Constitution and the European Union recognised its double source of legitimacy: the States and the citizenship of the Union30. This move away from citizenship has been extended as a consequence of the economic crisis and the incapacity of the European Union to establish economic policies that facilitate an adequate response to the pressure of financial speculators against the Euro. The imposition of political decisions decided by the States in better economic positioning than the rest of the Eurozone has contributed to the delegitimation of the Union from a democratic point of view and has provoked a limitation on pluralist democracy in the constitutional systems of some of the Member States impeding the possibility of alternatives. The Charter can be an important tool to regain part of the lost ground in the building of a European identity. Beyond the Charter, the change of the model of integration is now an urgent task for the consolidation of the European project in the context of globalisation.

29   Cf. Peter Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, Duncker & Humblot, Berlin, 2007 (2. Aufl. 2013). 30   Under the title of ‘Establishment of the Union’, Article 1.1 stated: ‘Reflecting the will of the citizens and States of Europe to build a common future, this Constitution establishes the European Union .  .  .’.

Die Europäische Union zwischen grundrechtlicher und demokratischer Freiheitsidee von

Dr. Jan Philipp Schaefer, Universität Heidelberg I.  Demokratische und grundrechtliche Freiheitsidee in Staat und Union Die Legitimation politischer Herrschaft ruht auf zwei Säulen: Demokratie und Menschenrechte. Im Politischen vereinigen sich zwei Freiheitsideen: demokratische und grundrechtliche Freiheit. Die Selbstherrschaft des Volkes1 ist Konsequenz der Selbstverwirklichung des Menschen. Demokratie und Menschenrechte sind das Passe­partout der politischen Rhetorik des 21. Jahrhunderts. Kein politischer Verband will sich ein „Demokratiedefizit“ nachsagen lassen. Keine politische Institution kann es sich erlauben, vor der Weltöffentlichkeit Menschenrechte zu missachten. Herrschaft erscheint nur legitim, wenn sie sowohl die Freiheit der Person respektiert als auch auf ein hinreichendes Partizipationsniveau zurückzuführen ist.

1   Abraham Lincoln brachte die demokratische Freiheitsidee am 19. November 1863 in seiner Gettysburg Address auf den Punkt: government of the people, by the people, and for the people. Vgl. daran anknüpfend das Republikprinzip in Art.  2 V der Verfassung der Fünften Republik vom 4. Oktober 1958: „Son principe est: gouvernement du peuple, par le peuple et pour le peuple“. Ziel demokratischer Freiheitsbetätigung ist – mit Konrad Hesse (K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1995, Rn.  137) – die „Herstellung überpersonaler Kontinuität“.

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Die grundrechtliche Freiheitsidee wird in der Europäischen Union 2 durch Unionsgrundrechte3 verwirklicht. Überdies gewährt jeder Mitgliedstaat Grund- und Menschenrechte gegen Akte seiner Hoheitsgewalt. Während Menschenrechte längst „universal“ in einem staatstranszendierenden Sinne sind (sogar mit der Entwicklung des humanitären Völkerrechts gegen Staaten durchgesetzt werden können), kommt die demokratische Freiheitsidee jenseits des Staates weniger deutlich zum Ausdruck, da es ihr auf Grund der engen Verknüpfung von Demos und Staat am Bezugssubjekt fehlt. Demokratische Legitimation spiegelt sich formal in der Gleichheit der Einwirkungschancen der Wahl- und Abstimmungsberechtigten, materiell in der Allgemeinheit des Gesetzes. Im humanitären Völkerrecht, aber zunehmend auch im Staatsrecht verbinden sich Demokratie und Menschenrechte zu einer materialen Demokratiekonzeption. Es wird also eine unauflösliche Beziehung zwischen dem Legitimationssubjekt als solchem – dem Volk – und den Individuen in ihrer Eigenschaft als Grundrechtsträger und Menschenrechtssubjekte postuliert. Die Grundthese aller materialen Demokratiebegriffe geht dahin, dass sich Demokratie als politische und soziale Ordnung nur in einem durch Grund- und Menschenrechte geprägten Freiheitskontext entwickeln kann. Folgt man diesem Ansatz, leisten menschenrechtliche und demokratische Legitimation einen gleichermaßen unentbehrlichen Beitrag zu einem insgesamt zufrieden stellenden Legitimationsniveau – zufrieden stellend, wenn und soweit Selbstbestimmung mit Selbstregierung einher geht4. Gleichwohl sind die aus Demokratie und Grundrechten entstehenden Legitimationsdiskurse unterschiedlich. Während die Grundrechte die Freiheit des Individualwillens zur Gestaltung der Lebensverhältnisse thematisieren, wirft die Demokratie Fragen von Mehrheit und Minderheit auf. Am Maßstab der Grundrechte legitimiert sich Staatsgewalt in dem Maße, wie sie die Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers respektiert und damit die Grundlage gelingender Selbstverwirklichung schafft. Grundrechte verlangen im äußersten Falle, wo der Persönlichkeitskern (die „Menschenwürde“) betroffen ist, Einstimmigkeit. Sie verleihen also dem Grundrechtsträger eine Vetoposition. In jedem Fall der Grundrechtsbetroffenheit ist der Freiheitseingriff rechtfertigungsbedürftig und kann nur durch die Rechte Anderer oder durch vorrangige Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt werden. Anders die Demokratie: Ihr 2   Wenn vorliegend von „Europäischer Union“ die Rede ist, schließt dies an die Definition des Bundesverfassungsgerichts an. BVerfGE 123, 267 (267, Leitsatz 1) charakterisiert die Europäische Union in Übereinstimmung mit BVerfGE 89, 115 (181, 188) als „Verbund“ und definiert diesen wie folgt: „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“. Hinzuzufügen ist, dass sich der „Staatenverbund“ der Europäischen Union durch eine Rechtsordnung sui generis mit unmittelbarer Geltung für den Einzelnen auszeichnet (EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, S.  3 (25)). Zu den Folgerungen, die sich aus dieser Konstruktion für das Demokratieprinzip ergeben: B. Grze­szick, Die Europäisierung des Rechts und die Demokratisierung Europas. Zu den genuin demokratischen Grenzen der Integration nach dem BVerfG-Urteil über den Vertrag von Lissabon in: DV Beiheft 10, 2010, S.  95 (96 f., 100 ff.). 3  Grundlegend: G. Nicolaysen, Die gemeinschaftsrechtliche Begründung von Grundrechten, EuR 2003, S.  719 ff. 4   C. Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, §  33, Rn.  2 .

Die EU zwischen grundrechtlicher und demokratischer Freiheitsidee

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Legitimationsbezug ist nicht das Individuum, sondern das Volk als überpersonales (die Summe der Individuen übersteigendes) Substrat des Staates. Voraussetzung demokratischer Legitimation ist das Erreichen einer Mehrheit innerhalb des jeweils relevanten Bezugssubjekts.5 Die Union ist in einer Weise organisiert, die Diskurse über Mehrheit und Minderheit in den Mitgliedstaaten, grundrechtliche Fragen jedoch zunehmend auf gesamteuropäischer Ebene verortet. Diese Ungleichgewichtung wird sichtbar in der hohen Regelungsdichte der Unionsgrundrechte einerseits und den nur groben Zügen des unionsrechtlichen Demokratieprinzips6 andererseits. Mit der Entdeckung des Demokratieprinzips als Rechtsnorm des Unionsrechts behauptet die Union eine strukturelle Kongruenz zu ihren Mitgliedstaaten, verfehlt aber mangels Staatscharakters – mit dem Verfassungsvertrag ist auch eine unionseuropäische Staatssymbolik vorerst begraben worden – unweigerlich diese selbst gesetzte Messlatte. Wird der Union folglich ein „Demokratiedefizit“ unterstellt, ist dies mindestens ebenso sehr die Konsequenz einer missglückten Wortwahl in den Vertragstexten wie echter Legitimationslücken. Richtig ist freilich, dass die Union noch in vielem vom Staat abweicht, aber gemessen am Umfang ihrer Kompetenzen und an der Anwendungsbreite ihres Rechts auf einer Skala zwischen Staatenbund und Bundesstaat letzterem nähersteht. Der Vertrag von Maastricht trug dieser Entwicklung Rechnung, indem mit der Unionsbürgerschaft ein an Staatlichkeit erinnerndes Institut in das Unionsrecht aufgenommen wurde7. Allerdings schafft auch insoweit – analog zur „Demokratie“ – die Begriffswahl der Hohen Vertragsparteien ganz eigene Probleme. In manchen Mitgliedstaaten, so auch in Deutschland, denkt, wer „Bürger“ hört und liest, an den Staat – mag auch die Assoziation zwischen Bürger und Staat weniger ausgeprägt sein als die zwischen Demos und Staat. Dass die Unionsbürgerschaft als eine von Staatlichkeit verselbständigte (nicht losgelöste, da sie gem. Art.  9 Satz 3 EUV, Art.  20 I 2, 3 AEUV zur Staatsangehörigkeit akzessorisch ist8 ) 5   Einstimmigkeit bzw. Vetorechte bewirken statt einer Gestaltung durch die Mehrheit eine Blockade durch die Minderheit, mithin Minderheitsherrschaft. So auch in der Union: Insoweit der Rat Mehrheitsentscheidungen trifft, agieren die in ihm versammelten Mitgliedstaaten analog zum demokratischen Entscheidungsmodus. Man kann sogar vertreten, dass sie unmittelbar demokratisch entscheiden, da sie ihre jeweiligen Völker repräsentieren. Insoweit eine Ratsentscheidung Einstimmigkeit voraussetzt, wird dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatengleichheit Rechnung getragen. Dieses aber schützt unter dem Mantel der Souveränität im Verhältnis zu anderen Staaten die Autonomie des Staates nach innen. 6   Der Europäische Gerichtshof hat das Demokratieprinzip schon früh als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt (EuGH, Rs. C-138/79 (Roquette Frères), Slg. 1980, S.  3333 (3360); Rs. C-139/79 (Maizena), Slg. 1980, S.  3393 (3424); Rs. C-300/89 (Titandioxid-Abfälle), Slg. 1991, S.  I-2867 (2900)). Dazu: M. Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S.  1069 ff. In dem Bestreben, die demokratische Legitimation der Union zu stärken (so die Präambel des Lissabon-Vertrags) stellt Art.  9 I 2, 3 EUV die Unionsbürgerschaft in einen Zusammenhang mit der „Gleichheit“, Grundlage des europäischen Gemeinwesens. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift – ursprünglich war eine Aufnahme der Unionsbürgerschaft in den novellierten EU-Vertrag nicht vorgesehen (C. Schönberger in: E. Grabitz / M. Hilf / M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2012, Art.  9 EUV, Rn.  6 ) – und der Wortlaut deuten allerdings an, dass die Unionsbürgerschaft nicht als Bestandteil des Demokratieprinzips anzusehen ist, sondern als dessen Komplement. 7   Zur politikwissenschaftlichen Diskussion des Maastrichter Vertrags: M. Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, PVS 37 (1996), S.  27 (28 ff.). 8   Die zentrale Vorschrift zur Unionsbürgerschaft Art.  9 I 3 EUV i. V. m. Art.  20 I 3 AEUV trifft mittelbar eine Aussage über das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Union. Die Union tritt zu den Staa-

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Citizenship gedacht wird, wird erst bei genauerer Lektüre der Art.   9 ff. EUV, Art.  18 ff. AEUV i. V. m. dem sachlich einschlägigen Sekundärrecht (insbesondere der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004) deutlich. Daran wird auch erkennbar, dass die Unionsbürgerschaft – abweichend vom ersten Assoziationsmoment – nicht der demokratischen, sondern der grundrechtlichen Legitimation zuzurechnen ist. Die aus dem Unionsbürgerstatus fließenden Rechte (dazu sogleich näher) vermitteln nicht die Teilhabe des Unionsbürgers am Demos seines Aufenthaltsmitgliedstaates. Das gilt selbst für das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament und zu den Organen kommunaler Gebietskörperschaften der Mitgliedstaaten. Die Herrschaftsgewalt der Kommunen ist auf territorial eng umgrenze Selbstverwaltungsaufgaben beschränkt und wird deshalb allenfalls von einem territorial umgrenzten, funktional definierten Ausschnitt des jeweiligen Staatsvolks legitimiert (wenn nicht sogar auf eine vom Staatsvolk gänzlich zu unterscheidende, auf die örtliche Selbstverwaltung beschränkte „Kommune“, Gemeinschaft der Angehörigen einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft, abgestellt werden soll). Die Legitimationswirkung der kommunalen Wahl- und Abstimmungsakte bleibt auf die lokalen oder regionalen Selbstverwaltungsaufgaben limitiert 9 und greift nicht in den Wirkungskreis der Staatsaufgaben über. Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament soll ausweislich der Art.  10 II 1, 14 II 1 EUV nicht auf einen europäischen Demos zurückführen, lässt sich aber auch nicht (wie noch die Vorgängernorm Art.  189 EG nahe legte) als Ergebnis einer kollektiven Willensäußerung der europäischen Demoi begreifen, da das Europaparlament ein Organ der Union und kein gemeinsames Organ der Mitgliedstaaten ist. Entscheidend für die Zuordnung der Unionsbürgerschaft zur grundrechtlichen Freiheitsidee ist ihre Akzessorietät zur nationalen Staatsangehörigkeit. Unionsbürger genießen nur deshalb besondere (politische) Rechte, weil sie zugleich Bürger eines Mitgliedstaates der Union sind. Dies unterscheidet den Unionsbürgerstatus wesentlich von der Bundesstaatsangehörigkeit10. Die Unionsbürgerschaft ist mithin nicht die Grundlage eines von den Mitten hinzu, ersetzt sie aber nicht. Der Staatscharakter der Mitgliedstaaten sowie deren Eigenschaft als Völkerrechtssubjekte bleiben bestehen. Darin unterscheidet sich der „Staatenverbund“ der Union wesentlich vom Bundesstaat. Da die Union ihre demokratische Legitimation von ihren Mitgliedstaaten bezieht, kann die demokratische Legitimation der Mitgliedstaaten nicht dahinstehen. Deshalb muss jeder Beitrittskandidat die Demokratie als Grundwert der Union achten (Art.  49 I 1 i. V. m. Art.  2 EUV); deshalb lässt Art.  7 III EUV für den Fall einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung insbesondere des Demokratieprinzips in einem Mitgliedstaat die Suspendierung z. B. des Stimmrechts im Rat zu. Zutreffend M. Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S.  1069 (1072 f.): „Sollte sich ein Mitgliedstaat von der Demokratie lösen, wäre es mit dem (unionsrechtlichen, d. Verf.) Verfassungsgrundsatz der Demokratie unvereinbar, ihn weiterhin an der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft (bzw. Union, d. Verf.) mitwirken zu lassen“. Die Mitgliedstaaten (so auch die Bundesrepublik auf der Grundlage der Art.  23 I 2, 24 I GG) zedieren ihre Hoheitsrechte nicht an die Union, sondern öffnen ihren Souveränitätsraum der vorrangigen Anwendbarkeit des Unionsrechts (H.-J. Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene im Lichte des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, EuR 1995, S.  21 (26)). Daraus folgt, dass primär die Öffnung des mitgliedstaatlichen Souveränitätsraums demokratisch zu rechtfertigen ist. Erst sekundär und ergänzend stellt sich die Frage nach der demokratischen Eigenlegitimation der Union. Ist diese aus welchen Gründen auch immer defizitär, besteht schon auf Ebene der Mitgliedstaaten ein Demokratiedefizit. 9   S.  d azu beispielhaft: BVerfGE 83, 37 (55). 10   Dass sich der Status des Unionsbürgers erheblich vom Status eines Staatsbürgers in einem Bundesstaat unterscheidet, wird besonders anhand der Freizügigkeitsrichtlinie deutlich, deren Art.  2 Ziff. 1 an

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gliedstaaten losgelösten Bürgerstatus11, in dem die Grundvoraussetzung für ein Unionsvolk gesehen werden könnte, sondern sie ist Quelle unionsweiter Grundrechtsberechtigung aller Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten.

II.  Exkurs: Vorüberlegungen zur Rechtskultur der europäischen Integration Die Unionsbürgerschaft bereichert die europäische Rechtskultur. Sie schafft eine den Stufen politischer Einwirkungsmacht im Mehrebenensystem12 „Europäische Union“ entsprechende gestufte Bürgeridentität13. Auch im Bundesstaat findet sich eine solche Identitätsstufung.14 Die Bundesstaatsangehörigkeit tritt allerdings nicht als Mehrfachstaatsangehörigkeit zum Bürgerrecht der Gliedstaaten hinzu, sondern überlagert die Gliedstaatsangehörigkeit. Schon weil mit der Akzessorietät der Unionsbürgerschaft ein grundlegend anderes Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Union besteht, wird diese durch Einführung der Unionsbürgerschaft nicht zum Bundesstaat. Überdies besitzt die Union im Unterschied zum Bundesstaat keine Befugnisse zur Regelung von Erwerb, Verlust oder Wiedererwerb der Statusrechte des Bürgers. Sichtbar wird der Unterschied der Bürgerschaftskonzepte von Union und Bund am die Akzessorietät der Unionsbürgerschaft anknüpft. Art.  6 I der Richtlinie gewährt den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen regelmäßig nur ein auf höchstens drei Monate begrenztes Aufenthaltsrecht in fremden Mitgliedstaaten. Selbst Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, kommen gem. Art.  9 der Richtlinie in den Genuss des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts. Konsequent die Folgeregelung des Art.  12 I der Richtlinie: Familienangehörige, die selbst Unionsbürger sind, besitzen ein eigenes Daueraufenthaltsrecht auch bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, sofern sie die Voraussetzungen des Art.  7 I der Richtlinie erfüllen. Drittstaatsangehörige Familienangehörige des Unionsbürgers besitzen im gleichen Fall gem. Art.  12 II der Richtlinie ein eigenes Aufenthaltsrecht erst nach Ablauf eines Jahres, ein Daueraufenthaltsrecht sogar nur, wenn sie darüber hinaus in eigener Person die für Unionsbürger geltenden Daueraufenthaltsvoraussetzungen erfüllen. Die Ausnahme eines längerfristigen Aufenthaltsrechts wird an die Voraussetzungen der Art.  7 ff. der Richtlinie geknüpft. Diese setzen insbesondere voraus, dass der Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständiger ist und über ausreichende Existenzmittel verfügt. Ein Daueraufenthaltsrecht steht dem Unionsbürger gem. Art.  16 I der Richtlinie erst nach fünf Jahren unbeschadet der Voraussetzungen der Art.  7 ff. zu (dann ist allerdings in den meisten Mitgliedstaaten die für eine Einbürgerung notwendige Mindestaufenthaltsdauer schon erreicht, anders allerdings in Deutschland gem. §  10 I 1 StAG). Eine Ausweisung des ausländischen Unionsbürgers bleibt grundsätzlich zulässig, wenn auch unter den erschwerten Voraussetzungen der Art.  27 ff. der Richtlinie. 11  Anders: A. Schrauwen, European Union Citizenship after the Treaty of Lisbon: any change at all?, Maastricht Journal of European and Comparative Law 15 (2008), S.  55 (60). 12   Der aus der Politikwissenschaft in die Jurisprudenz eingewanderte Begriff des „Mehrebenensystems“ soll die Unvergleichbarkeit der demokratischen und föderativen Strukturen der Union mit dem Staat verdeutlichen. Zu diesem und weiteren Strukturbegriffen: F. Decker, Demokratie und Demokratisierung jenseits des Nationalstaates, ZPol 10 (2000), S.  585 (599). 13   Zur Frage europäischer Identität: R. Elm (Hrsg.), Europäische Identität. Paradigmen und Methodenfragen, 2002; P. Magnette, How Can One be European?, ELR 13 (2007), S.  664; J. Nida-Rümelin / W. Weidenfeld (Hrsg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, 2007. Vgl. ferner die Beiträge von S.  Korioth und A. von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), S.  156 (168 ff.). 14   Ansatzpunkte in der Bundesrepublik ist z. B. Art.  6 Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 1946 und Art.  75 II Verfassung Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947.

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Beispiel der Schweiz sowie der USA. Gemäß Art.  37 Schweizer Bundesverfassung vom 18. April 1999 ist „Schweizerbürgerin oder Schweizerbürger (…), wer das Bürgerrecht einer Gemeinde und das Bürgerrecht des Kantons besitzt“. Ungeachtet dieser dezentralen Konstruktion weist Art.  38 Schweizer BV dem Bund die Regelungskompetenz bzgl. Erwerb und Verlust der Bürgerrechte sowie deren Wiedererlangung zu. Ferner regelt der Bund Mindestvorschriften über die Einbürgerung von Ausländern durch die Kantone und erlässt die Einbürgerungsbewilligung.15 Ähnlich wie das Schweizer ist das US-Bürgerrecht ausgestaltet. Zusatz-Art.  14 I 1 US-Verf. verbindet die Bundesangehörigkeit mit der Staatsbürgerschaft der Einzelstaaten. Der Bundesstaatscharakter tritt zunächst in Art.  1 VIII US-Verf. hervor, der den Kongress zur Schaffung einer einheitlichen Einbürgerungsordnung ermächtigt, sodann auch in Art.  4 II US-Verf., wonach die Bürger eines jeden Einzelstaates alle Vorrechte und Freiheiten der Bürger in allen anderen Staaten genießen sollen. Wenn sich auch die Unionsbürgerschaft nicht direkt auf die Souveränität der Mitgliedstaaten auswirkt, so erhebt sich doch die Frage nach den Implikationen eines Auf blühens der grundrechtlichen Freiheitsidee bei gleichzeitigem Mauerblümchendasein der demokratischen. Die Einführung der Unionsbürgerschaft mit dem Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 markiert nicht weniger als einen Paradigmenwechsel der europäischen Integration. Der Wandel vom „Marktbürger“16 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zum „Unionsbürger“ revolutionierte das dem Integrationsprozess zugrunde liegende politische Narrativ.17 Europäische Integration wurde nun nicht mehr primär vergangenheitsbezogen als Kriegsfolgenbewältigung und Strategie zur Verhinderung neuer europäischer Kriege interpretiert, sondern als Entwicklungspfad Europas zur „marktkonformen Demokratie“. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs hatte sich außerdem der kulturelle Schwerpunkt Europas vom romanischen Kulturraum nach Deutschland und Ostmitteleuropa verschoben.18 15   Ähnlich bereits die Vorgängerverfassung vom 29. Mai 1874. Deren Art.  43 I ist sinngleich mit Art.  37 I BV 1999. Art.  4 4 BV 1874 in den Fassungen vom 29. September 1928 und vom 4. Dezember 1983 ist ebenfalls sinngleich mit Art.  38 I, II BV 1999. 16   H.P. Ipsen / G. Nicolaysen, Haager Kongress für Europarecht und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, NJW 1964, S.  339 (340 f.). 17   Dabei soll nicht verkannt werden, dass die Marktbürgerschaft kein Aliud im Verhältnis zur Citizenship ist. Das moderne Bürgerkonzept hat auch eine ökonomische Komponente. Nachdem im Zuge der Französischen Revolution alle Standes- und Klassenunterschiede als Anknüpfungspunkte für die Zuteilung von Rechtspositionen nivelliert wurden, ist das Streben nach materiellem Wohlstand („pursuit of happiness“) ein Ausdruck persönlicher Freiheit. Bürgerschaftliche Gleichheit hat ein Teilhabeelement, das sich in der sozialen Dimension der Grundrechte widerspiegelt. 18   Diese kulturelle Dynamik kann am Vordringen des Englischen als lingua franca in der gesamten Union, aber auch an einer Anreicherung der ursprünglich stark an der französischen Rechtskultur ausgerichteten Judikatur des EuGH um Elemente aus der deutschen und britischen Rechtsdogmatik abgelesen werden. Auch im Stil nähert sich die Rechtsprechung der Union an mitteleuropäische und angelsächsische Gepflogenheiten an. Dies wird anhand der zunehmenden Bedeutung von Urteilsbegründungen sichtbar. Hatte der EuGH zunächst entsprechend der französischen Tradition als „bouche de la loi“ auch grundlegende Entscheidungen in apodiktischer Kürze abgehandelt, wird nunmehr auf ausführlichere Ableitungen Wert gelegt. Dazu: U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S.  127 (132 ff., 137 f.). Allerdings darf nicht verkannt werden, dass insoweit auch innerhalb der französischen Rechtskultur nach einem Wandel gerufen wird (Everling aaO, S.  134, Fn.  34). Der Eigenwert der Urteilsbegründung wird im deutschen Recht durch §  313 I Nr.  6, III ZPO besonders augenfällig.

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Freilich war dem Begriff des Unionsbürgers damit noch keine juristische Karriere garantiert. Da es der Union unstreitig an Staatlichkeit fehlte und immer noch fehlt, hätte man den Bürgerbegriff für einen rhetorischen Kunstgriff (oder Missgriff, je nach Sichtweise) der Hohen Vertragsparteien halten können. Folglich hätte er vielleicht politikwissenschaftliche Oberseminare beschäftigt, wäre aber juristisch und rechtswissenschaftlich bedeutungslos geblieben. Doch dazu war Hans-Peter Ipsens wirkmächtige Charakterisierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als „Zweckverband funktionaler Integration“19 zu provokativ. Der Maastrichter Vertrag wollte offensichtlich mehr: Unionseuropa sollte ein Verband selbstzweckhafter Identifikation mit einer von den Mitgliedstaaten getragenen europäischen Wertegemeinschaft sein. Das Bundesverfassungsgericht fand bald darauf in seinem Maastricht-Urteil die hierfür passende staatsrechtliche Vokabel: ein „Staatenverbund“20. Der „Staatenverbund“ ist die äußere Seite einer dem europäischen Vertragsrecht immanenten objektiven Wertordnung. Verstand man den spezifischen Gehalt des Maastricht-Vertrages auf diese Weise, musste die Unionsbürgerschaft zum zentralen Bestandteil der europäischen Wertegemeinschaft avancieren. Schon das Maastricht-Urteil und die begleitende deutschsprachige Staatsrechtsliteratur widmen ihr einige Überlegungen 21. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass das Verhältnis der Unionsbürgerschaft zur Demokratie bislang ungelöst bleibt. Soll sich im Unionsbürgerstatus die reale Diversität der Völker Europas widerspiegeln (wie es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahe legt)? Oder soll die Unionsbürgerschaft aus vielem eines schaffen, also auf der „Maastricht“ folgenden Integrationsstufe ein einheitliches Legitimationssubjekt der Union etablieren? Deutete man den Integrationsauftrag in letzterem Sinne, hätte der Reformvertrag von Lissabon sein Ziel eindeutig verfehlt. Denn zwanzig Jahre nach „Maastricht“ erscheint eine Demokratisierung der Union auf der Folie des Bundesstaates immer noch undenkbar, da die Mitgliedstaaten wegen des engen Bezuges zwischen Volksherrschaft und staatlicher Souveränität über die Grundlagen demokratischer Legitimation als ihre domaine reservée wachen 22. Es   H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S.  196, 1055.   BVerfGE 89, 155 (181, 188). Im ersten Leitsatz des Lissabon-Urteils gibt das BVerfG eine Definition des Begriffs „Staatenverbund“. Gemeint ist „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben ­( BVerfGE 123, 267 (267)). 21   R. Breuer, Die Sachgasse des neuen Europaartikels (Art.  23 GG), NVwZ 1994, S.  417 (420); C.O. Lenz, Der Vertrag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1993, S.  3038 f.; K. Meessen, Maastricht nach Karlsruhe, NJW 1994, S.  549 (554); I. von Münch, Darf es ein bißchen mehr sein? – Gedanken zur Mehrstaatigkeit, NJW 1994, S.  1199 (1200); Zur Frage eines „europäischen Staatsvolks“: P. Kirchhof, Die Staatenvielfalt – Ein Wesensgehalt Europas in: J. Hengstschläger u.a, (Hrsg.), Für Staat und Recht. Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S.  947 (949). 22   Dabei ist freilich der mit der Demokratisierung verbundene Wandel des Souveränitätsbegriffs in Betracht zu ziehen. Darauf verweist besonders die polnische Demokratielehre (S.  B iernat, Demokratieprinzip im polnischen Verfassungssystem in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  79 (82)). In der monarchischen Staatslehre bezeichnete „Souveränität“ die Position des absoluten Monarchen, der unbedingte und unteilbare Herrschaftsgewalt jederzeit delegieren und wieder an sich ziehen konnte. In der Demokratie nimmt das Volk die Position des Monarchen ein, aber es ist dem Volk praktisch unmöglich, die einmal delegierte Gewalt wieder zurückzunehmen. Diese Überlegung zeigt, dass der Souveränitätsbegriff substantiell von dem Herrschaftskontext ab19

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besteht ein Sinnkonnex zwischen Demokratisierung, Föderalisierung und Staatswerdung der Union. Dennoch scheint der Europäische Gerichtshof die Unionsbürgerschaft in vielen kleinen pragmatischen Schritten zur effektiven Grundlage einer gemeineuropäischen Wertordnung fortentwickeln zu wollen. Dies wird aus der nachfolgend zu besprechenden Judikatur an ausgewählten Beispielen deutlich. Jedenfalls kommt der Entwicklung des Unionsbürgerstatus eine Schlüsselrolle bei der weiteren Ausgestaltung der Union zu. Im Folgenden wird zunächst der Unionsbürgerstatus, Ausprägung der grundrechtlichen Freiheitsidee, beleuchtet (III). Sodann wird die demokratische Konfiguration der Union unter die Lupe genommen (IV, V).

III.  Der Unionsbürgerstatus: Verwirklichung der grundrechtlichen Freiheitsidee in der Union 1.  Bürgerstatus, Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit a)  Zum Bürgerbegriff „Bürger“ ist der Mensch im politischen Diskurs, als Teil der politischen Allgemeinheit. Als solcher ist er die kleinste Einheit des republikanischen Gemeinwesens. Der Begriff „Bürger“ stellt seit Aristoteles auf ein aktiv am Politischen partizipierendes, da persönlich und ökonomisch unabhängiges Subjekt ab.23 In Folge der Französischen Revolution wurde der vormoderne Bürgerbegriff über den wirtschaftlich unabhängigen Teil der Bevölkerung hinaus auf die Gesamtheit der einer politischen Gemeinschaft Zugehörigen erstreckt.24 In einem Gemeinwesen von Bürgern wird im Gegensatz zum ancien régime nicht nach Ständen, sondern nach Zugehörigen und Fremden unterschieden. Eine Gemeinschaft, die sich mit Bürgern schmückt, will Integration durch Inklusion. Hiernach kann jeder der Bürgergemeinschaft angehören, wenn er es nur will. Soweit Bürgerrechte von der Staatsangehörigkeit abhängen (also „verstaatlicht“ sind), muss das Staatsangehörigkeitsrecht in die Erörterung der Bürgerrechte einbezogen werden. Viele europäische Staaten gestalten ihr Staatsangehörigkeitsrecht als ius soli mit starker Inklusionstendenz. Es ist mithin offen für Menschen jedweder Herkunft, Religion und Überzeugung, sofern sie als Noch-Nicht-Zuhängt, in den er gestellt wird. Wer dies akzeptiert, muss keine Bedenken haben, in Bezug auf die Europäische Union von „Souveränität“ zu sprechen. Allerdings ist nicht die Souveränität des letzten, sondern des ersten Wortes gemeint. Vor diesem Hintergrund verbindet sich die Frage nach der Souveränität in der Union mit Überlegungen zum Ursprung von Legitimität. 23   Aristoteles, Politik (hrsg. von F. Schwarz), III 1274b ff. Aristoteles definiert aaO, 1275a 22 den „Bürger“ als jemanden, dem „die Erlaubnis gegeben ist, teilzunehmen an einem beratenden oder einem rechtsprechenden Amt“. Nicht ausschlaggebend für die Staatsbürgereigenschaft sei der Wohnsitz, auch die Rechts- und Prozessfähigkeit sei nicht von Belang: „(…) Der Staatsbürger ist ja nicht dadurch, dass er wo wohnt, Staatsbürger – denn auch Metöken und Sklaven haben am Wohnsitz Anteil –, und auch nicht die sind es, die am Recht teilhaben in der Weise, dass sie Buße leisten und prozessieren können“ (Aristoteles aaO, 1274b 5 ff.). 24   J. Monar, Auf dem Weg zu einem europäischen Bürger? Aspekte aus politikwissenschaftlicher Sicht in: R. Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S.  67 (67 f.).

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gehörige eine Bindung an eine zum Staat integrierte Bürgergemeinschaft eingehen wollen und dies z. B. durch regelmäßigen Aufenthalt im Staatsgebiet dokumentieren. Exkludiert wird also das Fremde, das aber ohne ethnische, rassische oder religiöse Hintergedanken als Gesamtheit der Ungebundenen und daher Nicht-Zugehörigen definiert wird. Aus ihrer Universalität bezieht diese moderne, nach-revolutionäre Bürgerkonzeption ihre Attraktivität für politische Gemeinschaften jenseits des Staates. Bestimmungen wie Art.  21 I, 23 EGRC (Pendant im Grundgesetz: Art.  3 II, III) sind daher grundlegende Bürgerrechte auch und gerade des Drittstaatsangehörigen bzw. Ausländers. Ein Gemeinwesen von Bürgern ist, will man es politisch fassen, nach innen eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen, nach außen eine Gemeinschaft der Einladenden, die den Fremden als potentiell Zugehörigen anspricht.

b)  Bürger und Volk Der Bürgerstatus ist das Bindeglied zwischen dem gemeinschaftslosen, apolitischen Individuum und dem Volk. Der Bürger ist Inhaber politischer (Grund-)Rechte („Bürgerrechte“), die ihm eine Teilnahme an der demokratischen Willensbildung und damit Selbstregierung ermöglichen. Da er als Träger von Individualrechten aber Individuum bleibt, ist der Bürger als solcher nicht Subjekt demokratischer Legitimation. Diese vermag nur das Volk, Substrat des Staates, zu vermitteln. Im Volksbegriff wird der Widerspruch aufgelöst, dass die Bürgerschaft, gedacht als Vielzahl Einzelner mit je unterschiedlichem politischem Willen, keine einheitliche und „allgemein ansinnbare“, d. h. für alle gleichermaßen gültige Entscheidung vermitteln kann. Nicht die Bürgerschaft, sondern das Volk ist Autor der allgemeinen Gesetze. Es bedarf von der Konstituierung einer Bürgergemeinschaft der Freien und Gleichen hin zur demokratischen Legitimation also eines zusätzlichen Schrittes: der Schaffung einer unio mystica, in der alle bürgerschaftlichen Gegensätze in einem fiktiven Einheitswillen derart aufgehoben sind, dass die faktische Minorisierung von Dissidenten keine legitimatorischen Konsequenzen hat, dass m.a.W. aus dem demokratischen Mehrheitsvotum kein „Legitimationsdefizit“ erwächst. Nur weil das Volk als Willenseinheit gedacht wird, ist es legitimationsfähig.25 Diese Zusammenhänge aufgezeigt zu haben, ist das bleibende Verdienst von Jean-Jacques Rousseau.

c)  Bürgerstatus und Staatsangehörigkeit Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass das Volk nicht mit der Gesamtheit der Bürger identisch ist, denn diese Gesamtheit reflektiert ein Interessenspek­ trum, das so vielfältig und heterogen ist wie die Individuen, aus denen sie sich bildet. Von der Bürgergesamtheit ist stattdessen als „Öffentlichkeit“ die Rede. Der Bürger   I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (hrsg. von H. Ebeling), 1990, §  46 (S.  170): „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. (…) Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“. 25

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ist das Subjekt, das durch die Öffentlichkeit betroffen ist und auf diese einwirkt. In diesem weitesten Sinne ist „Bürger“ nicht nur der Staatsangehörige, sondern schlechthin jeder von der öffentlichen Gewalt Berührte. Die Staatsangehörigkeit – ein Gegenseitigkeitsverhältnis des Bürgers zum Staat mit beidseitigen Verpflichtungen 26 – kann der bürgerschaftlichen Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft Ausdruck verleihen; dies ist aber nicht zwingend 27. Zugehörigkeit ist nicht auf Angehörigkeit angewiesen. Mit der Bezeichnung einer Person als „Bürger“ wird in jedem Fall eine positive Aussage über die Zugehörigkeit dieser Person zu einem politischen Verband getroffen 28. Anknüpfungspunkt sind oft faktische Gegebenheiten, aus denen sich Rechtsfolgen – Bürgerpflichten im Rechtssinne – ergeben: Wohnsitz oder Firmensitz als Grundlage der Steuerpflicht, familiäre Bindung als Grundlage eines dauerhaften Aufenthaltsrechts etc. Ob sich die Zugehörigkeit zu einem (Staats-) Angehörigkeitsverhältnis verdichtet, hängt von weiteren Rechts- und Willensakten sowohl des Bürgers als auch der Gemeinschaft, kulminierend in der Einbürgerung (in Deutschland: §§  8 ff. StAG), ab. Aus alldem folgt, dass man vom „Bürger“ sprechen kann, ohne ein „Volk“ zu meinen. Nur deshalb sind „Bürger“ außerhalb des Staates denkbar – der Unionsbürger ist das beste Beispiel dafür. Nur deshalb kann auch im Staat ein abgestuftes System von Bürgerrechten und Bürgerpflichten existieren (man benutzt in der Alltagssprache nicht von ungefähr den Begriff des „auslän26  Nach S.  Haack, Staatsangehörigkeit – Unionsbürgerschaft – Völkerrechtssubjektivität in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR X, 3. Auflage 2012, §  205, Rn.  2 ist die Substanz der Staatsangehörigkeit ein gegenseitiges Loyalitätsverhältnis des Individuums mit einer rechtlich verfassten politischen Gemeinschaft. Daraus folgert Haack aaO, Rn.  6, dass der Mensch zwar in zahlreiche Gemeinschaften integriert sein und insoweit Teilidentitäten ausbilden kann, dass aber ausschließlich die „politische Identität“ ganzheitlich auf den Staat bezogen sei. Rechtswirksamer Ausdruck der so verstandenen „politischen Identität“ ist das Staatsangehörigkeitsband. Freilich kommt in den meisten Verfassungstexten nur die berechtigende Seite der Staatsangehörigkeit zum Vorschein, wobei Pflichten – Abgabenpflicht, ggf. Wehrpflicht, jedenfalls eine allgemeine Pflicht zum Gesetzesgehorsam – vorausgesetzt werden. Dennoch kennen manche europäische Verfassungen explizite Pflichten des Staatsangehörigen. So statuiert z. B. Art.  12a I GG die (mittlerweile ausgesetzte) Wehrpflicht männlicher volljähriger Staatsangehöriger; Art.  33 I GG setzt die Existenz staatsbürgerlicher Pflichten voraus. Mehrere Mitgliedstaaten der Europäischen Union kennen eine verfassungsrechtliche Wahlpflicht: Art.  62 III Verf. Belgien vom 17. Februar 1994; Art.  51 V Verf. Griechenland vom 9. Juni 1975; Art.  48 II Verf. Italien vom 27. Dezember 1947. 27   Darauf weist der Beitrag von B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, StWStP 5 (1994), S.  305 ff. hin. Dass Zugehörigkeit nicht in jedem Fall auf Angehörigkeit angewiesen ist, zeigt sich an denjenigen Grundrechten, die als Bürgerrechte zugleich die Teilnahme an der öffentlichen Willensbildung garantieren (z. B. Freiheit der Meinung, der Kunst, der Presse) und regelmäßig allen Menschen im Geltungsbereich des jeweiligen Verfassungsgesetzes zustehen, d. h. Zugehörigkeit von Staatsangehörigkeit verselbständigen. 28  Zutreffend: A. Schrauwen, European Union Citizenship after the Treaty of Lisbon: any change at all?, Maastricht Journal of European and Comparative Law 15 (2008), S.  55 (56): „The political dimension of citizenship refers to citizens as members of a political community“. Anders S.  Haack, Staatsangehörigkeit – Unionsbürgerschaft – Völkerrechtssubjektivität in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR X, 3. Auflage 2012, §  205, Rn.  1: Bürgerschaft ist Ausdruck der „politischen Identität“ des einzelnen, d. h. der „Bereitschaft, gemeinsam mit seinesgleichen eine letztmaßgebliche öffentlich-rechtliche Ordnung einzusetzen, zu tragen und gegen sich gelten zu lassen“. „Letztmaßgeblich“ in diesem Sinne ist aber nach derzeitiger Staatsrechtslehre (zumindest in Deutschland) der Staat, weshalb „Bürgerschaft“ nicht von „Staatsangehörigkeit“ separiert werden kann. In dieser Perspektive erscheint die „Unionsbürgerschaft“ als Verlängerung der Staatsangehörigkeit in den supranationalen Raum.

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dischen Mitbürgers“), das zwar dem Staatsangehörigen die volle Bandbreite der Bürgerrechte einschließlich Wahl- und Abstimmungsrechten vorbehält, aber nicht-staatsangehörigen Residenten unter bestimmten Voraussetzungen einzelne politische Rechte, z. B. das Kommunalwahlrecht oder die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einräumt.

d)  Die Position des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht sieht Abstufungen im Bürgerstatus freilich als problematisch an. Folgt man den beiden Urteilen zum Ausländerwahlrecht vom 26. Juni 1990, vermittelt ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein nach Art.  116 I GG dieser gleichstehender Status Bürgerrechte auf demokratische Teilhabe. Das deutsche Volk als Legitimationssubjekt der unteilbaren deutschen Staatsgewalt exkludiert mithin alle Nicht-Staatsangehörigen von bürgerschaftlicher Zugehörigkeit.29 Soweit das Grundgesetz Ausländern Grundrechte garantiert, die sich auch auf die öffentliche Willensbildung auswirken (z. B. Art.  5 GG), beruht dies auf dem Bekenntnis des Verfassunggebers „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft (…)“ in Art.  1 II GG. Die Weltoffenheit des Grundgesetzes fußt nicht auf einer Inklusionskultur, welche die nationale Staatlichkeit auf möglichst viele Menschen im In- und Ausland auszudehnen sucht, sondern ist Konsequenz der Universalität der als „Grundnorm“ der deutschen Rechtsordnung anerkannten Menschenwürde. Sie verpflichtet den deutschen Staat, Drittstaatsangehörige oder Staatenlose im Umfang des menschenrechtlich unabdingbar Gebotenen den deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen, aber nicht, Fremde zu Zugehörigen zu machen. Folglich wird „Bürgerschaft“ in den genannten Gerichtsentscheidungen als „Staatsbürgerschaft“ auf den Staat bezogen, wobei als dem Staat zugehörig grundsätzlich nur der Staatsangehörige anerkannt wird. Die verfassungsgerichtliche Identifikation von Zugehörigkeit und Angehörigkeit wirft schwierige Legitimationsprobleme sowohl im Hinblick auf die kommunalen Gebietskörperschaften – hier kann es keine vom Staat verselbständigte Einwohner-Bürgerschaft, damit auch kein eigenständiges kommunales Legitimationssubjekt geben – als auch im Hinblick auf die funktionale Verselbständigung supranationaler Institutionen auf. Im ersten Fall hat das Bundesverfassungsgericht mit der Zeit zu einer elastischeren Rechtsprechung gefunden. Es hat die verfassungsrechtliche Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts für Unionsbürger durch Art.  28 I 3 GG nicht beanstandet 30 und in einer späteren Entscheidung dem „Gemeindevolk“ sogar be  BVerfGE 83, 37 (51). Folglich müsse der Gesetzgeber an der Regelung der Staatsangehörigkeit ansetzen, wenn er die Zusammensetzung des deutschen Volkes und damit die bürgerschaftliche Inklusion verändern wollte. Eine gesetzliche Gleichstellung von ausländischen mit deutschen Staatsangehörigen im Hinblick auf die Teilhabe an politischer Herrschaft sei aber verfassungswidrig (aaO, S.  52). 30   BVerfGE 89, 155 (179 f.): Im Maastricht-Urteil hat das Gericht die Rüge des Beschwerdeführers, die Änderung des Grundgesetzes, durch die Art.  28 I 3 GG in den Verfassungstext eingefügt wurde, verstoße gegen Art.  79 III GG, als unzulässig verworfen. Schon in BVerfGE 83, 37 (59) hatte Karlsruhe in einem obiter dictum deutlich gemacht, dass die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger nicht gegen Art.  79 III GG verstößt. 29

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grenzte Legitimationswirkung zuerkannt 31.32 In Bezug auf den Bürger im supranationalen Umfeld zieht Karlsruhe seit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 aber rote Linien33, deren Sinn im Schutz der souveränen Inklusionsentscheidung des deutschen Gesetzgebers besteht. Die bisweilen maßlose Kritik an dieser Judikatur verkennt, dass die Identifikation des Staatsangehörigen mit dem Bürger eine vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wichtige Schutzfunktion hat. In der nationalsozialistischen Zeit war die Konnexität von Staatsangehörigkeit und Bürgerrecht außer Kraft gesetzt worden – mit fatalen Folgen. Art.  2 I des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 bestimmte: „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen“. An die Definition der Reichsbürgerschaft knüpfte Art.  2 III des Gesetzes die Rechtsfolge: „Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze“. Das NS-Reichsbürgergesetz ist ein furchtbares Beispiel eines missbräuchlichen Gegeneinander-Ausspielens von Angehörigkeit und Zugehörigkeit.34   BVerfGE 107, 59 (91 f.).   Das Grundgesetz schließt durch die Verknüpfung des Legitimationssubjekts „deutsches Volk“ mit der deutschen Staatsangehörigkeit die Ausübung staatsbürgerschaftlicher Rechte durch Ausländer – insbesondere ein Ausländerwahlrecht – strikt aus. Art.  28 I 1 GG überträgt diesen Grundsatz auf die Länder. Wegen Art.  28 I 1 GG verstieße eine landesrechtliche Gesetzgebung (sei sie verfassungsrechtlich oder kommunalrechtlich verankert), die Ausländern das Kommunalwahlrecht eröffnet, gegen Bundesverfassungsrecht. Art.  22 I AEUV ordnet aber das aktive und passive Kommunalwahlrecht des Unionsbürgers im Wohnsitzstaat unabhängig von der Staatsangehörigkeit an. Insoweit drohte ein Konflikt mit dem Grundgesetz, das die Ausübung des Wahlrechts auf allen Ebenen an die deutsche Staatsangehörigkeit knüpft (Art.  20 II, 28 I 2, 116 I GG), mithin den Volksbegriff des Art.  20 II GG nicht von dem des Art.  28 I 2 GG unterscheidet. Um das kommunale Ausländerwahlrecht für Unionsbürger zu ermöglichen, hat der verfassungsändernde Gesetzgeber Art.  28 I 3 in das Grundgesetz eingefügt. Die Vorschrift stellt die Kompatibilität des deutschen Verfassungsrechts mit dem Maastricht-Vertrag her, die sich nicht bereits aus dem „Europa-Artikel“ 23 GG ergeben hatte. Damit wurde dem deutschen Bundestag die Ratifizierung des Maastricht-Vertrages ermöglicht (R. Scholz in: T. Maunz / G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand 2012, Band IV, Art.  28, Rn.  41a–41c). Freilich wird durch die Formulierung: „nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft“ deutlich, dass Art.  28 I 3 GG nicht selbst das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger verbürgt. Er verweist vielmehr auf Art.  20 II lit. b) AEUV und auf die Richtlinie 94/80/EG vom 19. Dezember 1994 (Kommunalwahlrichtlinie). Gemäß ihrer Erwägungsgründe bezieht sich die Richtlinie auf „die allgemeinen und unmittelbaren Wahlen auf der Ebene der lokalen Gebietskörperschaften der Grundstufe und ihrer Untergliederungen“. Erfasst werden sowohl die Wahl der kommunalen Vertretungskörperschaften als auch der Mitglieder kommunaler Exekutivorgane (s. dazu auch die Legaldefinitionen in Art.  2 I lit. a) und b) der Richtlinie). Die Richtlinie erkennt die unterschiedlichen Traditionen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Aufgaben, Kompetenzen und Stellung der lokalen Gebietskörperschaften im Staatsauf bau ausdrücklich an. Das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger soll laut den Erwägungsgründen die Integration der Unionsbürger in ihren Wohnsitzstaaten verbessern. 33   BVerfGE 89, 115 (188, 210 f.). Der Widerstand, auf den das Maastricht-Urteil und seine Folgerechtsprechung stößt, mag viel mit dem Stil der Urteilsbegründung zu tun haben. Aufschlussreich dazu: U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S.  127 (136). Everling führt aus, dass zum einen die Begründungskultur deutscher Gerichte besonders im romanischen Rechtskreis Irritationen hervorrufe, zum anderen der Begründungsstil deutscher Gerichtsentscheidungen als barsch empfunden werde. 34   Das Reichsbürgergesetz verdeutlicht geradezu programmatisch die furchtbaren „Ideen von 1933“, die sich als Negativ zu den „Ideen von 1789“ verstanden. Welche Folgen die Ideen von 1789 für den Bürgerbegriff hatten, wurde weiter oben im Text dargestellt. Betrachtet man die nationalsozialistische 31

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Der „Nur-Staatsangehörige“ war durch dieses Gesetz im Vergleich mit dem Zugehörigen rechtlos und de facto schutzlos gestellt. Das Reichsbürgergesetz lehrt, dass eine Entdifferenzierung von Bürgerschaft und Staatsangehörigkeit niemals mehr zum Vorwand für eine Rechtlosstellung weiter Bevölkerungsteile genommen werden darf. Mit einem Hinweis auf die Schutzdimension des in seiner Rechtsprechung fest geknüpften Bandes zwischen Bürgerrechten und Staatsangehörigkeit – in Karlsruher Lesart schützt die Verfassung vor jeder Entwertung und Aushöhlung des Staatsangehörigkeitsverhältnisses durch eine gegenläufige Funktionalisierung des Bürgerbegriffs – hätte das Bundesverfassungsgericht einer Kritik entgegentreten können, die es in eine nationalistische Ecke stellen möchte. Richtig ist und bleibt, dass der europäische Integrationsprozess im Allgemeinen und die Unionsbürgerschaft im Besonderen die Schutzwirkung der Staatsangehörigkeit verstärken, nicht konterkarieren will. Per se bestehen also keine Bedenken gegen eine Verfassungsjudikatur, die einem etatistischen Bürgerbegriff Geltung verschafft und dies durch eine enge, auf die Staatsangehörigkeit bezogene Zugehörigkeitskonzeption zum Ausdruck bringt.35 Es darf aber auch nicht verkannt werden, dass die eingangs skizzierten Abstufungen im Bürgerbegriff – eine Entdifferenzierung von Zugehörigkeit und Angehörigkeit – vielen Rechtsordnungen geläufig sind. Ein europäisches Beispiel ist der zum britischen Verfassungsrecht zählende British Nationality Act vom 30. Oktober 1981. Hiernach gliedert sich das Bürgerrecht (citizenship) in British Citizenship, British Dependent Territories Citizenship und British Overseas Citizenship auf. Nur die „British Citizenship“ gewährt die vollen staatsbürgerlichen Rechte. Jeder Citizenship-Status bringt seinen Inhaber aber in den Genuss diplomatischer Schutzrechte auf der Grundlage einer völkerrechtlich wie innerstaatlich anerkannten Zugehörigkeit 36. Ein weiteres Beispiel ist die Verfassung von Malta vom 21. September 1964, deren §§  23, 24 zwischen maltesischen Staatsangehörigen sowie Staatsangehörigen des Commonwealth bzw. der Republik Irland differenzieren. §  24 I Verf. Malta gewährt letzteren beiden Gruppen besondere Schutzrechte. Andere europäische Rechtsordnungen billigen ansässigen Ausländern Bürgerrechte nach Maßgabe einfa-

Gesetzgebung auf der Folie der Französischen Revolution, so bleibt nichts weiter festzustellen, als dass es den Nationalsozialisten am elementaren Verständnis von Sinn und Funktion des Bürgers fehlte. Aber selbst diese Feststellung wäre bereits eine Verharmlosung. Im nationalsozialistischen Gemeinwesen konnte es keine Bürger geben. Zugehörige wurden als Hörige verstanden, deren Befehl das „Führerwort“ war. Damit fehlte eine elementare Voraussetzung des Bürgerstatus: die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, deren Inbegriff ja die geistige wie materielle Unabhängigkeit ist. Dass eine Kultur der Einladung den Nationalsozialisten mehr als ferne lag, bedarf keiner weiteren Worte. Das „Reichsbürgergesetz“ von 1935 ist also eine traurige Persiflage. 35  In ähnlicher Weise wie die Bundesrepublik machten von den damaligen EG-Mitgliedstaaten Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien und Luxemburg die Ausübung des aktiven und passiven (Kommunal-)Wallrechts von der Staatsangehörigkeit abhängig. Anders damals schon: Portugal, Spanien und das Vereinigte Königreich, die das Kommunalwahlrecht Staatsangehörigen bestimmter Staaten einräumten, und Dänemark, Irland und die Niederlande, die es allen dauerhaft im Inland Niedergelassenen zugestanden (N. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. Die Person und das Gemeinwesen, 2000, S.  176, Fn.  572). 36  Dazu: N. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. Die Person und das Gemeinwesen, 2000, S.  80 f.

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cher Gesetze zu37. Dies erlaubt immerhin einen Rückschluss auf eine entsprechende Offenheit der nationalen Verfassungen. Außerhalb Europas unterscheidet z. B. die mexikanische Verfassung vom 5. Februar 1917 nach Staatsangehörigkeit (Art.  30 ff.), Staatsbürgerschaft (Art.  34 ff.) und Fremdenstatus (Art.  33), wobei die Staatsangehörigkeit als der grundlegende Status jedes Mexikaners ausgestaltet ist. Die Verwendung des Bürgerbegriffs in supranationalem oder völkerrechtlichem Kontext schließt es nicht aus, ihn im Staatsrecht enger zu fassen38. Andererseits behindert das Staatsangehörigkeitsverhältnis als traditionelles Leitbild bürgerschaftlicher Inklusionsdiskurse nicht die Konzeption eines supranationalen und entstaatlichten Bürgerbegriffs, der allein für das Unionsrecht maßgeblich sein kann. Mit der Einführung der Unionsbürgerschaft wurde deutlich, dass die Bürger der Mitgliedstaaten mehr und anderes39 sind als „Marktbürger“.

2.  Die rechtliche Gestalt der Unionsbürgerschaft Funktionalität der Unionsbürgerschaft und spezifische Bedeutung des Bürgerbegriffs in der Union ergeben sich aus dem Primärrecht sowie aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs. Der Unionsbürgerstatus ist in Art.  9 f. EUV, Art.  20 ff. AEUV näher geregelt. Gemäß Art.  9 I 2 EUV, Art.  20 I 2 AEUV ist „Unionsbürger (…), wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“. Die Unionsbürgerschaft ersetzt die Staatsangehörigkeit nicht, sondern tritt zu ihr hinzu.40 Alle Rechte aus der Unionsbürgerschaft sind mit der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit, d. h. mit der Personalhoheit des Mitgliedstaates über seine Bürger, verknüpft.

37   Nachweise bei N. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. Die Person und das Gemeinwesen, 2000, S.  97 ff. 38   So die Rechtsprechung des BVerfG für Art.  20 II, 28 I 1 GG: „Das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, wird nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art.  116 Abs.  1 gleichgestellten Personen gebildet“ (BVerfGE 83, 37 (51)). Auch der EuGH erkennt dies an, indem er die „Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Stasatsangehörigkeit“ in Übereinstimmung mit internationalem Recht den Mitgliedstaaten zuweist (EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, S.  I-4239 (4262), Rn.  10). 39   Der Unionsbürgerstatus kann nicht als Verlängerung des Marktbürgerstatus, nicht als bloße Ergänzung der Grundfreiheiten um politische Rechte verstanden werden: S.  Kadelbach, Unionsbürgerschaft in: A. von Bogdandy / J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S.  611 (614). Bereits vor Einführung der Unionsbürgerschaft konnte sich der Marktbürger auf Gleichstellungsrechte in Ansehung seiner ausgeübten Grundfreiheiten berufen. Zentral hierfür waren und sind Art.  7 und Art.  9 der VO 1612/68 vom 15. Oktober 1968. Der EuGH hat die Vorschrift von vornherein großzügig ausgelegt. S.  d azu: F. Wollenschläger, A New Fundamental Freedom beyond Market Integration, ELJ 17 (2011), S.  1 (5). 40   Art.  17 EG formulierte: „ergänzt“ statt „tritt hinzu“. Nach M. Nettesheim, Der „Kernbereich“ der Unionsbürgerschaft – vom Schutz der Mobilität zur Gewährleistung eines Lebensumfelds, JZ 2011, S.  1030 (1036) impliziert die Neuformulierung einen Selbstand der Unionsbürgerschaft statt – wie seit dem Maastricht-Vertrag – eine Akzessorietät desselben.

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a)  Bedeutung der Beitrittsakte Neben den genannten Vorschriften sind die ebenfalls zum Primärrecht zählenden Beitrittsakte, soweit sie Regelungen zur Staatsangehörigkeit enthalten, beachtlich. Die Bundesregierung fügte den Römischen Verträgen eine Erklärung vom 25. März 1957 bei, wonach als „Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland (…) alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (gelten)“41. Da die Bürger der DDR somit ex tunc in den personellen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts einbezogen waren, erleichterte dieser Passus im Jahr 1990 die Erstreckung des acquis communautaire auf die Neuen Bundesländer. Dänemark schränkte in Art.  4 des Zweiten Zusatzprotokolls zur Beitrittsakte vom 22. Januar 1972 die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts für dänische Staatsangehörige, die auf den Färöer-Inseln ansässig sind, ein. Das Vereinigte Königreich erklärte zur Beitrittsakte vom selben Tag (Art.   2, 6 des Dritten Zusatzprotokolls zur Beitrittsakte), dass für die britischen Staatsangehörigen mit Wohnort auf den Kanalinseln oder der Isle of Man die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Freizügigkeit und den gemeinsamen Dienstleistungsverkehr nicht gelten sollten (eine präzise Definition des Staatsangehörigkeitsbegriffs enthält Art.   6 des Dritten Zusatzprotokolls). Am 1. Januar 1983 modifizierte das Vereinigte Königreich diesen Rechtsakt durch eine weitere Erklärung zur Definition des „britischen Staatsangehörigen“ („British national“) in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht.42 Hiernach umfassen die Begriffe „nationals“, „nationals of Member States“ und „nationals of Member States and overseas countries and territories“, soweit sie im Unionsrecht verwendet werden, „(a) British citizens, (b) persons who are British subjects by virtue of Part IV of the British Nationality Act 1981 and who have the right of abode in the United Kingdom and are therefore exempt from United Kingdom immigration control; (c) British Dependent Territories citizens who acquire their citizenship from a connection with Gibraltar“. Mit der Erklärung vom 1. Januar 1983 wurde zudem Art.  6 des Dritten Zusatzprotokolls novelliert. Die protokollierten Rechtsakte sind bei der Definition des unionsrechtlichen Staatsangehörigkeitsbegriffs in Art.  9 I 2, 3 EUV, Art.  20 I 2, 3 AEUV zu berücksichtigen.

b)  Die Rechte der Unionsbürger nach EUV, AEUV und Charta Ausgehend vom unmittelbar anwendbaren43 Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art.  18 AEUV) genießt der Unionsbürger spezifische, aus seinem Status abgeleitete subjektive Rechte. Es sind dies insbesondere: 41   Die Erklärung ist online abruf bar unter: http://www.politische-union.de/egv/egv4.htm (Abruf am 16. Februar 2013). 42   Diese Erklärung ist online abruf bar unter http://www. dwp.gov.uk/docs/a9-0901.pdf (Abruf am 16. Februar 2013). 43   EuGH, Rs. C-152/82 (Forcheri), Slg. 1983, S.  2323, Rn.  18; Rs. C-92/92 und 326/92 (Collins), Slg. 1993, S.  I-5145, Rn.  34; Rs. C-85/96 (Martínez Sala), Slg. 1998, S.  I-2691, Rn.  62; Rs. C-274/96 (Bickel und Franz), Slg. 1998, S.  I-7636, Rn.  16.

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– Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht in der gesamten Union (Art.  45 EGRC, Art 20 II lit. a) i. V. m. Art.  21 AEUV)44 (wobei der Gerichtshof Art.  21 I AEUV als unmittelbar anwendbares45 Beschränkungsverbot auffasst46), – das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen im Aufenthaltsmitgliedstaat (Art.  39, 40 EGRC, Art.  20 II lit. b) i. V. m. Art.  22 I AEUV)47, – das Recht auf Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art.  43 EGRC, Art.  20 II lit. d) i. V. m. Art.  24 III AEUV)48, – das Petitionsrecht (Art.  44 EGRC, Art.  20 II lit. d) i. V. m. Art.  24 II AEUV)49, – Rechte auf Information bzw. Auskunft durch Unionsorgane (Art.  20 II lit. d) i. V. m. Art.  24 IV AEUV), – Rechte auf den Schutz persönlicher Daten (Art.  8 EGRC, Art.  16 AEUV) und Zugang zu Dokumenten (Art.  42 EGRC, Art.  15 III AEUV) 50, – das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittstaaten (Art.  46 EGRC, Art.  20 II lit. c) i. V. m. Art.  23 AEUV). Art.  9 II 1 EUV, Art.  20 II 1 AEUV verbinden den Unionsbürgerstatus mit den „in den Verträgen vorgesehenen Rechte(n) und Pflichten“, während die Vorgängernorm Art.  17 II EG auf „die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten“ abstellte. Damit wird deutlich, dass nach dem Verschmelzen der vormals drei Säulen der Europäischen Union die Unionsbürgerschaft nunmehr den gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umfasst.51 Der im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft stehende Art.  77 II lit. e), III AEUV räumt der Union Kompetenzen zur Erleichterung des Binnengrenzverkehrs ein. Ziel sowohl der Art.  20 ff. AEUV als auch des Art.  77 AEUV ist es, den Unionsbürgern den Gebrauch ihres Freizügigkeitsrechts zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Zugleich deutet sich im Wortlaut der Art.  9 I 1 EUV, Art.  20 I 1 AEUV (so auch bereits Art.  17 I 1 EG) eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Verträge an, denn der Unionsbürgerstatus wird textlich weder von einer wirtschaftlichen Betätigung im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten noch allgemein von einem grenzüberschreitenden Sachverhalt

44   Das im Unionsbürgerstatus wurzelnde Recht auf Freizügigkeit ist unmittelbar anwendbar und setzt keinen grenzüberschreitenden Bezug voraus. Deshalb ist bisweilen von einer „Grundfreiheit ohne Markt“ die Rede (C. Calliess, Der Unionsbürger: Status, Dogmatik und Dynamik, EuR-Beiheft 1/2007, S.  7 (23 ff.); J. Kokott, Die Freizügigkeit der Unionsbürger als neue Grundfreiheit in: Festschrift Tomuschat, 2006, S.  207 (214 ff.)). 45   EuGH, Rs. C.413/99 (Baumbast), Slg. 2002, S.  I-7091 (7165), Rn.  80. 46   EuGH, Rs. C-544/07 (Rüffler), Slg. 2009, S.  I-3389, Rn.  64 f. 47  Flankiert wird das Wahlrecht durch Sekundärrecht: Richtlinie 93/109/EG vom 6. Dezember 1993 (Parlamentswahlrichtlinie) und Richtlinie 94/80/EG vom 19. Dezember 1994 (Kommunalwahlrichtlinie). 48   S.  d azu: A. Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petition zum Europäischen Parlament, 2004. 49   S.  d azu Guckelberger (Anm. 48). 50  Sekundärrechtlich wird der Zugang durch die Verordnung (EG) Nr.  1049/2001 vom 30. Mai 2001 (Transparenzverordnung) i.V.m der Richtlinie 95/46/EG vom 24. Oktober 1995 (Datenschutzrichtlinie) ausgestaltet. 51   Editorial, CMLRev 45 (2008), S.  1 (7).

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abhängig gemacht52.53 Waren vor Einführung der Unionsbürgerschaft nur Bürger, die sich grenzüberschreitend ökonomisch betätigten, in den Genuss des Gemeinschaftsrechts gekommen, inkludiert der Unionsbürgerstatus schlechthin alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten.54 Folglich erkennt der Gerichtshof in der Unionsbürgerschaft den grundlegenden Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten.55

3.  Die Unionsbürgerschaft als Grundlage eines Netzwerks der Mitgliedstaaten Eine wirkmächtige Metapher beschreibt die Gestalt der Union als multiple Kooperationsstruktur, als „Netzwerk“. Auf politischer Ebene kooperieren beispielsweise die Europaausschüsse der nationalen Parlamente im COSAC-Netzwerk; auf diplo­ matischer Ebene arbeiten die ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten zur Vorbereitung der Ratssitzungen im COREPER-Netzwerk zusammen; auf Ebene der Verwaltung hat sich ein Verbund aus Union und Mitgliedstaaten zur Durchführung des Unionsrechts gebildet („europäischer Verwaltungsverbund“56); im Bereich der tertiären Rechtsetzung konnte ein Union und Mitgliedstaaten übergreifender Kooperationsmechanismus, institutionalisiert in den Komitologie-Ausschüssen (der organisatorische Kern des europäischen Verwaltungsverbundes), etabliert werden57. 52   Selbiges gilt für die unter Art.  20 II lit. d) AEUV gesondert aufgeführten Rechte. Anders die Wahlrechte des Art.  20 II lit. b) AEUV. Nicht nur das Kommunalwahlrecht, sondern auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament gelten unter denselben „Bedingungen (…) wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats“. Mithin wird ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorausgesetzt. 53   E. Spaventa, Seeing the Wood despite the Trees? On the Scope of Union Citizenship and its Constitutional Effects, CMLRev 45 (2008), S.  13 (18). Selbst wenn man Art.  20 I 1 AEUV und die Folgevorschriften als Spezialregelungen zum allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art.  18 AEUV ansieht, das nur im Anwendungsbereich der Verträge gilt, folgt aus dieser Einschränkung kein Argument für oder gegen eine erweiternde Auslegung der Art.  20 ff. AEUV. Denn behauptet werden kann, dass mit den Vorschriften über die Unionsbürgerschaft der Anwendungsbereich der Verträge auf nicht-wirtschaftliche und innerstaatliche Sachverhalte ausgedehnt worden sei. In diese Richtung geht nunmehr auch die Rechtsprechung des EuGH. 54   D. Kochenov, A real European Citizenship, Columbia Journal of European Law 18 (2012), S.  55 (67); E. Spaventa, Seeing the Wood Despite the Trees?, CMLRev 45 (2008), S.  13 (18). 55   EuGH, Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, S.  I-6193 (6242), Rn.  31; Rs. C-413/99 (Baumbast), Slg. 2002, S.  I-7091 (7166), Rn.  82; Rs. C-148/02 (García Avello), Slg. 2003, S.  I-11613 (11644), Rn.  22; Rs. C-200/02 (Zhu/Chen), Slg. 2004, S.  I-9925 (9964), Rn.  25; Rs. C-209/03 (Bidar), Slg. 2005, S.  I-2119 (2164), Rn.  31; Rs. C-34/09, Slg. 2011 (Ruiz Zambrano), S.  I-2077, Rn.  41. A. Schrauwen, European Union Citizenship in the Treaty of Lisbon: any change at all?, Maastricht Journal of European and Comparative Law 15 (2008), S.  55 (60) weist zutreffend auf den Widerspruch dieser Rechtsprechung zum ergänzenden (additiven) Charakter der Unionsbürgerschaft gemäß den Vertragstexten hin. Hierin ist m.E. die eigentlich rechtsgestaltende Wirkung der EuGH-Judikatur zur Unionsbürgerschaft begründet, die ein Problem der Organkompetenz des Gerichts aufwirft. Dem soll in vorliegendem Rahmen nicht nachgegangen werden. 56   S.  d azu die Beiträge in: E. Schmidt-Aßmann / B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund. Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, 2005 sowie W. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund: Grundfragen, Kennzeichen, Herausforderungen, 2010; ferner die monographische Bearbeitung durch: T. Siegel, Entscheidungsfindung im Verwaltungsverbund: horizontale Entscheidungsvernetzung und vertikale Entscheidungsstufung im nationalen und europäischen Verwaltungsverbund, 2009. 57   Zur Komitologie: A. Edenharter, Die Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon: Verschiebung der Einflussmöglichkeiten zugunsten der EU-Kommission?, DÖV 2011, S.  645 ff.; C. Möllers / J. von

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Selbst die Verfassungen der Mitgliedstaaten stehen nicht mehr solitär, sondern werden als Bestandteile eines umfassenden Verweisungskontextes aufgefasst, den man als „europäischen Verfassungsverbund“58 bezeichnet und in dem die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“ der Mitgliedstaaten (Art.  6 III EUV) nicht mehr nur Rechtserkenntnisquelle des geltenden Unionsrechts sind, sondern darüber hinaus als Begriffsreservoir zur Fortentwicklung des gemeineuropäischen Rechts fungieren. Auch die Unionsbürgerschaft kann mit der Netzwerk-Metapher eingefangen werden.59 Sie bleibt zwar an die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit gekoppelt, weist aber über den Primärraum des Mitgliedstaates hinaus. Die Unionsbürgerschaft symbolisiert das dialektische Verhältnis zweier politischer Identitäten. Sie setzt den sich national definierenden Staatsangehörigen in Bezug zu einer supranationalen, multi-kulturellen und vielsprachigen Öffentlichkeit, die nicht auf den Staat angewiesen ist. Diese europäische Öffentlichkeit existiert als politisches Faktum schon seit Jahrhunderten, gewinnt aber rechtliche Gestalt und Relevanz erst mit den Regelungen zum Unionsbürgerstatus. Die transnationale Dimension der Unionsbürgerschaft wird anhand der an die Mitgliedstaaten adressierten Unionsbürgerrechte deutlich. Die Mitgliedstaaten gewährleisten: das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht, das Wahlrecht zum Europäischen Parlament sowie das Recht auf Gleichstellung von Unionsbürgern und Staatsangehörigen bei Kommunalwahlen60. Darüber hinaus beinhaltet der Unionsbürgerstatus auch Ansprüche gegen die Mitgliedstaaten auf KoAchenbach, Die Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung der Europäischen Kommission nach dem Lissabonner Vertrag, EuR 2011, S.  39 ff.; F. Petersen / K. Heß, Das Komitologieverfahren im Gemeinschaftsrecht – Funktion und Grenzen am Beispiel der Novellierung der EG-Abfallrichtlinie, ZUR 2007, S.  567 ff. 58   Zu Begriff und Verbundmodellen: I. Pernice, La Rete Europea di Constituzionalità – Der Europäische Verfassungsverbund und die Netzwerktheorie, ZaöRV 70 (2010), S.  51 ff. 59   F. Wollenschläger, Vernetzte Angehörigkeiten. Staats- und Unionsbürgerschaft als komplementäre Zugehörigkeitsverhältnisse im Mehrebenensystem Europäische Union in: S.  Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S.  104 ff. 60   Der Gleichstellungsansatz auf kommunaler Ebene wurzelt im Kommunalismus. Die kommunalistische Theorie sieht in den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften die Keimzelle der Demokratie. Während des Zweiten Weltkriegs hatte der Schweizer Historiker Adolf Gasser die „Gemeindefreiheit als Rettung Europas“ propagiert (so der Titel seiner gleichnamigen Schrift von 1943). Dazu: K.-P. Sommermann, Demokratiekonzepte im Vergleich in: H. Bauer / P.M. Huber / ders., Demokratie in Europa, 2005, S.  191 (202 mit Fn.  41). Durch die kommunalwahlrechtliche Gleichstellung verschmelzen die Unionsbürger nicht mit dem Staatsvolk ihrer Wohnsitzstaaten. Dies selbst dann nicht, wenn man auf der Grundlage des Art.  28 I 2 GG die Existenz von Teilvölkern kommunaler Gebietskörperschaften annimmt, denn diese Teilvölker sind keine vom Staatsvolk separierten Entitäten, sondern regionale Ausschnitte desselben. Der europäische Gesetzgeber hat sich durch die Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 diese Sichtweise zueigen gemacht. Bereits die Erwägungsgründe der Richtlinie betonen, dass das aktive und passive Kommunalwahlrecht für Unionsbürger nicht an die Stelle des aktiven und passiven Wahlrechts der Staatsangehörigen des Wohnsitzstaates treten soll, sondern der Integration der Unionsbürger in ihrem Wohnsitzstaat dient. Die Beteiligung auf kommunaler Ebene solle also vom Integrationswillen der Unionsbürger abhängen, weshalb auch in Mitgliedstaaten mit Wahlpflicht die Unionsbürger nicht zur Ausübung ihres Wahlrechts verpflichtet werden sollten. Art.  7 der Richtlinie führt diesen Regelungsgedanken aus. Aus den Erwägungen folgt, dass es dem Unionsgesetzgeber mit der Einführung des von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Kommunalwahlrechts nicht um die Fundierung eines Unionsvolkes auf kommunaler Ebene, gar um die Grundlage einer künftigen Bundesstaatlichkeit der Union, sondern um eine pragmatische Vertiefung der Integration unter Wahrung der bestehenden Staatlichkeit der Mitgliedstaaten ging.

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operation ihrer Behörden, wenn Unionsbürger z. B. von ihrem Petitionsrecht zum Europäischen Parlament oder von der europäischen Bürgerinitiative Gebrauch machen wollen. Die Unionsbürgerschaft begründet mithin neben Rechten gegen die Union einen der Freizügigkeit kongruenten Rechtsstatus der Staatsangehörigen gegen ihren Aufenthalts- bzw. Wohnsitzmitgliedstaat.61 Bei näherer Betrachtung ergänzen die Partizipationsrechte des Unionsbürgers die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit nicht lediglich, wie es Art.  9 I 3 EUV, Art.  20 I 3 AEUV suggerieren, sondern verlängern diese in den Souveränitätsraum anderer Mitgliedstaaten hinein. In diesem Sinne hat der Gerichtshof bislang die Unionsbürgerschaft entwickelt. Wesentlich ist dabei, dass – entsprechend dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – jeder Mitgliedstaat die in den anderen Mitgliedstaaten jeweils gültigen Regelungen zu Begründung und Ausübung der Staatsangehörigkeit zu akzeptieren hat.62 In ihrer 61   Zuvor bestimmte sich die Weite von Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht im Wesentlichen nach Sekundärrecht. Die VO (EWG) Nr.  1612/68 vom 15. Oktober 1968 regelte die Arbeitnehmerfreizügigkeit grundlegend. Art.  10 ff. der Verordnung gewährten auch Familienangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen Aufenthalts- und Gleichstellungsrechte. Zahlreiche Richtlinien zu Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht wurden durch die Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 (Freizügigkeitsrichtlinie) aufgehoben. Das Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht wurde dadurch vereinheitlicht. In der zu Art.  20 AEUV ergangenen Entscheidung des EuGH, Rs. C-34/09, Slg. 2011 (Ruiz Zambrano), S.  I-2077, Rn.  42 hat der Gerichtshof erstmalig festgestellt, dass Staatsangehörige unionsbürgerschaftliche Rechte auch gegen den eigenen Mitgliedstaat geltend machen können. Diese Rechtsprechungswende zog Kritik auf sich: K. Hailbronner / D. Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, S.  2008 (2009 ff.); M. Nettesheim, Der „Kernbereich“ der Unionsbürgerschaft – vom Schutz der Mobilität zur Gewährleistung eines Lebensumfelds, JZ 2011, S.  1030 ff. Allerdings ist angesichts der kurzen Begründung des Gerichtshofs die Tragweite der Entscheidung unklar (Hailbronner / Thym aaO, S.  2011 ff.). N. Graf Vitzthum, Die Entdeckung der Heimat der Unionsbürger, EuR 2011, S.  550 (554 ff.) schlägt eine restriktive Auslegung vor. Hiernach habe der Gerichtshof kein aus der Unionsbürgerschaft abgeleitetes, von der Ausübung der Freizügigkeit unabhängiges Aufenthaltsrecht der Unionsbürger im Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit konstruieren wollen. In diesem Fall hätte der Gerichtshof seine Rechtsprechungszuständigkeit auf rein innerstaatliche Sachverhalte ausgedehnt und damit außerhalb seiner Kompetenzen gehandelt (in diesem Sinne: Vitzthum aaO, S.  557 f.). Vielmehr habe Luxemburg ein Verbot der Ausweisung eines Unionsbürgers aus der Union statuiert, das im Wege des Rechtsreflexes auch Drittstaatsangehörigen zukomme. Damit werde eine normative Übereinstimmung mit Art.  3 I des 4. ZP der EMRK herbeigeführt. Nach Vitz­ thums Deutung des Urteils läge dessen Pointe darin, dass eine mitgliedstaatliche Maßnahme, die einen Unionsbürger zum Verlassen der Union zwingt, den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet. Allerdings geht es dabei weniger um den Schutz des Aufenthaltsrechts des Unionsbürgers in der Union (dieses war in der Rs. Ruíz Zambrano nicht bestritten), sondern um den Schutz seines tatsächlichen Verbleibs in der Union. Der tatsächliche Verbleib konnte im vorgelegten Fall nur durch Anerkennung eines rechtlich gesicherten Aufenthaltsstatus des drittstaatsangehörigen Familienmitglieds des Unionsbürgers erreicht werden. Weniger restriktiv versteht M. Nettesheim aaO das Urteil. Dass der Gerichtshof seine Entscheidung auf Art.  20 AEUV (nicht auf Art.  21 AEUV) gestützt habe, verdeutliche, dass nicht lediglich eine negative Freizügigkeit (Schutz des Aufenthaltsrechts des Unionsbürgers bzw. Schutz des tatsächlichen Verbleibs in der Union) gewährleistet, sondern eine grundsätzliche Aufwertung des Unionsbürgerstatus gewollt sei. 62   EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, S.  I-4239 (4262), Rn.  10 f.: Hiernach ist es „nicht Sache der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt wird“ (aaO, Rn.  10). Die Entscheidung bezieht sich auf die Niederlassungsfreiheit. Der darin statuierte Grundsatz der Auslegung des Staatsangehörigkeitsrechts im Lichte der unionsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit ist allerdings auf Art.  20 ff. AEUV übertragbar.

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Schutzrichtung gegen die Mitgliedstaaten liegt die Pointe der Art.  20 ff. AEUV. Während die ökonomische Verflechtung der Union durch eine integrationsfördernde Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Grundfreiheiten63 (vgl. die Entwicklung der Grundfreiheiten von Geboten der Inländergleichbehandlung zu materiellen Diskriminierungsverboten64) und Unionsgrundrechten65 auch ohne Einführung einer Uni Die Grundfreiheiten sind mit der Zeit vom Gerichtshof von Diskriminierungs- zu Beschränkungsverboten ausgebaut worden. In der Rs. C-152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, S.  153 (164 f.), Rn.  10 ff. urteilte der EuGH, dass die Grundfreiheiten neben unmittelbaren und offenen Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit auch mittelbar-faktische (verdeckte) Diskriminierungen, die an formal unterschiedslose Regelungen anknüpfen, verbieten, da auch insoweit Fremdstaatsangehörige schlechter gestellt würden. Die weitere Entwicklung konzentrierte sich zunächst auf die Warenverkehrsfreiheit. Mit dem grundlegenden Urteil EuGH Rs. C-8/74 (Dassonville), Slg. 1974, S.  837 (852), Rn.  5 definierte der EuGH den Begriff der „Maßnahme gleicher Wirkung“ (Art.  34 AEUV) als „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“. In der Rs. C-120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, S.  649 (662, 664) legte der Gerichtshof das durch Art.  37 AEUV implizit garantierte Herkunftslandprinzip weit aus. Hiernach müssen Handelshemmnisse im Binnenmarkt, die sich aus unterschiedlichen Vermarktungsvorschriften ergeben, nur hingenommen werden, „soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden“ (aaO, Rn.  8 ). Damit wird die Regulierung des grenzüberschreitenden Handels der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten weitgehend entzogen. Die Dassonville-Rechtsprechung wurde durch EuGH Rs. C-267 und 268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, S.  I-6097 (6131), Rn.  16 zwar durch Bildung der Unterkategorie der unterschiedslos wirkenden Verkaufsmodalitäten eingeschränkt, im Kern aber aufrecht erhalten. Von Anfang an stellte sich die Frage, inwieweit eine der Warenverkehrsfreiheit analoge Liberalisierungsentwicklung bei den Personenfreiheiten möglich ist. Der EuGH nahm hierzu in einigen grundlegenden Entscheidungen der 1990er-Jahre Stellung. In der Rs. C-76/90 (Säger), Slg. 1991, S.  I-4221 (4243), Rn.  12 urteilte der Gerichtshof, dass die Dienstleistungsfreiheit die Auf hebung aller Beschränkungen verlangt, „wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden oder zu behindern“. Das gilt selbst für formal unterschiedslose Maßnahmen. Ähnlich judizierte der EuGH in der Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, S.  I-2357 (2383 f.), Rn.  15 f. in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit. S.  auch EuGH Rs. C-19/92 (Kraus), Slg. 1993, S.  I-1663 (1697), Rn.  32. In der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, S.  I-4921 (5068 f.), Rn.  94 ff. legte der EuGH Art.  45 AEUV in einer Weise aus, die auf ein Verbot von Beschränkungen oder Behinderungen der effektiven Inanspruchnahme der Grundfreiheiten hinaus läuft. Zur Rechtfertigungsfähigkeit mittelbar diskriminierender mitgliedstaatlicher Regelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Rs. C-325/08 (Olympique Lyonnais), Slg. 2010, S.  I-2177, Rn.  49. 64   W. Frenz, Handbuch Europarecht Band I, 2004, §  2 , Rn.  49. 65   Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ruht der Grundrechtsschutz in der Union auf zwei Säulen: zum einen auf der Europäischen Grundrechtecharta vom 7. Dezember 2000 i.d.F. vom 12. Dezember 2007, die durch Art.  6 I 1 Hs. 2 EUV Rechtsverbindlichkeit erlangt; zum anderen auf den „allgemeinen Grundsätzen“ des Unionsrechts im Sinne des Art.  6 III EUV. In der Rs. C-29/69 (Stauder), Slg. 1969, S.  419 (425), Rn.  7 deutete der EuGH erstmalig die Existenz vertraglich nicht ausdrücklich gewährleisteter Gemeinschaftsgrundrechte an. Dies geschah ohne jede weitere Begründung. In ständiger Rechtsprechung entwickelte der Gerichtshof diesen Ansatz weiter. Die in der Rs. Stauder fehlende Begründung wurde in der Rs. C-11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, S.  1125 (1135), Rn.  3 f. nachgeholt. Der EuGH stellt darin zunächst klar, dass die Verletzung nationaler Grundrechte die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Maßnahme nicht beeinträchtigt. Allerdings lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, dass Gemeinschaftsrecht gegen nationale Grundrechte verstoßen darf. In der Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, S.  491 (507), Rn.  13 führt der Gerichtshof aus, dass „er keine Maßnahmen als Rechtens anerkennen (kann)“, die mit den in den Verfassungen der Mitgliedstaaten gewährleisteten Grundrechte unvereinbar sind. Die Grundrechtsjudikatur des EuGH war zunächst von relativ geringer Tragweite, da Grundrechte gemeinschaftsrechtlich nur anerkannt wurden, soweit sie von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen waren und sich in 63

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onsbürgerschaft hätte vorangetrieben werden können66, legt erst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu bürgerschaftlicher Gleichbehandlung fremder mit eigenen Staatsangehörigen die Grundlage eines Staatenverbundes, der einerseits als „Auffangnetz“ des Integrationsprozesses unter den Binnenmarkt gespannt ist67, andererStruktur und Ziele der Gemeinschaft einfügten (Rs. C-11/70, Rn.  4 ). M.a.W. wurde mit den Gemeinschaftsgrundrechten keine den Rechtskulturen der Mitgliedstaaten fremde Institution geschaffen. In der Rs. Internationale Handelsgesellschaft bringt der EuGH zum Ausdruck, dass Grundrechte und Grundfreiheiten dieselbe Zweckrichtung haben: Freiheitsschutz im Binnenmarkt. Grundrechte können als „Gegengründe“ zur Beschränkung von Grundfreiheiten fungieren. Für die Menschenwürde: EuGH, Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, S.  I-9609 (9652 ff.), Rn.  32 ff. Für die Meinungsfreiheit: EuGH, Rs. C-288/89 (Antenne Gouda), Slg. 1991, S.  I-4007 (4043), Rn.  23 (wenn auch im konkreten Fall abgelehnt); Rs. C-336/07 (Kabel Deutschland), Slg. 2008, S.  I-10889, Rn.  37 (Bestätigung von „Antenne Gouda“); Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, S.  I-2925 (2964), Rn.  45 (Meinungsfreiheit als mögliche Schranken-Schranke und Abwägungsbelang im Rahmen der Art.  52 I, 62 AEUV). Für die Versammlungsfreiheit: EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, S.  I-5659 (5718 ff.), Rn.  74, 78 ff. Für die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (einschl. Streik- und Aussperrungsrecht): EuGH, Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, S.  I-10779 (10825 ff.), Rn.  4 0 f., 44 ff.; Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, S.  I-11767 (11883 ff.), Rn.  87 ff. Das vom EuGH definierte Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten konnte von Anbeginn an mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden. M.E. näher liegt es, die Zweckrichtungen als gänzlich unterschiedlich anzusehen. Grundrechte schützen in den Rechtskulturen der Mitgliedstaaten – und also auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung – die Person um ihrer selbst willen bzw. deren freie Entfaltung als Selbstzweck, während die Grundfreiheiten das Individualrechtsinteresse in den Dienst der Effektuierung der supranationalen Integrationsziele stellen. Die EuGH-Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten sollte indessen schon bald teilweise überholt sein. Mit der Verortung der Gemeinschaftsgrundrechte in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK als Rechtserkenntnisquelle (Art.   6 II EUV-Nizza) verselbständigten sich die Grundrechte von ihrer ursprünglich engen binnenmarktorientierten Schutzfunktion und entwickelten sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der Unionsbürgerschaft zu personellen Schutzrechten nach dem Vorbild der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen. Die Verabschiedung der Europäischen Grundrechtecharta ist ein vorläufiger Schlusspunkt dieses Entwicklungsprozesses. Zum Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten und zur diesbzgl. Rechtsprechung des EuGH: W. Frenz, Handbuch Europarecht Band I, 2004, §  2 , Rn.  43 ff. 66  Ein Beispiel für die extensive Auslegung der Grundfreiheiten ist die Konkretisierung des die Arbeitnehmerfreizügigkeit konkretisierenden Sekundärrechts durch den EuGH in der Rs. C-413/99 (Baumbast), Slg. 2002, S.  I-7091 ff. Die Entscheidung betrifft die Auslegung der Art.  10 ff. der VO (EWG) Nr.  1612/68 vom 15. Oktober 1968 zum Aufenthaltsrecht für Familienangehörige eines Wanderarbeitnehmers. Dazu insbesondere aaO, S.  I-7159 (Rn.  63), I-7162 f. (Rn.  71 ff.). Die Entscheidungsgründe in der Rechtssache Baumbast verdeutlichen, dass die Angehörigen, die nach Sekundärrecht ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht besitzen, dennoch „aus menschlicher Sicht“ (EuGH aaO, S.   I-7161, Rn.  68) und im Lichte des Art.  8 EMRK (aaO, S.  I-7162, Rn.  72) eine gefestigte Aufenthaltsposition haben müssen. Dies gilt selbst für Drittstaatsangehörige. Anhand der Baumbast-Entscheidung wird das qualitative Plus deutlich, das die Unionsbürgerschaft dem Aufenthaltsrecht hinzugefügt hat. AaO, S.  I-7165 (Rn.  81) führt der Gerichtshof aus, dass vor Einführung der Unionsbürgerschaft gemäß der vormaligen Rechtsprechung das Aufenthaltsrecht im fremden Mitgliedstaat die Inanspruchnahme der Grundfreiheiten voraussetzte. Im Fall Baumbast hätte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens demnach nicht mehr auf ein Aufenthaltsrecht nach der VO (EWG) Nr.  1612/68 berufen können, da er mittlerweile außerhalb der Union arbeitete. Der Gerichtshof führte aus, dass die unionsbürgerschaftlichen Rechte indessen keine Erwerbstätigkeit voraussetzen. Wer in Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat übergesiedelt ist und diese Tätigkeit dort verliert, geht mithin nicht seines Aufenthaltsrechts verlustig. Zwar ist das Aufenthaltsrecht aus Art.  21 I AEUV nicht schrankenlos, doch müsse es jedenfalls bei Vorliegen der Mindestvoraussetzungen der Frei­z ügig­keits­r ichtlinie (Art.  7 I) und nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips gewährt werden. 67   Mittels der Unionsbürgerschaft wird im Zuge der Rechtsangleichung materielle soziale Gleichheit in der Union angestrebt und verwirklicht. Hierin überschneidet sie sich mit der Demokratie. In der

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seits den Akteuren des europäischen Integrationsprozesses einen außerhalb des Ökonomischen belegenen Vertiefungspfad aufzeigt. Die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art.  1 II EUV), die sich per definitionem Art.  1 II EUV „bürgernah“ gestalten soll, wird damit in die Hände aller Bürger, auch der nicht ökonomisch tätigen, gelegt. Kann die Konstruktion eines „Auffangnetzes“ der europäischen Integration, das den Integrationsprozess gegen Marktversagen abschirmt, aus der grundrechtlichen Freiheitsidee als objektive, d. h. die gemeineuropäische Wertordnung betreffende Dimension der Unionsbürgerschaft begriffen werden, so erhellt sie das eigentliche Movens des Staatenverbund-Begriffes, der auf ebendiese freiheitsrechtliche Komponente verweist. Die Union unterscheidet sich vom Staatenbund gerade dadurch, dass sie nicht im Interesse der Mitgliedstaaten, sondern der Bürger existiert. Das bringt der Begriff des „Staatenverbundes“ ebenso deutlich zum Ausdruck wie die Distanz der Union zum Bundesstaat. Damit wird auch klar, weshalb die Unionsbürgerschaft erst ab einer bestimmten Stufe des Integrationsprozesses, die mit dem Maastricht-Vertrag erreicht wurde, eingeführt werden konnte. Zuvor hatte sich die Europäische Gemeinschaft, obschon als Rechtsgemeinschaft sui generis anerkannt68, noch nicht in genügenden Maße von ihrem völkerrechtlichen Kern gelöst. Eine Staatssemantik als Voraussetzung einer Staatsfinalität (die natürlich weitere Integrationsstufen in Richtung Staatlichkeit der Union voraussetzt) kam erst mit Gründung der Europäischen Union in Reichweite. Die Etablierung der Union verlagerte zugleich den Integrationsschwerpunkt von der Gemeinschafts- zur intergouvernementalen Methode. Das Ausmaß der Annäherung der Union an einen Bundesstaat lag und liegt nun in der Hand der Mitgliedstaaten. Die Aufnahme von an die Mitgliedstaaten adressierten Bürgerrechten, die nicht in grenzüberschreitender ökonomischer Tätigkeit verwurzelt sind, in den Vertrag von Maastricht schuf einen der intergouvernementalen Zentripetalkraft entgegen wirkenden Mechanismus. Der Europäische Gerichtshof hat das Auffangpotential der Unionsbürgerschaft früh erkannt und genau an diesem Hebel angesetzt, indem er die Mitgliedstaaten zur Wahrung bürgerschaftlicher Gleichheit im Hinblick auf soziale und kulturelle Rechte verpflichtet hat.69 In der Rechtssache Martínez Sala hat der Gerichtshof entschieden, dass sich ein Unionsbürger, der sich rechtmäßig im Gebiet eines Mitgliedstaates auf hält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, „in allen sozialen Komponente der Unionsbürgerschaft deutet sich eine von ethnisch-kulturellen Kontextbedingungen freie Homogenität als Grundlage europäischer Demokratie an. Allerdings führt dies weniger zur Demokratisierung des institutionalisierten Entscheidungsprozesses auf Unionsebene als vielmehr zu einer Vernetzung der mitgliedstaatlichen Demokratien mit der Folge, dass jeder Unionsbürger, gleich in welchem Staat der Union er sich auf hält, ein unionsrechtlich garantiertes Mindestmaß an politischen und sozialen Rechten genießt. Es muss also nicht die Union als Ganze demokratisiert werden, wenn und soweit von diesem Prozess unerwünschte Verstaatlichungstendenzen befürchtet werden, sondern die Mitgliedstaaten werden zu postnationaler Öffnung verpflichtet. 68   EuGH, Rs. C-6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, S.  1141 (1269). 69   Der EuGH hat aus der Unionsbürgerschaft sozialstaatliche Schutzrechte bei rechtmäßigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat abgeleitet: EuGH, Rs. C-85/96 (Martínez Sala), Slg. 1998, S.  I-2691 (2726), Rn.  63; Rs. C-456/02 (Trojani), Slg. 2004, S.  I-7573 (7610 ff.), Rn.  42 ff. S.  auch: EuGH, Rs. 184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, S.  I-6193 (6243 ff.), Rn.  35 ff. zur Frage der Gemeinschaftsrechtskonformität automatischer Ausweisung bei Bezug von Sozialhilfe. Zu den Konsequenzen der Rechtsprechung des EuGH für die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten: K.-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S.  2057 ff.

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vom sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfassten Fällen“ auf Art.  18 AEUV berufen kann.70 Im Fall Grzelczyk folgerte der Gerichtshof unter anderem aus der Unionsbürgerschaft – in expliziter Abkehr von seiner vormaligen Rechtsprechung – unter der Voraussetzung rechtmäßigen Aufenthalts ein Recht auf Sozialhilfe gegen den Aufnahmemitgliedstaat. Werde Sozialhilfe aus Gründen der Staatsangehörigkeit verweigert, erfülle dies den Diskriminierungstatbestand des Art.  18 AEUV. Zwar bleibe es dem Aufnahmemitgliedstaat unbenommen, an den Sozialhilfebezug nachteilige Rechtsfolgen (z. B. eine Ausweisungsverfügung) zu knüpfen, doch beuge Art.  18 AEUV insoweit einem Automatismus vor71. In der Rechtssache Trojani führt der Gerichtshof aus, dass einem fremdstaatsangehörigen Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht aus Art.  21 AEUV im Aufnahmemitgliedstaat auch dann zustehen kann, wenn sich dieses Aufenthaltsrecht nicht bereits aus der Ausübung der Grundfreiheiten (Art.  45 III, 49, 56 AEUV) ergibt. Daraus resultiere ein Recht auf Unterstützungsleistungen durch den Aufnahmemitgliedstaat nach den für die eigenen Staatsangehörigen geltenden Voraussetzungen.72 Desweiteren hat der Gerichtshof aus der Unionsbürgerschaft Leitlinien für das Recht zum Gebrauch der eigenen Sprache73, das Namensrecht74, den Entzug der Unionsbürgerschaft75 und vor allem für den Aufenthaltsstatus Drittstaatsangehöriger76 abgeleitet. Letzterer Aspekt ist besonders heikel. Um dies zu illustrieren, ist auf die Eingangsbemerkung zum Bürgerschaftskonzept als Idee von Integration durch Inklusion zurückzukommen.   EuGH, Rs. C-85/96 (Martínez Sala), Slg. 1998, S.  I-2691 (2726), Rn.  63.   EuGH, Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, S.  I-6193 (6243 ff.), Rn.  35 ff. Für eine Aufenthaltsfristregelung zur Gewährung von Unterhaltsbeihilfen an Studierende: EuGH, Rs. C-158/07 (Förster), Slg. 2008, S.  I-8507, Rn.  60. 72   EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Slg. 2004, S.  I-7573 (7610 ff.), Rn.  42 ff. Die Leistungsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten wird zunehmend auch durch die Migration von Studierenden in Frage gestellt, so z. B. im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich oder zwischen Frankreich und Belgien. Art.  18, 21 I AEUV sichern nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch den Zugang zur Berufsausbildung (EuGH, Rs. C-147/03 (Kommission/Österreich), Slg. 2005, S.  I-5969 (6004 f.), Rn.  32 ff.). In der Rs. C-73/08 (Bressol), Slg. 2010, S.  I-2735, Rn.  62 ff. lässt die Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung durch ein mitgliedstaatliches Gesetz, das im Mitgliedstaat Ansässige (unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit) privilegiert, grundsätzlich zu. Die Prüfungskompetenz obliegt insoweit den mitgliedstaatlichen Gerichten. Grundlegend (in Abweichung von früherer Rechtsprechung): EuGH, Rs. C-209/03 (Bidar), Slg. 2005, S.  I-2119 (2165 f.), Rn.  36 ff. 73   EuGH, Rs. C-274/96 (Bickel und Franz), Slg. 1998, S.  I-7637 (7655, 7657), Rn.  16, 23 ff. In der Entscheidung Bickel und Franz zieht der EuGH die Unionsbürgerschaft als Anknüpfungspunkt eines Anspruchs auf Gebrauch der eigenen Muttersprache vor nationalen Gerichten heran, sofern dieses Recht den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaates eingeräumt wird. S.  auch N. Reich, Union Citizenship – Metaphor or Source of Rights?, ELJ 7 (2001), S.  4 (13 f.). 74   EuGH, Rs. C-148/02 (García Avello), Slg. 2003, S.  I-11613 (11645), Rn.  25. 75  EuGH, Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, S.  I-1449, Rn.  48, 50 ff. Zur Entscheidung: W. Kahl, Unionsbürgerstatus und nationale Staatsangehörigkeit – Souveränität unter unionsrechtlichem Vorbehalt?, Jura 2011, S.  364 ff. 76   Die Unionsbürgerschaft verleiht Drittstaatsangehörigen nur ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht, insofern Unionsbürger auf ihre drittstaatsangehörigen Familienmitglieder angewiesen sind. K. Hailbronner / D. Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, S.  2008 (2012) sprechen zutreffend von einem „Rechtsreflex“. Unabhängig davon genießen Drittstaatsangehörige aber ggf. ein Aufenthaltsrecht aus mitgliedstaatlichen Grundrechten, aus nationalem Ausländerrecht oder auf Grund der Richtlinie 2003/109/EG vom 25. November 2003 (Daueraufenthalts-Richtlinie). 70 71

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Die Integration der Völker Europas (Art.  1 III EUV) mit vorläufig offener Finalität ist der Daseinszweck der Europäischen Union. Der Bürgerbegriff verleiht dem Integrationsanliegen als solchem, das vor Einführung der Unionsbürgerschaft den Charakter einer Absichtserklärung mit vagem rechtlichem Inhalt hatte, eine juristische Form. Fortan verlagert sich der Integrationsfokus des Europarechts von sachlicher auf personelle Inklusion. Als Inklusionshürden erwiesen sich dabei erstens das Erfordernis einer wirtschaftlichen, auf die Ausübung der Grundfreiheiten bezogenen Tätigkeit, zweitens das grenzüberschreitende Element, verbunden mit der Befugnis zur Inländerdiskriminierung als Ausdruck mitgliedstaatlicher Souveränität77. Diese Hürden wurden von der Rechtsprechung teilweise abgebaut. Der Gerichtshof fasst seine aus Art.  18 ff. AEUV und dem Sekundärrecht entwickelten Bereichsdogmatiken zur Unionsbürgerschaft zu einer allgemeinen Kernbereichsdogmatik zusammen, wonach die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung ihres Staatsangehörigkeitsrechts nicht zur rechtlichen oder tatsächlichen Entleerung des Unionsbürgerstatus führen darf 78. Die Kernbereichsjudikatur läuft auf ein Verbot der Inländerdiskriminierung für einen Kernbereich bürgerschaftlicher Rechte79, ferner auf den Fortfall des als Anwendungsvoraussetzung des Unionsrechts erachteten grenzüberschreitenden Sachverhalts hinaus. Die dritte Hürde auf dem Weg zu größtmöglicher Inklusion ist die Souveränität der Mitgliedstaaten im Umgang mit Drittstaatsangehörigen im eigenen Hoheitsbereich. Hier geht es um einen Grundaspekt innerer Souveränität. Die Staaten beanspruchen traditionell die uneingeschränkte Definitionshoheit über Bindungsvoraussetzungen und Bindungsumfang des Bürgerschaftsverhältnisses. Dies bleibt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht unbestritten. In der Rechtssache Carpenter erkannte der Gerichtshof, dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinne des Unionsrechts nicht notwendig einen Grenzübertritt von einem Mitgliedstaat in einen anderen voraussetze. Im Hinblick auf die tatsächliche Möglichkeit eines Unionsbürgers zur Ausübung seiner Grundfreiheiten (im Fall Carpenter stand die Dienstleistungsfreiheit im Raume) sei auch das Familienleben (Art.  6 III EUV i. V. m. Art.  8 EMRK) zu schützen, zumal wenn anderenfalls ein faktischer Zwang des Unionsbürgers zur Ausreise aus dem Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit bestünde. Folglich sei der Mitgliedstaat nicht frei, eine Ausweisungsverfügung gegen einen drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers zu erlassen, sofern dadurch die

  Zum Verständnis der Inländerdiskriminierung: EuGH, Rs. C-52/79 (Debauve), Slg. 1980, S.  833 (855), Rn.  9 ; Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, S.  I-4921 (5067), Rn.  89. Freilich darf nicht verkannt werden, dass die Befugnis zur Inländerdiskriminierung engen unionsrechtlichen Grenzen unterliegt. Unzulässig ist die Diskriminierung der eigenen Staatsangehörigen aus Anlass des Gebrauchs der Grundfreiheiten oder der Freizügigkeit des Art.  21 I AEUV. Dies gilt auch dann, wenn der grenzüberschreitende Bezug und damit die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge in einer Rückkehr in den Herkunftsstaat besteht (A. Haratsch / C. Koenig / M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn.  710). 78   A. Haratsch / C. Koenig / M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn.  734. 79   Dass lediglich im Kernbereich der Unionsbürgerschaft eine Inländerdiskriminierung verboten ist, entspricht der Einschätzung von K. Hailbronner / D. Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, S.  2008 (2009, 2011). Ein generelles Verbot der Inländerdiskriminierung ist weder durch Art.  18 ff. AEUV vorgesehen noch findet es eine Stütze im Sekundärrecht. Vielmehr ist die Inländerdiskriminierung Ausweis der den Mitgliedstaaten verbliebenen Souveränität im Umgang mit ihren Staatsangehörigen. 77

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tatsächliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten beeinträchtigt würde.80 In der Rechtssache Zhu/Chen erweiterte der Gerichtshof seine Carpenter-Rechtsprechung auf einen Fall, in dem kein Bezug zu den Grundfreiheiten bestand und sich die Grenzüberschreitung lediglich aus der Geburt einer Unionsbürgerin (irischer Staatsangehörigkeit) in einem anderen Mitgliedstaat (Großbritannien) ergab. Insoweit wies der Gerichtshof die Auffassung der irischen Regierung zurück, die eine Gewährung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts aus Art.  20 II lit. a) i. V. m. Art.  21 AEUV von der tatsächlichen Möglichkeit der Inanspruchnahme der Grundfreiheiten abhängig machen wollte (sie war im konkreten Fall nicht gegeben, da die Unionsbürgerin ein Kleinkind war). Die Mitgliedstaaten seien nicht frei, ein drittstaatsangehöriges Familienmitglied (vorliegend die Mutter), das die Personensorge für die Unionsbürgerin trage, auszuweisen; dies selbst dann nicht, wenn die Grenzüberschreitung nicht in wirtschaftlicher Absicht erfolgt sei, sondern allein dem Zweck der Erlangung eines dauerhaften Aufenthaltsrechts durch die Drittstaatsangehörige gedient habe.81 Die in Carpenter und Zhu/Chen aufgezeigte Rechtsprechungslinie – großzügige Interpretation des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und Einschränkung der Exklusionsbefugnisse der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Drittstaatsangehörige – kann in den Rechtssachen Metock82, Ruíz Zambrano83 und Dereci84 weiterverfolgt werden. In der Rechtssache Metock kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Gemeinschaft (bzw. jetzt: Union) auf Grundlage der Art.  21 II, 46, 50, 59 AEUV die Zu­ ständigkeit erwächst, „alle Maßnahmen zu erlassen, die erforderlich sind, um die Freizügigkeit der Unionsbürger herzustellen“. Folglich könne der Gemeinschaftsgesetzgeber in diesem Rahmen „die Voraussetzungen regeln, unter denen die Familienangehörigen eines Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein­ reisen und sich dort auf halten dürfen, sofern der Unionsbürger dadurch in seiner Freizügigkeit beeinträchtigt sein könnte, dass ihn seine Familie nicht in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nicht dorthin nachziehen darf, weil ihn dies davon abhielte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in diesen Mitgliedstaat ein-

  EuGH, Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002, S.  I-6279 (6318 ff.), Rn.  29, 38 f., 42 ff.   EuGH, Rs. C-200/02 (Zhu/Chen), Slg. 2004, S.  I-9925 (9963 ff.), Rn.  20, 36. 82   In EuGH, Rs. C-127/08 (Metock), Slg. 2008, S.  I-6241, Rn.  54 stellte der Gerichtshof in ausdrücklicher Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung (dazu áaO, Rn.  58) fest, dass die Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers in der Union nicht von einem rechtmäßigen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat zuvor abhängig mache. Dieses Ergebnis folge bereits aus dem Unionsbürgerstatus. Hiernach muss der Aufnahmemitgliedstaat den drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern eines fremdstaatsangehörigen Unionsbürgers grundsätzlich ein Einreise- und Aufenthaltsrecht zugestehen (Rn.  64). Damit ist die Regelung des Familiennachzugs für unionsstaatsangehörige Ausländer weitgehend der Kompetenz der Mitgliedstaaten entzogen. 83   EuGH, Rs. C-34/09 (Ruíz Zambrano), Slg. 2011, S.  I-1177 ff. Die Entscheidung Ruíz Zambrano ist die eigentliche Nachfolgeentscheidung zu Zhu/Chen, denn auch in Ruíz ging es um ein von minderjährigen Unionsbürgern abgeleitetes Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörige Familienmitglieder. 84  EuGH, Rs. C-256/11 (Dereci), Rn.  74 schränkt die in Ruíz Zambrano entwickelte Kernbereichsjudikatur ein. Aus Art.  20 AEUV ergibt sich grundsätzlich kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, wenn dieser zusammen mit einem Unionsbürger in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, leben möchte und der Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat. 80 81

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zureisen und sich dort aufzuhalten“85. Indem das Unionsrecht Drittstaatsangehörigen teilweise im Widerspruch zu nationalem Recht einen Aufenthaltsstatus gewährt, erweist sich die mit dem jeweiligen Stand der europäischen Integration entwicklungsoffene86 (s. die Evaluierungspflicht des Art.  25 I AEUV) Unionsbürgerschaft als Katalysator einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Art.  1 II EUV).

4.  Die Unionsbürgerschaft − Brücke zwischen Individuum und Union? Obwohl die Unionsbürgerschaft am Vorbild der Staatsangehörigkeit konzipiert wurde, begründet sie weder eine Unionsangehörigkeit noch ein „Unionsvolk“ im staatsrechtlichen Sinne87, d. h. „kein selbständiges personales Legitimationssubjekt auf europäischer Ebene, das als sich selbst verfassendes Rechtssubjekt zur eigenen Selbstbestimmung berufen wäre“88. Die im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts getroffene Feststellung, dass mit der Unionsbürgerschaft „zwischen den Staatsangehörigen ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft (wird), das zwar nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt, dem bestehenden Maß existentieller Gemeinsamkeit jedoch einen rechtlich verbindlichen Ausdruck verleiht“89, ist nicht überholt. Ihre Legitimation bezieht die Union auch nach dem Reformvertrag von Lissabon gem. Art.  1 I EUV von der Zustimmung der „hohen Vertragsparteien“ und von deren begrenzter Einzelermächtigung (Art.  5 I 1, II EUV, Art.  7 AEUV) 90.   EuGH, Rs. C-127/08 (Metock), Slg. 2008, S.  I-6241, Rn.  61, 63.   S.  Kadelbach, Unionsbürgerschaft in: A. von Bogdandy / J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S.  611 (645). 87   Zutreffend: BVerfGE 123, 267 (372). 88  Diese Definition des Volksbegriffs vereinigt zwei Passagen des Lissabon-Urteils des BVerfG: BVerfGE 123, 267 (404 f.). 89   BVerfGE 89, 155 (184). 90   BVerfGE 123, 267 (381); 89, 155 (182, 186 f.). Im Maastricht-Urteil thematisiert das BVerfG das unionsrechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art.  5 II 1 EUV) im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Demokratie (aaO, S.  181 ff.). Die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes (Art.  23 I, 24) finde ihre Grenze an der Souveränität der Bundesrepublik, die sowohl bei Übertragung der Kompetenz-Kompetenz an die Union als auch bei einer materiellen Entsubstantialisierung der Entscheidungsbefugnisse des Deutschen Bundestages beeinträchtigt sei. Das Gericht betont aber, dass Mehrheitsentscheidungen im Rat, wie sie der Maastricht-Vertrag und in dessen Nachfolge der Vertrag von Lissabon vorsieht, von der Integrationsermächtigung des Grundgesetzes gedeckt sind. Im Lissabon-Urteil führt das BVerfG aus, dass selbst eine Vertragsänderung ohne Ratifikationsverfahren allein bzw. maßgeblich durch die Organe der Union grundgesetzkonform ist, solange das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung fort gilt und die deutschen Staatsorgane, insbesondere der Bundestag, ihrer Integrationsverantwortung nachkommen (BVerfGE 123, 267 (381)). Bereits im Kloppenburg-Beschluss hatte das BVerfG Art.  24 GG im Hinblick auf die Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts im Sinne der Gemeinschaftsziele integrationsfreundlich ausgelegt (BVerfGE 75, 223 (242)). Im Maastricht-Urteil differenziert das Gericht strikt zwischen einer vom deutschen Zustimmungsgesetz legitimierten Rechtsfortbildung im Rahmen der Verträge und einer nicht mehr gedeckten konkludenten Vertragsänderung (aaO, S.  188): einem Ultra-Vires-Akt. Die „Integrationsverantwortung“ hat seit dem Lissabon-Urteil eine steile Begriffskarriere vorzuweisen: A. von Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum. Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, S.  1 (3); M. Nettesheim, Die Integrationsverantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Umsetzung, NJW 2010, S.  177 ff.; M. Ruffert, An den Grenzen des Integrations85

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Die Staatsangehörigkeit erfasst den Personenstatus innerstaatlich wie völkerrechtlich.91 Sie vermittelt umfassende Personalhoheit einer politischen Gemeinschaft über ihre Angehörigen. Der Europäische Gerichtshof definiert das „Staatsangehörigkeitsband“ als „ein Verhältnis besonderer Verbundenheit (…) zum Staat“, das eine Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten impliziert.92 Die Unionsbürgerschaft begründet hingegen keine Personalhoheit der Union über die Unionsbürger und setzt diese auch nicht voraus. Das ergibt sich sowohl aus Art.  4 II 1 EUV – hiernach achtet die Union die „nationale Identität“ ihrer Mitgliedstaaten, zu der die Staatsangehörigkeit als Kernelement von Staatlichkeit zählt93 – als auch aus der Definition des „Unionsbürgers“ und seines Status in Art.  9 I 2, 3 EUV, Art.  20 I 2, 3 AEUV. Dass umgekehrt die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit nicht ohne die Unionsbürgerschaft, dass nationales Staatsangehörigkeitsrecht nicht ohne Unionsrecht zutreffend erfasst werden kann, ändert nichts an der in den Verträgen zum Ausdruck kommenden Rechtsquellensystematik, die eine ausschließliche Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung ihres Staatsangehörigkeitsrechts vorsieht94. Folglich hat das nationale Recht Vorrang hinsichtlich Begründung und Beendigung des Bürgerschaftsstatus.95 Art.   9 I 2, 3 EUV, Art.   20 ff. AEUV dienen auch der Abrundung des Binnenmarkts (Art.  3 III EUV). Bezogen auf diesen sollen die unionsbürgerschaftverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl 2009, S.  1197 (1200 f.); F. Schorkopf, Die Europäische Union im Lot. Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, S.  718 (723); A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts in: DV Beiheft 10, 2010, S.  229 ff. 91   Der IGH definierte in der Rs. Nottebohm (Liechtenstein vs. Guatemala) den Staatsangehörigkeitsbegriff wie folgt: „(…) Nationality is a legal bond having as its basis a social fact of attachment, a genuine connection of existence, interests and sentiments, together with the existence of reciprocal rights and duties“ (ICJ Reports 1955, S.  3 (23)). 92   EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, S.  3881 (3900), Rn.  10. 93   F. Wollenschläger, A New Fundamental Freedom beyond Market Integration, ELJ 17 (2011), S.  1 (33). 94   Diese schließt indessen eine Pflicht zur Beachtung des des Unionsrechts nicht per se aus: EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti); Slg. 1992, S.  I-4239, Rn.  10; Rs. C-200/02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, S.  I-9925, Rn.  37. 95  EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, S.  I-4239 (4262), Rn.  10. In der Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, S.  I-1449, Rn.  39, 41 ff. bekräftigte der EuGH diese Aussage. AaO Rn.  45 führt der Gerichtshof aus, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Berücksichtigung des Unionsrechts nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit in Frage stelle. Allerdings sei die Entscheidung einer deutschen Behörde über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit eines zum Entscheidungszeitpunkt in Deutschland residierenden deutschen Staatsbürgers nicht als rein innerstaatlicher Sachverhalt zu werten, wenn damit der Verlust der Unionsbürgerschaft verbunden sei. Diese Rechtsprechung (dazu: W. Kahl, Unionsbürgerstatus und nationale Staatsangehörigkeit – Souveränität unter unionsrechtlichem Vorbehalt?, Jura 2011, S.  364 ff.) lockert das Akzessorietätsband zwischen Unions- und Staatsbürgerschaft. In der Rs. C-34/09 (Ruiz Zambrano), Slg. 2011, S.  I-1177, Rn.  42 rief der Gerichtshof bei manchen Kommentatoren Irritationen hervor mit der Feststellung, dass Art.  20 AEUV „nationalen Maßnahmen entgegen(steht), die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird“. Indessen kam der Gerichtshof in der Rs. 434/09 (McCarthy), Slg. 2011, S.  I-3375, Rn.  56 zu dem Ergebnis, dass aus Art.  21 AEUV keine Rechtsfolgen für rein innerstaatliche Sachverhalte abgeleitet werden können, sofern nicht der durch Art.  20 AEUV geschützte Kernbereich der Unionsbürgerschaft berührt ist. Die zitierte Passage lässt zwar einen Auslegungsspielraum offen. Interpretiert man sie im Lichte der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott, die in Rn.  4 0 ihres Schlussantrags die mitgliedstaatliche Kompetenz betont hat, ist das Urteil in der Rs. McCarthy als Bestätigung der ausschließ-

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lich vermittelten Rechte die durch Inanspruchnahme der Freizügigkeit entstehenden Mobilitätsnachteile ausgleichen. Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf Art.  21 AEUV von einer „Grundfreiheit ohne Markt“ die Rede.96 Dieser Begriff ist allerdings insoweit irreführend97, als der Gerichtshof seit seiner Entscheidung in der Rechtssache Ruíz Zambrano den aus Art.  20 AEUV abgeleiteten „grundlegenden Status“ des Unionsbürgers jedenfalls für einen Kernbereich von Rechten (z. B. das in „Ruíz Zambrano“ entscheidungserhebliche Bürgerrecht auf Verbleib in der Union) weder von einem grenzüberschreitenden Sachverhalt noch gar von einer wirt­schaft­ lichen Betätigung des Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen abhängig macht. Damit entfernt sich die Dogmatik der Unionsbürgerschaft gänzlich von den Grundfreiheiten.

IV.  Die Verwirklichung der demokratischen Freiheitsidee in der Union 1.  Die Folie des europarechtlichen Demokratiediskurses Demokratische Freiheit ist Freiheit zur Selbstregierung. Freiheit zur Selbstregierung wird im Staatsrecht oft unter dem Aspekt ihrer Legitimationswirkung betrachtet. Mit „demokratischer Legitimation“ wird entweder ein bestimmtes Niveau der Selbstregierung – in diesem Sinne war bisher vom Legitimationsbegriff die Rede – oder der Prozess der Gemeinwohlerzeugung in kollektiver Selbstbestimmung bezeichnet. Der europarechtliche Legitimitätsdiskurs verbindet Überlegungen zur Demokratie jenseits des Staates mit solchen zur Finalität der Union. Mittels des Legitimationsbegriffs wird ein demokratischer Ist- mit einem Soll-Zustand verglichen. Das „Ist“ der Union kann allerdings nur dann sinnvoll in Bezug zum „Soll“ des Staates gesetzt werden, wenn man die Finalität der Union in der Entwicklung zum Bundesstaat sieht. Anderenfalls muss auf Hilfskonstruktionen ausgewichen werden. Das Demokratieprinzip begegnet in Art.  2, 10 I EUV sowie in den Präambeln des EU-Vertrags und der Grundrechtecharta. Bisweilen wird auf Art.  9 I 1 EUV abgestellt. Art.  9 I 1 EUV gewährleistet die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf „ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. Hinter dieser sybillinischen Formulierung soll lichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten hinsichtlich Erwerb und Verlust von Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft anzusehen. 96  Monographisch: F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt. Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007. 97   Art.  21 I AEUV regelt ein von der wirtschaftlichen Betätigung unabhängiges Freizügigkeitsrecht (A. Haratsch / C. Koenig / M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn.  738). Dieses setzt die Inanspruchnahme der Grundfreiheiten nicht voraus, ist diesen gegenüber aber subsidiär (Haratsch / Koenig / Pechstein aaO). Es teilt mit den Grundfreiheiten allenfalls die Notwendigkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Ähnlich: M. Nettesheim, Der „Kernbereich“ der Unionsbürgerschaft – vom Schutz der Mobilität zur Gewährleistung eines Lebensumfelds, JZ 2011, S.  1030 (1036): „Der Schutz der Unionsbürgerschaft wird aus dem funktionalen Kontext der Grundfreiheiten herausgelöst und jedem EU-Bürger – unabhängig eines Willens zur mobilen Aktivität – gewährt“. Die Aussage bezieht sich auf die Entscheidung des EuGH in der Rs. Ruíz Zambrano.

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sich nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung das Prinzip demokratischer Gleichheit verbergen98. Das ist fragwürdig, da Adressaten und Berechtigte der Vorschrift „die Bürgerinnen und Bürger“ sind. Von den „Völkern der Mitgliedstaaten“ oder gar einem „Unionsvolk“ ist nicht die Rede, obwohl dem Unionsrecht der Unterschied zwischen Bürgern und Völkern durchaus geläufig ist. Schutzgut des Art.  9 I 1 EUV ist nicht die freie Partizipation an der politischen Willensbildung der Union, sondern den Bürgern wird lediglich ein „gleiches Maß an Aufmerksamkeit“ zugestanden. Diese Formulierung legt nahe, dass nicht demokratische Partizipation in der Union – in diesem Fall würde den Organen, Einrichtungen und Stellen der Union die Aufmerksamkeit der Bürger zuteil und nicht umgekehrt – sondern die Verpflichtung der Union zur Gleichbehandlung aller Unionsbürger gemeint ist. Art.  9 I 1 EUV fokussiert also nicht demokratische, sondern republikanische Gleichheit.99

2.  Zur Substanz des Demokratiediskurses: Mögliche Legitimationsdefizite und Demokratiebegriffe Solcherart „halbkonfigurierte“ Konzepte wecken den Argwohn eines staatsrechtlich nicht tolerablen Untermaßes an Demokratie. Werden der Union ein „Demokratiedefizit“ bzw. „Legitimationslücken“ unterstellt, setzt die Kritik überwiegend an der Selbstbestimmung, nicht an der Selbstbestimmtheit – am Prozess, nicht am Niveau der Legitimation – an. Legitimationsdefizite können mithin bestehen in Bezug auf – das Legitimationssubjekt, – die demokratische Willensbildung, – den Wahl- bzw. Abstimmungsakt, – die Willensbildung bzw. den Entscheidungsvorgang innerhalb der Gesetzgebungsorgane, – das Zusammenwirken der Unionsorgane bei der Ausübung politischer Herrschaft, – die Implementierung der demokratisch gefassten Entscheidungen, – die Implementierungskontrolle. Angesichts des kategorialen Unterschieds zwischen Faktizität und Geltung kann weder aus den bislang ins Auge gefassten Vorschriften noch aus dem Unionsrecht insgesamt eine Aussage über die Existenz oder Nichtexistenz eines Unionsvolkes im empirischen Sinne abgeleitet werden. Für das Staats- und Unionsrecht ist ausschließlich das Volk als Legitimationssubjekt von Relevanz. Das Recht stellt auf die Modalitäten der Legitimationserzeugung (Input-/Output-Strategien100 ) und auf das Legi  C. Schönberger in: E. Grabitz / M. Hilf / M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen ­Union, 2012, Art.  9 EUV, Rn.  9. 99  Zur Verwurzelung der unterschiedlichen Ideale von demokratischer und republikanischer Gleichheit in der philosophischen Tradition bei Hegel und darüber hinaus: N.M.S.  Madureira, Das gleiche Leben in: Das Leben denken, Hegel-Jahrbuch 2006, 2006, S.  56 (57). 100  Dass aus der politikwissenschaftlichen Literatur in die Staatsrechtslehre eingewanderte Input-Output-Schema (s. dazu grundlegend: D. Easton, A Systems Analysis of Political Life, 1965) bezeichnet verkürzend zwei komplementäre Komponenten demokratischer Legitimation: zum einen „Legitimation“ verstanden als Partizipation in wiederum zwei wechselbezüglichen Formen: Wahl- und 98

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timationsniveau ab, nicht auf die konkret-empirische Gestalt einer politischen Gemeinschaft. Die Rechtsordnung entwickelt Faktizität aus Geltung, nicht umgekehrt. Weil dieser an sich banale Tatbestand zu wenig Beachtung findet, ist die juristische Diskussion um die Demokratie in der Europäischen Union seltsam erratisch. Für die Staats- und Sozialwissenschaften geht es bei der Demokratiefrage um nicht weniger als die völlige Neukonzeption des Demokratiebegriffs auf der Folie der Sui-Generis-Struktur der Europäischen Union. Diese Aufgabe wird zu Recht mit dem epochalen Wurf der Transformation frühneuzeitlicher genossenschaftlicher Demokratievorstellungen in die repräsentative Demokratie der Moderne verglichen101. Indessen ist der Reformvertrag von Lissabon von epochalen demokratietheoretischen Impulsen weit entfernt. Die Union wartet noch auf ihren Verfassungskonvent zu Philadelphia. Wie lange der Weg von Lissabon dorthin ist (falls Europa ihn je beschreitet), zeigt sich nicht zuletzt darin, dass eine europäische Verfassungsdebatte in der breiten politischen Öffentlichkeit nicht (mehr) stattfindet. Die „Federalist Papers“ der Europäischen Union sind noch zu verfassen. Bis sie vorliegen, muss sich die Rechtswissenschaft entsprechend ihrer Methodik auf die Entwicklung eines Demokratiebegriffs aus Text und Systematik der Verträge konzentrieren. Art.  10 I EUV, der die Union auf die „repräsentative Demokratie“ festlegt, lässt auf dem Boden der überkommenen Demokratietheorie substantielle juristische Aussagen zu. Mit der „repräsentativen Demokratie“ wird eine bestimmte Demokratietradition invoziert, in die sich Europa, das US-amerikanische Vorbild vor Augen, in seinen drei demokratischen Revolutionsschüben von 1789-1793, 1848/49 und 1989-1991 gestellt hat. Mit dieser dogmengeschichtlichen Rückanknüpfung entzieht der EU-Vertrag einer völligen Neubestimmung des aus den staatsrechtlichen Traditionen überkommenen Demokratiebegriffs die Grundlage102. Das Unionsrecht erlaubt aber immerhin ein Jonglieren mit formalen und materialen Begriffsprägungen. Gemeinsam ist allen juristischen Definitionsansätzen, dass mit „Demokratie“ eine politische Ordnung – zuAbstimmungsrechte sowie freie Meinungsäußerung in rebus politicis („Input“); zum anderen Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht der Staatsorgane am Maßstab des Gemeinwohls („Output“). Verkürzt kann man sagen: Die „Input“-Legitimation versteht „Demokratie“ als Herrschaft des Volkes, die „Output“-Variante als Herrschaft für das Volk. Demokratische Systeme legitimieren sich durch beide Komponenten, mag auch die Ausprägung von Input- bzw. Output-Legitimation je nach Systemkonfiguration stark variieren. Misst man Demokratie am Input, müssen alle Varianten hoheitlicher Gewalt auf einen Willensakt des Volkes zurückführbar sein und von Organen ausgeführt werden, die unmittelbar durch einen Willensakt des Volkes zur Existenz gebracht wurden. Das Output-Kriterium hingegen stellt auf ein dem Gemeinwohl entsprechendes Ergebnis von Herrschaft ab. Diese muss aber weder unmittelbar auf einen Willensakt des Volkes zurückgehen noch durch Organe ausgeführt werden, die dem Volk unmittelbar zurechenbar sind. „Output“-Legitimation legitimiert m.a.W. überspitzt ein Regime der Technokraten, das sich nicht primär nach dem Rechtsgesetz, sondern nach Sachgesetzlichkeiten richtet (S.  Müller-Franken, Die demokratische Legitimation öffentlicher Gewalt in den Zeiten der Globalisierung, AöR 134 (2009), S.  542 (555)). 101   A. Benz, Politikwissenschaftliche Diskurse über demokratisches Regieren im europäischen Mehrebenensystem in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  253 (253). 102   Deshalb sind staatswissenschaftliche Überlegungen, die sich mit der Europäischen Union unter dem Aspekt einer historisch-dogmengeschichtlich singulären Herrschaftsform befassen, für die Rechtsdogmatik irrelevant. Freilich darf und soll sich die Rechtswissenschaft dennoch auch an solche Überlegungen anschließen, aber sie führen die Auslegung des geltenden Unionsrechts nicht weiter.

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gleich Staatsform und Regierungssystem103 – bezeichnet wird, aus der sich normative Forderungen nach der Legitimation politischer Herrschaft ableiten. Wer mit Joseph Schumpeter und der liberalistischen anglo-amerikanischen Tradition einem formalen Demokratiebegriff anhängt104 (Demokratie als durch den Wahl- oder Abstimmungsakt konstituierte Mehrheitsherrschaft), wird sein Augenmerk auf Verfahren und Ergebnis von Wahl und Abstimmung richten. Fragen nach dem Bezugspunkt repräsentativer Gleichheit (Erfolgschancen- oder Erfolgswertgleichheit der Stimme), Verzerrungen des repräsentativen Gleichgewichts aus demokratiefremden Gründen (z. B. Staatengleichheit) in Rat und Europäischem Parlament, gelingende oder misslingende Mehrheitsbildung stehen im Mittelpunkt105. Das Vorhandensein eines Legitimationssubjekts wird im Rahmen einer formalistischen Demokratietheorie vorausgesetzt. Die Bedingungen, unter denen das Legitimationssubjekt entstehen und bestehen kann, bleiben dahingestellt. Daraus erschließt sich der wesentliche Vorteil des Demokratieformalismus: Er ist in jedem beliebigen Legitimationskontext einsetzbar; er ist nicht staatsbezogen, sondern lässt sich auf jede Form von Herrschaft projizieren; der „Demos“ des formalen Demokratiebegriffs kann je nach Begründungsbedarf parzelliert und variiert werden. Formal-demokratisch bestünden keine Bedenken gegen einen verfassungsgebenden Akt der Hohen Vertragsparteien, durch den diese sich ein Unionsvolk als Legitimationssubjekt schaffen. Der dagegen gerichtete Einwand des Kontrafaktischen ginge fehl, weil der formale Demokratiebegriff kein Faktum voraussetzt, sondern Aussagen über Geltungsbedingungen (wann gilt ein Verhalten der Union als „demokratisch“) anstrebt. Wohl wegen ihrer relativistischen Prägung und weil sich mittels eines formalen Demokratiebegriffs die demokratische Wurzel des Gemeinwesens gegen seine rechtsstaatlich-grundrechtliche ausspielen lässt, scheint die überwiegende Meinung in Wissenschaft und Praxis einer materialen, in den Menschenrechten radizierten Demokratietheorie zu folgen. Die deutsche Staatsrechtslehre verbindet diesen Ansatz mit Hermann Heller106. Im deutschen Staatsrecht wird infolge einer vom Bundesverfassungsgericht seit dem Maastricht-Urteil vertretenen materialen Konzeption des Wahlrechts (Art.  38 I GG)107 das verfassungsrechtlich notwendige Maß an demokratischer Souveränität der Bundesrepublik nicht (mehr) primär unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips, sondern in wahlrechtlichem Kontext diskutiert. Sub specie Art.  38 I GG i. V. m. dem Demokra103   P.M. Huber, Demokratie in Europa in: H. Bauer / ders. / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  492 (493). 104   J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Auflage 2005, S.  428. Nach Schumpeter ist Demokratie Methode und Ordnung „derjenigen Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“. 105   In diesem Sinne hat auch der EuGH, soweit ersichtlich, seit seiner frühesten Rechtsprechung Fragen der Legitimation der Übertragung von Ausführungsbefugnissen auf Einrichtungen der Gemeinschaft beurteilt: EuGH, Rs. C-9/56 (Meroni I), Slg. 1958, S.  11 (43); Rs. C-10/56 (Meroni II), Slg. 1958, S.  51 (81). 106   H. Heller, Staatslehre, 6. Auflage 1983, S.  275 für eine Einbeziehung soziologischer Kriterien der Staatsgewalt in die Definition der Staatsform. 107   BVerfGE 89, 115 (172, 187). Hiernach verschmelzen Aspekte der demokratischen Mehrheitsfindung mit kompetenzrechtlichen Überlegungen. Dazu: H.-J. Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene im Lichte des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, EuR 1995, S.  21 (22, 34).

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tieprinzip stellt sich die Frage, ab welchem Punkt die Entscheidungskompetenzen des Deutschen Bundestages durch die Europäisierung von Gesetzgebungsmaterien derart marginalisiert werden, dass der Wähler keine Wahl mehr zwischen sachlichen Alternativen, sondern allenfalls noch zwischen politischem Personal hat. Allein letztere genügt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts den Vorgaben des Art.  38 I GG nicht108. Der Wesensgehaltsgedanke, in Art.  19 II GG für die Grundrechte ausgesprochen109, hinterlässt hier offensichtliche Spuren. „Demokratie“ stellt sich nach materialem Verständnis doppelbezüglich, d. h. zugleich als Regime der Mehrheitsherrschaft und des Minderheitenschutzes dar. Der materiale Demokratiebegriff beleuchtet das Ergebnis von Herrschaft (den „Output“) sowie deren Fernwirkungen (das „Outcome“).110 Aber auch ein solcherart „schwacher“ materialer Demokratiebegriff kann das Substrat demokratischer Herrschaft noch dahinstehen lassen, wenn sich nur der „Demos“ durch formale Wahl- und Abstimmungsgleichheit einerseits, materiale Entscheidungsbefugnisse andererseits auszeichnet. Unter diesen Voraussetzungen ist ein materialer Demokratiebegriff offen sowohl für ein auf die Nation bezogenes Verständnis von „Demokratie“ als auch für eine auf Organisationen jenseits des Staates ausgreifende Perspektive. Die empirische Gestalt des Legitimationssubjekts, die in der staats- und europarechtlichen Diskussion – anknüpfend an das Maastricht-Urteil – so sehr in den Vordergrund gestellt wird, erlangt juristische Relevanz erst und nur dann, wenn man einem „starken“ materialen Demokratiebegriff folgt. Die Demokratie setzt unter dieser Prämisse nicht nur eine an Menschenrechten gleiche Rechtsgemeinschaft voraus, sondern verlangt zudem nach vereinheitlichten kulturellen Kontextbedingungen. Der kulturelle Kontext: gemeinsame Sprache, Wertekonformität und ein gewisses Maß an kultureller Homogenität im Übrigen111   BVerfGE 89, 115 (171 f.).   Zum Wesensgehaltsgedanken monographisch: P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 Grundgesetz – Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre des Gesetzesvorbehalts, 3. Auflage 1983. 110   Ein Motiv der Erweiterung formal(istisch)er Legitimationsmodelle um materiale Komponenten mag in der Unterkomplexität des Abstellens auf Legitimationsketten und Abstimmungsmehrheiten zu sehen sein. Kritik entzündet sich vor allem an einem zu schematischen Legitimationsdenken (G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S.  246 (281)). Herrschaftsgewalt zwischen Staat und supranationaler Entscheidungsebene sei zu komplex, um ihr gesamtes Wirkungsfeld auf ein monistisches Legitimationssubjekt – das Volk als Schild des staatlichen Souveränitätspanzers – zurückführen zu können. Folglich müssten zahlreiche neuere Erscheinungen von Herrschaft – z. B. die tertiäre Rechtsetzung auf Unionsebene, die organisationelle Verselbständigung von Verwaltungsbehörden, die Methode der offenen Koordinierung – demokratietheoretisch verworfen werden, weil Verantwortungsstrukturen nicht klar nachvollzogen werden können oder ein Mehrheitsregime durch Sachzwänge ersetzt wird. Da dennoch Bedarf nach einer Entlastung der Unionsorgane insbesondere von Verwaltungsaufgaben besteht, errichtet das Beharren auf einer strikt normativen formalen Demokratiekonzeption Fronten, die den Demokratiediskurs auf Abwege von der Wirklichkeit führen. Deshalb ist die Demokratietheorie um elastischere Output- und Outcome-Gesichtspunkte zu erweitern – auf nationaler wie unionaler Ebene. 111  Das demokratische Homogenitätsdenken lässt sich z. B. in der französischen Demokratielehre nachweisen. Dort verweist „Homogenität“ auf die Freiheit und Gleichheit der Individuen. Demokratische Homogenität entsteht durch gleiche Freiheit vor dem Gesetz (L. Heuschling, Krise der Demokratie und Krise der juristischen Demokratielehre in Frankreich in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  33 (48)). S.  z ur Diskussion in Polen: S.  B iernat, Demokratieprinzip im polnischen Verfassungssystem in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.) aaO, S.  79 108 109

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ist dem Volk und seinem Gesetzgeber nicht verfügbar, sondern bleibt einer glücklichen Evolution anheim gestellt. Es versteht sich von selbst, dass die kulturellen Kontext­bedingungen der Demokratie nicht justiziabel sind, wohl aber sind es die Gesetzgebungsakte, die auf sie Bezug nehmen. Diese Demokratietheorie legt das Bundesverfassungsgericht sowohl seinem Maastricht-Urteil als auch seiner Lissabon-Entscheidung zugrunde. Was in „Maastricht“ an kulturellen Kontextbedingungen für das Entstehen und Bestehen eines demokratischen Legitimationssubjekts angeführt wurde, erscheint in „Lissabon“ im Gewande der Integrationsschranken. Die Integrationsschranken aus dem Lissabon-Urteil sind die aus der vorjuridischen Sphäre in die Verfassungsrechtsdogmatik überführten kulturellen Kontextbedingungen aus „Maastricht“. Folglich vermag nur derjenige die „Lisabonner“ Integrationsschranken im Grundgesetz (wieder) zu erkennen, der bereits den in „Maastricht“ vertretenen starken materialen Demokratiebegriff als verfassungsrechtlich geboten akzeptiert hat. Die deutsche Staatsrechtslehre schreckt bis heute wohl mehrheitlich vor einem solchen Ansatz zurück. Einerseits könnte und müsste sie ihn ohne weiteres akzeptieren, weil er dezidiert anti-totalitär ist. Wer dem Bundesverfassungsgericht wegen „Maastricht“ und „Lissabon“ eine autoritäre Gesinnung vorhält, verkennt, dass das Gericht die Befugnis des Gesetzgebers, sich nach eigenem Plan und Willen sein Legitimationssubjekt zu kreieren, entschieden zurückweist. Andererseits liegt die parlamentskritische – nicht: integrationsskeptische – Spitze des von Karlsruhe konzipierten integrationsverfassungsrechtlichen Demokratiebegriffs auf der Hand. Wo kulturelle Kontextbedingungen fehlen, sind dem Integrationsgesetzgeber von Verfassungs wegen die Hände gebunden. Das im Parlament repräsentierte Volk soll damit ggf. vor sich selbst beschützt werden – eine Wegweisung, die der als unbedingt gedachten Parlaments- oder Volkssouveränität andernorts in Europa ebenso offen widerspricht wie einem unkritischen Föderalisierungsenthusiasmus, die ferner nur vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verständlich ist und vielleicht gerade deshalb vom deutschen Bundesverfassungsgericht mit Nachdruck vertreten wird. Aber selbst wenn man dem Gericht noch auf diesem letzten Stück des Weges, auf dem Faktizität auf Geltung zurückwirkt, folgen mag, kommt es im gegenwärtigen Unionsrecht auf das Verhältnis von Demokratieprinzip und Kontextbedingungen nicht an, da ein Unionsvolk als Legitimationssubjekt supranationaler Herrschaftsgewalt in den Verträgen nicht vorgesehen ist, weshalb das Bundesverfassungsgericht die deutschen Zustimmungsgesetze ja überhaupt erst als verfassungskonform ansehen konnte. Dies bringt Art.  1 II EUV prominent zum Ausdruck, wonach die europäischen Verträge eine „immer engere Union der Völker Europas“ intendieren. In der Präambel des Unionsvertrags wird zwar mehrfach der Begriff „Demokratie“ verwendet, zugleich aber von den „Völkern“ Europas gesprochen, ebenso in der Präambel des Vertrags über die Arbeitsweise der Union. Die demokratische Freiheitsidee in der Union verwirklicht sich in Ermangelung eines einheitlichen demokratischen Legitimationssubjekts in den und durch die Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund sind Art.  9-11, 14 EUV zu interpretieren. (81). Das Verlangen demokratischer Ordnung nach Homogenität kann auch mit Ernst Fraenkels These vom unkontroversen Sektor belegt werden (E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 2. Auflage 1991, S.  246 ff.).

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3.  Die Position der Vertragsparteien Im Zusammenhang mit der demokratischen Legitimation der Union ist der bereits erwähnte Art.  10 EUV von zentraler Bedeutung. Gemäß dieser Vorschrift beruht die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie (Art.  10 I EUV). Die Vorgängernorm, Art.  6 I EUV-Nizza, formulierte: „Die Union beruht auf (…) der (…) Demokratie“. Das Demokratieprinzip wurde mit den anderen in Art.   6 I EUV-Nizza genannten Grundprinzipien primärrechtlich gewährleistet, weil „diese Grundsätze (…) allen Mitgliedstaaten gemeinsam (sind)“. Mit dieser an das Völkerrecht erinnernden112 Bestimmung der Rechtserkenntnisquelle – das Recht der Mitgliedstaaten prägt das Unionsrecht, soweit eine gemeinsame Schnittmenge an Rechtsüberzeugungen feststellbar ist – konnte die vertragliche Anerkennung des Demokratieprinzips nicht als Hinweis auf ein unionseigenes demokratisches Legitimationssubjekt missverstanden werden. Art.  10 I EUV hebt stärker als Art.  6 I EUV-Nizza die Notwendigkeit demokratischer Legitimation allen Unionshandelns hervor113. Durch Art.  10 II EUV nimmt die Europäische Union für sich eine doppelte Legitimation in Anspruch. Zum einen radiziert die Vorschrift die repräsentative Demokratie in den Mitgliedstaaten, die alle ihrerseits demokratisch legitimiert sind, zum anderen bindet sie das Europäische Parlament an die Unionsbürger, da diese durch das Parlament unmittelbar repräsentiert werden. Was „Demokratie“ im Unionsrecht zu bedeuten hat, erschließt sich aus dem Vertragstext nicht unmittelbar. Legt man die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquelle zugrunde, sind zwei grundverschiedene, in den gegensätzlichen Positionen vom Schumpeter und Heller aufscheinende Vorverständnisse möglich. „Demokratie“ kann einerseits in liberalistischer Tradition strikt auf die Organisation der Staatsgewalt beschränkt werden. Sie bezweckt dann Mitbestimmung am und Einwirkung auf den Staat, wobei eine klare Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft zu ziehen ist. Ob die Gesellschaft die für effektive Mitbestimmung notwendigen Voraussetzungen zu schaffen fähig ist, erscheint mithin nicht als Demokratie-Problematik. Möglicherweise ist die Befähigung der Gesellschaft zur Selbstbestimmung nicht einmal Staatsaufgabe. „Demokratie“ kann andererseits mit Heller als „die Anerkennung der Gleichheit und Freiheit aller Bürger in den gesellschaftlichen Verhältnissen“114 definiert werden.115 Sie erfasst als Lebensprinzip alle Bereiche der Gesellschaft, in denen Entscheidungen ggf. gegen den Willen des grundrechtsberechtigten Individuums getroffen werden müssen. Als Mitbestimmung prägt sie insbesondere die soziale Marktwirtschaft. Nach dieser Auffassung hat „Demokratie“ einen starken ideengeschichtlichen Bezug 112   Die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätze – Art.  6 III EUV-Lissabon spricht von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ als „allgemeine Grundsätze“ des Unionsrechts – überschneiden sich mit den „general principles of law recognized by civilized nations“ des Art.  38 I lit. c) IGH-Statut. 113   M. Nettesheim in: E. Grabitz / M. Hilf / ders. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2012, Art.  10 EUV, Rn.  20. 114   L. Heuschling, Krise der Demokratie und Krise in der juristischen Demokratielehre in Frankreich in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  33 (38). 115  Ähnlich: M. Nettesheim, Demokratisierung der Europäischen Union und Europäisierung der Demokratietheorie in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  143 (150).

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zu einem moderaten, sich von seinen liberalistischen Wurzeln nährenden Sozialismus, der aus der Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums einen Bedarf nach Vergesellschaftung („Demokratisierung“) der Gemeinschaftsinstitutionen („soziale Marktwirtschaft“, Massenkultur, synodale bzw. laienbestimmte Kirche etc.) ableitet. Inmitten des durch Staats- oder Gesellschaftsbezug der Demokratie aufgespannten Begriffsfeldes findet sich eine Kompromissformel, die als einzige dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Union angemessen ist. „Demokratie“ ist hiernach als Modell funktionaler gesellschaftlicher Selbstorganisation im Rahmen der durch Art.  2, 3 EUV vorgegebenen Integrationsziele mit den Mitgliedstaaten als Verfassungsautoren und Schiedsrichter konzipiert116. Diese Sichtweise lockert die demokratieformalistischen Bande zwischen Legitimationssubjekt und Herrschaft (Legitimationskette, Wahl und Abstimmung, Mehrheitsherrschaft) auf und erlaubt einen geschmeidigen Übergang vom Staat zu einem apersonalen, gesellschaftlich erzeugten Gemeinwohl als Bezugsobjekt der Demokratie.

V.  Die Union zwischen demokratischer und bürgerschaftlicher Repräsentation Dem Unionsrecht ist eine starre Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft fremd. Es ist schon deshalb kein System des klassischen Liberalismus. Die Union entzieht sich einem zwischen Hoheits- und Wettbewerbsmodus differenzierenden Analyserahmen117, weil Sinn und Zweck ihrer Hoheitsgewalt neben einer „wettbewerbsfähige(n) soziale(n) Marktwirtschaft“ (Art.  3 III EUV) das Erreichen eines in Art.  3 III EUV definierten ökonomischen Zielbündels ist, das nur mit einer auf Wettbewerb gründenden Wirtschaftsordnung realisierbar ist. Die damit verbundene Ablösung überkommener staatsrechtlicher Differenzierungen darf die dem Unionsrecht eigene Dichotomie zwischen Staat und supranationaler Gemeinschaft nicht vergessen machen. In ihr kommen komplementäre, aber auf unterschiedlichen Ebenen institutionalisierte Freiheitsideen zum Vorschein: die sich im Staat abbildende demokratische neben der in der Union verwirklichten grundrechtlichen Freiheitsidee.

1.  Konsequenzen der Differenzierung zwischen Bürgern und Volk, Öffentlichkeit und Demos für die Repräsentationstheorie Gem. Art.  10 II 1, 14 II 1 EUV repräsentiert das Europäische Parlament die Unionsbürger, während im Rat gem. Art.  10 II 2, 16 II EUV die Mitgliedstaaten und 116   Definiert man den unionsrechtlichen Demokratiebegriff auf diese Weise, nimmt er das Demokratieziel des Art.  2 EUV in Bezug, ist also selbstbezüglich. Das ist kein Missstand der Definition, sondern verweist auf den systemimmanenten Sinn der Demokratie als Prinzip der Selbstreproduktion politischer Herrschaft. M.a.W. gelingt und verwirklicht sich Selbstregierung durch den kontinuierlichen „Output“. 117   Auf das Staatsrecht kann dieser Analyserahmen mit Gewinn angewandt werden. Dazu: B. Grze­ szick, Hoheitskonzept – Wettbewerbskonzept in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 3. Auflage 2006, §  78.

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mittelbar die Völker Europas vertreten sind.118 Zwar beruht die Arbeitsweise der Union gem. Art.  10 I EUV auf der repräsentativen Demokratie. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Union demokratisch legitimiert sein muss. Nichts anderes folgt aus dem Bekenntnis der Union zu demokratischen Werten (Art.  2 Satz 1 EUV) und aus den Präambeltexten von EU-Vertrag und Grundrechtecharta. Die Formulierung des Art.  10 I EUV ist mit Bedacht gewählt, da sie die Legitimationsbasis der Union offen lässt. Auch ein demokratisch nicht legitimiertes Gemeinwesen kann analog zu den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie funktionieren. Anknüpfend an Art.  10 I EUV bestimmen Art.  10 II 1, 14 II 1 EUV, dass das Europäische Parlament die Unionsbürger repräsentiert119. Wie eingangs ausgeführt, ist die Gesamtheit der Bürger – seien es Staatsangehörige oder Ausländer – nicht identisch mit dem „Volk“. Nur dieses vermag demokratische Legitimation zu erzeugen. Da ein Unionsvolk als Legitimationssubjekt der Union nicht existiert, verbietet es sich, die auf die „Bürger der Union“ abstellenden Vertragsnormen so auszulegen, als sei dort von einem „Unionsvolk“ die Rede. Mit der Gesamtheit der Bürger ist die „Öffentlichkeit“ gemeint. Als politische Öffentlichkeit spielt sie ihre Rolle als Kritikerin und Kontrolleurin demokratischer Entscheidungsfindung. Doch weder Kritik noch Kontrolle können Herrschaft legitimieren. Allenfalls gibt ein Fehlen von Kritik und Kontrolle Aufschluss über ein defizitäres menschenrechtliches Schutzniveau innerhalb einer politischen Gemeinschaft. Wenn Kontrolle der Output-Legitimation zugeordnet wird, ist damit eine Verstärkung und Ergänzung des „Input“, d. h. des demokratischen Wahlaktes, nicht dessen Substitution gemeint. Sieht man Kritik auf der Grundlage eines materialen Demokratiebegriffs als unverzichtbares Element demokratischer Willensbildung an, mag ihr Fehlen ein „Demokratiedefizit“ begründen, aber ohne die Willensäußerung des Demos – Kern der Demokratie – hat Kritik keinen demokratischen Bezug und also keine demokratische Relevanz. Die kategoriale Differenzierung zwischen Volk und Bürgern gestattet es, Bürgerschaft von Volkszugehörigkeit zu entkoppeln. Während das Volk seinen Staat trägt, internationale Organisationen aber immer nur anteilsmäßig – soweit der jeweilige Staat an ihnen Anteil hat – stützen kann, mag eine 118   Die Formulierung des Art.  10 II 2 EUV, wonach die Mitgliedstaaten „in demokratischer Weise (…) gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen“, scheint in missverständlicher Weise den im Übrigen klaren, zwischen Volk und Bürger unterscheidenden Sprachgebrauch der Vertragstexte durcheinanderzubringen. Art.  10 II 2 EUV verlangt von den im Europäischen Rat versammelten Staats- und Regierungschefs sowie von den im Rat versammelten Regierungen demokratische Verantwortlichkeit („in demokratischer Weise“). Mit Rücksicht auf den in den mitgliedstaatlichen Verfassungen unterschiedlichen Sprachgebrauch – überwiegend wird das Volk oder die Nation durch das Parlament repräsentiert, teilweise ist aber auch von Bürgerrepräsentation die Rede – wählt der Vertragstext eine Formulierung, welche den jeweiligen nationalen Besonderheiten der Legitimationsterminologie und –dogmatik ausreichend Raum verschafft. 119   Die Formulierung in Art.  189 EGV-Nizza hatte die Legitimation des Parlaments noch in Übereinstimmung mit der Präambel auf die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ zurückgeführt, also völkerrechtlich angesetzt. Infolgedessen hat das Europäische Gericht erster Instanz in der Rs. T-353/00 (Le Pen), Slg. 2003, S.  II-1729 (1757), Rn.  9 0 entschieden, dass sich der Verlust eines Abgeordnetenmandats im Europäischen Parlament nach dem mitgliedstaatlichen Wahlrecht bestimmt. Das Parlament hat das Erlöschen des Mandats durch mitgliedstaatlichen Akt lediglich zur Kenntnis zu nehmen, aber grundsätzlich keine eigene Prüfungskompetenz. Dies könnte sich durch die veränderte Formulierung in Art.  10 II 1 EUV nunmehr geändert haben.

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supranationale Öffentlichkeit als Stützpfeiler politischer Gemeinschaften jenseits des Staates fungieren. Die Unteilbarkeit politischer Öffentlichkeit – national wie supranational – ist komplementär zur Ganzheitlichkeit des Politischen120. Das Politische ist eine universale, Demos, Staat und Bürger übergreifende Kategorie. An eine Entkoppelung von Zugehörigkeit und Angehörigkeit, von Bürger und Volk sowie von ­Politik und Demokratie im supranationalen Raum kann eine Entstaatlichung politischer Rechte anschließen. Subjektive Rechte auf freie Wahl, freie Meinungsäußerung, Versammlung und Vereinigung, Petition und Konsultation eines Bür­ ger­ beauftragten, Information, Rechtsschutz und „gute Verwaltung“ können sowohl innerhalb des Staates als auch außerhalb desselben begründet werden. Aber während jedermann eine Vorstellung von demokratischer Legitimation hat, bleibt bislang im Dunkeln, wen Bürgerrechte – Grundrechte auf politische Betätigung – auf welche Weise wozu legitimieren. Dies soll im Folgenden anhand der institutionell-organisatorischen Stellung des Europäischen Parlaments untersucht werden.

2.  Zur Legitimationswirkung des Bürgerrechts am Beispiel des Europäischen Parlaments a)  Bürgerrechtliche und demokratische Legitimation in Staat und Union Mit der in Art.  10 II 1, 14 II 1 EUV angelegten Konstruktion der parlamentarischen Bürgerrepräsentation wird ein Problem umgangen, das sich stellte, wenn das Europäische Parlament in gleicher Weise wie die Parlamente der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sein müsste. Dann würfen die abweichend vom staatsrechtlichen Grundsatz der gleichen Repräsentation aller Wahlbürger bestehenden Verzerrungen der Repräsentation der zur Union vereinten Staatsvölker im Parlament – sie ergeben sich aus der degressiven Proportionalität der Sitzverteilung (Art.  14 II 3 EUV) – unweigerlich Fragen demokratischer Gleichheit auf. Mit Blick auf den Rat, in dem vom völkerrechtlichen Prinzip der repräsentativen Staatengleichheit dispensierend die Stimmgewichte der Staaten in Bezug auf ihre Bevölkerungsgröße ungleich verteilt sind (Art.  16 IV, V EUV i. V. m. Art.  3 des Protokolls Nr.  36 zum Vertrag von Lissabon), müsste nachgewiesen werden, dass sich die beiden Ungleichgewichtungen zumindest annähernd so ausbalancieren, dass nicht ein einziges Staatsvolk doppelt benachteiligt wird.121 Ein trotz allem verbleibender Rest demokratischer Ungleichheit fände seine Rechtfertigung im Gedanken der bündischen Organisation 120   „Ganzheitlichkeit des Politischen“ bedeutet, dass das Politische zwar Gegensätze (z. B. solche, die ihren Ursprung in der Entgegensetzung von Union und Staat, Bürger und Volk haben) thematisiert, diese aber nur in einer die Gegner miteinander vereinenden, ins Gespräch bringenden Arena sinnvoll diskutiert werden können. Diese Arena ist die „Öffentlichkeit“. Als „politische Öffentlichkeit“ kritisiert und kontrolliert sie politische Entscheidungen. 121   Zahlenmäßig kleinere Völker werden durch den Wahlmodus des Europäischen Parlaments überproportional repräsentiert, während die Stimmgewichtung im Rat tendenziell die Mittelstaaten bevorzugt. Für das Parlament ist die Verzerrung der Repräsentationsgleichheit besonders offensichtlich. Tatsächlich beträgt das repräsentative Ungleichgewicht zwischen dem an Bevölkerung kleinsten Mitgliedstaat Luxemburg mit knapp 700000 Einwohnern und dem größten, Deutschland, mit ca. 82 Mio. Einwohnern mehr als den Faktor zehn. D.h. während ca. 67000 Luxemburger durch einen Sitz im

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der Union (Art.  16 II EUV), deren Abbild die gemischt verfasste Unionsgesetzgebung mit Kooperation von Parlament und Rat im Regelfall des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art.  14 I 1 EUV i. V. m. Art.  289 I, 294 AEUV) ist. Indem aber Art.  10 II 1, 14 II 1 EUV nunmehr auf die Unionsbürger als Legitimationssubjekt abstellen, eröffnen sich neue Horizonte. Das Ungewöhnliche an der Formulierung des Vertragstextes zeigt sich darin, dass die überwiegende Mehrheit der mitgliedstaatlichen Verfassungsgesetze122 (mit Ausnahme Dänemarks, Maltas und Zyperns, aus denen sich keine eindeutige Zuordnung ableiten lässt, sowie der Slowakei123) das Volk bzw. die Nation als das durch die Verfassungsorgane (insbesondere durch das Parlament) repräsentierte Legitimationssubjekt benennt124. Die meisten Verfassungstexte stehen also in einer Tradition, die ihren Ursprung in Art.  3 Satz 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 hat. Die portugiesische Verfassung vom 2. April 1976 i.d.F. vom 4. April 2001 konfundiert „Bürger“ und „Volk“ auf eigentümliche Weise125, ähnlich die Verfassung der Slowakischen Republik vom 1. September 1992, das slowenische Grundgesetz vom 23. Dezember 1991126 und die kroatische Verfassung vom 21. Dezember 1990127. Zwar darf einerseits nicht verkannt werden, dass die VerfassungskulParlament repräsentiert werden, sind es ca. 830000 Deutsche. Zur Statistik vgl. die Übersicht bei A. Kirsch, Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union, 2008, S.  70. 122   Soweit im Folgenden nicht anders angegeben, liegen der rechtsvergleichenden Textanalyse die unter http://www.verfassungen.eu publizierten deutsch- oder englischsprachigen Verfassungstexte zugrunde. 123   Gemäß Art.  2 I Verfassung vom 1. September 1992 geht die slowakische Staatsgewalt von den Bürgern aus; diese werden gem. Art.  73 II parlamentarisch repräsentiert. Dazu sogleich näher. 124   Belgien: Art.  33 I, 42 Verfassung vom 7. Februar 1831 i.d.F. vom 17. Februar 1994; Bulgarien: Art.  1 II Verfassung vom 12. Juli 1991; Deutschland: Art.  20 II, 38 I 1 GG; Estland: §  56 Grundgesetz vom 28. Juni 1992; Finnland: §  2 I Verfassung vom 1. März 2000; Frankreich: Art.  3 I Verfassung vom 4. Oktober 1958; Griechenland: Art.  1 III, 51 II Verfassung vom 9. Juni 1975; Irland: Art.  1, 6 I Verfassung vom 1. Juli 1937;Italien: Art.  1 II Verfassung vom 27. Dezember 1947; Lettland: §  5 Grundgesetz vom 15. Februar 1922; Litauen: Art.  2 , 4, 5 Verfassung vom 25. Oktober 1992; Niederlande: §  50 Verfassung vom 24. August 1815 i.d.F. vom 17. Februar 1983; Österreich: Art.  1 Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920; Polen: Art.  4, 104 I, 108 Verfassung vom 2. April 1997 (Verfassungsvergleich zwischen Art.  4 poln. Verf. und Art.  20 II GG: S.  Biernat, Demokratieprinzip im polnischen Verfassungssystem in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  79 (81 f.)); Rumänien: Art.  2 I, 4 I, 58 I Verfassung vom 21. November 1991; Schweden: Kapitel 1 §  4 Verfassung vom 28. Februar 1974; Spanien: Art.  1 II, 66 I 1 Verfassung vom 29. Dezember 1978; Tschechien: Art.  2 I, II, 23 III Verfassung vom 16. Dezember 1992; Ungarn: Art.  B III, IV Grundgesetz vom 25. April 2011. Ein Sonderfall ist Luxemburg. Art.  50 Verfassung vom 9. Juli 1848 i.d.F. vom 17. Oktober 1868 formuliert: „Die Kammer der Abgeordneten vertritt das Land“. Auch die Türkei ordnet sich in die Reihe der Staaten ein, die das Volk als Legitimationssubjekt der Staatsgewalt bezeichnen: Art.  6, 7 Verfassung vom 7. November 1982. 125   Art.  3 I verortet die Souveränität, Art.  10 I die „politische Herrschaftsmacht“ beim Volk. Rechte auf politische Beteiligung kommen gem. Art.  48 I den Bürgern zu; die Ausübung des Wahlrechts ist gem. Art.  49 II Bürgerpflicht. In den Vorschriften zum Auf bau der Staatsgewalt setzt sich das begriffliche Changieren zwischen „Volk“ und „Bürger“ fort. Art.  108 legt die „politische Gewalt“ in die Hände des Volkes, während Art.  109 die Bürger zum Subjekt „direkte(r) und aktive(r) Partizipation (…) am politischen Leben“ bestimmt. 126   Gemäß Art.  3 II 1 Verf. Slowenien steht die oberste Gewalt dem Volke zu und wird gemäß Art.  3 II 2 von den Bürgern ausgeübt. Art.  80 bestimmt, dass sich die slowenische Staatsversammlung aus „Abgeordneten der Staatsbürger Sloweniens“ zusammensetzt. 127   Art.  1 II, III Verf. Kroatien bestimmt, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht und entweder

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turen der Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich sind und gerade auch kleinere Staaten auf eine autochthone Verfassungsentwicklung zurückblicken können, wodurch die Verallgemeinerbarkeit von Aussagen erschwert wird. Doch andererseits zeigen jene Verfassungstexte, die vom „Bürger“ als Legitimationssubjekt sprechen, dass die europäische Verfassungsrechtskultur eine bürgerrechtliche Rechtfertigung von Herrschaft nicht ausschließt und dass diese sogar von manch mitgliedstaatlicher Verfassung vorausgesetzt wird. Ein Anschauungsbeispiel bietet die Verfassung der Slowakischen Republik. Erscheint noch in der Präambel das slowakische Volk als pouvoir constituant, so bestimmt Art.  2 I Verf. Slowakei, dass die Staatsgewalt von den Bürgern ausgeht.128 Art.  73 II 1 bekräftigt, dass die Parlamentsabgeordneten Vertreter der slowakischen Bürger sind. Die im gesamteuropäischen Kontext ungewöhnliche Formulierung der slowakischen Verfassung fügt sich in den Kontext eines stark auf Bürgerrechte zugeschnittenen Verfassungstextes ein, mit dem „Zweiten Hauptstück: Grundrechte und Grundfreiheiten“ (Art.  11–54) als zentraler Textpassage. Es fällt auf und ist für die gemeineuropäische Verfassungsüberlieferung von Bedeutung, dass gerade post-totalitäre europäische Verfassungen der zweiten und dritten Genera­ tion129 stärker auf die Bürger als auf das Volk abstellen. Die Verfassung Portugals vom repräsentativ oder direkt-demokratisch ausgeübt wird. Art.  70 hingegen definiert den kroatischen Sabor als „gewählte(n) Vertretungskörper der Bürger“. 128   Dabei wird die unter http://www.verfassungen.eu/sk/index.htm publizierte deutschsprachige Übersetzung des Verfassungstextes zugrunde gelegt (Abruf am 27. April 2013). 129   Zur ersten Generation rechnen die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlassenen Verfassungen der Republik Italien vom 27. Dezember 1947 und der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. In beiden wird strikt zwischen „Volk“ und „Bürger“ differenziert. So bestimmt Art.  1 I italienische Verf. Italien zur demokratischen Republik. Art.  1 II spricht die oberste Staatsgewalt dem Volke zu. Art.  2 „anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen“; Art.  3 weist allen Staatsbürgern die „gleiche gesellschaftliche Würde“ zu. Bereits in den ersten drei Artikeln des Verfassungstextes kommt also eine begriffliche Dreiteilung: Volk – Mensch – Bürger zum Ausdruck, die sich verfassungsrechtsdogmatisch fruchtbar machen lässt. Mit post-totalitären Verfassungen der zweiten Generation sind jene Verfassungen gemeint, mit deren Hilfe die Völker Südeuropas in den 1970er-Jahren das Erbe ihrer Militärdiktaturen gestaltet haben: die Verfassung der Griechischen Republik vom 9. Juni 1975; die portugiesische Verfassung vom 2. April 1976; die Verfassung des Königreichs Spanien vom 29. Dezember 1978. Zur dritten Generation gehören die post-kommunistischen Verfassungen Ost- und Südosteuropas aus den 1990er-Jahren. Mit der ersten, zweiten und dritten Generation post-totalitärer Verfassungen sind drei Gruppen von Verfassungen als Quelle der gemeineuropäischen Verfassungsüberlieferung angesprochen. Die vierte große Gruppe sind die Verfassungen jener europäischer Staaten mit ungebrochener demokratischer Tradition, unterbrochen allenfalls durch die Jahre nationalsozialistischer Okkupation im Zweiten Weltkrieg. Auch diese Staaten haben sich teilweise nach dem Krieg neue Verfassungen gegeben (z. B. Dänemark mit seinem Grundgesetz vom 5. Juni 1953; die Niederlande mit ihrer am 17. Februar 1983 neu bekannt gemachten Verfassung vom 24. August 1815; ähnlich: das Königreich Belgien, dessen Verfassung vom 7. Februar 1831 am 17. Februar 1994 neu bekannt gemacht wurde). Sonderfälle sind Österreich und Frankreich. Das Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich vom 1. Oktober 1920 war bereits vor der nationalsozialistischen Ära mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 19. Juni 1934 zugunsten einer ständischen Verfassung derogiert worden. Es trat sodann durch Verfassungs-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945 in der Fassung von 1929 erneut in Kraft und gilt bis in die Gegenwart neben einer Reihe weiterer Bundesverfassungsgesetze neueren Datums, aber auch neben dem weiterhin gültigen Staatsgrundgesetz vom 23. Dezember 1867, fort. Frankreich hat sich am 4. Oktober 1958 auf Betreiben Charles de Gaulles eine neue republikanische Verfassung gegeben, die zwar die Republik von einem parlamentarischen in ein semi-präsidentielles Regierungssystem nach dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 umwandelte, im Übrigen aber an die republikanische Tradition anknüpft, in die sich schon die Vorgängerverfas-

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2. April 1976 – eine post-totalitäre Verfassung der zweiten Generation – verweist auf das Volk als Träger der Revolution und pouvoir constituant. Art.  1 stellt die portugiesische Republik auf ein doppeltes Legitimationsfundament: den Volkswillen und die Grundsätze der Menschenwürde. Diese Doppel-Legitimation zeichnet sich fort in Art.  2, der die portugiesische Republik als demokratischen Rechtsstaat auf der Grundlage der Volkssouveränität sowie der Gewährleistung der Grundrechte und Grundfreiheiten definiert, sowie in Art.  3 I, 10 I, die dem Volk Souveränität und politische Herrschaftsmacht zuerkennen. Für die Staatsorganisation hat die Verdopplung der Legitimationsgrundlage zur Folge, dass zwar gem. Art.  108 die politische Gewalt beim Volk liegt, die Ausübung derselben aber von Art.  109 der „direkte(n) und aktive(n) Partizipation der Bürger am politischen Leben“ anheim gestellt wird. Konsequent bestimmt Art.  147, dass die Versammlung der Republik (das Parlament) die portugiesischen Staatsbürger repräsentiert. Sie sind es, die den Volkswillen formieren und artikulieren. In gleicher Weise bestimmt das slowenische Grundgesetz vom 23. Dezember 1991 – eine post-totalitäre Verfassung der dritten Generation – das Verhältnis zwischen Volk und Bürgern130. Art.  3 I definiert Slowenien als „Staat aller seiner Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, der auf dem bleibenden und unveräußerlichen Selbstbestimmungsrecht des slowenischen Volkes beruht“. In dieser Bestimmung kommt zum Ausdruck, dass Volks- und Bürgerbegriff auf gleicher Ebene den Staat zu legitimieren bestimmt sind. Art.  3 II präzisiert diese doppelte Legitimationsgrundlage, indem die oberste Staatsgewalt dem Volk vorbehalten wird (Art.  3 II 1), während die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die Staatsgewalt ausüben (Art.  3 II 2). Wie Portugal begreift auch Slowenien das Verhältnis zwischen Volk und Bürger als komplementär. Die Bürger erscheinen gleichsam als Prokuristen des Volkes. Zwar wird die demokratische unio mystica als notwendige Legitimationsbedingung von Staatsgewalt angesehen. Hinzu kommen muss aber eine effektive politische Öffentlichkeit. Die Gewährleistung von Bürgerrechten hat also mittelbare Auswirkungen auf den demokratischen Legitimationszusammenhang zwischen Volk und Staat, da die Bürgerrechte das kommunikative Umfeld konstituieren, in dem allein sich „Legitimationsketten“ bilden können. Dieses Umfeld muss von bürgerrechtlicher Freiheit – Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit etc. – geprägt und durchdrungen sein. Wo es nicht existiert, weil Bürgerrechte nicht effektiv gewährleistet werden, kann allenfalls noch von formal-demokratischer Legitimation die Rede sein. Aber soweit eine Verfassung den „Bürgern“ Legitimationswirkung zuerkennt, stellt sie klar, dass ein Demokratieformalismus den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt. Darin wird die spezifische Legitimationswirkung des Bürgerrechts deutlich. Eine Legitimation von Staatsgewalt allein aus der demokratischen Freiheitsidee rückt ein Ausspielen demokratischer Freiheit zum Staat gegen bürgerliche Freiheit vom Staat in den Bereich des Möglichen. Der Verweis auf den sungen vom 13. Oktober 1946, vom 24./25. Februar bzw. 16. Juni 1875, vom 4. November 1848 und vom 24. Juni 1793 gestellt hatten. Dies kommt prominent in der Präambel zum Ausdruck, welche die Verfassungsordnung der V. Republik an die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 und an die Präambel der Verfassung vom 13. Oktober 1946 bindet. 130   Der deutschsprachige Text der slowenischen Verfassung ist abruf bar unter http://www.us-rs.si/ media/vollstaendiger.text.der.verfassung.pdf (Abruf am 27. April 2013). Dieser Text wurde den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt.

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Volkswillen wird in totalitären Regimen zur Abwehr jeglicher effektiver Einflussnahme der Bürger auf die Staatsgewalt missbraucht. Folglich betrachten sich auch totalitäre Staaten als „demokratisch“, insoweit sie ihre Legitimation formal vom Volk ableiten. Wird eine bürger- oder allgemein menschenrechtliche Komponente, d. h. eine effektive Einwirkungschance der Öffentlichkeit zur Legitimationsbedingung gemacht, genügt ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Willensbetätigung des Volkes im Wahl- und Abstimmungsakt und der Ausübung von Staatsgewalt, wie sie Schumpeters Modell zugrunde liegt, dem verfassungsrechtlich verbindlichen Legitimationsniveau nicht. Vielmehr muss sicher gestellt sein, dass sich der Volkswille tatsächlich frei bilden kann. Freiheitsträger sind stets die Bürger. Entkleidet man nun den gemischten, Demokratie und Menschenrechte umfassenden Legitimationsbegriff seiner demokratischen Komponente, verbleibt die Legitimationswirkung der Freiheit. Die Europäische Union kehrt die in den moderneren Verfassungen Europas angelegte Komplementarität von demokratisch-unmittelbarer und bürgerrechtlich-mittelbarer Legitimationswirkung um. Was im Staat als Verhältnis der unmittelbaren demokratischen und der mittelbaren bürgerrechtlichen Legitimation von Herrschaft erscheint, wird durch Art.  10 II 2, 14 II 2 EUV in ein Verhältnis unmittelbar-bürgerrechtlicher zu mittelbar-demokratischer Legitimation gestellt. Unmittelbar hängt die Legitimation der Union von der Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheiten der Unionsbürger im Unionsraum ab. Hinzu kommt die mittelbare demokratische Legitimation durch die ihrerseits unmittelbar demokratisch legitimierten Staaten. Öffentlichkeit und Demoi bilden so ein ineinander verschlungenes, Union und Republik unauflöslich verknüpfendes Band. Dadurch wird sichergestellt, dass die europäischen Völker und die europäische Öffentlichkeit gleichermaßen Autoren des europäischen Projekts bleiben. Dem Unionsraum kommt eine eigenständige, auf die europäische Öffentlichkeit bezogene Funktion zu, ohne den demokratischen Primärraum der Mitgliedstaaten zu kolonisieren.

b)  Zur Legitimation des Europäischen Parlaments Wurde bis hier deutlich, dass bürgerrechtliche Legitimation der freien kommunikativen Auseinandersetzung Legitimationswirkungen beimisst, so bleibt noch zu untersuchen, welche Folgerungen aus der bürgerrechtlichen Legitimation des Europäischen Parlaments zu ziehen sind. Die wegweisenden Verfassungen Portugals, der Slowakei und Sloweniens schließen eine monothematische Konzeption des Bürgerrechts als Recht auf Staatsfreiheit politischer Willensbildung aus. Sollen Bürgerrechte politische Herrschaft legitimieren, muss ihre objektive, gemeinschaftsbildende Dimension anerkannt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gedanken der Grundrechts-Wertordnung am Grundgesetz beispielhaft entwickelt131. Unter dem Aspekt der Wertgeltung stellt sich die Grundrechtsbetätigung als Prokura für das Gemeinwesen dar. Wer von seinen Bürgerrechten Gebrauch macht, verleiht diesen Wirksamkeit im Rechtsleben und trägt so zu konkret wirksamer öffentlicher Freiheit bei. Die Wertordnung der Bürgerrechte ist das Korrelat der demokratisch konstitu  BVerfGE 7, 198 (205).

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ierten Staatsordnung. Wird ein Parlament als Volksvertretung definiert, ist es das Kraftzentrum der staatlichen Souveränität. Von ihm geht jegliche abgeleitete demokratische Legitimation insbesondere der Exekutive aus. Anders das Parlament als Bürgervertretung. Die Meinungsbildungsprozesse des Bürgerparlaments sind ein verkleinertes, in einem Brennglas sichtbar gemachtes Abbild der in der Öffentlichkeit bestehenden Parteiungen. Während im Volksparlament nicht Bürger mit Bürgern zum Zwecke der Kompromissfindung diskutieren, sondern sich das Volk in Person seiner Vertreter zum Zweck der Mehrheitsbildung einfindet, wofür eine effiziente Binnenorganisation mit strenger Fraktionsdisziplin erforderlich ist, ist das Bürgerparlament frei von Zwängen zu Fraktionierung und politischer Berechenbarkeit. Damit ist ein Bürgerparlament die nach dem gegenwärtigen Integrationsstand einzig mögliche Parlamentsform der Union. Allerdings wird man auf Grund der soeben dargelegten Arbeitsweise dem Bürgerparlament keine Parlamentssouveränität zuerkennen können. In Staaten wie Portugal, der Slowakei und Slowenien ist dies kein Problem, da deren Verfassungen im Volk das Zurechnungssubjekt von Staatsgewalt erkennen. Da auch Bürgerparlamente unzweifelhaft Staatsgewalt ausüben, wirken ihre Entscheidungen wie auch die aller anderen Staatsorgane also für das Volk. In der Union aber fehlt dieses Legitimationssubjekt. Die Folge ist, dass Kompetenzen und Funktionen des Europäischen Parlaments nicht mit der Ausübung von staatsähnlicher Souveränität einhergehen dürfen. Deshalb – darf dem Europäischen Parlament keine Kompetenz-Kompetenz übertragen werden, sondern sein Wirkungsbereich muss auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art.  5 II 1 EUV) festgelegt bleiben; – muss das Initiativrecht des Parlaments jedenfalls beschränkt sein; nötig ist indessen kein Initiativmonopol der Kommission (wie von Art.  17 II 1 EUV für den Regelfall vorgesehen); – sind Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit, die staatsrechtlich durch das Erfordernis demokratischer Mehrheitsbildung gerechtfertigt werden, europarechtlich unzulässig132 ; – ist eine Beteiligung des mittelbar demokratisch legitimierten Rates für den Regelfall des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art.  14 I 1 EUV i. V. m. Art.  289 I, 294 AEUV) zwingend erforderlich; – kann in Einzelfällen das Gesetzgebungsrecht des Parlaments zugunsten des Rates zurückgenommen oder erweitert werden (Art.  289 II AEUV). Zwar spielt das Parlament nach Inkrafttreten des Reformvertrags im Gesetzgebungsverfahren eine stärkere Rolle als jemals zuvor (Art.  14 I 1 EUV i. V. m. Art.  289 I, 294 AEUV). Überdies nimmt es Einfluss auf Wahl und Zusammensetzung der Kommission (Art.  14 I 3, 17 VII 2 EUV), kontrolliert diese politisch (Art.  14 I 2, 17 VIII EUV i. V. m. Art.  234 AEUV) und übt gemeinsam mit dem Rat die Haushaltsbefugnisse der Union aus (Art.  14 I 1 EUV i. V. m. Art.  310 ff. AEUV). Doch die Aufwertung des Parlaments verändert die Legitimationsstatik der Union nicht grundlegend. Seine Tätigkeit hat sich an den Rechten und Interessen der Unionsbürger (nicht an der Regierungsbildung) zu orientieren (vgl. auch Art.  10 III 2 EUV: 132   Zweifelhaft ist deshalb die Unionsrechtskonformität von Art.  3 des Direktwahlakts, der die Mitgliedstaaten zur Regelung einer Sperrklausel ermächtigt.

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Gebot der Bürgernähe). Diese Interessen sind ihrem Wesen nach überstaatlich. Durch die besondere Verpflichtung auf das Bürgerinteresse wird das Parlament zum Gegengewicht sowohl des Rates, in dem die Belange der Mitgliedstaaten zur Geltung gebracht werden (Art.  10 II 2 EUV), als auch der Kommission, die das Unionswohl als Ganzes zu berücksichtigen hat (Art.  17 I 1 EUV).

3.  „Demokratiedefizit“ der Union oder Schieflage der Demokratie in den Staaten? Was bleibt nun vom viel beschworenen133 „Demokratiedefizit“ der Union? Die Defizitdiskussion bezieht sich ja primär auf die Unionsorgane. Kritisiert wird ein Übergewicht der Exekutive im Rat, das Initiativmonopol der Kommission, die Intransparenz der Entscheidungsfindung zwischen Rat, Kommission und Parlament etc. Weniger Beachtung findet die auf die Mitgliedstaaten zurückwirkende Modifikation der Gewaltenteilung.134 Hier aber liegt das eigentliche Problem. Unter Beachtung der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ist die Funktion der Exekutive als Gesetzgeberin, wie sie sich im Rat darstellt, zumindest ungewöhnlich. Dadurch, dass die nationalen Regierungen zusätzlich zu ihrer Legislativfunktion im Rat die Durchführung der Unionsrechtsakte in den Mitgliedstaaten gewährleisten, verlieren die nationalen Parlamente erheblich an Gewicht. Da zugleich die Parlamente (wohl mit Ausnahme des semi-präsidentiellen Systems Frankreichs) einen Legi­t imationsvorsprung vor der Exekutive haben, wirft die institutionell-organisatorische Struktur der Union im Verfassungsrecht der Staaten entweder neue demokratische Probleme auf oder verschlimmert bestehende Schieflagen. Um den Gewichtszuwachs der Exekutive nicht zum Übergewicht werden zu lassen, reagiert z. B. die Bundesrepublik mit umfangreichen Mitentscheidungspflichten des Bundestags („Integrationsverantwortung“)135 und Beteiligungsrechten des Bundesrates (durch das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993136). Außerhalb ihres politikwissenschaftlichen Kontexts verbleibt an juristischer Substanz des Legitimationsdiskurses die Frage nach der Reichweite des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung137, ferner nach dem unionsrechtlichen Demokratiebe Zusammenfassend: J.H.H. Weiler, Der Staat „über alles“, JöR 44 (1996), S.  91 (105).   Durch diese Rückwirkung kann ein Demokratiedefizit in den Mitgliedstaaten entstehen ( J.H.H. Weiler, Der Staat „über alles“, JöR 44 (1996), S.  91 (107)). 135   BVerfGE 123, 267 (353). 136   BGBl I, S.  313. Im Hinblick auf den völkerrechtlichen Charakter von Vertragsänderungen ist auf das (allerdings im Hinblick auf Art.  32 III GG verfassungsrechtlich umstrittene) Lindauer Abkommen von Bund und Ländern vom 14. November 1957 hinzuweisen, nach dessen Ziff. 3 das Einverständnis der Länder vor Ratifikation eingeholt werden soll, soweit ihre ausschließlichen Kompetenzen berührt sind und keine anderweitige Bundeskompetenz zum Vertragsschluss nach diesem Abkommen besteht. Nach Ziff. 4 genießen die Länder Informations- und Beteiligungsrechte auch dann, wenn der Vertrag zwar keine ausschließlichen Länderkompetenzen, aber dennoch „wesentliche Interessen der Länder“ berührt. 137   BVerfGE 123, 267 (350) betont, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung kein nur europarechtlicher Grundsatz ist, sondern in den mitgliedstaatlichen Verfassungsprinzipien verankert sei (leider ohne Nachweis). Für die Bundesrepublik jedenfalls lässt sich die Notwendigkeit einer begrenzten Einzelermächtigung auf das Demokratieprinzip wie auf Art.  38 I GG zurückführen. Als Ausprä133

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griff 138.139 Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es in der Union schon deshalb kein Demokratiedefizit gebe, weil jede der Union zurechenbare Willensäußerung – Handeln wie Unterlassen – auf eine konkrete Einzelermächtigung der Mitgliedstaaten zurückführbar sein müsse. Liege diese vor, leite sich die Legitimation der Union von den Mitgliedstaaten ab; fehle sie, verhalte sich die Union nicht in demokratisch defizitärer Weise, sondern agiere außerhalb ihres Kompetenzbereichs. Ein Ultra-Vires-Verhalten der Union ist demokratischer Legitimation nicht zugänglich und entfaltet gegenüber Mitgliedstaaten und Bürgern keine Rechtswirkungen140. Aber sieht man davon ab, dass eine solcherart aufgefasste Problemstellung dem nahezu flächendeckenden Mosaik von Einzelermächtigungen und Abrundungskompetenzen der Union nicht gerecht wird, ist die Union zu den im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten kein Vertreter mit gebundener Marschroute. Wäre sie auf die technokratische Durchführung eines durch die Mitgliedstaaten im Einzelnen festzulegenden Integrationsplans beschränkt, bedürfte sie weder der parlamentarischen Mitbestimmung noch einer Kommission, deren Machtstellung das Initiativmonopol einschließt. Deshalb interpretieren weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichts­hof das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Sinne einer verabsolutierten Souveränität der Mitgliedstaaten. Nebenbei sei bemerkt, dass ein starkes Souveränitätsverständnis, das jedem einzelnen Mitgliedstaat die Letztentscheidungskompetenz über Art und Ausmaß seiner Unterwerfung unter Unionsrechtsakte zuwiese, auf das Einstimmigkeitsprinzip hinausliefe, da jeder Mitgliedstaat im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts über eine Vetoposition verfügte. Das Einstimmigkeitsprinzip hat aber nichts mit Demokratie zu tun. Ist Einstimmigkeit geboten, bestimmt nicht die Mehrheit, sondern stets die Minderheit die Gestaltung des Ganzen. Eine solche Idee von Souveränität und Einzelermächtigung wäre überdies unvereinbar mit den Mechanismen der Fortentwicklung der Union ohne formelle Vertragsänderung (Art.  48 II–V EUV): vereinfachte Vertragsänderung (Art.  48 VI EUV), Brückenverfahren (Art.  48 VII EUV), Vorschriften zur Vertragsabrundung (Art.  311 I, 352 AEUV).

gung des Demokratieprinzips stellt es die jederzeitige Kontrolle der deutschen Mitwirkung an der Union durch den Bundestag sicher. Das BVerfG sieht deshalb aaO zutreffend in der Integrationsverantwortung des Bundestages die Kehrseite des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. 138  Dazu: K. Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, S.  1133 ff. Ihn kann nur die Rechtswissenschaft entwickeln: L. Heuschling, Krise der Demokratie und Krise der juristischen Demokratielehre in Frankreich in: H. Bauer / P.M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  33 (36). Hinweise ergeben sich aus BVerfGE 123, 267 (365). Freilich äußert sich das BVerfG nur indirekt zum unionsrechtlichen Demokratiebegriff, da dieser außerhalb der Jurisdiktion des Gerichts liegt. Aus deutscher staatsrechtlicher Perspektive (Art.  23 I 1 GG) muss der unionsrechtliche Demokratiebegriff zum innerstaatlichen Demokratiebegriff des Grundgesetzes nicht kongruent sein, allerdings ändert sich das verfassungsrechtlich gebotene Demokratieniveau der Union mit der Fortentwicklung von Status und Funktion der Union. 139   Zum „Demokratiedefizit“: M. Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S.  1069 (1073 f.). Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre überblendend: F. Scharpf, Europäisches Demokratieprinzip und deutscher Föderalismus, StWStP 1992, S.  293 ff. 140   BVerfGE 89, 155 (188).

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VI. Zusammenfassung Festzuhalten ist abschließend, dass die Diskussion um das „Demokratiedefizit“ der Union juristisch wenig ergiebig ist. Stattdessen rückt die Unionsbürgerschaft in den Mittelpunkt des juristischen Interesses. Ihre Einordnung in das Institutionengefüge des Unionsrechts sowie ihr Verhältnis zum Demokratieprinzip wirft viele noch offene Fragen auf. Ein möglicher Problemzugang ist die Gegenüberstellung der die Union prägenden Freiheitsideen: grundrechtliche und demokratische Freiheit. Sie sind in unterschiedlicher Deutlichkeit und Regelungsintensität im Unionsrechtskorpus sowie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nachweisbar. Die Unionsbürgerschaft ist der grundrechtlichen Freiheitsidee zuzuordnen. Dies gilt auch, soweit sich aus dem Unionsbürgerstatus Wahlrechte zum Europäischen Parlament und zu den Vertretungsorganen der kommunalen Gebietskörperschaften in den Mitgliedstaaten ableiten lassen. Die Unionsbürgerschaft ist Quelle einer dem Mehr­ ebenensystem „Europäische Union“ entsprechenden gestuften Bürgeridentität. Als Staatsbürger ist der homo politicus Herr über die demokratische Gestaltung des Politi­schen. Als Unionsbürger ist er Teil einer supranationalen gesamteuropäischen Öffentlichkeit. Die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit bedarf des Staates nicht, stellt allerdings auch nicht dessen Bestand in Frage. Denn Staat und (politische) Öffentlichkeit sind einander ebenso komplementär wie demokratische und grundrechtliche Freiheitsidee.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche Eine Einführung von

Ilie Ursa*, München I. Geschichtliches Anders als die westeuropäischen Kirchen, welche Konkordate oder Verträge mit dem Staat oder staatskirchenrechtliche Regelungen (v. a. für die Beziehungen zum Staat) verwenden, gibt es in den orthodoxen autokephalen1 Kirchen einen Statut, der die interne Organisation und die Tätigkeitsbereiche der jeweiligen orthodoxen Kirche festlegt, sowie das Verhältnis der jeweiligen orthodoxen Kirche zum Staat definiert. Dieser Statut wird in manchen europäischen Ländern auch vom Staat offiziell bestätigt. In den orthodoxen Kirchen gibt es erst seit dem 18. Jh. Statute, v. a. seit der Bildung der Nationalstaaten, als das vorherige byzantinisch geprägte Staatskirchensystem in den süd- und osteuropäischen Staaten, de jure aufgelöst wurde.2 Diese kirchenrechtliche Form der Organisationsregelung einer autokephalen Kirche hat sich aber im 19. und 20 Jh. in allen orthodoxen Kirchen vollends durchgesetzt. Die Entstehung dieser juristisch-kirchenrechtlichen Organisationsverwaltungsform der orthodoxen Kirchen entsprach eher einer äußeren Notwendigkeit, die vor allem von staatlicher Seite bedingt war. Die autokephalen Kirchen mussten neue Rechtsverhältnisse zum modernen Staat definieren, der offiziell nicht oder nicht

*   Der Autor ist Doktorand an der LMU München im Bereich orthodoxes Kirchenrecht u. Europarecht. 1  Vgl. Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche im Spannungsfeld von Kultur, Nation und Religion, EOS Verlag, St. Ottilien, 2005, S.  73; dies bedeutet, dass jede orthodoxe Lokalkirche sich selbständig verwaltet und ihr Oberhaupt wählt, ohne Einmischung anderer Kirchen. Vgl. Athanasios Basdekis, Die Orthodoxe Kirche. Eine Handreichung für nicht-orthodoxe Christen u. Kirchen. Otto Lembeck, Frankfurt am Main 2001, S.  29 ff. 2  Vgl. Nikodim Milasch, Das Kirchenrecht der orientalischen Kirchen, nach den allgemeinen Kirchenrechtsquellen und nach den in den autokephalen Kirchen geltenden Spezialgesetzen (übersetzt von Alexander Pessic´) Mostar 1905,2 S.  131–157.

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mehr dem alten byzantinischen Ideal der Synallelie, d. h. der engen und harmonischen Beziehung zwischen Kirche und Staat, entsprach.3 Ein weiterer Grund für die Statutsentstehung bestand darin, dass im modernen Staat jedes institutionelle Verhältnis rechtlich definiert wird, so dass sich die orthodoxen Kirchen an die neuen Gegebenheiten angepasst und dem Staat eine rechtlich verfasste Satzung vorgelegt haben. Bei der Entstehung der rechtlichen Statutsregelung muss man neben der Herausbildung der Nationalstaaten im 19 Jh. die Autokephalieerlangung der verschiedenen orthodoxen Lokalkirchen hervorheben. Diese zwei Aspekte gehören zusammen und man kann sie nicht voneinander trennen. Die neuen autokephalen Kirchen mussten sich in den neuen Nationalstaaten, unabhängig von der Jurisdiktionsgewalt der Mutterkirche,4 organisieren und allmählich ein neues Rechtsverhältnis zum säkularen Staat entwickeln.5 Der Statut stellt eine moderne kirchenrechtliche Organisationsform der orthodoxen Kirchen dar. Gemäß ihrem Statut organisiert und verwaltet sich jede orthodoxe autokephale Kirche innerhalb eines Nationalstaates. Die kanonische Grundlage dafür bietet Kanon 39 des Trullanums, der festlegt, dass jede autokephale Kirche ihre eigene Gesetzgebung haben kann, während Kanon 9 des Konzils von Antiochien und der Kanon 6 des VII. ökumenischen Konzils den Wirkungsbereich der lokalen Kirchensynoden regeln.6 Erst nach ihrer Autokephalie hat jede orthodoxe Kirche ein Statut für die Regelung ihres internen Lebens innerhalb des jeweiligen Staates verabschiedet. So hing bei der Rumänischen Orthodoxen Kirche (weiter ROK), wie bei den anderen orthodoxen Kirchen aus dem Balkanraum, die Verabschiedung eines Statuts mit der Verselbständigung der Kirche gegenüber dem Patriarchat von Konstantinopel zusammen.7 Die heutige Rechtsform des Statuts wurde insbesondere in den letzten Jahrzehnten akzentuiert, da die kommunistischen Regime in Osteuropa versuchten, den Status der Kirchen als Organisationen des Privatrechts zu definieren, indem sie einen Statut

 Vgl. Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche, S.  59.   Alle orthodoxen Kirchen des osteuropäischen Raumes außer der Russischen Kirche standen bis zum 19. Jh. unter kirchlicher Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel; Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche, S.  115 ff. 5  Vgl. Gerd Stricker, Staat und Kirche in der Orthodoxie, in: Essener Gespräche, 45, Aschendorf Verlag München (2010), S.  8 –9. 6   „Damit ein Genossenschafts-Statut juristischen Charakter an sich trage, muß dasselbe auf dem kanonischen Rechte der Kirche und im allgemeinen auf den bezüglichen, von der kompetenten Kirchengewalt erlassenen gesetzlichen Vorschriften aufgebaut sein.“ Nikodim Milasch, Das Kirchenrecht der orientalischen Kirchen, S.  459; siehe darüber auch Richard Potz und Eva Synek, Orthodoxes Kirchenrecht, eine Einführung, Kirche und Recht, 25, Freistadt 2007, Plöchl Druck-GmbH, S.  230–232. 7   „Nach Vereinigung der Walachei und Moldau zu einem Fürstentum (1859), wurde im jungen Staate mit der Organisation der Kirche begonnen, welche mit der Verordnung vom 3. Dezember 1864 gesetzlich geregelt wurde. Diese Organisation war jedoch nur eine provisorische, bis zum Erlassen des Gesetzes über die Wahl der Bischöfe und über die Organisation der heiligen Synode vom 14. Dezember 1872. Zur Ergänzung dieses Gesetzes wurde am 20. Mai 1893 das Gesetz über die Weltgeistlichen und über die geistlichen Seminare erlassen.“ Nikodim Milasch, Das Kirchenrecht der orientalischen Kirchen, S.  131–157. Der Text des Gesetzes ist bei D. G. Berojanu, Istoria bisericei cres¸tine, Bucures¸ti 1893, S.  488–500 enthalten. 3 4

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für ihre Organisation haben sollten.8 So hat z. B. das kommunistische Regime in Rumänien alle Religionsgemeinschaften im Jahre 1948 aufgefordert, ein Statut oder ein Glaubensbekenntnis dem Kultusdepartement vorzulegen.9 Der heutige demokratische rumänische Staat erfordert von der ROK ebenfalls ein rechtliches Dokument, bezüglich ihrer Organisation und Tätigkeit.10

II.  Kirchenrechtliche Bedeutung des Statuts für die Organisationstruktur der orthodoxen Kirchen Alle Statute der orthodoxen Kirchen basieren auf den alten kirchlichen Kanones,11 und können diesen grundsätzlich nicht wiedersprechen.12 Der Statut einer autokephalen Kirche wird nach den gemeinsamen orthodoxen dogmatischen und kanonischen Grundsätzen, sowie gemäß den rechtlichen Landesbesonderheiten und kirchenrechtlichen Lokaltraditionen der jeweiligen orthodoxen autokephalen Kirche, verfasst.13 Jeder Statut entspricht den konkreten Notwendigkeiten der jeweiligen orthodoxen Kirche und kann grundsätzlich jeder Zeit von ihren zuständigen Organen, geändert werden. Er stellt auch die kirchenrechtliche Grundlage dar, auf der die kirchliche Gesetzgebung einer orthodoxen autokephalen Kirche erfolgt. Aufgrund des Statutes werden z. B. die Entscheidungen der Heiligen Synode jeder orthodoxen Kirche getroffen.14 Von einer Verfassungsfunktion des Statuts für die jeweilige orthodoxe Kirche kann man aber nur bedingt sprechen, da das Statut selbst auf den alten Kanones und kanonischen Grundsätzen basiert. Anhand der Normenhierarchie stellt der Statut jeder orthodoxen Kirche eine Konkretisierung der panorthodox geltenden Kanones. Aus diesem Grund kann nur von einer relativen Verfassungsfunk­ tion des Statuts die Rede sein. 8  Vgl. Ionut Corduneanu, Statutul Bisericii Ortodoxe Române comentat s¸i adnotat, in: inter I, 1–2 Cluj-Napoca u. a. 2007, S.  331. 9   In August 1948 wurde das Kultusgesetzt erlassen, das in Art.  56 vorsah: „alle Religionsgemeinschaft sind dazu verpflichtet ihren Organisationsstatut, der diesem Gesetz nicht entgegensteht, innerhalb von 3 Monaten, seit der Veröffentlichung dieses Gesetzes, dem Kultusministerium vorzulegen, um genehmigt zu werden“. Der Text wurde im Offiziellen Amtsblatt (Monitorul Oficial), Nr.  178, Teil  I, von 4 August 1948 veröffentlicht. 10  Vgl. Radu Preda, Biserica în stat, o invitat¸ie la dezbatere, Scripta [ohne Ort] 1999, S.  22. 11   Darunter werden die Entscheidungen der sieben Ökumenischen Konzile, sowie die von ihnen anerkannten Entscheidungen der Lokalkonzile und bestimmte allgemeine Kanones (Regeln) einiger östlicher Kirchenväter verstanden. Vgl. dazu die kommentierte Sammlung aller Kanones, im Pidalion, aus dem Griechischen übersetzt, Institutul de arte grafice Sperant¸ a, Bucures¸ti, 1992; Richard Potz und Eva Synek, Orthodoxes Kirchenrecht, S.  209 f.; nach Milasch sind die autokephalen Kirchen „befugt, innerhalb der Grenzen dieser Autonomie und nach ihren eigenen Bedürfnissen Vorschriften zu erlassen, welche als solche die Bedeutung von Gesetzen erlangen.“ Nikodim Milasch, Das Kirchenrecht der orientalischen Kirchen, S.  454; siehe auch S.  459. 12   Diese Verfassungsfunktion des kanonischen Rechts lässt sich unter anderem auch am Beispiel des Statuts der Rumänisch-Orthodoxen Kirche verdeutlichen, der sowohl in Art.  1, 2 u. 3, als auch in den Fußnoten auf die alten kirchlichen Kanones verweist. 13   Als Schranken der eigenen Gesetzgebung bzw. des Statuts einer autokephalen orthodoxen Kirche gelten nach Milasch „nur der allgemeine Geist des Kirchenrechts, sowie die allgemeinen dasselbe durchdringende Prinzipien.“ Nikodim Milasch, Das Kirchenrecht der orientalischen Kirchen, S.  453. 14   In der ROK Art.  14 lit.h des Statuts.

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Die kirchliche Organisationsform wird an die jeweilige national geltende Rechtslage der Zeit angepasst. Dies bedeutet, dass das orthodoxe Kirchenrecht, dem Grundsatz der Staatsloyalität entsprechend, die staatlichen Gesetze anerkennt und achtet und nichts unternimmt, was der staatlichen Rechtsordnung entgegensteht.15 Der Statut einer orthodoxen Kirche wird in der Regel alleine von ihren zuständigen Organen verabschiedet, ohne Einmischung anderer Kirchen, zivilgesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen.16 In der ROK wird der Statut von der Heiligen Synode mit absoluter Mehrheit ihrer anwesenden Mitglieder verabschiedet.17 Das Statut der ROK ist auch Ausdruck der kirchlichen Autonomie sowie des Selbstbestimmungsrechts der Kirche den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gegenüber. Der heutige Statut der ROK bringt Änderungen in der Statut von 2008 ein, der seinerseits den Statut von 1948 ersetzte.18 Wichtige Grundsätze für die Verfassung des rumänischen Statuts stammen, neben dem kanonischen Recht, auch vom Statut des siebenbürgischen Metropoliten Andrei Baron von S¸  aguna von 1868, mit dem Titel: Das organische Statut der orthodox-orientalischen romanischen Kirche in Ungarn und Siebenbürgen vom 28. Mai 1869. Insbesondere drei Grundsätze dieses Statuts bilden bis heute die kirchenrechtliche Grundlage für den Statut der ROK und zwar: 1) der Grundsatz der kirchlichen Autonomie, 2) der Konstitutionalgrundsatz und 3) der Grundsatz der Teilhabe der Laien am kirchlichen Entscheidungsprozess.19 1) Die kirchliche Autonomie muss aus einer dreifachen Perspektive betrachtet werden: a) im Verhältnis zum Staat; b) im Verhältnis zu den anderen orthodoxen autokephalen Kirchen; 20 c) im Verhältnis zwischen den jeweiligen konstituierenden Teilen der autokephalen Kirche bzw. zwischen den verschiedenen Kircheneinheiten. 15  Vgl. Ioan Floca, Drept canonic ortodox, legislat¸ie s¸i administra˘ie bisericeasca, Editura Institutului Biblic s¸i de Misiune al Bisericii Ortodoxe Române, Bucures¸ti 1990, Bd.  1, S.  199. 16   Art.  14 lit.  g des Statuts der ROK; in Griechenland und Finnland wird z. B. das Statut der Orthodoxen Kirche vom staatlichen Gesetzgeber vorgegeben und in Zusammenarbeit mit der jeweiligen orthodoxen Kirche werden die letzten Änderungen vorgenommen. Vgl. Marcel Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art.  9 EMRK, Peter Lang, Frankfurt am Main 2000, S.  34–35. 17   Für die ROK vgl. Art.  14 Abs.  1 lit.  g des Statuts. 18   Zwischen 2008 und 2011 wurden mehrere Statutsänderungen vorgenommen, die jetzt im neuen Statut zusammengefasst sind. Das erste Statut wurde von der Hl. Synode 1925 verabschiedet, als die Rumänische Orthodoxe Kirche vom Patriarchat von Konstantinopel zum Patriarchat erhoben wurde; vgl. Mircea Pa˘ curariu, Geschichte der Rumänisch Orthodoxen Kirche, Oikonomia 33, Erlangen 1994, S.  549–551; Paul Brusanowski, Structura constitut¸ ionala˘ a Bisericii Ortodoxe Române. Repere istorice, in: inter I, 1–2, S.  233–234. 19   Vgl. „Statutul Organic al Bisercii greco-orientale romane din Ungaria s¸i Transilvania. Cu un supliment. A patra edit¸iune oficiala˘ autentica˘ procurata˘ en urma concluzului congresual din anul 1878, nr.  247“ Sibicu, proprietatea Mitropoliei, 1910; abgedruckt in: inter I, 1–2, (2007), S.  273–301. Paul Brusanowski, Structura constitut¸ionala˘ a Bisericii Ortodoxe Române, S.  252 f.; Iulian Mihai Constantinescu, „Personalitatea Mitropolitului-Canonist Andrei S¸  a guna s¸i lucra˘ rile sistematice de Drept Canonic. Compendiul de Drept Canonic la 140 de ani de la aparit¸ie (1868–2008)“, in: Mitropolia Olteniei, LXI (2009), Nr.  9 –12, S.  86–113. 20  Die Autonomie gegenüber den anderen orthodoxen Schwesterkirchen wird kirchenrechtlich ebenso als Autokephalie bezeichnet. Vgl. Joan Floca, Drept canonic ortodox, S.  89.

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Die größte Autonomie haben dabei die Metropolien, die eigene Synoden mit bestimmten Gesetzgebungsfunktionen besitzen. 2) Die charakteristischen Elemente der Konstitutionalorganisation, die in der Kirche angewendet werden, sind: a) die Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive und Judikative); b) der repräsentativ-demokratische Grundsatz aufgrund des Wahlrechts.21 3) Der Grundsatz der Laienteilhabe besagt, dass die Laien als konstitutives kirchliches Element in den kirchlichen Organen auch mitwirken bzw. mitentscheiden sollen.22 Art.  3 Abs.  2. des Statuts der ROK bringt diesen Grundsatz zum Ausdruck.

III.  Verfassungs- und staatskirchenrechtliche Grundzüge der Religionsfreiheit in Rumänien Der rumänische Staat bestätigt das Statut durch eine Regierungsverordnung und veröffentlicht ihn im Öffentlichen Amtsblatt (Monitorul oficial). Dies geschieht gemäß den Verfassungsvorschriften, wonach die Organisationsweise jeder staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft unter den Bedingungen des Gesetzes erfolgen soll.23 Dadurch wird dem Statut staatlicherseits Gesetzescharakter verliehen. Das Statut der ROK wird in Rumänien damit, neben dem Kultusgesetz (Religionsgesetz) 24, zum geltenden Staatskirchenrecht. Die Genehmigung der Statuten durch den Staat zeigt die gute Zusammenarbeit zwischen der ROK und dem rumänischen Staat.25 Diese Zusammenarbeit steht in Rumänien, wie in den meisten orthodox geprägten Ländern, z. T. in der byzantinischen Tradition der Nomokanones.26 Nach Art.  22 Abs.  1 des Religionsgesetzes, muss die ROK ein Statut dem Kultusministerium vorlegen. Heute besteht in Rumänien ein religionsrechtliches System der Trennung zwischen Staat und ROK, das zugleich aber die Zusammenarbeit zwischen den beiden 21   Nicolae Popovici, Opinii asupra Proiectului de modificare a Legii s¸i Statutului pentru Organizarea Bisericii Ortodoxe Române, Sibiu, 1936, S.  14–21. 22   Der Anteil von 2/3 Laien wurde ursprünglich von der serbischen kirchenrechtlichen Tradition übernommen; vgl. Paul Brusanowski, Structura constitut¸ ionala˘ a Bisericii Ortodoxe Române, S.  237; ders., Andrei baron de S¸ a guna s¸i organizarea constitut¸ ionala˘ a Mitropoliei Transilvaniei, în: Mitropolia Ardealului/Facultatea de Teologie „Andrei S¸ a guna“ (Hrsg.), Mitropolitul Andrei S¸ a guna creator de epoca˘ in istoria Bisericii Ortodoxe din Transilvania, Editura Andreiana, Sibiu 2008, S.  167 f. 23   Näheres regelt das Gesetz 489/2006. 24   Die Religionsgemeinschaften werden in Rumänien als „Kulte“ bezeichnet. Das Gesetz, das die Beziehung des Staates zu den Kulten regelt, heißt Kultusgesetz. Der Präsident Rumäniens ratifizierte das Gesetz 489/2006 durch die Verordnung Nr.  1437/27.  12. 2006. Es wurde im Amtsblatt Nr.  11/8.  01. 2007 veröffentlicht. 25   Zwischen ROK und rumänischem Staat gab es aber auch Spannungen, als der Staat bestimmte Menschenrechtsregelungen internationaler Verträge umzusetzen versuchte, die religiösen und moralischen kirchlichen Grundsätzen entgegenstanden. Die Heilige Synode hat in diesem Sinne ihre offizielle Meinung zu verschiedenen staatlichen Gesetzesinitiativen, durch öffentliche Stellungnahmen bekanntgegeben, indem sie die religiösen Werte verteidigen wollte. Die ROK war insbesondere entschieden gegen die Versuche Homosexualität und Prostitution zu legalisieren. Auch bei den Forderungen der ROK das Patrimonium zurück zu bekommen, gab es Uneinigkeiten mit dem Staat. Vom kirchlichen Patrimonium ist heute ungefähr 35% an die ROK zurückgegeben worden. Vgl. Radu Preda, Biserica în stat, S.  69. 26   Gesetzessammlungen, die sowohl staatliche Gesetze als auch kirchliche Kanones enthielten.

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Institutionen voraussetzt. Art.  44 der Verfassung legt fest, dass das Verhältnis zwischen ROK und Staat nicht nur als Trennung, sondern auch als kooperative Zusammenarbeit verstanden werden solle. Die ROK wird in der rumänischen Gesetzgebung dadurch zunehmend als Partner des Staates angesehen. Das Religionsgesetz in Rumänien zeigt, dass die ROK und der rumänische Staat, ähnlich wie das deutsche staatskirchenrechtliche bzw. religionsverfassungsrechtliche27 Modell, ein kooperatives Verhältnis für ihre Beziehungen gewählt haben. Die individuelle Religionsfreiheit aller Bürger Rumäniens wird erstmals in Art.  29 Abs.  1 der Verfassung Rumäniens gewährleistet.28 In der Literatur wird Art.  29 auch korporativ verstanden, wonach der Glaubensgemeinschaften die eigene Organisation frei steht.29 Die kollektive Religionsfreiheit wird aber dazu in Art.  5 Abs.  1 des Religionsgesetzes ausdrücklich erwähnt. Die Religionsgemeinschaften sollen sich dabei von ihren eigenen Statuten leiten lassen.30 Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, bezüglich der inneren Angelegenheiten, ist in Art.  29 Abs.  3 der Verfassung verankert.31 Art.  8 Abs.  1 und 3 des Religionsgesetzes i. V. m. Art.  29 Abs.  4 der Verfassung gewährleisten die kirchliche Autonomie und die Nichteinmischung des Staates in die internen Angelegenheiten der ROK.32 Durch Art.  29 Abs.  3 u. 5. der rumänischen Verfassung i. V. m. Art.  23 des Religionsgesetzes, wird die Autonomie der ROK gegenüber dem Staat gewährleistet.33 Gemäß Art.  14 Abs.  2 des Religionsgesetzes genießt die ROK freie Autonomie und die staatliche Achtung hinsichtlich ihrer internen Organisation. Durch die Betonung der Autonomie in Art.  4 Abs.  1 des Statuts will sich die ROK vom politischen Einflussbereich deutlich abgrenzen. Die ROK ist in ihren Angelegenheiten, innerhalb der Schranken des allgemeingültigen Gesetzes selbständig. Ihre Autonomie unterliegt also dem staatlichen Gesetzesvorbehalt. Der Staat gewährleistet die unabhängige kirchliche Ordnung und Organisation sowie die Freiheit der Rechtsetzung der ROK und ihrer Rechtsprechung. Die kirchliche Autonomie bedeutet zugleich aber auch die Teilnahme an unterschiedlichen staatlichen Einrichtungen, so dass die ROK dadurch einen eigenen Beitrag leistet. Der rumänische Staat ist, gemäß Art.  9 Abs.  1 des Religionsgesetzes vom 8.1.2007, 27  Vgl. Peter Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, DöV 1976, S.  73–79. 28   „Die Gedanken-, Meinungs- sowie die religiöse Glaubensfreiheit können in keiner Form eingeschränkt werden. Niemand kann gezwungen werden, eine bestimmte Meinung zu vertreten oder entgegen seinen Überzeugungen einem religiösen Glauben beizutreten.“ (Übersetzung bei Ta˘  vala˘, Emanuel P., Staat und Kirche in Rumänien, S.  15). 29  Vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘, Staat und Kirche in Rumänien, S.  16. 30  Vgl. ebd., S.  20. 31   „Die religiösen Kulte sind frei und organisieren sich im Rahmen des Gesetzes und gemäß ihren eigenen Statuten.“ (Übersetzung bei Emanuel P. Ta˘  vala˘, Staat und Kirche in Rumänien, S.  16). 32   „Die religiösen Kulte sind dem Staat gegenüber selbstständig und erfreuen sich seiner Unterstützung, einschließlich durch die Ermöglichung des religiösen Beistands in der Armee, in Krankenhäusern, in Strafanstalten, in Altersheimen und in Waisenhäusern.“ (Übersetzung bei Emanuel P. Ta˘  vala˘, Staat und Kirche in Rumänien, S.  16). 33   „Die Kulte (Religionsgemeinschaften) sind frei und sie organisieren sich gemäß der eigenen Statute [. . .] sie sind dem Staat gegenüber autonom und erfreuen sich seiner Unterstützung“ (Übersetzung durch Ilie Ursa).

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was die Religionen betrifft, neutral.34 Offiziell besteht demnach in Rumänien keine Staatskirche. Art.  9 Abs.  2 erkennt in diesem Sinne die Parität, d. h. die Anerkennung der Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung aller staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften, an. In der neuen Verfassung Rumäniens vom 21. November 1991, die durch das Gesetz Nr.  429/2003 zur Revision der Verfassung geändert wurde, erhielt die ROK keine Vorrangstellung mehr.35 Die ausdrückliche Erwähnung der ROK in Art.  7 Abs.  2 des Religionsgesetzes hebt aber die Bedeutung hervor, die der Staat der ROK zuspricht.36 Den Artikel kann man mit Art.  5 Abs.  2 des Statuts in Verbindung bringen, der die ROK nach der Anzahl ihrer Mitglieder sowie ihres besonderen Beitrags zum Leben und zur Kultur des rumänischen Volkes als „national und mehrheitlich“ bezeichnet.37 Die Schranken der kirchlichen Autonomie unterliegen den Schranken der Religionsfreiheit 38. Art.  2 Abs.  2 des Religionsgesetztes legt fest, dass die Schranken der Religionsfreiheit nach Art.  8 Abs.  3 i. V. m. Art.  17 Abs.  2 die geltenden Gesetze, die öffentliche Sicherheit, der Schutz der Ordnung, der Gesundheit der öffentlichen Moral oder der Schutz der Grundrechte und -freiheiten sind. Das Statut der ROK kann nach Art.  8 Abs.  3 des Religionsgesetzes diesen nicht entgegenstehen. Nachdem Rumänien Mitgliedstaat der EU und des Europarates ist, gelten hier auch die Schranken des Art.  10 GRCH und des Art.  9 II EMRK. 34   Es besteht in Rumänien, ähnlich wie in Deutschland, ein Zwei-Klassen-System gestufter Parität, indem man zwischen öffentlich anerkannte Religionsgemeinschaften und religiösen Vereinen unterscheidet. Vgl. Preda, Radu, Biserica în stat, S.  37; Patriciu Vlaicu, Le système roumain des relations Églises – État et al loi 489/2066, in: Istina LV (2010). 35   Art.  21 der Verfassung von 1866 lautete: „Die orthodoxe Religion des Ostens ist die herrschende Religion des rumänischen Staates“. während in der Verfassung von 1923 hieß es in Artikel 22: „Die christliche orthodoxe Kirche und die griechisch-katholische Kirche sind rumänische Kirchen. Weil die Rumänisch-Orthodoxe Kirche die Religion der überwiegenden Mehrheit der Rumänen ist, ist sie die dominierende Kirche im rumänischen Staat; während die griechisch-katholische Kirche Vorrang hat im Vergleich zu den anderen Kulten“. Die ROK hatte in jener Zeit den Status einer Staatskirche, so dass jedes kirchliche Problem zugleich ein national-staatliches Problem war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der legislative Rahmen für die Funktion der Religionsgemeinschaften durch Dekret 177/1948 (veröffentlicht im Öffentlichen Amtsblatt (Monitorul Oficial) Nr.  178 vom 4.8.1948) geregelt. Dieses Dekret, das von den kommunistischen Behörden 1948 erlassen wurde, erlaubt den massiven staatlichen Eingriff in Angelegenheiten, die zum Privatleben gehören, wie die Religions- und Gewissensfreiheit. Vgl. http://ro.wikipedia.org/wiki/Religia_%C3%AEn_Rom%C3%A2nia. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 36   Die Verabschiedung des letzten Religionsgesetztes wurde unter anderem von der ROK verzögert, die zusammen mit der Griechisch-Katholischen Kirche zurück zu der Lage von den Verfassungen von 1866 (Art.  21) und 1923 (Art.  22) wollte, in der sich die beiden Kirchen, als Mehrheitskirchen, über einen privilegierten Sonderstatus als Staatskirchen erfreuten; vgl. Paul Brusanovski, Actualitatea Statutului Organic din Ardeal, in inter I, 1–2, S.  263; http://ro.wikipedia.org/wiki/Religia_%C3%AEn_ Rom%C3%A2nia. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 37  Vgl. Patriciu Vlaicu, Le système roumain des relations Églises – État et al loi 489/2006, in: Istina LV (2010), S.  137–151; G. Grigorita, Lo statuto giuridico della Chiesa ortodoxa Rumena secondo la lege n. 489/06 riguardante la liberta religìosa e il regìme generale dei culti, in: Libertà di conscienza e diversita di appartenenza religiosa nell’Est Europa, acura di G. Cimbalo, F. Botti, Bonnonia University Press, Bologna 2008, S.  111 f.; Ioan Vasile Leb, L’Église Orthodoxe Roumaine, une Église nationale? in: L’aneé canonique, Cerf. Paris, 43, 2001, S.  105–114. 38   Die Schranken der Religionsausübungsfreiheit wurden das erste Mal im Religionsgesetz vom 31. März 1928 „öffentliche Ordnung, die guten Sitten und die Staatsordnung“ formuliert. Der Text bei Emanuel P. Ta˘  vala˘, Staat und Kirche in Rumänien, S.  7.

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IV.  Kirchliche Autonomie während des kommunistischen Regimes Die Autonomie der ROK dem Staat gegenüber und ihre freie Religionsausübung, wie die der anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften in Rumänien, wurden nach der Machtergreifung der kommunistischen Partei 1947 systematisch eingeschränkt und staatlich kontrolliert. Die ROK wurde eine „tolerierte Institution“, die keine gesellschaftlich-öffentliche Rolle mehr spielen durfte. Es bestand in dieser Zeit ein striktes Trennungssystem, das durch die enge Kontrolle der Kirche durch den Staat gekennzeichnet war.39 Der Zweck dieser Maßnahmen war die schrittweise Abschaffung der ROK sowie jeder anderen Religionsgemeinschaft. So stand die ROK seit 1957 unter strenger Überwachung des Kultusministeriums, das 1970 in ein Kultusdepartement umgewandelt wurde. Die gesamte Aktivität der ROK unterlag mehr als 40 Jahre lang der restriktiven gesetzlichen Kontrolle dieses Kultusdepartements.40 So musste z. B. die Wahl des Patriarchen der ROK nach Art.  5 lit.  g des Organisationsdekrets vom Präsidenten der Republik Rumänien durch Präsidentialdekret anerkannt werden.41 Für die Eröffnung des kirchlichen Wahlkollegs war eine Einverständniserklärung des Kultusdepartements notwendig, die in der Eröffnungssitzung vorgelesen wurde.42 Staatliche Aufsicht gab es auch bei der Neuwahl und Inthronisation von Bischöfen der ROK, indem der Präsident des Kultusdepartements und der Vizepräsident der Großen Nationalversammlung der Sozialistischen Republik Rumänien immer anwesend waren.43 Obwohl die Religionsfreiheit im Art.  27 der Verfassung von 1948 verankert war, gab es, wie in den anderen kommunistischen Staaten des Ostblocks, keinen effektiven Rechtschutz, der die Einhaltung dieser Freiheit garantieren konnte, so dass die ROK in dieser Zeit keine freie Tätigkeit entfalten konnte.44  Vgl. Radu Preda, Biserica în stat, S.  20–21; Emanuel P. Ta˘  vala˘, Staat und Kirche in Rumänien, S.  9.   So wurde am 30 Mai 1947 der Art.  12 des Gesetzes für die Organisation der Kirche bezüglich der Wahl der Hierarchen modifiziert, in dem festgelegt wurde, dass neben den zuständigen Wahlorganen, die aus dem National-Kirchlichen Kongress und der Eparchialversammlung bestehen, auch die wichtigsten staatlichen Hochbeamten teilnehmen konnten. Dadurch konnte der Staat die Kleriker kontrollieren. Eine Analyse der Entwicklung dieser Rechtslage in der kommunistischen Zeit findet man bei Paul Brusanowski, Structura constitut¸ ionala˘ a Bisericii Ortodoxe Române. Repere istorice, in: inter I, 1–2 (2007), S.  255–254. 41   Bei der Wahl des Patriarchen war auch der Vizepräsident der Großen Nationalversammlung (Parlament) und der Präsident des Kultusdepartements, der dabei auch die Regierung vertrat, anwesend; BOR 1986, Nr.  11–12, Jahr CIV, Bucures¸ti, S.  7; BOR 1976 Nr.  9 –12, Jahr XCIV, Bucures¸ti, S.  1102– 1112. 42   Die kommunistischen Regierungsbehörden hatten Interesse daran und hielten sich für berechtigt, eine stärkere Kontrolle auf die ROK auszuüben. Der Kultusminister konnte an den Sitzungen der Heiligen Synode teilnehmen und sogar die interne Organisation der ROK bestimmen. Das Statut der Organisation der ROK von 1948 war bis zum Ende des kommunistischen Regime in Kraft. Die späteren Änderungen betrafen die Befreiung der Heiligen Synode von jedweder Kontrolle durch die Regierungsbehörden, so dass die ROK ein Staat im Staat geworden ist, wo das hierarchische Prinzip überbetont wurde. Vgl. BOR 1986, Nr.  11–12, Jahr CIV, Bucures¸ti, S.  57; BOR 1986, Nr.  11–12, Jahr CIV, Bucures¸ti, S.  22–23. 43   Vgl. BOR 1985/Nr.  1–2, Jahr CIII, Bucures¸ti S.  43. 44  Vgl. Joan Vasile Leb, Die Rumänische Orthodoxe Kirche im Wandel der Zeiten, Cluj-Napoca, 1998, S.  104. 39

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Das Statut der ROK musste nach Art.  5 lit.  e vom Staat durch das Kultusdepartements genehmigt werden.45 Der Vizepräsident des Kultusdepartements nahm auch an den Sitzungen der Synode der ROK teil.46 Der Kultusminister war bei den Sitzungen der Heiligen Synode anwesend und musste die Sitzungsprotokolle unterschreiben. Die ROK versuchte in dieser Zeit ein modus vivendi mit der kommunistischen Macht zu finden und ging daher auf Kompromisslösungen, für den Erhalt des kirchlichen Lebens, ein.47 Durch die Kooperation mit dem kommunistischen Staat versuchte die Kirche möglichst viel von ihrer begrenzten Freiheit zu bewahren.48

V.  Organe der Zentralorganisation der ROK Inhaltlich werden durch das Statut die Organisation und die Tätigkeitsbereiche der ROK festgelegt. Die ROK ist seit 1925 als Patriarchat organisiert.49 Die Zentralorganisation der ROK wird im ersten Teil des Statuts dargelegt. Die gesamte rumänische Kirche wird von gemeinsamen Organen geführt, denen durch den Statut bestimmte Kompetenzen zugewiesen wurden. Die Organe der ROK werden nach Art.  9 in beschließende, exekutive und zentral-administrative Organe eingeteilt. Entsprechend der Synodalentscheidung Nr.  8561 vom 25.  10. 2011, wurde der Statut der ROK in bestimmten Punkten letztmalig geändert.50 Als Hauptorgan und höchste Autorität innerhalb des rumänischen Patriarchats für alle seine Tätigkeitsbereiche fungiert gemäß Art.  11 des Statuts die Heilige Synode, die sich aus dem Patriarchen und allen amtierenden Metropoliten, Erzbischöfen und Bischöfen zusammensetzt. Die Heilige Synode hat nach der kommunistischen Wende 45   Das Statut von 1948 konnte erst nach seiner Genehmigung der kommunistischen Regierungsbehörde, durch ein Dekret des Präsidiums der Großen Nationalversammlung der Volksrepublik Rumänien, in Kraft treten. Der Zweck der kommunistischen Behörden bestand darin, den Zentralismus in der Kirche zu stärken, um so die Kirche effizienter zu kontrollieren. Aus diesem Grund hat man eine sehr starke Patriarchalverwaltung geschaffen. Das Statut von 1948 wurde in der kommunistischen Zeit mehrmals geändert. Jede Statutsänderung wurde von der Kirchlichen Nationalversammlung abgestimmt und von der Regierungsbehörden genehmigt. Vgl. Paul Brusanowski, Structura constitut¸ ionala˘ a Bisericii Ortodoxe Române, S.  257. 46   Nach Art.  13 u. 23 des Statuts der ROK von 1948 fand die Eröffnung u. der Abschluß der Synod­ sitzungen u. der Sitzung der Kirchlichen Nationalversammlung gemäß dem Beschluß des Kultusdepartements statt. Ein Vertreter dieses Departements konnte nach Art.  14 des Statuts an den Sitzungsberatungen teilnehmen u. mitwirken. Vgl. BOR, 1987, Nr.  1–2, Jahr CV, Bucures¸ti, S.  26. 47   Die Option für die Kooperation der ROK mit dem kommunistischen Staat wurde von den rumänischen Hierarchen insbesondere aufgrund der Erfahrungen der Russisch-Orthodoxen Kirche getroffen, die am Anfang das kommunistische Regime provozierte, was ein hartes Vorgehen seitens des sowjetischen Staates gegen sie nach sich gezogen hatte. Die Kooperation der ROK mit dem kommunistischen Staat ermöglichte der Kirche, in einem bestimmten Rahmen noch unter ihren Gläubigen aktiv zu bleiben. Dorin Oancea, Biserica Ortodoxa Româna˘ in raport cu regimul comunist din România, in: Revista Teologica˘  , Nr.  4/1997, Sibiu, S.  43. 48   Dies brachte der ROK nach der Wende den Vorwurf der Kollaboration mit dem kommunistischen Regime ein. Vgl. Radu Preda, Biserica în stat, S.  23. 49   Vorher war sie mehr als 1000 Jahre unter der Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Seit 1885 ist die ROK autokephal. Vgl. Mircea Pa˘ curariu, Geschichte der Rumänischen Orthodoxen Kirche, Oikonomia 33, Erlangen 1994, S.  464 f. 50   http://www.patriarhia.ro/ro/documente/hotararisfsinod.html. Zuletzt gesehen am 16.01.13.

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immer mehr an Bedeutung gewonnen, hauptsächlich durch den ständigen Zugewinn an Kompetenzen im innerkirchlichen Bereich, vor allem zu Lasten der Kirchlichen Nationalversammlung. Dies entspricht einer Tendenz, die nach der Wende zunehmend zu beobachten war, wonach die Heilige Synode, die Entscheidungskompetenz für alle kirchlichen Angelegenheiten für sich beanspruchte. In der kommunistischen Zeit war ihre Rolle vom Staat eingeschränkt, was nach der Wende als Gegenreaktion zu einer verstärkten Auswertung der Heiligen Synode geführt hat. Eine der Aufgaben der Heiligen Synode, die heute von Bedeutung ist, besteht nach Art.  14 lit.  f. des Statuts in der Vertretung der offiziellen Position der ROK bezüglich der staatlichen Gesetzesentwürfe, die die kirchliche Tätigkeit betreffen oder „die von religiösem oder sozialem Interesse sind“. Art.  14 lit.  h. begründet in diesem Zusammenhang eine gewisse Zusammenarbeit mit dem Staat, auch im legislativen Bereich, wenn hierbei ein gemeinsames Interesse beider Seiten besteht. Die Genehmigung von Abkommen und Partnerschaften mit dem Staat obliegt ebenso der Heiligen Synode.51 Eine andere Änderung des Statuts betrifft die Wahl der Hierarchen, die gemäß Art.  127–129 von der Heiligen Synode bzw. jeweils zuständigen Metropolitansynode gewählt werden und nicht mehr von der Kirchlichen Nationalversammlung wie bis jetzt. Art.  14 lit.  m stellt eine Änderung dar, da im früheren Statut der Patriarch von der Kirchlichen Nationalversammlung gewählt wurde. Das zunehmende gesellschaftliche Engagement der ROK lässt sich auch Art.  14 lit.  j entnehmen, wonach die Heilige Synode die offizielle Position der ROK zu Problemen von allgemeinem, gesellschaftlichem Interesse vertritt. Die pastorale Betreuung der rumänisch-orthodoxen Diaspora ist nach lit.  l Aufgabe der Heiligen Synode. Die Heilige Synode hat nach Art.  14 e1 auch ein Auslegungsmonopol des Statuts sowie anderer kirchenrechtlicher Regelungen. Diese Auslegung ist somit für alle Organe des Rumänischen Patriarchats verbindlich. Nach Art.  17 Abs.  1 des Statuts stellt die Ständige Synode das beschließende Zentralorgan der Rumänischen Kirche dar, das zwischen den Sitzungen der Heiligen Synode tagt, „falls Probleme wegen ihrer Wichtigkeit eine unverzügliche Überprüfung erfordern“. Nach Art.  18 Abs.  1 übt die Ständige Synode „in der Zeit zwischen den Sitzungen der Heiligen Synode die Aufgaben, die in Art.  14, lit.  e,i,r,t und x vorgesehen sind, aus“. Das dritte beschließende Zentralorgan der ROK ist die Kirchliche Nationalversammlung, die sich nach Art.  20 aus Klerikern und Laien zusammensetzt. Sie ist gemäß Art.  19 des Statuts für „die administrativen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Angelegenheiten sowie Angelegenheiten des kirchlichen Kulturgutes zuständig“. Die Mitglieder der Heiligen Synode nehmen an den Arbeiten der Kirchlichen Nationalversammlung mit beratender Stimme teil. Die Zahl der Laien hat mehrmals variiert, je nach politischem Kontext und kirchenpolitischem Interesse. Während der kommunistischen Zeit betrug diese Zahl jeweils drei Laien von jedem Bistum. Nach den letzten Statutsänderungen wurde diese Zahl auf zwei festgelegt.52 Diese Tendenz 51   Die Forderung am staatlichen Gesetzgebungsprozess mitzuwirken, der für die Kirche von Bedeutung sein könnte, stellte die ROK dem neu formierten Regime gleich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und zwar am 10. Juni 1990; vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  12. 52   Vgl. Art.  20 Abs.  1 des Statuts nach den Änderungen von 2012.

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der Beschränkung der Laienanzahl in den kirchlichen Organen muss man auch im Kontext der zunehmenden Behauptung der Hierarchie der ROK sehen.53 Dies wurde aber in der Literatur manchmal als Rückkehr zum alten status quo vor dem Ersten Weltkrieg kritisiert.54 Die Stellung der Heiligen Synode als Letztentscheidungsinstanz innerhalb der ROK zeigt Art.  20 Abs.  4, wonach die Entscheidungen der Kirchlichen Nationalversammlung der Ratifizierung durch die Heilige Synode bedürfen. Der Patriarch ist die erste Exekutivzentralbehörde.55 Die Aufgaben des Patriarchen wurden durch die sukzessiven Statusänderungen stets erweitert, so dass man heute von einem starken Patriarchenamt sprechen kann. So wurde die Vertretungsfunktion des Patriarchen im heutigen Statut weiter gestärkt, beispielweise indem das Einberufungsrecht des Patriarchen bezüglich der Heiligen Synode in Art.  26 lit.  b ausdrücklich erwähnt wird. In Bezug auf die Beziehung zum Staat gewinnt das Patriarchenamt nach Art.  26 Abs.  5 lit.  c an Bedeutung, in dem der Patriarch alleine oder durch Delegierte, die ROK „gegenüber den öffentlichen zentralen und lokalen Autoritäten, gerichtlich auch gegenüber dritten (Privat-) Personen“ vertreten kann, so dass dem Patriarchen als Organ der ROK in diesem Sinne eine besondere Rolle zukommt. Sein Titel als „Patriarch Rumäniens“ gibt die Tendenz wieder, die ROK als Kirche der Rumänen oder des Volkes zu präsentieren.56 Das Stavropigialrecht des Patriarchen nach Art.  26 Ab. 5 lit.  s des Status beinhaltet das Recht, überall im Land Klöster zu gründen, die dem Patriarchen direkt unterstehen. Der Patriarch ist Präsident aller kirchlichen Organe. Die starke Rolle des Patriarchen zeigt sich darüber hinaus in seinem Einberufung- und Vorsitzrecht aller kirchlicher Zentralorgane. Indes ist kirchenrechtlich der Patriarch jeder autokephalen orthodoxen Kirche nur ein primus inter pares, dem eine gewisse Ehrenstellung zukommt. Der Patriarch hat nach Art.  26 lit.  b auch die Pflicht, die Beschlüsse der Heiligen Synode darauf hin zu überprüfen, inwieweit sie der Kirche dienlich sind. Als Exekutivzentralbehörde der Heilige Synode und der kirchlichen Nationalversammlung fungiert auch der Kirchliche Nationalrat, der sich aus 12 Mitgliedern der kirchlichen Nationalversammlung, einem Kleriker und einem Laien als Stellvertreter jeder Metropolie für ein vierjähriges Mandat, zusammensetzt. Der Ständige Kirchliche Nationalrat ist gemäß Art.  31 Abs.  1 das exekutive Zentralorgan, das zwischen den Sitzungen des Kirchlichen Nationalrates tagt. Er setzt sich nach Abs.  2 aus dem „Patriarchen als Präsidenten, den Vikarpatriarchalbischöfen, dem Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten, den Patriarchalberatern und dem Inspektor der Gesamtkirche aus Mitgliedern zusammen und trifft gültige Entscheidungen durch Konsens der anwesenden Mitglieder.“   Vgl. dazu auch, Paul M. Popovici, Alegerea laicilor in forurile biserices¸ti, in: inter I, 1–2, S.  382.  Vgl. Paul Brusanovski, Actualitatea Statutului Organic din Arad, in inter I, 1–2, S.  260–272. 55   Seine Aufgaben werden in Art.  24–27 des Statuts einzeln aufgeführt. Das Oberhaupt der Rumänisch-Orthodoxen Kirche ist heute Seine Seligkeit Patriarch Daniel Ciobotea, gewählt am 12. September 2007 und inthronisiert als der 6. Patriarch Rumäniens am 30. September 2007. 56   Vgl. Art.  25 Abs.  2 des Statuts der ROK; Iuliana Conovici, Ortodoxia in România postcomunista, Reconstructi¸a unei identitat¸i publice, EIKON, Cluj-Napoca 2009, Bd.  1, S.  232. 53

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VI.  Bereiche der Zusammenarbeit mit dem Staat Die ROK ist heute Hauptpartner in mehreren staatlichen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Projekten.57 Zwischen ROK und dem rumänischen Staat besteht eine institutionalisierte Zusammenarbeit. (Art.  4 Abs.  2 des Statuts). Sowohl die ROK als Ganzes als auch ihre Teile (Metropolien, Eparchien, Pfarreien, Klöster) sind nach Art.  41 Abs.  1 des Statuts i. V. m. Art.  8 Abs.  1 und Abs.  2 des Religionsgesetzes, juristische Person des öffentlichen Rechts. Sie können demnach Verträge mit öffentlichen Institutionen schließen und öffentliche Tätigkeiten ausüben. Dieser öffentlich-rechtliche Status der ROK zieht die Pflicht zur sozialen Kooperation mit dem Staat nach sich und unterscheidet die Kirche zugleich von den anderen privatrechtlichen Organisationen.58 Art.  9 Abs.  3 des Religionsgesetzes zeigt die Kooperationsbereitschaft des Staates mit den anerkannten Religionsgemeinschaften und aufgrund ihrer Bedeutung und Größe besonders mit der ROK. Der Dialog und die institutionalisierte Zusammenarbeit der ROK mit dem rumänischen Staat in gemeinsamen Interessensbereichen wird ebenso in Art.  4 Abs.  2 des Statuts festgelegt. Die rumänische Regierung hat diesbezüglich am 2. Oktober 2007 eine Zusammenarbeit mit dem Patriarchat der Rumänischen Orthodoxen Kirche vereinbart. Es wurde ein Kooperationsvertrag zur Zusammenarbeit im Bereich der sozialen Inklusion zwischen dem rumänischen Patriarchat und der rumänischen Regierung unterzeichnet. Im selben Jahr folgte zur Entwicklung und Erweiterung der sozialen Arbeit die Gründung der Föderation Filantropia durch das rumänische Patriarchat in Zusammenarbeit mit mehreren Erzbistümern und Bistümern. Durch Art.  14 Abs.  1 lit.  z. des Statuts wird die soziale Rolle der ROK gestärkt. Das diakonische System der ROK weist zurzeit eine Dezentralisierungstendenz auf, indem im Rahmen jeder Metropolie soziale Einrichtungen entstehen. Die kirchlichen Sozialeinrichtungen erfüllen eine dringend benötige Aufgabe im heutigen Rumänien, da die staatlichen Sozialeinrichtungen wegen Unterfinanzierung den gesellschaftlichen Bedarf kaum decken können.59   Aufgrund der Partnerschaft zwischen den öffentlichen Zentralbehörden und den lokalen Behörden wurde durch die Regierungsverordnung Nr.  1273/2005 das Nationalprogramm „Die Kultusgebäude – geistliche Zentren der Gemeinschaft“ genehmigt. Das Religions- und Kulturministerium koordiniert die Ausführung dieses Programms. Gemäß diesem Rechtsakt werden aufgrund einer Partnerschaft zwischen der Zentral- und Lokalverwaltung und der ROK folgende Aktivitäten ausgeführt: die Durchführung der Partnerschaft zwischen den Religionsgemeinschaften und der öffentlichen Verwaltung für die gemeinsame Durchführung der Programme für Sozialhilfe und Vorbeugung der Armut; Sanierung und Konsolidierung der Kultusgebäude; Restaurierung der Malerei der Kultusgebäude; der Auf bau von Kultusgebäuden; Gesetz Nr.  142/1999 bezüglich der staatlichen Unterstützung für die Besoldung des Klerus. Vgl. dazu die Regierungsverordnung Nr.  82/2001 bezüglich der Festlegung der Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für die Kultusgebäude der anerkannten Religionsgemeinschaften in Rumänien; das Gesetz Nr.  125/2002 für die Genehmigung der Regierungsverordung Nr.  82/2001 bezüglich der Festlegung der Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für die Kultusgebäude der anerkannten Religionsgemeinschaften in Rumänien; http://www.patriarhia.ro/_ upload/documente/13318158280806559973.pdf; http://www.ziare.com/social/biserica/cat-castigapatriarhul-daniel-lista-de-salarizare-din-bor-1192666; zuletzt gesehen am 16.10.12. 58   Die ROK ist durch das Statut außerdem gesetzlich ermächtigt Stiftungen zu gründen und eigene Einrichtungen zu betreiben. 59  Vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  32–33. 57

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Als wichtige Bereiche der Zusammenarbeit zwischen ROK und Staat kann man folgende erwähnen: 1. Die Sozialhilfe. Auf der Ebene des Patriarchats, der Eparchien, sowie der Pfarrgemeinden wurden Büros für Sozialhilfe eingerichtet.60 Der rumänische Staat bzw. das Ministerium für Kultur und Kultus, das Arbeitsministerium, das Ministerium des Sozialschutzes und Familie, die Kreis- und Lokalräte unterstützen finanziell Sozialprojekte, die von der ROK initiiert und von den Büros der Sozialhilfe koordiniert werden.61 Es bestehen heute mehrere Sozialeinrichtungen an denen der Staat und die Kirche zusammen mitwirken.62 Erwähnenswert in diesem Sinne ist, dass am 24. Juli 2008 zwischen dem Rumänischen Patriarchat und dem rumänischen Gesundheitsministerium ein Kooperationsvertrag im Bereich der ärztlichen und geistigen Hilfe geschlossen wurde.63 2. Die Ausbildung stellt einen anderen wichtigen Bereich dar, der die Zusammenarbeit zwischen Staat und ROK betrifft. Art.  32 Abs.  7 der Verfassung sieht vor, dass der Staat „die Freiheit der religiösen Ausbildung nach den Erfordernissen jeder Religionsgemeinschaft gewährleistet“.64   Die sozialen Programme der ROK haben als Ziel: die Organisation und Entwicklung von Dienstleistungen von Sozialhilfe, insbesondere auf der Parochialebene, für Not leidende Menschen sowie für Menschen von den Sozialanstalten. Darüber hinaus wird besonderer Wert auf die Vorbeugung von Institutionalisierung von Kindern und alten allein lebenden Menschen gelegt. Die Gründung neuer Sozialeinrichtungen, als Alternative zu den klassischen staatlichen Einrichtungen in diesem Bereich, wurde von der ROK vorangetrieben. Der legislative Rahmen ist in diesem Bereich klar präzisiert. Dies beweist die positive Einstellung des Staates in diesem Bereich. Zu erwähnen sind dabei die Regierungsverordnung Nr.  78/27 von Januar 2005, das die Organisation und das Funktionieren des Religionsund Kulturministeriums regelt, und in Art.  6 Abs.  35 vorsieht, dass das Religions- und Kulturministerium „die Religionsgemeinschaften (Kulte) bei der Organisierung und Entfaltung der religiösen und sozialen Betreuung in der Armee, den Vollzugsanstalten, Krankenhäusern, Asylen, Kinderhäusern und anderen Institutionen sowie in Familien, die sich in prekären Situationen befinden, unterstützt.“ Vgl. Florin Frunza˘ , Misiunea Bisericii s¸i institut¸ i ile Statului, in: inter I, 1–2 (2007), S.  9 0. 61   Dies wird von Art.  3 des Gesetzes Nr.  125/2002 für die Genehmigung der Regierungsverordnung Nr.  82/2001 geregelt, die die finanzielle Unterstützung der anerkannten Religionsgemeinschaften vorsieht. 62   Es gibt heute in Rumänien 345 kirchliche Sozialeinrichtungen, davon 109 für Kinder, 51 für alte Menschen, 106 Sozialkantinen und Bäckereien, 23 ärztliche Hilfszentren, zwei Sozialapotheken, 11 Diagnose- und Behandlungszentren für behinderte Personen, 33 Beratungszentren, zwei Hilfszentren für die Opfer von Menschenhandel und 19 Hilfszentren für bedürftige Familien. Durch die sozialen Projekte und Dienste unterstützt die Rumänische Orthodoxe Kirche um die 400.000 Personen (arme Familien, Kinder und alte Menschen in den Sozialeinrichtungen der Kirche und des Staates, geistige und körperlich Behinderte, Arbeitslose, usw.). Mehrere Hilfs- und Beratungszentren wurden in den letzen Jahren mit Hilfe der EU-Fonds eingerichtet. Vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  32; Florin Frunza, Misiunea Bisericii s¸i institut¸ iile Statului, S.  9 0; www.patriarhia.ro. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 63  Vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  32–33. 64   Aufgrund des Protokolls vom 11.  09. 1990, das zwischen dem Religions- und Kulturministeriums und Ausbildungsministerium geschlossen wurde, wurde in den öffentlichen Schulen seit 1990 Religionsunterricht eingeführt. Nach Art.  8 des Gesetztes Nr.  125/2002 für die Genehmigung der Regierungsverordnung werden die Formen der staatlichen finanziellen Unterstützung für die Kultuseinheiten, der in Rumänien staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften beschrieben (vgl. Art.  32 Abs.  7 der Verfassung Rumäniens von 2003). Die Religionsgemeinschaften „können beim Ausbildungsministerium die Organisierung spezifischer theologischer Ausbildung anfordern, um Kultuspersonal und Personal für Mission und sozial-missionarische Tätigkeit der Religionsgemeinschaften auszubilden und nur für Personen, die einen Realschul- oder Gymnasiumsabschluss haben. Die auszubil60

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3. Da die ROK im Besitz vieler bekannter historischer Baudenkmäler bzw. Kultusgebäude ist, wie etwa der alten berühmten orthodoxen Klöster, kann man von einer Partnerschaft zwischen dem Staat und der ROK auch im Bereich des kirchlichen Kulturguts sprechen. Der Staat unterstützt finanziell die Restaurierung und den Erhalt dieser Gebäude, die als kulturelles Patrimonium gelten.65 4. Der rumänische Staat erkennt die wichtige Rolle an, die die ROK im Leben und der Geschichte der rumänischen Gesellschaft spielt.66 Art.  7 Abs.  1 des Religionsgesetzes erkennt die geistliche, erzieherische, soziale, kulturelle und partnerschaftliche Rolle der anerkannten Religionsgemeinschaften an. Abs.  2 bestätigt die Wichtigkeit der „orthodoxen Kirche und die Bedeutung der vom Staat anerkannten Kulte in der nationalen Geschichte Rumäniens und im Leben der rumänischen Gesellschaft“. Durch diese Formulierung wird auch die besondere geschichtliche Bedeutung der ROK bei der Herausbildung der nationalen rumänischen Kultur hervorgehoben. Wegen ihrer geschichtlichen Bedeutung beansprucht die ROK heute eine besondere Anerkennung durch den rumänischen Staat.67 Die ROK als die einzige Mehrheitskirche in Rumänien ist Hautpartner in der Zusammenarbeit mit dem Staat. Sie erfreut sich nach Art.  10 Abs.  6 des Religionsgesetzes bei ihrer Zusammenarbeit mit dem Staat, wie die anderen Religionsgemeinschaften, seiner finanziellen Unterstützung.68 denden Personen werden nach der Mitgliederzahl jeder Religionsgemeinschaft festgelegt, die nach der letzten offiziellen Volkszählung neu aktualisiert ist.“ Darüber hinaus besteht es für die Religionsgemeinschaften (gemäß Art.  9 Abs.  4 der Verfassung von 2003) auch die Möglichkeit ihre privaten Ausbildungseinheiten selber zu organisieren und zu verwalten. Die Religionsgemeinschaften können gemäß Art 32 Abs.  5 der Verfassung konfessionelle Ausbildungseinrichtungen gründen. 65   Das Religions- und Kulturministerium „unterstützt die Religionsgemeinschaften in ihrer Tätigkeit der Evidenzführung, Bewahrung, Konservierung, Sanierung und Verwertung des beweglichen und unbeweglichen Kulturguts, das sich im Besitz oder in Benutzung der Religionsgemeinschaften befindet“ und unterstützt finanziell die Sanierung und Konservierung von Kultusgebäuden, die historische Monumente sind, für die Einrichtung und Unterhaltung der religiös-kulturellen Museen. So Art.  3 des Gesetzes Nr.  125/2002 für die Genehmigung der Regierungsverordung Nr.  82/2001 bezüglich der Festlegung der Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für die Kultusgebäude der anerkannten Religionsgemeinschaften in Rumänien. Siehe dazu auch Art.   6, Abs.   1.37 des Gesetzes Nr.  125/2002 für die Genehmigung der Regierungsverordung Nr.  82/2001 bezüglich der Festlegung der Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für die Kultusgebäude der anerkannten Religionsgemeinschaften in Rumänien. 66   Die ROK beansprucht für sich eine im Rahmen der Gesellschaft besondere Rolle, in Bezug auf die geistliche Betreuung des rumänischen Volks. Vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  4 ; auf: http://www.uni-trier.de/index.php?id=25059. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 67   Trotz des Versuchs der ROK vom Staat offiziell im Gesetzestext als „Mehrheitskirche“ anerkannt zu werden, wurde diese Formulierung nicht in das Kultusgesetz eingefügt. Vgl. dazu Friedrich Gunesch, Kultusgesetz: Staat und Kirche [in Rumänien], G2W 5 (2007), S.  12 f.; zu den Kritikpunkten anderer Konfessionen bezüglich dieser Formulierung siehe Radu Preda, Biserica în stat, S.  53–58; Ioan Vasile Leb, L’Église Orthodoxe Roumaine, une Église nationale? in: L’aneé canonique, Cerf. Paris, 43, 2001, S.  105–114. 68   Der Staat unterstützt die ROK finanziell auf Antrag, die Besoldung des Klerus, Auf bau und Reparation der Kultusgebäude, die Ergänzung kirchlicher Fonds, die für die Erhaltung der Kultuseinheiten mit geringen Einkommen oder ohne Einkommen notwendig sind, sowie die Unterstützung der Aktionen mit internen und internationalen Charakter, die von den Religionsgemeinschaften in Rumänien durchgeführt werden. Dies basiert auf Art.  1 Abs.  1 des Gesetzes Nr.  142/27.  07. 1999; Die Kirchen sind außerdem auch von der Zahlung aller Steuern befreit, was das Gebäude und das Grundstück betrifft, auf denen Gebäude gebaut werden, sowie von allen Ländereien (Felder, Wälder usw.), die dem kirchlichem Eigentum gehören (Gesetz 571/2003, Artikel 250 Abs.  1 und Artikel 257 lit.  b). Dies ge-

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Nach Abs.  4 ist durch eine solche Finanzierung eine Unterstützung der geistlich-kulturellen sowie der sozialen Tätigkeit der ROK durch den Staat vorgesehen. Aufgrund Abs.  5 kann die ROK, wie alle anerkannten Religionsgemeinschaften in Rumänien mit dem Staat eine Partnerschaft in gemeinsamen Interessenbereichen eingehen. Nach Art.  10 Abs.  4 werden nicht nur die Bischöfe, sondern auch die Priester vom Staat bezahlt.69 Nach Abs.  7 unterstützt der Staat die ROK, wenn sie sozial tätig wird. Art.  11 sieht steuerliche Vergünstigungen für alle Religionsgemeinschaften vor, wobei sich der Staat nach Art.  12 die steuerlichen Kontrollrechte für diese Gelder vorbehält.70 Der rumänische Staat unterstützte nach der Wende, die ROK in ihrer Tätigkeit bezüglich der Organisation der rumänischen Diaspora.71 Dies führte u. a. dazu, dass beispielsweise alle Bischöfe der ROK, einschließlich derjenigen, die ihren Sitz im Ausland haben, vom rumänischen Staat als Beamte bezahlt werden. Darüber hinaus entwickelt die ROK auch Projekte mit der EU.72 Dadurch zeigt die ROK, dass sie neben dem Nationalstaat auch mit dem mehrebenen System der EU kooperationsfähig ist.

VII.  Kirchenrechtliche Organisationsmerkmale der orthodoxen Kirchen Als wichtiges Organisationsmerkmal der orthodoxen Kirchen schlechthin wird in Art.  2 Abs.  2 des Statuts die Autokephalie zum Ausdruck gebracht. Die Autokephalie als Selbstbestimmung und Selbstverwaltung jeder orthodoxen Lokalkirche stellt ein grundlegendes Prinzip des kanonischen Rechts von alters her bis heute dar. Nach Kanon 34 der Apostel bildet jede autokephale Kirche eine eigene Organisation und hat eine Bischofssynode und einen primus. Diese kanonische Regelung wird innerchristlich als Charakteristikum der Organisation orthodoxer Kirchen angesehen. Die Autokephalie stellt einen kirchenrechtlichen Grundsatz mit einfachem verwalschieht meistens durch die Finanzierung durch das Staatssekretariat für Kulte vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  29 u. 31. 69   Vgl. Art.  191 des Statuts, indem die vom Staat vorgesehen Zuschüsse in die Bezahlung mitgerechnet werden. Erwähnenswert ist auch, dass in der kommunistischen Zeit nur die Bischöfe als staatliche Beamte bezahlt wurden. Für die Priester gab es nur eine minimale staatliche Besoldung. Ihr Unterhalt bestand meistens aus Spenden. 70   Die Seelsorge wird z. B. in mehreren staatlichen Institutionen durchgeführt: „in der Armee, der Gendarmerie und in Gefängnissen durch 143 Priester, in Krankenhäusern, in Sozialzentren und in Unterrichtseinheiten durch 364 Priester.“ (Art.  29, Abs.  5.) Vgl. http://www.patriarhia.ro/ro/scurta_ prezentare_de.html. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 71   So wurden z. B. staatliche Investiturdekrete für einige Hierarchen erlassen, die ihre kirchliche Jurisdiktion außerhalb der grenzen Rumäniens hatten. Durch die Regierungsentscheidung Nr.  722/2001 wurde vorgeschlagen und durch Dekret Nr.  663/2001 wurde anerkannt, dass die Funktion des Vikar-Bischofs des Rumänisch-Orthodoxen Erzbistums für Zentral- und Westeuropa mit Sitz in Paris, von Preacuviosul Ieromonah Siluan (Ciprian S¸ pan) wahrgenommen wird. Man kann deswegen behaupten, dass im Falle der Diaspora der ROK die Territorialität mit der Ethnizität verflochten ist. Vgl. Ionut Corduneanu, Statutul Bisericii Ortodoxe Române, S.  337. In Deutschland hat die ROK nach Art.  39 eine Metropolie mit Sitz in Nürnberg und einen Weihbischof in München. http://www. mitropolia-ro.de/html/startseite.htm. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 72   Vgl. http://www.mitropoliaolteniei-licitatii.ro/. Zuletzt gesehen am 2.1.2013.

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tungsrechtlichen Inhalt, ohne dogmatische Implikationen, dar.73 Ein Merkmal der Autokephalie einer orthodoxen autokephalen Kirche ist unter anderem auch die Weihe des heiligen und großen Myron74, das in Art.  14 lit.  c geregelt wird. Jede orthodoxe autokephale Kirche weiht nur ihr eigenes Myron. Nach dem Autokephalieprinzip kann man in der Orthodoxen Kirche sowohl von einer als auch von mehreren orthodoxen Kirchen sprechen, die verwaltungsmäßig voneinander unabhängig sind und zusammen die eine Universale Orthodoxe Kirche ausmachen. Sie haben alle eine gemeinsame synodal-kollegiale Grundorganisation. Die Orthodoxe Kirche ist deswegen polyzentrisch, als communio ecclesiarum, strukturiert.75 Die Statute der orthodoxen Kirchen können nach dem Autokephalieprinzip das kanonische Recht unterschiedlich formulieren, je nach lokalen traditionellen kirchenrechtlichen Besonderheiten.76 In der autonomen Verwaltung und Gerichtsbarkeit jeder autokephalen Kirche kommt die Vielfalt der orthodoxen Kirchen zum Tragen. Es besteht in diesem Sinne keine nivellierende Einheit zwischen den orthodoxen Kirchen. Diese Einheit in der Vielfalt stellt von alters her ein Charakteristikum der alten Kirche dar, das bei den orthodoxen Kirchen bis heute präsent ist.77 Die synodal-hierarchische Führung der ROK, die in Art.  3 Abs.  1 des Statuts ausgedrückt wird, bedeutet, dass die ROK, wie alle anderen orthodoxen autokephalen Kirchen von einem Bischofskollegium geleitet wird. Die Synodalität stellt ein wesentliches Merkmal der gesamten Orthodoxen Kirche dar, da die Synode als Ausdruck des Wesens der Kirche verstanden wird.78 Aus diesem Grund gibt es in keiner orthodoxen Kirche de jure eine monarchische Führung. Eine solche Führung würde dem orthodoxen Kirchenrecht und den kirchenrechtlichen Grundsätzen deutlich wiedersprechen. Die kollegiale Organisationsstruktur der orthodoxen Kirchen wird in der Kanonistik als ein grundlegendes kirchenrechtliches Prinzip mit dogmatischen und juristischen Inhalt verstanden.79 Die Einheit zwischen den orthodoxen Kirchen besteht, wie Art.  2 Abs.  2 des rumänischen Statuts besagt, in derselben dogmatischen Lehre, liturgischen Ordnung sowie in der Anerkennung des kanonischen Rechts als Grundlage und wesentlicher Bestandteil des heutigen Kirchenrechts. Durch diese drei Elemente haben die orthodoxen Kirchen die volle communio untereinander. Nach Art.  2 Abs.  1 fühlt sich auch die ROK durch die drei Elemente als Teil der Gesamtorthodoxie.  Vgl. Ioan Floca, Drept canonic ortodox, S.  201.   Eine Mischung aus duftenden Spezereien und Olivenöl, die von der Synode jeder autokephalen Kirche am Kardonnerstag geweiht wird. Das Myron wird im Taufritus jeder Pfarrgemeinde dieser autokephalen Kirche verwendet; vgl. Konrad Onasch, Kunst und Liturgie der Ostkirche in Stichworten unter Berücksichtigung der alten Kirche, Leipzig 1981, Sp.  273–275; vor der Autokephalieerklärung der ROK wurde das Myron von Konstantinopel bekommen. 75  Vgl. Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche S.  83 f. Heute gibt es 14 autokephale orthodoxe Kirchen, die in voller kirchlicher und sakramentaler Gemeinschaft miteinander stehen und die Orthodoxe Kirche als ganzes ausmachen. Die meisten davon befinden sich bereits innerhalb der EU. 76   So können z. B. die Aufgaben verschiedener kirchlicher Organe zwischen den orthodoxen Kirchen variieren. 77  Vgl. Grigorios Larentzakis, Die Orthodoxe Kirche. Ihr Leben und ihr Glaube, Styria Verlag, GrazWien-Köln, 2000, S.  14–15. 78  Vgl. Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche S.  83.f. 79  Vgl. Ioan Floca, Drept canonic orthodox, S.  197. 73 74

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VIII.  Bedeutung des Statuts der ROK Die ROK versucht durch ihr Statut nicht zuletzt sich an den neuen nationalen und europäischen politischen Kontext anzupassen, in dem sie ihre heutige Tätigkeit entfaltet. Die europäische Politik wird jetzt, neben der nationalstaatlichen, offiziell als Angelegenheit der ROK betrachtet. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union von der ROK von Anfang an entschieden unterstützt wurde.80 Die EU wird durch Art.  17 Abs.  3 AEUV einen Dialog mit den Kirchen führen, darunter auch mit der ROK. Unter den Neuerungen des aktuellen Statuts sollte man deswegen die europäische Dimension des Art.  6 Abs.  2 XV erwähnen, der die Errichtung einer Vertretung der ROK in Brüssel regelt.81 Diese Vertretung bei den europäischen Institutionen wurde 2008 mit dem Zweck eingerichtet, den Anliegen der ROK vor den EU-Organen Gehör zu verschaffen. Die Delegierten der ROK haben in diesem Sinne an Treffen mit den EU-Vertretern teilgenommen und sich dabei insbesondere für die Versöhnung durch den interkulturellen und interkonfessionellen Dialog europaweit ausgesprochen.82 Die Bedeutung der ROK und ihre nicht zu übersehende Rolle als Dialogpartner auf europäischer Ebene, lässt sich u. a. daraus entnehmen, dass sie zahlenmäßig mit 86,7% der ca. 21 Mio. Einwohner Rumäniens die größte orthodoxe Kirche innerhalb der Europäischen Union, und die zweitgrößte orthodoxe Kirche der Gesamtorthodoxie nach der Russischen-Orthodoxen Kirche ist.83 Der Einfluss der EU-Politik auf die ROK im Rahmen der Europäisierung der Nationalrechtsordungen darf nicht übersehen werden.84 Die ROK als juristische Person des Privatrechts mit öffentlicher Bedeutung, wird von der europäischen Gesetzgebung in ihrer Tätigkeit betroffen.85 Das Unionsrecht gilt, trotz mancher Ausnahmen für die Kirchen und Religionsgemeinschaften,86 wegen seiner Drittwirkung und des Effektivitätsprinzips für die öffentliche kirchliche Tätigkeit. Als eine wichtige Neuerung des Statuts kann man auch die Tendenz betrachten, die öffentliche Rolle der ROK in der Gesellschaft neu zu definieren bzw. zu stärken, nachdem die Kirche jetzt nach mehr als 40 Jahren in der Öffentlichkeit agieren kann 80   Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche unterschrieb am 16. Mai 2000 die Erklärung der Religionsgemeinschaften bezüglich der Integration Rumäniens in die Europäische Union. 81   Siehe auch http://www.orthodoxero.eu/pages/home.php?lang=EN; zuletzt gesehen am 16.10.12. In der Sitzung der Heiligen Synode ROK vom 13. Februar 2007 wurde ein neuer Statut verabschiedet, indem die weitere Entwicklung der Kirche in mehreren Tätigkeitsbereichen gefördert wird: pastoral-liturgisch, kulturell-missionarisch, sozial-diakonisch, wirtschaftlich-finanziell. 82  Vgl. http://orthodoxero.typepad.com/bor/2008/05/biserica-ortodo.html. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 83   Vgl. www.patriarhia.ro. Zuletzt gesehen am 15.2.13; Hans-Dieter Döpmann, Die orthodoxen Kirchen in Geschichte und Gegenwart, 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Peter Lang, Trierer Abhandlungen zur Slavistik, Bd.  9, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S.  96. 84  Das kirchliche Arbeitsrecht fällt, sobald die kirchliche entgeltliche Tätigkeit die Staatsgrenze überschreitet, unter Unionsrecht. 85   Gemäß Art.  8 Abs.  1 und 2 des Gesetzes 489/2006 (Religionsgesetzes) i. V. m. Art.  41 Abs.  1 des Statuts. 86   Art.  4 Abs.  2 , Satz 3 der RL 2000/78/EG, wo es sich um Loyalitätspflichten handelt und das Ethos der kirchlichen Organisation von der EU-Gesetzgebung berücksichtigt wird.

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bzw. darf.87 Die ROK wird heute in Rumänien als Teil der Zivilgesellschaft mit besonderem Status gesehen. Der rumänische Staat erkennt der ROK auch eine sozial-gesellschaftliche Kommunikationsrolle an.88 Der Anwendungsbereich des Statuts der ROK erstreckt sich insbesondere auf die Kleriker, aber auch auf die Gläubigen der ROK, die innerhalb aber auch außerhalb Rumäniens leben. Der Geltungsbereich des Statuts wird in den Schlussbestimmungen des Art.  203 ausdrücklich festgelegt. Für die rumänisch-orthodoxe Diaspora gibt es neben diesem Statut gemäß Art.  8 Abs.  2 zusätzliche Statute, die die konkrete Organisation der jeweiligen Metropolien regeln. Diese Satzungen müssen aber nach demselben Artikel i. V. m. Art.  14 lit.  l von der Heiligen Synode der ROK genehmigt werden. Nachdem das Statut der ROK den Rang eines einfaches Gesetzes hat, müssen die staatlichen Gerichte in Rumänien, soweit es dazu kommt, die Vorgaben des Statuts achten bzw. in Angelegenheit, die die ROK betreffen, diesen anwenden. Die Vorgaben des Statuts binden insofern in ihrem Anwendungsbereich die staatlichen Behörden und Gerichte. Die kirchlichen Gerichte verwenden die Vorgaben des Statuts neben den alten Kanones als geltendes Kirchenrecht.

IX.  Besonderheiten des Statuts der ROK Im Vergleich zu den anderen Statuten der orthodoxen autokephalen Kirchen weist der Statut der ROK gewisse Charakteristika auf. Ein Charakteristikum des neuen Statuts der ROK in diesem Sinne ist auch eine stärkere Verrechtlichung89, indem der Statut mit vielen Rechtsdefinitionen operiert.90 Diese Rechtsdefinitionen geben die orthodoxe dogmatische und kanonische Doktrin in zusammenfassender Form wieder, und haben als Zweck insbesondere die Klarheit nach außen, d. h. für den Staat und andere Institutionen mit denen die ROK zusammenarbeitet.

  „Um die ganze pastorale, katechetische und missionarische Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche zu unterstützen, hat die Kirche am 27. Oktober 2007 das „Pressezentrum Basilica“ des rumänischen Patriarchates gegründet. Zu diesem Zentrum gehören der Radiosender Trinitas, das Fernsehen Trinitas, die Zeitung Lumina (das Licht), die Wochenzeitung Lumina de duminica (das Sonntagslicht) und Vestitorul Ortodoxiei (der Verkünder der Orthodoxie), die Nachrichtenagentur Basilica und das Presse- und Kommunikationsbüro des rumänischen Patriarchates“; Art.  38 Abs.  2 .4 des Statuts; vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  28; vgl. dazu auch Iuliana Conovici, Ortodoxia în România postcomunista, Bd.  1, S.  211 ff.; vgl. http://www.basilica.ro/stiri/5-ani-de-basilica_297. html. Zuletzt gesehen am 2.  1. 2013. 88   Man kann in diesem Sinne die staatliche Forderung an die Religionsgemeinschaften erwähnen, bei der Mobilisierung der Gesellschaft bezüglich der Referendumsteilnahme für die der Verfassungsrevision teilzunehmen. Vgl. Florin Frunza˘ , Misiunea Bisericii s¸i institut¸ i ile Statului, S.  92. 89  Vgl. Anargyros Anapliotis, Primus und Synode in den Statuten der Orthodoxen Kirche am Beispiel des Ökumenischen und Moskauer Patriarchats, in: Christoph Böttingheimer / Johannes Hoffmann (Hrsg.), Autorität und Synodalität, Eine intersdisziplinäre und interkonfessionelle Umschau nach ökumenischen Chancen und ekklesiologischen Desideraten, S.  287; ders., Jurisdiktion und Gerichtsbarkeit des Patriarchates von Serbien nach dem Zerfall Jugoslawiens, in: OFo 2, Hefte 1–2, 2011,S.  13–32. 90   Vgl. z. B. Art.  17, 19, 36, 43, 49, 59, 66, 69, 70, 73, 74, 84, 95,110 des Statuts, wo definiert wird, was jede kirchliche Verwaltungseinheit ist. 87

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Eine Besonderheit des rumänischen Statuts sowohl für die westliche Denkweise als auch für die orthodoxe traditionelle Auffassung ist, neben dem klassischen kanonischen Territorialprinzip91 die Betonung des sog. Volksprinzips, das in Art.  5 Abs.  2. i. V. m. Art.  6 Abs.  2 zum Ausdruck kommt. Demnach fühlt sich das rumänische Patriarchat als „Kirche des rumänischen Volkes“92 für die seelsorgliche Betreuung aller orthodoxen Rumänen zuständig, unabhängig von ihrem Wohnsitz. Dies bedeutet, dass auch die orthodoxen Rumänen außerhalb der Grenzen Rumäniens zur kirchlichen Jurisdiktion der ROK gehören. Der Artikel bezieht sich nicht nur auf die rumänische Diaspora,93 sondern auch auf die rumänischen Minderheiten, die in den Nachbarländern Rumäniens wohnen.94 Nach Art.  6 Abs.  2 VII, XI, XII, XIV des Statuts gibt es für sie besondere Vikariate, die sich außerhalb Rumäniens befinden aber unter direkten Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats stehen. Das Volksprinzip geht ursprünglich auf den Organischen Statut vom siebenbürgischen Metropoliten Andrei S¸  aguna zurück, der für die in Siebenbürgen lebenden orthodoxen Rumänen verfasst wurde.95 Der Begriff ethnos vom Kanon 34 der Apostel wird im rumänischen Statut als Volk verstanden und damit die Jurisdiktion der ROK über alle orthodoxen Rumänen bzw. ihre eigene Diaspora begründet.96 Diese Verwendung und Interpretation des Begriffes ethnos im rumänischen Statut, im Sinne einer Ver91   Dies besagt, dass, gemäß den Kanones 17 des IV Ökumenischen Konzils und 38 des VI Ökumenischen Konzils (Trullanum), die kirchliche Verwaltung der staatlichen folgen soll. Das bedeutet heute, dass eine autokephale Kirche die Jurisdiktion nur innerhalb der Grenzen eines bestimmten Staates haben kann. Vgl. den Kommentar zu den Kanones in Pidalion, aus dem Griechischen übersetzt, Institutul de arte grafice Sperant¸a, Bucures¸ti, 1992, S.  174 f.; zur russischen Interpretation dieses Prinzip siehe Hilarion Alfeyev, Das Prinzip des „Kanonischen Territoriums“ in der Orthodoxen Tradition, Vortrag auf dem Internationalen Symposium für Kirchenrecht an der Budapester Katholischen Theologischen Akademie 7. Februar 2005 auf: http://en.hilarion.orthodoxia.org/6_16. Zuletzt gesehen am 16.10.12. 92   Art.  5 Abs.  2 des Statuts. 93   Dies wird gemäß dem Gesetz Nr.  142/1999 auch vom rumänischen Staat besonders unterstützt, um dadurch die kulturelle, sprachliche und religiöse Identität der Rumänen außerhalb der Grenzen Rumäniens zu bewahren. Vgl. Emanuel P. Ta˘  vala˘ , Staat und Kirche in Rumänien, S.  31. 94   Hier sind die rumänischen Minderheiten in Serbien, Ungarn sowie die kleine rumänische Gemeinde von Bulgarien gemeint. 95   Ohne offiziell im Statutstext ausdrücklich festgelegt zu sein, gibt es ähnliche Haltungen auch seitens anderer orthodoxer autokephaler Kirchen, wie der russischen oder der serbischen Kirche, die sowohl ihre Gläubige in der Diaspora als auch die jeweiligen Minderheiten in den Nachbarländern pastoral betreuen. Diese Haltung wird aber insbesondere vom Ökumenischen Patriarchat und der Griechisch sprechende Orthodoxie oft kritisiert. Vgl. Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche, S.  97. 96   Die kirchliche Jurisdiktion über die eigene Diaspora wurde zuerst indirekt in den Änderungen des Statuts von 1949 angesprochen. Art.  5 muss auch i. V. m. Art.  41 des Dekretes Nr.  177/1948 verstanden werden. Die Jurisdiktion der Religionsgemeinschaften innerhalb des Landes konnte sich demnach nicht außerhalb der Volksrepublik Rumänien erstrecken. Die Religionsgemeinschaften außerhalb des Landes hatten keine Jurisdiktionsgewalt gegenüber den Gläubigen innerhalb des rumänischen Staates. (Eine fast identische Form hatte Art.  8 des Kultusgesetzes von 1928). Im diesem legislativen Kontext war es für die ROK nicht möglich, eine direkte Erwähnung der Jurisdiktion über ihre Diaspora, im Statutstext festzulegen. Dies wird aber indirekt durch Art.  6 des Statuts von 1949 geregelt, indem die religiöse Betreuung, die kirchliche Organisation, die Sendung von Hierarchen für die orthodoxen Rumänen außerhalb des Landes vom Rumänischen Patriarchat, mit der Genehmigung der Regierung, festgelegt wird. Die Vorgaben des Dekretes Nr.  177/1948 bezüglich des allgemeinen Status der Religionsgemeinschaften, die die Jurisdiktion einer Religionsgemeinschaft außerhalb Rumäniens ausschließen, wurden nach der Wende sowohl von der ROK als auch vom Staat als überflüssig angesehen. Vgl. Ionut Corduneanu, Statutul Bisericii Ortodoxe Române, S.  335.

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bindung der Kirche mit der Nation, wurde in der orthodoxen kirchenrechtlich-theologischen Literatur oft als Ausdruck des Phyletismus kritisiert.97 Ein Kuriosum für die westliche Sichtweise kann Art.  7 des Statuts darstellen, der die verschiedenen Ehrentitel der Bischöfe regelt. Hier kann man vorweg präzisieren, dass alle diese Ehrentitel nach dem orthodoxen Kirchenrecht kein ius divinum darstellen, sondern sich auf verwaltungsmäßige Angelegenheiten beziehen. Der Artikel wurde zuerst im Statutstext von 2008 eingeführt und zeigt durch ihre Stellung am Anfang des Statuts die heutige Bedeutung der Ehrentitel für die Hierarchen der ROK.

X. Schlussfolgerungen Man könnte zu Recht behaupten, dass das heutige Statut der ROK neben dem Statut des Moskauer Patriarchats einer der modernsten Statuten der orthodoxen Kirchen ist, der versucht, den heutigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf nationaler und europäischer Ebene gerecht zu werden. Die allgemeine Entwicklungstendenz des Statuts zeigt, dass sich die ROK ihrer künftigen öffentlichen gesselschaftlich-sozialen Rolle bewusst ist und ihr eine besondere Bedeutung zugemessen will. Die ROK ist heute ein wichtiger öffentlicher Akteur in der rumänischen postkommunistischen Gesellschaft, die sich unter anderem durch politische Instabilität und Misswirtschaft kennzeichnet. Sie weist eine immer stärkere Zusammenarbeit mit dem Staat und der Politik auf.98 Sie wird in der Gesellschaft als friedensstiftender Faktor anerkannt99, die eine immer größere sozial-karitative Aktivität in der rumänischen Gesellschaft entfaltet. Sie zählt zu den angesehensten Institutionen Rumäniens. In diesem Kontext stellt die ROK einen der wichtigsten sozialen Faktoren der rumänischen Gesellschaft dar.100

97  Vgl. Theodor Nikolaou, Die Orthodoxe Kirche S.  97; ders., Der Begriff Ethnos (Nation) in seiner Bedeutung für das Autokephalon der Kirche, in: OFO 14 (2000), S.  5 –23. 98  Vgl. Iuliana Conovici, Ortodoxia în România postcomunista˘, Bd.  1, S.  69 f. u. 159 f. 99  Vgl. Florin Frunza, Misiunea Bisericii s¸i institut¸iile Statului, in: inter I, 1–2, S.  88. 100  Vgl. Radu Preda, Biserica în stat, S.  5.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

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Textanhang Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche1 vom Januar 20082 Allgemeine Vorbemerkungen

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Art.  13

Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist die Gemeinschaft der orthodoxen Christen4, Kleriker, Mönche und Laien, kanonisch konstituiert in Pfarrgemeinden und Klöstern der Eparchien des Rumänischen Patriarchates, die sich innerhalb und außerhalb der Grenzen Rumäniens befinden, die sich aufgrund der Heiligen Schrift und Tradition zum Dreieinigen Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist bekennen, und am Leben der Kirche durch dieselben heiligen Mysterien (Sakramente), liturgischen Gottesdiensten und kanonischen Ordnungen teilnehmen. Art.  2

(1) Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist apostolischer Herkunft; sie ist und bleibt in 1   Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche wurde von der Heiligen Synode durch die Entscheidung Nr.  4768/28 November 2007 und aufgrund des Gesetzes 489/2006 bezüglich der Religionsfreiheit und des allgemeinen Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften genehmigt; es wurde von der Regierung Rumäniens durch Regierungsverordnung Nr.  53/16 Januar 2008 bestätigt und veröffentlicht im Offiziellen Amtsblatt (Monitorul Oficial) Nr.  50/22 Januar 2008. Der Text dieses Statuts ist mit sämtlichen von der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche vorgenommenen Änderungen, in Kraft. 2   Zuletzt geändert durch die Entscheidungen Nr.  8561 und 8578 von 25.  10. 2011. Vgl. http:// www.patriarhia.ro/ro/documente/hotararisfsino d.html. 3  Der Artikel wurde sukzessive, durch Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.   9084/26 September 1990 und durch Entscheidung der Hl. Synode Nr.  4768/28 November 2007, verändert. 4   Gemäß Apg 11, 22; 13,1; 14, 27; 15, 4;1Kor 1,2; 14, 33; 1Petr 5, 13; Off b 1, 4, 11; 3, 1; 22, 16.

Gemeinschaft und in dogmatischer, liturgischer und kanonischer Einheit mit der universalen Orthodoxen Kirche.5 (2) Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist in der Organisation und in ihrem pastoralen, missionarischen und administrativen Werk autokephal und unteilbar. Art.  3

(1) Die Rumänische Orthodoxe Kirche hat gemäß der Lehre und der Kanones der Orthodoxen Kirche sowie ihrer historischen Tradition eine synodal-hierarchische Führung. 5  Die Orthodoxe Kirche ist eine Gemeinschaft der Lokalkirchen, die sich in einerm engen dogmatischen, liturgischen und kanonischen Wechselverhältnis befinden. Sie unterscheiden sich voneinander insbesondere durch den Grad der kirchlichen Autonomie. So haben wir in der Orthodoxen Kirche lokale autokephale und autonome (sie sind von der Mutterkirche noch abhängig) Kirchen. Darüber hinaus nimmt eine Lokalkirche, wegen der geschichtlichen oder politischen Bedeutung des Bischofsstuhl ihres Vorstehers, einen bestimmten Platz in der Rangordnung (τάζις) der Orthodoxen Kirche ein. Gemäß dieser Rangordnung sind die autokephalen Lokalkirchen folgende: Das Patriarchat von Konstantinopel, das Patriarchat von Alexandrien, das Patriarchat von Antiochien, das Patriarchat von Jerusalem, das Patriarchat von Georgien, das Patriarchat von Moskau, das Rumänische Patriarchat, das Bulgarische Patriarchat, das Serbische Patriarchat, das Erzbistum von Zypern, das Erzbistum von Hellas, das Erzbistum von Albanien, die Polnische Metropolie, die Mitropolie von Tschechien und der Slowakei. Die autonomen Lokalkirchen sind: Die Kirche von Sinai (unter Jurisdiktion des Patriarchats von Jerusalem), die orthodoxe Kirche von Finnland (unter Jurisdiktion des Patriarchats von Konstantinopel), die Japanische Orthodoxe Kirche (unter Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats) und die Orthodoxe Chinesische Kirche (unter Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats).

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(2) Die Rumänische Orthodoxe Kirche verwaltet sich autonom durch eigene stellvertretende Organe, die sich aus Klerikern und Laien zusammensetzen, gemäß den heiligen Kanones, den Vorschriften des vorliegenden Statuts sowie anderen Verordnungen der zuständigen kirchlichen Behörden. Art.  4 6

(1) Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist dem Staat7 und anderen Institutionen gegenüber selbständig (autonom) 8. (2) Die Rumänische Orthodoxe Kirche pflegt zum Zweck des Dialogs und der Zusammenarbeit mit dem Staat und anderen Institutionen Beziehungen, um ihre pastorale, geistlich-kulturelle, erzieherische und sozial-philanthropische Mission zu erfüllen.

Art.  5

(1) Die Rumänische Orthodoxe Kirche umfasst alle orthodoxen Christen innerhalb des Landes, die rumänisch-orthodoxen Christen außerhalb der Landesgrenzen sowie diejenigen, die kanonisch in ihre Gemeinschaft aufgenommen wurden. (2) Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist gemäß ihres apostolischen Alters, der Tradition und der Anzahl der Gläubigen sowie ihres besonderen Beitrags zum Leben und zur Kultur des rumänischen Volkes national und mehrheitlich9. Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist die Kirche des rumänischen Volkes. Teil  I Organisation Art.  6

 Der Artikel wurde sukzessive, durch Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  1058/6 März 2003 und durch Entscheidung der Heiligen Synode Nr.   4768/28 November 2007, verändert. 7  Die orthodoxe Ekklesiologie legt fest, dass die Kirche sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft manifestiert, die als politische Gemeinschaft organisiert ist. Aus diesem Grund befindet sich die Kirche immer innerhalb des Staaates. Die Grundlage für die Beziehung zwischen Kirche und Staat findet sich in der orthodoxen Lehre, demgemäß die Kirche sowohl eine geistliche, mystische als auch eine institutionelle und soziale Realität ist. Der Mensch – als Geschichtssubjekt – gehört sowohl dem Himmelreich als auch dem Kaiserreich (nach Mt 22,17). Dieser Verhältnistyp findet sich nur im bestimmten Rahmen und basiert auf gemeinsam vorgebrachten Bedingungen. So setzt das orthodoxe Modell der Beziehungen zwischen Kirche und Staat sowohl die Autonomie der Kirche gegenüber der politischen Hoheit voraus, als auch die respektvolle Zusammenarbeit zwischen den zwei Institutionen, als voneinander getrennten Spähren (Gemäß Kan.   30 und 84 der Ap; Kan.  3 des VII ökum.). 8   Nach 1989 hat die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche durch Entscheidung Nr.  9084/25 September 1990 die Beseitigung aller Bestimmungen des Statuts und der kirchlichen Satzungen genehmigt, die dem Grundsatz der kirchlichen Autonomie entgegen standen. 6

(1) Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist als Patriarchat organisiert, und trägt die Titulatur „Rumänisches Patriarchat“. (2) Das Rumänische Patriarchat umfasst Eparchien (Erzbistümer und Bistümer)10, die in Metropolien zusammengefasst sind, sowie folgende andere Einheiten innerhalb oder außerhalb der Grenzen Rumäniens: 9  Die Wendung „Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist national und mehrheitlich“ wurde in den Statutstext durch die Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  300/14 Januar 1994 eingeführt. 10   Die Eparchie ( ἐπαρχία ), stellt aus administrativer Perspektive die kirchliche-administrative Einheit dar, die sich unter der Autorität eines Bischofs befindet und sich aus den Pfarrgemeinden und den Klöstern zusammensetzt, die sich auf diesem Territorium befinden. Der Begriff der Eparchie ist aus der römischen Rechtssprache entlehnt. Der Kaiser Constantin der Große (306– 337) teilte das Reich – indem er dem Beispiel seines Vorgängers dem Kaiser Diokletian (285– 305) folge – in vier Präfekturen, die sich in Diözesen aufteilen. Die Diözesen setzten sich aus mehreren Provinzen zusammen, die auf Griechisch durch den Begriff Eparchie (ἐπαρχίαι) bezeichnet wurden. Von hier aus wurde der Begriff Eparchie später von der kirchlichen Sprache übernommen, anfangs im Sinne von Provinz (Metropolie), später im heutigen Sinne von Bistum.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

A. Innerhalb der Grenzen Rumäniens: I. Die Metropolie von Muntenien (Walachei) und Dobrogea (Dobrudscha) umfasst: 1. das Erzbistum Bukarest, mit Sitz in der Kreisstadt Bukarest. 2. das Erzbistum Tomis, mit Sitz in der Kreisstadt Constant¸a. 3. das Erzbistum Târgovis¸te, mit Sitz in der Kreisstadt Târgovis¸te. 4. das Erzbistum Arges¸ und Muscel, mit Sitz in der Kreisstadt Curtea de Arges¸. 5. das Erzbistum Buzau und Vrancea, mit Sitz in der Kreisstadt Buza˘ u. 6. das Erzbistum Dunarea de Jos, mit Sitz in der Kreisstadt Ga˘ l˘a t¸i. 7. das Bistum Slobozia und Calaras¸i, mit Sitz in der Kreisstadt Slobozia. 8. das Bistum Alexandria und Teleorman, mit Sitz in der Kreisstadt Alexandria. 9. das Bistum Giurgiu, mit Sitz in der Kreisstadt Giurgiu. 10. das Bistum Tulcea, mit Sitz in der Kreisstadt Tulcea. II. Die Metropolie von Moldova und Bukovina umfasst: 11. das Erzbistum Ias¸i, mit Sitz in der Kreisstadt Ias¸i. 12. das Erzbistum Suceava und Ra˘ d ˘a ut¸i, mit Sitz in der Kreisstadt Suceava. 13. das Erzbistum Roman und Baca˘ u, mit Sitz in der Kreisstadt Roman. 14. das Bistum Hus¸i, mit Sitz in der Kreisstadt Hus¸i. III. Die Metropolie von Transsilvanien umfasst: 15. das Erzbistum Sibiu, mit Sitz in der Kreisstadt Sibiu (Hermannstadt). 16. das Erzbistum Alba Iulia, mit Sitz in der Kreisstadt Alba Iulia (Karlstadt)11. 17. das rumänisch-orthodoxe Bistum Oradea, mit Sitz in der Kreisstadt Oradea12. 18. das Bistum Covasna und Harghita, mit Sitz in der Kreisstadt Miercurea Ciuc.  Gemäß der Entscheidung der Hl. Synode Nr.  846 und Nr.  886/17 Februar 2012. 12  Gemäß der Entscheidung der Hl. Synode Nr.  846 und Nr.  886/17 Februar 2012. 11

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19. das Bistum Deva und Hunedoara, mit Sitz in der Kreisstadt Deva13. IV. Die Metropolie von Cluj, Alba, Cris¸ana und Maramures¸14 umfasst: 20. das Erzbistum Vad, Feleac und Cluj, mit Sitz in der Kreisstadt Cluj-Napoca. 21. das rumänisch-orthodoxe Bistum Maramures¸ und Satmar, mit Sitz in der Kreisstadt Baia Mare. 22. das Bistum Sa˘ laj, mit Sitz in der Kreisstadt Sa˘ laj. V. Die Metropolie von Oltenien (von Kleiner Walachei) umfasst: 23. das Erzbistum Craiova, mit Sitz in der Kreisstadt Craiova. 24. das Erzbistum Râmnic, mit Sitz in der Kreisstadt Râmnic. 25. das Bistum Severin und Strehaia, mit Sitz in der Kreisstadt Drobeta-Turnu Severin. 26. das Bistum Slatina und Romanat¸i, mit Sitz in der Kreisstadt Slatina. VI. Die Metropolie von Banat umfasst: 27. das Erzbistum Timis¸oara, mit Sitz in der Kreisstadt Timis¸oara. 28. das Erzbistum Arad, Ienopola, Ha˘lmagi und Hunedoara, mit Sitz in der Kreisstadt Arad. 29. das Bistum Caransebes¸, mit Sitz in der Kreisstadt Caransebes¸. VII. Die Autonome Altkalendarische Metropolie von Bessarabien und das Exarchat der Territorien15.  Gemäß der Entscheidung der Hl. Synode Nr.  886/17 Februar 2012. 14   Gemäß der Entscheidungen der Hl. Synode Nr 4523/20 Oktober 2005, Nr.   187/18 Januar 2006, Nr.  846 und Nr.  886/17 Februar 2012. 15  Die Metropolie von Bessarabien wurde nach der Großen Vereinigung (Rumäniens) durch Entscheidung der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche auf der Arbeitssitzung von 15. November 1923 geschaffen. Während der sowjetischen Besatzung 1940/1941 und später, unter sowjetischem Regime von 1944– 1991, musste die Metropolie von Bessarabien ihre Tätigkeit einstellen und wurde durch das Bistum 13

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30. das Erzbistum Chis¸ina˘ u, mit Sitz in der Kreisstadt Chis¸ina˘ u16. 31. das Bistum Ba˘ lt¸i (damaliges Bistum von Hotin) mit Sitz in der Stadt Ba˘ lt¸i17.

von Chis¸ina˘u ersetzt, das unter Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats stand. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Republik Moldawien (27 August 1991), als Folge des Patriarchal- und Synodalaktes Nr.  8090 von 19 Dezember 1992, hat die Ständige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche auf Antrag der Mitglieder der Eparchialversammlung, in der Sitzung von 19. Dezember 1992, die Reaktivierung der Metropolie von Bessarabien (gemäß der Entscheidung Nr.  8090/19 Dezember 1992) beschloßen. Durch die Entscheidung Nr.  8090 vom 19. Januar 1993 hat die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche den Patriarchal- und Synodalakt und die Entscheidung der Ständigen Synode vom 19 Dezember 1992 aufgenommen und bestätigt. Durch die Entscheidung Nr.  7427/ 24 Oktober 1995 hat die Heilige Synode die Änderung des Titels der Metropolie von Bessarabien wie folgt entschieden: „die Autonome und Altkalendarische Metropolie und Exarchat von Territorien“. 16   Das Erzbistum von Chis¸ina˘u, mit Sitz in der Kreisstadt Chis¸ina˘u (Republik Moldawien), wurde am 8 März 1923 gegründet und am 3 Oktober 1995 reaktiviert und als juristische Person und Bestandteil der Metropolie von Bessarabien innerhalb des Rumänischen Patriarchats durch Zertifikat Nr.  2008 von 1 Dezember 2004 eingetragen, das von der Staatlichen Behörde für Kultusangelegenheiten der moldawischen Regierung erlassen wurde. Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat durch Entscheidung Nr.  4555/22 Oktober 2007, die Eintragung dieser Eparchie in den Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche genehmigt. 17   Das Bistum de Ba˘ lt¸i (damaliges Bistum von Hotin), mit Sitz in der Stadt Ba˘lt¸i (Republik Moldawien), wurde am 8 März 1923 gegründet und am 14 September 1992 reaktiviert und als juristische Person und Bestandteil der Metropolie von Bessarabien innerhalb des Rumänischen Patriarchats durch Zertifikat Nr.  2017 vom 17 Dezember 2004 eingetragen, das von der Staatlichen Behörde für Kultusangelegenheiten der moldawischen Regierung erlassen wurde. Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat durch Entscheidung Nr.   4555/22 Oktober 2007, die Eintragung dieser Eparchie in den Statut für die

32. das Bistum Süd-Bessarabien (damaliges Bistum von Cetatea Alba-Ismail) mit Sitz in der Stadt Cantemir18. 33. das orthodoxe Bistum von Dubaˇsari und ganz Transnistria (damalige rumänisch-orthodoxe Mission von Transnistria), mit Sitz in Dubaˇsari19. VIII. Die Rumänisch-Orthodoxe Metropolie von West- und Südeuropa umfaßt20 : Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche, genehmigt. 18   Das Bistum Süd-Bessarabien (damaliges Cetatea Alba – Ismail), mit Sitz in der Stadt Cantemir (Republik Moldawien) wurde am 8 März 1923 gegründet und am 14 November 2006 reaktiviert und als juristische Person und Bestandteil der Metropolie von Bessarabien innerhalb des Rumänischen Patriarchats durch Zertifikat Nr.  2254 von 14 November 2006 eingetragen, das von der Staatlichen Behörde für Kultusangelegenheiten der moldawischen Regierung erlassen wurde. Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat durch Entscheidung Nr.  4555/ 22 Oktober 2007, die Eintragung dieser Eparchie in den Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche genehmigt. 19   Das Orthodoxe Bistum von Dubasarilor und ganz Transnistrien (frühere Rumänisch-Orthodoxe Mission von Transnistrien), mit Sitz in Dubasari (Republik Moldawien) wurde am 15 August 1942 gegründet und am 25 November 2004 reaktiviert und als juristische Person und Bestandteil der Metropolie von Bessarabien innerhalb des Rumänischen Patriarchats durch Zertifikat Nr.  2255 von 15 November 2006 eingetragen, das von der Staatlichen Behörde für Kultusangelegenheiten der moldawischen Regierung erlassen wurde. Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat durch Entscheidung Nr.  4555/22 Oktober 2007, die Eintragung dieser Eparchie in den Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche genehmigt. 20  Im Jahre 1972 hat die Heilige Synode die Entscheidung der Ständigen Synode vom 10 März 1972 ratifiziert, dass das „Rumänische Orthodoxe Bistum für Westeuropa“, mit Sitz in Paris in die Rumänische Orthodoxe Kirche aufgenommen wird, gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1157/28, April 1972. Im Jahre 1974 hat die Heilige Synode die Rangerhebung dieser Eparchie zum Erzbistum mit dem Titel „Rumänisches Orthodoxes Erzbistum für Zentral- und West-

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

34. das rumänisch orthodoxe Erzbistum von Zentraleuropa mit Sitz in Paris21. 35. das rumänisch orthodoxe Bistum von Italien, mit Sitz in Rom 22. 36. das rumänisch orthodoxe Bistum von Spanien und Portugal, mit Sitz in Madrid 23. IX. Die Rumänisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa umfasst24 : 37. das rumänisch- orthodoxe Erzbistum von Deutschland, Österreich und Luxenbourg mit Sitz in Nürnberg 25.

europa“ (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  11042/12 Dezember 1974) bestimmt. Am 4 Juli 2004 genehmigte die Heilige Synode die Rangerhöhung des Erzbistums mit dem Titel: „Rumänische Orthodoxe Metropolie von Westeuropa“. 21   Unter der Jurisdiktion des Bischofs Visarion Puiu wurde die „Rumänische Orthodoxe Eparchie für Westeuropa“ 1949 gegründet und offiziell in die Rumänische Orthodoxe Kirche aufgenommen ( gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1157/28 April 1972). Zwei Jahre später erfolgte die Rangerhöhung dieser Eparchie vom Bistum zum Erzbistum mit dem Titel: „ Rumänisches Orthodoxes Erzbistum für Zentral- und Westeuropa“ (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  11042/12 Dezember 1974). 22   Das Rumänische Orthodoxe Bistum von Italien wurde im Jahre 2007durch die Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  2705/20 Juni 2007 errichtet.. 23   Das Rumänische Orthodoxe Bistum von Spanien und Portugal wurde im Jahre 2007 durch die Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4587/22 Okotober 2007 errichtet. 24   Im Jahre 1993 hat die Heilige Synode durch die Entscheidung Nr.   436/22 Januar 1993 die Gründung der „Rumänischen Orthodoxen Metropolie für Deutschland und ganz Europa“ genehmigt. Durch die Entscheidung Nr.  4382/26 November 2002 hat die Heilige Synode die Ergänzung des Titels der Metropolie wie folgt genehmigt: „Rumänische Orthodoxe Metropolie für Deutschland Zentral- und Nordeuropa“. 25  Durch die Entscheidung Nr.  5823/29 Oktober 2008 hat die Heilige Synode die Änderung des Titels dieser Eparchie wie folgt genehmigt: „Rumänisches Orthodoxes Erzbistum von Deutschland, Österreich und Luxemburg“.

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38. das rumänisch- orthodoxe Bistum von Nordeuropa, mit Sitz in Stockholm 26. X. (39) Das Rumänisch-Orthodoxe Erzbistum der zwei Kontinente Amerikas mit Sitz in Chicago27. XI. (40) Das Bistum Dacia Felix, mit Verwaltungssitz in Vârs¸et¸, unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats28. XII. (41) Das rumänisch-orthodoxe Bistum in Ungarn, mit Sitz in Gyula unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats29. XIII. (42) Das Rumänisch-Orthodoxe Erzbistum von Australien und Neuseeland mit Sitz in Melbourne, unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats30. 26   Das Rumänische Orthodoxe Bistum von Nordeuropa wurde von der Heiligen Synode durch die Entscheidung Nr.   4586/22 Oktober 2007 gegründet. 27   Als Folge der Wunschäußerung der rumänischen orthodoxen Gläubigen in Amerika hat die Heilige Synode im Jahre 1930 die Errichtung des „Rumänischen Orthodoxen Missionsbistum in Amerika“ beschloßen.(gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode 10219/1 November 1930). Im Jahr 1974 hat die Heilige Synode diese Eparchie in den Rang eines Erzbistums erhoben (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode 14079/12 Dezember 1974). Im Jahr 1991 wurde entschieden, den Terminus „Mission“ aus dem Titel zu entfernen, so dass die Eparchie heute folgenden Titel hat: „Rumänisches Orthodoxes Erzbistum von Nord- und Südamerika“. 28   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  7303/29 Oktober 2009. 29   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  7303/29 Oktober 2009. 30  Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche, durch die Entscheidung Nr.   1289/26 Juni 2006 hat die Gründung des „Rumänischen Orthodoxen Vikariats für Australien und Neuseeland“ mit Sitz in Melbourne (Aus­ tralien) genehmigt. Durch die Entscheidung Nr.  4708/22 Oktober 2007 hat die Heilige Synode die Rangerhöhung des Vikariats zu einem Bistum mit dem Titel „Rumänisches Orthodoxes Bistum von Australien und Neuseeland“ entschieden, sowie dessen Eintragung in den Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche als Eparchie, unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats.

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XIV. Das Ukrainisch Orthodoxe Vikariat mit Sitz in der Kreisstadt Sighetul Marmat¸iei, unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats31. XV. Vertretungen und Gemeinden des Rumänischen Patriarchats außerhalb der Grenzen: Vertretung des Rumänischen Patriarchats an den Heiligen Orten ( Jerusalem, die rumänische Präsenz Jordan und die rumänische Präsenz in Jericho mit dem Pilgern- und Studienzentrum „Heiliger Ioan Iacob“), Vertretung des Rumänischen Patriarchats an den europäischen Institutionen (Brüssel), Vertretung des Rumänischen Patriarchats in Sophia (Bulgarien), die rumänisch-orthodoxe Gemeinde in der Türkei (Istanbul), die rumänisch-orthodoxe Gemeinde in Südafrika ( Johannesburg), die rumänisch-orthodoxe Gemeinde in Zypern (Nikossia), die Vertretung des Rumänischen Patriarchats in Tokyo ( Japan) 32, die rumä-

nisch-orthodoxe Gemeinde in Osaka ( Japan) 33, die rumänisch-orthodoxe Gemeinde in Syrien (Damaskus) und andere Einheiten, die gemäß den Grundsätzen von Art.   8 Abs.   1 und Art.   14 lit.   1 des vorliegenden Statuts gegründet wurden34. XVI. Rumänisch-orthodoxe Einheiten außerhalb der Grenzen, die gesitliche und kulturelle Verbindungen zu dem Rumänischen Patriarchat unterhalten: die rumänische Präsenz auf dem Berg Athos (Prodromu, Lacu und andere Skiten oder Mönchssiedlungen) sowie andere ähnliche Einheiten35.

31  Bis ins Jahr 1948 gehörte die ukrainische Minderheit in Rumänien zur griechisch-katholischen Konfession. Nach diesem Jahr wurden die zur Orthodoxie konvertierten Ukrainer in einem Vikariat mit Sitz in Sighetu Marmat¸iei (Kreis Maramures¸ ) organisiert, welches Pfarrgemeinden von Maramures¸, Transilvania (Siebenbürgen), Cris¸ana und dem Banat umfasst. Im Jahr 1952 wurde das Ukrainische Orthodoxe Vikariat in ein Ukrainisches Orthodoxes koordinierendes Protopopiat (Erzpriesteramt) mit Sitz in der Ortschaft Poienile de Sub Munte, Kreis Maramures¸, umgewandelt, das dem Orthodoxen Bistum von Cluj (Klausenburg) unterstand. In dieser Organisationsform funktionierte das Protopopiat bis 1990 und erhielt finanzielle Unterstützung des Rumänischen Patriarchats. Nach 1989 wurde durch Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1432/12 Februar 1990 das Ukrainische Orthodoxe Vikariat mit Sitz in Sighet wiedereingerichtet, das in zwei Protopopiaten organisiert ist: Sighet und Lugoj (Kreis Timis¸ ), 33 Pfarrgemeinden, die 33 Kultusgebäude umfassen, in denen 29 Priester dienen, sowie 3 Klöster (Rona de Sus und Ruscova – Kreis Maramures¸ ; Pereu-Criciova – Kreis Timis¸ ). Die Zahl der Gläubigen beträgt ca. 53.300. Aus kanonischer Sicht gehört das Vikariat zur Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats. Als Spezifikum der ukrainischen Gläubigen ist die Verwendung des alten Kalenders. 32   Der Vertretungsrang wurde durch die Ent-

scheidung der Heiligen Synode Nr.  1145 von 17 Februar 2012 gewährt. 33   Gegründet durch Entscheidungen des Ständigen Kirchlichen Nationalrats vom 5 August und 24 September 2008, die von der Heiligen Synode durch Entscheidung Nr.  7359/29 Oktober 2008 ratifiziert und durch Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1145 von 17 Februar 2012 geändert wurde. 34   Der Absatz wurde gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  3592/29 Oktober 2008 ergänzt. 35   Zahl, Titel und Rang der Eparchien dieses Artikels wurden sukzessive durch folgende Entscheidungen geändert: Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  3161/26 Februar 1950, Nr.   22854/10 November 1951, Nr.  8576/10 Juni 1973, Nr.  421/23 Januar 1991, Nr.  6227/5 Oktober 1993, 179 und 8474/11 Januar 1994, 6444 und 7435/15 Februar 1996, 3048/16 Juli 1998, 2944/24 Februar 2000, Nr.  602/1 Februar 2001, Nr.  6146/21 Februar 2001, Nr.  550/6 März 2003, 960/6 März 2003, Nr.  545/11 Februar 2004, Nr.  863/4 März 2005, Nr.  187/1 März 2006, Nr.  704/14 Februar 2007, sowie durch die Entscheidungen der Heiligen Synode Nr.  4526/22 Oktober 2007, Nr.   4768/28 November 2007, Nr.  946/26 Februar 2009, Nr.  3621/19 Juni 2009, Nr.  4191/19 juni 2009 und Nr.  7303/29 Oktober 2009. 36   Gemäß Kan.  14 Ap.; 16 Atiochien.

Art.  7

(1) Die Gründung, Auf hebung, territoriale Änderung und die Veränderung der Bezeichnung der Metropolien, Erzbistümer und Bistümer werden durch Beschlüsse der Heiligen Synode36 entsprechend der pastoral-missionarischen Gegebenheiten und unter Berücksichtigung der administrativ-ter-

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

ritorialen Organisation des Staates vollzogen37. (2) Der Titel der Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe ist diejenige der Metropolie oder der Eparchie, die sie pastoral betreuen38. Der Titel der Patriarchalvikarbischöfe, der Vikarbischöfe der Erzbistümer und der Vikarbischöfe der Bistümer, wird von der Heiligen Synode auf Vorschlag des Patriarchen für die Patriarchalvikarbischöfe und auf Vorschlag des örtlichen Diözesanbischofs für die Vikarbischöfe der Erzbistümer und die Vikarbischöfe der Bistümer festgelegt. (3) 39 Die Eparchialhierarchen einiger Bischofssitze mit bedeutsamer Vergangenheit (die eine bestimmte historische Bedeutung haben) und mit pastoral-missionarischer, administrativer oder national-kultureller Bedeutung, die sich durch einen besonderen und langen bischöflichen Dienst an der Kirche ausgezeichnet haben, können auf Vorschlag des Patriarchen in Übereinstimmung mit der Ständigen Synode und mit Genehmigung der Heiligen Synode, persönliche Ehrentitel erhalten: die Erzbischöfe erhalten den persönlichen Ehrentitel eines Ehrenmetropoliten, die Bischöfe, den Ehrentitel eines Ehrenerzbischofs40 ; die Eparchie wird weiter in der vorgesehen Reihenfolge, die in den kanonischen und administrativen Diptychen41 der Rumänischen Orthodoxen Kir Gemäß Kan.  17 IV ökum. und 38 Trullanum. 38   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007. 39  Artikel gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007, ergänzt durch Entscheidung der Heiligen Synode Nr. 3621/19 Juni 2009. 40   Gemäß Kan.  7 I ökum.; 12 IV ökum. 41  Früher bedeutete der Begriff Dypticha (δίπτυχα) eine Art Doppeltafel, die zweifach zusammengefaltet werden konnte, die oft außen geschmückt war und innen mit Inschriften versehen, welche im Christentum zur Notierung der Namen verwendet wurde, Lebender oder Verstorbener, die zur Kirche gehörten. Wenn ein Mitglied der Kirche Häretiker wurde, wurde er sofort von der Liste gestrichen. Heute sind in den Dyptichen alle orthodoxen Lokalkirchen in ihrer 37

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che aufgeführt ist, seine Stellung beibehalten. Die alten Bistümer können außerdem aufgrund einer fundierten Begründung Erzbistümer werden42. (4)43 Die Mitglieder der Heiligen Synode, die persönliche Ehrentitel erhalten, werden auf der Liste der Mitglieder der Heiligen Synode eingetragen und bei den Gottesdiensten nach den amtierenden Metropoliten bzw. Erzbischöfen gemäß der administrativen Ordnung der Rumänischen Orthodoxen Kirche kommemoriert44. (5)45 Die Nachfolger im Amt der Erzbischöfe und Bischöfe, die persönliche Ehrentitel bekommen haben, übernehmen nicht das Recht diese Ehrentitel zu benutzen46. (6) Die Entscheidungen, die aufgrund von Abs.  1, 2 und 3 des vorliegenden Artikels getroffen wurden, werden dem zuständigen Ministerium bekanntgemacht47. Art.  8

(1) Die kanonische und pastorale Organisation der rumänisch-orthodoxen Gläubigen außerhalb der Grenzen Rumäniens wird

Ehrenrangordnung (τάξις) eingetragen. Die Eintragung einer Lokalkirche in die Diptycha demonstriert, dass diese Kirche in kanonischer, dogmatischer und kultischer Gemeinschaft mit der Orthodoxen Kirche (als ganzes) steht und zeigt ihren genauen Platz in der Rangordnung (τάξις). Ebenso existiert innerhalb jeder autonomen oder autokephalen Lokalkirche ein kanonisches und administratives Dyptichon, in dem gemäß der eigenen Rangordnung die Eparchien, aus denen sich die jeweilige Kirche zusammensetzt, eingetragen sind. 42   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007. 43   Absatz verändert, gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007. 44   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007. 45  Absatz verändert gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007. 46   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4502/22 Oktober 2007. 47  Gemäß der Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.   9084/25 September 1990 und der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4768/28 November 2007.

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von der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche bestimmt48. (2) Die Bistümer, Erzbistümer und Metropolien sowie andere kirchliche Einheiten außerhalb der Landesgrenzen werden gemäß den eigenen Statuten organisiert und verwaltet, die von der Heiligen Synode in Übereinstimmung mit dem Statut für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche, genehmigt wurden. (3) Im Falle der Errichtung neuer Eparchien außerhalb der Landesgrenzen wird der örtliche Metropolit oder der Delegierte der Heiligen Synode die neu gegründeten Eparchien organisieren, sowie die Statute dieser Eparchien erstellen und regelmäßig das Rumänische Patriarchat über den aktuellen Stand seiner Mission informieren. Kapitel I Die zentrale Organisation Art.  9

In der Rumänischen Orthodoxen Kirche fungieren auf zentraler Ebene: I. Beschließende Zentralorgane: A. Die Heilige Synode, B. Die Ständige Synode, C. Die Kirchliche Nationalversammlung. II. Exekutive Zentralorgane: A. Der Patriarch, B. Der Kirchliche Nationalrat, C. Der Ständige Kirchliche Nationalrat III. Die zentral-administrativen Organe: A. Die Kanzlei der Heiligen Synode, B. Die patriarchale Verwaltung/Administration. Gemeinsame Verordnungen Art.  10

(1) Die kirchlichen Beratungs- und Exekutivzentralbehörden sind beschlussfähig, 48  Gemäß Kan.   34 Ap. Der Artikel wurde sukzessiv durch die Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.   9084/25 September 1990 und der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4768/28 November 2007 verändert.

wenn mindestens zwei Drittel der Mitglieder anwesend sind; Entscheidungen werden in der Regel mit absoluter Stimmenmehrheit49 der gültigen Stimmen getroffen, mit Ausnahme der Art.  4 lit.  g), k), m) – Die Wahl des Patriarchen, die unter p) und q) vorgesehenen Fälle des vorliegenden Statuts. In den Fällen, die die Wahl oder den Rücktritt der Hierarchen betreffen, ist das Abstimmungsverfahren der beschließenden und exekutiven Zentralorgane geheim, während für Verfahrensfragen das Abstimmungsverfahren nicht geheim ist. (2) Die und Bestätigung der Gültigkeit bzw. Annullierung der jeweiligen Mandate und der gewählten Mitglieder, Kleriker und Laien, wird von der Kirchlichen Nationalversammlung vorgenommen. (3) Die Einberufung der Beratungszentralbehörde sowie die Präzisierung der Tagesordnung wird von ihren Vorsitzenden50, mindestens 14 kalendarische Tage vor dem festgelegten Datum, für die Sitzung vorgenommen. In Ausnahmefällen kann die Synode so schnell wie möglich einberufen werden. (4) Die Öffnung und Schließung der Arbeitssitzungen der Beratungszentralbehörde und Exekutivzentralbehörden wird vom Präsidenten durchgeführt51. (5) Das Protokoll jeder Arbeitssitzung der Beratungszentralbehörde und Exekutivzentralbehörde wird von dem Präsidenten52 und den designierten Sekretären unterzeichnet. (6) Die Entscheidungen der Beratungszentralbehörde und Exekutivzentralbehörde sind obligatorisch für die ganze Rumänische Orthodoxe Kirche53. 49  Gemäß Kan.  6 I ökum.; Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.   3161/26 Februar 1950 und Nr.  9 084/26 September 1990. 50   Gemäß Kan.  19 IV ökum.; 8 VI ökum.; 20 Antiochien. 51   Gemäß Kan.  4 I ökum.; 9 und 17 IV ökum.; 19 und 20 Antiochien; gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.   9084/ 26 September 1990. 52   Gemäß Kan.  4 I ökum. 53   Gemäß Kan.  1 IV ökum.; 1 Trullanum und 1 VII ökum.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang Abschnitt I Die Beratungszentralbehörde A. Die Heilige Synode Art.  11

Die Heilige Synode ist die höchste Autorität der Rumänischen Orthodoxen Kirche, in allen ihren Tätigkeitsbereichen54. Art.  12

(1) Die Heilige Synode setzt sich aus dem Patriarchen und allen amtierenden Metropoliten, Erzbischöfen, den Bischöfen, aus den Patriarchalvikarbischöfen und Vikarbischöfe der Erzbistümer und der Vikarbischöfe der Bistümer zusammen55. Die amtierenden Bischöfe haben die Pflicht ihre Aktivität in synodaler Kooperation zu vollziehen und den Entscheidungen der Heiligen Synode56 und den Regelungen des vorliegenden Statuts zu folgen. Die sich im Ruhestand befindenden Hierarchen sind disziplinarkir54   Gemäß Apg 15,1–21; Kan.  14 und 34 Ap.; 7 III ökum.; 9 und 16 Antiochien. 55  Gemäß Kan.. 76 Karthago; Die Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  3161/26 von Februar 1950. In der Rumänischen Orthodoxen Kirche wurde die Reaktivierung der Institution des Vikarbischofs, sowohl beim Erzbistum als auch beim Bistum, durch Entscheidung der Heilgen Synode Nr.  7616/1967 genehmigt. Durch die Entscheidung der Heiligen Synode Nr.   1681/1969 wurden die grundsätzlichen Aufgaben dieser Vikarbischöfe festgelegt, aufgrund derer jene die Entscheidung über die Aufgabenkompetenz vom Diözesanbischof erhalten, die von der Heiligen Synode genehmigt wird. Durch die Entscheidung Nr.  4159/2009 der Heiligen Synode wurde beschloßen „dass alle Diözesanbischöfe, die das Alter von 75 Jahren erreicht haben und keinen Vikarbischof haben, gemäß dem Statut, innerhalb von drei Monaten nach Bekanntgabe dieser Entscheidung Kandidaten für die Wahl in diese Ämter vorschlagen sollen,vorzugsweise junge Kandidaten (zwischen 30 und 45 Jahre alt, die für dieses kichliche Würdenamt gewählt werden dürfen.“ In derselben Entscheidung wird außerdem präzisiert, dass „die Vikarbischöfe (sowohl eines Bistums als auch eines Erzbistums) die pastorale und missionarische Pflicht haben, mindestens 3 (drei) Tage pro Woche vor Ort präsent zu sein. 56   Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien.

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chenrechtlich verpflichtet, die synodalen kanonischen Entscheidungen einzuhalten. (2) Der Präsident der Heiligen Synode ist der Patriarch57. In seiner Abwesenheit wird die Präsidentschaft der Heiligen Synode in folgender Reihenfolge wahrgenommen: der Metropolit von Moldau und Bukovina, der Metropolit von Transilvanien (Siebenbürgen), der Metropolit von Cluj, Alba, Cris¸ana und Maramures¸, der Metropolit von Oltenien (der Kleinen Walachei), der Metropolit von Banat, die anderen Metropoliten, Erzbischöfe oder Bischöfe gemäß der kanonischen Ordnung der Eparchien des Rumänischen Patriarchats (Diptychen) 58. (3) Der Sekretär der Heiligen Synode ist einer der Patriarchalvikarbischöfe, der auf Vorschlag des Patriarchen vom Plenum der Heiligen Synode designiert wird. Art.  13

Die Heilige Synode tagt jährlich an mindestens zwei Arbeitssitzungen im Frühling und Herbst 59 sowie in außerplanmäßigen Sitzungen, wann immer es nötig ist. Die Heilige Synode kann auch aus feierlichen Anlässen tagen. Art.  14

Die Aufgaben der Heiligen Synode sind folgende: a. Bewahrung der dogmatischen, liturgischen, kanonischen Einheit, und der Einheit gemäß den Statutsvorgaben und gemäß den kirchlichen Satzungen der Rumänischen Orthodoxen Kirche sowie der Gemeinschaft mit der ganzen Orthodoxen Kirche60 ; b. Förderung der Mitverantwortung, Beratung und Kooperation zwischen den Hie57   Gemäß Kan.  34 Ap.; 4 I ökum.; 9 und 17 IV ökum.; 19 und 20 Antiochien. 58  Der Absatz wurde sukzessive durch die Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung 3161/1950, Nr.   8576/10 Juni 1973 und Nr.  9 084/ 26 September 1990 verändert. 59  Gemäß Kan.   37 Ap.; 5 I ökum.; 19 IV ökum.; 8 Trullanum; 6 VII ökum.; 20 Antiochien. 60   Gemäß Kan.  37 Ap.; 7 III ökum.; 95 Karthago.

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rarchen, während und zwischen den Arbeitssitzungen, durch Mitzelebrieren bei verschiedenen zentral- und regionalkirchlichen Ereignissen, durch Gratulationsbriefe, durch ständige Zusammenarbeit zwischen den benachbarten Metropolitansynoden auf pastoral-missionarischer, sozial-philanthropischer und kultureller Ebene, durch die brüderliche gegenseitige Hilfe der ärmeren Eparchien innerhalb oder außerhalb der Landesgrenzen und durch geistliche und materielle Solidarität in Notfällen (Naturkatastrophen und Kalamitäten etc.) 61; c. Prüfung jedes dogmatischen, liturgischen, kanonischen und pastoral-missionarischen Problems und Lösung gemäß der Lehre der Orthodoxen Kirche. Sie entscheidet gemäß den Heiligen Kanones über kirchliche Angelegenheiten aller Art62 ; d. Entscheidung über die Weihe des großen Myrons gemäß den pastoral-missionarischen Erfordernissen der Rumänischen Orthodoxen Kirche63 ; e. Genehmigung der Kanonisierung (Heiligsprechung) der Heiligen und der Erlass des Synodal-Tomos64 der Proklamation der Kanonisierung 65 ; f. Vertretung der offiziellen Position der Rumänischen Orthodoxen Kirche in Bezug auf Projekte und Gesetzesentwürfe der legislativen Staatsorgane, die für die Tätigkeit der Kultusgemeinschaften, des theologischen und religiösen Bildungswesens, der religiösen Betreuung und Sozialhilfe, sowie national-kulturellen Angelegenheiten, insbesondere in Bezug auf kirchliches Kulturgut und andere Bereiche, von religiösem oder sozialem Interesse sind66 ;

g. Genehmigung des Statuts für die Organisation und Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche mit Zweidrittelmehrheit67 der anwesenden Mitglieder durch offene Abstimmung, sowie die Entscheidung über die Abänderung dieses Statuts68 ; h. Genehmigung durch offene Abstimmung der kirchlichen Satzungen, die gemäß diesem Statut verfasst wurden sowie Entscheidung über die Änderung dieser 69; i. Initiierung und Genehmigung von Abkommen und Partnerschaften mit dem Staat und anderen Institutionen in Bereichen von allgemeinkirchlichem Interesse70 ; j. Vertretung der offiziellen Position der Rumänischen Orthodoxen Kirche zu Problemen von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse71; k. Genehmigung der Gründung, Auf hebung, der territorialen Änderung72 und der Änderung der Bezeichnung der zum Rumänischen Patriarchat73 gehörenden Metropolien, Erzbistümer und Bistümer mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder74, sowie Erlassen des Synodal-Tomos im Falle der Gründung neuer Eparchien75 ; l. Verpflichtung und Recht sich um die pastorale Betreuung der rumänisch -orthodoxen Gläubigen im Ausland76 zu kümmern. Zu diesem Zweck erfolgt eine Genehmigung oder begründete Rückverweisung der Statute der Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe und anderer kirchlicher Einheiten, die sich außerhalb der Grenzen Rumäniens befinden und übermittelt diesen Empfehlungsvorschläge für die pastorale Betreuung77;   Gemäß Kan.  6 I ökum.   Gemäß Kan.  37 Ap. 69   Gemäß Kan.  37 Ap. 70   Gemäß Kan.  30 Ap.; 84, 3 VII ökum. 71   Gemäß Kan.  37 Ap.; 6 VII ökum.; 18 und 95 Karthago. 72   Gemäß Kan.  53 und 98 Karthago. 73   Gemäß Kan.  37 Ap. 74   Gemäß Kan.  6 I ökum. 75   Gemäß Kan.  17 IV ökum.; 25 Trullanum; Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009. 76   Gemäß Kan.  34 Ap. 77   Gemäß Kan.  95 Karthago. 67

  Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien; 95 Karthago. 62   Gemäß Kan.  37 Ap.; 95 Karthago. 63   Gemäß. Kan.  6 Karthago. 64   Synodal-Tomos ist der offizielle Akt, der von der Heiligen Synode zur Proklamierung der Kanonisierung der Heiligen und zur Gründung neuer Eparchien genehmigt und erlassen wird. (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009). 65   Gemäß Kan.  6 VII ökum. 66   Gemäß Kan.  37 Ap.; 6 VII ökum.; 18 Karthago. 61

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m. Wahl des Patriarchen mit Zweidrittelmehrheit aller gültigen Stimmen, Wahl der Metropoliten, Erzbischöfe und der Eparchialbischöfe für die Eparchien, die zum rumänischen Patriarchat gehören, mit absoluter Mehrheit aller gültigen Stimmen78 ; n. Wahl der Vikarpatriarchalbischöfe, der Vikarbischöfe der Erzbistümer und der Vikarbischöfe der Bistümer mit absoluter Mehrheit aller gültigen Stimmen79; o. Erlass der Synodal-Grammata80 für die Inthronisation des Patriarchen81; p. Entscheidung mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder über die Pensionierung der Hierarchen und Festlegung ihrer Rechte82 ; q. Entscheidung mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder über die Anklage aufgrund der Kanones gegen diejenigen Mitglieder, die der Abweichung von der Lehre und Disziplin der Kirche beschuldigt werden83 ; r. Festlegung der Kriterien nach denen Archimandriten (Möncherzpriester) oder verwitwete Priester für das Bischofsamt wählbar sind; 84 s. Genehmigung der Vorschläge bezüglich der Zusammensetzung des Kirchlichen Oberkonsistoriums (Gerichtsinstanz) 85 und des Kirchlichen Oberkonsistoriums für Mönche; 86   Gemäß Kan.  6 I ökum.   Gemäß Kan.  6 I ökum. 80   Synodal-Grammata ist der der von der Heiligen Synode genehmigte und erlassene Akt zur Amtseinführung des Patriarchen Rumäniens (gemäß der Entscheidung des Ständigen Kirchlichen Nationalrat von 12 November 2009). 81   Gemäß Apg 15, 1–21; Kan.  14 Ap., 16 Antiochien; Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  8576/10 Juni 1973. 82   Gemäß Kan.  6 I ökum. 83  Gemäß Kan.   74 Ap.; 6 II ökum.; 9 IV ökum.; 14, 15 und 17 Antiochien; 1 Konstantinopel (394). 84   Gemäß 2Kor. 4, 2; 5, 11; 6, 4; Kan.  57 Laodizea. 85  Gemäß Kan.  5 I öcum.; 6 Antiochien; 14 Sardica; 11 Karthago. 86   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  8561/25 Oktomber 2011. 78

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t.87 Generelle Überprüfung (Genehmigung oder Ablehnung) der Entscheidungen des Kirchlichen Oberkonsistoriums und des Kirchlichen Oberkonsistoriums für Mönche bezüglich der Berufungen der Kleriker und der Mönchspriester,88 wenn sie mit der Strafe des dauerhaften Ausschlusses bestraft wurden, und Entscheidungen über ihre Begnadigungsanträge; u. Leitung und Überwachung der Tätigkeit der Entscheidungsbehörden und Exekutivbehörden der Bistümer, Erzbistümer, Metropolien und des Patriarchat, so dass diese den Vorschriften des Statuts und der kirchlichen Satzungen entspricht; 89 v. Initiierung und Pflege brüderlicher innerorthodoxer Beziehungen, des Dialog und der innerchristlichen und interreligiösen Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene90 ; w. Genehmigung auf Antrag des jeweiligen Lokalbischofs zur Gründung, Organisation und Auf hebung der theologischen Lehreinheiten auf Universitäts- (theologische Fakultäten) und Schulebene (Schulen für Kirchensänger/Schulen für Kunst und Handwerk, theologische Seminaren), sowie anderer Ausbildungseinheiten der Rumänischen Orthodoxen Kirche, sowie derjenigen Normen, die den Religionsunterricht in den staatlichen, privaten und konfessionellen Schulen regelt. Sie legt die Normen bezüglich des konfessionellen Unterrichts auf allen Ebenen fest, sowie die Programme der Jugend- und Erwachsenenkatechese91; x. Genehmigung der Gründung und Aufhebung der Printmedien (Zeitschriften, Zeitungen und offiziellen Periodika) sowie audiovisueller Medien (Radio, Fernsehen und anderer) des Rumänischen Patriarchats und der Eparchialzentren auf gründlich motivierten Antrag des Patriarchen Rumäniens 87  Gemäß Kan.  5 I ökum.; 6 Antiochien; 14 Sardica; 11 Karthago. 88   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.. 8561/25 Oktober 2011. 89   Gemäß Kan.  34 und 37 Ap.; 9 Antiochien. 90   Gemäß Kan.  37 Ap.; 95 Karthago. 91   Gemäß Kan.  34 Ap.; 19 Trullanum; 9 Antiochien; 26 und 40 Laodizea; 95 Karthago.

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oder der Diözesanbischöfe der Eparchien innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen mit dem Zweck der Bewahrung, Förderung und Verteidigung der Einheit des Glaubens und des kirchlichen Lebens92 ; y. Genehmigung der Normen über die missionar-pastorale Tätigkeit und die Förderung des religiösen und moralischen Lebens des Klerus93 ; z. Festlegung der Normen für die Tätigkeit der sozial-philanthropischen Betreuung für die ganze Kirche und Genehmigung der Maßnahmen für die Organisation der religiösen Seelsorge in der Armee, den Gefängnissen, Kranken-, Waisen- und Altenheimen, Sozialanstalten und Einrichtungen für medizinische Versorgung für benachteiligte Personen usw. 94 ; a1. Beschluss der Gründung, Organisation und Auf hebung der kirchlichen Vereine und Stiftungen mit nationalem Charakter, die von der Rumänischen Orthodoxen Kirche konstituiert und geleitet werden95 ; b1. Erteilen oder Entzug des Segens (der schriftlichen Genehmigung) für die Gründung, Organisation und Auf hebung der Ver­ eine und Stiftungen mit nationalem Charakter, außer kirchlicher Vereine und Stiftungen, die kirchliche Einheiten als alleinige Gründer oder assoziierte Mitglieder sowie eine eigene Leitung haben, die aus orthodoxe Christen besteht und zum missionarischen, sozialen, kulturellen und erzieherischen Missionswerk des Rumänischen Patriarchats beiträgt und in seinen Eparchien tätig sind96 ; c1. Initiierung, Autorisierung und Überwachung der Übersetzung, Verbesserung, Veröffentlichung und Verbreitung der Heiligen Schrift, des Drucks und der Verbreitung der liturgischen Bücher, der Akati92   Gemäß Kan.  34 Ap.; 19 Trullanum; 9 Antiochien; 26 und 40 Laodizea; 95 Karthago. 93   Gemäß Kan.  34 und 39 Ap.; 19 Trullanum; 9 Antiochien; 26 s¸i 40 Laodizea; 95 Karthago. 94  Gemäß Apg 11, 29–30; 24, 17; Röm. 15, 25–26; 1Kor. 16, 1; 2Kor. 8, 14; Gal 2, 10; Kan.  34, 37, 41 und 59 Ap.; 25 Antiochien; 95 Karthago. 95   Gemäß Kan.  37 Ap.; 95 Karthago. 96   Gemäß Kan.  37 Ap.; 18 und 95 Karthago.

stos-Bücher, des kirchlichen Kalenders, der Schulbücher für den Religionsunterricht und der theologischen Lehrbücher 97; Überwachung der Architektur-, Malerei-, Skulpturwerke, sowie anderer Formen der kirchlich-orthodoxen Kunst aus dogmatischer, liturgischer und kanonischer Sicht und Ergreifen von Maßnahmen bei Nicht-Einhaltung der festgelegten Regelungen98 ; d1. Jährliche Genehmigung der Einrichtung und der Modalitäten der Verteilung des Zentral-Missionarischen Fonds; Errichtung spezieller Fonds und Festlegung der Zweckmäßigkeit der Ausgaben99; e1. Interpretation der Vorschriften dieses Statuts oder der kirchlichen Satzungen in abschließender und verbindlicher Form für alle kirchlichen Organe100 ; (2) Die unter lit a1) und b1 erwähnten Vereine und Stiftungen haben die Pflicht, der Kanzlei der Heiligen Synode, zwei mal jährlich (in Frühjahr und Herbst)101, Berichte bezüglich ihrer durchgeführten Tätigkeit und einmal pro Jahr ein Bericht bezüglich der finanzielle Lage vorzulegen102. Das Rumänische Patriarchat durch die Kontrollbehörde für Finanzen und Audit kann jeder Zeit Kontrolle der finanziellen Lage und des Standes des Verwaltungsvermögens jeweiliger Vereine und Stiftungen, zusammen oder unabhängig vom Prüfer oder einer Prüferkommission durchführen. Falls Fehler und Mängel festgestellt werden, trifft das Rumänische Patriarchat Maßnahmen zur Behebung dieser103 ; 97   Gemäß 1 Tim 3, 2; 2 Tim 2, 2, 24; Tit 1, 9; Kan.  34 Ap.; 7 III ökum.; 9 Antiochien. 98   Gemäß 1 Tim 3, 2; 2 Tim 2, 2, 24; Tit 1, 9; Kan.  34 Ap.; 7 III ökum.; 82 Trullanum; 9 Antiochien. 99  Gemäß Apg 11, 29–30; 24, 17; Röm 15, 25–26; 1Kor 16, 1; 2Kor 8, 14; Gal 2, 10; Kan.  34, 37, 41 und 59 Ap.; 25 Antiochien; 95 Karthago. 100   Gemäß Apg 15, 1–21; Kan.  14 und 34 Ap.; 7 III ökum.; 9 und 16 Antiochien. 101  Gemäß Kan.   37 Ap.; 5 I ökum.; 19 IV ökum.; 8 Trullanum; 6 VII ökum.; 20 Antiochien. 102   Gemäß Kan.  95 Karthago. 103   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synide Nr.  8578/25 Oktober 2011.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang Art.  15104

(1) Für die Analyse und Formulierung der Vorschläge über die Probleme die zur Debatte gestellt werden, wählt die Heilige Synode aus ihren Mitgliedern vier synodale Kommissionen; (2) Jede Kommission wird von einem Metropoliten geleitet und hat einen Berichterstatter. Die anderen Metropoliten gehören dem Präsidium der Kommissionen an, denen sie gemäß der Heiligen Synode zugeteilt werden. (3) Die Kommissionen der Heiligen Synode sind: a. Die Kommission für pastorale und soziale Angelegenheiten sowie für die Angelegenheiten des Mönchtums, b. Die Kommission für Theologie, Liturgik und Didaktik, c. Die Kommission für kanonische, rechtliche und disziplinäre Angelegenheiten d. Die Kommission für die Betreuung der Gemeinden im Ausland sowie für inter-orthodoxe, inner-christliche und inter-religiöse Beziehungen. (4) Die Heilige Synode entscheidet, ob eine Angelegenheit von zwei oder mehreren Kommissionen gemeinsam geprüft werden muss. (5) Für bestimmte Probleme mit ständigem oder vorläufigem Charakter entscheidet die Heilige Synode über die Einrichtung von speziellen Unterkommissionen, die einer der vier Kommissionen untergeordnet sind105. Zu den Unterkommissionen können auch Hierarchen von anderen Kommissionen gehören, sowie auch Theologieprofessoren, Kleriker, Mönche, Laien und Spezialisten in dem betreffenden Bereich, nach dem Muster der Unterkommission für die

  Der Inhalt des gesamten Artikels entspricht der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1957/6 Juli 2001 un der Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  1957/1 März 2006. 105   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4610/15 Juni 2004, Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1957/6 Juli 2001 und Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  1957/1 März 2006. 104

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Kanonisierung der rumänischen Heiligen, als Mitglieder berufen werden. Art.  16

Die Heilige Synode kann zu den Arbeiten ihrer Kommissionen Theologieprofessoren und Spezialisten in den betreffenden Bereichen zur Beratung einladen. B.  Die Ständige Synode106 Art.  17

(1) Die Ständige Synode ist das beschließende Zentralorgan, das zwischen den Sitzungen der Heiligen Synode tagt, falls Probleme wegen ihrer Wichtigkeit eine unverzügliche Überprüfung erfordern. (2) Die Ständige Synode setzt sich aus dem Patriarchen und allen amtierenden Metropoliten der Eparchien innerhalb und außerhalb der Grenzen Rumäniens zusammen. Zur Ständigen Synode gehören auch drei andere Eparchialhierarchen (1 Erzbischof und 2 Bischöfe), die jährlich von der Heiligen Synode designiert werden. (3) Der Präsident der Ständigen Synode ist der Patriarch. In seiner Abwesenheit werden   Die Institution der Ständigen Synode wurde im Text der Heiligen Kanones nicht direkt erwähnt. Sie entstand im ersten christlichen Jahrtausend aus Spezialgründen, die der Situation des byzantinischen Reiches entsprachen. Genauer, nach der Besetzung der Patriarchate von Antiochien und Alexandrien durch die Araber, konnten viele diesen Patriarchaten angehörende Bischöfe an ihren Bischofssitzen nicht weiter residieren, so dass sie in Konstantinopel geblieben sind und an der Bischofssynode des Patriarchats von Konstantinopel teilgenommen haben. Diese Art von Synode, die sowohl die Bischöfe des Patriarchates von Konstantinopel, als auch die in Konstantinopel vorübergehend residierenden Bischöfe (ἐνδημοῦντες) umfasste, wurde Endemische Synode genannt (ἐνδημοῦσα σύνοδος). Aus dieser Synode hat sich später in der Ortho­ doxie die Ständige Synode entwickelt, d. h. das aktuelle beschließende Zentralorgan jeder or­ thodoxen autokephalen Lokalkirche, das sich aus einer reduzierten Anzahl der Bischöfe zusammensetzt und zwischen den Arbeitssitzungen der Heiligen Synode tagt. 106

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die Sitzungen der Ständigen Synode in der Reihenfolge, die in Art.  12 Abs.  2 des vorliegenden Statuts vorgesehen ist, geleitet. (4) Die Einberufung der Ständigen Synode, mit der Präzisierung der Tagesordnung, erfolgt immer nach Bedarf durch den Präsidenten. (5) Der Sekretär der Heiligen Synode ist zugleich Sekretär der Ständigen Synode. (6) Die Ständige Synode trifft gültige Entscheidungen durch Konsens oder durch absolute Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder. (7) Die Regelungen des Art.  16 des vorliegenden Statuts finden auch bezüglich der Sitzungen der Ständigen Synode Anwendung. Art.  18

(1) Die Ständige Synode übt in der Zeit zwischen den Sitzungen der Heiligen Synode die folgenden Aufgaben aus: Vertretung der offiziellen Position der Rumänischen Orthodoxen Kirche in ihren Beziehungen zu dem Staat sowie in gesellschaftlichen Problemen von allgemeinem Interesse; Förderung des Religionsunterrichts in den staatlichen, privaten und konfessionellen Schulen; Initiative und Unterstützung der Übersetzung, Verbesserung, Veröffentlichung und Verbreitung der Heiligen Schrift und der liturgischen Bücher, einschließlich der Akatistos-Bücher, des kirchlichen Kalenders, der Schulbücher für den Religionsunterricht und der theologischen Lehrbücher; Information der Heiligen Synode über synkretistische und konfuse theologische und geistliche Literatur; (2) Die Ständige Synode überprüft und formuliert, auf Verlangen des Patriarchen oder ihrer Mitglieder, Vorschläge über die Angelegenheiten, die der Heiligen Synode zur Debatte vorgelegt werden. (3) Die Ständige Synode übt alle anderen Aufgaben aus, die ihr von den Heiligen Synode übertragen werden. (4) Die Ständige Synode bringt der Heiligen Synode die in ihren Sitzungen getroffenen Entscheidungen zum Zweck der Ratifizierung zur Kenntnis.

C.  Die Kirchliche Nationalversammlung107 Art.  19

Die Kirchliche Nationalversammlung ist das beschließende Zentralorgan der Rumänischen Orthodoxen Kirche, die für die administrativen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Angelegenheiten sowie Angelegenheiten des kirchlichen Kulturgutes zuständig ist. Art.  20

(1) Die Kirchliche Nationalversammlung setzt sich aus jeweils drei Vertretern jeder Eparchie, einem Kleriker und zwei Laien zusammen. Sie werden von den Eparchialversammlungen für einen Zeitraum von vier Jahren delegiert. Ihr Mandat kann maximal zwei Mal verlängert werden. (2) Die Hierarchen der Heiligen Synode nehmen an den Arbeiten der Kirchlichen Nationalversammlung teil. (3) Der Präsident der Kirchlichen Nationalversammlung ist der Patriarch. In seiner Abwesenheit werden die Sitzungen nach der im vorliegenden Statut vorgesehen Ordnung in Art.  12, Abs.  2 , geleitet. (4) Die Entscheidungen der Kirchlichen Nationalversammlung treten in Kraft, nachdem sie von der Heiligen Synode ratifiziert wurden.

107  Die Kircliche Nationalversammlung stellt eine gemischte Synode dar, d. h. eine Synode, die aus Bischöfen und Vertretern der Gläubigen (Kleriker und Laien) zusammengesetzt ist. Die Existenz dieser Synode wird von vielen historischen Belegen, sowohl in der Ostkirche als auch in der Westkirche attestiert, beginnend mit der Apostolischen Synode, sowie in den Texten bestimmter Kanones, die aber nicht zur offiziellen Kanonsammlung (corpus canonum) der Orthodoxen Kirche gehören. Die gemischte Synodalität widerspricht aber keineswegs der bischöflichen Synodalität, so wie die bischöftliche Synodalität der gemischten Synodalität nicht widerspricht, sondern beides sind komplementäre authentische und kanonische Formen der Synodalität bzw. der Art und Weise wie das Synodalprinzip in der Kirche angewandt wurde bzw. wird.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang Art.  21

Die Kirchliche Nationalversammlung kommt einmal pro Jahr zu einer Arbeitssitzung zusammen und außerordentlich, immer bei Bedarf. Die Kirchliche Nationalversammlung tritt auch in feierlichen Sitzungen zusammen. Art.  22

Die Aufgaben der Kirchlichen Nationalversammlung sind folgende: a. Unterstützung der Rechte und der Tätigkeiten der Rumänischen Orthodoxen Kirche; b. Genehmigung der Anwendungsregelungen des vorliegenden Statuts in Bezug auf die Tätigkeitsbereiche, die ihr von der Heiligen Synode übertragen wurden; c. Wahl der Mitglieder der Kirchlichen Nationalversammlung auf Vorschlag des Patriarchen; d. Bestimmung allgemeiner Maßnahmen für die Unterstützung kultureller, sozial-philanthropischer, wirtschaftlicher Angelegenheiten sowie zur Regelungen des kirchlichen Stiftungswesens; e. Festlegung der erforderlichen Maßnahmen zur Unterstützung der kirchlichen Zentralorgane und Zentralinstitutionen; f. Überprüfung und Genehmigung des allgemeinen jährlichen Berichts des Kirchliches Nationalrates bezüglich der Aktivitäten innerhalb der Orthodoxen Kirche und Entscheidung über die Maßnahmen, die für den guten Ablauf des kirchlichen Lebens zu treffen sind; g. Genehmigung des endgültigen Haushaltsplans (Budgets), der Bilanz sowie der Kosten- und Leistungsrechnung der Patriarchalverwaltung, des orthodoxen biblischmissionarischen Instituts und der kirchlichen Zentralbehörden mit missionarischem Zweck; h. Genehmigung des allgemeinen Haushalts der Patriarchaladministration, des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts sowie der kirchlichen Zentralbehörden mit missionarischem Zweck; i. Genehmigung einheitlicher Maßnahmen bezüglich der Verwaltung der beweglichen und unbeweglichen Güter, die sich im

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Besitz oder im Gebrauch der Kultstätten der gesamten Rumänischen Orthodoxen Kirche befinden sowie der Verwaltung von Stiftungsvermögen und Stiftungsgütern; j. Genehmigung sozialer und kultureller Projekte, sowie von Projekten für Ausbildung und Kommunikation (Öffentlichkeitsarbeit); k. Festlegung der Mittel für die Betreuung und Unterstützung der Rumänen außerhalb der Landesgrenzen; l. Ausübung jeder anderen Aufgabe, die ihr durch das Statut, durch kirchliche Satzungen oder von der Heiligen Synode übertragen wird. Art.  23

(1) Für die Überprüfung der Themen und die Formulierung der Vorschläge, die zur Debatte stehen, wählt die Versammlung auf Vorschlag des Präsidenten zu Beginn ihrer 4-jährigen Amtszeit, aus ihren Mitgliedern, Klerikern oder Laien, fünf permanente Arbeitsausschüsse, die jeweils einen vom Plenum designierten Präsidenten, Vizepräsidenten und einen Berichterstatter haben. Die Ausschüsse der Kirchlichen Nationalversammlung sind: a. Der Ausschuss für rechtliche und administrative Angelegenheiten, der auch für die Überprüfung und Bestätigung der Rechtmäßigkeit der kirchlichen Gesetze zuständig ist. b. Der Ausschuss für soziale Angelegenheiten sowie für Medien und Kommunikation. c. Der Ausschuss für Kultur und Ausbildung. d. Der Ausschuss für Wirtschaft, Haushalt und unbewegliches kirchliches Kulturgut (kirchliches Vermögen). e. Der Ausschuss für die orthodoxen Rumänen außerhalb der Grenzen Rumäniens und für die kirchlichen Auslandsbeziehungen. (2) Zu den Arbeiten des Ausschusses für die orthodoxen Rumänen aus dem Ausland und für die kirchlichen Auslandsbeziehungen können auch Vertreter, Kleriker und Laien, der rumänischen orthodoxen Epar-

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chien außerhalb der Grenzen Rumäniens eingeladen werden, wenn die Tagesordnung dies erforderlich macht. (3) Auf Einberufung des Präsidenten können sich die Ausschüsse der Kirchlichen Nationalversammlung auch zwischen den einzelnen Sitzungen dieser Versammlung treffen, wenn es erforderlich erscheint. Abschnitt II Die exekutiven Zentralorgane A.  Der Patriarch108 Art.  24

Der Patriarch ist der Vorsitzende109 unter den Hierarchen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Präsident aller beschließenden und exekutiven Zentralorga­ ne110. 108   In den Heiligen Kanones kommt der Begriff „Patriarch“ zum ersten mal erst in den Kanones der Synode des Trullanum vor (Kan.  2 , 7 und 36), doch Regelungen bezüglich des Vorstehers (πρῶτος) einer Lokalkirche finden sich in mehreren Kanones (gemäß Kan.  34 Ap.; 4, 6 und 7 I ökum.; 2 und 3 II ökum.; 1 und 8 III ökum.; 25 und 28 IV ökum.; 36 und 39 Trullanum; 11 VII ökum.; 9, 19 und 20 Antiochien; 52 und 55 Karthago; 14 und 14 I–II Konstantinopel; 12 Laodizea; 6 Sardika). 109   Nach der orthodoxen Ekkelsiologie, ist der Vorsteher (πρῶτος) einer Lokalkirche immer ein Bischof unter den Bischöfen der Synode dieser Kirche. Er ist aber der erste unter Gleichen (primus inter pares) (gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien), denn beim Dienst eines Vorstehers handelt es sich um eine Diakonie und nicht um eine Machtausübung. Die Heiligen Kanones sehen aber für den Vorsteher einer Lokalkirche auch einige Privilegien vor, wie beispielweise das Recht die Heilige Synode einzuberufen und ihre Sitzungen zu präsidieren (gemäß Kan.  4 I ökum.; 9 und 17 IV ökum.; 19 und 20 Antiochien), das Aufsichtsrecht über wichtige Tätigkeiten in seiner Kirche (gemäß 34 Ap.; 9 Antiochien), das Devolutionsrecht (gemäß Kan.  11 VII ökum), das Recht auf kanonische und pastorale Visite in den Eparchien seiner Lokalkirche (gemäß Kan.   52 Karthago), etc. 110  Gemäß Kan.  34 Ap.; 4, 6 I ökum.; 2 II ökum.; 9 Antiochien.

Art.  25

(1) Der Patriarch der Rumänischen Orthodoxen Kirche ist Erzbischof von Bukarest und Metropolit von Muntenien (Walachei) und Dobrogea (Dobrudscha) 111. (2) Sein Titel ist: „Ihre Seligkeit112, Der Selige Vater (N), Erzbischof von Bukarest, Metropolit von Muntenien (Walachei) und Dobrogea (Dobrudscha), Stellvertreter des Thrones von Cäsarea in Kapadokien und der Patriarch der Rumänischen Orthodoxen Kirche oder der Patriarch Rumäniens“. (3) Gemäß der Heiligen Kanones, der panorthodoxen Tradition und der Praxis der Rumänischen Orthodoxen Kirche wird der Patriarch bei den Gottesdiensten von den Metropoliten kommemoriert, die Metropoliten von ihren untergeordneten Hierarchen; die Erzbischöfe und Bischöfe werden von den Priestern kommemoriert113. (4) Der Patriarch trägt als besondere kirchliche Auszeichnung: ein Kreuz und zwei Engolpien, Kleider von weißer Farbe: Priesterrock und Rasa (Talar), Kulion und Kamilavka (Mönchsschleier über dem Hut) mit Kreuz. (5) Der Patriarch übt seine Rechte aus und erfüllt seine Aufgaben gemäß den Heiligen Kanones114, dem vorliegenden Statut und den (anderen) kirchlichen Satzungen. (6) Bei der Ausübung seiner Rechte und Pflichten erlässt der Patriarch: PatriarchalTomos115, Patriarchal-Grammata116 ; Patriar-

111   Artikel verändert durch die Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  9 084/ 26 September 1990. 112  Gemäß der Entscheidung der Ständigen Synode Nr.  3013/12 August 1950. 113   Gemäß Kan.  14 III Konstantinopel. 114   Vgl. die Anmerkungen 47, 48 s¸i 49. 115  Das Patriarchal -Tomos ist der offizielle Akt, der vom Patriarchen Rumäniens zur Rangerhebung einer Eparchie erlassen wird und von der Heiligen Synode genehmigt wird (gemäßder Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009). 116   Patriarchal-Grammata ist der offizielle Akt, der vom Patriarchen Rumäniens zur Amtseinführung eines Metropoliten oder zur Verleihung der Ehrenränge mancher Hierarchen erlassen wird (gemäßder

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

chalakte117; Beschlüsse118 und Patriarchalverfügungen, Urkunden zur Verleihung kirchlicher Orden, Auszeichnungen sowie kirchlicher Ränge119, die im vorliegenden Statut und den (anderen) kirchlichen Satzungen vorgesehen sind120. Art.  26

Der Patriarch der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat die folgenden Aufgaben: a. Einberufung und Vorsitz über die kirchlichen beschließenden und exekutiven Zentralorgane121 und Überwachung der Durchführung ihrer Entscheidungen122 ; b. Einberufung der Heiligen Synode innerhalb von maximal drei Tagen, in Fällen besonderer Dringlichkeit und höherer Gewalt123 ; Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009). 117  Der Patriarchalakt wird vom Patriarchen Rumäniens als Folge einer Entscheidung der Heiligen Synode zur öffentlichen Bekanntmachung der Wahl von Patriarchalvikarbischöfen, Vikarbischöfen in Bistümern und Erzbistümern erlassen (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009). 118  Der Patriarchalbeschluss wird vom Patriarchen Rumäniens erlassen zur: Festlegung von Daten der Wahlen kirchlicher Organe; Bestätigung und Auflösung der Eparchialversammlungen; Einrichtung provisorischen kirchlicher Körperschaften in Ausnahmefällen; Festlegung der Aufgabe der Eparchialvikarbischöfe; Ernennung und Festlegung des Tätigkeitsrahmens von Führungspersonal oder ausführendem Personal in kirchlichen Zentralinstitutionen; Einsetzung der Prüfungskommission für kirchliche Maler und Künstler (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009). 119  Diese sind: Patriarchalauszeichnung, Patriarchaldiplom und Patriarchalorden für Kleriker und Laien. Der Rang umfasst den Verleihungsakt und den jeweiligen Orden [d. h. das Führen des Titels] (gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  389/6 März 2008 und Nr.  4189/29 Oktober 2009). 120  Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009. 121  Gemäß Kan.   4 I ökum.; 9 und 17 IV ökum.; 19 und 20 Antiochien. 122   Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien. 123  Gemäß Kan.   4 I ökum.; 9 und 17 IV ökum.; 19 und 20 Antiochien.

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c. Einberufung der Ständigen Synode, bei der Festlegung, dass die Umsetzung einer Entscheidung der Heiligen Synode nicht zugunsten des kirchlichen Lebens ist, in einer außerordentlichen Sitzung, in der Formulierung- und Änderungsvorschläge für die Heiligen Synode zur Diskussion und Genehmigung gestellt werden, wodurch die vorherige Entscheidung geändert oder ergänzt werden kann124 ; d. Treffen der notwendigen Maßnahmen für die Vorbereitung und die Weihe des Heiligen und Großen Myron beim Rumänischen Patriarchat gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode125 ; e. Vertretung des Rumänischen Patriarchats gegenüber den öffentlichen zentralen und lokalen Behörden, gerichtlich und gegenüber dritten (Privat-) Personen, entweder persönlich oder durch dazu bevollmächtigte Delegierte126 ; f. Vertretung der Rumänischen Orthodoxen Kirche in ihren Beziehungen zu den anderen orthodoxen Schwesterkirchen, entweder persönlich oder durch Delegierte127; g. Vertretung der Rumänischen Orthodoxen Kirche in ihren Beziehungen zu den anderen christlichen Kirchen, sowie inner-christlichen, religiösen und inter-religiösen Organisationen, die sich im Lande oder außerhalb der Grenzen Rumäniens befinden, entweder persönlich oder durch Delegierte128 ; h. Mit Einverständnis der Heiligen Synode oder der Ständigen Synode das Verschicken und Veröffentlichen von Pastoralbriefen an die ganze Rumänische Orthodoxe Kirche129; i. Kanonische brüderliche Besuche der Hierarchen der Rumänischen Orthodoxen

  Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien.   Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien; 6 Karthago. 126  Gemäß Kan.  11 Antiochien; 97, 104 und 106 Karthago; 7, 8 und 21 Sardika. 127   Gemäß Kan.  9 Sardika. 128  Gemäß Kan.   34 Ap.; 9 Antiochien; 93 Karthago. 129   Gemäß Kan.  19 Trullanum. 124

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Kirche in ihren Eparchien, auf Einladung des jeweiligen Bischofs130 ; j. Irenische Besuche bei den anderen orthodoxen Kirchen und Sendung irenischer Briefe an die Vorsteher dieser Kirchen, zum Zweck der Wahrung der Einheit der Orthodoxie und Förderung der brüderlichen Gemeinschaft131; k. Offizielle Besuche bei anderen christlichen Kirchen sowie bei christlichen, religiösen und zivilen Organisationen zum Nutzen der Rumänischen Orthodoxen Kirche132 ; l. Überwachung der Einhaltung der Vorschriften des Statuts in Bezug auf die Besetzung der vakanten Eparchien133 ; m. Vorsitz in der Heiligen Synode bei der Wahl der rumänischen orthodoxen Metropoliten im Land und außerhalb der Grenzen Rumäniens134 ; n. Weihe, zusammen mit anderen Hierarchen, und Inthronisation der Metropoliten135 ; o. Erlass der Patriarchal-Grammata für die Inthronisation der Metropoliten136 und der Diözesanbischöfe außerhalb der Landesgrenzen, die unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats stehen, der Grammata für die Verleihung der Ehrentitel an Bischöfe (Erzbischof oder Metropolit) sowie das Patriarchal-Tomos zur Proklamation der Rangerhöhung einer Eparchie, aufgrund der Genehmigung durch die Heilige Synode137;

  Gemäß Kan.  52 Karthago.   Gemäß Kan.  9 Sardica. 132  Gemäß Kan.   34 Ap.; 9 Antiochien; 93 Karthago. 133   Gemäß Kan.  34 Ap.; 25 IV ökum.; 9 Antiochien. 134  Gemäß Kan.  34 Ap.; 4 I ökum.; 28 IV ökum.; 9 und 20 Antiochien. 135   Gemäß Kan.  4 I ökum.; 28 IV ökum.; 19 Antiochien. 136   Gemäß Kan.  4 I ökum.; 28 IV ökum.; 19 Antiochien; Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  8576/10 Juni 1973. 137  Gemäß Kan.  37 Ap.; 98 Karthago; Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4189/29 Oktober 2009. 130 131

p. Ernennung der Stellvertreter der Metropoliten falls die Metropolitansitze vakant sind138 ; q. Brüderliche Beratung der Hierarchen der rumänischen orthodoxen Eparchien innerhalb und außerhalb der Grenzen Rumäniens und Bemühen um Versöhnung, wenn Missverständnisse und Streitigkeiten unter den Hierarchen entstehen139; r. Überprüfung von Klagen gegen die Hierarchen innerhalb der Ständigen Synode und Mitteilung des Ergebnisses zur Kenntnis der Heiligen Synode140 ; s. Nach Beratung mit der Ständigen Synode, schlägt er der Heiligen Synode die Kandidaten für Patriachalvikarbischöfe vor und sitzt bei deren Wahl vor141; t. Ernennung, Bestrafung und Entlassen des Führungspersonals, sowie der anderen Kategorien des Personals, Kleriker und Laien, der Kanzlei der Heiligen Synode, der Patriarchalverwaltung, des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts und der anderen kirchlichen Zentralbehörden mit missionarischem Zweck, sowie des Personals der kirchlichen Einheiten innerhalb des Landes, von den Vertretungen, Gemeinden und kirchlichen Einheiten vom Ausland, die unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats sind, in einer Sitzung des Ständigen Kirchlichen Nationalrates142 ; t1. Einberufung und Vorsitz der Ausschusssitzungen für kirchliche Malerei, persönlich oder durch Delegierte; Genehmigung, Änderung oder Ablehnung der Entscheidungen des Ausschusses zum Zweck der Förderung der authentischen orthodoxen Malerei und der kirchlichen Einheiten; Ernennung der Mitglieder des Ausschusses; Sanktion und Entlassung von Ausschussmitgliedern bei Disziplinlosigkeit oder Inkompetenz; Erlass, Auf hebung oder Annullierung der Atteste der amtlich beglaubigten   Gemäß Kan.  25 IV ökum.   Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien. 140   Gemäß Kan.  74 Ap.; 6 II ökum.; 9 und 17 IV ökum.; 3 Sardika. 141  Gemäß Kan.   1 Ap.; 4 I ökum.; 28 IV ökum.; 19 Antiochien; 13 und 49 Karthago. 142   Gemäß Kan.  34 und 39 Ap.; 9 Antiochien. 138 139

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

Maler und Restaurateure in einer Sitzung des Ausschusses, wenn diese Atteste nicht den Erfordernissen des Ausschusse entsprechen143 ; u. Auflösung der Eparchialversammlungen durch Patriarchalentscheidung bezüglich der Neuwahl und Bestätigung der neuen Eparchialversammlungen144. Auflösung der Eparchialversammlung durch Erlass des Patriarchen auf Antrag des jeweiligen Diözesanbischofs oder seines Stellvertreters zum Zweck der Neuwahl, falls die Eparchialversammlung gegen die Kirche handelt145 ; v. Ausübung des Appellationsrechts und des Devolutionsrechts in Metropolien und Eparchien, die sich unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats befinden, um die kanonische und administrative Ordnung wiederherzustellen146 ; w. 147 Gründung im kirchlichen Interesse von Stavropigien148 mit vorheriger Zustimmung des Diözesanbischofs149 und mit Genehmigung der Heiligen Synode150, ausnahmsweise und mit berechtigter Begründung, gemäß der orthodoxen Tradition und dem rumänischen Brauch; die Stavropigien werden durch seine Delegierte organisiert und verwaltet;   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  705/27 April 2012. 144   Gemäß Kan.  34 Ap.; 9 Antiochien. 145   Gemäß Kan.  11 VII ökum. 146   Gemäß Kan.  11 VII ökum.; 52 und 55 Karthago; Novelle 123, I, 2. 147   Text festgelegt durch die Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  1515/7 März 2008. 148   Durch den Begriff „Stavropigien“ (aus dem griechischen Wort „σταυροπήγιον“ – „Aufstellung eines Kreuzes“) werden diejenigen Kirchen oder Klöster bezeichnet, die mit vorheriger Zustimmung des Diözesanbischofs und der Ge­ nehmigung der jeweiligen Bischofssynode unter direkter Jurisdiktion des Vorstehers einer autokephalen Kirche gestellt werden. Diese Ein­ richtung wurde im byzantinischen Reich geschaffen und war spezifisch für den Patriarchat von Konstantinopel. Später hat sich diese Praxis in der gesamten Orthodoxie durchgesetzt. 149   Gemäß Kan.  4 IV ökum.; 17 VII ökum.; 1 III Konstantinopel. 150   Gemäß Apg 15, 1–21; Kan.  14 und 34 Ap.; 7 III ökum.; 9 und 16 Antiochien. 143

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x. Verleihung patriarchaler Auszeichnungen an Kleriker und Laien der Rumänischen Orthodoxen Kirche, sowie an Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland, die die Aktivitäten des Rumänischen Patriarchats unterstützen151; y. Ausübung aller anderen Kompetenzen, die in den Heiligen Kanones, im vorliegenden Statut, und in den kirchlichen Satzungen vorgesehen werden oder ihm im Auftrag der Heiligen Synode übertragen wurden. Art.  27

Für die laufenden Aktivitäten steht dem Patriarchen das Patriarchatkabinett zur Verfügung, die von einem Berater des Patriarchen durch entsprechendes Personal und einschlägige Dienste wie Sekretariat, Registratur, Archiv, Bibliothek usw. koordiniert wird; B.  Der Kirchliche Nationalrat Art.  28

Der Kirchliche Nationalrat ist ein exekutives Zentralorgan der Heiligen Synode und der Kirchlichen Nationalversammlung. Art.  29

(1) Der Kirchliche Nationalrat kommt auf Einberufung des Präsidenten mindestens zweimal pro Jahr oder immer bei Bedarf zusammen. (2) Der Kirchliche Nationalrat setzt sich aus zwölf Mitgliedern der Kirchlichen Nationalversammlung zusammen: jeweils einem Kleriker und einem Laien als Stellvertreter jeder Metropolie im Inland. Sie werden auf vier Jahre designiert und für maximal zwei Mandatzeiten. (3) Der Präsident des Kirchlichen Nationalrates ist der Patriarch152, und gemäß der Regelung des Art.   12 Abs.   2 des vorliegenden Statuts, in seiner Abwesenheit sein 151   Gemäß Kan.  34, 38 und 41 Ap.; 9 Antiochien; Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  389/7 März 2008. 152  Gemäß Kan.  34 Ap.; 4, 6 I ökum.; 2 II ökum.; 9 Antiochien.

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Stellvertreter. Die Mitglieder der Heiligen Synode können mit beschließender Stimme an den Arbeiten des Rates teilnehmen. (4) Die Vikarpatriarchalbischöfe sind reguläre Mitglieder des Kirchlichen Nationalrates mit beschließender Stimme. (5) Der Vikarpatriarchalbischof, der für die Verwaltung zuständig ist, die Patriarchalberater und der Kirchliche Generalinspektor sind ständige Mitglieder des Kirchlichen Nationalrates mit beratender Stimme. (6) Der Kirchliche Nationalrat trifft gültige Entscheidungen durch Konsens oder mit der absoluten Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder. (7) Sekretär der Sitzungen ist der Koordinatorberater des Patriarchalkabinetts. In seiner Abwesenheit übt einer der Patriarchalberater, der vom Patriarch designiert wird, dieses Amt aus. Art.  30

Der Kirchliche Nationalrat übt zwischen den Sitzungen der Kirchlichen Nationalversammlung diejenigen seiner Aufgaben aus, die in Art.  22, lit.  a, d und e vorgesehen sind, sowie folgende zusätzliche Aufgaben: a. Verfassen des jährlichen Berichts über die allgemeine Tätigkeit der Rumänischen Orthodoxen Kirche; b. Erstellung der (endgültigen jährlichen) Bilanz sowie der Kosten- und Leistungsrechnung der Patriarchalverwaltung, des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts und der anderen zentralkirchlichen Behörden mit missionarischem Zweck; c. Erstellung des allgemeinen Haushaltsplans (Budgets) der Patriarchalverwaltung, des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts sowie der anderen zentralkirchlichen Behörden mit missionarischem Zweck; d. Genehmigung des Arbeitsprogramms des Verlages, der Druckerei und der Abteilungen des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts. e. Entscheidung über die Verwaltung der beweglichen und unbeweglichen Güter der Patriarchalverwaltung, des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts sowie der anderen zentralkirchlichen Institutionen mit

missionarischem Zweck und der zentralkirchlichen Stiftungen; f. Entscheidung, mit vorheriger Genehmigung der Ständigen Synode, über die Veräußerung, in welcher Form auch immer, der kirchlichen unbeweglichen Güter des Rumänischen Patriarchats (Verkauf oder Tausch, Spende, Abtretten von strittigen Rechten etc.), ausgenommen der Sakralgüter, die unveräußerlich sind153 ; g. Ausübung aller anderen Kompetenzen, die ihm durch den Statut, oder durch die Entscheidungen der Heiligen Synode oder der Kirchlichen Nationalversammlung übertragen wurden; C.  Der Ständige Kirchliche Nationalrat Art.  31

(1) Zwischen den Sitzungen des Kirchlichen Nationalrates tagt der Ständige Kirchliche Nationalrat als exekutives Zentralorgan. (2) Er setzt sich aus dem Patriarchen – als Präsidenten154, den Vikarpatriarchalbischöfen, dem Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten, den Patriarchalberatern und dem kirchlichen Generalinspektor der Gesamtkirche als Mitgliedern zusammen und trifft gültige Entscheidungen durch Konsens der anwesenden Mitglieder. Je nach Tagesordnung können auch die Vorsteher der Eparchien, Vertretungen, Gemeinschaften und andere kirchliche Einheiten aus dem In- und Ausland teilnehmen, die unter direkter Jurisdiktion des Rumänischen Patriarchats stehen155. (3) Auf Betreiben des Patriarchen kann ein Vikarpatriarchalbischof dem Ständigen Kirchlichen Nationalrat vorsitzen. In diesem Fall soll das Sitzungsprotokoll vom Patriarchen genehmigt werden. Die Entschei153   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  3781/18 Juni 2009 und Nr.  4645/7 Juli 2010. 154  Gemäß Kan.  34 Ap.; 4, 6 I ökum.; 2 II ökum.; 9 Antiochien. 155   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  7303/29 Oktober 2010.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

dungen treten erst nach ihrer schriftlichen Bestätigung durch den Patriarchen in Kraft. Art.  32

Der Ständige Kirchliche Nationalrat, dessen Vorsitz dem Patriarchen obliegt, hat die Aufgaben des Kirchlichen Nationalrates, mit Ausnahme derer, die in Art.  30 lit.  f. vorgesehen sind, wahrzunehmen, und zwar in der Zeit zwischen seinen Sitzungen, sowie zusätzlich die folgenden Kompetenzen zu übernehmen: a. Überprüfung aller kirchlichen, missionar-pastoralen, kulturellen, sozialen, und administrativen Verwaltungsangelegenheiten sowie aller wirtschaftlich-finanziellen usw. Probleme der zentralkirchlichen Einrichtungen und Behörden, die als Thema zur Debatte der beschließenden und exekutiven Zentralorgane gestellt werden und macht Vorschläge gemäß den kirchlichen Satzungen; b. Überprüfung und Fertigstellung der jährlichen Berichte über die Aktivität der zentral-kirchlichen Behörden; c. Vorlage des Haushaltsplans (Budgets), der Bilanz sowie der Kosten- und Leistungsrechnung der zentralkirchlichen Behörden zur Fertigstellung; d. Vorlage des Jahresplans des Generalhaushaltes der zentralkirchlichen Institutionen zur Fertigstellung; e. Verfassen der jährlichen Arbeitsprogramme der zentralkirchlichen Behörden; f. Analyse und Unterbreiten von Vorschlägen an den Kirchlichen Nationalrat über die Art und Weise, in der die beweglichen und unbeweglichen Güter der zentralkirchlichen Behörden und der zentralkirchlichen Stiftungen zu verwalten sind; g. Verwaltung des zentral-missionarischen Fonds innerhalb des von der Heiligen Synoden genehmigten Haushalts und die jährliche Vorstellung des endgültigen Haushaltsplanes bei der Heiligen Synode; h. Verwaltung der speziellen Fonds, die auf der Ebene der Patriarchalverwaltung konstituiert sind, gemäß ihrer Zweckmäßigkeit und innerhalb der angesammelten Summen. Er informiert die Heilige Synode jährlich über deren aktuelle Lage;

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i. Genehmigung der Investitionsprojekte im Rahmen des Budgets der Patriachalverwaltung, des orthodoxen biblisch-missionarischen Instituts und der anderen zentralkirchlichen Behörden mit missionarischem Zweck; j. Bemühung um die Unterstützung für die internen und internationalen Aktivitäten, die vom Rumänischen Patriarchat durch die zentralkirchlichen Institutionen organisiert werden, bei den nationalen und lokalen öffentlichen Autoritäten sowie bei anderen Institutionen. Zudem die Bemühung um andere Unterstützungsformen aus staatlichen oder regionalen Budgets, die der Kirche im Allgemeinen oder Kultuseinheiten innerhalb oder außerhalb der Grenzen Rumäniens zur Verfügung gestellt werden können. k. Entscheidung über die Annahme von Spenden, Vermächtnissen, Sponsoring und Güterkauf durch das Rumänische Patriarchat für seine zentralen Institutionen; sowie bezüglich der zusätzlichen Reallast der unbeweglichen kirchlichen Güter (Vermietung, langfristige Nutzung, Verpachtung) bzw. deren Nutzungrechtzuweisung; l. Genehmigung der Gründung und Organisation der Einrichtungen mit wirtschaftlichen Charakter mit oder ohne den Rechtsstatus einer juristischen Person, die sich von kirchlichen zentraladministrativen Einheiten oder der ihnen untergeordneten Einheiten unterscheiden, zur Unterstützung der missionarisch-pastoralen und sozial-philanthropischen Aktivitäten dieser, gemäß der Vorgaben des vorliegenden Status, der kirchlichen Satzungen und der geltenden Gesetzgebung; m. Ausübung aller anderen Aufgaben, die ihm durch den Statut, kirchliche Satzungen und Entscheidungen der Heiligen Synode, der Ständigen Synode und der Kirchlichen Nationalversammlung übertragen wurden; Art.  33

(1) Der Ständige Kirchliche Nationalrat tritt in der Regel wöchentlich auf Einberufung durch den Präsidenten oder seinen Delegierten zusammen.

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(2) Der Koordinationsberater des Patriarchalkabinetts oder in seiner Abwesenheit einer von den anderen Beratern des Patriarchen, der vom Präsidenten designiert wird, verfasst das Protokoll der Sitzungen des Ständigen Kirchlichen Nationalrates. Art.  34

Die Entscheidungen des Ständigen Kirchlichen Nationalrates werden von der Kanzlei der Heiligen Synode und den Abteilungen der anderen zentralkirchlichen Behörden ausgeführt. Abschnitt III Zentraladministrative Organe Art.  35

(1) In der Ausübung seiner Exekutivaufgaben als Präsident der beschließenden und exekutiven Zentralorgane und als Vorsteher der Rumänischen Orthodoxen Kirche wird der Patriarch unterstützt von: A. der Kanzlei der Heiligen Synode B. der Patriarchalverwaltung (2) Im Auftrag des Patriarchen werden die Kanzlei der Heiligen Synode, die Abteilungen der Patriarchalverwaltung und die anderen kirchlichen Zentralinstitutionen von den Vikarpatriarchalbischöfen oder von einem Delegierten des Patriarchen koordiniert. (3) Die Vikarpatriarchalbischöfe werden von der Heiligen Synode gemäß der Regelung des Art.  131 des vorliegenden Statuts gewählt und haben dieselben Rechte in Kommemoration und Ehre wie die Diözesanbischöfe156. (4) Die Vikarpatriarchalbischöfe erfüllen die ihnen durch Entscheidung des Patriarchen übertragenen Aufgaben157 und verrichten, als Delegierte des Patriarchen von Rumänien, liturgische Dienste in der Hauptstadt und im Erzbistum Bukarest; da156   Gemäß der Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  3161/26 Februar 1950, Nr.   8576/10 Juni 1973, Nr.   1047/24 Februar 2000. 157   Gemäß der Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr. 3161/ 26 Februar 1950.

rüber hinaus haben sie eine Vertretungsfunktion vor zentralen und lokalen Behörden, sowie in Beziehungen zu Organisationen aus dem In- und Ausland158. A. Die Kanzlei der Heiligen Synode Art.  36

(1) Die Kanzlei der Heiligen Synode ist ein administrativ-zentrales Organ der Heiligen Synode, der Ständigen Synode, der Kirchlichen Nationalversammlung, des Patriarchen, des Kirchlichen Nationalrates sowie des Ständigen Kirchlichen Nationalrates. (2) Der Sekretär der Heiligen Synode leitet aufgrund patriarchaler Entscheidung die Kanzlei der Heiligen Synode und wird dabei vom Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten und vom zuständigen Patriarchalberater unterstützt. (3) Der Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten bereitet zusammen mit dem Patriarchalberater der Kanzlei der Heiligen Synode unter der Leitung des Vikarpatriarchalbischofs die Arbeiten für die Einberufung der kirchlichen beschließenden und exekutiven Zentralorgane vor, sowie alle anderen Angelegenheiten, die von ihnen überprüft werden sollen. (4) Die Kanzlei der Heiligen Synode verfasst, archiviert und bearbeitet zum Zecke der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche“ („Biserica Ortodoxa Româna“) die Protokolle der Arbeitssitzungen der zentralkirchlichen Organe. Sie teilt den Eparchialzentren ihre Entscheidungen mit und überwacht die Ausführung der Entscheidungen mit Ausnahme derer, die in den Zuständigkeitsbereich der Abteilungen der Patriarchalverwaltung, die im Art.  38 des vorliegenden Statutes vorgesehen sind oder (in den Zuständigkeitsbereich) anderer zentralkirchlicher Behörden fallen.

158   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  4159/18 Juni 2009 und Nr.  897/11 Februar 2010.

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

(5) Sie verfasst die Korrespondenz der kirchlichen Zentralorgane und des Präsidenten dieser Organe mit den zentralen öffentlichen Behörden bezüglich aller Angelegenheiten, die sich auf das religiöse Leben der Rumänischen Orthodoxen Kirche beziehen. (6) Sie verfasst und legt die Patriarchalentscheidungen für die Bestimmung der Aufgaben des Führungspersonals der Kanzlei der Heiligen Synode und anderer kirchlichen Zentralinstitutionen zur Genehmigung vor. (7) Sie sammelt in einer zentralen Datenbank die Daten, die alle Bereiche des religiösen Lebens des Rumänischen Patriarchates betreffen, zum Zwecke der Archivierung und Veröffentlichung in der kirchlichen Presse. (8) Die Kanzlei der Heiligen Synode ist diejenige, die die Siegel der Heiligen Synode auf bewahrt. (9) Für die Erfüllung ihrer Aufgaben als zentrales administratives Organ hat die Kanzlei der Heiligen Synode folgende Abteilungen: das kanonisch-juristische Amt159, die kirchliche Inspektionsbehörde (für Disziplinarangelegenheiten und Lehre), das Sekretariat, die Registratur und das Archiv, die Personalverwaltung und -entwicklung, die Bibliothek der Heiligen Synode sowie andere Abteilungen, deren Tätigkeit vom Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten koordiniert wird.

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Kirchensänger/Schulen für Kunst und Handwerk), die Kompetenz in den liturgischen, geistlichen und administrativen Bereichen besitzen; (2) Die Mitglieder der kirchlichen Inspektionsbehörde (für Disziplinarangelegenheiten und Lehre) sind im Auftrag des Patriarchen gemäß der im Statut, in den kirchlichen Satzungen und in den geltenden staatlichen Gesetzen vorgesehene Befugnisse tätig. B. Die Patriarchalverwaltung Art.  38

(1) Die Patriarchalverwaltung als zentrales administratives Organ ist für die Analyse und das Verfassen von Referaten bezüglich kirchlicher Probleme, die in die Kompetenz der beschließenden und exekutiven Zentralorgane fallen, zuständig. Sie umfasst folgende spezielle Administrativabteilungen: 1. die theologisch – pädagogische Abteilung, 2. die sozial – philanthropische Abteilung160, 3. die Abteilung für kirchliche Kulturstätten (einschließlich der Ausschuss für kirchliche Malerei und das Ausbildungszentrum für Bewahrung des Kulturgutes), 4. die Abteilung für Kommunikation und öffentliche Beziehungen (Pressezentrum BASILICA161),

Art.  37

(1) Die kirchliche Inspektionsbehörde (für Disziplinarangelegenheiten und Lehre) setzt sich zusammen aus: a) Einem kirchlichen Generalinspektor, der allgemeine kirchliche Inspektionsbefugnis hat (für Disziplinarangelegenheiten und Lehre), der auch Referent beim Kirchlichen Oberkonsistorium ist; b) Inspektoren für die theologischen Lehrinstitutionen auf Universitäts- und Schulebene (theologische Fakultäten, theologische Lyzeum-Seminare und Schulen für 159   Gemäß Kan.  75 und 97 Karthago; gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr. 853/2009.

160   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  845/13 Februar 1997. 161  Auf Initiative Seiner Seligkeit, Patriarch Daniel, wurde am 27 Oktober 2007das Pressezentrum Basilica des Rumänischen Patriarchats gegründet, dem gehören: der Radiosender TRINITAS; das Fernsehen TRINITAS; die Veröffentlichungen: die Zeitung Lumina (das Licht), Lumina de duminica (das Sonntagslicht) und Vesitorul Ortodoxiei (der Verkünder der Orthodoxie), die Nachrichtenagentur BASILICA und das Presseund Kommunikationsbüro des Rumänischen Patriarchates. Der Offizialakt mit dem das Pressezentrum BASILICA des rumänischen Patriarchats gegründet wurde, ist die Patriarchalentscheidung Nr.  17/2008.

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5. die Abteilung für kirchliche Denkmäler und Kirchenbau, 6. die zwischenkirchliche und interreligiöse Abteilung und die kirchlichen Gemeinschaften außerhalb des Landes 7. die Abteilung für das Pilgerwesen, 8. die Abteilung für die patriarchale Stavropigien und Sozialzentren, 9. die ökonomisch – finanzielle Abteilung (mit folgenden Diensten: Buchhaltung, Güter und Finanzprognosen), 10. die Abteilung für Finanzkontrolle und internes Audit (Controlling)162, (2) Durch Entscheidungen des Ständigen Kirchlichen Nationalrates können auch andere Abteilungen und Dienststellen innerhalb der Patriarchalverwaltung gegründet werden. (3) Durch Patriarchalentscheidung koordinieren die Patriarchalvikarbischöfe die Abteilungen der Patriarchalverwaltung und werden in dieser Aufgabe vom zuständigen Patriarchalberater oder von Inspektoren des jeweiligen Fachbereichens unterstützt. (4) Durch die administrativen Fachabteilungen und die einschlägigen Dienste analysiert die Patriarchalverwaltung die spezifischen kirchlichen Probleme, die in die Kompetenz der beschließenden und exekutiven Zentralorgane fallen, teilt den Eparchialzentren die Entscheidungen dieser Organe mit und registriert ihre Durchführung. Art.  39

(1) Der Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten, die Patriarchalberater und Patriarchalinspektoren werden gemäß Art.  26 lit.  t des vorliegenden Statuts von den Priestern, die einen Doktortitel besitzen, einen Masterabschluss, einen Hochschulabschluss in Theologie oder in anderen Fachbereichen haben, die ein besonderes Engagement zeigen und besondere Fähigkeiten aufweisen können und gegen die keine kanonisch-juristischen Hindernisse oder strafrechtliche Verurteilungen vorliegen163, er  Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  3781/18 Juni 2009. 163   Gemäß der Entscheidung der Heiligen Synode Nr.  6568/23 Oktober 1996. 162

nannt und berufen. Die Kleriker der zentralkirchlichen Behörden können als Pfarrer bei den Pfarrgemeinden direkt (ohne Auswahlverfahren) vom Patriarchen ernannt werden. (2) Der Tätigkeitsbereich und die Aufgaben des Patriarchalvikars für administrative Angelegenheiten, der Patriarchalberater und der Patriarchalinspektoren, die sie als Mitglieder oder als Eingeladene des Ständigen Kirchlichen Nationalrats innerhalb der von ihnen zu koordinierenden Abteilungen erfüllen müssen, werden durch Patriarchalentscheidung festgelegt. (3) Der Patriarchalvikar für administrative Angelegenheiten und die Patriarchalberater nehmen an den Sitzungen der beschließenden und exekutiven Zentralorgane mit beratender Stimme und bei den Sitzungen des Ständigen Kirchlichen Nationalrats mit beschließender Stimme, teil. (4) Bei beiden kirchlichen Zentralinstitutionen sind für die Stellen mit Exekutivfunktion, Fachpersonal, Kleriker, Mönche und Laien angestellt. Das Fachpersonal wird vom Patriarchen in einer Sitzung des Ständigen Kirchlichen Nationalrats ernannt, versetzt oder befördert. (5) Alle unter Abs.  1 und 4 erwähnten Kategorien vom Personal, Kleriker, Mönche und Laien, werden vom Patriarchen in einer Sitzung des Ständigen Kirchlichen Nationalrats sanktioniert bzw. wegen nichtordnungsgemäßer Tätigkeitsdurchführung oder Disziplinarverfehlungen gemäß den Regelungen des vorliegenden Statutes und kirchlichen Regulamenten/Satzungen abberufen. Teil  I I Die örtliche Verwaltung Art.  40

(1) Die Rumänisch-Orthodoxen Kirche, die als Patriarchat organisiert ist, gliedert sich in folgende Einheiten auf: Pfarrgemeinde Kloster Erzpriesteramt Vikariat Eparchie (das Erzbistum und das Bistum) Metropolie

Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche – Textanhang

(2) Mit dem Segen des Ortsbischofs und der Genehmigung des Ständigen Eparchialrats können Vereine, Stiftungen und Institutionen mit wirtschaftlichem Charakter zur Unterstützung der sozial-philantrophischen, sozial-medizinischen, kulturell-erzieherischen und der missionarischen Tätigkeiten der Kirche gegründet und organisiert werden. (3) Jede von den oben genannten Einheiten hat als Bestandteile der Kirche, gemäß den Regelungen des vorliegenden Statutes das Recht auf autonome Leitung und Verwaltung gegenüber anderen gleichrangigen Verwaltungseinheiten und durch seine gewählten Vertreter, Kleriker und Laien, für die Pfarrgemeinden und Eparchien an den Arbeiten der übergeordneten Verwaltungseinheiten teilzunehmen. (4) Die Art und Weise der Konstituierung und der Tätigkeit dieser Körperschaften und der örtlichen Organe gleichen Grades gilt einheitlich für die ganze Rumänische Orthodoxe Kirche.

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Über die rechtliche Person Art. (41)

(1) Das Patriarchat, die Metropolie, das Erzbistum, das Bistum, das Vikariat, das Erzpriesteramt, das Kloster und die Pfarrgemeinde sind juristische Personen164 des Privatrechts und vom öffentlichen Interesse165, mit im vorliegenden Statut vorgesehenen Rechten und Pflichten. (2) Diese juristischen Personen haben das Recht auf zwei eigene Steuernummer für Steuerregistrierung, sowohl für unentgeltliche Aktivitäten als auch für wirtschaftliche Aktivitäten. Art.  42

Über die Gründung und Auf hebung der o.g. Körperschaft der Rumänischen Orthodoxen Kirche wird die zuständige nationale öffentliche Zentralverwaltungsbehörde in Kenntnis gesetzt. (Übersetzt von Ilie Ursa)

  Gemäß der Entscheidung der Kirchlichen Nationalversammlung Nr.  8576/10 Juni 1973. 165  Gemäß Art.  8 Abs.  1 und 2 des Gesetzes 489/2006. 164

Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen* von

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Dieses Gedächtnisblatt ist einem spanischen Gelehrten gewidmet, der die weltweit jüngsten Entwicklungen im vergleichenden Verfassungsrecht mit großer Intensität verfolgt hat. Ein Gespräch mit ihm könnte über folgende Thesen gelingen: 1.  Die „Welt des Verfassungsstaates“ bzw. die „Verfassung im Diskurs der Welt“ waren suggestive Titel zweier Festschriften aus den Jahren 1999 bzw. 2004. Seit längerem ist in Deutschland von der „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ die Rede. Der Verf. selbst sprach immer wieder vom Völkerrecht als „konstitutionellem Menschheitsrecht“. D. Thürer prägte das suggestive Wort vom „kosmopolitischen Staatsrecht“ (2005). Zuletzt wagte M. Kotzur einen Beitrag über den „Rechtsstaat im Völkerrecht“ (2013). 2.  2001 schlug der Verf. dieser Zeilen für Deutschland und andere EU-Länder den Begriff der „nationalen Teilverfassungen“ vor, die durch die Teilverfassungen des Europäischen Verfassungsrechts teils komplementär ergänzt, teils überlagert, teils kumuliert werden. Brückenelemente zum Völkerrecht hin baut der „kooperative Verfassungsstaat“ (1978) bzw. die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ (BVerfG). Die EU ist heute weltweit die regionale Verantwortungsgemeinschaft mit der größten Dichte, aber auch andere Nationalstaaten leben als kooperative Verfassungsstaaten im Kontext der Globalisierung nur noch ihre nationalen Teilverfassungen. W. v. Simson sprach früh von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“. Heute ist der kooperative Verfassungsstaat durch die Teilverfassungen des Völkerrechts bedingt. 3.  Viele Themen wandern ganz oder teilweise vom nationalen Verfassungsstaat in das Völkerrecht und seine Teilordnungen. Beispiele sind die beiden universalen Menschenrechtspakte von 1976: im Geiste der großen Texte von 1776, 1789 etc. und vielen nationalen Menschenrechtskatalogen kodifiziert, in jüngster Zeit vor allem Mosaiksteine des Rechtsstaates und angesichts der wachsenden Zahl von Internationalen Gerichten auch Elemente der Gewaltenteilung (richterliche Unabhängigkeit). Teilverfassungen in diesem Sinne sind vor allem die UN-Charta (1945) und die zahlreichen UN-Konventionen. Genannt seien die Haager (1945), Genfer (1907)   Zum Gedächtnis an Professor Raffaelo Barranco, Universität Granada (verstorben im Juli 2013).

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und Wiener Konventionen (1961/69), die Kinderrechtskonvention (1989), Behindertenkonvention (2006), Konventionen gegen die Folter (1984) und Rassendiskriminierung (1966), auch die Statute von Internationalen Gerichten wie des IGH in Den Haag (1945) oder des Internationalen Strafgerichtshofes (1998) ebendort sowie Menschenrechtsgerichtshöfe wie der EGMR in Straßburg und der Interamerikanische Gerichtshof in Costa Rica, auch der Internationale Seegerichtshof. 4.  Aus folgenden Gründen wird für das Völkerrecht von „Teilverfassungen“ gesprochen: Faktisch sind die Verträge von langer Dauer, Verfassungen ähnlich. Die Wichtigkeit der von der Weltöffentlichkeit getragenen Themen wie der Konvention gegen Völkermord (1948), Kinderrechtskonvention (1989), dem Artenschutzabkommen (1973), dem humanitären Völkerrecht, dem Umweltvölkerrecht (1979/85/87/ 92/97) und dem Weltraumrecht (1967/72), liegt auf der Hand. Es handelt sich um Orientierungswerte, Ideale bzw. hohe Texte wie „Gerechtigkeit“, „Weltfrieden“, „Interessen der Menschheit“, „Würde des Menschen“, die teilweise aus dem nationalen Verfassungsrecht stammen. Man denke ferner an rechtsstaatliche und sozialstaatliche Elemente im völkerrechtlichen Status der Flüchtlinge (1951/67) sowie an die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, z. B. an den Grundsatz von Treu und Glauben; er ist in manchen völkerrechtlichen Dokumenten ausdrücklich verankert (z. B. Art.  2 Ziff.  2 Charta der UN (1945), Art.  31 Abs.  1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (1961)) und er ist klassisch seit den großen Privatrechtskodifikationen alter Nationalstaaten bekannt. Konstitutionell sind diese Normen auch deshalb, weil sie jede Art von Macht auf ihrem jeweiligen Gebiet beschränken wollen. „Anregung und Schranke“ zu sein, war ein Element des Verfassungsverständnisses von R. Smend. Dies gilt analog auch für viele völkerrechtliche Prinzipien. Gleiches gilt für U. Scheuners Verständnis der Verfassung als „Norm und Aufgabe“, d. h. jetzt: Völkerrecht als Norm und Aufgabe – bis hin zur Völkerrechtpolitik. 5.  Bemerkenswert ist die Osmose zwischen den Teilverfassungen des Völkerrechts und nationalen Teilverfassungen. Wir beobachten eine Verzahnung der rechtlichen Prinzipien, ein Geben und Nehmen zwischen dem kooperativen Verfassungsstaat und dem Völkerrecht. Man denke an die Kinderrechte, das Verbot der Sklaverei, den Schutz der Artenvielfalt und die kulturelles Erbes-Klauseln, hier wie dort. Wir sehen eine Relativierung des klassischen Innen-/Außenschemas. Die Entdeckung des „sub­jektiven internationalen Rechts“ (A. Peters) gehört hinzu. 6.  Ein Pluralismus der Akteure in diesen lebendigen Prozessen ist charakteristisch. Akteure sind u. a. die NGO’s, nationale Gerichtshöfe, Internationale Gerichte wie die UN-Tribunale nach dem Vorbild der innerstaatlichen Unabhängigkeit der dritten Gewalt, sodann die Staaten, die internationalen Organisationen, letztlich sogar die Bürger, die ihre Grundfreiheiten und sozialen Rechte in Anspruch nehmen und ausbauen. Es kommt zu einem Schulterschluss zwischen den zahlreichen nationalen Verfassungsrechten und -gerichten und dem Völkerrecht. Nicht zuletzt sei die Wissenschaft genannt: die „fähigsten Völkerrechtslehrer der verschiedenen Nationen“ des Völkerrechts (vgl. Art.  38 Abs.  1 lit.  d Statut des Internationalen Gerichtshofes von 1945) sind langfristig ebenso Akteure wie die nationalen und überregionalen Wissenschaftlergemeinschaften. Es geht auch um „Völkerrechtspolitik“. 7.  Mit diesen Thesen zur Verschränkung von nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen wird nur einem „universalen Konstitutionalismus“ das Wort gere-

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det, keinem „Weltrecht“ oder sogar Weltstaat. Nur punktuell sollte der Begriff „Weltrechtskultur“ verwendet werden, etwa im Blick auf die Konventionen zum Schutz des Weltkulturerbes (1972) und der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2005), auch der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe (2003/2013), oder dem Verbot der Sklaverei, der Abschaffung der Todesstrafe (1989) und der Bekämpfung der Piraterie und dem Seerechtübereinkommen (1982). Das innerstaatliche Verfassungsrecht und die völkerrechtlichen Teilverfassungen stehen nach Themen und Akteuren in einem lebendigen Wirkungszusammenhang. Das herkömmliche Trennungsdenken ist überholt: Das Völkerrecht bereichert sich aus dem innerstaatlichen Verfassungsrecht, umgekehrt wandern Themen vom Völkerrecht in den innerstaaatlichen Bereich, vor allem über die Brücke des „kooperativen Verfassungsstaats“.

Werte an der Front Eine Geschichte der Lehren Heinrich Herrfahrdts von

Prof. Dr. Jörg Luther, Universität Piemonte Orientale Der Gegenwart des öffentlichen Rechts dient seine Geschichte zur Anleitung der Wissenschaft und legitimiert ihren Anspruch, kulturelle Rechtsquellen zu bilden. Erkenntnisquellen dieser Kultur und ihres Verhältnisses zur Politik sind auch Lebensläufe, Festschriften, Nachrufe und Bilder von Staatsrechtslehrern. Diese biographische Erinnerungskultur und ihre Erforschung stützt die Verfassungskultur, wenn Selbstdarstellungen quellenkritisch hinterfragt, Mythenbildungen und Lobpreisungen durch Schüler ebenso wie Anklagen und Abrechnungen durch Gegner oder allgemein übereilte vergleichende Bewertungen vermieden werden. Auch Staatsrechtslehrer sind keine Heiligen, selten Helden, häufig nur Kinder ihrer Zeit und Persönlichkeiten, deren freie Entfaltung die Geschichte nicht immer gestattet. Mit diesen Vorsätzen soll eine Lebensgeschichte erzählt werden, die vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik reichte und eng mit jener Verfassungsgeschichte verflochten war, deren Pflege und Gestaltung sie gewidmet war. Es ist eine deutsche Beamten- und Staatsgeschichte, eine Geschichte der „Berufsstände“ eines Offiziers, Richters und Staatsrechtslehrers. Heinrich Herrfahrdt war Frontkämpfer des ersten und Stabsoffizier des zweiten Weltkriegs, Landgerichtsrat in Greifswald (1926–1933) und Landgerichtspräsident in Marburg (1945) sowie diskussionsfreudiges Mitglied der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (1927–1969), dessen 1933 verhindertes Referat zur Reichsreform ebenso wie das Referat zum Rechtsstaatsprinzip von 1949 ein besonderes Licht auf die politischen Bedingungen und geschichtlichen Grenzen der Wirksamkeit der Staatslehre werfen. Sein Spruchkammerverfahrens klärte nicht, inwieweit er gegen die Weimarer Reichsverfassung war, ob er eher für oder gegen den Nationalsozialismus wirkte und warum er auch in der Bundesrepublik eher demokratieskeptisch blieb.1 Von den Marburger Kollegen öffentlich geehrt,2 sah man ihn teils als jungkonservativen Ver1   M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  III: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, 92, 306. 2  Vgl. F. v. Hippel, Oberhessische Presse, 22.2.1951, E. Schwinge in: Festgabe für Heinrich Herr-

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fechter einer autoritären korporativen Staatsidee und Anhänger der Präsidialregierung,3 teils als sozialkonservativen Verteidiger des Rechtsstaats4 und des konstruktiven Misstrauensvotums.5 Der im Marburger Staatsarchiv auf bewahrte Nachlass bietet heute einen Einblick in seine Werkstatt: ein umfangreiches Archiv der Verfassungs- und Verwaltungslehre seiner Zeit, Chroniken, Ländermappen, „Leitsätze“ und „Gesichtspunkte“, unveröffentlichte Manuskripte, Briefe an Politiker und Kollegen. Sie werfen neues Licht auf die Genealogie seiner Wertetheorie (1.), die Berliner und Greifswalder Umbauanleitungen für die Weimarer Reichsverfassung (2.), die Marburger Lehren „idealistischer Konstitutionalisierung“ im „Dritten Reich“ (3) den Wiederauf bau in Hessen und die Aussichten auf eine neue Weltordnung (4).

1.  Von Kolberg nach Bonn und an die Front: die Genealogie der Wertetheorie Heinrich Herrfahrdt wurde am 22.  2. 1890 im ostpreussischen Genthin geboren.  1908 absolvierte er das humanistische Gymnasium in Kolberg, um wie der Vater Leutnant zu werden. Ein gegen Ende der dreißiger Jahre selbstgefertigter Lebenslauf vermerkt: „während des Heeresdienstes Beschäftig. mit osteurop. u. asiatischen Sprachen“. Der Heeresdienst hinderte ihn auch nicht daran, eigene politische Positionen zu entwickeln. Im Sommer 1911 notierte er zur Frage, ob bei Stichwahlen ein sozialdemokratischer einem linksliberalen Kandidaten vorzuziehen sei, die liberalen Dogmen der Gleichheit aller Menschen und der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit hätten die Autorität des Staatsdienstes und den Beamteneid stärker untergraben als es der Sozialdemokratie je gelingen werde.6 Im Herbst 1911 „erbat ich meinen Abschied aus dem aktiven Militärdienst“, um in Bonn und München (1913) Rechts- und Staatswissenschaften, „daneben Philosoph., Völkerkunde, Geschichte, Sprachw.“ zu studieren. Das Ziel des Staatsdienstes beruhte auf dem Willen, Tugend und Glück durch philosophisch erkannte Werte zu verwirklichen. Im Spruchkammerurteil von 1948 heißt es, er habe sich „etwa vom 16. Lebensjahr an“ die Frage gestellt, ob „über der Verschiedenheit der Völker und der von ihnen verkörperten Werte ein letzter Wertmaßstab der Kulturen zu finden sei“, auch um ihr „harmonisches Zusammenwirken“ zu gewährleisten. Eine auf 1911 datierte kurze „Grundlegung der Ethik“, handschriftlich in „Grundlegung der Kulturphilosophie“ korrigiert, versuchte die Frage zu beantworten: „Was kann ich als Philosoph zur Erreichung der maximatio bonorum tun?“ Es war eine gegen die relativistische fahrdt zum 70. Geburtstag, Marburg 1961, 1 ff.; W. Hamel, AöR 95. 1970, 301 ff.; vgl. auch D. Ehrhardt, Vorwort zum Neudruck, in: H. Herrfahrdt, Revolution und Rechtswissenschaft, Aalen 1970. 3   E. R. Huber, op. cit., 337: Verfechter des „Kampf kabinettes“.; K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen 3.1960, 61 u. 179; J. Perels, Die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit, Kritische Justiz 1977, 88 ff. Vgl. auch die Hinweise auf Herrfahrdt in A. Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Leipzig 1994. 4   E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  V I., Stuttgart 1981, 1083. 5   H. Quaritsch, FAZ 23.  8. 1999. 6   „Zur konservativen Stichwahlparole“, ms. 10.7.1911, 8 S. „Die Verteilung der Steuerlast nach der Steuerfähigkeit“ (ms. 4.9.1911, 3 S.) solle sich nicht am Individualeinkommen, sondern am familiärem Verbrauch ausrichten.

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Wertlehre Rickerts gerichtete und als „reine Erfahrungswissenschaft“ konzipierte „theoretische Kulturphilosophie (Wertlehre)“: „Unsere Aufgabe ist also das Lösen von einzelnen Wertproblemen. (.  .  .) Unsere Arbeit besteht in einem Weiterbauen auf der vorhandenen Kultur. Solche Punkte unseres Kulturlebens, in denen uns Besserung möglich erscheint, haben wir in allen ihren Zusammenhängen zu erforschen, Mittel zur Verbesserung ausfindig zu machen und diese in die Praxis umzusetzen. Pragmatische Forschungsmethode, da wir die Welt in ihrer Gesamtheit erfassen können und überall mit Wahrscheinlichkeiten rechnen müssen.“7 Diese lebensnahe Wertphilosophie lehnte biologische Entwicklungsgedanken dezidiert ab. Auch die Werterkenntnis des sich auf Lust- und Unlustempfindungen stützenden Utilitarismus sei speziell auf dem Gebiete des Strafrechts und der Religionswissenschaft gescheitert: „Er ist größtentheils unbrauchbar als Leitstern für das tägliche Leben. Der Mensch braucht im Kampf ums Dasein Ideale, und diese gibt ihm die utilitaristische Weltanschauung nicht.“8 In einer Notiz zum 1912 gegründeten kosmopolitischen „Bund für Organisierung des menschlichen Fortschritts“ folgerte er, „daß wir daher den obersten Maßstab für die Bewertung der Kulturentwicklung vorläufig in uns selbst suchen müssen.“9 Vom Boden dieser mit dem Glauben an höhere Werte vereinbarten Wertlehre aus wurde die Rechtswissenschaft eine hypothetische Normativwissenschaft, die für die Rechtsanwendung „ein Sollen, wenn auch nicht mit dem Anspruch auf unbedingte Allgemeinwirklichkeit“ erkenne. Ebenso wie Medizin, Pädagogik und die technischen Wissenschaften stelle sie konkrete Sollsätze auf, „die nur insofern verbindlich sind, als in der Person dessen, an den sie sich wendet, ein bestimmter Wille vorausgesetzt wird.“10 Im Sommer 1914 zog Herrfahrdt in den ersten Weltkrieg („im Felde Erweiterung der Sprachkenntn., insbes. russ., ungar., türkisch“). Nach der ersten Verwundung bestand er 1915 das Referendarexamen und disputierte seine von Ernst Zitelmann und Karl Bergbohm betreute Dissertation „Lücken im Recht“ „in Leutnantsuni7   Ein auf „März oder April 1910“ datierter Text fragte unter Berufung auf Schopenhauer: „Welchen Wert (bzw.) Unwert hat der Glaube an die Kausalität der Handlungen?“ Die Antwort ist, „daß für den gewöhnlichen Menschen der Freiheitsglaube, für den Philosophen dagegen der Kausalitätsglaube den Vorzug verdient“, wonach „einem Menschen in einer bestimmten Lage nur eine einzige Handlung möglich ist.“ Die Vorstellung, in bestimmten Lagen sei die Willensfreiheit ausgeschlossen, berge bei den überlieferten christlichen, speziell katholischen Moralvorstellungen die Gefahr verbreiteter Verantwortungslosigkeit, bei Nietzsches Herrenmenschen dagegen die Chance, nur von der eigenen Vernunft gebotene Handlungen zu rechtfertigen. 8   In „Streit der Strafrechtsschulen“, ms. 11 S. notiert er, „daß es vielmehr auch Fälle gibt, in denen bei Hintansetzung des Vergeltungsgedankens ein größerer Nutzen erzielt werden kann. Mit dem Augenblick dieser Erkenntnis sind wir dazu reif geworden, die bequeme Vergeltungstheorie als Grundlage des Strafrechts zu verlassen und zum Wohle der Menschheit auch alle anderen im Strafrecht schlummernden Werte auszubeuten“. 9   Eine Anmerkung zum Programm des Bundes für Organisierung menschlichen Fortschritts, o.O., s.d., hs. 18. Ein weiteres Manuskript bezieht sich auf F. Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft, Grundlagen einer Volksphilosophie, München 1913. 10   „Über die Möglichkeit von Normativwissenschaften überhaupt und über die Voraussetzungen der Jurisprudenz als Normativwissenschaft“, o.O., s.d., ms., 3 S. Der Vergleich mit dem Arzt und Maschineningenieur stammte von Eugen Ehrlich’s Beitrag „Der praktische Rechtsbegriff “ zur Zitelmann-Festschrift (1913).

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form, geschmückt mit dem eisernen Kreuze“,11 um sofort in den Krieg zurückzukehren, in dem sein Bruder „den Heldentod stirbt“. Die Doktorarbeit knüpfte schon im Titel an die Rektoratsrede des Zivil- und Kollisionsrechtslehrers Ernst Zitelmann von 1903 an, der bereits in Göttingen zur Wertphilosophie Hermann Lotzes gefunden hatte und mit Rümelin die Jurisprudenz als Kunst verstand. Als „unechte“ Lücken bezeichnete Zitelmann Abweichungen „von einem Satz im Gesetz“, die „zum grössten Teil auf Wertungen und Abschätzungen, auf Eindrücken und Auffassungen“ nicht nur des nationalen Rechts beruhen.12 Herrfahrdt versuchte, diese These mit dem Positivismus des Völkerrechtlers Bergbohm durch eine „philosophische“ Erkenntnis der dem Recht zugrundeliegenden Werte zu vereinbaren, die die Wahrung der Rechtssicherheit und Ordnung privilegierte. Bei „echten“ Lücken frage sich der Richter: Soll ich wirklich nach dem Wortlaut des Gesetzes handeln oder lieber nach seinem unausgesprochenen Sinne?13 Es gelte, die Entscheidung zu finden, „die der Gesetzgeber am meisten billigen würde“, und dem Gesetz nicht nur direkte Anweisungen, sondern auch die Werturteile des Gesetzgebers zu entnehmen. Wenn im Gesetz eine jegliche Erklärung fehle (echte Lücke), sei sie durch „den dem Standpunkt des Gesetzgebers am meisten entsprechenden neuen Rechtssatz“ zu ergänzen. Im Verfassungsrecht beruhten derartige echte Lücken auch auf dem von Anschütz hervorgehobenen „Mangel der Erzwingbarkeit“. Wenn der erklärte Wille zum Standpunkt des Gesetzgebers im Widerspruch stehe, sei je nach Bedarf an Rechtssicherheit entweder dem Text oder dem Sinn der Vorrang einzuräumen.14 Im Krieg betrieb der Hauptmann weitere Studien zu „Aufgaben und Methoden einer normativen Kunstwissenschaft“.15 Ihre Werturteile seien unfertige Soll-Urteile, teils über das Kunstgenießen, teils über das Kunstschaffen. Der Wert des Kunstwerks ergebe sich aus seiner Wirkung, inhaltlich Werte zu vermitteln und formell eine ästhetische Kultur zu bilden. Es bewirke auch die Entstehung „des Gefühls einer Rangordnung unter den Menschen“, deren Ethisierung und notwendige Verbindung mit einem Macht- oder Autoritätsverhältnis problematisch sei. Um Kunst in eine „wertvoll“ erkannte Richtung zu leiten, sei der Künstler zum „Allgemeinmenschlichen“ zu erziehen und wirtschaftlich und moralisch durch Gesellschaft und Staat zu unterstützen. 1917 verbrachte er „6 Monate in russ. Gefang.“, aus der die Flucht und die Wiederaufnahme der Kampf handlungen mit einem Freiwilligenbataillon „zur Unterstützung der Ukraine“ gelang. Nach dem Waffenstillstand, zu dem „das deutsche Volk durch jahrzehntelange Vorspiegelungen der Aussicht auf einen gerechten Frieden (.  .  .) verführt worden war“,16 kehrte er nach Bonn in das besetzte Rheinland zurück. Als Assistent Zitelmanns hielt er eine „Zwischensemestervorlesung“ zum   Zeitungsnachricht, o.o., s.d. (15.2.1915).   E. Zitelmann, Lücken im Recht, Leipzig 1903, 33. 13   Vgl. Revolution cit., 12 Fn.  7 wonach für Zitelmann die Wertphilosophie entscheide, ob Recht überhaupt gelte: „Er hat dies in Unterhaltungen anläßlich meiner Dissertation ausdrücklich betont.“ 14   H. Herrfahrdt, Lücken im Recht, Bonn 1915, 90 ff. 15   Aufgaben und Methoden einer normativen Kunstwissenschaft, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 12. 1918, 231 ff. 16   Deutschlands Bedingungen, ms. (ca. 1919/20), 7 S. 11

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Völkerrecht und entwarf 1918 den Plan für einen Freistaat Ostpreußen, der eigene diplomatische Beziehungen zu den Nachbarstaaten haben sollte. „Revolution und Rechtswissenschaft“ wurden nun zur Losung und Methode einer Rechtswertbetrachtung, die sich der „Staatsgestaltungslehre“ und Rechtspolitik öffnete. Er knüpfte Verbindungen zur evangelischen Arbeiterbewegung, der er angesichts der Erfahrungen der Rätedemokratie im Juni 1919 die Bildung eines „Verbandes für Einigungsarbeit zwischen den Berufsständen“ vorschlug.17

2.  Von Berlin nach Greifswald: Umbauanleitungen zur Weimarer Verfassung 1920 zog es ihn nach Berlin, wo er wohl durch Vermittlung des Abgeordneten Martin Spahn (1919 Zentrum, 1921 DNVP, 1933 NSDAP) „Leiter der Arbeitsstelle für berufsständische Vertretung“ im neuen „Politischen Kolleg“ wurde, heiratete und von 1921 bis 1923 das Referendariat machte. In der Frankfurter „Arbeitsstätte für sachliche Politik“ der „Neue(n) Front“ um Arthur Moeller van den Bruck und in den Kollegzeitschriften „Gewissen“ bzw. „Ring“ (ab 1924) fand er ein Milieu der konservativen (Gegen-)revolution, an das er „Praktische Folgerungen für die Gegenwart des Wiederauf baus“ adressierte: „In der Verfassungsentwicklung fällt der Wissenschaft vorwiegend die Aufgabe zu, den vorhandenen Volkskräften Wege zu weisen, auf denen sie in rechtlich geordneter Form ihre Macht auswirken können.“18 Zum „Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart“ (1921) vertrat er die These, die Volksemanzipation durch die Herrschaft privilegierter Stände bzw. Klassen zu ersetzen sei ein Rückschritt. Die Korrektur des Parlamentarismus durch ein Mehrstimmenwahlrecht oder eine zweite Kammer zur besonderen Repräsentation selbstverwalteter gebietlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Interessen sei dagegen „der wahre Kulturfortschritt gegenüber den rückständigen Verfechtern des politischen Gleichheitswahns.“19 Das Weiterdenken der ständestaatlichen Alternativen diente letztlich auch der „Vorbereitung auf außergewöhnliche Ereignisse, die zu einer Umwälzung des Staats führen können.“20 Im März 1920 sah er den „Parteistaat“, der die Meinungen und Wünsche der Interessengruppen nur zählt und nicht abwägt, nicht mehr in der Lage, die „aktiven Volkskräfte“ einzubinden. „Die Wandlung vom Parteistaat zum Berufsstaat scheint heute der einzige Weg zu sein, um in allen Volksteilen wieder ein Ge17  Die Einigung der Berufsstände als Grundlage des neuen Staates, Bonn: Georgi, 1919, 16 S. (Schriften für Einigungsarbeit zwischen den Berufsständen; Nr.  1). 18   Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1921, 18. Weiterentwickelt in: Formen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, Jahrbuch des öffentlichen Rechts XI.1922, 11 f. Vgl. B. Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jung-konservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, 150. 19   Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1921, 86. Vgl. auch Zukunftsfragen der Volksvertretung, in: Arthur Moeller van den Bruck / Heinrich von Gleichen / Max Hildebert Böhm (Herausgeber): Die Neue Front, Berlin: Gebr. Paetel 1922, 236–242. 20   Leitsätze für Fragen des Staatsauf baus, ms 4 S. (s.d., vermutlich 1920/21).

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fühl der Anhänglichkeit an den Staat zu erwecken (.  .  .).“21 Seine Rezension des Buchs von Max Hildebert Boehm, „Körperschaft und Gemeinwesen“ (1920), mahnte jedoch den Pressereferenten des General Kapp, man müsse mit den vorhandenen Organisationsformen trotz ihrer Fehler zunächst rechnen und weiterarbeiten. Die Aufgabe der Gesetzgebung sei von der sozialen Erziehung zu trennen, „die mit einer Generationen in Anspruch nehmenden Kleinarbeit rechnen muß“.22 Hierzu seien christliche Gewerkschaften, Angestellten- und Akademikerverbände berufen, ein Konzept, das für manchen Historiker „fast schon wieder moderne, auf Partizipation orientierte Züge“ trug.23 Zudem kritisierte er Carl Schmitts Unterscheidung in „kommissarische und souveräne Diktatur“. Letztere sei nur eine eigenmächtige, die weniger den pouvoir constituant betätige, als tagespolitische Zwecke verfolge.24 Der „sachlich arbeitende Staatsmann“ hoffte auch in der Aussenpolitik auf eine „Weltwende“.25 Als der Oberste Rat der Alliierten nach einer Empfehlung des Völkerbunds 1921 beschloss, das ostoberschlesische Industrierevier gegen den Willen der Bevölkerung an Polen zu übertragen, forderte er ein Moratorium und eine Beschränkung der Reparaturleistungen sowie die „Einberufung eines Ausschusses unabhängiger wirtschaftlicher Sachverständiger aller Länder zur Klärung der wirklichen Lage Deutschlands und seines Zusammenhangs mit der Weltwirtschaft.“ 26 Besondere politische Hoffnung in die rettende Kraft eines zu unparteiischer und schiedsrichterlicher Führung begabten sachlichen Staatsmanns knüpfte er an die Bildung des preußischen Kabinetts durch den Zentrumspolitiker Adam Stegerwald (1921), von dessen Ideal einer neuen christlich sozialen Volkspartei praktisch nur ein „Geschäftsministerium“ als Notbehelf übriggeblieben sei, das freilich in die richtige Richtung weise.27 Seine Ideen zum Thema „Die Kabinettskrise“, zu dem er seit 1921 die Zulässigkeit von Präsidialkabinetten vertrat, präzisierte er ihm im November 1923.28 Zuvor schlug er ein verfassungsänderndes „Gesetz über die Bildung bevollmächtig­ ter Gesetzgebungsausschüsse“ vor, das die Übernahme der Schiedsrichterrolle des Staates durch den einzelnen Abgeordneten und Industrie, Gewerkschaften und Landwirtschaft beratenden Einfluss sichern solle. Mit der Beteiligung der Verbände an der Verwaltung und an der Rechtsprechung habe man bereits gute Erfahrungen,   Parteistaat oder Volksstaat? , o.O., „März 1920“, 4 S. (Sonderdruck).  Ein neues Buch über ständischen Auf bau (Besprechung von M. H. Boehm, Körperschaft und Gemeinwesen, Leipzig 1920), in: n.n., s.d. (ca. 1920/21), 10 f. 23   S. Bohn, Die Idee vom deutschen Ständestaat, Hamburg 2011, 10. 24   Besprechung von C. Schmitt-Dorotic, Die Diktatur, München 1921, in: Schmollers Jahrbuch 45. 1921, 587 ff. 25   Weltwende. Politische Briefe aus kommenden Jahren, 2.3.1920, hs, 5 S. 26   Die Entscheidung der alliierten Mächte, ms., 2 S., n.n., s.d. Vgl. auch zum „passiven Widerstand im Ruhrgebiet“ den Forderungskatalog: „Deutschlands Bedingungen“, ms. 5 S., n.n., s.d. 27   Die Aufgabe Stegerwalds, ca. 1921, ms. 4 S.  Vgl. auch zwei Briefe vom 4.8./10.8.1922 an Stegerwald. 28  Sammelbesprechung von: H. Nawiasky, Die Grundgedanken der Reichsverfassung, München 1920, F. Stier-Somlo, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 2.  Aufl. Bonn 1920, F. Poetzsch, Handausgabe der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1921, G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1921, F. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1920, R. Cohn, Die Reichsaufsicht über die Länder nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1921, in: Schmollers Jahrbuch, 45. 1921, 899. 21

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z. B. bei der Schaffung einer Wirtschaftsprovinz „Niedersachsen“ gemacht.29 Die Rezension des Buchs des Chefs des Büros des Reichspräsidenten, Otto Meissner, widersprach der Idee, die staatliche Neuordnung sei bereits zu einem gewissen Abschluss gelangt. Das wirkliche Staatsleben sei nicht, was auf dem Papier stehe: „Es ist ein wenig durchsichtiges Gemisch von Überresten des alten Staates, modifiziert durch neu einströmende Kräfte, wie den Einfluss der Parteien auf die Stellenbesetzung und die mit sinkender Macht des Staates wachsende Einwirkung der organisierten Wirtschaft auf Gesetzgebung und Verwaltung.“30 1923 beantwortete Herrfahrdt eine „freundliche Aufforderung, eine programmatische Darstellung berufsständischer Forderungen für die Nationalsozialisten“ zu geben, und verfasste unveröffentlicht gebliebene „Leitsätze für die Staatliche Erneuerung“ und „Leitsätze für die wirtschaftliche Erneuerung“. Der Staat habe die Schaffenskraft der Nation zu höchster Entfaltung bringen und die Früchte der nationalen Arbeit zu schützen, müsse von einem einheitlichen, durchsetzungsfähigen Willen geleitet und ein Volksstaat sein, für den der Parlamentarismus keine geeignete Grundlage biete. Das Volk müsse auf hören, Geld als Inbegriff aller Werte anzusehen und die Berufsarbeit und Pflege menschlicher Gemeinschaft wieder lernen. Die Berufsstände müssten ihre Angehörigen auch „menschlich“ fördern. Jedes das gewöhnliche Mass übersteigende Vermögen müsse so verwendet werden, daß es dem Volksganzen zugute komme und aller Lebensgenuß solle zugleich stärken, erheben und dazu befähigen, dem Ganzen zu dienen.31 In der Praxis widmete sich der Assessor Herrfahrdt seit 1923 zunächst der Kreisverwaltung Rendsburg, wo er das Kreiswohlfahrtsamt leitete.32 Er machte die Erfahrung, daß „bei der Beratung im kleinen Kreise sich leichter die Persönlichkeit, Sachkenntnis und Gewichtigkeit der Gründe durchsetzt“ und eher der „seltenere Idealtypus der schöpferisch gestaltenden Schiedsrichter“ anzutreffen ist, „der vermöge lebendiger Fühlung mit den Bedürfnissen und Daseinsbedingungen aller Volkskreise imstande ist, im Widerstreit der Interessen selbst die Führung zu ergreifen, die für alle Teile eine Förderung bedeutet.“33 Seine Kurse an der Volkshochschule in Rendsburg ergänzte der Besuch von Vorlesungen und Übungen am Politischen Kolleg in Berlin und ein weiteres Studium der „rer. pol.“ an der Friedrich Wilhelms-Universität (bis 1925). Im Jahre 1926 wendete sich das berufliche Schicksal.34 Am 7.  10. 1926 wurde er Landgerichtsrat in Greifswald. Auf Bitte von Günther Holstein erhielt er am 5.  11. 1926 die Genehmigung zur Habilitation mit einem „kleinen, nur geringe Zeit beanspruchenden Lehrauftrag“. Am 16.  11. 1926 hielt er die Probevorlesung über „Die   Bezirkswirtschaftsräte und Wirtschaftsprovinzen, Gewissen 16.2.1922.   Besprechung von O. Meissner, Das neue Staatsrecht des Reichs und seiner Länder, Berlin 1921, in: Schmollers Jahrbuch 46. 1922, 580 f. 31   Brief an einen Herrn Halbig vom 29.1.1923. 32   Vgl. „Gesichtspunkte für den Ausbau der Fürsorge im Kreis Rendsburg“ (ms. 8 S); „Entwurf für die Regelung des Fürsorgewesens“ (ms 9 S.). 33   Verwaltungsreform und berufsständische Bewegung, in: Die Tat ( Jena) 1925, Heft 7 (Oktober), 547 f. 34   Hierzu auch sein öffentliches Engagement: Kann die Fürstenenteignung Gesetz werden?, DAZ, 29.4.1926; Die rechtlichen Schranken der Staatsgewalt, in: Mitteilungen des Politischen Kollegs, August 1926, 1 ff. 29

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Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluss der politischen Praxis“, die eine „echte Lücke“ des Verfassungsrechts in drei Sätzen einer auf höhere Werte gestützte „Wissenschaft vom lebenden Staatsrecht“ zu schließen beanspruchte: (1) Der Anspruch der Reichstagsmehrheit, das Kabinett zu stellen, sei durch den Willen bedingt, Vertretung des ganzen Volkes zu sein und die von der Minderheit repräsentierten Volkskräfte nicht in einen Gegensatz zur Staatsordnung zu drängen. (2) Ob und welche Mehrheit eine geeignete Grundlage für die Regierung biete, habe der Reichspräsident zu entscheiden. (3). Er dürfe die Regierung solange im Amt belassen, bis die Bildung eines neuen regierungsfähigen Kabinetts sichergestellt sei.35 In Greifswald lehrte er von 1926–1931 Allgemeine Staatslehre, Preussisches Staatsrecht, Völkerrecht, Verwaltungsrecht, Arbeitsrecht, Steuerrecht und bot kirchenrechtliche, philosophische, soziologische, rechts- und verfassungsgeschichtliche Übungen und Seminare an. Nach der Kabinettsbildungsschrift veröffentlichte er eine Reihe von Arbeiten zur Verfassungsreform und sein Hauptwerk „Revolution und Rechtswissenschaft“ (1930).36 Der Rechtswissenschaft habe als normative Rechtsanwendungslehre und dem Gesetzgeber dienende Rechtspolitik in der Revolution „durch Anwendung klarer wissenschaftlicher Begriffe auf die neu gegebenen Tatbestände für die schnelle Wiederkehr von Ordnung und Sicherheit im täglichen Leben zu sorgen“.37 Der allgemeinen Teil verzichtete auf eine Methodenlehre38, um den Wertrelativismus zu widerlegen. Relativ sind nicht die Werte, sondern nur die Werturteile. Sie werden „als freie Schöpfungen zwischen den festen Werten und dem bunten wechselvollen Leben eingeschoben“ und beruhen als Lust-/Unlustgefühle auf Tatsacheneinschätzungen, als höhere Werte auf dem sittlichen Verantwortungsgefühl des Urteilenden. Weil in der Revolution „grosse Wertformen wie Rechtssicherheit und Gerechtigkeit aufeinanderstossen“, kann es nicht den Einzelnen überlassen werden, „durch Abwägung zwischen diesen Werten die Entscheidung zu fällen“, sondern bedarf es ihrer „schöpferischen Vereinigung“. „Der Gedanke des Abwägens zwischen verschiedenen Werten hat in der Wertphilosophie keinen Platz.“39 Zwischen der reinen Willkür und dem „Begriff des Rechts im strengen Sinne achtunggebender Normen“ steht letztlich eine bloss rechtsähnliche, nur äusseren Gehorsam beanspruchenden „Ordnungsnorm“.40 Ein Recht zur Revolution kann es nur geben, wenn auch der Formwert der   Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, Berlin 1927. Aus dem Büro des Reichspräsidenten schrieb ihm O. Meissner am 27.1.1927, er teile seine Auffassungen vollständig. 36   „Der erste Entwurf dieser Arbeit stammt aus dem Jahre 1919 (.  .  .) Die jetzige Gestalt hat die Arbeit im wesentlichen im Jahre 1926 erhalten. Die wirtschaftliche Schwierigkeit der Drucklegung hat die Veröffentlichung bisher verzögert.“ 37   Revolution und Rechtswissenschaft, Greifswald 1930, Neudruck Aalen 1970, 7. 38  Vgl. auch die Besprechung von R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht Berlin, 1928, in: Deutsche Richterzeitung (DRIZ) 1928, Heft 12, 502: „Vielleicht ist es richtiger hier nicht ehr von Methode zu sprechen. (.  .  .) Es ist die Aufdeckung der Mängel, die jeder Methode anhaften, und die Forderung, daß das unmittelbare lebendige Verhältnis zum Gegenstand nicht durch die Bindung an eine Methode beeinträchtigt werden darf.“ 39   A.a.O., 45 f. Auch ein Abwägen zwischen rechtlichen und sittlichen Pflichten scheidet aus. 40   A.a.O., 49. 35

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bestehenden Ordnung zerstört ist. Die Revolution von 1919 war anfänglich nicht durch die Volksgesamtheit anerkannt und hatte als Rechtsquelle daher nur ein „Geflecht von Ordnungsnormen“. Bei der Behandlung der einzelnen völker-, verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Rechtsfragen ergab sich eine „innerstaatliche Gebundenheit der Revolutionsgewalt an Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze“ und ein entsprechendes richterliches Prüfungsrecht.41 Trotz aller „konsolidierend wirkender Umstände“ bis zur Wahl Hindenburgs habe sich gezeigt, „daß die Verfassung zwar eine äussere Ordnung schaffen konnte, aber nicht mit einem alle wesentlichen Glieder des Volkes verbindenden Sinngehalt erfüllt ist“. Darin bestand die Prämisse der an Brüning, Schleicher, Papen und andere Regierenden adressierten Anleitungen zur Verfassungsreform, die – wie Günther Holstein formulierte – „möglichst aus dem unmittelbaren Institutionenbestand und Kräftegehalt der in Frage kommenden Verfassung selbst entwickelt werden“, um „wirklich organisch-rechtliches Reformieren“ mit „echtem progressiven Denken“ dialektisch zu verbinden.42 Auf der Staatsrechtslehrertagung in Frankfurt (1929) verkündete der Privatdozent stolz sein auf die Verfassungsreform erweitertes wissenschaftliches Selbstverständnis: „Da, wo es an positiver Regelung fehlt, hat die Staatsrechtswissenschaft eine politische Aufgabe: sie hat unter dem Wertgesichtspunkt der Rechtssicherheit das Hinund Herpendeln der politischen Kräfte geistig vorwegzunehmen und dadurch unnötige Machtkämpfe zu verhindern.“43 Die Liste dieser Vorwegnahmen wurde lang. 1928 griff er den Vorschlag der Länderkonferenz, einen Sachverständigenausschuß einzuberufen im Entwurf eines dem Preußischen Landtag und dem Reichstag vorzulegenden verfassungsändernden „Gesetz über die Vereinigung der preußischen Staatsgewalt mit der Reichsgewalt“ auf, das den späteren Preussenschlag vorzeichnete.44 1929 präzisierte er seine Auslegung des Art.  54 WV, wonach eine durch rein obstruktive Misstrauensvoten getroffene Regierung nicht zurücktreten müsse, sondern Neuwahlen suchen dürfe. Die Mehrheitsregierung sei durch eine „Regierung des gemeinsamen Vertrauens aller für das Gedeihen des Ganzen“ und das Mehrheitsprinzip durch das „schiedsrichterliche Prinzip“ zu ersetzen. Wenn das Arbeitsparlament seine Tätigkeit in die Ausschüsse verlagere, könnten auch Parlamentarier sich als „Führer des ganzen Volkes, nicht als Beauftragte von Parteien fühlen.“45 Auf der Suche nach den „Wege(n) und Grenzen der Verfassungsänderung“ dachte er die Möglichkeit an, durch Volksbegehren einen Verfassungskonvent einzuberufen, um mit einfacher Mehrheit Verfassungsänderungen zu beschliessen. Entgegen C. Schmitt sei auch die Einführung der Monarchie im Wege des Art.  76 RV 41   A.a.O., 104 ff., 123 ff. Dezidiert für einen besonderen Gerichtshof Die rechtlichen Schranken der Staatsgewalt, in: Mitteilungen des Politischen Kollegs, Nr.  1 August 1926, 2. Jahrgang, S.  1–3; Kann die Fürstenenteignung Gesetz werden?, Deutsche Allgemeine Zeitung, 29.4.1926; Beitrag zur Aussprache über: Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5.1929, 110 f. 42   G. Holstein, Reichsverfassung und Staatsrechtswissenschaft, Greifswald 1929, 18. 43   Beitrag zur Aussprache über: Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung, in: VVDStRL 6.1929, 64 f. 44   Reich und Preussen. Vorschläge zur Verfassungsreform, Greifswald: Ratsbuchhandlung, 1928. 45   Der Sinn des parlamentarischen Prinzips in der Reichsverfassung, Zeitschrift für Politik 18.1929, 734 ff.

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nicht schon deshalb unzulässig, „weil die Republik ein unveränderliches Wesensmerkmal des Staats der Verfassung wäre, sondern nur, weil und solange die Republik eine Programmforderung der organisierten Arbeiterschaft ist und daher die Überstimmung der Arbeiterschaft durch eine bürgerliche Mehrheit in dieser Frage eine Störung des modus vivendi zwischen ihnen bedeuten würde.“46 1930 machte er einen Vorschlag zur „Reform des Parlamentarismus in den deutschen Ländern“. Die Gesetzgebung solle einem Hauptausschuss übertragen und die Landesregierung durch den Reichspräsidenten ernannt werden.47 1931 verteidigte er den Vorschlag des preussischen Finanzministers, die Reichsreform durch eine Notverordnung gem. Art.  48 WRV zu beschließen und behauptete ein Recht des Reichspräsidenten, „die Auf hebung davon abhängig zu machen, daß der Reichstag selbst zu einer positiven Regelung der betreffenden Lage gelangt.“ Über eine Reichsreform solle erst nach 3 oder 6 Jahren in verfassungsmässiger Form entschieden werden. Aussichtsreicher sei es allerdings, die Reichsreform durch ein Ermächtigungsgesetz an ein sachverständiges Gremium zu delegieren.48 Im August 1932 hielt er drei Rundfunkvorträge über „Parlamentarismus und Staatsführung in der Gegenwart“, die er unter dem Titel „Der Auf bau des neuen Staates“ veröffentlichte. Das Werk schloss mit einem „Plan für eine Übergangsregelung im Reich und in Preussen“, der die bisherigen Ideen erweiterte um die Auflösung der Gemeindevertretungen, Kreis- und Provinziallandtage, ein Verbot der Parteimitgliedschaft von Beamten, Richtern und Vorständen von Selbstverwaltungskörpern, Wirtschafts- und Sozialreformen durch Gesetzgebungsausschüsse bis 1933, eine Volksabstimmung bis 1935 und eine neue Verfassung bis 1937.49 46   Wege und Grenzen der Verfassungsänderung, Reich und Länder 3.1929/1930, 270 ff. Im Nachlass finden sich auch „Vorschläge für ein Volksbegehren über Verfassungsreform“. 47   Reform des Parlamentarismus in den deutschen Ländern, Reich und Länder 4.1930, 9 ff. In einem Brief an den Reichskanzler vom 4.2.1930 schlug er vor, zur Sicherstellung der durch den Youngplan nötig werdenden Reformen ein überparteiliches, aber den Parteien (SPD 3, andere 1) nahestehendes neunköpfiges Gremium zu schaffen. 48   Reichsreform durch Notverordnung?, Reich und Länder 5.1931, 257 ff. Vgl. auch die Forderung nach einem Verbot parteipolitischer Betätigung der Minister in: Die Reichsreform, Politische Wochenschrift 1931, 763 ff. (Heft 33, Berlin 29.8.1931) und die Besprechung von: Bund zur Erneuerung des Reichs (Hg.), Die Rechte der Deutschen Reichspräsidenten nach der Reichsverfassung, Berlin 1929, in: Deutsche Juristenzeitung 36. 1931, 1394. Vgl. auch die Nachricht der „Welt am Montag“ vom 7.9.1931, er habe als Richter eine Geldstrafe für die Äusserung verhängt, „Hindenburg ist als Reichspräsident ein grosser Idiot“. 49   Der Auf bau des neuen Staates. Vorträge zur Verfassungsreform mit einem Plan für die Übergangsregelung in Reich und Preußen, Berlin: Verlag für Zeitkritik, 1932. In einem Heft „Notverfassung 1932“ finden sich ein Brief an Brüning, eine negative Antwort von Schleicher (13.5.1932) und an Schleicher adressierte Entwürfe einer Kundgebung des Reichspräsidenten (11.8.1932), einer gemeinsamen Erklärung von Reichspräsident und Reichsregierung, einer Präsidialverordnung zur Wiederherstellung geordneter politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse und eines maschinenschriftlicher Text „Unterbauung der Präsidialgewalt“. In dem Kundgebungsentwurf heisst es: „Die Entwicklung der letzten Jahre hat es unmöglich gemacht, die gesetzgeberischen Aufgaben auf dem verfassungsmässig vorgesehenen Wege zu lösen. Die Verschärfung der Parteigegensätze hat dazu geführt, dass die Parlamente nicht mehr als Ausdruck eines einheitlichen Volkswillens im Sinne des Art.  21 der Reichsverfassung angesehen werden könen. Die Bemühungen der Reichsregierung, dem Sinn der Reichsverfassung durch eine von den Parteigegensätzen unberührte Regierungsführung gerecht zu werden, haben zu einer Anwendung des Art.  48 genötigt, die weit über das von den Urhebern der Verfassung beabsichtigte Maß hinausgeht. Die Gefahren der gegenwärtigen Krise können mit kurzfristigen Massnahmen

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Die Ernennungsurkunde zum nichtbeamteten ausserordentlichen Professor in Greifswald wurde vom geschäftsführenden Staatssekretär am 15.  9. 1932 unterzeichnet.50 Das Auswärtige Amt mahnte am 25.  11. 1932 einen Aufsatz über das freie Mandat gem. Art.  21 WRV an und noch am 8.  1. 1933 schrieb Herrfahrdt an Reichskanzler von Papen wegen Bedenken gegen eine erneute Reichstagsauflösung und gegen eine Regierungsbeteiligung der NSDAP. Vereinfachend lassen sich seine Reformideen darauf zurückführen, mit d(ies)en Parteien sei kein Staat (mehr) zu machen und eine Regierungsmehrheit mit Flügelparteien führe zu Mehrheitswillkür. Die Verfassung in Not sei mit neuem Sinn zu erfüllen und durch eine „Notverfassung“ in der Staatspraxis zu retten. Das Prinzip der staatsmännischen „schiedsrichterlichen Führung“ biete eine neue Inhaltsbestimmung der Verfassung als Alternative zur Revolution des faschistischen und bolschewistischen Staatstypus der „Stosstruppherrschaft“. Im Hinblick auf die gleichberechtigte Teilnahme der Arbeiter sei dieser Staat eine Demokratie, im Hinblick auf die zersetzende Wirkung des Pluralismus dagegen nur ein elitärer Volksstaat.51 Hermann Heller antwortete am 19.  11. 1932 brieflich: „Ich kann nicht von dem Eindruck loskommen, dass Sie dem deutschen Volk aufgrund eines Ausnahmezustands eine Verfassung anmessen wollen. Das was ihr Idealismus bona fide erstrebt, wird von sehr handfesten Wirtschaftsgruppen für ihre Ziele ausgenutzt.“

3.  Marburger Lehren: „idealistische Konstitutionalisierung“ im „Dritten Reich“ In der Osterwoche 1933 sollte Heinrich Herrfahrdt mit Willibalt Apel auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Marburg ein Referat über „Probleme der Reichsreform“ halten, die nach dem Ermächtigungsgesetz und der Säuberung, der auch das Vorstandsmitglied Kelsen zum Opfer fiel, sine die verschoben wurde. Ein Manuskript des Referats fehlt im Nachlass und sollte auch auf Koellreuthers Betreiben nicht veröffentlicht werden, weil er „wissenschaftlicher Monomane“, mit den Verfassungsentwürfen „nichts los“ und das Referat „doch veraltet“ sei.52 Am 27.  4. 1933 schrieb er an die Greifswalder Kreisleitung der NSDAP: nicht mehr bewältigt werden. Ein großes, von einheitlichem Geist getragenes Reformwerk ist nötig, dessen Durchführung mehrerer Jahre in Anspruch nimmt. In dem Bestreben, hierbei nicht weiter die Mitwirkung des Volkes auszuschalten, haben sich Reichspräsident und Reichsregierung entschlossen, auf die Dauer von 5 Jahren neue Formen zu schaffen, die es ermöglichen unter Vermeidung des störenden Einflusses der Parteigegensätze alle Volksglieder an der Lösung teilnehmen zu lassen (.  .  .). Nach Ablauf der 5 Übergangsjahre soll durch Volksentscheid über den Weiterbestand der inzwischen getroffenen Neuerungen entschieden werden.“ 50   In einem Brief an Brüning vom 31.  3. 1932 hatte er ein Extraordinariat in Berlin erbeten. 51   Der Staat des 20. Jahrhunderts, in: Blätter für Deutsche Philosophie, 5 (1931), H. 2/3, Berlin 1931. Verhaltene Zustimmung zum „Kampf kameraden“ in: Der Jungdeutsche 30.  8. 1931. 52   Brief v. 15.5.1933, zit. bei M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, III, München 1999, 311, Fn.  413: „Ich warne. H ist, wie ihn wohl Smend mit Recht bezeichnete, „wissenschaftlicher Monomane“. Er schreibt Verfassungsentwurf auf Verfassungsentwurf, aber wirklich los ist damit nichts“. Aus den Notizen läßt sich rekonstruieren, dass er in einem ersten Teil „theoretische Problematik“ die Fragen wie Was ist Verfassung? Geltung, Verfassungswandlung und Der Mensch im Staat (Liberalismus .  .  .) angehen wollte, um in einem zweiten Teil Stellungnahmen zu konkreten Pro-

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„Als Mitglied des Preuss. Richtervereins habe ich die Aufforderung erhalten, dem Bunde nationalsozialistischer deutsche Juristen und zugleich der NSDAP beizutreten. Da sich die von mir seit dem Kriege vertretene politische Auffassung in allem Wesentlichen mit dem Standpunkt der NSDAP deckt, würde ich insoweit keine Bedenken haben. Zweifelhaft ist mir aber, ob nicht dem Interesse der nationalsozialistischen Bewegung und der Regierung der nationalen Revolution besser gedient ist, wenn ich wie bisher meine Wirksamkeit in völliger Unabhängigkeit von Organisationsbindungen weiterführe. Ich habe seit 1919 als Mitglied des Kreises von Moeller van den Bruck im Kampfe gegen Parlamentarismus und Weimarer System in vorderster Linie gestanden und mich insbesondere um die Herausarbeitung des Bildes des neuen Staates bemüht. Das geistige Wirken unseres Kreises ist ein notwendiges Glied in der Durchsetzung der nationalen Revolution; es hat den Boden für die nationalsozialistische Bewegung vorbereitet, indem es die demokratisch-parlamentarische Gedankenwelt erschüttert und eine neue Staatsauffassung lebendig gemacht hat. Diese Aufgabe der in freier Verantwortung arbeitenden nationalen Wissenschaftler ist noch nicht beendet. Sie bedürfte vielmehr jetzt gerade besondere Bedeutung gewinnen, wenn die Neugestaltung des Wirtschafts- und Verwaltungsauf baus in Angriff genommen wird und durch die notwendigen harten Maßnahmen der Regierung innere Widerstände auf kommen, denen weder mit den Mitteln der Propaganda noch mit denen der Staatsmacht beizukommen ist. Dann wird es entscheidend sein, daß in der Bildung der öffentlichen Meinung Kräfte wirken, die nicht als Sprachrohr von Regierung oder Partei empfunden werden. (.  .  .) Zu erwägen bitte ich auch, ob der vom Preußischen Richterverein angeregte Masseneintritt von Richtern in die NSDAP im Interesse der nationalen Sache liegt. Gerade die Wirksamkeit derjenigen Richter, deren politische Einstellung die Gewähr für eine Rechtsprechung im Sinne der nationalen Regierung bietet, dürfte der Stärkung der Staatsgewalt mehr zugute kommen, wenn nicht der Verdacht besteht, daß sie im Einzelfall durch die Parteiorganisation beeinflußt werden. Ich beobachte auch, daß diejenigen Richter, die der Nationalen Revolution innerlich nahestehen, diese Bedenken besonders stark empfinden, und daß es ihnen im übrigen widerstrebt, zusammen mit der Klasse der bloßen Opportunisten in die NSDAP einströmen zu sollen.“

Ein berufliches Einwirken auf die Partei ermöglichte er sich 1933 in der parteizugehörigen „Arbeitsgemeinschaft für ständischen Auf bau“ e.V. Sein Beitrag zur Revolution erfolgte „aus dem Stand“ am 14.  6. 1933, als er in der Greifswalder Zeitung „Leitsätze zur Erneuerung der deutschen Hochschule“ für ein neues Reichs-Hochschulgesetz, das eine „Deutsche Grundwissenschaft“ (Staatslehre, Grundzüge der Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft, Deutsche Heimat-, Volks- und Schrifttumskunde, Christliche Sitten- und Soziallehre, Neuere Geschichte und Auslandskunde, Gesundheits- und Vererbungslehre, Grundzüge der Wehwissenschaft) einführen sollte. Es ging um die „Pflege einer verantwortlichen Geisteshaltung und einer gemeinsamen Erkenntnisgrundlage, auf der alle wissenschaftlichen Berufe an der Erneuerung des deutschen Staats- und Volkslebens mitarbeiten können“.53 Am 21.  7. 1933 hielt er eine Radioansprache zum Thema „Staatsführung und Parteipolitik“, die in der Bildung des Kabinetts Hitler das Ende des Parteienstaats und der Mehrheitsregierung sah. Sie seien durch das Prinzip der „Stosstruppherrschaft“ und der im Amt des Reichspräsidenten, der Reichswehr und dem Berufsbeamtenblemen der Regierungsform (Reichsrat als erste Kammer), der Staatsgestaltung (Verhältnis Reich-Länder, Rechtsstaat, Leistungsstaat) sowie der Verwaltungsreformen abzugeben. 53   Leitsätze zur Erneuerung der deutschen Hochschule, Greifswalder Zeitung?, 14.6.1933 (Hochschulbeilage).

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tum verkörperten schiedsrichterlichen Staatsführung ersetzt worden. Wie Italien zeige, liessen sich beide miteinander verschmelzen: „Die sicherste Gewähr dafür, daß jedes Volksglied geachtet und im Rahmen des Ganzen gerecht behandelt wird, liegt im schiedsrichterlichen Verantwortungsgefühl eines obersten Führers, der von allen Gliedern und Gruppen beraten, mit ihnen in lebendiger Führung steht, aber in seinen Entscheidungen nur seinem Gewissen unterworfen ist.“54 Im August 1933 drängte Herrfahrdt auf ein Reichsgesetz, um die Gemeindeverwaltung dem Vorstand bzw. Magistrat zu übertragen, der zu seinen Entscheidungen Berufs- und Interessenvertreter hören und sich selbst durch Kooptation erneuern solle. Diese Selbstverwaltung stehe nicht „im Widerspruch zum Wesen des autoritären oder totalen Staates“.55 Im Oktober dankte ihm der Reichwirtschaftsminister für die Übersendung der Programmschrift „Werden und Gestalt des Dritten Reichs“, in der er der nationalsozialistischen eine „nationale Revolution“ entgegensetzte, die den Staat auf die drei Prinzipien der Selbstverwaltung, der Arbeitsgemeinschaft und der schiedsrichterlichen Führung auf baute. Im Dritten Reich werde die „liberale Zuspitzung der Freiheitsrechte“ eine „vorübergehende Verirrung“ ebenso wie der „undeutsche“ Parlamentarismus, der den „überragenden Einfluß der Juden“ ermöglicht habe.56 Die neuen Vokabeln mögen mit der Berufung nach Marburg zu tun gehabt haben. Am 31.  10. 1933 wurde Herrfahrdt zum „persönlichen Ordinarius“ in Marburg ernannt, wo er auf Vorschlag des Prodekans und ehemaligen Reichstagsabgeordneten der Wirtschaftspartei Victor v. Bredt öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre lehren sollte. Die Fakultät hatte sich „mit Rücksicht auf die Lage der Staatskasse“ 1932 gegen eine Neubesetzung einer öffentlichrechtlichen Professur ausgesprochen und dann das habilitierte NSDAP-Mitglied Gustav Adolf Walz auf den ersten Platz der Vorschlagsliste gestellt, der am 6.  2. 1933 noch mit der Vorbereitung der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer beauftragt, aber als Rektor in die „Stoßtruppuniversität“ Breslau versetzt wurde.57 Herrfahrdt las „Verfassung und Verwaltung in der nationalsozialistischen Revolution“. Das „Staatsbild des Dritten Reichs“ (14.  3. 1934) war „noch mitten im Werden des Neuen“. Das Versagen des Parlamentarismus habe zu einem neuen Staatstypus geführt, der Verschmelzung des Stoßtruppprinzips und der schiedsrichterlichen Führung in die „wohl vollkommenste Staatsform des 20. Jh.“. Dem nationalsozialistischen „Führerstaat“ sei wesentlich, „daß an der Spitze ein Führer steht, der gerecht gegen die Glieder ist, und daß hinter ihm eine opferwillige kleine Schar steht, die, wo es nötig wird, dem Willen des Führers auch mit Gewalt Gehorsam verschaffen kann“. Da die Tyrannei eines Volksteils „erfahrungsgemäß schlimmer ist als die Willkür eines einzelnen Tyrannen“, stelle sich nun jedoch die Frage: „Wie entwickeln wir an der Spitze des Staates die moralische Kraft des Verantwortungsgefühls so stark, daß eine äußere Kontrolle überflüssig wird?“ Bei einer Einzelpersönlichkeit 54   Staatsführung und Parteipolitik, Rundfunkvortrag 21.7.1933, ms, 6 S. (Vermerk „geprüft“, Stempel 11.7.1933). 55   Die Selbstverwaltung im totalen Staat, Der Tag 11.8.1933. 56   Werden und Gestalt des Dritten Reiches, Berlin, 1933, 40. 57   Vgl. Sitzungsband der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marburg 1930–1940.

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sei dies einfacher als bei einem Parlament. Damit der Führer „alle Nöte und Wünsche erfährt“, brauche er gute Berater und einen Ständeauf bau aus der Gemeinde.58 Dieses Staatsbild des Dritten Reichs war freilich eher Einbildung als Abbildung, Versuch einer rein „idealistischen Konstitutionalisierung“ der neuen Machtverhältnisse, deren Realtät sich ihm nicht verschloß. Schon im Dezember 1934 intervenierte er erfolgreich mit einem Gutachten gegen die Amtsenthebung des Dekans der theologischen Fakultät, Hans Freiherr von Soden, der den Arierparagraphen kritisiert hatte.59 Die Festrede zur Reichsgründungsfeier vom 30.  1. 1935 führte den Führergedanken einerseits auf Ideen der Übernahme von Verantwortung in einer „militärisch-preussischen Tradition“, andererseits auf ein in der Jugendbewegung wiedererwecktes „germanisches Gefolgschaftsprinzip“ zurück. Eine Missdeutung und Gefahr sei es, dass abweichende Meinungen nicht geduldet würden und Gehorsam von Eigenverantwortung entbinde. Zweifel, ob der Führer über alles richtig orientiert werde, seien zulässig. Dennoch sei nicht das Misstrauen der Demokratie, sondern das Vertrauen auf den Führer die „Grundlage unserer Staatsordnung“.60 Am 8.  2. 1935 erhielt er das Ehrenkreuz für Frontkämpfer und am 27.  2. 1935 wurde er zum Beisitzer in einem Gauehrengericht ernannt, aber es regte sich auch Unbehagen und zum Teil offener Widerspruch gegen die mangelnde innere Erneuerung des „Ewig-Gestrigen“.61 Am 4.  10. 1935 schrieb ihn der Gauleiter an, weil er die Fachleiterin von Einwänden gegen das Gesetz der Zwangssterilisation zu überzeugen versucht hatte. Der nationalsozialistische Staat hatte keine geschriebene Verfassung und „wird eine solche voraussichtlich mindestens in absehbarer Zeit nicht erhalten“, aber er brauchte Rechtssicherheit. „Die Verfassungsgesetze des nationalsozialistischen Staates“ (1935) stellten daher der alten WRV eine Vielzahl neuer Rechtsquellen gegenüber, von den Gesetzen gegen die Neubildung von Parteien (14.  7. 1933) und zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat (1.  12. 1934) bis zum Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs (1.  8. 1934) und zum Parteiprogramm der NSDAP, das den Grundrechtskatalog ergänzte.62 Noch 1936 verteidigte Herrfahrdt seine „Politische Verfassungslehre“ gegen konkurrierende Ideen, die Gefahr liefen, „in die gesamte Vergangenheit eine der nationalsozialistischen vermeintlich entgegengesetzte Weltanschauung hineinzudeuten“. Die traditionelle Rechtsstaatslehre sei nicht eigentlich liberal gewesen und niemand   Das Staatsbild des Dritten Reichs, Deutsches Philologen-Blatt 42.1934, 121 ff.   Im Nachlass befindet sich auch eine and die Reichskanzlei gesandte Denkschrift zur Kirchenpolitischen Lage (10.9.1934) und ein Gutachten über die kirchenrechtliche Lage in Kurhessen (11.12. 1934) sowie Ideen zur Vermittlung zwischen bekennender Kirche und Deutschen Christen. 60   Der Führergedanke im nationalsozialistischen Staat. Rede zum 30. Januar 1935, Mitteilungen des Universitätsbundes, Marburg 1935, Heft 1, wiederabgedruckt in: Schulungsblätter evangelischer Jungmannschaft 1935, H. 7. 61   K. Retzlaff, Reinliche Scheidung!, Westdeutsche Akademische Rundschau, 2. Maifolge 1935; Der Theoretiker des Dritten Reichs, Der S. A. Mann, 10.8.1935. Mit Schreiben vom 10.5.1935 wurde er vom Rektor der Universität aufgefordert, Stellung zu nehmen, worauf hin er wohl ohne Erfolg darum bat, eine Gegendarstellung zu veranlassen. 62   Auch das Reichsstatthaltergesetz hielt er nur für eine Übergangslösung, die nach der Einheit der Reichsspitze in Reich und Preußen nicht zu einem Einheitsstaat zu führen brauche. Die vom Führer als Amtsbezirke des Reichsstatthalters bestimmten Reichsgaue könnten einer territorialen Neugliederung und Vereinfachung der Verwaltung dienen. Vgl. Das Reichsstatthaltergesetz vom 30. Januar 1935, Reich und Länder 9.1935, 57 ff. (März). 58 59

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dürfe „vorspiegeln, wir hätten heute eine inhaltlich richtige Idee, die uns vor den Fehlern des 19. Jahrhunderts schützte“. Das deutsche Volk sei nur zu geneigt, sich Selbsttäuschungen hinzugeben. Auch Forsthoffs Begriff „totaler Staat“ solle „recht bald wieder aus dem Sprachgebrauch“ verschwinden, weil er der Realität des absolutistischen Polizeistaats und des Bolschewismus, nicht aber der des Nationalsozialismus entspreche und die Leitungskapazität der Verwaltung unterschätze. Huber folge der Lehre Carl Schmitts, dessen Betonung der gedanklichen Inhalte und der Freund-Feind-Einteilung der Menschen nach ihren „Ansichten“ ein typisches Vorurteil des 19. Jh. reproduziere.63 Im selben Jahr wandte er sich an Carl Schmitt mit der Bitte, die geplante Tagung des NS-Rechtswahrer-Bundes zum Thema „Das Judentum und die Rechtswissenschaft“ verallgemeinend der „Anfälligkeit des deutschen Geisteslebens gegenüber fremden Einflüssen“ umzuwidmen (17.8.1936). Schmitt antwortete, die Aufgabe einer „rechtswissenschaftlichen Erörterung der Judenfrage“ sei bereits durch die Worte des Führers vorgezeichnet: „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ (26.8.1936) Herrfahrdt verwahrte sich dagegen: „Hitler hat in der Zeit der Wahlkämpfe vieles gesagt, was aus seinen persönlichen Erlebnissen und aus der damaligen Situation verständlich ist, was er aber als Führer des deutschen Volkes und Staates nicht mehr sagen könnte und dürfte.“ Es könne ihm keine Stütze sein, „wenn wir aus „Mein Kampf“ eine politische Bibel machen und damit in den Byzantinismus zurückfallen, der das Schicksal Wilhelms II. und seines „Gottesgnadentums“ gewesen ist. (.  .  .) ich sehe heute schwere charakterliche Gefahren. In der Judenfrage macht sich eine Gehässigkeit breit, die mit deutscher Ehre nicht vereinbar ist. (.  .  .) Ich habe zunächst die Hoffnung gehabt, dass das Undeutsche, Parteihafte im Nationalsozialismus im Dritten Reich von selber verschwinden würde. Aber ich sehe jetzt, dass das nicht zu erreichen ist, wenn nicht die wirkliche Bewegung sich gegenüber der mechanisch nach den Lebensgesetzen des Parteienstaates weiterwirkenden und zum Selbstzweck gewordenen Technik von Propaganda und Organisation wieder stärker geltend macht.“ (4.9. 1936) An der Tagung nahm aus Marburg der bereits emeritierte Erich Jung mit einem Vortrag über Positivismus, Freirechtslehre, neue Rechtsquellenlehre teil.64 In der im folgenden Jahr ihm überreichten Festgabe der Fakultät versuchte Herrfahrdt, der noch unwissenschaftlichen „Rassenkunde“ eine Kulturwissenschaft vom Volk entgegenzustellen, die über Blut und Boden hinaus praxisnah Geschichte, Gesellschaftsund Verwaltungslehre zu integrieren habe. Konkret lasse sich so z. B. die moderne Zweckstrafrechtslehre ohne jedes Sühneritual und – bioethisch – die Unfruchtbarmachung Erbkranker als unvereinbar mit dem „in der Ganzheit unserer Lebensordnung gewachsenen Empfinden“ erweisen.65   Politische Verfassungslehre, Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie 30. 1936, 104 ff.   E. Jung, Judentum in der Rechtswissenschaft, Band  8 : Rechtsquellenlehre und Judentum. Positivismus, Freirechtschule, neue Rechtsquellenlehre, Berlin 1937. 65   Werdens- und Wesenserkenntnis in den Wissenschaften von Rasse und Volkstum, in: Beiträge zur Neugestaltung des Deutschen Rechts. Festgabe der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marburg zum 70. Geburtstag des Prof. Erich Jung, Marburg 1937, 106 ff. Vgl. auch die Besprechungen von M. H. Boehm, Volkskunde, Berlin 1937, in: Deutsche Literaturzeitung 1939, sp.  27–29; und H. Günther, Formen und Urgeschichte der Ehe, München 1940, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 54.1941, 369 ff. („Soziologie der Vorgeschichte“); Die kulturhistorische Ethnologie P. W. 63

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Erstmals nahm er auch „Japans Staatsentwicklung vom Dritten Reich her gesehen“ in den Blick, in der eine konfuzianische Ehrfurcht vor dem Alter regiere und noch am ehesten im Soldatenstand die Verbindung von Staatsführung und Volksgliedern, die Einheit der Nation und der Geist der sozialen Gerechtigkeit verkörpert werde.66 Am 15.1.1937 bot er der Akademie für deutsches Recht seine Mitarbeit zu den Themen „Völkerkundliche vergleichende Staatslehre“ und „Staatsauf bau (Stellung der Stände, Staat und Bewegung, Entwicklung des Rechtsstaats)“ an.67 Danach nahm er seine Sprachstudien wieder auf, um Zugang zu den vaterrechtlich-autoritären ostasiatischen Rechtskulturen zu finden68 und gleichzeitig die Fortsetzung der „echten deutschen Geschichte“ der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu fordern.69 Die Veröffentlichung eines Vorlesungsmanuskripts „Volk und Rasse“ scheiterte 1938 am Widerspruch der parteiamtlichen Prüfungskommission.70 In „Deutscher Reichsgedanke und westeuropäische Nationalstaatsidee“ (Mai 1939) bestimmte er schliesslich den Reichsgedanken als eine „Verschmelzung germanischer und christlicher Haltung“ in der christlichen „Sendung eines Volkes über sich hinaus“, die nicht mit dem „sittlich bindungslosen Imperialismus“ der hegemonialen und kolonialen Ausbeutungspolitik des Nationalstaats zu verwechseln sei. Der Reichsgedanke fordere nicht das Selbstbestimmungsrecht, sondern die Verantwortung der Völker, nicht ein West-, sondern ein Mitteleuropa und eine Weltordnung der grossen Reiche mit einem neuen Völkerrecht, das eine Verständigung mit den grossen Völkern Ostasiens und des Islams ermögliche und „zwar nicht eine Welt des ewigen Friedens sein wird, aber den Kampf auf die grossen schicksalhaften Auseinandersetzungen zwischen aufsteigenden und absterbenden Völkern beschränkt.“71 Am 6.8.1939 wies die Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft auf Anweisung der Akademie eine Arbeit über „Die Vorgeschichte der ungleichen Verträge Chinas“ zurück, die er auf eine allseitige Unkenntnis der beteiligten Rechtskulturen und ihrer Grundwerte zurückgeführt hatte. Die aussenpolitische Rücksicht auf den zukünftigen Alliierten Japan holten seinen Idealismus erneut auf einen blutgetränkten Boden zurück.72 Nach dem Ausbruch des 2. Weltkriegs scheiterte ein vom Reichserziehungsministerium zunächst befürworteter Antrag, als Gastprofessor nach Japan Schmidts. Besprechung von P. W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, 3. Abt., Asiatische und afrikanische Hirtenvölker, Bd.  V II, Theologische Literaturzeitung 1944. 66  Japans Staatsentwicklung vom Dritten Reich her gesehen, Deutsche Juristenzeitung 41. 1936, sp.  1266–1270 67   Am 6.1.1938 wurde der Lehrauftrag auf „ostasiatische Rechts- und Staatslehre“ erweitert. 68   Die innere Sprachform des Japanischen im Vergleich mit der der indogermanischen Sprachen / Wörter und Sachen 1938, 165–176; Das Chinesische Strafgesetzbuch vom 1. Januar 1935, übersetzt von Chang Chungkong und H. Herrfahrdt, mit einer geschichtlichen Einleitung von H. Herrfahrdt, Bonn, 1938, I–VI, 1–86. 69   Zum Streit um die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Deutsche Verwaltung, 1938, 611 ff. Herrfahrdt hatte schon 1933 Kontakt mit Hsü Dau Lin. 70   Am 29.11.1938 unterzeichnete Meissner in der Reichskanzlei die Verleihung eines silbernen Ehrenzeichens „als Anerkennung für 25jährige treue Dienste“. 71   Deutscher Reichsgedanke und westeuropäische Nationalstaatsidee, Vortrag (Mai 1939), T.heim, 1939. 72   In italienischer Übersetzung: La preistoria dei „patti diseguali“ della Cina (1939), in: G. Ajani / J. Luther (Hg.), Modelli giuridici europei nella Cina contemporanea, Napoli 2009.

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entsandt zu werden.73 Am 2.10.1940 wurde er zum Heeresdienst zunächst in Norwegen und später in Posen und Frankreich einberufen, in dem er als Major d.R. zahlreiche Vorträge hielt, z. B. „Das Reich und die Neuordnung Europas“74 oder „Was haben Deutschland und Japan sich gegenseitig zu geben“75. Im August 1944 ausser Dienst gestellt, wurde ihm eine Berufung nach Frankfurt verwehrt. Noch am 30.1. 1945 schrieb er an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof mit der vergeblichen Bitte um Revision des Todesurteils von Margarete Blank.

4.  Vom Wiederauf bau in Hessen zu den Aussichten einer neuen Weltordnung Am 1.10.1945 eröffnete Herrfahrdt als kommissarischer Präsident zusammen mit Adolf Arndt als kommissarischem Oberstaatsanwalt wieder das Landgericht Marburg. Er gedachte den Opfern der „Weltkatastrophe des Krieges, den Zeiten der Friedlosigkeit und der Zerstörung des Rechtsgefühls“ und versprach eine Wiederkehr der Unabhängigkeit des Richters, der frei von der Willkür des gesunden Volks­ empfindens oder echter Gefühle und frei zur Bindung allein an das Gesetz sei und dem Gesetz getreu „Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben“ habe.76 Am 9.10.1945 notierte er als „Vorschläge für Gemeindeordnung und Gemeindewahlgesetz“ die Zulassung von Einzelkandidaturen und Vorschriften zur Kandidatenaufstellung zur Beendigung der Alleinherrschaft der Parteien, die Bildung von Ausschüssen und beratende Mitwirkung von Berufs- und Interessenvertretern. Nach der Art ihrer Entstehung ergab die grosshessische Gemeindeordnung vom 21.12.1945 dann aber nur eine „Übergangsregelung“, weil sie der „Besinnung auf die den deutschen Verhältnissen angemessenen Formen des Volksstaates“ zu wenig Raum liess.77 Sie entschied sich zwar für das Verhältnismässigkeitsrecht und einen politischen „Auf bauausschuss“, verlangte aber auch, Bürgermeister und Beisitzer sollten ein „ge Vgl. A. Nagel, Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus, Stuttgart 2000, 433.   Vgl. daran anschließend die im „Endkampf “ erstellten „Gesichtspunkte für die Neuordnung Europas“ (2 ms. S) zur Notwendigkeit eines neuen Weltordnungsbildes, das „die Gegner künftig zu fruchtbare Arbeit“ zusammenführe. „Hierzu müssen wir ihnen ein Bild des künftigen Europa zeigen, das, auf der deutschen Mittlerstellung als unserer geschichtlichen (europäischen) Aufgabe beruhend, auch für England und Russland positiver Möglichkeiten bietet als die Aussicht auf eine nach unserer Vernichtung zwischen ihnen notwendig werdende Auseinandersetzung“. 75   Was haben sich Deutschland und Japan gegenseitig zu geben? in: Nippon. Zeitschrift für Japanologie 9.1943, 49 ff. Ferner: Frankreich seit 1939, Die Staatsentwicklung Japans, China und die Staatslehre Sun Yatsens, Afrika in der Weltpolitik, Völker und Rassen Europas, Staatsformen des 20 Jh., Der Führergedanke im nationalsozialistischen Staat, Vorgeschichtliche Grundlagen der deutschen Kultur, Germanentum, Christentum und Antike in der deutschen Kultur. 1943 wurde ihm gestattet, im Wintersemester wieder in Marburg zu lesen, was er zur Erstellung einer Einführung in die Verwaltungslehre nutzte: Verwaltungslehre, in: R. Reinhardt (Hg.), Deutsches Recht, zugleich eine Einführung in das Studium der Rechtswissenschaft, Marburg 2.  Aufl. 1944, 108 ff.; vorveröffentlicht in: Feldpostbriefe für Studenten der Rechts- Staats- und Wirtschaftswissenschaften, Nr.  21a, Prag. 76   Gerechtigkeit gegen Jedermann. Die Eröffnung des Landgerichts Marburg, 1.10.1945, Marburger Presse. Am 20.11.1945 erhielt Herrfahrdt seine Entlassung, wohl auch weil er Vorsitzender im vom Regional Military Government berufenen „Beratender Rechtsausschuss für Grosshessen“ wurde. 77   Die neue Gemeindeordnung, Der Wirtschaftskurier Nr.  1 April 1946. 73 74

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meinsames“ Vertrauen besitzen, was wohl nicht nur in Nassau nach einer Art „consociative democracy“ klang. Schon am 9.1.1946 hatte das US-Military Government der Universität mitgeteilt, Herrfahrdt sei „für den Unterricht unzulässig qualifiziert“ und solle auch nicht mehr im Justizministerium beschäftigt werden. Am 18.7.1946 wurde er wegen eines anstössigen Texts vom Dienst suspendiert. Es handelte sich um ein unveröffentlicht gebliebenes Manuskript über „Das Wesen des Nationalsozialismus“, das zwar eine „hemmungslose Bekämpfung der Juden“ einräumte, im Wesentlichen aber zwei teils apologetische, teils selbstbelastende Thesen vertrat: „1) Der Nationalsozialismus ist keine in sich einheitliche Richtung, sondern hat zumindestens ein Doppelgesicht. 2) Das deutsche Staats- und Volksleben seit 1933 war nicht ausschliesslich beherrscht vom Nationalsozialismus, sondern zu seinem wesentlichen Teil bestimmt durch das Weiterwirken von Kräften, die aus der früheren Entwicklung des monarchischen Beamtenstaates stammen.“ Das durch einen Streit der Fakultät mit dem Rektor Ebbinghaus und Vorhaltungen des Theologen Bultmann (10.8.1947) gespannte Spruchkammerverfahren wurde eingestellt und die Militärregierung erlaubte ihm (15.7.1948), wieder Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre frei nach Lorenz v. Stein zu lesen.78 Herrfahrdt verteidigte sich, es sei nicht Aufgabe der Wissenschaft gewesen, eine parteipolitische Gegenposition zum Nationalsozialismus zu beziehen, sondern dessen Lehren durch sachliche Auf klärungsarbeit entgegenzuwirken. „Die nationalsozialistische Diktatur war nur die krasseste Zuspitzung einer Tendenz, die in unserem ganzen Parteiwesen steckt.“79 In dem um die „Verirrungen“ des Nationalsozialismus neu entbrannten „Streit um den Positivismus in der gegenwärtigen deutschen Rechtswissenschaft“ versuchte er sich damit zu rechtfertigen, nur der wertblinde relativistische Positivismus habe geschadet. Die krassesten Formen des Unrechts, wie „Massentötungen von Juden und Kranken“, seien ohnehin auf Grund von Geheimbefehlen vollzogen worden, deren Geltung auch ein positivistischer Standpunkt nicht geboten habe. Bei nur unsittlichen Gesetzen habe sich ein Richter zu fügen, dürfe aber an der Läuterung des Rechtsbewußtseins und der Verbesserung der Gesetze mitarbeiten.80 In einem weiteren Vortragsmanuskript „Nationalsozialismus“ grenzte er dessen „durch parteipolitische Agitation und Demagogie pathologisch verzerrte Erscheinung“ von den anderen deutschen „Erneuerungsbewegungen“ ab, negierte die Existenz eines NS-Staates, behauptete „schwerste Gewissenskonflikte“ in der Widerstandsfrage, hielt vorsätzliche Tötung für nicht straf bar, „wenn der Täter ernstlich 78   Vgl. nur Neue Verwaltungswissenschaft, Deutsche Rechtswissenschaft 1948, 87 f. (März); Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, in: R. Reinhardt (Hg.), Einführung in die Rechtswissenschaft, Marburg. Elwert-Gräfe und Unzer Verlag, 1949, 88 ff., 110 ff. 79   Brief an die Schriftleitung des Wiesbadener Kuriers v. 11.7.1946. Vgl. VVDSTRL 13. 1955, 186 f.: „Indem die NSDAP über die alten Parteien siegte, konnte sie sich vortäuschen, den Staat erobert zu haben; in Wahrheit hatte sie nur in dem für das Staatsganze unwesentlichen parteipolitischen Bereich gesiegt. So ist der Beamten- und Verwaltungsstaat bis heute bestehen geblieben; er hat nur Fassade und Spitze gewechselt.“ 80   Der Streit um den Positivismus in der gegenwärtigen deutschen Rechtswissenschaft, Deutsche Rechts-Zeitschrift, 1949, 32 f. Einen „kritischem Positivismus“ empfiehlt er in: Der Positivismus in der Rechtswissenschaft, in: Studium Generale 1954, 86 ff.

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von der Notwendigkeit der Ausrottung vermeintlicher Schädlinge überzeugt gewesen ist“, und versprach eine „Überprüfung unserer Wertmassstäbe“. Zur „Bewältigung unserer Vergangenheit“ bedürfe es am „Ende der Neuzeit“ einer Art neuen Romantik: „Vielleicht kommt uns ein neuer Anstoss von der Berührung mit den Völkern Asiens und Afrikas, in denen vieles lebendig geblieben ist, was wir auch einmal besessen haben, was uns aber im Laufe der Neuzeit verloren gegangen ist.“ In der Zwischenzeit hatte er sein Buch über Sun Yat Sen als Meister schiedsrichterlicher Führung abgeschlossen, dessen ostasiatische Staatsauffassung in einer kosmologischen Weltanschauung und Ethik wurzele und anders als in Europa eine Einheit von „Denken und Leben“ anstrebe.81 Der Blick nach Osten ging weiter zur oktroyierten japanischen Verfassung und Demokratie82 und liess ihn an China als Beispiel missglückter Kondominialverwaltungen erinnern, in denen das Streben nach Alleinherrschaft die Gefahr neuer Kriege bedeute. Im Wiesbadener Kurier (11.6.1946) und in der Zeit (5.9.1946) wandte er sich „Raumpolitik und Völkerrecht“ in ethnographischen, wirtschaftlichen und militärischen „Überschneidungsräumen“, speziell Triest zu. Sie seien eigentlich der Normalfall und man habe sich daher von der Idee frei zu machen, souveräne Staaten seien durch eine scharfe Grenze getrennt. Im Schulwesen helfe die Kulturautonomie in Estland83 zum Umdenken, in wirtschaftlicher Hinsicht vor allem die Zollgrenzen, die „später einmal in weiten Gebieten Europas überhaupt ihre Bedeutung verlieren“. Früh bekannte er sich zu einer „europäischen Gemeinschaft“ ohne parlamentische Demokratie. Nur durch eine „grundlegende europäische Neuordnung, bei der die Grenzen ihre bisherige Bedeutung verlieren, kann eine Lösung für den deutsche Osten gefunden werden.“84 Die wohl noch älteren „Leitsätze für die Neuordnung Europas“ zeichneten „eine christliche Gemeinschaft der europäischen Völker“, freilich ohne England und Russland.85 Seine Studien zur Rechtslage Deutschlands veröffentlichte er vor allem in Argentinien.86 Das „Bonner ‚Grundgesetz‘ für die Bundesrepublik Deutschland“ stellte er 81   Sun Yat Sen, der Vater des neuen China, Hamburg 1948; vgl. auch die Besprechung von P. W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, Bd.  V III + IX, 3. Abt.: Die Religionen der Hirtenvölker, II. Die Afrikanischen Hirtenvölker + III. Die Asiatischen Hirtenvölker, 1949, Theologische Literaturzeitung 1950, sp.  415 f. 82   Die staatsrechtliche Entwicklung Japans seit 1945, Deutsches Verwaltungsblatt 1951, 746 ff.; Die Bedeutung der Monarchie für die Gegenwart (Vortrag vor dem Verfassungsrevisionsausschuß, Tokyo 1959), in: Erbe und Auftrag. Zeitschrift zur Förderung des monarchischen Gedankens 1970, 50 ff.; Parlament und Krone im heutigen Japan, Der Staat 1963, 65 ff. 83   Vgl. schon Besprechung von H. Plettner, Das Problem des Schutzes nationaler Minderheiten, Archiv des öffentlichen Rechts n. F. 16.1929, 147 ff.; später: Volksgruppen in sprachlichen Überschneidungsräumen, in: Zeitschrift für Geopolitik, Weltwirtschaft, Weltpolitik und Auslandswissen, 1955, 720 ff. 84   Die deutschen Ostgrenzen, Wiesbadener Kurier 1.  3. 1947. 85  Vgl. später Europäische Einigung. Besprechung von: R. Couldenhove-Kalergi, Die Europäische Nation, Stuttgart 1953 und Auswärtiges Amt (Hg.), Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, Bonn 1953) Politische Literatur 2. 1953, 274 ff.; Besprechung von: R. R. Bowie / C. J. Friedrich u. a., Probleme einer europäischen Staatengemeinschaft. Studien zum Föderalismus, Frankfurt 1954, in: Das Historisch-Politische Buch 2.1954, 254 f. 86   In der Zeitschrift „Jurisprudenzia Argentina“ erschienen: Evolucion y ciencia del derecho de la Alemania ocupada (Übersetzt von C. Grossmann, dt. ms.: Rechtsentwicklung und Rechtswissenschaft im besetzten Deutschland), 29.12.1947, 22.3.1948, 29./31.5.1948, 2./11.7.1948, 12./16.8.1948; La unidad del Alemania y su situacion desde el punto de vista del derecho de gentes, 11.11.1948; La justicia

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dabei als „Notbau“ für eine „Übergangszeit“ dar, der nach der Spaltung des Volkes vom Parlamentarischen Rat nur beraten, aber nicht entschieden worden sei. In Westdeutschland hätten ausserparlamentarische Bewegungen z. T. ein Mehrheitswahlrecht, z. T. einen Auf bau aus den Gemeinden nach dem Grundsatz der Subsidiarität oder aus Berufsständen bevorzugt, aber die Bonner Diskussionen hätten sich letztlich noch in der Gedankenwelt des 18. und 19. Jahrhunderts bewegt.87 Im ersten Heidelberger Treffen der Vereinigung der Staatsrechtslehrer 1949 ging es zunächst um das Thema der Kabinettsfrage, in der er das Recht des Bundespräsidenten verteidigte, einen Minister nicht zu ernennen. Sein eigener Beitrag, „Der Rechtsstaatsgedanke als Element unserer künftigen politischen Ordnung“, verzichtete auf jegliche Exegese des Verfassungstextes zugunsten einer rein verfassungsgeschichtlichen Perspektive. Der Rechtsstaat sei neben den Freiheitsrechten und dem Volkswillen ein drittes Element des Demokratieprinzips im weiteren Sinne und habe im Gegensatz zu ihnen eine wachsende, zukunftweisende und integrierende Bedeutung.88 Im Bonner Kommentar zum Grundgesetz entwickelte er dann eine besonders traditionsbewußte und rechtsvergleichende Auslegung der Artikel über die Bundesgesetzgebung und die Ausführung der Bundesgesetze, die u. a. die Nichtjustiziabilität der Bedarfsklausel in Frage stellte und den Verzicht auf eine Subsidiaritätsgesetzgebung rügte (Art.  72 GG).89 Die auch durch die Verfassungslehren von Loewenstein90 und Hermen aufgeworfene Frage, „auf welchen Kräften die tatsächliche Integration des Volkes im Staatsleben beruht“, versuchten seine Thesen auf dem 11. Soziologentag 1952 zum Thema „Der Staat der Gegenwart und die wirtschaftlichen und ausserwirtschaftlichen Interessengruppen“ zu beantworten. Klassen- und Interessengegensätze ausgleichende Kräfte seien in den Vereinigten Staaten und der Schweiz eine auf der „Erinnerung des gewonnenen Freiheitskampfes“ beruhende demokratische Tradition mit Korrektiven unmittelbarer Demokratie, in Skandinavien, Niederlanden und Japan die Monarchie als „Soziales Königtum“, in England eine aristokratische parlamentarische Tradition und in Frankreich „das Gefühl des äusseren Bedrohtseins“. In Deutschland sei der Staat noch in der Krise, habe aber neue Ansätze im Kommunal- und Arbeitsrecht, in der „Vermittlung des Bundeskanzlers zwischen den Sozialpartnern“ und der Heranziehung der Interessengruppen durch die Exekutive gefunden. Da auch Manaadministrativa, 16.12.1948; El desarollo del derecho de socializacion, 31.1.1949; L’administracion de Justicia en la zona de ocupacion sovietica, 26.3.1949; Derecho economico, 27.3.1949; Derecho comunal, 24.4.1949; Derecho de policia, 10.6.1949; La Ley fundamental de Bonn para la Repubblica Federal de Alemania, 5.8.1949; La idea del estado de derecho en la Ley fundamental de Bonn, 3.7.1950. 87   Das Bonner „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“, in: R. Reinhardt (Hg.), Einführung in die Rechtswissenschaft, Marburg, 2. erw. Aufl. 1949, 393 ff. 88  Tragweite der Generalklausel im Art.  19 Abs.  4 des Bonner Grundgesetzes, Mitbericht und Schlußwort, VVDStRL 1950, 126–148, 164. In der Aussprache vermisste Becker den „sozialen“ Rechtsstaat, Draht die Rolle der Gesetzgebung. 89   B. Dennewitz u. a. (Hg.), Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Hamburg, 1950. 90  Das Problem der Verfassung. Besprechung von K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungsrealität, Archiv des öffentlichen Rechts 1951, Politische Literatur 1952, 5 ff.; Die Aussichten der Monarchie (Besprechung von K. Loewenstein, Die Monarchie im modernen Staat, Frankfurt 1952), Politische Literatur 1952, Heft 5/6, 172–173

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ger neue Formen des wohl „praktischen Ausgleichs“ entwickelten, waren aus dieser Sicht grosse Koalition91, Independent Agencies, Konzertierte Aktion und Governance Fortschritte.92 Als Protestant sah er zudem in der Erneuerung der evangelischen Kirchenverfassung Anregungen für die Staatsgestaltung speziell eine engere innerliche Bindung der Organe, der stufenweise Auf bau aus der Gemeinde und „die hohe Bedeutung der Ökumene für die politische Gemeinschaft der Völker“.93 Gegen Ende der fünfziger Jahre nahm angesichts der „pluralistischen Gegebenheiten“ auch seine Demokratie und Parteienskepsis ab. Demokratie sei nicht lediglich der Weg, den Volkswillen auszudrücken, sondern in einem weiteren substantiellen Sinne „wie in Amerika als Inbegriff von allem Gutem im Gemeinschaftsleben“ zu verstehen. Die deutschen Parteien seien mehr als reine Interessengruppen: „Andererseits brauchen wir uns unserer Weltanschauungsparteien nicht zu schämen. Sie können als idealistisch vorwärtsdrängende Kräfte eine gute Ergänzung zu dem nüchtern ausgleichenden Geist der Verwaltung bilden (.  .  .).“94 Als Rechtsvergleicher sah er jedoch vor allem Unterschiede im Welt- und Menschenbild zwischen amerikanischer Selbstsicherheit und deutschen Gewissenskonflikten, „aber weder in Deutschland noch in Amerika oder anderen Ländern ist es bisher gelungen, Klarheit über den Anteil von Religion, Idealismus und Utilitarismus bei der Bildung unserer Werturteile zu schaffen.“95 Auf die Frage nach der Überprüfung der Wertmassstäbe war er schon vor Carl Schmitts Klage gegen die Tyrannei der Werte zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen, unmittelbar aus letzten Werten seien keine konkreten juristische Tagesfragen zu entscheiden.96 Ohne Werte sei jedoch auch der Kampf gegen das Leiden auf der Welt sinnlos. Zwischen Religion, Utilitarismus und Idealismus sei zwar das Wohlergehen der Menschheit ein konsensfähiges Ziel, aber der Weg sei mit Verirrungen gepflastert. Glaube und Denken, idealistischer Aufschwung und nüchternes Abwägen, rationale und irrationale Gehalte des Rechts müssten sich gegenseitig ergänzen. „Eine Weisheit der Schöpfungsordnung oder der geschichtlichen Entwicklung hat in den Menschen Kräfte des Gewissens und des Rechtsgefühls hineingelegt, die dem menschlichen Wohlergehen besser dienen als die berechnende Sorge um das grösste Glück der grössten Zahl.“ Wichtigste Staatsaufgabe sei die „Verhütung des   Statt Mehrheitsprinzip schiedsrichterliche Entscheidung, Oberhessische Presse 16.10.1966.   Kölner Zeitschrift für Soziologie 1951/2, 583–585. Vgl. auch die Beiträge zu den Tagungen des Institut International de Sociologie: Associative and Authoritarian Elements in the State of European Prehistoric Times (Istanbul 1952), Die Übertragbarkeit demokratischer Formen auf Länder ohne parlamentarische Tradition (Baune 1954), Les conditions sociales pour le fonctionnement du gouvernement démocratique dans des pays sans traditions parlémentaires, (Beirut 1957); Wertende und wertfreie Methoden in der Soziologie (Nürnberg 1958). 93   Die Bedeutung der evangelischen Kirchenverfassung für die Staatsgestaltungsfragen der Gegenwart, in: F. Heiler /F. Schulze (Hg.), Ökumenische Einheit. Fortsetzung der „Eiche“ und „Einen Heiligen Kirche“, München 1952, 113 ff. 94   Besprechung von E. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958), Zeitschrift für Politik 1959, 66. Vgl. auch die Zustimmung zu Hesses Referat der Staatsrechtslehrertagung 1958, VVDStrL 17.1959, 109. 95   Amerikanische Staats- und Rechtsordnung in deutschen juristischen Dissertationen, Jahrbuch für Amerikastudien 4. 1959, 96 ff. 96   VVDStrL 1952, 55. 91

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Kampfs in Gestalt von Krieg, Klassenkampf und derjenigen Formen des Konkurrenzkampfes, die über den reinen Wettbewerb durch bessere Leistung hinausgehen.“ Nicht der Weltstaat, eher ein „Stamm von internationalen Richtern“ und eine Humanisierung des Krieges sei der Weg zum Weltfrieden. Gesucht sei eine „Synthese mit dem ganzheitlich geschlossenen Weltbild des Mittelalters“, „indem wir die Menschen eines Volkes und die Völker innerhalb der Menschheit wieder als sich gegenseitig ergänzende Glieder eines Leibes sehen lernen.“97 Die Befürchtung, die Nachahmung der Modelle der westeuropäischen Demokratie und des Nationalstaats könnten bestehende Kultur- und Völkerbrücken einebnen und den Weltfrieden gefährden, bestimmte nach seiner großen Ostasienreise 1959– 60 das letzte Lebensjahrzehnt.98 „Der Beitrag der Wissenschaft zur Einigung der Welt“ dürfe nicht Egalisierung, sondern Vergleichbarmachung durch Differenzierung und Integration von Gemeinschaften unterschiedlicher Stile sein.99 Er beobachtete, wie die Versuche der Entwicklungsländer tragisch scheiterten, demokratisch-parlamentarische Regierungen zu errichten und die Selbstbestimmung eine ihren Frieden gefährdende Illusion blieb. Entwicklungshilfe lasse sich nicht an Demokratievorbehalte knüpfen, aber Deutschland habe ähnliche Schwierigkeiten bei der Übernahme der westlichen Modelle gehabt und sei zu einer Partnerschaft gegenseitigen Lernens besonders geeignet.100 „Neue Rechtsformen für Überschneidungsräume“ seien die Unsichtbarmachung der Grenzen, eine gezielte Politik der Sprachvermischung und selbstverwaltende „Heimatgenossenschaften“, die in Zypern, Israel und Kaschmir im Wege der Völkersymbiose Probleme lösen, aber auch die Spaltung Deutschlands entschärfen könne. Das „Problem des Gerechten Friedens“ erfordere ein Weltsicherheitssystem, in dem jeder Krieg, der der letzte gewesen sein solle, nicht mit Eroberungen enden dürfe. Es gelte, die Traditionen Mitteleuropas nach Westen zum atlantischen Bündnis und nach Osten zu öffnen.101 97   Staat und Recht im Lichte letzter Werte, Zeitschrift für Politik 1957, 207 ff.; vgl. Der Christ und die Probleme der Welt, in: Mitteilungen des Deutsch-Japanischen Kulturinstitutes, Nr.  10, Oktober 1961, 9 ff.; Werterkenntnis und Normenbedürfnis, Festschrift Fritz von Hippel, Tübingen 1967, 209 ff. 98   Bleibendes und Wandelbares im chinesischen Kommunismus, in: Der XV. Deutsche Orientalistentag, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, ZDMG 111, 1961, 421–423; Artikel: Boxeraufstand, Chinese Immigration Act„ Jangtse-Vertrag von 1900, Mandschurei, Mongolei äußere, Ungleiche Verträge, in: K. Strupp / H.-J. Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin, 2. Aufl, 3 Bde 1960–62; Stichwörter: China, Entwicklungsländer. Staatsgestaltung, Entwicklungshilfe 1. Staatlich, Judenfeindschaft (mit P. Reinhardt), Nationalismus, Rasse 1. Antropologisch, Recht auf Heimat. 1. Rechtlich, Rechtssoziologie, Universalismus, in: H. Kunst (Hg.) Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart, 1966; Artikel: Entwicklung der Staatsordnung, Abhängige Gebiete, Rechtsstaat, Regierungsformen, Souveränität, Staatsrecht, Verfassung, in: Entwicklungspolitik : Handbuch und Lexikon, Stuttgart, 1966; Das Selbstbestimmungsrecht der Völker im kommunistischen China, in: B. Meissner (Hg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Osteuropa und China, Köln 1967, 200 ff.; Probleme der Sprachmischung in Ostasien, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1969, 1057 ff.; Betrachtungen über Sprachmischung, Festschrift E. Ammann, Stuttgart 1969, 154 ff. 99   Der Beitrag der Wissenschaft zur Einigung der Welt, in: O. Anderle (ed.), The Problems of Civilizations, Report of the First Synopsis Conference of the S. I. E. C. C., The Hague, 1964, 424 ff. 100   Staatsgestaltungsfragen in Entwicklungsländern Asiens und Afrikas, Karlsruhe 1965. 101   Das Gutachten „Neue Rechtsformen für Überschneidungsräume“ (9.4.1965) und der Vortrag „Zum Problem des „Gerechten Friedens““( 9.  4. 1965) wurden in: H. Kloss (Hg.), Beiträge zu einem System des Selbstbestimmungsrechts, Wien 1970, 109 ff.; 265 ff. veröffentlicht. Vgl. auch: Die Über-

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Heinrich Herrfahrdt war noch kein Prophet der Postdemokratie und fürchtete weder einen islamischen Fundamentalismus und Asian Values, noch den Zusammenstoss der Kulturen. Er blieb seinen Werten treu und liebte die Tugenden des Rechtsstaats und der Richter mehr als die Versuchungen der Mehrheitsdemokratie und die Gehässigkeit der Parteipolitiker. Die Selbstregierung des Volkes sei eine Illusion, weil es keine volonté génerale gebe und die parlamentarische Demokratie sei nur eine Minderheitsherrschaft oder Wetteifer um die Bedienung von Klientelen, was auch für supranationale Organisationen gelte.102 Eine demokratische Kultur könne auch nicht durch Gesetz befohlen werden. Im Marburger Streit darum, ob sie von unten in Institutionen wie Schule und Universität durch Kritik gelernt werden könne, beanspruchte er für die Universität die Aufgabe, moralische Kräfte zu wecken. Die Kritik darf der Person und ihrem Lebensweg, nicht aber den Lehren und ihren in die Wagschale geworfenen Werten erspart werden. Seine Zeit war nicht die des Melchisedek, des weisen Königs der der Gerechtigkeit und des Friedens und des namenlosen Priesters des Höchsten. Seine an den Fronten gehärteten Werte wurden im Wertungsdenken eingeschmolzen und sein romantisches Ideal der schiedsrichterlichen Führung überlebt in manchen Präsidialkulturen. Seine Geschichte lehrt jedoch auch, daß der Wert der Verfassung und des Vertrauens in demokratische Verantwortung höher einzustufen ist.

windung der Grenze im Osten, in: Anstöße. Berichte aus der Arbeit der evangelischen Akademie Hofgeismar, Nr.  3, Mai 1967, 94 ff. 102   VVDStRL 23.1965, 105 f.

Antrittsvorlesung

„Constitutional Moments“ in globaler Perspektive – eine völkerrechtliche Spurensuche von

Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M., Hamburg Einleitung Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung1 haben die Perspektiven auf das Recht, sie haben die Entstehung von Recht und den Zugang zum Recht nachhaltig verändert. Das heißt aber nicht, dass diese drei – ohnehin nicht genau definierbaren, nicht trennscharf abgrenzbaren – Phänomene primär normativer Natur oder primär durch das Recht veranlasst wären.2 Im Gegenteil: Schon der Begriff Phänomen verweist auf Erscheinungen, auf Veränderungen der Lebenswirklichkeit, denen sich der Jurist – um ganz bewusst auf eine den Sozialwissenschaften entlehnte Methode anzuspielen – als „teilnehmender Beobachter“3 gegenübergestellt sieht. Will er die Welt erklären, bevor er sie beobachtend beschrieben hat, muss er scheitern. Das gilt umso mehr, wenn er sich zur Erklärung überkommener Kategorien bedient und in die Semantik des ihm Vertrauten flüchtet. Kaum einer hat das so pointiert formuliert wie Konrad Hesse anlässlich des 65. Geburtstags seines Schülers, meines verehrten akademischen Lehrers Peter Häberle: „Wir leben insoweit von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bisher als gesichert geltende Bestandteile der Staats-

1   M. Albert, Globalization Theory: Yesterday’s Fad or More Lively Than Ever?, in: International Political Sociology (2007), S.  165 ff.; A. Leander, Globalization Theory: Feeble .  .  . And Highjacked, in: International Political Sociology 3 (2009), S.  109 ff.; P. Zumbansen, Spiegelungen von Staat und Gesellschaft: Governance-Erfahrungen in der Globalisierungsdebatte, in: ARSP, Beiheft 79, 2001, S.  13 ff., 21 ff.; zur Begriffstrias Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung respektive zu den Begriffskontexten M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004, S.  54 ff. 2   A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S.  130, beschreibt Globalisierung als „Außenseite des Staates“. 3   B. Hauser-Schäublin, Teilnehmende Beobachtung, in: B. Beer (Hrsg.), Methoden und Techniken der Feldforschung, 2003. S.  33 ff.; P. Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, 10.  Aufl. 2003, S.  79 ff.

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und Verfassungslehre“ – und, Hesse ergänzend, auch der Völkerrechtslehre4 –, „ist die Geschichte hinweggegangen.“5 Was bleibt, ist Verunsicherung, die aber gerade in ihrer Negation des vermeintlich „Sicheren“ fruchtbar sein kann und zu einer „Neuvermessung der Welt“6 des Rechts, sehr viel bescheidener angelegt, zu neuen juristischen Spurensuchen einlädt. Für den Völkerrechtler beginnen diese mit einer schlichten Beobachtung: Immer mehr Recht wird jenseits des Staates gesetzt, immer mehr vormals exklusiv staatliche Hoheitsgewalt wird jenseits des Staates ausgeübt – beides mitunter auch von nichtstaatlichen Akteuren.7 Diese neuen Gewalten bedürfen der Begründung, der Kontrolle und der Begrenzung. Das aber sind die typischen Funktionen einer Verfassung, deshalb kommt die konstitutionelle Matrix als „Rahmen zur Neuvermessung“ ins Spiel.8 Doch schon der Begriff „konstitutionell“ ist prekär, da vorgeprägt von einem ganz anderen historischen Phänomen: der Genese des freiheitlichen Verfassungsstaates im Gefolge der Amerikanischen und der Französischen Revolution.9 Noch prekärer ist das anspruchsvolle Attribut der Verfassung, weil es für jene umfassende Grundordnung der typischerweise staatlich organisierten politischen Gemeinschaft steht10, die für die internationale Gemeinschaft letztlich immer Utopie bleiben muss. Die skizzierte Setzung von Recht und Ausübung vormals hoheitlicher Gewalt jenseits des 4  Siehe A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre. Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, 1995. 5   K. Hesse, Die Welt des Verfassungsstaates – Einleitende Bemerkungen zum Kolloquium, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S.  11 ff., 13. 6   In sprachlicher Anspielung auf den im Jahre 2005 erschienenen Roman von D. Kehlmann mit dem Titel „Die Vermessung der Welt“. 7  Diese Beobachtung liegt insbes. dem Ansatz von A. Peters zugrunde: A. Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S.  579 ff.; dies., Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, Zeitschrift für öffentliches Recht 65 (2010), S.  1 ff.; siehe auch S.  L eibfried/M. Zürn, Transformations of the State?, 2005. 8   Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012; M. Avbelj/J. Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012. 9  Das „prekäre Moment“ wird im Nachdenken um völkerrechtliche Konstitutionalisierungsprozesse von Anfang an deutlich und von den Kritikern immer wieder stark gemacht, hier ein weiterer Überblick zu den Debatten: frühe Konturen schon erkennbar werden ließ H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2.  Aufl. 1928, S.  320 und passim; sodann F. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, S.  152 ff., S.  293 ff.; Ph. Allott, Eunomia: New Order for a New World, 1990, S.  164 ff.; ders., The Concept of International Law, in: M. Byers (Hrsg.), The Role of Law in International Politics: Essays in International Relations and International Law, 2000, S.  72 ff.; dazu auch B. Faßbender, The Meaning of International Constitutional Law, in: R. St. J. Macdonald/D. M. Johnston (Hrsg.), Towards World Constitutionalism. Issues in the Legal Ordering of the World Community, 2005, S.  837 ff.; R. Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S.  565 ff.; J. A. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, BDGVR 39 (1999), S.  427 ff.; mit spezifischem Blick auf die GATT und WTO E.-U. Petersmann, Wie kann Handelspolitik konstitutionalisiert werden?, EA 1989, S.  59 ff.; bezogen auf die EMRK Ch. Walter, Die EMRK als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S.  9 01 ff. Ablehnend K. Zemanek, Für mehr Offenheit und Realismus in der Völkerrechtslehre, in: FS J. Delbrück, 2005, S.  895 ff., 907: konstitutionelles Denken im Völkerrecht sei bestenfalls ein „akademisches Konstrukt“; kritisch U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S.  511 ff. 10   J. Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  2 : Verfassungsstaat, 3.  Aufl. 2004, §  15 Rn.  1; weitere Nachweise bei Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht. Konstruktion und Elemente einer idealistischen Völkerrechtslehre, 2012, S.  119 ff.

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Staates bloß semantisch mit dem Prädikat des Konstitutionellen einhegen zu wollen11, wäre ebenso töricht wie der Versuch, verfassungsstaatliche Kategorien schlicht analog auf den Raum jenseits des Staates zu übertragen, obwohl die strukturellen Voraussetzungen zu einer solchen Analogie gerade fehlen.12 Was also heißt dann und zu welchem Ende eine konstitutionelle Matrix13, um dem gerecht zu werden, „was in den tiefen Wandlungen des 20. Jahrhunderts seinen Untergang gefunden hat?“14 Sie sei nicht als voreilige Erklärung dafür missverstanden, welchen Transformationsprozessen das Völkerrecht unterworfen ist.15 Sie taugt aber in einem ersten Zugriff als „analytisches Werkzeug“16, um diese Transformationsprozesse nachzuvollziehen und dem Beobachteten einen Rahmen zu geben. Erste Spuren von Verfassungsqualität im transnationalen Rechtsgefüge mögen sich ausmachen17, erste konstitutionelle Wertorientierungen mögen sich entdecken lassen.18 Die umfassendere Frage nach der Verfassungsqualität und Verfassungsform des neu Gerahmten, in seinen Teilen, in seinen Teilordnungen oder gar in seiner Gesamtheit, ist erst eine Folgefrage.19 Cum grano salis erlaube ich mir, sie für eine Abschiedsvorlesung aufzusparen. Für das vorsichtige Forschungsprogramm einer Antrittsvorlesung mögen die Vorfragen genügen. Mit einer für die Beobachtung besonders zentralen, der nach möglichen konstitutionellen Momenten, nach „constitutional moments“20 in globaler Perspektive sei begonnen.

  Verweise auf sehr viel avanciertere „semantic strategies“ finden sich bei O. Diggelmann/T. Altwicker, Is There Something Like a Constitution in International Law. A Critical Analysis of the Debate on World Constitutionalism, ZaöRV 68 (2008), S.  623 ff., 633 ff. 12   J. Habermas, Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance, in: ders., Der gespaltene Westen, 2004, S.  113 ff. 13   „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ hatte F. Schiller in seiner berühmten Antrittsrede an der Universität Jena im großen Revolutionsjahr 1789 gefragt. 14   Für einen äußerst instruktiven Überblick über die Diskussion A. v. Bogdandy, Constitutionalism in International Law: Comment on a Proposal from Germany, Harvard International Law Review 47 (2006), S.  223. Verwiesen sei ferner auf die Aufsatzreihe „Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland: Zwischen Konstitutionalisierung und Fragmentierung des Völkerrechts“, in: ZaöRV 67 (2007) 15   A. Segura-Serrano, The Transformation of International Law, Jean Monnet Working Paper 12/09, online zugänglich unter: httpp://centers.law.nyu.edu/jeanmonnet/papers (zuletzt besucht am 10. Januar 2013). 16   Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S.  5. 17   Programmatisch schon G. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964. 18   E. de Wet, The Emergence of International and Regional Value Systems as a Manifestation of the Emerging International Constitutional Order, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S.  611 ff. 19  Siehe auch N.  Walker/M. Loughlin, The Paradox of Constitutionalism: Constituent Power and Constitutional Form, 2007. 20   B. Ackerman, Constitutional Politics/Constitutional Law, Yale Law Journal 99 (1989), S.  453 ff.; ders., The Rise of World Constitutionalism, Vanderbuilt Law Review 83 (1997), S.  775 ff.; ders., We the People: Foundations, 1991; ders., We the People: Transformations, 1998. 11

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I.  Bruce Ackermans Theorie der „constitutional moments“ – eine Beobachterperspektive für den Spurensuchenden Die englischsprachige Begriffsvariante ist dabei kein modischer Anglizismus; sie verweist vielmehr auf den Begriffsschöpfer, den US-amerikanischen Verfassungsrechtler Bruce Ackerman21, und damit zugleich auf den ursprünglichen konzeptionellen und rechtskulturellen Begriffskontext, der eine herauslösende Übertragung auf das Völkerrecht nicht unproblematisch, jedenfalls erläuterungsbedürftig macht. Ackerman begreift den Verfassungsprozess in den Vereinigten Staaten seit ihrer Gründung als eine Serie konstitutioneller Momente: „American history has been punctuated by successful exercises in revolutionary reform in which protagonists struggled over basic questions of principle that had ramifying implications for the conduct of large areas of American life.“22 Ackerman unterscheidet dabei zwischen den Normalphasen eines mehr oder weniger wohlgeordneten politischen Alltags, in denen der Bürger primär Privatmann sein darf und die staatlichen Gewalten in den dafür vorgesehenen Verfahren ihrem Alltagsgeschäft nachgehen, und herausragenden Phasen politischen Umbruchs, die den Bürger zu neuen, sogar revolutionären konstitutionellen Grundentscheidungen provozieren 23, die Wendepunkte im Agieren der drei staatlichen Gewalten markieren, die das „standard law making“ nicht mehr genügen lassen, sondern nach einem „higher law making“ verlangen.24 Konstitutionelle Momente stehen für Transformationsprozesse aus der politischen Krise heraus, in der Literatur anschaulich beschrieben als „times of political crisis in which the electorate acts collectively to effect constitutional change through informal, extra-constitutional means“.25 Konstitutionelle Momente stehen somit für Verfassungswandel bis hin zu den Grenzen des Verfassungsbruchs, weil die politische Gemeinschaft für ihr Zusammenleben und in ihrem Zusammenwirken einer neuen Legitimationsgrundlage bedarf. Die Beispiele aus der amerikanischen Verfassungsgeschichte liegen auf der Hand: Neben der Gründung selbst, dem „foundational constitutional moment“, etwa die Rekonstruktionszeit nach dem Bürgerkrieg, der New Deal oder die Ära des „Civil Rights Movement“ als „transformative constitutional moments“.26 Doch was ist mit dieser historischen Beschreibung von Umbrüchen im amerikanischen Verfassungsleben für das Völkerrecht gewonnen? Ackerman geht es um USA-Spezifisches, nicht um eine universelle Verfassungslehre und erst recht nicht um einen Beitrag zur Völkerrechtslehre. Und doch kann letztere seine Beobachterperspektive fruchtbar machen. Zeiten krisenhaften Umbruchs bewirken Paradigmenwechsel, mehr noch, 21   Für eine kritische Auseinandersetzung  J. Klarmann, Constitutional Fact/Constitutional Fiction: A Critique of Bruce Ackermann’s Theory of Constitutional Moments, Stanford Law Review 44 (1992), S.  759 ff. 22   B. Ackerman, We the People. Foundations, 1991, S.  59; siehe weiterhin ders., Transformative Appointments, in: Harvard Law Review, 101 (1988), S.  1164 ff.; ders., Higher Lawmaking, in: S. Levinson (Hrsg.): Responding to Imperfection. The Theory and Practice of Constitutional Amendment, 1995, S.  63 ff.; ders., The Broken Engine of Progressive Politics, in: American Prospect 9 (1998), S.  34 ff. 23   B. Ackerman, Revolution on a Human Scale, Yale Law Journal 108 (1999), S.  2279 ff. 24   J. Klarmann, Constitutional Fact/Constitutional Fiction: A Critique of Bruce Ackerman’s Theory of Constitutional Moments, Stanford Law Review 44 (1992), S.  759 ff. 25   Ebd. 26   Ebd., S.  760 ff.

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sie stellen die Legitimationsgrundlage der alten Ordnung in Frage und sind Auslöser von Prozessen, an deren Ende mit einer neuen Ordnung27 jedenfalls qualitative Veränderungen der bisherigen Legitimationsgrundlage stehen. Damit sei gefährlichen Missverständnissen vorgebeugt. Konstitutionelle Momente vertragen keine pathetisch-schicksalhafte Überhöhung zu Gründungsmythen 28 ; sie wollen keine naiven, ereignisgeschichtlich motivierten Momentaufnahmen sein; und sie wollen keinesfalls suggerieren, dass am Ende der Krise29 immer die Beste aller Welten steht. Konstitutionelle Momente sind, wenn dieses Paradoxon erlaubt ist, viel weniger Momente als Prozesse. Hervorgerufen durch grundlegenden Wirklichkeitswandel verarbeiten sie „Zeit“30, sie generieren ein Umbruchsbewusstsein der betroffenen Akteure und stellen die Legitimationsfrage für das, was aus den Transformationen neu entsteht. Überkommene Legitimationsbehauptungen werden bestritten, qualitativ veränderte Legitimationsansprüche werden behauptet, neue Formen der Teilhabe an Legitimationsverfahren werden eingefordert. Die Legitimitäts- aber ist die zentrale Verfassungsfrage31, sie gerade macht das „constitutional mindset“ aus32 ; der Streit um Legitimität hat damit konstitutionelle Qualität. „Constitutional moments“ sind, um an die Arbeiten von Antje Wiener anzuknüpfen, primär „moments of contestation“ zur Begründung, Begrenzung und Kontrolle hoheitlicher Macht diesseits wie jenseits des Staates.33 Darin liegt ihr für die Völkerrechtswissenschaft außerordentlich fruchtbares, weil diskursives Potential.

II.  Eine Zusammenschau konstitutioneller Momente für die Völkerrechtsgemeinschaft Dieses Verständnis zugrunde legend, dieses Potential nutzend, seien im Folgenden – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – mögliche konstitutionelle Momente für die internationale Gemeinschaft zusammengetragen. Ein Gründungsmoment ist die 27   H. Barth, Die Idee der Ordnung, 1958, S.  213; daran anknüpfend A. Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2.  Aufl. 2007, S.  3 ff. 28   Zur Bedeutung von Gründungsmythen (zugleich in Rezeption des Ansatzes von P. W. Khan) U. Haltern, Europarecht und das Politische, 2005. 29   In Auseinadersetzung mit dem Begriff der Krise H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), S.  1 ff. 30   P. Häberle, Zeit und Verfassung, Zf P 21 (1974), S.  11 ff.; ders., Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit. Schriften der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, 1983, S.  289 ff. (auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S.  627 ff.); ders., Zeit und Verfassungsstaat – kulturwissenschaftlich betrachtet, Jura 2000, S.  1 ff.; W. Berg, Die Zeit im öffentlichen Recht – Das öffentliche Recht in der Zeit, JöR 56 (2008), S.  23 ff. 31  Dazu M. Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutional Framework of Analysis, European Journal of International Law 15 (2004), S.  9 07 ff.; R. Wolfrum, Legitimacy in International Law, in: A. Reinisch/U. Kriechbaum (Hrsg.), Liber Amicorum H. Neuhold, 2007, S.  471 ff. Für den Verfassungsstaat unter dem Grundgesetz D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S.  489 ff. 32   M. Koskenniemi, Constitutionalism as Mindset: Reflections on Kantian Themes About International Law and Globalization, Theoretical Inquiries in Law 8 (2007), S.  9 ff. 33   A. Wiener, Contested Compliance: Interventions on the Normative Structure of World Politics, European Journal of International Relations 10 (2004), S.  189 ff.

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Unterzeichnung der UN-Charta nach der Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkrieges.34 Sie will die Schwächen des gescheiterten Völkerbundsystems35 überwinden und nach existentieller Krise neue Legitimität stiften. Dazu macht sie das Gewaltverbot in Art.  2 Nr.  4 zum Dreh- und Angelpunkt ihres neuen Weltordnungsentwurfs36 und entwickelt mit ius-cogens-Qualität 37 zum „supreme law“38 fort, was schon im Briand-Kellog-Pakt 39 – vielleicht ein präkonstitutionelles Moment – angelegt war. Manche Stimmen in der Literatur schreiben der Charta aufgrund ihrer Struktur und ihres Inhalts selbst die Qualität eines Verfassungsdokumentes zu, begreifen sie als einen normativen Zukunftsentwurf von konstitutioneller Qualität.40 Im denkbar engsten Zusammenhang mit der Genese der Charta steht das konstitutionelle Moment einer neuen Menschenrechtsordnung. Sie denkt auch das Völkerrecht instrumental auf den Menschen hin41 und will seine Mediatisierung überwinden. Diese „anthropozentrische Wende“42 ist in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung des Jahre 1948 vorgezeichnet43 – als Resolution der Generalversammlung lediglich soft law – und in den beiden Menschenrechtspakten des Jahres 1966 weiter ausgeformt – bis hin zum ganz modernen Streit um die „humanitäre Intervention“44   D.-E. Khan, Drafting History, in: B. Simma/D.-E. Khan/G. Nolte/A. Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Bd.  1, 3.  Aufl. 2012. 35   A. Pfeil, Der Völkerbund, 1976; F. S. Northedge, The League of Nations: Its Life and Times, 1920–1946, 1986. 36   Zu Wandlungen des Gewaltverbots R. Streinz, Wo steht das Gewaltverbot heute?, JöR 52 (2004), S.  219 ff.; B. Faßbender, Die Gegenwartskrise des völkerrechtlichen Gewaltverbotes vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung, EuGRZ 2004, S.  241 ff. 37   S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992. 38   Eine Formulierung in bewusster Anspielung an die berühmte „supremacy clause“ aus Art.  V I der US-Bundesverfassung von 1787: „This Constitution, and the laws of the United States which shall be made in pursuance thereof; and all treaties made, or which shall be made, under the authority of the United States, shall be the supreme law of the land; and the judges in every state shall be bound thereby, anything in the Constitution or laws of any State to the contrary notwithstanding.“ 39   A. Randelzhofer/O. Dörr, in: B. Simma/D.-E. Khan/G. Nolte/A. Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Bd.  1, 3.  Aufl. 2012, Art.  2 (4), Rn.  10 f. 40   A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3.  Aufl. 1984, vii sowie S.  221; P. M. Dupuy, The Constitutional Dimensions of the Charter of the United Nations Revisited, Max Planck Yearbook of International Law 1 (1997), S.  1 ff.; B. Faßbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), S.  529 ff. 41  Für den Verfassungsstaat P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.   Aufl. 1998, S.  152 ff. 42   Einzelheiten bei M. Kotzur, Die anthropozentrische Wende – menschenrechtlicher Individualschutz im Völkerrecht, in: M. Sachs/H. Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012, S.  811 ff. 43   B. Fassbender, Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 – eine Einführung in ihre Entstehung, Bedeutung und Wirkung, in: ders (Hrsg.), Menschenrechtserklärung. Neuübersetzung, Synopse, Erläuterung, Materialien, 2009, S.  1 ff.; M. Kotzur, 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – Reflexionen zur Entstehungsgeschichte, Ideengeschichte und Wirkungsgeschichte, MenschenRechtsMagazin Potsdam 2008, S.  184 ff. 44   C. Focarelli, The Responsibility to Protect Doctrine and Humanitarian Intervention: Too Many Ambiguities for a Working Doctrine, in: Journal of Conflict & Security Law 2008, S.  191 ff.; G. Nolte, Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Steuerung durch Verantwortlichkeit und Haftung, in: M. Breuer u. a. (Hrsg.), Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft, 2009, S.  19 ff., 22. 34

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oder die Inhalte einer „Responsibility to protect“45. Schon die Tatsache, dass die bürgerlichen und politischen Rechte auf der einen, die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte auf der anderen Seite zwei getrennten Vertragsregimen unterworfen wurden, macht die universelle Menschenrechtsordnung zur „contested order“ im Sinne A. Wieners. Und der Widerstreit von Universalismus v. kulturellen Partikularismus oder Relativismus qualifiziert als „moment of contestation“ par excellence. Das Bestreiten ist hier besonders deutlich greif bar. Den einen erscheint – schon entwicklungsgeschichtlich betrachtet – die Universalität als ein im christlichen Naturrecht verwurzeltes „specificum Europaeum“ 46, das später im Geist der Auf klärung als Rationalitätspostulat weitergedacht wurde47 und die Französische Revolution geistesgeschichtlich beeinflusst hat, greif bar in Art.  16 der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ mit ihrem sendungsbewussten Verfassungsuniversalismus48. Die anderen erkennen das menschheitsbezogene Potential der Universalität. Universelle Rechtsprinzipien entstehen mehr denn je aus der Reflexion über existentielle menschliche Bedürfnisse und Bedrohungen, sie sind die Reaktion auf universelle Unrechtserfahrungen.49 Wer gefoltert, willkürlich verschleppt oder seiner Existenzgrundlagen beraubt wird, leidet unabhängig vom kulturellen Kontext, in dem sich diese Menschenrechtsverletzungen ereignen. Leichter als kulturspezifische Werte ist interkulturell und intersubjektiv vermittelbar, was Unrechtserfahrungen ausmacht. Weitere prägende Beispiele: Im Dekolonialisierungsprozess wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Legitimitätsressource neu entdeckt und ein gleichsam „konstitutionelles Empowerment“ der unabhängig gewordenen Staaten und Völker gefordert.50 Jener für das Zeitalter des Kolonialismus so typische Kulturuniversalismus, der in Art.  38 Abs.  1 lit.  c IGH-Statut („Kulturvölker“, „civilized nations“)   Aus der Lit. etwa A. v. Arnauld, Souveränität und responsibility to protect, in: Die Friedenswarte 84 (2009), S.  11 ff.; Ch. Verlage, Responsibility to protect: ein neuer Ansatz im Völkerrecht zur Verhinderung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 2009; Ch. Schaller, Gibt es eine „Responsibility to Protect“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2008, S.  9 ff.; S. v. Schorlemer, Die Schutzverantwortung als Element des Friedens: Empfehlungen zu ihrer Operationalisierung, SEF Policy Paper 28, 2007; I. Winkelmann, „Responsibility to protect“: Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zur Gewährung von Schutz, in: FS Ch. Tomuschat, 2006, S.  4 49 ff. 46   H. Maier, Wie universal sind die Menschenrechte?, 2007, S.  53 ff. 47   Wenn von europäischer Auf klärung die Rede ist, meint das mehr als einen bloßen Epochenbegriff und steht für politische Identität in Europa. Da die Auf klärung in Europa ganz unterschiedliche Entwicklungen, etwa in England, Frankreich oder Deutschland aufweist, sollte auch besser der Plural „Auf klärungen“ Verwendung finden, so C.-D. Ostenhövener, in: W. Heun/M. Honecker/M. Morlok/ J. Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, S.  136 f., 136. Universelles Vernunftdenken ist ihnen ein zwar variierter, aber doch gemeinsamer Nenner. 48   „Toute Société dans laquelle la garantie des Droits n’est pas assurée, ni la séparation des Pouvoirs déterminée, n’a point de Constitution.“ 49   Vgl. z. B. H. Bielefeldt, Menschenrechte und Menschenrechtsverständnis im Islam, EuGRZ 1989, S.  489 ff., 491; W. Brugger, Stufen der Begründung von Menschenrechten, Der Staat 31 (1992), S.  19 ff., 21; W. Huber, Die tägliche Gewalt. Gegen den Ausverkauf der Menschenwürde, 1993, S.  7 ff.; H. Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaates, Der Staat 34 (1995), S.  1 ff., 27. 50   S. Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel. Überlegungen zur Debatte um Selbstbestimmung, Sezessionsrecht und „vorzeitige“ Anerkennung, ZaöRV 52 (1992), S.  744 ff.; J. Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 1995. 45

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noch immer greif bar ist,51 wurde als zivilisatorisches Oktroi entlarvt. In seiner berühmten Barcelona Traction-Entscheidung leistet der IGH einen vielleicht revolu­ tionären Paradigmenwechsel von einer streng konsensorientierten Völkerrechtskonzeption hin zu den Pflichten „erga omnes“ – ein völkerrechtliches Marbury v. Madison: „Fragezeichen“? 52 Wissenschaftler wie Ernst-Ulrich-Petersmann erkennen in der Entwicklung vom GATT 47 zur heutigen WTO die schrittweise Genese einer globalen Wirtschaftsverfassung.53 Mit dem Wendejahr 1989/1990 verbindet sich, so Peter Häberle, eine „Weltstunde des Verfassungsstaates“54, die neuen Verfassungen in den Transformationsstaaten Osteuropas, in Südafrika, auch im iberoamerikanischen Raum öffnen sich häufig bewusst dem Völkerrecht, verzahnen Völkerrecht und staatliches Recht stärker als je zuvor und helfen so, konstitutionelle Standards zu universalisieren. Wer angesichts solcher Universalisierungsschübe indes von einer „neuen Weltordnung“ oder gar dem „Ende der Geschichte“55 träumte, wurde schnell eines Besseren belehrt. Auch der 11. September56 war ein konstitutionelles Moment im hier verstandenen Sinne – eine existentielle Krise, die im staatlichen wie im überstaatlichen Recht vielerlei Paradigmenwechsel bewirkte (bis hin zum „war on terror“) 57, Risikoprävention zum prägenden Leitmotiv politischer Ordnungsbildung machte und bisher unbestrittene Grundlagen des Völkerrechts radikal, ja „revolutionär“ in Frage stellte. Das gilt vor allem für die Doktrin von den Präventiv- oder Präemptivschlägen mit Blick auf Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht. Eine Renaissance der Legitimationsfigur des Ausnahmezustandes von Carl Schmitt58 bis Georgio Agamben59 ging damit einher. Der Irakkrieg schließlich stürzte das Völkerrecht in eine zentrale Legitimationskrise. Der Terrorismus selbst erscheint als „erste(r) Ernstfall eines weltinnenpolitischen Problems“60, dem nur die Staatengemeinschaft als ganze begegnen kann. Ob Terrorismus als ein der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu unterstellendes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gelten kann, wird zu einer viel diskutierten Frage.61 Im Kampf gegen den Terror nehmen die sog. „smart sanctions“ das Individuum 51   A. Pellet, in: A. Zimmermann/Ch. Tomuschat/K. Oellers-Frahm (Hrsg.), The Statute of the International Court of Justice. A Commentary, 2.  Aufl. 2012, Art.  38 Rn.  245 ff. 52   Case concerning the Barcelona Traction, Light and Power Co Ltd, New Application: 1962, Belgium v Spain, Second Phase [1970] ICJ Rep 3. Hier identifiziert der Gerichtshof „common interests of all mankind“ und bezieht sich auf „interests of the international community as such“. 53   E.-U. Petersmann, Constitutional Functions and Constitutional problems of International Economic Law, 1991; später D. Z. Cass, The Constitutionalization of the World Trade Organization: Legitimacy, Democracy, and Community in the International Trading System, 2005. 54   P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S.  823. 55   F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992. 56   K.-A. Schwarz (Hrsg.), 10 Jahre 11. September – Die Rechtsordnung im Zeitalter des Ungewissen, 2012; Ch. Tomuschat, Internationale Terrorismusbekämpfung als Herausforderung für das Völkerrecht, DÖV 2006, S.  357 ff.; K. v. Knop u. a. (Hrsg.), Countering Terrorism, 2005. 57   R. Khan, The War on Terrorism, Indian Journal of International Law 45 (2005), S.  1 ff.; A. O’Day (Hrsg.), War on Terrorism, 2004; allg.: S. Baufeld, Der 11. September 2001 als Herausforderung für das Völkerrecht, 2005; L. A. Bruccet, Instrumentos jurídicos internacionales en materia de terrorismo, 2003. 58   Vgl. dazu M. Kotzur, Die Weltgemeinschaft im Ausnahmezustand?, AVR 42 (2004), S.  353 ff. 59   G. Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 2002. 60   K. Dicke, Weltgesetzgeber Sicherheitsrat, VN 2001, S.  163 (unter der Rubrik „Standpunkt“). 61   A. Cassese, Terrorism is Also Disrupting Some Legal Categories of International Law, EJIL 2001, S.  993 ff., 994 f.; S. Oeter, Terrorismus – ein völkerrechtliches Verbrechen? Zur Frage der Unterstellung

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auf neuartige Weise in die Pflicht und weil eine effektive Kontrolle des Sanktions­ systems fehlte, musste der EuGH bei seiner Jusuf und Kadi-Entscheidung treuhänderisch in die Rolle eines Ersatz-Verfassungsgerichts schlüpfen.62 Der Sicherheitsrat hat den konstitutionellen Impuls aus Luxemburg durchaus konstruktiv aufgegriffen. Und viele weitere Beispiele könnten angeführt werden: So lässt ein globales Umweltverfassungsrecht zwar auch nach Kyoto auf sich warten, der Klimawandel ist aber ein ebenso konstitutionelles Moment wie das Internet als neues „global common“.63 Ihre neuen Wirklichkeiten bedingen Bewusstseinswandel und das Ringen um qualitative Veränderung in den Legitimationsgrundlagen. Politik und Wissenschaft leisten in diesem Ringen das ihrige gerade wenn und weil sie Debatten über völkerrechtliche Konstitutionalisierungsprozesse initiieren: etwa über das Recht auf demokratische Partizipation, über eine international rule of law64 oder über die Möglichkeiten von Verfasstheit jenseits des Staates als solche. Die Zusammenschau sei aber an dieser Stelle angebrochen. Wichtiger als der Blick auf weitere potentielle konstitutionelle Momente ist deren Systematisierung.

III.  Eine mögliche Typisierung/Kategorisierung der konstitutionellen Momente Der folgende Versuch einer Differenzierung in Momente des Bestreitens – „moments of contestation“ –, Momente der Transformation – „moments of transformation“ – und Momente des Funktionswandels – „moments of functional change“ –, will keine strikte Kategoriebildung. Die wäre ohnehin nicht möglich, da die Kategorien sich überlagern, ineinandergreifen, parallel vorliegen können. Es geht hier wie bei der Spurensuche insgesamt nur darum, die Beobachterperspektive zu schärfen. Ausgangspunkt sind die, häufig durch Krisen ausgelösten „moments of contestation“. Nicht nur die Terminologie lehnt sich, wie schon in der Einleitung gesagt, an terroristischer Akte unter die internationale Strafgerichtsbarkeit, Die Friedenswarte 76 (2001), S.  11 ff.; S. W. Krohne, The United States and the World Need an International Criminal Court as an Ally in the War Against Terrorism, Indiana International and Comparative Law Review 8 (1997), S.  159 ff. ; J. A. Carberry, Terrorism : A Global Phenomenon Mandating a United International Response, Indiana Journal of Global Legal Studies 6 (1999), S.  685 ff.; W. M. Reisman, International Legal Responses to Terrorism, Houston Journal of International Law 22 (1999), S.  3 ff.; G. Guillaume, Terrorisme et droit international, Recueil des Cours de l’Académie de Droit International 215 (1989), S.  327 ff. Auf der Staatenkonferenz in Rom, die zur endgültigen Ausarbeitung und Verabschiedung des Statuts für den Ständigen Internationalen Strafgerichtshof führte, wurde kein eigenständiger völkerrechtlicher Verbrechenstatbestand des Terrorismus geschaffen. Es kam nur zu einer Resolution, die terroristische Akte als „serious crimes of concern to the international community“ wertet und empfiehlt, den Terrorismus eventuell auf einer späteren Revisionskonferenz mit einzubeziehen (siehe dazu die Schlussakte der Konferenz, UN-Doc. A/CONF:/183/10, S.  7 f., sowie S. Oeter, Terrorismus – ein völkerrechtliches Verbrechen? Zur Frage der Unterstellung terroristischer Akte unter die internationale Strafgerichtsbarkeit, Die Friedenswarte 76 (2001), S.  11 ff., 14). 62   M. Kotzur, Kooperativer Grundrechtsschutz in der Völkergemeinschaft / Zur Rechtsmittelentscheidung des EuGH (Große Kammer) vom 3. September 2008 in den verb. Rsn. Kadi u. a., EuGRZ 2008, S.  673 ff. 63   W. Durner, Common Goods: Statusprinzipien von Umweltgütern im Völkerrecht, 2001. 64   M. Kotzur, Der Rechtsstaat im Völkerrecht, in: FS E. Klein, 2013, S.  797 ff.

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die Arbeiten von A. Wiener an.65 Bestreiten meint, kommunikativ verstanden, ein kritisches Austesten von Rechtsgrundlagen, die als nicht (mehr) ausreichend angesehen werden. Das Bestreiten des Überkommenen hat einen durchaus revolutionären und mitunter auch einen konstitutionellen Impetus. Es impliziert dabei zweierlei – ein Bestreiten der zentralen materiellen Fragen, d. h. der Legitimationsgrundlagen, und der Verfahren, in den dieses Bestreiten organisiert wird. Das Kontestieren hat, in anderen Worten, eine materielle wie eine prozedurale Seite.66 Von der Ausgestaltung letzterer hängt in entscheidendem Maße ab, welchen universellen Legitimitätsanspruch und welche konstitutionelle Qualität das errungene Resultat beanspruchen kann. Waren alle potentiell betroffenen Akteure beteiligt, war ihnen neben der formalen Beteiligung ein echtes, das Ergebnis beeinflussende Teilnehmen überhaupt möglich? Hatten sie eine hinreichend wirkungsmächtige Stimme, das hinreichende Wissen – man denke nur um die Diskussion über die Rolle der Schwellen- und Entwicklungsländer im Rahmen der WTO? 67 Die Frage nach dieser Wirkungsmacht hinterlässt den Juristen zumeist ratlos, da ihm das sozialwissenschaftliche Handwerkszeug für deren Bemessung fehlt und er auf die Instrumentarien und Erkenntnisse seiner Nachbarwissenschaften zurückgreifen muss. Diese Notwendigkeit sollte er sich immer neu bewusst machen. Momente der Transformation68 können den Momenten des Bestreitens vorausliegen, mit ihnen zeitgleich einhergehen oder ihr Resultat sein. In einem weiteren Sinne meint Transformation empirische Übergangsphänomene – etwa die einleitend skizzierten Entstaatlichungstendenzen – die nicht auf normatives Gestalten-Wollen, sondern Veränderungen der Wirklichkeit zurückgehen. Entscheidend aber ist, wie normative Ordnungen auf diesen Wirklichkeitswandel reagieren und wie sich die Vorverständnisse, die den normativen Ordnungen zugrunde liegen, dabei ihrerseits wandeln.69 Gerade das sind „moments of transformation“: vom geschlossenen Nationalstaat zur „offenen Staatlichkeit“ im Sinne Klaus Vogels 70 – einer „offenen Staat­ lichkeit“, die ihrerseits durch internationale Maßstabsnormen von außen mitgeprägt und durchdrungen wird71; von Normhierarchien zu polyarchischen Verbundmodellen mit ihrer Matrix der Verflochtenheit.72 Das Transformative klingt in den geläufigen, ihrerseits Wandel und Dynamik implizierenden Sprachbildern an: der Mehr­ ebenen-Konstitutionalismus, der aus dem Korsett exklusiv staatlicher Verfasstheit 65   A. Wiener, Contested Compliance: Interventions on the Normative Structure of World Politics, European Journal of International Relations 10 (2004), S.  189 ff. 66   So wie Verfassung selbst Substanz und Prozess ist, prägend P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 3.  Aufl. 1998. 67   S. Steiner, Entwicklungsländer in der WTO, VRÜ 41 (2008), S.  336 ff. 68   Der Begriff der Transformation will zugleich sehr bewusst anknüpfen an ein berühmtes Essay von J. H. H. Weiler: The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S.  2403. 69   Zu Idee und Begriff des „Vorverständnisses“ grundlegend J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5.  Aufl. 1986, S.  281 ff. 70   K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 71   Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  I V, 3.  Aufl. 2006, §  83 Rn.  6. 72  Grundlegend Ch. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), 7 ff.

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ausbricht73, ohne mit seinem Ebenen-Denken neue Hierarchisierungen schaffen zu wollen;74 die „Politik-“75 oder auch „Mehrebenenverflechtung“76, die – ebenso wie die Netzwerkidee77 – mit dem dynamischen Moment des Sich-Verflechtens spielt. Wenn von der Transformation und damit auch Reaktion normativer Ordnungen die Rede ist, so darf die Formulierung nicht den Blick auf die verstellen, die reagieren können – die Akteure. Wie das Bestreiten bedürfen auch die Transformationsprozesse eines prozeduralen Rahmens, der die gestaltungsmächtige Teilhabe aller relevanten Akteure sicherstellt.78 Transformationsprozesse bedingen ihrerseits Funktionswandel. Das wird am deutlichsten an den Funktionen der Verfassung selbst. Die Vollverfassung hatte die umfassende Regelung aller für das politische Gemeinwesen grundlegenden Prämissen zum Gegenstand. Das lässt sich am Beispiel der in Art.  20 GG genannten Prinzipien rasch erläutern. Das Demokratieprinzip hatte die umfassende demokratische Legitimation aller hoheitlichen Gewalt zum Ziel. Diese Funktion ist limitiert, wenn EURecht im innerstaatlichen Raum unmittelbare Verbindlichkeit beanspruchen kann.79 Die Vollverfassung hatte die umfassende rechtsstaatliche Absicherung des grundrechtsgeschützten Individuums zum Ziel. Diese Funktion ist eingeschränkt, wenn der Einzelne zum Adressat von Individualsanktionen des UN-Sicherheitsrates ohne Garantie effektiver Rechtsschutzmechanismen werden kann.80 Die Vollverfassung hatte das sozialstaatliche Ziel, soziale Mindeststandards seiner Bürgerinnen und Bürger umfassend zu schützen. Dieses Ziel ist immerhin limitiert, wenn überstaatliche Schuldenbremsen nationaler Haushaltspolitik Grenzen setzen, das WTO-Regime weitreichende Marktliberalisierung erzwingt oder die nachhaltige Entwicklung den 73   I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, Common Market Law Review 36 (1999), S.  703 ff.; jüngst etwa fortentwickelt bei M. Knauff, Der Regelverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, 2010, S.  7 ff. 74  Dezidiert P. Badura, Verfassung und Verfassungsrecht in Europa, AöR 131 (2006), S.  423 ff., 426; P. Häberle, VVDStRL 66 (2007), S.  84; jetzt in ders., Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S.  204 f.; allgemein W. L. Weh, Vom Stufenbau zur Relativität. Das Europarecht in der nationalen Rechtsordnung, 1997, etwa S.  213 ff. 75   F. W. Scharpf/B. Reissert/F. Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; später F. W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S.  323 ff. 76   A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S.  188; ihr folgend J. Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, 2008, S.  75. 77   I. Pernice, La Rete Europea di Costituzionalità – Der Europäische Verfassungsverbund und die Netzwerktheorie, ZaöRV 70 (2010), S.  51 ff.; Ch. Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts. Zur juristischen Beschreibung dezentraler Steuerung, in: J. Oebbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, S.  285 ff.; kritisch J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2.  Aufl. 2005, S.  CIX. 78   National wie transnational gedacht bleibt Verfassung selbst ein „Prozess“ und bezieht ihre Legitimation nicht zuletzt aus den Verfahren ihrer Genese und kontinuierlichen Fortschreibung, programmatisch hierzu P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 3.  Aufl. 1998. 79   Auf demokratische Legitimationsprobleme verweist heute demgegenüber die „Mehrebenen-Demokratie“, siehe U. di Fabio, Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, 1998, S.  139 ff.; siehe auch A.-G. Gagnon/J. Tully (Hrsg.), Multinational Democracies, 2001. 80   Dazu oben Fn.  62.

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Staat in die Pflicht nimmt, nicht nur für das Existenzminimum seiner eigenen Staatsangehörigen Verantwortung zu tragen.81 Die drei Beispiele mögen genügen, um Funktions- bzw. Steuerungsverluste der staatlichen Verfassungen zu illustrieren. Stärker denn je scheint der nationale Verfassungsstaat „überstaatlich bedingt.“82 In einer global vernetzten Welt, so J. Habermas, können sich selbst die mächtigsten Staaten „nicht mehr nur in eigener Regie die Grenzen des eigenen Territoriums, die Lebensgrundlagen der eigenen Bevölkerung, die materiellen Bestandsvoraussetzungen der eigenen Gesellschaft sichern.“83 Dem internationalen Recht wächst angesichts solcher Bedingtheit immer mehr die Funktion zu, im Sinne einer Auffangordnung solche Funktionseinbußen jedenfalls ein Stück weit zu kompensieren.84 Stimmen aus der Literatur, etwa Anne Peters, sprechen ganz pointiert von „compensatory constitutionalism“.85 Der internatio­ nalen Auffangordnung wird dabei freilich viel abverlangt: sie soll staatliche Funktionsverluste ausgleichen, allen Akteuren hinreichende Wirkungsmacht verleihen – empower­ ment – und die immer tiefergreifenden Fragmentierungen86 des inter­ nationalen Rechts überwinden. Die Gelingensbedingungen für solche neue Funktionszuschreibungen sind mehr als anspruchsvoll; ob die Kompensation von Steuerungsverlusten gelingen wird, bleibt eine offene Frage. Dass sie aber notwendig ist, das steht außer Frage und wirkt als entscheidendes konstitutionelles Moment der „functional change“.

  M. Kotzur, Soziales Völkerrecht für eine solidarische Völkergemeinschaft, JZ 2008, S.  265 ff.  Wiederum W. v. Simson, Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: FS C. Aubin, 1979, S.  217 f.; ausführlich P. Häberle/J. Schwarze/W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Die überstaatliche Bedingtheit des Staates : zu Grundpositionen Werner von Simsons auf den Gebieten der Staats- und Verfassungslehre, des Völker- und des Europarechts, 1993; früh auch M. Zuleeg, Der Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der internationalen Beziehungen, DÖV 1977, S.  467 ff., 467. 83   J. Habermas, Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance, in: Ders., Der gespaltene Westen, 2004, S.  113 ff., 174 f. 84  Siehe J. Delbrück, Exercising Public Authority Beyond the State: Transnational Democracy and/ or Alternative Legitimation Strategies, Indiana Journal of Global Legal Studies 10 (2003), S.  29 ff., 29: „In our time, dealing with the problem of the legitimacy of public authority has become additionally complicated because under the impact of globalization – understood as a process of denationalization – public authority is no longer exclusively exercised within clearly defined territorial entities, i.  e. within the sovereign states. Rather, the „production of public goods“ or the performance of hitherto genuinely state tasks, like external security and economic and social welfare, has been shifted, in part, to international and sometimes supranational non-state entities that are constituted by states, but have their own legal status and capacity to act alongside the states.“ 85   Oben Fn.  7. 86   International Law Commission, Fragmentation of International Law: Difficulties Arising From the Diversification and Expansion of International Law: Report of the Study Group of the International Law Commission, UN-Doc. A/CN.4/L.682 (13. April 2006); M. Koskenniemi/P. Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, Leiden Journal of International Law 15 (2002), S.  553 ff.; aus deutscher Sicht A. Paulus, Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland: Zwischen Konstitutionalisierung und Fragmentierung des Völkerrechts, ZaöRV 67 (2007), S.  695 ff. 81

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Schlussbetrachtung Ihren Kritikern gilt die völkerrechtliche Konstitutionalisierungsdebatte als „Modeerscheinung“, die sich schon wieder überlebt habe und die letztlich an der Wirklichkeit zerbrochen sei. In der Tat strafen der US-amerikanische Unilateralismus nach dem 11. September, die Invasion im Irak ohne Mandat des Sicherheitsrates oder die Renaissance eines Denkens vom Ausnahmezustand her die Blütenträume einer ganz selbstverständlichen, unauf haltsamen Konstitutionalisierung der Völkerrechtsordnung Lügen. Auf das „annus mirabilis“ 1989/9087 folgte manch annus horribilis. Auch die schlimmsten ökologischen Katastrophenszenarien haben eine globale Umweltverfassung nicht in greif bare Nähe rücken lassen, auch die vollmundigsten Beteuerungen zu nachhaltiger Entwicklung konnten nicht verhindern, dass die Doha-Runde längst in eine Sackgasse geraten ist. Kosmopolitischer Idealismus hat im Völkerrecht seit Kants „Ewigem Frieden“ gewiss eine große philosophische Tradition, er findet in einer Welt, die eher Thomas Hobbes als John Locke Recht zu geben scheint, aber kaum belastbaren konstitutionellen Widerklang. Ist die vorliegend unternommene Spurensuche damit schon am Ende, bevor sie recht begonnen hat? Im Gegenteil: Wer „konstitutionelle Momente“ nicht zum Gründungsmythos einer wie auch immer gearteten „neuen Weltordnung“ überhöht, sondern als „moments of contestation“, als Widerstreit um die Inhalte und Verfahren legitimer normativer Ordnungen jenseits des Staates begreift (und zwar in pluralistischer Vielfalt88 ), der betreibt wirklichkeitsbezogene und wirklichkeitsbewusste Völkerrechtswissenschaft.89 Allen Unilateralismen, allen Fragmentierungen zum Trotz, werden teils mit implizitem, teils mit explizitem universellem Geltungsanspruch von den unterschiedlichsten, staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren, normative Ordnungen jenseits des Staates kreiert.90 Die damit in Anspruch genommene „hoheitliche Macht“ – hoheitlich ohne Staat! – in ihrer Genese zu erklären, in ihrem Verwobensein mit staatlicher Verfasstheit zu verstehen und in ihrer Legitimitätsbehauptung kritisch zu hinterfragen, darum geht es der heute vorgestellten Spurensuche mit einer konstitutionellen Matrix.91 Die für das Zeitalter der Europäisierung, Internationalisierung und   P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7.  Aufl. 2011, S.  5 et passim.   D. Halberstam, Systems Pluralism and Institutional Pluralism in Constitutional Law: National, Supranational, and Global Governance, 2011; N.  Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, The Modern Law Review 65 (2002), S.  317 ff. 89   Die mitunter ethisch begründete Forderung, dass es idealiter eine Weltverfassung geben sollte, verliert damit nicht per se an Wert, bleibt aber letztlich eine Utopie. Dazu etwa A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, 2007. 90   Was letztlich nur als ein kultureller Prozess zu erklären ist, der die Kultur des sich solchermaßen wandelnden Völkerrechts selbst nachhaltig beeinflusst. So heißt es bei K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Auf. 2007, S.  244: „Unser heutiges Weltvölkerrecht, dessen historische Wurzeln in die klassische und vorklassische Antike zurückreichen, ist auch eine Kulturschöpfung, die wir ebenfalls als ‚gemeinsames Erbe der Menschheit‘ bezeichnen dürfen.“ Allgemein zum Verständnis des Rechts als Kulturprodukt P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. 1998, S.  28 ff. und öfter. 91   Mehr als instruktiv zu den Ansätzen, die sich auf Grundlage dieser Matrix bündeln lassen J. L. Dunoff/J. P. Trachtmann (Hrsg.), Ruling the World? Constitutionalism, International Law, and Global Governance, 2009. 87

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Globalisierung aller Lebensbereiche so typischen „Entterritorialisierungstendenzen“92 sind ihre infrastrukturellen Rahmenbedingungen. Das „We, the people“ der USBundesverfassung, das die Präambel der UN-Charta so selbstbewusst zitiert, ist ihr Leitmotiv.93 Dafür, dass ich diese Spurensuche an der Hamburger Fakultät für Rechtswissenschaft in intensivem Austausch mit anderen Fakultäten und Disziplinen unternehmen darf, bin ich außerordentlich dankbar. Dass Sie, liebe Studierende, sich in den Vorlesungen und Seminaren mit auf die Spurensuche machen und – zum Glück – meist mehr finden als der, der sie ursprünglich initiiert hat, das ist für mich die größte Freude. Und wenn wir gemeinsam suchen, dann ist zwar noch nicht die ganze Welt, aber jedenfalls eine Universität in bester Verfassung (Antrittsvorlesung, gehalten am 24. Januar 2013).

92   D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S.  97 ff., 125; siehe auch K.-P. Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S.  19 ff., 34. Von „Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt“ spricht auch U. Hingst, Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge, 2001, S.  109 ff. 93   B. Fassbender, We the Peoples of the United Nations: Constituent Power and Constitutional Form in International Law, in: N.  Walker/M. Loughlin (Hrsg.), The Paradox of Constitutionalism: Constituent Power and Constitutional Form, 2007, S.  269 ff.

Abschiedsvorlesung

Forschen heißt Hoffen von

Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Universität Heidelberg I.  Hoffen als Antrieb menschlichen Denkens Die griechische Sage1 erzählt von Prometheus, der damals Menschen begegnet sei, die noch die Fähigkeit hatten, ihre Zukunft vorauszusehen. In dieser Fähigkeit zur Voraussicht kannten die Menschen auch den Zeitpunkt ihres eigenen Todes. Das machte sie tief betroffen. Sie wurden lethargisch. Auf dem Marktplatz fanden keine Diskussionen mehr statt. Das Wirtschaftsleben erlahmte. Kunst und Wissenschaft verkümmerten. Die Familienkultur verödete. Als Prometheus die Menschen in diesem Jammer sah, nahm er ihnen die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen, und gab ihnen die Hoffnung. Das Christentum gibt uns das hoffnungsvolle Menschenbild dessen, der nicht nur als kleiner Punkt im Universum um sein Überleben kämpft, sondern sich seiner selbst vergewissert, über sich selbst hinausdenkt, Gesetzmäßigkeiten der Welt und seines Lebens entdeckt. Der Mensch ist nicht nur eine der Natur unterworfene Kreatur, sondern zur Herrschaft über die Natur, zum inneren Erleben, zum Grenzbewusstsein und Grenzüberstieg, zur geistigen Weite in Endlichkeit und Unendlichkeit begabt und befähigt. Das christliche Bild von den drei Weisen verdeutlicht uns diese Hoffnung, die wir in Forscher und Forschung setzen. Die drei Weisen – Gelehrte – folgen ihrem Stern, treffen auf das Kind und widmen ihm ihre Gaben, ihre Begabungen. Sie haben eine Idee, suchen eine Verantwortlichkeit für andere Menschen – nicht für den Herrscher, nicht für den Reichen, nicht für den Applaudierenden, sondern für das hilfsbedürftige, Zuwendung erwartende Kind, das eine neue Zukunft verheißt. Und diese Wissenschaftler haben die Fähigkeiten, Methoden und Instrumente, um diese Welt zu beschenken. Betreten Sie die Alte Universität, lesen Sie den Leitsatz unserer Universität „Semper Apertus“, der Text des kleinen Rektoratssiegels, das der Kurfürst kurz nach der 1   Aischylos, Der gefesselte Prometheus, Reclams Universal Bibliothek Nr.  988, 2010, S.  16; anders (Hoffnung im verschlossenen Gefäß); Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des Klassischen Altertums, Erstausgabe 1958, S.  15.

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Gründung der Universität Heidelberg 1386 in Auftrag gegeben hat, eine der Insignien der Academiae Palatinae, die in der frühen Neuzeit den Pfälzer Löwen mit einem aufgeschlagenen Buch zeigt, in dem Semper Apertus geschrieben steht. Dieser Satz hofft auf das immer offene, aufgeschlagene Buch, meint nicht eine Offenheit zur Beliebigkeit, zum leichtfertigen Irrtum, zum eitlen Wort, zur Unverantwortlichkeit für die eigenen Forschungsergebnisse. Die Offenheit weist auf das Buch, die Rationalität des Sprachlichen,2 die in der gemeinsamen Sprache übermittelte Kulturerfahrung,3 die für jedermann ersichtliche und kontrollierbare Aussage,4 die These, die Öffentlichkeit und Kritik sucht. Für das moderne Recht, das Regeln in der Schriftlichkeit des Buches vermittelt, fordert das Semper Apertus wissenschaftliche Aufmerksamkeit für das Gesetzbuch, die Bereitschaft, das im Buch Vorgeschriebene nachzuschreiben, weiterzuschreiben, nachzudenken, die das Buch bestimmende demokratische Legitimation anzuerkennen. Wenn ich nun versuchen möchte, Ihnen dieses Prinzip der Hoffnung als Grundmotiv wissenschaftlichen Forschens und Lehrens darzustellen, so greife ich auf Worte zurück, die in den Hörsälen dieses Hauses schon einmal gesprochen, erprobt, verbessert worden sind, die aber jetzt zu einem Gesamtbild einer hoffnungsvollen und hoffnungsstiftenden Rechtswissenschaft zusammengefügt werden sollen. Ich möchte versuchen, eine vertraute Melodie mit einem neuen Thema zum Klingen zu bringen.

II.  Die im Freiheitsprinzip angelegte Hoffnung Forschen hofft auf Erkenntnis. Dabei ist Forschung stets unvollendet, unabgeschlossen, deshalb auf Freiheit angewiesen. Das verfassungsrechtliche Freiheitsangebot5 ist Ausdruck rechtlicher Elementarhoffnung. Es setzt darauf, dass der Freiheitsberechtigte das Angebot annehmen, zu seinem individuellen Nutzen ausüben und damit zum Gemeinwohl beitragen wird. Jeder darf als Diogenes in der Tonne leben. Doch die freiheitliche Verfassung hofft darauf, dass die überwältigende Mehrheit sich am Erwerbsleben und an der Pflege des Eigentums beteilige. Jedermann kann das Angebot der Ehe- und Familienfreiheit ausschlagen. Doch die Zukunft des Staates ist nur gesichert, wenn die Menschen Familien gründen und ihre Kinder gut erzie2   Paul Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, 1995, S.  9 (23 f.). Peter Häberle, Sprachen-Artikel und Sprachprobleme in westlichen Verfassungsstaaten – eine vergleichende Textstufenanalyse, FS M. Pedrazzini, 1990, S.  107; Josef Isensee, Staat im Wort, 1995, S.  3 f.; Günter Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL, 13 (1954), 27 (45). Zu den Anliegen der Gesetzgebung, in einem vielsprachigen Staat und seinen Vorläufern die sprachliche Offenheit, aber auch die Einheit in einer Kultursprache zu sichern, vgl. – beginnend mit der Goldenen Bulle (1356) – Hans Hattenhauer, Zur Geschichte der deutschen Rechtsund Gesetzessprache, in: Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., 1987, S.  7 ff. 3   Häberle a.a.O.; Hattenhauer a.a.O.; John Locke, Versuch über die menschliche Vernunft, Bd.  III: Die Wörter, Nachdruck 1911, S.  146. 4   Paul Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (HStR), Bd.  II., 3.  Aufl., 2004, §  20 Rn.  32 f., 39 f.; Wolfgang Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983. 5   Paul Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit, 2004; ders., Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004.

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hen. Der Kulturstaat setzt darauf, dass die Menschen sich wissenschaftlich um das Auffinden der Wahrheit bemühen, künstlerisch ihr Denken und Empfinden in Formensprache ausdrücken, religiös immer wieder nach dem Unergründbaren fragen. Täten sie dieses nicht, hätte niemand das Recht verletzt. Der freiheitliche Staat ginge aber an seiner eigenen Freiheitlichkeit zugrunde. Eine Elementarhoffnung des Rechts wäre verletzt. Freiheit braucht deshalb einen Rahmen, der hoffen lässt. Die Verfassungen nach der Französischen Revolution regeln die Freiheit deshalb im Gleichklang „Freiheit, Gleichheit, Sicherheit.“6 Freiheit darf nicht in Orientierungslosigkeit, in nie endende Aufgeregtheit führen, darf uns- um es einmal elementar zu sagen – nicht um den Schlaf bringen, uns die Erholung rauben, die uns aus aller Rationalität, Verantwortlichkeit, Anstrengung, allen Bewährungsproben für ein Drittel des Tages entlässt.7 Solange der Forscher auf neue Erkenntnisse hofft, beansprucht er Wissenschaftsfreiheit.8 Forschung braucht diese Freiheit auch, weil fehlbare Menschen forschen, sich irren können, sich deshalb berichtigen müssen. Wenn wir die Entwicklung der Wissenschaft beobachten – von der Erde als Scheibe bis zu den modernen Erkenntnissen der Weltraum- und der Genforschung, von der Unterteilung der Menschen in Bürger, Barbaren und Sklaven bis zur Würde jedes Menschen in Freiheit und Gleichheit – , erscheint die Geschichte der Wissenschaft als eine Geschichte berichtigter Irrtümer. Wissenschaft stellt sich immer wieder in Frage, entfaltet so Kreativität, Originalität, Gedankenvielfalt, setzt Freiheit voraus.9 Freiheit ist das Recht zum Experiment, zum Denken und Untersuchen in Modellen, zur kühnen These, die Kritik erwartet. Würde man jeden, der einmal geirrt hat, aus der Universität vertreiben – oder modern gesprochen: von der Forschungsförderung ausnehmen –, so wären in unseren Instituten und Laboren keine Forscher mehr, jedenfalls nicht Forscher, die den Mut auch zu kühnen Gedanken, einem gewagten Experiment haben. Die Freiheit, das Thema der Forschung, ihre Methode, ihre Ergebnisse frei zu wählen, ist Bedingung der Forschung schlechthin, Grundlage von Versuch und Irrtum. Diese Freiheitshoffnung wiederholt sich im demokratischen Prinzip, der Gemeinschaft des Staatsvolkes und des von ihm legitimierten Staates.10 Das Staatsvolk wählt immer wieder unbeirrt neue Parlamente und Regierungen, damit diese bessere Gesetze und Gemeinwohlentscheidungen treffen. Solange diese Hoffnung wirkt, fühlt 6   Paul Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S.  150 f.; zur Alternative von Brüderlichkeit und Sicherheit vgl. insbesondere Artikel 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, in: Dieter Gosewinkel/Johannes Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789 bis 1949, 2006, S.  165 f. 7   Zur Verantwortlichkeit des Staates in der Medizin vgl. Paulus Kirchhof, Medizin, in: Hanno Kube/ Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Ulrich Palm/Thomas Puhl/Christian Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, 2013, Bd.  1, 2013, §  83. 8   Paul Kirchhof, Wissenschaft in verfasster Freiheit, Festvortrag zur 600-Jahresfeier der Universität Heidelberg, 1986; Ute Mager, Die Freiheit von Forschung und Lehre, HStR, Bd.  V II, 3.  Aufl., 2009, §  166. 9   Zum Verständnis der Freiheit in Naturwissenschaften und Recht vgl. Christian Starck, Freiheit, in: Leitgedanken des Rechts, a.a.O., Bd.  1, 2013, §  46, Rn.  3 f.; Winfried Hassemer, Schuld, das., Bd.  2, §  123. 10   Rolf Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, HStR, Bd.  II, 3.  Aufl., 2004, §  16; Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozess der Europäischen Integration, HStR, Bd.  X, 3.  Aufl., 2012, §  214 Rn.  113 f.; Christian Seiler, Staatsvolk, in: Leitgedanken des Rechts, 2013. §  2 .

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sich der Bürger seinem Staat zugehörig.11 Die Minderheiten von heute – die Opposition, die Parteien, die einzelnen Wähler – dürfen erwarten, morgen die Mehrheit bilden und deshalb die Geschicke des Gemeinwesens bestimmen zu können. Diese Hoffnung hält die Demokratie zusammen, bewahrt vor Aufruhr, Aufstand, Revolution. In vordemokratischer, in diesem Sinne hoffnungsarmer Zeit gab es für eine Opposition nur die Gewaltmittel von Aufruhr, Aufstand, Krieg, Revolution, Tyrannenmord, Entmündigung des Herrschers, individuell auch das Asylrecht, das dem Verfolgten an bestimmten Orten Zuflucht gewährte.12 Demokratie setzt auf die rechtlich organisierte Hoffnung, in friedlichen Verfahren das Neue erreichen zu können.

III.  Hoffen auf die Rationalität des Rechts Rechtswissenschaft hofft doppelt: Sie will die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens rational verstehen, dabei auch ein Recht stärken, das Hoffnung stiftet. Hoffnung prägt diese Wissenschaft und ihren Gegenstand.

1.  Hoffnung auf Vernunft und Erfahrung der Unvernunft Die Rationalität gilt als Grundbedingung des Rechts im aufgeklärten Staat. Der Gleichheitssatz fordert für die Gesetzgebung – die Kunst des Unterscheidens – den „vernünftigen Grund“, differenziert zwischen dem Willen des Gesetzgebers und gesetzlicher Willkür.13 Die Freiheitsrechte verlangen das für den jeweiligen legitimen Zweck geeignete und erforderliche Mittel.14 Die Schriftlichkeit der Gesetzgebung soll Rationalität sprachlich vermitteln. Die Begründung von Verwaltungsakt und Urteil soll eine Entscheidung nach den Regeln von Vernunft und Einsicht nachvollziehbar machen.15 Die Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe oder die Ausübung eines Ermessens darf sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen.16 Rechtsakte, die nicht verständlich sind, die Denkgesetzen widersprechen, die „schlechthin willkürlich“ sind, haben rechtlich keinen Bestand.17 Andererseits ist ein Stück Irrationalität gegenläufigen Wollens Alltagserfahrung der Demokratie. Wenn der Abgeordnete bei Erlass des allgemeinen Gesetzes nur 11   Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – Die Staatsform der Zugehörigen, HStR, Bd.  I X, 1.  Aufl., 1997, §  221. 12   Paul Kirchhof, Souveränität als Bedingung des Asylrechts, in: Festschrift für Kay Hailbronner, 2013. 13   Paul Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, HStR, Bd.  V III, 3.  Aufl., 2010, §  181 Rn.  193 f., 209 f., 232 f. m.N.d.Rspr. 14   Grundlegend zum Prinzip der Verhältnismäßigkeit Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1962. 15   Uwe Kischel, Die Begründung, 2003. 16   Kischel a.a.O., S.  222 f. 17   Paul Kirchhof a.a.O. Rn.  232 f. m.N.d.Rspr.

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seinem Gewissen unterworfen ist (Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG),18 so soll er nach seiner subjektiven Lebenssicht, Lebenserfahrung, Ethik, nach seinen Wert- und Zielvorstellungen über das richtige Recht entscheiden. Geltendes Recht ist nicht dank der Autorität des Gesetzgebers richtiges Recht, sondern – jenseits des unabänderlichen und des erschwert veränderlichen Verfassungsrechts – veränderbares Recht, das durch einen späteren Gesetzgeber geändert oder aufgehoben werden kann. Doch die Gesetzgebung ist deswegen nicht für beliebige Torheiten, Bosheiten, Unrechtsvorstellungen zugänglich, sondern sie ist stets auf einem verfassten Weg, stets ein „Recht auf Rädern“, das sich in Erfahrung, Tradition, Verfassungsrecht, Wertebewusstsein, Standards der Hochkultur auf einem gesicherten Fundament bewegt, allerdings im Ziel, in der Geschwindigkeit, im Innehalten noch unbestimmt ist.19 Die Hoffnung, die in diesem für das bessere Gesetz offenen Gesetzgebungsverfahren angelegt ist, macht Demokratie erst möglich. Wenn das Grundgesetz das Hervorbringen von Recht nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie organisiert,20 der Wähler den Abgeordneten wählt und die Gewählten als Repräsentanten der Wähler die Gesetze erlassen, so stützt sich dieses Legitimations- und Qualifikationsverfahren 21 auf eine erstaunliche, aber notwendige Hoffnung von besonderer Kühnheit. Wer ein Auto auf öffentlichen Straßen führen will, muss vorher durch den Führerschein nachweisen, dass er dazu qualifiziert ist. Bei der demokratischen Repräsentation vertrauen wir für die Qualifikation der Wählenden und der Gewählten auf das Naturtalent der Bürger. In dieser Grundentscheidung liegt ein beachtlicher Vertrauensvorschuss in die Freiheitsfähigkeit der Wähler, die Repräsentationsfähigkeit der Gewählten, eine fast naive Gleichheitshoffnung, eine fordernde Erwartung an Wissen und Gewissen der Abgeordneten und der die Kandidaten auswählenden Parteien, auch eine Grenze der gesetzgebenden Gewalt.

2.  Geltungsgrund der Verfassung Doch Recht ist nicht nur Wille des Gesetzgebers, sondern auch vorgefundener Wert, erprobte Rechtserfahrung, gesichertes Wissen von Institutionen.22 Das Entstehen von Recht zwischen Wissen und Wollen, zwischen Autorität und Verständigung, zwischen Erfahrung und Hoffnung wird in der Frage nach dem Geltungsgrund einer Verfassung besonders deutlich.23 Wenn Moses dem Volk Israel die 10 18  Zur Gewissensfreiheit und ihrer Entwicklung vgl. Hans Michael Heinig, Gewissensfreiheit, in: Leitgedanken des Rechts a.a.O. Bd.  2 , §  134. 19  Exemplarisch zu den Verfassungsbindungen des Budgetrechts Thomas Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996; zur Finanzgewalt Hanno Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004. 20   Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR, Bd.  II, 3.  Aufl., 2004, §  24; Peter Badura, Die parlamentarische Demokratie, das. §  25. 21   Peter Graf Kielmansegg, Demokratische Legitimation, in: Leitgedanken des Rechts, Bd.  1, a.a.O., §  59. 22   Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Verfassungstheorie, 2010, §  3. 23   Paul Kirchhof a.a.O. Rn.  9 f.

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Gesetzestafeln übergeben hat; 24 wenn fundamentale Interessen des Menschen in seiner Natur wurzeln und deshalb „unverbrüchlich“ sind; 25 wenn der vernünftige Mensch in einem Gesellschaftsvertrag einen Teil seiner Rechte aufgibt, damit der Staat als rechtlich gebundene Schutzmacht diese Rechte sichern möge; 26 wenn die verfassunggebende – oder besser: die verfassungweitergebende27 – Gewalt des Staatsvolkes der Verfassung durch Rückbindung an den Willen der Bürger Anerkennung vermittelt; 28 wenn die Erfahrung von Unterdrückung, Entwürdigung, Missachtung und Krieg auf Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit und Frieden drängt, erweist sich die Verfassung als ein Erfahrungs- und als ein Hoffnungsbegriff. Die Begründungen der Verfassungsgeltung verweisen jeweils auf eine Autorität, die Recht setzt, aber auch auf Gründe, die dieses so gefertigte Recht rechtfertigen.29 Es bedürfte näherer Untersuchung, ob diese Begründungen für die Geltung von Recht nicht letztlich auf einem Gedanken beruhen. Wenn am Anfang der Logos, das Urwort steht, in dem wir den Menschen in seiner Welt, auch in seiner Gemeinschaftsgebundenheit verstehen; wenn wir in der Natur die den Menschen, sein Verhalten und seine Umwelt bestimmenden Gesetzmäßigkeiten lesen wollen; wenn der Gesellschaftsvertrag die Verständigung unter den Beteiligten nach den Gesetzmäßigkeiten der Vernunft erwartet; wenn die verfassunggebende Gewalt des Staatsvolkes schon ein Volk, eine Verfassungssprache, ein Initiativ- und Abstimmungsverfahren, bestimmte vorgegebene Werte, insbesondere Menschenrechte mit Universalitätsanspruch, voraussetzen; wenn Unrechtserfahrungen auf die unrechtsabwehrende Antwort der Verfassung hoffen,30 klingt jeweils ein Rechtsverständnis an, das sich auf Gedächtnis31 und Zuversicht stützt. Doch im Kern ist Verfassung erfahrungsgestützte Hoffnung, die glaubt, dass Recht einen religiösen Ursprung hat, im Buch der Natur gelesen werden kann, sich auf ein rationales Einvernehmen der Gesellschaft verlassen, sich aus dem Willen eines Staatsvolkes legitimieren, auf die Lernfähigkeit aus Unrechtserfahrung bauen kann. Auf der Grundlage dieser Hoffnung setzt dann der verfassungsändernde und der einfache Gesetzgeber positives Recht. Sprachwissenschaftler erklären die Sprache und ihre gemeinschaftsstiftende Verbindlichkeit durch die Konvention im Sinne der Zusammenkunft, die Menschen in der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft zusammenführt, und im Sinne der 24  Vgl. Franz Böckle, Natürliches Gesetz als göttliches Gesetz in der Moraltheologie, in: Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S.  165 f.; Ralf Dreier, Göttliches und menschliches Recht, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (32), 1987, S.  289 f. 25   Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6.  Aufl., 2011, Rn.  415 f.; vgl. auch Iwan Sergejewitsch Turgenjew, Vorabend, 1860, abgedruckt in: Iwan Turgenjew. Gesammelte Werke in Einzelbänden, 1994, Bd.  3, S.  12 („Wie oft du auch an das Tor der Natur klopfen magst, sie wird dir niemals in verständlicher Sprache antworten, denn sie ist stumm.“) 26  Vgl. Wolfgang Kerstin, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 2005. 27   Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, a.a.O. Rn.  13 f. 28   Kielmansegg a.a.O. §  59 Rn.  19 f. 29  Vgl. Marie Theres Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007, S.  123 (m. Fn.  271). 30   Zum Antwortcharakter der Verfassung, zur Fähigkeit des Menschen, über sich hinauszudenken vgl. Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, a.a.O. Rn.  5 f., 14. 31   Paul Kirchhof, Das Grundgesetz als Gedächtnis der Demokratie – Die Kontinuität des Grundgesetzes im Prozess der Wiedervereinigung und der europäischen Integration, in: Martin Heckel, Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Band  82, 1996, S.  35 ff.

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Übereinkunft, nach der die Menschen sich untereinander verständigen, wie sie sich in Zukunft sprachlich begegnen wollen.32 Recht wurzelt in Herkunft, Zusammenkunft, Übereinkunft. Auch nach der Formalisierung der Rechtsentstehensquelle in demokratischen Rechtsetzungsverfahren bleibt die Konvention eine Grundlage des friedlichen Zusammenlebens. Das Recht hofft darauf, dass Menschen in freiheitlicher Verantwortlichkeit für ihr Zusammenleben ungeschriebene Verhaltensregeln entwickeln.33 Diese Konventionen entlasten den Gesetzgeber. Wenn jeder weiß, was sich gehört – er zum akademischen Festakt anders gekleidet erscheint als in der Badeanstalt, er die auf dem Rugbyfeld nach den Regeln des Sports zulässigen körperlichen Attacken beim anschließenden Festbankett unterlässt, er am Stammtisch herb, als Diplomat durch die Blume, als Arzt in schönenden Euphemismen zu sprechen weiß –, braucht die Gemeinschaft insoweit kein Gesetz. Gingen diese Konventionen verloren, wären Rechtshoffnungen enttäuscht, der Gesetzgeber überfordert.

3.  Idee der Allgemeinheit Rechtswissenschaft will das geltende Recht begrifflich-systematisch durchdringen, den Rechtsstoff verständlich, möglichst auch vereinfachend strukturieren, die im Gesetzestext aufgenommenen oder anklingenden Leitgedanken34 und Rechtsideen bewusst machen, geltendes Recht dogmatisch erschließen,35 hofft aber vor allem, einen Beitrag zum besseren Gesetz zu leisten. Das ist vielfach Kärrnerarbeit. Ich habe den Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches36 vorgelegt. Das bedeutet lange, auch nächtliche Lektüre von wissenschaftlichen Stellungnahmen und politischen Texten, Vortragsreisen mit Warten auf Bahnhöfen und Flughäfen, der Kampf gegen Ermüdung und für Gelassenheit, aber auch inspirierende Foren in Diskussionen und Arbeitskreisen zwischen Wissenschaft und Praxis, Vortrags- und Gesprächsbegegnungen mit Menschen unterschiedlicher Interessen, öffentliche Ermutigung und diskrete Anfeuerung. Auch hier gilt: Es besteht Hoffnung. Wissenschaft und Verfassungsstaat werden durch dasselbe Ethos geprägt: die Idee der Allgemeinheit.37 Forschung und Lehre suchen die verallgemeinerungsfähige Aussage. Die Allgemeinheit leitet und legitimiert das Gesetz des demokratischen Rechtsstaates. Das haben Josef Isensee und ich im ersten Band des Handbuchs des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland 198738 gesagt, das Allgemeinprinzip bis 32   Eric Achermann, Inputatio, impositio und die Verbindlichkeit von Zeichen, zum Topos der Sprachkonvention in naturrechtlicher Hinsicht, in: Claudia Lieb/Christoph Strosetzki (Hrsg.), Philologie als Literatur- und Rechtswissenschaft, 2013, S.  13. 33   Paul Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S.  20 f.; ders., Begriff und Kultur der Verfassung, a.a.O. Rn.  41 f.; ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, 1995. 34   Leitgedanken des Rechts, a.a.O. passim. 35   Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012. 36   Paul Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011; dazu Paul Kirchhof (Hrsg.), Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, 2013. 37   Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009; ders., Gesetz, in: Leitgedanken des Rechts, a.a.O. Bd.  1, §  32. 38   Josef Isensee/Paul Kirchhof, HStR, Bd.  I, 1.  Aufl., 1987, Vorwort, S.  V II.

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heute, wenn wir am 11. Band der 3. Auflage dieses Handbuches arbeiten, als Grundmaxime dieses Gemeinschaftswerkes gehandhabt. Die klassische „Goldene Regel“,39 der Kantsche kategorische Imperativ40 oder die Volksweisheit: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“, fordern die Verallgemeinerungsfähigkeit der Maßstäbe staatlichen Handelns (Recht) und individueller Selbstvergewisserung (Ethik). Für das staatliche Gesetz ist die Idee der Allgemeinheit Leitprinzip und Erneuerungsauftrag. Allgemeinheit des Gesetzes meint die Allgemeinverständlichkeit des Gesetzes für jedermann,41 die sachliche Allgemeinheit,42 die Gleichheit für jedermann garantiert und das Privileg vermeidet. Allgemeinheit meint auch die räumliche Allgemeinheit,43 die Geltung der Regel im gesamten Hoheitsbereich des Rechtsetzers, die Rechtsgeltung und Rechtsverantwortung klarstellen. Diese Allgemeinheit muss für das Verhältnis von Europarecht und staatlichem Recht neu definiert werden.44 Ein Gesetz soll sich im Regelungsziel auf das Allgemeine beschränken, das Grundlegende, das Grundsätzliche, das Notwendige, das Dauerhafte bestimmen, die Details und das Gegenwärtige aber Verordnungen und Verwaltungsvorschriften überlassen.45 Die „Wesentlichkeits“-These des Bundesverfassungsgerichts46 bedeutet heute, dass der Gesetzgeber das Wesentliche einer Gemeinschaft regeln, aber auch eine Regelung des Unwesentlichen unterlassen möge. In dieser Beschränkung blickt das allgemeine Gesetz auf das Ganze, ist insbesondere der Freiheit der Bürger verpflichtet und verbietet ein Übermaß freiheitsbegrenzender Regelungen. Diese Allgemeinheit im Wesentlichen wird gegenwärtig oft gröblich verletzt, wenn der Deutsche Bundestag ein detailliertes finanzmarkterhebliches Gesetz in 48 Stunden beschließt, der Europäische Rat im sogenannten A-Punkte-Verfahren binnen 60 Minuten 60 Gesetze erlässt.47 Hier weiß der Gesetzgeber nicht, was er tut, der Gesetzesadressat nicht, was er tun soll. Mein pragmatischer Vorschlag wäre, in jedem Gesetzesbereich – dem Zivilrecht, dem Strafrecht, dem Sozialrecht, dem Steuerrecht – nur so viele Normen zu erlassen, als der zuständige Ministerialrat aktiv im Gedächtnis behalten kann. Der kluge Kopf des für die Gesetzesinitiative mitverantwortlichen Beamten ist die Mengenschleuse für Gesetzesrecht. Wir bleiben bei dem Grundsatz: „Was du nicht willst das man dir tu .  .  .“. Sprichwörter sind wie Mückenstiche, sagt Seneca.48 Man merkt nicht, wenn man gestochen 39   Albrecht Dihle, Die Goldene Regel: Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, 1962. 40   Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), Originalausgabe S.  155. 41   Gregor Kirchhof, a.a.O., S.  161. 42   Gregor Kirchhof, a.a.O., S.  167. 43   Gregor Kirchhof, a.a.O., S.  164. 44   Gregor Kirchhof, a.a.O., S.  386 f. 45   Fritz Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  V, 3.  Aufl., 2007, §  100, Rn.  47 f. 46   BVerfGE 33, 1 (10 f.) – Strafgefangene; 33, 125 (158 f., 163) – Facharztbeschluss; 33, 303 (307, 346) – Numerus clausus; 41, 251 (259 f.) – Speyer-Kolleg; 47, 46 (78 f.) – Sexualkunde-Unterricht; 58, 257 (268) – Schulausschluss; 101, 1 (34) – Käfighaltung. 47   Gregor Kirchhof, a.a.O., S.  435 f. 48   Sen.ep.  94, 41 ein Zitat nach Phaidon von Elis, dazu Albrecht Dihle, Vom gesunden Menschenverstand, 1995, S.  26.

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wird, aber nachher beginnt es zu jucken. Gelegentlich wünsche ich mir, dass ein Mückenschwarm nach Berlin und nach Brüssel ausschwärme, um dort immer wieder an eine Uridee des Rechts, die Allgemeinheit der Regel, zu erinnern und die Missachtung dieser Regel individuell spürbar zu sanktionieren. Diese Allgemeinheit wird ergänzt durch die Idee des Maßes und der Toleranz. Sichert der Staat als Garant der Freiheit Grundrechte, sind diese definiert, begrenzt in die Rechtsgemeinschaft eingebettet. Greift der Staat als potentieller Gegner der Freiheit in Freiheitsrechte ein, gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip.49 Diese Kultur des Maßes erläutert eine schöne Geschichte von Michelangelo, der gefragt wurde, wie es ihm gelungen sei, seinen David aus einem Marmorblock künstlerisch zu gestalten. Seine Antwort lautete: Ich habe nur das zuviel an Marmor weggenommen.

4.  Hoffen auf die Antworten anderer Toleranz ist die rechtliche Kunst, das Zuviel an Freiheitsbedrängnis wegzunehmen, dadurch die Figur des freiheitlichen Verfassungsstaates sichtbar zu machen. Toleranz meint nicht den Weichmut des Wohlmeinenden, der allen Wohlklang für Wahrheit hält, sondern fordert die intellektuelle Kraft, das Unverbrüchliche vom Verbrüchlichen zu unterscheiden, das Unveräußerliche vom Veräußerlichen, das Unabstimmbare vom Mehrheitsfähigen. Diese Idee des Maßes und der Toleranz setzt vor allem auf einen Staat und ein Recht, das wesentliche Fragen des Menschen, insbesondere der Religion und Welt­ anschauung, offenlässt, damit den Menschen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit Frieden und Zugehörigkeit sichert.50 Der Staat erwartet, dass Elementarfragen der Menschheit von anderen beantwortet werden: 51 – Was ist der Mensch? Eine mit individuellem Willen, mit der Kraft zur Freiheit und Verantwortlichkeit begabte Person oder ein gänzlich in Naturgesetzmäßigkeiten determiniertes Säugetier? – Was ist die Zeit? Die Phase unausweichlicher Vergänglichkeit oder der Weg in eine Ewigkeit? – Was ist die Natur? Eine Materie, die zerfällt und verwest, oder eine Gesetzmäßigkeit, die über ihren begreif baren Ursprung und ihr erkennbares Ziel hinausweist und den Menschen veranlasst, die Frage nach Transzendenz zu stellen? – Was ist Gerechtigkeit? 52 Ein wegen der Unzulänglichkeit der Menschen unerreichbares, deswegen törichtes Ziel, oder aber der Auftrag, sich ständig der Achtung vor der Würde und Freiheit des anderen, der Verantwortlichkeit bei der   Florian Becker, Verhältnismäßigkeit, in: Leitgedanken des Rechts, a.a.O., §  21; zur Bedeutung der Verhältnismäßigkeit im Gleichheitssatz Lerke Osterloh, das., Gleichheit, §  20, Rn.  7 f.; zur Verhältnismäßigkeit als Instrument der Rationalitätssicherung, Uwe Kischel, Rationalität und Begründung, das., §  34, Rn.  6 ; Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als Ansatz für eine Staatsaufgabenlehre Christian Engel, das., Aufgaben, §  6, Rn.  5 f. 50   Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörgen, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  V II. 51   Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, a.a.O., §  3, Rn.  49 f. 52   Paul Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009. 49

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Wahrnehmung der eigenen Freiheit, der Suche nach verallgemeinerungsfähigen Verantwortlichkeitsmaßstäben, der Kultur des Maßes zu widmen? Gerechtigkeit ist ein Ziel wie die Gesundheit. Wir erreichen sie nie vollständig, streben sie aber stetig an. Viele unserer Hoffnungen richten sich nicht auf den Staat, sondern auf gesellschaftliche Gruppen und freiheitsbewusste Bürger.

IV. Sprachoptimismus Der Verfassungsstaat beendet das Fehderecht, entwaffnet seine Bürger, begründet ein staatliches Gewaltmonopol, um Konflikte allein in sprachlicher Auseinandersetzung zu lösen. Er hofft, im Sprechen über das Recht zur Rationalität und Angemessenheit zu finden. Das Setzen und Durchsetzen von Recht ist stets ein Vorgang des Sprechens.53 Das Entstehen des Gesetzes hängt von öffentlicher Debatte im „Parlament“ ab. Der Abgeordnete gibt seine „Stimme“ ab. Der Bundesrat erhebt Ein“spruch“ oder erklärt Zu“stimmung“. Der „Wortlaut“ des Gesetzes wird „verkündet“. Die Exekutive handelt in Regierungs“erklärungen“, „Verlautbarungen“ und Verwaltungsakten. Der Betroffene ge“horcht“ oder wehrt sich gegen Akte der „Spruch“körper durch einen „Widerspruch“, eine „Klage“. Er „ruft“ die Gerichte an und geht in Be“rufung“. Die Recht“sprechung“ gewährt rechtliches „Gehör“, entscheidet über An“spruch“ oder Frei“spruch“, erwägt auch eine ent“sprechende“ Gesetzesanwendung, „verkündet“ nach „Stimm“abgabe eine Entscheidung, spricht im „Namen“ des Volkes. „Rede“ bedeutet ursprünglich „Rechenschaft“ und (gerichtlicher) Parteivortrag; „Redner“ ist anfangs der Wortführer vor Gericht. Die Begriffe Recht und Rede, Nomos und Name, Lex und Wort haben einen gemeinsamen Stamm. Recht lebt in der Sprache und durch die Sprache.54 Die Sprache vermittelt dem Recht Zeichen ähnlich denen der Uhr. Auf dem Ziffernblatt sind zwölf Zahlen im Kreis abgebildet. Zwei Zeiger zeigen auf eine Zahl, benennen die Stunde und die Minute. Wir kennen dieses Zähl- und Zeichensystem, wissen deshalb, wie viel Uhr es ist, richten unser Leben auf diese Zeitenordnung ein. Und wir behalten im Bewusstsein, dass diese Uhr von einem Uhrwerk betrieben wird, die Zeitzeichen also ebenso wenig voraussetzungslos sind, wie die Rechtszeichen. Sie müssen bei der Uhr von einer ständig zu erneuernden Mechanik oder Technik, beim Recht von einer sie tragenden und stützenden Kultur in Bewegung gehalten, aber auch in einer Kultur des richtigen Maßes gebunden werden. Wenn der Gesetzestext von „Freiheit“, von „Parlament“, von „Familie“, von „Staat“ spricht, so würde dieses Zeichen für Recht allein bald an Aussagewert und Gestaltungskraft verlieren. Doch eine falschgehende und eine stehende Uhr erinnert daran, die Uhr 53   Paul Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  II, 3.  Aufl., 2004, §  20, Rn.  23 f.; ders., Rechtsprechen ist mehr als Nachsprechen von Vorgeschriebenem, in: Sprache und Recht, Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 2001, hrsg. von Ulrike Hass-Zumkehr, 2002, S.  119. 54   Josef Isensee, Staat im Wort, 1995; Paul Kirchhof, Deutsche Sprache a.a.O. §  20, Rn.  23 f.

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neu in Gang zu setzen. Ebenso hat der Rechtsstaat seine Organe, insbesondere die Rechtsprechung, um die Rechtssprache in der Kraft ihrer Zeichen lebendig zu halten. Wenn das Gesetz im Gesetzblatt verkündet ist, trägt allein der geschriebene Text die Last, den im Rechtssatz gemeinten Gedanken zu überbringen. Das Gesetz kann nicht, wie der Mensch im Gespräch, das Gesagte durch Gesten und Mimik betonen, formen, verdeutlichen und ergänzen, kann nicht mit den Augen zwinkern oder die Stirn runzeln, nicht die Arme einladend ausbreiten oder abwehrend entgegenhalten. Dennoch wird der Rechtsstaat mit Verkündung des Gesetzes nicht sprechunfähig. Vielmehr stellt er den Gesetzesadressaten eigene Organe, letztlich die Recht-Sprechung zur Verfügung, die mit den Betroffenen über die Bedeutung des Rechtssatzes im Einzelfall spricht, Streit über den Rechtssatz befriedet, die Härte einer generellen Regel durch individuelle Billigkeit mäßigen kann.55 Der Rechtsstaat hofft, ständig mit dem Bürger im Gespräch zu bleiben, in der Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Staatsgewalten die richtige Form der Ansprache zu finden.

V.  Hoffnung auf Institutionen Kein Mensch kann seine Freiheit entfalten, in Würde leben, wenn ihn nicht Institutionen stützen. Wer morgens zur Arbeit fährt, braucht Straßen. Wer seine Wissenschaftsfreiheit in Forschung und Lehre wahrnehmen will, ist auf Universitäten angewiesen. Wer krank ist, fragt nach Krankenhäusern und einem Versicherungssystem. Wer hungert, braucht die Mildtätigkeit von Kirchen oder Sozialstaat. Zum menschlichen Leben jenseits des Einsiedlers in der Wüste gehört die Hoffnung auf Institutionen. Meine Erfahrung mit Institutionen sind erfüllte Hoffnungen. Und erfüllte Hoffnungen sind Anlass zu danken. Ich möchte vier Institutionen nennen, denen ich vieles verdanke: Die Familie, die Universität, das Bundesverfassungsgericht, den Staat.

1. Familie Wenn ich zunächst etwas zur Familie sage, formuliere ich keinen ausdrücklichen oder verdeckten Kommentar zu aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, sondern bestätige aus persönlicher Erfahrung Grundwertungen der Verfassung. Die Bedeutung der Familie ist rechtlich besonders hervorgehoben. Das Grundgesetz kennt in seinem Grundrechtskatalog nur zwei ausdrückliche Schutzaufträge: den Schutz der Menschenwürde und den Schutz von Ehe und Familie. Das Recht gestaltet die Beziehung von Eltern und Kindern als einzige als Lebensgemeinschaft schlechthin aus, die nicht kündbar und nicht scheidbar ist. Die Familie gibt dem Staat 55   Paul Kirchhof, Die Sprache des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft, Begegnung von Wissenschaft und Gesellschaft in Sprache, Symposion zur 100-Jahrfeier der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 2010, S.  77 f.

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im Staatsvolk seine Zukunft, gewährleistet im Elternrecht und in der Elternpflicht die besten Chancen zur geistigen, körperlichen und seelischen Entfaltung des Kindes.56 Im Regelfall bietet eine Erziehung durch Vater und Mutter dem Kind die natürliche Grundlage alternativer Begegnungen und Lebenssichten. Das Wachstum des Kindes in seiner Familie ist das Maß kultureller Zukunft, wirtschaftlicher Prosperität, demokratischer Entwicklung.57 Es übersteigt an Bedeutung weit das Wirtschaftswachstum, auf das wir unser Denken und Handeln gegenwärtig vor allem ausrichten. Deswegen ehren wir besonders die Mutter. Und honor und Honorar hängen in unserer Gesellschaft eng zusammen. Persönlich habe ich allen Grund, meiner Familie zu danken. Das gilt für meine Eltern und die Familie, aus der ich stamme. Das gilt für meine Frau, die Faszination, Inspiration, Vertrautheit und Vertrauen im Zusammenleben, Ermutigung und kritische Begleitung in mein Leben trägt. Das gilt für meine Kinder, die in der Generationenerfahrung den Vater beglücken und fordern, anregen und korrigieren, immer wieder das gelassene Bemühen um intellektuelle Erneuerung, auch zur Pflege rudimentärer Sportlichkeit anregen. Das gilt für die Schwiegerkinder, die diesen Erneuerungsprozess in der Erfahrung ihrer Familien- und Lebenssicht verstärken, vor allem die Familie der nächsten Generation leben. Dies gilt für die Enkelkinder, die, wenn sie mich anblicken und ansprechen, der Zukunft, auf die wir hoffen und für die wir arbeiten, ein ansprechendes Gesicht geben. Wenn ich heute eine Erfahrung an meine Studentinnen und Studenten weitergeben darf, dann ist es diese: Lassen Sie sich das Glück einer Familie – in guten Zeiten das Glück steigernd, in schlechten Zeiten das Unglück mäßigend – nicht nehmen.

2. Universität Die Universität hat mich gelehrt, aus Rechtshoffnungen Rechtswissen zu machen, das Recht als wertebasierte, stets durch neue Fragen an das Recht sich entwickelnde, also ständig unabgeschlossene, aber nie orientierungslose Ordnung zu verstehen. Wissenschaft58 ist nicht wertfrei. Eine wertlose Wissenschaft wäre hoffnungslos. Der Arzt soll den Menschen heilen, nicht schädigen. Der Jurist hat den Weg zu einer würde- und freiheitsgerechten Ordnung, nicht zu Diktatur und Unterdrückung zu bahnen. Der Biologe hat Maßstäbe und Instrumente zur Bewahrung, nicht zur Zerstörung der Umwelt zu entwickeln. Und Wissenschaft ist nicht voraussetzungslos. Hätten wir diese Aula, diese Universität nicht, könnte ich Ihnen heute so nicht begegnen, so nicht zu Ihnen sprechen. Hätten wir nicht das Glück, dass diese Universität seit mehr als 60 Jahren in einem Friedensgebiet steht, nicht in einem Kriegsgebiet arbeiten muss, hätte Wissenschaft 56   BVerfGE 76, 1 (51) – Familiennachzug; 80, 81 (90 f.) – Erwachsenenadoption; Friederike Gräfin Nesselrode, Das Spannungsverhältnis zwischen Ehe und Familie in Art.  6 des Grundgesetzes, 2007; dies., Ehe und Familie, in: Leitgedanken des Rechts a.a.O. §  56. 57   Paul Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S.  167 f. 58   Bardo Fassbender, Wissen als Grundlage staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  I V, 3.  Aufl., 2006, §  76; Hans Mohr, Wissen – Prinzip und Ressource, 1999; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.  Aufl., 1972.

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in Heidelberg sich nicht in dieser Weise entfalten können. Hätten wir unsere Rechtsordnung nicht, die Wissenschaftsfreiheit garantiert, Nichtwissenschaftler zur Finanzierung der Wissenschaft verpflichtet, durch den Schutz der Familie und schulische Ausbildung der Universität die Arbeit mit qualifizierten jungen Menschen erlaubt, fehlten der Wissenschaft elementare Grundlagen. Deswegen muss der Wissenschaftler erklären, was er tut und warum er es tut. Der Forscher lebt nicht als geistiger Emigrant in Einsamkeit und Freiheit in einer Studierstube, die ihm die Rechtsgemeinschaft respektvoll bereitstellt, sondern er steht, weil Forschung bedeutsam ist, im dunkleren oder helleren Licht der Öffentlichkeit, in der Sonne, die auf seine Kultur strahlt, oder in dem Regen, der niederprasselt. Wissenschaft ist verantwortete Freiheit.59

3. Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht ist die wohl wichtigste, auch erfolgreichste Institution, die das Grundgesetz 1949 neu eingeführt hat, um der neuen Verfassung Kraft zu verleihen und den verfassten Staat verlässlich auf die Ideen der Friedensgemeinschaft des Rechts, der individuellen Würde und Freiheit, der demokratisch legitimierten Macht, der sozialen Existenzsicherung, der Bundesstaatlichkeit und Republik zu verpflichten.60 Das Bundesverfassungsgericht ist eine Institution der Hoffnung und des Vertrauens. Seine Urteile werden beachtet, weil sie aus der Verfassung abgeleitet, im Namen des Volkes gesprochen, in öffentlicher Verhandlung und nach Gewährung rechtlichen Gehörs gefunden, in zeitlicher Gelassenheit beraten, in der Rationalität des Rechts und der Rechtskontinuität begründet worden sind. Der Verfassungsrichter hat nicht – wie jeder andere Richter – einen Gerichtsvollzieher, der seine Urteile vollstrecken würde. Ihm steht keine Polizei, schon gar nicht eine Armee zur Verfügung, die den Richterspruch durchsetzen sollte. Das Verfassungsgericht wirkt im Kern allein dank des Willens der Menschen zur Verfassung. Als ich 1987 zum Verfassungsrichter gewählt wurde, habe ich mit erfahrenen Richtern gesprochen, um an deren Wissen und Hoffen teilzuhaben. Ein Richter gab mir den anfangs überraschenden, dann aber in der richterlichen Praxis immer mehr einleuchtenden Rat: Bleiben Sie ein Menschenfreund! Mit dieser Empfehlung ist gemeint, der Richter möge sich jedem Antragsteller und jedem Antragsgegner wie einem Freund widmen, beim rechtlichen Gehör zunächst die Tatsachensicht und das Rechtsverständnis des Antragstellers verstehen – ihm dabei vielleicht Recht geben –, dann die Tatsachensicht und das Rechtsverständnis des Antragsgegners nachvollziehen – ihm dabei vielleicht Recht geben –, um dann im Bewusstsein, dass nicht beide Recht haben können, die Sache am Maßstab des Verfassungsgesetzes zu entscheiden. Der Verfassungsrichter gibt, wenn er morgens die Robe anzieht, an der Garderobe seine Freiheit ab, um der Freiheit anderer Menschen zu dienen, nimmt abends, wenn er seine Robe auszieht, ein Stück seiner   Paul Kirchhof, Wissenschaft in verfasster Freiheit, a.a.O.   Gerd Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  III, 3.  Aufl., 2005, §  67 m.N. 59

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Freiheit zurück. Er ist unparteilicher Richter, der sich von den Parteien fernhält, für das Recht Partei nimmt. Er ist unbefangener Richter, der frei ist in Geist und Gehabe,61 sich nicht einem Freundeskreis, einer Interessentengruppe, einem Netzwerk verbunden fühlt. Er ist unabhängiger Richter, der auf dem strengen Pfad des Rechts sich nicht in wirtschaftliche, intellektuelle oder persönliche Abhängigkeiten verwickeln lässt. Er kennt die Menschen so gut, dass er sich diese hohen Ideale täglich erneut vor Augen führt, auch wenn die strikte Befolgung dieser Prinzipien gelegentlich misslingt. Es beeindruckt mich immer wieder, wie hoch die Erwartungen der Bürger an das Verfassungsgericht sind. Das Gericht braucht Vertrauen und schafft Vertrauen. Das Gericht beantwortet immer wieder neue Anfragen an das alte Recht. Bei uns waren es die Fragen der Wiedervereinigung, der Einführung des Euro, des weltweiten Einsatzes der Bundeswehr, des technischen Fortschritts (Datenschutz). Heute geht es um den Kampf zwischen Geld und Recht, auch um eine große öffentliche Aufgeregtheit, Entlarvungs- und Skandalisierungsbereitschaft. Die Parole und das Büchlein lauteten „Empört Euch!“.62 Bisher gab es einen Anlass, der den einen oder anderen empörte. Jetzt gibt es eine Grundgestimmtheit der Empörung, die ihren Anlass sucht. Immer wieder steht das Gericht vor der Aufgabe, seinen Auftrag, seine Autorität neu zu definieren.

4. Staat Der Staat63 sichert uns ein Leben in Frieden, gewährleistet Existenzgrundlagen und Freiheit, bietet uns Universität und Verfassungsgericht. Der Staat ist für das gemeinsame Wohl seiner Bürger allzuständig, aber nicht allein zuständig. Seine Souveränität war nie das Recht zur Willkür, nie gänzliche Autarkie gegenüber anderen Staaten, sondern stets als rechtlich gebundene Herrschaft gedacht. Jeder Staat ist auf Begegnung und Austausch mit den Nachbarstaaten und letztlich der ganzen Welt angewiesen, kann viele seiner Aufgaben – des Friedens, der Versorgung, des Umweltschutzes,64 der rechtlichen Begleitung des weltweiten Wirtschaftens und der grenzüberschreitenden Medien, der Fremden- und Asylpolitik – nicht allein erfüllen. Staatliche Souveränität65 ist deswegen die Letztverantwortung für die Staatsbürger und die im eigenen Staatsgebiet lebenden Menschen, ist demokratische Verantwortung gegenüber dem eigenen Staatsvolk, ist Garantie der in der eigenen Verfassung gewährleisteten Rechte und Pflichten. 61   Paul Kirchhof, Die Bedeutung der Unbefangenheit für die Verwaltungsentscheidung, in: Verwaltungs-Archiv 66, 1975, S.  370. 62   Stéphane Hessel, Empört Euch, 18.  Aufl., 2011. 63   Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, Bd.  II, 3.  Aufl., 2004, §  15; Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, das. §  26; Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, das. §  30; Paul Kirchhof, Der Staat – Eine Erneuerungsaufgabe, 2004. 64   Vgl. dazu Charlotte Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 2005. 65  Vgl. Josef Isensee, Der Staat, in: Leitgedanken des Rechts, §  1, Rn.  6 f.; H. F. Zacher, Sozialstaat, das. §  26, Rn.  16 f.; Stefan Oeter, Äußere Sicherheit, das. §  42; Charlotte Kreuter-Kirchhof, Schutzverantwortung im Völkerrecht, das. §  105.

Forschen heißt Hoffen

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In dieser Verantwortlichkeit ist der Staat in Europa integrationsoffen, in der Welt kooperationsoffen. Thesen, die den Staat totsagen, sind insbesondere durch Wissenschaftler, Unternehmer, Diplomaten widerlegt, die aus ihren Erfahrungen aus dem Leben in anderen Staaten berichten.66 Wer von einem Weltenstaat träumt, muss bedenken, dass die Demokratie weltweit in einer Minderheit ist, ein Mensch, der gegen die Macht eines Weltenstaates opponiert, in keinem Winkel der Welt Zuflucht finden wird. Asyl setzt die Vielfalt von Staaten voraus. Wer die Mitgliedstaaten der EU in der Union aufgehen sieht, ohne dass ein neuer europäischer Staat entstünde, muss sich mit dem Recht jedes Staatsvolkes auf einen eigenen Staat auseinandersetzen.

VI. Leitgedanken Semper Apertus – das offene Buch lässt die Frage unbeantwortet, welches Buch wir lesen wollen. Lassen Sie uns für die Rechtswissenschaft einmal träumen – von einem Buch, in dem sich die Spitzen unserer Wissenschaft versammeln, zu den Grundsatzfragen unseres Rechts Stellung nehmen, die Fülle ihres Denkens in sprachlicher Schönheit und ansprechender Kürze ausdrücken, sich aufeinander so abstimmen, dass ein Kosmos des Rechts entsteht, der die Gedanken leitet, die Leitgedanken des Rechts formuliert. Aus diesem Traum wurde eine Hoffnung, aus der Hoffnung Wirklichkeit. Ein solches Buch liegt vor: Die Leitgedanken des Rechts,67 eine Schrift, in festlicher Absicht gewidmet, auf eine Festigung des Rechts angelegt. Ich habe es gelesen, auch den fast 200 Autoren schon geschrieben, lasse mich jetzt auf dem Gipfel der Wissenschaft dieser Autoren nieder, der das Fortschreiten der wissenschaftlichen Wanderung nicht beendet, wohl aber eine Pause gönnt, in der ich den Blick in die Weite dieser in Worten wirkenden Wissenschaft, den Sonnenschein wärmender und erhellender Inspiration genieße, ein großes Werk, zu dem ich Herausgebern und Autoren gratuliere. Ich bedauere nur eines – nicht selbst habe mitschreiben zu dürfen. Vor so viel Wissen, Kraft des Begreifens, Sprachgewalt, vor so viel Wohlwollen, das Sie mir mit Ihrem Kommen entgegenbringen, bin ich nur noch zu einem Wort fähig: Danke!

 Vgl. zu Grundentwicklungen der Staatengemeinschaft als staatsbedingte Wertegemeinschaft Wolfgang Graf Vitzthum, Staatengemeinschaft, in: Leitgedanken des Rechts, Bd.  1, a.a.O., §  94. 67   Thomas Puhl/Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Hanno Kube/Ulrich Palm/Christian Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013. 66

Richterbilder

Wolfgang Zeidler – Präsident des Bundesverwaltungsgerichts und Präsident des Bundesverfassungsgerichts von

Dr. Alexander Jannasch, Richter am Bundesverwaltungsgericht a. D.1 1.  Das Projekt für die Zukunft – Verfassungsrechtsvergleichung Wolfgang Zeidler ist am Silvestertag 1987 oberhalb von Meran bei einer Wanderung, auf der er von seinem Sohn begleitet wurde, tödlich verunglückt. Ein einziger, kleiner falscher Schritt – so hat es Roman Herzog beim Staatsakt am 8. Januar 1988 formuliert.2 Dabei hatte er doch für die Zeit nach dem Ende seiner Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts noch so viel vor. Seit der großen Feier aus Anlass des Amtswechsels am 16. November 19873 lernte er hierfür intensiv italienisch. Denn zusammen mit Antonio La Pergola, der damals Italiens Europaminister war und den er zuvor als Präsidenten des Italienischen Verfassungsgerichts näher kennengelernt hatte (und der später Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof geworden ist), wollte er an der Universität Bologna ein Internationales Verfassungsrechtsinstitut gründen.4 Dieses sollte in einem ersten Schritt grundlegende Entscheidungen der Europäischen Verfassungsgerichte einschließlich nahe stehender Einrichtungen wie dem Conseil Constitutionnel sowie des US Supreme Courts und der Obersten Gerichte von Kanada und Australien übersetzen und mit Erläuterungen versehen, die dem ausländischen Juristen das Verständnis erleichtern, beispielsweise durch Darstellung des zugrundeliegenden „einfachen“ Rechts, oder der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen sowie des Sozialversicherungs- oder Steuersystems. Allen, die in der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte5 zusammengearbei  Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Wolfgang Zeidler 1982–1987.   Roman Herzog, Bulletin der Bundesregierung vom 12.1.1988, Nr.  4 S.  21. 3   Bulletin der Bundesregierung vom 18.11.1987, Nr.  125 S.  1061. 4   Vgl. auch den Beitrag von Antonio La Pergola, Das Verhältnis von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes in der Festschrift für Wolfgang Zeidler S.  1695 ff. 5   Vgl. hierzu Karl-Georg Zierlein, Entwicklung und Möglichkeiten einer Union: Die Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S.  315. 1 2

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tet hatten, war das große Problem der Sprachbarriere bewusst. In einem zweiten, späteren Schritt sollte eine Reihe herausgegeben werden, in der einzelne verfassungsrechtliche Problembereiche systematisch und rechtsvergleichend bearbeitet und dargestellt werden sollten. Zu all dem kam es nicht mehr. Die ersten Anfänge des Projekts mussten mit dem Tod von Wolfgang Zeidler abgewickelt werden. Erst Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht damit begonnen, einzelne seiner Entscheidungen in die englische Sprache zu übersetzen.

2.  Von Hamburg nach Karlsruhe Wolfgang Zeidler wurde 1924 in Hamburg geboren und besuchte dort die Schule. 1942 bis 1945 diente er in der Wehrmacht. Dies machte ihn nicht zum Pazifisten. Vielmehr berichtete er über die Notwendigkeit militärisch disziplinierter Organisation als Voraussetzung für einen geordneten Rückzug. Die Verteidigung des Staatswesens und seiner Verfassung erschienen ihm als geboten. Auf Bitten von in Baden-Württemberg stationierten US-Offizieren erläuterte er andererseits auch (in den Zeiten der Nachrüstungsdebatte) einem größeren Kreis von ihnen die tiefgreifende Abneigung vieler Deutscher gegen alles Militärische. Den USA und ihrem Rechtssystem war er besonders verbunden, seit er von 1959 bis 1960 Research Fellow in Law an der Harvard University Law School gewesen war. Noch im Jahr 1986 nahm er an einem deutsch-amerikanischen Verfassungsrechtssymposium teil, das unter Leitung von Donald Kommers an der Notre Dame Law School stattfand.6 Im Anschluss daran besuchte er den Supreme Court in Washington und führte dort Gespräche mit seinen Mitgliedern. Nach dem Abitur 1946 durchlief er die juristische Ausbildung und promovierte bei Hans Peter Ipsen über ein verfassungsrechtliches Thema: Auswirkungen der westdeutschen Landesverfassungen auf das Bonner Grundgesetz.7 Anschließend war er in der Hamburger Justiz tätig. 1955 bis 1958 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts Erna Scheffler.8 Unter Hinweis hierauf erklärte Zeidler zuweilen scherzhaft, er sei Mitglied aller drei Senate des Bundesverfassungsgerichts gewesen.9 Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Hamburg sahen einen derartigen Ausflug nach Karlsruhe damals als etwas eher Unseriöses an. Auch im Übrigen hat die Arbeit von Erna Scheffler, die ganz maßgeb-

6  Vgl. Wolfgang Zeidler, Between judicial restraint and activism – The Role of the Federal Constitutional Court (Bibliothek des BVerfG). 7   Eine vollständige von Franz Schneider (dem früheren Leiter der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts) bearbeitete Bibliographie findet sich in der Festschrift für Wolfgang Zeidler 1987, S.  1973 ff. 8   Vgl. das Richterbild Erna Scheffler – erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts von Christian Waldhoff, JöR 56 (2008) S.  261 ff. sowie die Gedenkrede von Wolfgang Zeidler anlässlich der Trauerfeier für Erna Scheffler am 13.6.1983 (Bibliothek des BVerfG). 9   Ernst Benda formulierte, Zeidler habe sich sozusagen aus dem Mannschaftsstand hochgedient, Ansprache aus Anlass des Amtswechsels 1983, Bulletin der Bundesregierung vom 22.12.1983, S.  1286; vgl. auch das Vorwort von Wolfgang Zeidler in: Das wahre Verfassungsrecht, Gedächtnisschrift für Friedrich G. Nagelmann.

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lich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art.  3 Abs.  2 GG geprägt hat,10 den konservativen Hamburger Richtern sicherlich nicht gefallen.

3.  Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts Nach dem erwähnten Aufenthalt in Harvard kehrte Zeidler in die Hamburger Justiz zurück (Landgericht, Verwaltungsgericht) und wechselte dann in die Verwaltung, in der er zuletzt den Planungsstab der Senatskanzlei leitete. 1967 wurde er zum Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt und gehörte bis 1970 dessen Ersten Senat an. Auf die ihm später vor einem großen Auditorium gestellte Frage, warum er gewählt worden sei, antwortete er, es sei eben ein norddeutscher Sozialdemokrat gesucht worden. Mehrfach hob Zeidler die Bedeutung des Richterkollegiums als Mittel der Binnenkontrolle hervor. Über die Zeit im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts formulierte er beim Amtswechsel 1983 rückblickend: „Die Mitarbeit in einem solchen fachlich-menschlichen Bezugssystem bedarf der Einübung. .. Mehr als einer der Kollegen von damals hätte fast nach Lebensjahren mein Vater sein können. Das machte es relativ leicht, sich der aus freundlicher Nachsicht und sachorientierter Anspruchshaltung gemischten Atmosphäre des senatsinternen Arbeitsklimas zu stellen, der im Anfangsstadium ein Neuling sich ausgesetzt sieht.“11 Von den Entscheidungen, die unter seiner Mitwirkung im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts ergangen sind, hob er den Blinkfüer-Beschluss vom 26.2.196912 besonders hervor, der den Schutz eines Zeitungsherausgebers vor einem Boykottaufruf des Axel-Springer-Konzerns betraf; die Konstellation diente ihm als Beispiel dafür, dass Grundrechtsgefährdungen auch von machtvollen privaten Organisationen drohen können.

4.  Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Nach dem plötzlichen Tod von Fritz Werner13 Ende 1969 (an dessen ausgezeichnete Vorlesung zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit an der FU Berlin der Verfasser dieser Zeilen sich noch gut erinnern kann) wurde Wolfgang Zeidler (einstimmig) zum Bundesrichter gewählt und zum Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts ernannt. In seiner Ansprache anlässlich seiner Amtseinführung am 3.7.197014 schloss er sich der Einschätzung von Fritz Werner an, weder revolutionäre Hektik noch unreflektiertes Beharren auf dem Gestrigen sei dem Staatsgestaltungsauftrag der rechtsprechenden Gewalt angemessen. Zugleich hob er hervor, diese Position der Mitte müsse in einer Welt, die als einzige Kontinuität den ständigen Wandel kenne, stets neu   Christian Waldhoff a. a. O. S.  265.   Bulletin der Bundesregierung 1983 S.  1288. 12   BVerfGE 25, 256. 13  Vgl. auch Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts Nr.  23 / 2006 vom 4.5.2006 zum 100. Geburtstag von Fritz Werner. 14   DVBl. 1970, 562. 10 11

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gefunden werden. „Wer auf Stagnation beharrt und die Effizienz des demokratischen Prinzips hinsichtlich seiner Fähigkeit zur Hervorbringung der reformierenden Kräfte mindert, bereitet der Revolution den Weg. Wer Härte fordert gegen den Umsturz der Ordnung, muss das gleiche Maß von Härte bereit sein einzusetzen bei ihrer Reform. Die Waage der Justitia ist nur ausbalanciert, wenn in beiden Schalen das gleiche Gewicht an Entschlossenheit liegt.“ Er beleuchtete dies mit Beispielen aus mehreren Spannungsfeldern, die zum Teil bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben. Gerne vertiefte er seine Gedanken auch mit historischen Analysen, beispielsweise bei einem Festvortrag zur Eröffnung einer Tagung der Richterakademie.15 Der damals vielfach gängigen Forderung nach einer Demokratisierung aller Lebensbereiche setzte er sorgfältig differenzierende Betrachtungen entgegen.16 Schon von Beginn an beschäftigte ihn das grundlegende Verhältnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verwaltung. Mehrfach pries er später das unter seinem Vorsitz ergangene Urteil des 1. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.12.1971,17 in dem der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ein Beurteilungsspielraum bzw. eine Einschätzungsprärogative zugebilligt wurde. In seinem Vortrag „Gedanken zur Rolle der dritten Gewalt im Verfassungssystem“ aus Anlass der 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg (1986) kritisierte er, jahrelang seien zum Teil durchaus berechtigte Klagen darüber geführt worden, dass die Verwaltungsgerichte selbst sich in die aktive Rolle der Verwaltung drängten, statt sich auf eine Rechtskontrolle zu beschränken.18 Auch Redeker verweist in seiner Würdigung „Richterpersönlichkeiten – Erinnerungen eines Anwalts“ ausdrücklich auf dieses Urteil.19 Über die Arbeit und insbesondere die Beratungen im Ersten Senat des Bundesverwaltungsgerichts formulierte er später: „Mit ihrer hohen gedanklichen Konzentration, äußerst disziplinierten Diskussionsweise und strikten Sachorientiertheit, erleichtert durch die größere Distanz zu den Irritationen des politischen Bereichs, gehören sie zu den besten Erinnerungen meines beruflichen Lebenswegs.“20

  Richter und Verfassung, DÖV 1971, 6.   Die Verwaltungsrechtsprechung in den Spannungsfeldern unserer Gesellschaft, DVBl. 1971, 565; Der Standort der Verwaltung in der Auseinandersetzung um das Demokratieprinzip in: Demokratisierung und Funktionsfähigkeit der Verwaltung, Deutsche Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften 1973. 17   BVerwGE 39,197. 18   In: Richterliche Rechtsfortbildung, Erscheinungsformen, Auftrag und Grenzen, Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1986, S.  645, 649. 19   Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht 2003, S.  127, 146; In der Festschrift für Wolfgang Zeidler befassen sich insbesondere die Beiträge von Everhardt Franßen, (Un)bestimmtes zum unbestimmten Rechtsbegriff S.  429 ff. und Alexander Jannasch, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Rahmen der staatlichen Funktionen S.  487 ff. mit dieser die Verwaltungsgerichtsbarkeit regelmäßig beschäftigenden Grundproblematik. 20   Bulletin der Bundesregierung 1983, S.  1289. 15 16

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5.  Ausländer- und Asylrecht Seit seiner Tätigkeit im Ersten Senat des Bundesverwaltungsgerichts beschäftigte sich Zeidler mit dem Ausländer- und Asylrecht.21 Einerseits äußerte er die Sorge, das (bis zur Asylrechtsnovelle 1993) in Art.  16 Abs.  2 Satz 2 GG voraussetzungslos gewährte Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte werde sich angesichts zunehmender Migrationsbewegungen nicht aufrechterhalten lassen. Zugleich setzte er sich für eine weitgehende Ermächtigung der politisch Zuständigen und der Verwaltungsbehörden ein, aus humanitären Gründen (ohne Rechtsanspruch auf Verfassungsebene) großzügig Bleiberechte zu gewähren.22 1975 bis 1986 saß er dem Kuratorium der Otto-Benecke-Stiftung vor, die zum einen in unterschiedlichen Situationen Migranten Hilfe gewährte und zum anderen eine Reihe von Veranstaltungen zu Fragen des Asyl- und Ausländerrechts durchgeführt hat, bei denen er mehrfach mit pointierten Beiträgen das Wort ergriff. Mit dem Zuständigkeitswechsel zum Jahresbeginn 1983 wurde er auch im Bundesverfassungsgericht wieder als Richter mit dieser Materie befasst. Sein Dezernat hatte (neben demjenigen von BVR Ernst-Wolfgang Böckenförde) einen Teil der zahlreichen zum materiellen Asylrecht eingegangenen Verfassungsbeschwerden zu bearbeiten.23 Erste Überlegungen, mit denen die weitere Diskussion angeregt und befördert werden sollte, veröffentlichte er in bewusster Zurückhaltung unter dem Titel „Einige Bemerkungen zu den Versuchen, den Begriff ‚der politischen Verfolgung‘ zu bestimmen“.24 Unter seinem Vorsitz wurde am 1.7. 1987 der einstimmig ergangene Beschluss des Zweiten Senats „Ahmadiyya II“ verkündet.25

6.  Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts Traditionell hat der Zweite Senat die Aufgaben wahrzunehmen, die zuweilen als diejenigen eines Staatsgerichtshofs bezeichnet werden. Daneben wies die Geschäftsverteilung bereits in den Jahren des Vorsitzes von Zeidler (1975–1987) dem Zweiten Senat zahlreiche andere Materien zu. Aus der ersten Kategorie ragen die Entscheidungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung26, das Urteil zur Auflösung des Bundestages 16.2.198327 (mit einem concurring vote von Zeidler, in dem er den Bedeutungswandel, den Rolle und Funktion des Bundeskanzlers seit Schaffung des Grundgesetzes erfahren haben, hervorgehoben hat), mehrere Entscheidungen zu

  Vgl. auch die Würdigung durch Otto Kimminich, ZAR 1988, 2   Vgl. beispielsweise: Asylgewährung in Deutschland: Versuche einer Standortbeschreibung, ZAR 1983, 52; Diskussionsbeiträge auf einer Tagung der deutschen Richterakademie. 23   Weiteres Mitglied dieser Kammer war BVR Helmut Steinberger, dessen Dezernat mit zahlreichen Fragen zum Asylverfahrensrecht befasst war. 24   In: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S.  551 ff. 25   Beschluss v. 1.7.1987, BVerfGE 76, 143. 26   Urteil v. 2.3.1977 BVerfGE 44, 125. 27   Urteil v. 16.2.1983, BVerfGE 62, 1. 21

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Untersuchungsausschüssen 28, zum Länderfinanzausgleich 29, den Zuschüssen zu den politischen Stiftungen30 und zur Parteifinanzierung31 heraus. Vielfach fanden insoweit auch mündliche Verhandlungen statt. Hierzu formulierte Helmut Steinberger beim Staatsakt am 8. Januar 1988: „Seine Leitung öffentlicher Verhandlungen hat ihm vielstimmiges Lob eingetragen. Seine dabei so gelassen, schlagfertig und souverän anmutende Art beruhte freilich auf genauester Vorbereitung.“32 Aus dem übrigen Zuständigkeitsbereich sei beispielhaft auf den Beschluss zum Kontaktsperregesetz vom 1.8.1978,33 den Zeugen vom Hörensagen,34 die gerichtliche Kontrolle der Unterbringung von Geisteskranken,35 die Entscheidungen zum Grundrechtsschutz von Gemeinden36 und zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rückwirkung37 Bezug genommen. Die mündliche Verhandlung zum KDV-Neuregelungsgesetz38 zeigte die Problematik der abstrakten Normenkontrolle von gesetzlichen Regelungen auf, die (zum Teil) erst in schwer vorhersehbaren Situationen Anwendung finden werden. Der Beschluss vom 22.10.1986 „Solange II“ sowie mehrere weitere das Verhältnis zum Europarecht betreffende Entscheidungen veranlassten Zeidler, in einem Beitrag für die Festschrift für Helmut Simon den „Wandel durch Annäherung“ eingehend darzustellen.39 Zu dem durch die Wiedervereinigung zur Rechtsgeschichte gewordenen „Teso“-Beschluss vom 21.10.1987 (BVerfGE 77, 137), der die Frage der Staatsangehörigkeit eines Italieners, der in der DDR deren Staatsangehörigkeit erworben hatte, betraf, bekundete Zeidler seine dissentierende Ansicht, begründete sie aber nicht näher. Zu Recht hebt Steinberger hervor, dass dieses Absehen von einer Begründung aus Gründen der Staatsraison erfolgte.40 Mit den Grundsätzen des Grundvertragsurteils konnte Zeidler sich nicht anfreunden; niemand sollte daraus indes Konsequenzen ableiten können. Zeidlers Fairness in der Leitung der Beratungen ist in Steinbergers Würdigung ausdrücklich hervorgehoben worden.41 Über das positive Arbeitsklima, das in früheren Zeiten im Zweiten Senat wohl nicht bestanden hatte, äußerte er sich gelegentlich auch nach außen. 28  Urteil v 17.7.1984 BVerfGE 67, 100 (Flick Untersuchungsausschuss); Beschluss v. 1.10.1987, BVerfGE 77, 1 (Untersuchungsausschuss Neue Heimat). 29   Urteil v. 24. Juni 1986, BVerfGE 72, 330. 30   Urteil v. 14.7.1986, BVerfGE 73, 1. 31   Urteil v. 14.7.1986, BVerfGE 73, 40. 32   Bulletin der Bundesregierung vom 12.1.1988 S.  23; bei dieser Vorbereitung mitzuhelfen war eine der interessantesten Aufgaben des Verfassers im Rahmen der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter. 33   Beschluss v. 1.8.1978 BVerfGE 49, 24; Zeidlers Beurteilung terroristischer Gewalttaten war sicherlich auch von dem Umstand geprägt, dass der Präsident des Kammergerichts am 10.11.1974 in der Eingangstür seiner Wohnung erschossen wurde und dies auch für ihn schon in der Berliner Zeit Auswirkungen im persönlichen Umfeld mit sich brachte. 34   Beschluss v. 26.5.1981 BVerfGE 57, 250. 35   Beschluss v. 7.10.1981 BVerfGE 58, 208. 36   Beschluss vom 8.7.1982, BVerfGE 61, 82. 37   Beschluss vom 14.5.1986, BVerfGE 72, 200. 38   Urteil vom 24.4.1985, BVerfGE 69, 1. 39   Wandel durch Annäherung – Das Bundesverfassungsgericht und das Europarecht in: Ein Richter, ein Bürger, ein Christ, Festschrift für Helmut Simon 1987, S.  727 ff. 40   Bulletin der Bundesregierung 1988 S.  24. 41   Helmut Steinberger, Bulletin der Bundesregierung 1988 S.  23.

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7.  Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen Besonderes Augenmerk richtete Zeidler auf die Fragen, die die Stellung der Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen betreffen. Die Aufgabe, die Balance „Between Judicial Restraint and Activism“ – so der Titel seines Referats auf der bereits erwähnten Deutsch-Amerikanischen Konferenz an der Universität Notre Dame im April 198642 – zu halten, stellte sich nicht nur dem Bundesverfassungsgericht sondern allen Europäischen und anderen Verfassungsgerichten, insbesondere auch in Ländern, die sich gerade erst von einer autoritären Herrschaft frei gemacht hatten, wie damals Spanien und Portugal.43 Die Thematik für Lissabon hatte er selbst in den Vorgesprächen vorgeschlagen, er übernahm den Landesbericht für die Bundesrepublik Deutschland.44 Die darin dargestellten Entscheidungstechniken, die verfassungskonforme Auslegung, die Appellentscheidung und die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sah er als gut geeignete Instrumente an, mit denen die Gefahr eines zu weitgehenden Eingriffs eines Verfassungsgerichts in die demokratisch legitimierte Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers abgemildert werden kann. Die umgekehrte Gefahr, dass der Gesetzgeber bei bloßen Appellentscheidungen lange nichts unternimmt, war ihm ebenfalls bewusst. Der Landesbericht formuliert allgemein: Die funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit folgen den hinsichtlich Intensität, Reichweite und Konkretisierungsbedürftigkeit ganz unterschiedlichen materiellen Aussagen der Verfassung. Die dem Bundesverfassungsgericht aufgetragene Sorge für die Wahrung der Verfassung kann andererseits durchaus das Gegenteil von Zurückhaltung, nämlich ein entschlossenes Eingreifen des Gerichts fordern – auch auf die Gefahr eines Konflikts mit einer anderen Gewalt.45

8.  Grundrechte und Grundentscheidungen der Verfassung im Widerstreit In seinem Festvortrag auf dem 53. Deutschen Juristentag 1980 in Berlin „Grundrechte und Grundentscheidungen der Verfassung im Widerstreit“ warnte Zeidler vor Übertreibungen, wenn aus der Verfassung Grundentscheidungen abgeleitet werden, denen ein eigenständiger, gar dem Wortlaut der Verfassung übergeordneter Stellenwert beigemessen wird: „Entgegen mancher verbreiteten Annahme handelt es sich bei Begriffen wie „Grundentscheidung der Verfassung“ „Wertordnung“ oder „Grundwert“ nicht um einen Wertehimmel subjektiver Beliebigkeit, in dem die Juristen mit Interpretationsherrschaft je nach dem Inhalt ihrer politischen und weltanschaulichen Vorurteile ins Blaue fabulieren können, sondern um Rechtsgehalte, de42   Between Judicial Restraint and Activism – The role of the Federal Constitutional Court (Bibliothek des BVerfG). 43   Die Konferenzen der Europäischen Verfassungsgerichte 1984 in Madrid und 1987 in Lissabon stellten für die Gastländer ganz herausragende Ereignisse dar. 44   Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen – Arten, Inhalt und Wirkungen der Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnormen, EuGRZ 1988, 207. 45   EuGRZ 1988, 207, 216 mit Fallbeispielen.

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ren Substanz mit Methoden der Rechtsfindung festgestellt wird. Die Grundwertordnung überwölbt nicht als frei schwebendes amorphes Gebilde die positive Rechtsordnung, sondern gehört als deren Bestandteil zu ihr“. Durch die Verwendung der Formulierung „eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung“ (im Urteil vom 25.  2. 1975 zum Schwangerschaftsabbruch)46 werde klargestellt, dass es keine Wertordnung praeter constitutionem oder sogar super constitutionem sei.47 Am Beispiel des Schutzes von Ehe und Familie hob er hervor, dass das Prinzip einer Bindung des Rechts an eine Wertordnung in der heutigen [1980] freiheitlich-offenen Gesellschaft, die keine Staatsreligion und keine staatlich verordnete Weltanschauung gestatte, nur dann demokratisch konsensfähig sei, wenn es sich um eine strikt diesseitige, d. h. säkulare Wertordnung handele. Bei der Eigentumsgewährleistung hob Zeidler48 die Entwicklung hervor, die man als Weg der Emanzipation eines öffentlich-rechtlichen, insbesondere verfassungsrechtlichen, selbständig geformten Eigentumsbegriffs aus den Bindungen seiner privatrechtlichen Ursprünge bezeichnen könnte. Pointiert formulierte er, die Rechtsprechung der Zivilgerichte habe sich nicht selten dahin ausgewirkt, dass Eigentum in der Hand eines Reichen und Mächtigen auch habe wirken können wie eine gegen die Mitmenschen gerichtete Waffe. Mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip warnte Zeidler in seinem Festvortrag ebenso wie an anderer Stelle vor einem Primat der Besitzstände. Das magische Dreieck aus den Grundwerten des Demokratieprinzips, des Sozialstaatsgebots und des Gleichheitsgrundsatzes lasse sich nur dann in eine wenigstens annähernd harmonische Struktur bringen, wenn ein Staatswesen die rechtliche Möglichkeit und die politische Kraft habe, Privilegien zu entziehen und Besitzstände abzuschaffen. Die damit zusammenhängenden Fragen haben beide Senate des Bundesverfassungsgerichts (auch) in den achtziger Jahren mehrfach beschäftigt. Beispielhaft sei hier lediglich auf die Beendigung der Doppelversorgung von Beamten, die zuvor Angestellte gewesen waren, durch §  55 BeamtVG und den hierzu ergangenen Beschluss vom 30.  9. 198749 verwiesen. Dem Rechtsstaatsprinzip komme nicht nur eine die Befugnisse des Staates begrenzende Aufgabe zu; die Bindung des Staates an eine materiale Wertordnung fordere von ihm ferner die Bekämpfung allen Unrechts, auch und gerade desjenigen in der Form der Kriminalität. Gerade nach den Erfahrungen der Weimarer Verfassung sah Zeidler ferner den Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie als elementar an, dessen Bedeutung auch kritischen Stimmen und einer skeptischer werdenden jüngeren Generation gegenüber hervorzuheben sei. Wer die aus dem Prinzip der streitbaren Demokratie sich zwingend ergebende Folgerung einer zumindest latenten verfassungsrechtlichen Diskriminierung aller totalitären Bewegungen und Strömungen ablehne, befürworte damit die Umgründung unseres Staatswesens und die Einset  BVerfGE 39, 1, 36.   Sitzungsbericht zum 53. Deutschen Juristentag Berlin 1980, I 5, 9. 48  Unter Hinweis auf die Entscheidungen zur Mitbestimmung, zum Kleingartenrecht und zum Versorgungsausgleich – dem folgte Mitte 1981 das Urteil zur Nassauskiesung (BVerfGE 58, 300). 49   BVerfGE 56, 256, 297. 46 47

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zung einer neuen, fundamental andersartigen Verfassung, auch wenn er sich dabei auf eine wahrhafte Erfüllung des Grundgesetzes berufe.

9.  Ehe und Familie Auf Bitte der Herausgeber50 übernahm Zeidler im 1983 erschienenen51 Handbuch des Verfassungsrechts das Kapitel Ehe und Familie. Hierzu konnte er an seine Mitarbeit bei Erna Scheffler anknüpfen; überdies handelte es sich um eine Materie, mit der in erster Linie der Erste Senat befasst war. Besonders kam es ihm auf den Wandel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Einstellungen an, der auch die Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts beeinflusst. Kritik übte er – hierzu ist noch der Beitrag in der Festschrift für Hans Joachim Faller „Zeitgeist und Rechtsprechung“ heranzuziehen – an der rigorosen und mit dem Toleranzprinzip sowie der weltanschaulichen Neutralität des Grundgesetzes nicht vereinbaren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Ehescheidung in den fünfziger Jahren (deren Auswirkungen er als Richter in Hamburg unmittelbar miterlebt hatte) bei gleichzeitiger Realität der Konventionalscheidung. Andererseits erschien ihm die Eherechtsreform 1977 angesichts des Fehlens von Übergangsregeln für Altfälle als allzu rigoros. Zu den wichtigsten Ergebnissen der gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen zählte er die Notwendigkeit, den Schutz von Ehe einerseits und Familie andererseits nicht mehr einheitlich zu betrachten. Daraus ergeben sich zahlreiche verfassungsrechtliche Konsequenzen auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Regelungen zur Altersversorgung.52 Diese Fragestellungen haben auch weiterhin die verfassungsrechtliche Debatte, die Rechtsprechung und die Rechtspolitik beschäftigt und tun dies bis heute.53

10.  Der Präsident in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit Wolfgang Zeidler hat sich auch in anderen Zusammenhängen nicht gescheut, das von ihm für notwendig gehaltene auszusprechen und Veränderungen anzumahnen, damit die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts,54 der Justiz,55 des

  Ernst Benda, Werner Maihofer, Hans-Jochen Vogel unter Mitwirkung von Konrad Hesse, 1983.   In späteren Auflagen ist dieser Beitrag leider nicht mehr enthalten. 52   S. den Vortrag Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung von Familien- und Alterseinkommen, StuW 1985, 1 sowie mehrere Interviews zu diesem Themenkreis. 53   Beispielsweise: Ehegattensplitting oder Familiensplitting. 54   Bereits während seiner Amtszeit wurde die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts intensiv diskutiert. 55   Zur Arbeitsweise des Richters und zur Instanzenseligkeit vgl. den Vortrag „Rechtsstaat ’83“ auf dem Deutschen Richtertag 1983, DRiZ 1983, 249. Die Kritik an der Instanzenseligkeit und das Eintreten für eine stärkere Gewichtung der Erörterung des Rechtsstreits in der mündlichen Verhandlung einschließlich eines Auslotens der wirklichen Konflikte und ihrer Lösungsmöglichkeiten hat nach Novellierungen des Prozessrechts in mehreren Gerichtsbarkeiten und der Entdeckung der Mediation heute nicht mehr den damaligen Stellenwert. 50 51

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Rechtsstaats und letztlich der Demokratie56 erhalten bleiben. Für manche pointierte Äußerung ist er kritisiert worden. Sowohl Roman Herzog als auch Helmut Steinberger haben sich in ihren insgesamt beeindruckenden Würdigungen beim Staatsakt am 8.  1. 1988 damit näher auseinander gesetzt.57 Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Kreise der Europäischen Verfassungsgerichte, eigentlich aller Verfassungsgerichte, lag Wolfgang Zeidler besonders am Herzen. Dabei setzte er aber auch auf die Entwicklungsfähigkeit mancher Gerichte in zunächst noch halbautoritären Staaten.58 Die spätere Entwicklung in der Republik Südafrika hätte ihm Recht gegeben.59 Die wahrhaft revolutionären Entwicklungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs durfte er nicht mehr erleben. Das zu Beginn angesprochene Verfassungsrechtsinstitut hätte wertvolle Hilfe leisten können. Die große Bandbreite seines Engagements spiegelt sich auch in der Festschrift wieder, die ihm aus Anlass des Ausscheidens aus dem Amt am 13.11.1987 überreicht wurde und die kurz danach zur Gedächtnisschrift geworden ist.60

56  Ebenso Roman Herzog: „Er war felsenfest davon überzeugt, damit der Demokratie einen Dienst zu tun.“ Bulletin der Bundesregierung 1988, S.  23. 57   Bulletin der Bundesregierung 1988, S.  22 f. und S.  24. 58   Vgl. auch Doo-Huyn Kim, Appointment of Judges in the Republic of Korea – A Formative History of the System, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S.  153. 59   Vgl. auch Hans Hugo Klein, Über mögliche verfassungspolitische Optionen Südafrikas, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, S.  1899. 60   Herausgegeben von Walter Fürst, Roman Herzog, Dieter C. Umbach.

Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen

Das Leben als Werk von

Prof. em. Dr. Yvo Hangartner †, Universität St. Gallen I. Die Anfrage, für das Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart eine Selbstdarstellung zu verfassen, hat mich in Verlegenheit gebracht, nicht nur, weil es schwer fällt über sich selbst zu schreiben, sondern auch, weil mein Leben und meine berufliche Tätigkeit denkbar unspektakulär verlaufen sind. Im Vorwort zur Festschrift, welche die Kollegen des öffentlichen Rechts an der Universität St. Gallen anlässlich meines 65. Geburtstages herausgaben, schrieb der Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrat Arnold Koller, von meinem Werdegang als stetes Hineinwachsen in die grössere Berufung und Aufgabe. Es gab in der Tat weder Sprünge noch Brüche; langweiliger kann eine Biographie nicht sein. In Verlegenheit brachte mich die Anfrage auch deswegen, weil ich nie Aufschriebe über mein Leben und meine berufliche Tätigkeit gemacht habe. Daten nachträglich zu erfassen, sofern sie denn überhaupt interessieren könnten, wäre mühsam und kurzfristig kaum zu bewältigen. So krame ich lieber in den Erinnerungen und beziehe mich mehr auf Lebensabschnitte als auf genaue Jahreszahlen.

II. Geboren wurde ich am 24. Februar 1933. Mein Vater war promovierter Jurist, ging dann aber wegen seiner Leidenschaft für die Politik in den Journalismus. Meine Mutter war Hausfrau. Wir lebten in Gossau, einer, wie man heute sagen würde, Gemeinde in der Agglomeration St. Gallen; vor Jahren aber hatte Gossau noch einen ländlichen Charakter. Zusammen mit meinem älteren Bruder wuchs ich in einem bürgerlichen Milieu auf. Mein Jahrgang und die Jugend in einem politisch interessierten Haushalt brachten es mit sich, dass ich die Zeit des letzten Weltkrieges und vor allem dessen Endphase bewusst miterlebte und bis heute in lebhafter Erinnerung habe. Die Schweiz war vom Krieg verschont, doch wurden die Lebensmittel rationiert, die Gebäude mussten nachts (auf Wunsch des Dritten Reichs) verdunkelt werden, und es gab weitere

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zeitbedingte Einschränkungen. So wurde, als ich die erste und zweite Klasse der Volksschule besuchte, der Unterricht wegen des Kohlemangels stark reduziert; dies hatte zur Folge, dass ich noch lange mit dem kleinen Einmaleins Mühe hatte. Die Kohle kam aus Deutschland und das Dritte Reich sperrte von Zeit zu Zeit die Lieferungen, um von der Schweiz Gegenleistungen zu erzwingen. Diese bestanden vor allem aus Kriegsmaterial. Heute wird viel über die Gründe spekuliert, warum das Reich die Schweiz nicht angegriffen hat. Es gab viele Gründe, aber der Hauptgrund ist wohl der Umstand, aus der von der alliierten Luftwaffe ungestörten Schweiz hochwertiges Kriegsmaterial beziehen zu können. Um das Prinzip der Neutralität zu wahren, bestand die Schweiz darauf, dass im Gegenzug Deutschland einen Luftkorridor nach Grossbritannien duldete, durch den die schweizerische Uhren- und Metallindustrie Präzisionsinstrumente an die Alliierten lieferte. Zu den Kriegserinnerungen gehört, dass im Dorf internierte Soldaten aus allen Teilen des britischen Empire untergebracht waren. Es waren Soldaten, denen die Flucht aus deutscher Kriegsgefangenschaft gelungen war oder die aus Flugzeugen stammten, die in der Schweiz notlanden mussten. Dazu kamen polnische Soldaten, die in Frankreich gekämpft hatten und bei dessen Zusammenbruch in die Schweiz ausgewichen waren; ein Dienstmädchen von uns freundete sich trotz Fraternisierungsverbot der Schweizer Regierung mit einem von ihnen an und heiratete ihn, als das Heiratsverbot für Internierte (das vom Bundesgericht geschützt worden war) nicht mehr in Kraft war. Für die Dorfjugend waren die Internierten natürlich eine Attraktion. Betroffen machten mich ausgemergelte Häftlinge, denen bei Kriegsende die Ausreise in die Schweiz gestattet wurde, und zwar von der SS, im Zuge der verzweifelten Bemühungen, ganz am Schluss noch zu einem Arrangement mit den Westalliierten zu gelangen (der bekannte englische Historiker Ian Kershaw berichtet darüber in seinem dem Zusammenbruch des Dritten Reichs gewidmeten Buch „Das Ende“). Bei Kriegsende wurden auch die schrecklichen Fotografien veröffentlicht, die in den befreiten Konzentrationslagern gemacht wurden. Meine spätere Zuwendung zu den Grundrechten ist durch diese Bilder beeinflusst. Das Gymnasium besuchte ich an der staatlichen Mittelschule (Kantonsschule) in St. Gallen. Weil ich mir alle Möglichkeiten offen halten wollte, wählte ich nicht die Ausbildungsvariante mit Latein und Altgriechisch, sondern die Variante mit Latein, einer modernen Fremdsprache (zusätzlich zu dem für alle obligatorischen Französisch) und stärkerer Gewichtung der Naturwissenschaften. In den Augen meines Vaters, der noch in späteren Jahren lateinische Gedichte verfasste, war diese Ausbildung weder Fisch noch Vogel; ich habe die Wahl aber nie bereut.

III. Nach dem Abitur (in der Schweiz Matura genannt) wusste ich immer noch nicht, welchen Beruf ich anstreben sollte. Es war daher gegeben, auch aus finanziellen Gründen in den damals noch recht bescheidenen Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit, die nahegelegene Handels-Hochschule St. Gallen zu besuchen. Dort wählte ich aber nicht eine betriebs- oder volkswirtschaftliche Ausbildung, sondern den verwaltungswissenschaftlichen Lehrgang. Er war noch vor dem Krieg von Hans

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Nawiasky begründet worden, der sein Münchner Ordinariat hatte aufgeben müssen und Zuflucht in der Schweiz fand. Der Lehrgang trug seine Handschrift, mit sehr viel öffentlichem Recht, aber auch anderen Rechtsfächern sowie ökonomischen und sprachlichen Lehrveranstaltungen. Dass dem österreichisch-deutschen Emigranten Nawiasky in der damals bewegten Zeit bald eine Professur für schweizerisches Staatsrecht und die Betreuung eines von ihm gestalteten Lehrgangs anvertraut wurde, zeugt für die Wertschätzung, die er an der Hochschule und bei den Behörden des Kantons St. Gallen erfahren hat. Als Student war ich von Professor Nawiasky beeindruckt und beeinflusst. Ihm verdanke ich meine Liebe zum Staats- und Verwaltungsrecht und eine lebenslange Beschäftigung auch mit dem deutschen öffentlichen Recht. Die Handels-Hochschule St. Gallen war zur Zeit meines im Wintersemester 1952/53 begonnenen Studiums eine Institution von bescheidenem Ausmass, nicht zu vergleichen mit dem Apparat, zu dem sie als Universität St. Gallen geworden ist. Die Juristische Abteilung, die für die Ausbildung in Rechtsfächern in den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrgängen und für den verwaltungswissenschaftlichen Lehrgang verantwortlich war, besass nur einen einzigen Assistenten. Die Stelle wurde mir angeboten. Ich stand nicht nur Professoren des öffentlichen Rechts, sondern auch Professoren des Zivilrechts zur Verfügung. Nawiasky verlangte von mir nur, dass ich an seinen Doktorandenseminaren teilnahm und dafür sorgte, dass die Studenten akzeptable Protokolle erstellten. Beansprucht wurde ich vor allem von Wolf hart Bürgi, einem Aktienrechtler, der auch als Rektor amtierte. Beinahe hätte ich mich in das Privatrecht verirrt, denn ich musste oder durfte Professor Bürgi in Lehrveranstaltungen vertreten (z. B. in einer Vorlesung über Wettbewerbsrecht, als die Schweiz noch gar kein Kartellgesetz besass); ich verfasste auch gleich meinen ersten (allerdings nie veröffentlichten) wissenschaftlichen Aufsatz (über das Stimmrecht des Vorsitzenden des Verwaltungsrates einer Aktiengesellschaft). Bürgi, aus altem Berner Geschlecht stammend und vermöglich, war seiner Art nach ein eher distanzierter Grandseigneur, der aber irgendwie Zutrauen zu seinem jungen Assistenten gefasst hatte und mir manchmal anvertraute, was ihn ärgerte; am meisten war es der Umstand, dass die Leiterin der Hochschulbibliothek, ein älteres Fräulein (wie man sich damals ausdrückte), noch vor Beginn des deutschen Wirtschaftswunders unter Kanzler Erhard eine Menge von Aktien renommierter deutscher Gesellschaften zu Billigpreisen erworben hatte, während er, der Wirtschaftsjurist Bürgi, die günstige Kaufgelegenheit verpasste. Das bescheidene Fräulein von der Bibliothek hatte mehr Vertrauen in deutschen Leistungswillen und deutsche Leistungskraft als der kluge Professor! Die Dissertation verfasste ich bei Willi Geiger, der später in die Regierung des Kantons St. Gallen wechselte, und Hans Nawiasky. Die Arbeit galt dem Thema „Widerruf und Änderung von Verwaltungsakten aus nachträglich eingetretenen Gründen. Ein Beitrag zum allgemeinen Teil des schweizerischen und deutschen Verwaltungsrechts“. Die Normen des allgemeinen Verwaltungsrechts, auch des Verwaltungsverfahrensrechts, waren damals nur bruchstückhaft kodifiziert; man schöpfte in Theorie und Praxis aus dem (massgeblich von Frankreich beeinflussten) gemeindeutschen Verwaltungsrecht. Für die Schweiz wurde es in moderner Form vor allem durch Fritz Fleiners „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“ vermittelt. In

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meiner Arbeit vertrat ich die These, dass in der Beurteilung des Widerrufs von Verwaltungsakten auf eine Abwägung öffentlicher und privater Interessen abzustellen sei. Diese Auffassung war für die schweizerischen Verhältnisse nicht neu, hingegen sehr wohl in Deutschland, wo damals vom Grundsatz der Widerruflichkeit von Verwaltungsakten ausgegangen wurde. Seither wurde auch in Deutschland relativiert. Meine Dissertation kam gerade im richtigen Zeitpunkt, um auch in Deutschland zitiert zu werden, eine Wirkung, die öffentlich-rechtlichen Abhandlungen aus anderen europäischen Staaten eher selten beschieden war.

IV. Nach der Promotion 1959 als Doktor der Verwaltungswissenschaften schlug mir der damalige Rektor der Handels-Hochschule St. Gallen, der auch in Deutschland bekannte Volkswirtschafter Walter Adolf Jöhr, die Anstellung als Rektoratssekretär (d. h. Verwaltungsdirektor) an der (rechtlich selbstständigen, mit grosser Autonomie ausgestatteten) Hochschule vor. Ich schlug die Offerte aus, weil ich bereits eine Stelle als juristischer Mitarbeiter der Gebäudeversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen gefunden hatte (die meisten Kantone besitzen eine solche, in der Regel mit Monopol ausgestattete Anstalt; die Regelungen gehen zurück auf die staatliche Gebäudeversicherung im ehemals österreichischen Fricktal; als dieses aufgrund des Wiener Kongresses 1815 der Eidgenossenschaft bzw. dem Aargau zugeschlagen wurde, wollte der Kanton auf die Einrichtung nicht verzichten und dehnte sie kurzerhand auf sein ganzes Gebiet aus; die meisten anderen Kantone folgten dem Beispiel). Rektor Jöhr konnte nicht verstehen, dass ich die in seinen Augen und auch objektiv viel weniger attraktive Stelle bei der Gebäudeversicherungsanstalt der Leitung der Hochschulverwaltung vorzog. Mein Entscheid für die Beamtenstelle beim Staat erwies sich jedoch als glücklich. Ich wurde in der Schlussphase eines neuen Gesetzes über die Gebäudeversicherung eingesetzt, namentlich für die Ausarbeitung von Vollzugserlassen. Dies lenkte die Aufmerksamkeit des damaligen Leiters der Staatskanzlei des Kantons St. Gallen, Staatsschreiber Hans Stadler, auf mich, der mir den Rechtsdienst bei der Staatskanzlei anbot. So verliess ich denn die Gebäudeversicherungsanstalt 1960 nach erst zehn Monaten, obwohl ich dort bereits begonnen hatte, zum Versicherungsrecht zu publizieren. Auf der Staatskanzlei, wo mir bald nicht nur die Funktion, sondern auch der Titel eines Stellvertreters des Staatsschreibers (heute: Vizestaatssekretärs) zugesprochen wurde, besorgte ich einerseits den Rechtsdienst und war anderseits als Sekretär des Grossen Rates des Kantons St. Gallen (d. h. des Kantonsparlaments) tätig. Als Stellvertreter von Staatsschreiber Stadler vertrat ich ihn häufig an Sitzungen der aus sieben gleichberechtigten Mitgliedern bestehenden st. gallischen Kantonsregierung (der Landamann bzw. heute Regierungspräsident leitet lediglich die Sitzungen). Dort erhielt ich Einblicke nicht nur in die Vielfalt der Geschäfte, sondern auch in die Gruppendynamik einer Kollegialregierung (ohne Vorgaben eines Ministerpräsidenten) und deren Agieren gegenüber dem Parlament, der Öffentlichkeit, anderen Kantonen und dem Bund.

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Als Parlamentssekretär hatte ich von Fall zu Fall Dienstleistungen für parlamentarische Kommissionen zu erbringen. Vor allem war ich mit einem Kollegen für das Verhandlungsprotokoll des Plenums verantwortlich. Es wurde damals nicht als Wortprotokoll geführt (es wurde nichts auf Band aufgenommen), sondern hatte gemäss Geschäftsreglement lediglich, aber immerhin den „wesentlichen Inhalt“ der Voten (und natürlich die Beschlüsse) zu vermerken. Dabei gab ich die Ausführungen der Parlamentarier und der Mitglieder der Regierung ohne die in den Voten vielfach vorkommenden Wiederholungen und Abschweifungen wieder und arrangierte die Ausführungen zum Teil neu. Es gab nie eine Reklamation; die Parlamentarier versicherten mir im Gegenteil, ihre Erklärungen kämen in meiner Protokollierung viel besser zur Geltung als in der Wirklichkeit. Die Protokollniederschrift wurde übrigens vor dem Druck weder den Parlamentariern noch den Mitgliedern der Regierung zur Durchsicht gezeigt. Einmal wollte der Staatsschreiber in einem besonders heiklen Geschäft die nach „wesentlichem Inhalt“ protokollierten Erklärungen des zuständigen Departementsvorstehers (d. h. Regierungsmitglieds) diesem im Entwurf zeigen; weil das betreffende Regierungsmitglied von dominanter Natur war und vermutlich noch dies und jenes gestrichen oder ergänzt hätte, hielt ich den Staatsschreiber jedoch davon ab, das Risiko einer Protokollverfälschung als Folge der Einsichtgabe einzugehen. Schliesslich galt es auch, den guten Ruf der Staatskanzlei zu wahren. Als ich 1970 den Staatsdienst verliess, übergab mir das Kantonsparlament, ganz unüblich, zur Erinnerung und als Dank einen alten Stich mit einem Bild der Stadt St. Gallen. Auf der Staatskanzlei besorgte ich den Rechtsdienst zunächst allein, später mit Assistenten. Die Hauptarbeit galt dem Gesetzgebungsdienst (mit Einschluss der Veröffentlichung der kantonalen Erlasse in der Gesetzessammlung). Die Regierung (sie hiess damals noch, wie in den Kantonen üblich, Regierungsrat) hatte angeordnet, dass alle Entwürfe zu Gesetzen (samt dazugehörenden Erläuterungen zuhanden des Parlaments, den sog. Botschaften) und zu Verordnungen zunächst der Staatskanzlei zur formalen und rechtlichen Überprüfung vorzulegen seien. In der Regel überarbeitete ich jeden Entwurf vollständig, oft auch im Auf bau (man kann den Stilwandel in der Gesetzessammlung des Kantons St. Gallen nachlesen). Das gute Einvernehmen mit den zuständigen Departementen (wie Ministerien in der Schweiz heissen) und Ämtern war kaum je ein Problem, weil die Amtsvorsteher mit den Entwürfen, die, wenn überhaupt, nur in den politisch relevanten Punkten mit dem Departementsvorsteher abgesprochen waren, zunächst zu mir kamen. Nachher unterbreiteten die Amtsvorsteher den im gegenseitigen Einvernehmen bereinigten Entwurf ihrem Departementsvorsteher, der bei diesem Verfahren in der Regierung kaum mehr mit rechtlicher oder gar formaler Kritik zu rechnen hatte. Das war auch im Interesse der Amtsvorsteher, was natürlich für die Zusammenarbeit mit der (in der Regierung mitsprache- und antragsberechtigten) Staatskanzlei nur förderlich war. Auf diese Weise habe ich im Zusammenwirken mit den zuständigen Ämtern während meiner zehn Jahre auf der Staatskanzlei Aberdutzende von rechtsetzenden Erlassen bearbeitet. Auch die Redaktion von rechtsetzenden interkantonalen Verträgen gehörte dazu. Daneben wurde mir auf der Staatskanzlei die Abklärung von allgemeinen, nicht departementsspezifischen Fragen des öffentlichen Rechts anvertraut, also namentlich grundsätzliche Fragen der Kompetenzverteilung von Bund und Kanto-

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nen (woraus ich das Anschauungsmaterial zu meiner späteren Habilitationsschrift zu diesem Thema schöpfte) und von Fragen des Verhältnisses von Regierung und Parlament. In diesem Zusammenhang entwarf ich u. a. die umfangreiche regierungsrätliche Vernehmlassung (so heissen in der Schweiz die politischen Stellungnahmen) zum Fragenkatalog der vom Bundesrat eingesetzten Kommission Wahlen zur Totalrevision der Bundesverfassung. Ferner verfasste ich im Auftrag der Regierung eine einlässliche Vorstudie zur Totalrevision der Verfassung des Kantons St. Gallen. Regelmässig wurde ich auch für die Beurteilung besonders gelagerter Probleme der Rechtsanwendung, namentlich von Rekursentscheiden der Regierung (im Rahmen der für die Schweiz charakteristischen verwaltungsinternen Verwaltungsrechtspflege) beigezogen. Weil alle Schriftstücke, die den Mitgliedern der Regierung ausgeteilt wurden, automatisch auch auf meinem Pult landeten, hatte ich nach dem Ausscheiden aus der Staatskanzlei, als dieser Aktenfluss auf hörte, zunächst geradezu eine Art von Entzugserscheinung. Vielleicht merkt man sie selbst diesen Zeilen noch an.

V. In die Zeit der Tätigkeit bei der Staatskanzlei des Kantons St. Gallen fiel der Auftrag des für die Justiz zuständigen Mitglieds der Regierung, Gottfried Hoby, ein Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege zu entwerfen. Das Gesetz sollte einerseits das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren und die verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren regeln und anderseits eine umfassende Verwaltungsgerichtsbarkeit einführen. Vorher gab es im Kanton nur in Teilbereichen unabhängigen Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung, ausgeübt in der Regel durch einzelnen Departementen administrativ zugeordnete, in der Rechtsprechung aber weisungsfreie sogenannte Rekurskommissionen. Vor seinem Eintritt in die Regierung hatte Gottfried Hoby, damals Rechtsanwalt, als einflussreiches Mitglied des Kantonsparlaments einen verbindlichen Auftrag des Grossen Rates an die Regierung zur Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchgebracht. Es zeugte von grossem Vertrauen, mir als erst dreissigjährigen Beamten die Aufgabe anzuvertrauen, einen entsprechenden Gesetzesentwurf (samt Erläuterungen der Regierung) zu verfassen, zumal das Postulat der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Regierung teilweise auf Skepsis und sogar heftige Ablehnung stiess. Mein Entwurf wurde vom Justizminister praktisch unverändert übernommen, nachdem von ihm konsultierte Fachleute, darunter der angesehene Staats- und Verwaltungsrechtler Max Imboden, ihn für gut befunden hatten. Von der Regierung, an deren Sitzungen in dieser Sache ich entgegen den üblichen Bräuchen als Sachbearbeiter teilnehmen konnte, wurde der Entwurf dann allerdings in einzelnen Bestimmungen zurückgestutzt, wobei der Justizminister, neben dem ich sass, mir jeweils zuflüsterte, ich solle nichts sagen, weil die vorberatende Kommission des Parlaments die Verschlimmbesserungen der Regierung schon zurechtrücken werde. Dies geschah auch. Nicht erreichen konnte ich die verwaltungsgerichtliche Generalklausel. Das Gesetz ist bis heute in Kraft. In der in Aussicht genommenen, zufolge von neuem Bundesrecht notwendigen Überholung des Gesetzes wird vielleicht die Gelegenheit benützt, die Generalklausel doch noch einzuführen (zumal der neue Art.  29a BV sie nahelegt).

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In der Neuordnung der st. gallischen Verwaltungsrechtspflege und der damit verbundenen Einführung einer ausgebauten Verwaltungsgerichtsbarkeit hatte ich freie Hand. Ich hatte mich lediglich in den Grundzügen mit dem Justizminister abzustimmen. Zu den von ihm gutgeheissenen und im Gesetzgebungsprozess verwirklichten Vorschlägen gehören zwei wichtige Weichenstellungen, nämlich die Neuordnung der Beschwerdebefugnis in der Verwaltungsrechtspflege sowie die Einführung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Beschwerdebefugnis bei der Anfechtung von Verfügungen und verwaltungsinternen Entscheiden (in der Schweiz wird in diesem Zusammenhang von Beschwerde und nicht von Klage gesprochen) richtete sich bis anhin nach der deutschen Juristen vertrauten Schutznormtheorie; es musste also stets abgeklärt werden, ob die Norm, auf die sich der Beschwerdeführer berief, ein ihm zustehendes subjektives Recht einräumte oder ob es sich bloss um eine objektivrechtliche Regelung ausschliesslich im öffentlichen Interesse handelte. Als erster Kanton führte Bern auf Anregung des an seiner Universität lehrenden Staatsund Verwaltungsrechtlers Fritz Gygi die Regelung ein, dass jede Person, die ein schutzwürdiges (rechtliches oder faktisches) Interesse an der Auf hebung oder Änderung einer Verfügung hat, gegen sie Beschwerde (Rekurs) erheben kann. Ich hatte die Kühnheit, die Übernahme dieser Regelung vorzuschlagen, so dass der Kanton St. Gallen mit seinem Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom Jahre 1965 der zweite Kanton war, der diese Neuerung einführte. Seither ist sie von den meisten Kantonen und auch vom Bund übernommen worden. Die zweite grundlegende Neuerung in der st. gallischen Verwaltungsrechtspflege, für die ich die Urheberschaft beanspruchen darf, war wie erwähnt die Einführung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Fälle in Bereichen, in denen massenhaft Beschwerden eingingen und die zum Teil bereits speziellen Rekurskommissionen (Spezialverwaltungsgerichten) zugewiesen waren, sollten zunächst von zwei Verwaltungsgerichten erster Instanz, nämlich einem Gericht für die Sozialversicherungsfälle und einem Gericht für die übrigen Fälle, erledigt werden. Die Überlegung war, die zu enge fachliche Ausrichtung der bisherigen Rekurskommissionen zu überwinden und die Rechtsprechung auf breiterer organisatorischer und personeller Basis zu professionalisieren. Der eigentlich verbindliche Auftrag des Parlaments an die Regierung hatte dazu lediglich ein einziges Verwaltungsgericht vorgesehen. Ich setzte mich in der Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs über diese Vorgabe hinweg mit der Begründung, dass das Verwaltungsgericht von den zu vielen Fällen überschwemmt würde und damit die ihm ebenfalls zugedachte Aufgabe, für eine vertiefte Behandlung und Fortbildung des st. gallischen Verwaltungsrechts zu sorgen, nicht befriedigend erfüllen könnte. Obwohl der Justizminister seinerzeit die von mir verworfene Konstruktion eines einzigen Verwaltungsgerichts selbst formuliert hatte, stimmte er meiner Lösung einer (partiell) zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit sofort zu. Man kann sich vorstellen, dass diese Konzeption bei einzelnen Departementen nicht gerade eitel Freude auslöste, denn die Rekurskommissionen waren zwar in ihrer Rechtsprechung unabhängig, aber den zuständigen Departementen angegliedert; diese bereiteten vor allem auch die Wahlen in die Rekurskommissionen vor. Die Kritiker konnten sich aber in der Regierung nicht durchsetzen, und für das Parlament war die alte Ordnung kein Thema mehr. Anlässlich der Vorbereitung der Reform 1978 der Justiz im Bund bezeichnete der Bundesrat in seiner Botschaft an das Parlament die St. Galler Lösung

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als „interessant“; doch war der Widerstand der Bundesdepartemente, die ebenfalls ihre Rekurskommissionen betreuten, damals noch zu gross. Erst 2005 wurde im Bund eine der St. Galler Lösung analoge Reform verwirklicht, als die Rekurskommissionen des Bundes (eine davon hatte ich präsidiert) im neugeschaffenen und heute in St. Gallen angesiedelten Bundesverwaltungsgericht aufgingen (zweite Instanz ist wie gewohnt das Bundesgericht).

VI. Seit dem Wintersemester 1962/63, also noch während meiner Tätigkeit auf der Staatskanzlei des Kantons St. Gallen, erhielt ich von der Handels-Hochschule St. Gallen (später Hochschule St. Gallen für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften und noch etwas später Universität St. Gallen) regelmässig und in zunehmendem Ausmass Lehraufträge im öffentlichen Recht. Um eine Habilitationsschrift auszuarbeiten, fehlte jedoch die Zeit, und eine Freistellung war angesichts der kleinen Verhältnisse auf der Staatskanzlei nicht möglich. Ich wagte daher 1970 den Sprung ins Wasser, kündigte meine schöne Stelle beim Staat und übernahm die mir von Willi Geiger, dem Nachfolger von Hans Nawiasky und neuem Rektor, angebotene neu geschaffene Stelle eines vollamtlichen Dozenten der Juristischen Abteilung der Hochschule St. Gallen, in Kombination mit der Funktion eines Stellvertreters von Willi Geiger in der Leitung des von Hans Nawiasky begründeten Schweizerischen Instituts für Verwaltungskurse an der Hochschule St. Gallen (heute: Institut für Rechtswissenschaften und Rechtspraxis an der Universität St. Gallen). Der Wechsel war zunächst prestigemässig und finanziell ein Abstieg; es waren mir auch keine Karrierezusicherungen gemacht worden. Doch konnte ich mich in neue Lehrveranstaltungen einarbeiten, und vor allem wurde die Fertigstellung der Habilitationsschrift über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen möglich. Auswärtiger Gutachter war der renommierte Berner Staatsrechtslehrer Hans Huber (der über den Kompetenzkonflikt zwischen Bund und Kantonen dissertiert hatte). Die Habilitation führte zur Ernennung zum Privatdozenten auf den 1. Oktober 1972 und, einige Wochen später und auf den gleichen Zeitpunkt, zur Berufung als ausserordentlicher Professor sowie, 1974, als Ordinarius für öffentliches Recht an der Hochschule St. Gallen. Ebenfalls 1974 wurde mir in Nachfolge des in die Kantonsregierung wechselnden Willi Geiger die Leitung des Instituts für Verwaltungskurse anvertraut. In diesen Hochschulämtern verblieb ich bis zu meiner Emeritierung im Jahre 1996. Anfragen, ob ich an die Universität Bern oder in das Bundesgericht wechseln möchte, konnte oder wollte ich nicht entsprechen. Die Universität St. Gallen besitzt, wie erwähnt, ein hohes Mass von Autonomie. Dementsprechend ist die Selbstverwaltung ausgebaut. Von den Professoren, gerade auch von den Mitgliedern der Juristischen Abteilung, wird aktive Mitwirkung erwartet. Weil ich von meiner früheren Tätigkeit auf der Staatskanzlei mit dem st. gallischen Recht und den hiesigen Verhältnissen vertraut war, wuchs ich zwanglos in die Rolle eines Rechtsberaters der massgeblichen Hochschulorgane (Universitätsrat als Vertretung des Staates, Rektor und Verwaltungsdirektor). Anlässlich der Emeritierung schrieb der Rektor in einer Würdigung, ich sei das „juristische Gewissen“

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der Universität gewesen. Ich bekleidete auch verschiedene Hochschulämter, unter anderem turnusgemäss während einer Amtsdauer das Amt eines Vorstandes (Dekans) der Juristischen Abteilung. In jene Zeit fällt die Umwandlung des früheren wirtschaftsjuristischen Lehrgangs in einen volljuristischen Lehrgang. Die Neuerung gab viel zu tun, auch wenn der Vorgänger im Amt des Vorstandes, der Steuerrechtler Ernst Höhn, bereits einen erheblichen Teil der Arbeit geleistet hatte. Unter anderem hatte ich, zusammen mit dem Privatrechtler Mario Pedrazzini, den neuen Lehrgang vor der Interfakultätenkonferenz zu vertreten, d. h. vor der für die gegenseitige Anerkennung von Studiensemestern, Prüfungen und Abschlüssen in den Rechtswissenschaften zuständigen Kommission der schweizerischen Universitäten. Wegen der starken Ausrichtung unseres Lehrgangs auf wirtschaftsrelevante Fächer stiess die Neuerung vor allem bei zwei Mitgliedern der Kommission, einem Rechtsphilosophen und einem Kirchenrechtler, auf grosse Skepsis. Wir erhielten aber Unterstützung von den Westschweizern, die ihre Studiengänge immer in grosser Freiheit gestaltet hatten und überraschend auch von den beiden Studentenvertretern in der Kommission (damals war es üblich geworden, Studentenvertreter in alle Gremien aufzunehmen). Als bekennende Marxisten erklärten diese, ohne vertiefte Kenntnisse der Wirtschaft und des Wirtschaftsrechts könne man nicht sinnvoll Recht studieren. Dagegen half auch der Einwand des Rechtsphilosophen nicht, Karl Marx habe klassische Jurisprudenz studiert und gerade dieses Studium habe ihn zu seinen epochemachenden Schriften befähigt. Von der andernorts heftig verlaufenden Unrast der 68er-Bewegung spürte man an der Universität St. Gallen nicht viel; Höhe- oder Tiefpunkt war lediglich eine Rektoratsbesetzung, wobei jedoch nichts angetastet wurde. Als jüngerer Dozent hatte ich ohnehin keine Probleme; die Kritiker schossen sich vor allem auf einen älteren Kollegen ein, der in den Dreissigerjahren als Student in Berlin in einer Zeitung etwas allzu wohlwollend über die Entwicklung in Deutschland berichtet hatte. Ein Hauptgrund für die ruhigen Verhältnisse in St. Gallen war das kluge Verhalten des damaligen Rektors Hans Siegwart; er pflegte den (etwas hemdsärmelig durchgeführten, mit gemeinsamem Biertrinken verbundenen) Dialog mit Vertretern der Studentenschaft lange bevor dieser durch Einsitznahme von Studenten in Hochschulgremien institutionalisiert (und bürokratisiert) wurde. Auch stellte er für Diskussionen und Protestversammlungen Hörsäle zur Verfügung, mit der Auflage, sie in sauberem Zustand zu hinterlassen (was bewirkte, dass am Schluss stets geputzt wurde). Die Studenten erhielten damit auch einen Anschauungsunterricht in schweizerischer Politik, die darauf angelegt ist, jede relevante Opposition durch Einbindung zu mässigen. An der Universität war die Hauptsache, dass die Studenten sich ernst genommen fühlten. Rektor Siegwart liess auch zu, dass vor Beginn eines Anlasses, an dem der als Law and Order-Mann bekannte Justiz- und Polizeiminister Kurt Furgler teilnahm, einige linksextreme Studenten den Minister, als er und andere Gäste zum Hauptportal der Universität schritten, symbolisch, als Puppe, hängten; der Verzicht auf die gewaltsame Entfernung der Puppe liess die Demonstration als eher billigen Studentenulk erscheinen und die Akteure, die sich noch so gern über Unterdrückung der freien Meinungsäusserung und Polizeiterror beklagt hätten, ins Leere laufen.

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VII. In der Schweiz mit ihren teilweise immer noch recht kleinen Verhältnissen in den öffentlichen Verwaltungen wird von den Professoren des öffentlichen Rechts erwartet, dass sie sich auch ausserhalb der Universität zu staatsrechtlichen Fragen äussern und sich den Gemeinwesen aller Stufen als Experten zur Verfügung stellen. Das kann zu einer übergrossen Nähe zur Exekutive führen. Gerade jüngere Dozenten ohne praktische Erfahrung gewinnen dabei allerdings einen Anschauungsunterricht, zu dem sie sonst nie gelangen würden. Dies auch deshalb, weil die überall praktizierte Beteiligung von Angehörigen aller grossen Parteien an der Regierung und anderen Kollegialorganen der Exekutive sowie die in kleinen Verhältnissen übliche menschliche Rücksichtnahme in den politischen Auseinandersetzungen zu einer gewissen Abschottung führen; oft fehlt auch trotz direkter Demokratie mit ihren regelmässigen Volksabtimmungen das Wissen, um fundierte Kritik üben zu können. Wo diese Voraussetzungen gegeben sind, wie teilweise bei Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, sind die Äusserungen interessengesteuert und mit Rücksicht auf das Allparteiensystem stark taktisch bedingt. Die Mitwirkung von Professoren am öffentlichen Diskurs über Angelegenheiten des Staates ist daher unumgänglich. In diesem Sinn habe ich mich immer wieder als Experte zur Verfügung gestellt und auch in der Tagespresse publiziert. Im Vorwort zur eingangs erwähnten Festschrift aus Anlass meines 65. Geburtstages wurde von einem Leben im Dienst an der Gemeinschaft gesprochen. Es würde zu weit führen, hier alle diese Ämter und Tätigkeiten aufzuzählen, von der Mitwirkung an der neuen Gemeindeordnung meiner Wohnsitzgemeinde (anlässlich der Ablösung der Versammlung der Stimmberechtigten durch ein Gemeindeparlament) bis zur Vertretung der Schweiz beim Internationalen Institut für Verwaltungswissenschaften in Brüssel (mit Konferenzen und Tagungen inner- und ausserhalb Europas). Lediglich drei, vier Tätigkeitsfelder seien, mit Hinweisen von allgemeinerem Interesse, nachfolgend näher geschildert. Bald nach dem Übertritt an die Hochschule St. Gallen wurde ich gebeten, den Entwurf für eine neue Verfassung des römisch-katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen auszuarbeiten. Der Konfessionsteil ist die staatsrechtliche Organisation der Katholiken im Kanton; sie dient dem Bistum St. Gallen administrativ-finanziell zu. Die Thematik war attraktiv, denn es galt eine mehrfache Rechtsverflechtung zu berücksichtigen: Religionsfreiheit (der einzelnen Katholiken und der Kirche als Institution), staatliches Recht, Recht der autonomen Körperschaft Konfessionsteil und Kirchenrecht. Weil die Erträge der Kirchensteuer nicht dem Bistum, sondern dem Konfessionsteil zufliessen (während der Tätigkeit auf der Staatskanzlei hatte ich anlässlich der Totalrevision des kantonalen Steuergesetzes in Ergänzung zur bereits bestehenden Kirchensteuer der Kirchgemeinden mit Erfolg eine besondere Steuer der Konfessionsteile angeregt), war ein Hauptproblem die aufgabengemässe Abstimmung des Wirkens von Konfessionsteil und Bistum in finanzrelevanten Fragen. Die Thematik beschäftigt mich erneut seit der Emeritierung, als beigezogener Experte und in Veröffentlichungen. Als eine andere Tätigkeit sei die Mitwirkung in der Kommission des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten für die Zulassung zum diplomatischen und konsularischen Dienst erwähnt. Interessant war in diesem Zusam-

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menhang unter anderem die Begutachtung der teilweise umfangreichen Abhandlungen, welche die Kandidaten während ihrer zweijährigen Probezeit (Stage) auf einer schweizerischen Botschaft oder in der Zentrale in Bern verfassten. Sie vermittelten Einblicke aus erster Hand in auswärtige Angelegenheiten. So erinnere ich mich etwa an eine Arbeit über das damals bestehende Komitee der UNO zur Überwachung der Sanktionen gegen das von Weissen beherrschte Süd-Rhodesien (heute Simbabwe). Der Stagiaire berichtete, wie die Schweiz auf Vorwürfe, das Embargo verletzt zu haben, mit akribischer Auslegung der Beschlüsse des Sicherheitsrates reagierte und damit den Unwillen der Vertreter schwarzafrikanischer Staaten erregte, denen mehr an einer lautstarken Verurteilung des Apartheid-Systems als an Einzelheiten des (von ihnen selbst unterlaufenen) Embargos gelegen war. Aufschlussreich war auch die Tätigkeit am Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein. Das Fürstentum zieht für seine Justiz stets österreichische und schweizerische Juristen bei; das Privat- und das Strafrecht sind nach Österreich orientiert, während das öffentliche Recht von schweizerischen Vorstellungen und Regelungen geprägt ist (abgesehen natürlich von der Konstruktion einer konstitutionellen Monarchie ursprünglichen Zuschnitts mit der doppelten Souveränität von Fürst und Volk). Ich war zwar nur Ersatzrichter, kam aber laufend zum Zug, weil der ordentliche schweizerische Richter meist verhindert war. Der Staatsgerichtshof entspricht den Vorstellungen von Hans Kelsen; Liechtenstein ist Welten entfernt von der eingeschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit der Schweiz. Faszinierend war auch zu sehen, dass ein so kleiner Staat wie Liechtenstein in weitem Umfang mit grundsätzlich den gleichen Problemen konfrontiert ist wie ein grösserer Staat, so wie die kleinsten schweizerischen Kantone mit ihren grossen Kompetenzen und der eigenen Steuerhoheit (dem Kernstück des Föderalismus, wie mein Lehrer Nawiasky stets betonte) einen eigenen staatsrechtlichen Kosmos bilden. Zu erwähnen ist schliesslich die Mitwirkung an der Vorbereitung der neuen Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die von der Bundesversammlung am 18. Dezember 1998 beschlossen und in der Volksabstimmung vom 18. April 1999 von Volk und Ständen, d. h. von der Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Stimmberechtigten insgesamt und von der Mehrheit der Kantone (berechnet nach den Abstimmungsergebnissen in den Kantonen) gutgeheissen wurde. Der Entwurf der neuen Bundesverfassung wurde vom Bundesamt für Justiz betreut. Ihm vorausgegangen waren langwierige Vorarbeiten; die Antwort der st. gallischen Kantonsregierung auf den Fragenkatalog zur Verfassungsrevision der sog. Kommission Wahlen (benannt nach deren Präsidenten, alt Bundesrat Wahlen) hatte ich, wie erwähnt, noch während meiner Tätigkeit auf der Staatskanzlei redigiert. Der Entwurf einer von Bundesrat Kurt Furgler präsidierten Expertenkommission scheiterte wegen zu weit ausgreifender Vorschläge. Die Politik entschloss sich vielmehr, das vom Staatsrechtslehrer Kurt Eichenberger zur Diskussion gestellte Konzept einer Nachführung, d. h. einer sprachlichen Bereinigung und inhaltlichen Verdichtung, aufzunehmen. Der neue Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrat Arnold Koller, ergänzte dieses Vorgehen durch Aufnahme sanfter Neuerungen sowie durch das Konzept, weitergehende Reformen von Teilbereichen der Bundesverfassung in anschliessenden besonderen Revisionen zu verwirklichen. Dieser Ansatz erwies sich als politisch glücklich.

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Das Reformwerk (mit Einschluss der mit der Totalrevision gleichzeitig auf die Traktandenliste gesetzten Reformen der verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Justiz und über die Volksrechte) wurde von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet. Ihm gehörten die Professoren Nicolas Michel, Georg Müller, Béatrice Weber-Dürler, Luzius Wildhaber und ich als Vorsitzender an. In dieser Eigenschaft war ich auch Mitglied des Leitungsausschusses des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements für die Vorbereitung der Totalrevision der Bundesverfassung. Der Leitungsausschuss wurde vom Departementsvorsteher, Bundesrat Arnold Koller, präsidiert; ihm gehörten neben Vertretern der Verwaltung auch die Professoren JeanFrançois Aubert (als Präsident der Spezialkommission für die Reform der Volksrechte) und Alfred Kölz (als Präsident der Spezialkommission für die Reform der Justiz) an. Der wissenschaftliche Beirat hat die Ausarbeitung der neuen Bundesverfassung (mit Einschluss der Vorlagen über die Reform der Volksrechte und der Justiz) intensiv begleitet. Die grosse Leistung von Bundesrat Koller war, die Verfassungserneuerung durch den politischen Prozess zu steuern, ohne durch allzu weitgehende Neuerungen das Scheitern des Projekts zu provozieren. Seine Position war insofern heikel, als vor allem die Mitglieder der liberalen Parteien im Parlament die Ablösung der von ihren politischen Vorfahren geprägten Bundesverfassung von 1874 durch eine unter der Führung eines Christdemokraten, d. h. eines Nachfolgers der Gegner von einst, gesteuerten Totalrevision mit Argusaugen verfolgten. Im Ergebnis fand die neue Bundesverfassung, die fruchtlosen ideologischen Auseinandersetzungen über die Verfassungserneuerung ein Ende setzte, breite Zustimmung; sie hat sich seither auch in der Praxis bewährt. Die Aufgabe des wissenschaftlichen Beirats bestand darin, den Entwurf der neuen Bundesverfassung im Licht der staatsrechtlichen Dogmatik zu überprüfen, darauf zu achten, dass die politische Leitlinie, Nachführung verbunden mit sanften Neuerungen, eingehalten wurde, und schliesslich auch, die durchwegs neu redigierten Bestimmungen sprachlich zu beurteilen. Im Leitungsausschuss unter der direkten Mitwirkung des zuständigen Mitglieds der Bundesregierung konnten unter Wahrung der Leitidee etwas weitergehende Vorschläge unterbreitet werden; dazu gehören Bestimmungen wie, dass die Behörden dafür sorgen, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden (Art.  35 Abs.  3 BV), die Aufnahme von Sozialzielen (Art.  34 BV) und die ausdrückliche Verankerung des Rechts auf Streik und Aussperrung (Art.  28 Abs.  3 und 4 BV). Die Art und Weise der verfassungsrechtlichen Regelung des Streikrechts erlaubt, Vorgaben der EMRK hinsichtlich der grundsätzlichen Zulässigkeit des Beamtenstreiks gerecht zu werden. Die Mitberücksichtigung des internationalen Rechts gehört zu den Charakteristika der neuen schweizerischen Bundesverfassung. Hingegen fehlt (selbstverständlich, möchte man sagen) ein Bekenntnis zur europäischen Einigung. Das Thema wird in der Schweiz nach wie vor kontrovers behandelt; eine Hinwendung zur Europäischen Union hätte dem Konzept der neuen Bundesverfassung widersprochen und diese in der Volksabstimmung vermutlich scheitern lassen.

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VIII. Wer nicht regelmässig publiziert, ist kein guter Professor. Trotz der vielen Expertentätigkeit habe ich mich stets bemüht, staats- und verwaltungsrechtliche Fragen aus einem breiten Themenspektrum zu behandeln.  1978/80 veröffentlichte ich meine zweibändigen „Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts“, die erste schweizerische Gesamtdarstellung der Thematik in deutscher Sprache seit Jahrzehnten. Eine schwere Erkrankung, die mich wochenlang in das Krankenhaus zwang und deren Folgen mich bis heute plagen, sowie, wie ich zugeben muss, auch die vielen Nebentätigkeiten, haben eine Neubearbeitung aufgrund der totalrevidierten Bundesverfassung verhindert. Hingegen war eine stetige publizistische Tätigkeit in Fachzeitschriften und Sammelbänden möglich. So kommentiere ich seit nunmehr gut zwanzig Jahren grundlegende staats- und verwaltungsrechtliche Urteile des schweizerischen Bundesgerichts und von Zeit zu Zeit auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Zeitschrift „Aktuelle juristische Praxis“. Die Publikationstätigkeit habe ich auch nach der Emeritierung nicht aufgegeben. Schwerpunkte sind die Grundrechte, besonders auch in ihren europäischen Bezügen, und meine alte Liebe, das Verwaltungsprozessrecht. Würde ich heute noch einmal beginnen, würde ich mich vermutlich stark dem Verwaltungsrecht zuwenden; seine zeitgemässe Aufarbeitung im Kontext zunehmender zivilisatorischer Komplexität und rapider Internationalisierung hat meines Erachtens eine grosse Zukunft. Das wissenschaftliche Schreiben, das sich mit meinen gesundheitlichen Einschränkungen verbinden lässt, empfinde ich so oder so nicht als ein Müssen, sondern als ein Befriedigung vermittelndes Dürfen. Rückblickend darf ich sagen, dass das Schicksal es gut mit mir gemeint hat. Die gesundheitlichen Widerwärtigkeiten haben sozusagen die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass mein sonst allzu schönes Leben die Götter nicht reizt.

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Prof. em. Dr. Dres. hc. Michel Fromont, Paris I Panthéon-Sorbonne Les premiers pas vers l’Allemagne et les Allemands Apparemment, mon enfance ne me prédestinait pas spécialement à consacrer la plus grande partie de ma vie à l’étude du droit allemand et à sa promotion en France. Je suis né en Bretagne en 1933 et y ai vécu jusqu’en 1944. Mon père enseignait l’économie politique et l’économie rurale à l’Université de Rennes. Je passerai sous silence l’année passée au Brésil en 1938, car j’étais alors très jeune. Au contraire, j’avais 9 ans quand a éclaté la guerre. Mes souvenirs sont alors beaucoup plus prégnants. En particulier, je me souviens encore de ma mère pleurant devant la radio qui annonçait l’effondrement de l’armée française en mai et juin 1940, puis le premier bombardement de la ville de Rennes en juin 1940 qui fit beaucoup de victimes, un train de munitions ayant été atteint par les bombes à quelques mètres d’un train de réfugiés. Puis ce fut l’appel du Général de Gaulle et l’entrée en résistance de toute la Bretagne contre l’occupant (contrairement à d’autres régions qui se montrèrent plus résignées). Dans l’ensemble, les militaires allemands stationnant en Bretagne se comportaient de façon correcte. L’officier que nous étions obligés de loger dans notre maison était généralement très respectueux de la profession de mon père et certains faisaient même l’effort d’apprendre quelques mots de français. Quand vint le temps des études secondaires en octobre 1943, mon père n’hésita pas à me faire étudier l’allemand comme première langue, persuadé que certes l’Allemagne terminerait la guerre écrasée sous les bombes, mais que le peuple allemand était un grand peuple et qu’il saurait se relever. Ainsi, j’appris tout d’abord l’allemand et le latin, et deux ans plus tard, je commençai l’étude du grec. L’étude de l’anglais paraissait encore à ce moment là inutile, car cette langue était réputée assez facile à apprendre plus tard et moins nécessaire à des études supérieures. D’ailleurs, lorsque la famille déménagea au début de 1944 pour Paris, mon père ayant été nommé professeur à l’Université de Paris, j’eus accès sans difficulté aux lycées parisiens les plus prestigieux, Montaigne pour les «petites classes», puis Louis-le Grand pour les «grandes classes». A Paris, j’habitais près de l’hôtel Lutetia, tristement célèbre par le défilé incessant des déportés qui revenaient des camps dans un état pitoyable au début

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de l’été 1945 et qui étaient encore habillés de leur uniforme à rayures bleues et blanches. L’un de mes professeurs rennais était parmi eux, mais étant très affaibli, il décéda peu de temps après son admission dans un hôpital militaire; mon père eut seulement la possibilité de le revoir une fois sur son lit d’hôpital. Dès que fut passé l’immédiat après-guerre et alors que j’avais seize ans et passé la première partie du baccalauréat (les épreuves étaient alors réparties sur deux années), mon père m’envoya faire un séjour en Allemagne. A la fois géographe et économiste, il avait une vive curiosité pour tous les pays voisins de la France, qu’il avait visités maintes fois avant la guerre et spécialement l’Allemagne, mais aussi l’Angleterre et l’Italie et il considérait que la coopération au sein de l’Europe, qu’appelait alors de ses vœux Winston Churchill, était aussi nécessaire que la reconstruction de l’économie française à laquelle il participa de toutes ses forces, notamment en encourageant la modernisation de son agriculture. De fait, il me trouva une famille allemande qui était prête à m’accueillir malgré la disette qui sévissait alors en Allemagne. Cette famille d’accueil habitait Boppard, une jolie petite ville située dans la partie la plus pittoresque de la vallée du Rhin et miraculeusement épargnée par la guerre. Au contraire, la ville voisine de Coblence, que j’ai alors visitée à bicyclette avec mon correspondant, était alors quasiment rasée et les gens avaient aménagé les caves en agrandissant un peu les ouvertures des soupiraux pour s’y loger. Il faut avoir vu ces ruines pour comprendre que la guerre est un mal absolu. J’ai été chaleureusement accueilli par la famille qui avait la chance de loger dans une belle maison du 19e siècle à l’entrée de la ville et d’avoir un jardin pour compléter un ravitaillement qui était encore très chiche. Mon correspondant était charmant; il vint ensuite faire un séjour dans notre maison de campagne non loin de Troyes en Champagne; il devint par la suite notaire (après avoir fait une thèse de droit civil franco-allemand) dans un village de vignerons au nord de Worms. Avec ses cousins, nous allions faire du kayak sur le Rhin, un fleuve qui me fascinait par son trafic incessant de péniches chargées à ras bords et de grands bateaux blancs à vapeur pour le transport des voyageurs. Le père était président de chambre à la Cour d’appel de Coblence et la mère se donnait beaucoup de mal pour nourrir ses enfants, neveux et hôtes en ces temps de disette. Par la suite je suis resté presque toujours fidèle à la vallée du Rhin, depuis Fribourg-en-Brisgau jusqu’à Düsseldorf en passant par Heidelberg, Mayence et Cologne; mes seules infidélités à cette vallée ont été mes séjours à Sarrebruck au début de ma carrière universitaire et à Berlin à la fin de celle-ci.

Hommages et remerciements Avant de décrire le déroulement de ma carrière, je voudrais adresser mes hommages et mes remerciements à mes maîtres, à mes collègues et à mes anciens étudiants qui tous m’ont beaucoup apporté. D’abord mes maîtres: du côté français, Jean Rivero qui m’a initié au droit administratif comparé et m’a guidé avec sûreté tout au long de l’élaboration de ma thèse de droit allemand de 1956 à 1958, Georges Vedel qui fit inscrire la chaire de droit public français à l’Université de la Sarre sur la liste des postes mis au concours français d’agrégation de droit public de 1962 et m’offrit la chance de pouvoir occuper ce poste, Jean-Marie Auby qui me demanda d’écrire avec

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lui un livre sur la justice administrative dans les six pays fondateurs de la Communauté économique européenne et m’incita ainsi à élargir mon horizon à la langue néerlandaise et au droit administratif néerlandais, Paul Reuter à qui les Européens doivent l’essentiel du traité CECA et qui été pour moi un mentor dans la gestion de mes relations franco-allemandes à une époque où, faute d’une épuration énergique, quelques anciens nazis enseignaient encore dans les universités allemandes, Marcel Waline qui me fit l’insigne honneur de me confier une chronique annuelle de droit public allemand dès 1968 dans la Revue du droit public; et du côté allemand: Hermann Mosler qui m’accueillit chaleureusement en 1956 à l’Institut Max Planck de Heidelberg et qui me conseilla avec beaucoup de bienveillance et de perspicacité, Ernst Forsthoff dont l’intelligence illuminait les séminaires pour doctorants qu’il organisait chez lui chaque semaine. Je dois aussi beaucoup aux collègues allemands de ma génération qui m’ont prodigué leurs conseils sur la science juridique allemande durant toute ma carrière: Helmut Steinberger avec qui je partageais le même bureau à l’Institut Max Planck et m’expliqua souvent les subtilités du droit allemand, Martin Bullinger avec qui j’ai collaboré de façon très fructueuse pendant de longues années, Ulrich Hübner, qui m’ouvrit toutes grandes les portes de l’Université de Cologne pour monter un programme d’études juridiques franco-allemandes de quatre ans (aujourd’hui 5 ans en raison du programme de Bologne). Pour être complet, j’ajouterai les noms de deux collègues français de droit privé qui m’ont aussi beaucoup aidé: Léontin-Jean Constantinesco, de l’Université de Sarrebruck, avec qui j’eus des conversations passionnantes sur le droit comparé, spécialement franco-allemand, et Alfred Rieg, de l’Université de Strasbourg, avec qui j’ai édité notre Introduction au droit allemand en trois tomes. Enfin je dois rendre hommage et remercier les huit étudiants qui firent leur thèse sous ma direction, sont devenus ensuite professeurs en France ou à l’étranger et dont la moitié enseigne aujourd’hui le droit public allemand. Enfin, je dois une mention spéciale à mes étudiants du programme d’études juridiques franco-allemandes Paris I – Cologne qui fonctionne depuis 1990. Sans eux, je n’aurais jamais écrit mes derniers ouvrages, notamment La justice constitutionnelle dans le monde (1996), Le droit allemand des affaires (2001) et Le droit administratif des États européens (2006): tous ces livres doivent beaucoup aux échanges que j’ai eus avec eux pendant les douze ans de ma carrière parisienne, tant ils ont témoigné de vivacité d’esprit et de curiosité; d’ailleurs certains d’entre eux sont devenus à leur tour professeurs ou maîtres de conférences dans nos universités.

Heidelberg: les premières recherches sur le droit administratif allemand (1956–1958) Après le baccalauréat, j’ai hésité sur la voie à prendre. J’ai commencé par des études supérieures de mathématiques au Lycée Louis-le-Grand, mais au bout d’une année, j’ai abandonné des études qui me paraissaient trop abstraites et j’ai commencé des études de droit et d’économie politique et à la fin de celles-ci, je me suis spécialisé en droit public. Quand vint le temps de choisir un sujet de thèse, je suivis le cours de droit administratif comparé qu’enseigna pendant quelques années le professeur Rivero et je fus vite séduit par le droit public allemand. Je sollicitai alors du professeur

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Rivero la faveur d’être son doctorant, ce qu’il accepta volontiers, non sans avoir réfléchi un instant à l’opportunité de faire une thèse de droit comparé dans la perspective du concours d’agrégation, tant les thèses de droit comparé étaient alors rarissimes pour de futurs postulants aux fonctions de professeur. Puis je m’adressai à Georges Holleaux, conseiller à la Cour de cassation et spécialiste du droit civil allemand, pour lui demander conseil sur l’institution qui pourrait m’accueillir pour rassembler la documentation. Sans hésiter, il me recommanda l’Institut Max-Planck de droit public comparé et international de Heidelberg. J’y ai passé l’année universitaire 1956– 57. J’y fus admirablement accueilli par son directeur, le professeur Mosler qui était un homme à la fois sensible et attentif aux autres et d’une intelligence pénétrante et ouverte tant au droit comparé qu’au droit international. De ce fait, l’atmosphère de travail était excellente et je sais que ses successeurs ont eu à cœur de suivre son exemple. Fils d’un magistrat révoqué par les nazis, il fut pour moi un précieux guide dans le monde universitaire allemand. Il était cependant large d’esprit et me conseilla, par exemple, de consulter les professeurs Forsthoff, Scheuner et E. R. Huber malgré un passé qui n’était pas irréprochable; il me déconseilla cependant de rendre visite à Carl Schmitt qu’il jugeait avec réprobation. Sur le plan intellectuel, le séjour à Heidelberg fut véritablement une révélation. Le droit administratif allemand venait d’être modernisé de fond en comble. En particulier la justice administrative était devenue ce qu’elle doit être: une justice indépendante, statuant selon une procédure très proche de celle des tribunaux civils, ayant des pouvoirs d’injonction considérables tant au début qu’à la fin du procès et poussant son contrôle le plus loin possible. Au lendemain de la Deuxième Guerre mondiale, la France s’était certes efforcée, sans d’ailleurs y parvenir du premier coup, de remédier aux défauts du régime politique de la IIIe République. En revanche, hormis la création du Commissariat au Plan qui permit aux hommes politiques de mener une politique économique à long terme et la création de tribunaux administratifs de première instance en vue de faire face au développement du contentieux administratif, rien ne fut fait dans le domaine de l’administration publique: les Français semblaient se satisfaire d’un système pourtant bien imparfait. C’est seulement trente à quarante ans plus tard que des améliorations décisives furent réalisées, même s’il reste aujourd’hui encore quelques progrès à faire. Aujourd’hui, le système français de justice administrative souffre surtout d’un manque de lisibilité du fait que ce sont encore souvent de simples usages ou coutumes qui corrigent les insuffisances structurelles du système français de protection juridictionnelle des individus face à l’administration. L’année suivante, je revins en France et j’écrivis alors ma thèse à l’aide des informations que j’avais rassemblées à Heidelberg. Quand il manquait quelques informations, j’écrivais à Helmut Steinberger qui était référendaire à l’Institut et dont j’avais partagé pendant un an le bureau, ce qui m’avait permis de profiter souvent de ses explications. J’écrivis très rapidement la thèse (304 pages), qui est le seul écrit scientifique que doit présenter le candidat au concours du professorat. En effet, du fait des «évènements en Algérie», je savais que j’allais passer au moins deux ans et demi dans l’armée. Je soutins ma thèse en 1958 devant un jury présidé par le professeur Rivero et composé des professeurs Berlia et Eisenmann. Puis ce furent effectivement deux ans et demi passés au service de l’Armée; le hasard voulut que je fis mon service au

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Maroc, puis en France où me fut confiée la formation administrative de futurs officiers de l’Armée de l’Air. Au retour à la vie civile, je présentai le concours d’agrégation tout en sachant que j’avais peu de chance de le réussir faute d’une préparation suffisante. Pendant deux ans, je fus alors chargé de cours à l’Université de Grenoble et me consacrais alors exclusivement à l’approfondissement de mes connaissances en droit public français et en droit international, le droit public comparé n’occupant alors aucune place dans les épreuves de ce concours qui a lieu tous les deux ans.

L’Université de la Sarre: un nouveau pas vers le droit allemand (1962–1967) A l’automne 1962, je présentai le concours d’agrégation de droit public et de science politique (c’était alors sa dénomination officielle bien que la science politique n’y occupait qu’une place secondaire). Les épreuves consistaient alors dans la présentation de quatre cours (appelés traditionnellement leçons) portant successivement sur le droit constitutionnel (français et étranger), le droit international public, le droit administratif français et le droit des finances publiques (y compris le droit fiscal). Chacun de ces cours devait porter sur un sujet tiré au sort, être préparé librement en vingt-quatre heures avec l’aide de quelques autres candidats librement choisis (qui vont notamment chercher les livres dans les bibliothèques et faire des suggestions au candidat, ce qui exige évidemment des relations de confiance) et être présenté en trois quarts d’heure le lendemain matin après une nuit blanche. Le jury était présidé par Georges Vedel et comprenait les professeurs Paul-Marie Gaudemet, Claude-Albert Colliard, Roland Drago et un conseiller d’État, Emmanuel Rain. A l’issue du concours, il me demanda d’accepter la chaire de droit public français que l’Université de la Sarre souhaitait voir occupée et qui ne l’avait pas encore été depuis le retour de la Sarre à l’Allemagne. Je ne m’y attendais pas et jusqu’alors, j’avais imaginé que les recherches de droit allemand resteraient pour moi un simple violon d’Ingres. J’acceptai et me voici devenu professeur d’une Université allemande, de surcroît étant fort jeune puisque j’avais seulement trente ans et ayant presque oublié le droit allemand après cinq ans d’éloignement de l’Allemagne. J’eus d’abord à donner un nouvel élan au Centre d’études juridiques françaises chargé de dispenser les enseignements correspondant aux deux premières années de droit des universités françaises et effectivement, le nombre des étudiants passa de vingt environ à plus d’une centaine pendant le temps où je fus le directeur du Centre. J’eus malheureusement beaucoup de mal à persuader les autorités françaises qui accordaient l’équivalence des examens passés en Sarre avec ceux passés dans une université française; j’obtins seulement la possibilité d’initier les étudiants du Centre au droit allemand, car je n’obtins pas toutes les dérogations souhaitées. C’est ce qui m’amena à quitter plus vite que je ne l’aurais souhaité l’Université de la Sarre; c’est seulement après mon départ que les «évènements universitaires de 1968» poussèrent le ministère français de l’éducation nationale à se montrer plus souple en matière de programmes d’études avec les universités françaises et, par contrecoup, mes successeurs, principalement le professeur Christian Autexier, purent enfin transformer le Centre d’études juridiques françaises en un véritable Centre d’études juridiques franco-allemandes.

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Mon séjour en Sarre a néanmoins été très fructueux. Tout d’abord, ma jeune femme et moi-même, nous fumes très chaleureusement accueillis par mes collègues allemands et leurs épouses et nous avions trouvé une maison agréable qui nous permettait de les recevoir également et qui vit de plus l’arrivée de nos deux premiers enfants (l’un naquit en France pendant les vacances et l’autre naquit à Sarrebruck). Ensuite, je fus étroitement associé à tous les travaux du Conseil de Faculté qui avait entrepris de remanier presque tous les textes régissant la Faculté de droit et d’économie. En ma qualité de professeur ordinaire de l’Université de la Sarre, j’eus aussi le privilège d’être admis à la Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer dont le congrès annuel se tint précisément à Sarrebruck l’année de mon arrivée. Enfin, sur les suggestions du professeur Léontin-Jean Constantinesco, j’eus également la possibilité d’animer un séminaire en langue allemande dans le cadre de l’Institut d’études européennes de la Sarre; j’y comparais les jurisprudences allemandes, française et européennes relatives au contrôle de la régularité des actes des autorités administratives; j’en ai tiré un livre en langue allemande Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung in Deutschland, Frankreich und den Europäischen Gemeinschaften (Cologne 1967); il comprend, d’une part, la traduction d’une partie de ma thèse sur la jurisprudence allemande relative à l’application respective du droit privé et du droit public à l’administration et d’autre part, les résumés que j’avais préparés pour le séminaire que j’animais au Centre d’études européennes et qui portait sur une comparaison des jurisprudences allemande, française et européenne relatives au contrôle de la régularité des actes administratifs Enfin, avec l’aide de deux assistants, j’entrepris la traduction du traité de droit administratif de Forsthoff (parue à Bruxelles en 1969 sous le titre Traité de droit administratif allemand).

Les Universités de Dijon et de Fribourg en Brisgau: l’extension des recherches au droit constitutionnel allemand et au droit comparé (1967–1987) L’Université de Dijon me pressait de venir occuper une chaire de droit public à l’Université de Dijon: elle faisait valoir qu’elle avait une solide tradition de spécialisation en droit comparé et de plus, j’y avais un excellent collègue qui désirait alors renouveler la doctrine française du droit administratif français: il souhaitait avoir la collaboration d’un collègue capable de jeter de l’extérieur un regard neuf sur le droit français qu’il estimait, à juste titre, victime d’un certain immobilisme. En outre, la ville avait le mérite de ne pas être trop éloignée de l’Allemagne où j’entendais me rendre fréquemment pour maintenir mes liens avec les collègues allemands. En ce qui concerne mes recherches sur le droit allemand durant cette période, trois faits importants doivent être mentionnés, car ils ont exercé une influence décisive sur l’orientation de mes activités. Le premier fait notable fut la demande que m’adressa le professeur Waline, directeur de la Revue du droit public, de tenir désormais une chronique annuelle sur le droit public allemand. De 1968 à 1990, cette chronique porta sur l’ensemble du droit public allemand, c’est-à-dire à la fois le droit administratif et le droit constitutionnel et

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également sur les principaux textes législatifs nouveaux. En 1990, la jurisprudence constitutionnelle ayant pris une importance croissante en France et en Allemagne, j’ai concentré ma chronique sur l’analyse de la jurisprudence constitutionnelle, me réservant d’écrire de temps à autres des articles sur d’autres aspects du droit public allemand, tels que la loi sur la procédure administrative, les aspects juridiques de la restauration de l’unité de l’Allemagne, ou encore les dispositions intangibles de la Loi fondamentale. Aujourd’hui encore, cette revue ne publie qu’une seule chronique de droit public étranger, celle concernant le droit allemand, ce qui marque bien la place privilégiée qu’occupe l’Allemagne en France. Le second fait majeur a été ma collaboration avec Alfred Rieg, un professeur de droit privé de l’Université de Strasbourg qui avait aussi consacré sa thèse d’agrégation au droit allemand. Nous décidâmes d’entreprendre une petite encyclopédie de droit allemand que nous appelâmes modestement Introduction au droit allemand. Nous rédigeâmes nous-même le tome I, intitulé Les fondements (histoire, organisation judiciaire, sources du droit); il fut publié en 1977. Le tome II, intitulé Le droit public et le droit pénal fut publié en 1984; la partie consacrée au droit public fut écrite par Martin Bullinger et par moi-même. Le tome III Le droit privé porte sur l’ensemble du droit privé et a été publié en 1991. Enfin un troisième fait digne d’être relevé a été ma collaboration souvent très étroite avec Martin Bullinger. Elle commença par la rédaction de contributions comparant les jurisprudences allemande et française relatives au contrôle juridictionnel de l’exercice du pouvoir discrétionnaire. Elle se se poursuivit par des recherches sur les droits français allemand et français de l’audiovisuel qui aboutirent notamment à la rédaction d’un livre (en collaboration avec Jean-Bernard Blaise, de l’Université de Dijon, pour les aspects de droit privé) et à sa publication en 1992 sous le titre Das Wirtschaftsrecht der Telekommunikation in Frankreich. Elle prit aussi la forme de deux semestres consécutifs d’enseignement sur les droits administratifs français et allemand en qualité de professeur associé à l’Université de Fribourg en Brisgau (1975–1976). Par ailleurs, l’existence d’un Institut de droit comparé à l’Université de Dijon et celle d’un cours sur les grands systèmes de droit étrangers m’incita à élargir mon horizon afin de mieux situer le droit allemand parmi les droits du monde entier. Cette extension des recherches fut donc d’abord géographique. Allant au delà de la connaissance des droits publics britannique et néerlandais, j’entrepris de porter mon regard sur le droit américain qui est de plus en plus différent du droit britannique. Cette extension porta également sur les branches du droit. Je me convainquis en effet que le système juridique d’un pays formait un tout et qu’il était très artificiel de traiter séparément du droit public et du droit privé. En fait, il est impossible de comprendre le droit public d’un pays sans connaître d’abord le droit privé et, plus spécialement le droit civil des obligations et des biens. Le résultat fut la rédaction d’un petit livre intitulé Grands systèmes de droit étrangers. La première édition ne portait que sur le droit allemand, le droit anglais et le droit des États-Unis, mais progressivement, son domaine d’étude s’étendit à d’autres pays et à d’autres branches du droit. De fait, entre la première édition (1987) et la septième édition (2013) le volume du livre a triplé. Non seulement, le nombre de pays étudiés a été porté à treize: principalement les voisins immédiats de la France (dont l’Allemagne et la Grande-Bretagne) et les pays les plus importants du monde (Canada,

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Brésil, Russie, Inde, Chine, Japon), mais encore les matières présentées comprennent, outre l’histoire du droit privé et l’organisation judiciaire, le droit des obligations et des biens et souvent aussi la procédure civile. Le plan même des dernières éditions du livre illustre bien les conclusions auxquelles je suis parvenu. C’est incontestablement le droit franco-allemand, qui occupe la première place. Je l’ai appelé droit romaniste, car il prend sa source dans l’étude universitaire des écrits de droit romain, les sources germaniques ayant en grande partie disparu. Ce droit influence aujourd’hui le plus grand nombre de pays du monde, depuis le Brésil jusqu’au Japon en passant par la Russie, l’Inde et la Chine. Quant au common law, il ne sort guère du cercle des pays anglophones, qui certes sont parmi les États les plus puissants ou les plus prometteurs, mais qui n’en sont pas moins en nombre relativement restreint; de surcroît, ces pays ont tendance à s’éloigner de plus en plus du modèle britannique: le droit écrit, à commencer par la constitution et son interprétation par les juges selon les méthodes franco-allemandes, y joue un rôle important. Le plus souvent, le droit anglo-américain n’exerce qu’une influence ponctuelle, principalement dans le domaine du droit de l’économie et parfois celui de la procédure judiciaire. De plus, les deux grands systèmes juridiques, le franco-allemand et l’anglo-américain ont tendance à se rapprocher tant dans le domaine du droit privé (témoin les grandes conventions internationales sur la vente) que dans le domaine du droit public ( comme l’illustrent la jurisprudence sur les droits de l’homme et le contrôle juridictionnel des actes des autorités administratives).

L’université Paris I Panthéon-Sorbonne: droit allemand et droit des principaux pays du monde (1988–2001) En 1988, je pris la décision de répondre aux demandes de l’Université Paris I Panthéon-Sorbonne qui souhaitait créer un cycle quadriennal d’études juridiques franco-allemandes sur le modèle du cycle d’études juridiques franco-anglaises qui avait été créé une dizaine d’années auparavant par le professeur André Tunc, célèbre pour ses recherches sur le droit américain et sur la responsabilité civile. La décision fut facilitée par le fait que les enfants aînés étaient partis étudier hors du foyer familial et que seuls les trois cadets étaient encore avec nous, ce qui rendait un déménagement à Paris moins difficile malgré le prix élevé des appartements. Pour monter ce programme d’études, je sollicitai l’Université de Cologne dont je connaissais bien l’un de ses professeurs, Ulrich Hübner, pour l’avoir eu comme étudiant à l’Université de la Sarre et aussi pour son livre Einführung in das französische Recht, écrit en collaboration avec Vlad Constantinesco, professeur à Strasbourg. Ulrich Hübner présentait l’immense mérite d’avoir fait lui-même de véritables études juridiques franco-allemandes dès les années 1960: il avait tout d’abord mené de front à Sarrebruck des études de droit français et des études de droit allemand pendant deux ans, puis il avait continué ses études de droit français à Paris qu’il avait réussies brillamment, puis il était revenu en Allemagne pour reprendre ses études de droit allemand, avait soutenu sa thèse sur un sujet de droit civil français à l’Université de Cologne, puis préparé son Habilitation sous la direction du professeur Großfeld à Göttingen, puis à Münster. Connaissant bien les facultés françaises de droit, il saisissait

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très vite les problèmes que pouvait poser l’articulation entre deux systèmes universitaires aussi opposés que ceux de la France et de l’Allemagne et avait aussi une grande sensibilité aux obstacles psychologiques qui ne manqueraient pas de se présenter de part et d’autre. Il fut un partenaire idéal, ce qui permit d’aller très vite et d’organiser les premiers recrutements dès 1990, l’année même du rétablissement de l’unité de l’Allemagne ! Ce fut dès le début un grand succès: tant du côté allemand que du côté français, nous eûmes un nombre suffisant de candidats pour choisir des étudiants ayant les capacités intellectuelles et la solidité psychologique suffisantes pour passer d’un système d’enseignement à l’autre et s’adapter à des modes de pensée qui, malgré beaucoup de similitudes, sont néanmoins différents. Les étudiants choisis font ensemble leurs études pendant les quatre années et de ce fait, étudiants allemands et français peuvent s’entr’aider lorsqu’ils se trouvent dans l’autre pays que le leur. Fondamentalement, ils suivent les mêmes enseignements que les étudiants suivant le cursus normal; ils sont seulement dispensés de suivre quelques enseignements moins fondamentaux. De même, ils sont soumis exactement aux mêmes contrôles de leurs aptitudes et connaissances que les autres étudiants. Malgré un rythme très soutenu de travail, presque tous les étudiants qui commencent le programme parviennent à réussir tous les contrôles dans les délais impartis. En outre, à Paris, les étudiants franco-allemands rejoignent les étudiants franco-britanniques venant du King’s College de Londres, les étudiants franco-italiens venant de l’Université de Florence et les étudiants franco-espagnols venant de l’Université Complutense de Madrid qui ont tous suivi des programmes semblables. Ils forment alors ensemble une promotion de 160 étudiants environ et comme ils ont tous déjà deux années d’études juridiques à l’étranger, il a été nécessaire de remplacer les cours normalement destinés aux étudiants débutants (par exemple, le droit constitutionnel) par des cours plus denses et plus orientés vers le droit comparé. Du fait que le programme franco-allemand fonctionne depuis plus de 20 ans et délivre plus de 50 diplômes chaque année, on peut estimer que plus de mille juristes franco-allemands ont déjà été formés par ce programme; plusieurs d’entre eux occupent dès aujourd’hui des postes élevés, soit dans les juridictions, soit dans de grands cabinets d’avocats, soit même dans nos universités. A mes yeux, l’existence de ce millier de juristes franco-allemands constitue une grande promesse de rapprochement entre nos deux systèmes juridiques. Ma carrière parisienne, qui ne dura qu’un peu plus d’une douzaine d’années, ne fut pas très propice à la rédaction d’ouvrages importants, tant la création et la direction du programme Paris I – Cologne absorba une très grande partie de mon temps. Je n’eus guère le temps que d’écrire un essai intitulé La justice constitutionnelle dans le monde, issu d’ailleurs d’un enseignement sur la justice constitutionnelle en Europe que je faisais dans le cadre du programmes d’études juridiques franco-allemandes Paris I – Cologne. J’y démontrais que la doctrine dominante en France selon laquelle il y aurait une justice juridictionnelle diffuse qui suivrait le modèle américain et une justice constitutionnelle concentrée qui serait le modèle européen ne rendait compte que d’une façon superficielle des différences et aussi des convergences entre les différents systèmes de justice constitutionnelle. Par exemple, le système américain et le système allemand sont beaucoup plus proches l’un de l’autre qu’il n’est prétendu généralement en France, car dans les deux systèmes, le contrôle de constitutionnalité ne porte pas seulement sur les lois, mais aussi sur l’application de celles-ci, le contrôle de

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constitutionnalité des lois présente le plus souvent un caractère concret et enfin, comme la Cour suprême des États-Unis, la Cour constitutionnelle fédérale peut casser un jugement pour violation de la constitution et se comporte donc au moins en partie comme une juridiction suprême. En revanche, la doctrine française se montrait trop indulgente envers le système français dont les défauts n’ont été corrigés, du moins en partie, que par la réforme des années 2008/2010: c’est seulement depuis cette réforme que les justiciables ont la possibilité d’aller plaider l’inconstitutionnalité d’une loi déjà promulguée devant le Conseil constitutionnel selon une procédure contradictoire. Malheureusement, je n’ai pas disposé alors d’un temps suffisant pour rédiger un ouvrage plus développé qu’un simple essai. C’est seulement depuis l’éméritat que j’ai pu écrire une nouvelle édition fortement augmentée (500 pages) qui est parue à l’automne 2013. Mes autres écrits scientifiques de cette époque ont correspondu simplement à des demandes de manuscrits de la part de mes collègues désireux d’enrichir leur colloque ou une publication collective par un exposé des solutions adoptées en Allemagne en droit constitutionnel ou en droit administratif.

L’éméritat: l’aboutissement des recherches effectuées précédemment (depuis 2001) Après avoir passé un semestre comme professeur associé à l’Université libre de Berlin et avoir assuré l’intérim de ma propre chaire restée inoccupée pendant un an (principalement consacrée à la gestion du programme quadriennal d’études juridiques franco-allemandes), je me suis résolu à écrire ce que j’aurais aimé écrire au cours des années précédentes afin de donner une plus grande portée aux enseignements que j’avais dispensés. J’ai tout d’abord écrit un livre Droit allemand des affaires, Droit des biens et des obligations, Droit commercial et du travail (publié à Paris en 2001). Peut-être le lecteur s’étonnera de voir un spécialiste de droit public écrire sur le droit privé. Plusieurs raisons expliquent ce qui pourrait paraître comme une extravagance. En premier lieu, ce n’est pas une extravagance, car mon maître Jean Rivero m’avait montré l’exemple en publiant avec Jean Savatier un manuel de droit du travail qui connut 13 éditions de 1956 à 1993. De plus, comme m’a dit un jour Georges Vedel, la connaissance du droit des obligations est un élément essentiel de la culture générale que doit posséder tout juriste; de fait, je suis absolument convaincu qu’un comparatiste ne peut pas comprendre en profondeur un droit public étranger s’il ne connaît pas le droit civil des contrats et de la responsabilité. En second lieu, en ce qui concerne le droit des obligations, ce livre est le fruit d’un dialogue avec les étudiants franco-allemands que j’eus plusieurs années de suite dans le cadre d’un séminaire dédié à cette branche du droit et, en ce qui concerne le droit commercial et le droit du travail, il était l’aboutissement d’un cours de droit allemand des affaires destiné aux étudiants de quatrième année désireux de compléter par un cours de droit allemand leur formation en droit privé de l’économie. Ensuite, j’ai écrit un livre intitulé Droit administratif des États européens qui fut publié en 2006. J’y ai montré qu’il existait en Europe trois grands systèmes de droit administratif si l’on retient comme critère principal de classification l’organisation de la

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justice administrative . Il y a tout d’abord le système français, qui est le plus ancien et qui se caractérise notamment par une justice administrative dominée par cette institution si particulière qu’est le Conseil d’État, par l’existence d’un droit public des contrats et de la responsabilité et par le caractère objectif des recours dirigés contre les règlements et les décisions individuelles édictés par les autorités administratives. Il y a ensuite le système allemand, qui est plus récent et se caractérise par des juridictions administratives faisant partie du pouvoir judiciaire, par la spécialisation de celles-ci dans la connaissance de véritables actions en justice contestant la régularité des seules décisions individuelles des autorités administratives, le reste du contentieux de l’administration étant laissé aux tribunaux civils. Il y a enfin le système britannique qui partage le contentieux de l’administration entre les juridictions civiles supérieures et les Administrative Tribunals qui sont des sortes d’autorités administratives indépendantes statuant selon une procédure quasi-juridictionnelle et subordonnées aux juridictions civiles supérieures, ce qui explique que le droit administratif ne s’est détaché du droit civil qu’assez récemment. J’ai d’ailleurs eu l’occasion d’exposer cette typologie aux juristes allemands dans Handbuch Jus Publicum Europaeum, tome III, (Heidelberg 2010). Enfin, au début de l’année 2013, j’ai achevé la rédaction d’un livre intitulé La justice constitutionnelle dans le monde. Cet ouvrage, qui a pris pour point de départ l’essai publié en 1996 a pour objet de montrer l’extrême diversité de la justice constitutionnelle dans le monde. Cette diversité se manifeste de multiples façons: il y a tout d’abord des différences manifestes entre une justice constitutionnelle qui a deux siècles comme celle des États-Unis et une justice constitutionnelle qui vient d’être créée comme celles de la Corée du sud ou de l’Afrique du sud. Mais les facteurs de diversification ne se réduisent pas à la plus ou moins longue histoire de la justice constitutionnelle et sont en fait innombrables. Citons particulièrement ceux qui semblent les plus importants: la relation dialectique entre les deux grands principes constitutionnels que sont le principe démocratique et le principe de prééminence du droit; les différentes juridictions composant le pouvoir judiciaire, leurs relations entre elles et surtout leurs relations avec les différents titulaires du pouvoir politique (Président ou monarque, Gouvernement, Parlement), ou avec les justiciables; les rapports entre le droit traditionnel (civil et pénal) et le droit administratif, d’une part, et le droit constitutionnel, qui est souvent beaucoup plus récent, d’autre part; la structure fédérale, faiblement décentralisée ou centralisée de l’État; l’orientation exclusivement libérale des droits de l’Homme ou, au contraire, l’idée que l’État lui-même doit promouvoir des droits de l’homme nouveaux en raison de sa mission de protéger les individus contre les puissants de la société civile; la place des règles de droit supraétatiques ou internationales dans le droit national, etc. .  .  . Le paradoxe est évidemment que la démocratie a besoin d’être encadrée par le droit pour ne pas dégénérer en dictature, mais qu’en même temps, le droit est nécessairement appliqué par des autorités indépendantes de la politique, ce qui aboutit fatalement à empêcher la volonté populaire d’être l’unique inspiratrice de l’État. En d’autres termes, la démocratie est nécessairement le moteur de l’État moderne, mais elle a besoin d’un frein qui la modère sans toutefois la brimer. La justice constitutionnelle apparaît ainsi comme le miroir dans lequel se reflète toute la complexité de l’État moderne.

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Aux termes de plus d’une soixantaine d’années consacrées à l’étude du droit allemand, des droits européens, et finalement des droits du monde entier, je suis parvenu à la conviction que les droits étrangers ne sont pas simplement un objet de curiosité pour professeurs de droit en quête d’exotisme. La connaissance des droits étrangers est indispensable au développement des échanges de biens, de services et d’idées entre les hommes, car elle oblige à étudier en profondeur l’histoire et la culture d’un pays et à acquérir ainsi une représentation aussi exacte que possible des conceptions qui sont à la base des règles les plus fondamentales d’un pays. Il revient aux juristes de développer cette connaissance des droits étrangers et de la faire partager à tous ceux qui participent à la vie internationale. Car seule la connaissance de l’étranger permet la compréhension de l’étranger et donc la multiplication des échanges fructueux entre les pays. Sans cette compréhension, il ne peut pas y avoir d’échanges fructueux, mais seulement des affrontements comme ce fut malheureusement le cas au cours de la première moitié du siècle dernier. De plus, seule la connaissance des droits étrangers permet aux juristes nationaux de réfléchir sur leur propre droit et sur les moyens de l’améliorer, car, si les pays sont divers, ils ont également beaucoup d’aspirations et de préoccupations sinon identiques, du moins très proches. Ce qui est vrai pour tous les pays du monde l’est encore plus pour des pays aussi proches et de surcroît aussi complémentaires que l’Allemagne et la France. En particulier, mon expérience de professeur m’a appris avec quelle aisance et avec quelle efficacité jeunes Allemands et jeunes Français pouvaient conjuguer ensemble leurs talents et leur dynamisme pour réaliser des projets qu’ils n’auraient pas réalisés seuls ou pour avancer de nouvelles idées porteuses de progrès. En effet, les cultures allemande et française présentent une proximité et une complémentarité telles que leur synthèse est à la fois aisée et fructueuse. Ainsi, dans le domaine du droit, les qualités d’abstraction, de réactivité et de créativité des juristes allemands complètent de façon idéale les qualités de réalisme empirique et de recherche de la simplicité des juristes français. D’ailleurs, l’histoire des deux derniers siècles montre que la science juridique de nos deux pays a toujours fait de grands progrès quand les échanges intellectuels étaient particulièrement intenses. Cette proximité et cette complémentarité explique pourquoi les pays en voie de modernisation adoptent tous le modèle juridique romaniste, en d’autres termes le droit franco-allemand.

Meine sechs Jahrzehnte Öffentliches Recht von

Prof. Dr. iur. Dres h.c. Thomas Oppermann, Tübingen „Ihr glücklichen Augen, was je Ihr gesehn .  .  .“

Peter Häberle danke ich für die Aufforderung, mich in die „Selbstdarstellungen“ einreihen zu dürfen. Nach anfänglicher Skepsis nahm die Neigung zu, ein wenig den Windungen der vita professionalis nachzuspüren. Zur Antriebskraft wurde wieder wach werdende Dankbarkeit gegenüber vielen Personen, denen ich in den sechs Jahrzehnten des Berufslebens begegnete und die meinen Blick erweiterten und bereicherten. Hier können nur wenige Namen benannt werden.

A.  Studium, weitere Ausbildung und Promotion (1951–1960) 1931 geboren, war mir nach der Volksschule in Freiburg i.Br. als Sohn eines Altphilologen (und einer Kunsthistorikerin) der Besuch des humanistischen Gymna­ siums vorgegeben. Ich bin noch heute froh darüber. Eine Reihe engagierter Lehrer förderten 1941–1951 meine geistige Entwicklung am Jakob Sturm-Gymnasium Straßburg, Wilhelm-Gymnasium Braunschweig und zuletzt an der Gelehrtenschule des Johanneums Hamburg – mit einer anderthalbjährigen „Freizeit“ zu Kriegsende. Es ergaben sich Schulfreundschaften, von denen einige bis heute andauern. – In Baden und im Elsaß waren mir die Schrecknisse des Krieges ziemlich erspart und die politischen Verbrechen des Hitler-Regimes verborgen geblieben. 1945 öffneten sich die Augen. Die Reduktion der deutschen Geschichte auf Auschwitz ist mir freilich immer fremd geblieben. Nach dem Abitur war ich unschlüssig: Latein und Geschichte oder Jurisprudenz? Im Sommersemester 1951 begann ich aufgrund einer Empfehlung an den Historiker Otto Vossler in Frankfurt a. M. und belegte Beides. Bald fühlte ich mich unter den Juristen wohl. Zum Schlüsselerlebnis wurde der Eindruck eines von Walter Hallstein und Hermann Mosler geleiteten Seminars. Heinrich Kronstein, dessen Einführung ins US-Recht ich aus Neugierde besuchte, nahm sein halbes Dutzend Hörer kurzerhand zu einer Sitzung des Seminars mit, in welcher der Doktorand Ernst Steindorff aus sei-

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ner Arbeit über den gerade entstehenden Schumanplan referierte. Hallstein kommentierte den Vortrag durchaus wohlwollend mit etwas näselnder Stimme. Es wehte ein Hauch der beginnenden europäischen Einigung durch den Raum. Ich hatte nicht nur das Fach, sondern in ihm bereits mein späteres Lieblingsthema gefunden. Frankfurt war mir durch die quälende Berufswahl verleidet. Ich ging zum Wintersemester 1951/52 in das seit der Volksschulzeit 1937–41 vertraute Freiburg i.Br. Es war ein Glücksfall. Die großartige Freiburger Juristenfakultät weckte meine Neigung zur Jurisprudenz vollends. Vorlesungen und Seminare in der Rechtsphilosophie bei Erik Wolf und seinem Assistenten Werner Maihofer, im Zivilrecht bei Ernst v. Caemmerer und Franz Wieacker oder im Strafrecht bei Adolf Schönke und Hans Heinrich Jescheck fesselten gleichermaßen. Das Interesse an Geschichte und Politik führte mich jedoch rasch ins Öffentliche Recht. Das eingängige Staatsrecht bei Theodor Maunz erleichterte den Einstieg. Dogmatischen und historischen „Tiefgang“ brachten anschließend die Veranstaltungen Ernst Rudolf Hubers. Die Montagabendseminare Wilhelm Grewes – die übrige Woche arbeitete er bereits im Auswärtigen Amt – eröffneten faszinierenden Einblick in das Ringen der jungen Bonner Republik um Souveränität und Westorientierung. Unterbrechung bot ein Auslandssemester im Sommer 1953 in Lyon. Es führte zur lebenslangen Freundschaft mit dem damaligen Abiturienten und späteren französischen Richter am Europäischen Gerichtshof Jean-Pierre Puissochet. Die persönliche Beziehung zwischen Professor und Student im Freiburg der fünfziger Jahre ist in der späteren Massenuniversität unvorstellbar geworden. Letzte Erinnerungen sind eine Einladung zum Frühstück im Hause Huber nach dem Referendarexamen 1955 und ein gemeinsamer Gang mit Grewe durchs Baden-Badener Casino, wohin er mich zur Besprechung des Dissertationsthema gebeten hatte. Es sollte um das englische Wahlrecht gehen, das ihn als Leiter der ersten Bonner Wahlrechtskommission interessierte.1 So ergab sich mit Hilfe des DAAD die Chance zu einem unvergessenen Studienjahr in Oxford 1955/56. Außer gelegentlichen Treffen mit meinem wahlrechtserfahrenen Berater R. B. Mc Callum, Master of Pembroke College war ich nur der Doktorarbeit verpflichtet und konnte Neigungen nachgehen. Etwa staatsphilosophischen und historischen Veranstaltungen bei Isaah Berlin, Alan Bullock und A. J. P. Taylor oder viele Lektüre im Nuffield College und in der Bodleian Library. Zum Freund wurde Rattan Bhatia aus Neu Delhi, später beim Internationalen Währungsfonds. Alles wurde im Nachhinein sekundär gegenüber der ersten Begegnung mit Ingrid Cording, die ich durch glückliche Fügung Jahre später in Hamburg und Bonn wieder sehen und 1963 ehelichen durfte. Durch sie und unsere vier Kinder hat mein Leben seine eigentliche Erfüllung gefunden. Den Freiburger Doktorgrad konnte ich erst Jahre später erwerben, da Grewe nach meiner Rückkehr 1956 aus der Universität ausgeschieden war und bald als Botschafter nach Washington über den großen Teich entschwand. Dankenswerterweise nahmen sich Josph H. Kaiser und Konrad Hesse der Arbeit an.2   Grundlagen eines deutschen Wahlrechts. Bericht der vom Bundesminister des Inneren eingesetzten Wahlrechtskommission, 1955. 2   Oppermann, Britisches Unterhauswahlrecht und Zweiparteiensystem, 1961 – Weitere Titel des Verf. sind im Folgenden ohne Namensnennung angegeben. 1

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Es folgte die vielgestaltige Hamburger Referendarzeit bis zum Assessorexamen 1959. Entscheidend für die Zukunft wurde die Möglichkeit, gleichzeitig 1957–1960 Assistent an der Forschungsstelle für Völkerrecht der Hamburger Fakultät bei Herbert Krüger zu werden. Der noble Gentleman mit weitem Horizont wurde mein wichtigster akademischer Lehrer und später väterlicher Freund. 3 Nähere Beziehungen ergaben sich an der Forschungsstelle zu Dietrich Rauschning, an der Fakultät zu Hans Peter Ipsen und den Assistenten Helmut Quaritsch und Klaus Vogel. Nachdem ich auf Krügers Anregung ein kleineres Buch zu seiner Zufriedenheit geschrieben hatte, bot er mir die Habilitation an. 4 Sie gestaltete sich zunächst infolge endlosen Wartens nach dem Assessor auf eine geeignete Stelle schwierig. Nach einem halben Jahr riss mir die Geduld. Beflügelt durch Sympathie für den Vater des deutschen „Wirtschafswunders“ Ludwig Erhard wechselte ich zum 1.  9. 1960 als Hilfsreferent in die Europa-Abteilung des Bonner Wirtschaftsministeriums. Ich rechne es Herbert Krüger hoch an, dass er den Abschied aus seinem Umkreis nicht nur verstand, sondern sogar begrüßte. Aus der eigenen Vita war ihm bewusst, wie wohltätig es sein kann, eine Weile die dicken akademischen Mauern hinter sich zu lassen.

B.  Bundeswirtschaftsministerium und Habilitation (1960–1967) Eine glückliche Fügung führte mich innerhalb Ludwig Erhards Ministerium in das Rechtsreferat der Europa-Abteilung.5 Als 29jähriger Regierungsassessor wurde ich dem damals 35jährigen Oberregierungsrat Ulrich Everling unterstellt, der später bis zum Ministerialdirektor und Richter am Europäischen Gerichtshof avancieren sollte. Am Abend vor Amtsantritt las ich im „Sartorius II“ rasch den EWG-Vertrag durch, um den Dienst im Europarecht nicht völlig unwissend anzutreten. Das Gebiet war damals noch so schmal und im Universitätsunterricht inexistent, dass man mit „learning by doing“ durchkam. Zumal man von dem bedeutenden Juristen Everling täglich profitieren konnte. 1960–1967 waren grossartige Jahre. Man nahm am erfolgreichen Auf bau der EWG und später an der ersten großen Krise 1965/66 unmittelbar teil. Die Arbeit an der Entwicklung einer „Rechtsgemeinschaft“ warf ununterbrochen juristische Probleme auf, so dass man in kurzer Zeit im Integrationsrecht zu Hause war. Dabei half, dass die Tätigkeit in der Europaabteilung mit Ulrich Meyer-Cording als Abteilungsleiter und Alfred Müller-Armack als Staatssekretär „akademisch- professoral“ geprägt war. Höhepunkte wurden neben vielen Sitzungen auf „Arbeitsebene“ in Bonn und Brüssel Eindrücke von großen Europäern wie Erhard , Hallstein„ Spaak oder Couve de Murville, die der „Hilfsbremser“ gelegentlich aus der Froschperspektive der hinteren Reihen bei Ratssitzungen zu Gesicht bekam. Eine wichtige Horizonterweiterung bedeutete im zweiten Halbjahr 1962 die Bekanntschaft mit der NATO aufgrund der routinemäßigen „Kinderlandverschickung“ 3  Ein deutscher Staatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert. Zum 100. Geburtstag von Herbert Krüger (1905–1989), AöR 130 (2005), 494. 4   Die algerische Frage, 1959 – Le problème algérien, 1961 (franz. Übersetzung). 5   Erinnerungen an das Bundeswirtschaftsministerium und seine Europa-Abteilung in den sechziger Jahren, Festschrift Everling, 1995, 23.

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außerhalb des Ministeriums an die deutsche NATO-Vertretung in Paris. Denkwürdig wurde, den historischen Juli-Besuch Adenauers bei de Gaulle anläßlich der Soirée in der Pariser Oper unter den Klängen von Deutschlandlied und Marseilleise mitzuerleben. Die Kubakrise ließ im Oktober verspüren, wie es international außerhalb des Brüsseler Kosmos zugehen konnte. Deutscher NATO-Botschafter wurde in diesen Monaten mein alter Freiburger Lehrer Wilhelm Grewe, ein Wiedersehen unter sehr veränderten Umständen. In den interessanten Praxisjahren nagte freilich das schlechte Gewissen, was aus der Habilitationsschrift werden sollte, die ich vor dem Weggang ins Ministerium mit Herbert Krüger vereinbart hatte. Als Thema hatte ich mir aufgrund einer ursprünglichen Anregung Ernst Rudolf Hubers das „Kulturverwaltungsrecht“ erwählt.6 An Zeit hierfür war im Bonn/Brüsseler Getriebe nicht zu denken. Unausgesprochenes Ziel blieb gleichwohl die Rückkehr an die Universität. Noch wichtiger wurde 1963 die Heirat mit Ingrid Cording. Als Lösung des Habilitationsdilemmas erwies sich 1964/65 ein Habilitationsstipendium der DFG, das mir für ein gutes Jahr Musse am Schreibtisch in Hamburg ermöglichte. Mein akademisch interessierter Chef Everling hatte Verständnis für diese Auszeit und erlaubte die Rückkehr in sein Referat. Mitte 1965 ging es noch einmal für zwei turbulente Jahre zurück ins Ministerium. Der Rest der Habilitationsschrift musste bis zum Sommer 1966 in „Nacht- und Nebelstunden“ erledigt werden. Großer Dank gebührt meiner lieben Frau, die diese Hektik neben der Betreuung unserer beiden ersten Kinder ertrug und tatkräftig half. Zur später vielgeschmähten „Ordinarienuniversität“ gehörte, dass Herbert Krüger, Hans Peter Ipsen und Werner Thieme mein voluminöses opus (Ipsen: „Er hatte keine Zeit, sich kurz zu fassen“) innerhalb eines knappen halben Jahres begutachteten, sodass ich im Februar 1967 in Hamburg habilitiert werden konnte.

C.  Tübinger Juristenfakultät (1967–1999) Es erwies sich als Glücksfall, dass meine Habilitation in die Zeit der universitären Expansion der sechziger Jahre fiel. Unmittelbar nach der Erteilung der venia erhielt ich dank Initiative Helmut Quaritschs und Walter Rudolfs einen Ruf an den jungen Bochumer Fachbereich. Ich sah mich bereits in den monumentalen Betonbauten an der Ruhr etabliert, als sich im Mai 1967 nach dem überraschenden Tod Adolf Schüles die Chance eröffnete, in die Tübinger Fakultät einzutreten. Als 36jähriger Nobody von den mir nur aus der Distanz bekannten Otto Bachof und Günter Dürig erwählt zu werden, ließ nur ein „Ja“ zu. Später bemerkte ich, dass bei beiden Rufen die Bonner Praxiserfahrung ausschlaggebend gewesen war. Am 1. Oktober 1967 fand sich der Regierungsdirektor a.D. am Neckar ein. Es ergab sich im wirren Jahr 1968 kaum Zeit, gewahr zu werden, in welch großartigen älteren Kollegenkreis man aufgenommen worden war: Fritz Baur, Josef Esser, Erich Fechner, Wolfgang Fikentscher (bald Wolfgang Zöllner an seiner Stelle), Joachim Gernhuber, Ludwig Raiser, Robert Scheyhing im Zivilrecht, Jürgen Baumann, Karl Peters, Horst Schröder im Strafrecht und im eigenen Fachgebiet neben den beiden bereits Genann6

  Kulturverwaltungsrecht. Bildung-Wissenschaft-Kunst, 1969.

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ten mein baldiger Freund Martin Heckel und seit 1972 Roman Schnur – den kooptierten Theodor Eschenburg nicht zu vergessen. Um nur einige Namen zu nennen.

„1968“ in Tübingen Die „Kulturrevolution“ der 68er-Zeit war pünktlich mit meiner Ankunft auch an der ehrwürdigen Eberhard-Karls-Universität ausgebrochen. Nicht ganz so wild wie in Berlin oder Heidelberg, aber mit Demonstrationen, Sit-ins und anderen Vorlesungsstörungen doch recht vernehmlich. Nachdem ich gerade im Ministerium unter fünf Vorgesetzten vom Referenten bis zum Minister fröhlich gearbeitet hatte, war mir die angebliche „Knechtung“ der Assistenten und Studenten durch die verruchten Ordinarien völlig unverständlich. Gewisse Reformen der altertümlichen Hochschulstruktur schienen einsichtig, jedoch nicht Umstülpungen durch „Drittelparität“ und Ähnliches. So fand ich mich in der turbulenten Grundordnungsversammlung ohne Umstände an der Seite der älteren Kollegen, welche der seltene Zuwachs eines „Jungen“ erfreute. Schließlich scheiterte die Eigenreform in Tübingen und wurde durch einen gemäßigt fortschrittlichen Oktroi des Ministeriums ersetzt, mit dem sich leben ließ.

Mitglied der Universität Die bewegten „68er“-Zeiten, die bis 1970 allmählich abebbten, und das Dekanat 1971/72 hatten mich durch die hochschulpolitische Auseinandersetzung rasch in Verbindung mit Kollegen aller Fakultäten gebracht. Hieraus erwuchs Kontakt und manche Freundschaft quer durch die Universität, besonders zu Medizin, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Eine Folge war langjähriges Engagement in der akademischen Selbstverwaltung in den Senaten und die Wahl zum Vizepräsidenten 1983–85 unter unserem „Dauerpräsidenten“ der siebziger bis neunziger Jahre Adolf Theis. So konnte ich mein Scherflein zum von Theis zielstrebig vorangetriebenen Ausbau der Eberhardino-Carolina zur modernen Hochschule beitragen, die im Lande und darüber hinaus keinen Vergleich mehr zu scheuen braucht. Ein Höhepunkt war das glanzvolle 500-jährige Universitätsjubiläum 1977 mit einer vielbeachteten Rede von Bundespräsident Walter Scheel in der Tübinger Stiftskirche. Mir bot es die Chance, ein vom Fernsehen übertragenes großes Europa-Colloquium mit Kollegen und Politprominenz (Kurt Biedenkopf, Bruno Kreisky, Jean Rey, Harold Wilson u. a.) über die ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament zu moderieren. 7

Lehrstuhl und Aktivitäten Der Einstieg in die Tübinger Fakultät erleichterte sich durch die Übernahme des durch den plötzlichen Tod Schüles verwaisten Lehrstuhls. Die Schüleschen Assistenten 7

  In welches Europa führen die Direktwahlen?, 1978.

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bahnten dem beinahe gleichaltrigen neuen „Chef “ die Wege in Lehre und Verwaltung. Mit Manfred Erhardt, der mir später als Ministerialdirektor und Berliner Senator über den Kopf wuchs, ergab sich eine dauerhafte Freundschaft. Die Zusammenarbeit mit dem in den folgenden Jahrzehnten sich immer wieder erneuernden Team inspirierte die Lehr- und Forschungstätigkeit. Zu meiner Freude wurden aus Armin Dittmann, Michael Kilian, Claus Dieter Classen, Frank Fechner und Ulrich Gassner über die Habilitation Kollegen. Ebenso hat mir der Austausch mit vielen Doktoranden aus In- und Ausland viel bedeutet.8 Einige machten ihren öffentlichrechtlichen Interessen entsprechend erfolgreich Karrière in Regierung und Verwaltung wie der schon erwähnte Manfred Erhardt oder Claus Eiselstein, Konrad Feige, Joachim Kohler und Wolfgang Zeh. Marc Beise und Claus Kleber arrivierten zu renommierten Journalisten („Ein guter Jurist kann Alles“). Die meisten Ausländer(innen) wurden in ihrer Heimat später Kollegen wie Yi Kai Chen (Taiwan), Patricia Conlan (Irland), Sung-Soo Kim (Korea), Georgios Papastamkos (Griechenland), und Lyndel V. Prott (Australien). Seit den achtziger Jahren kam über das gemeinsam mit Kanzler Georg Sandberger an der Fakultät etablierte einjährige LLM-Programm eine größere Zahl hoffnungsvoller junger Studierender aus aller Welt hinzu. Mit den Kollegen teilte ich die Fron der immer weiter anschwellenden, zweimal jährlichen schriftlichen und mündlichen Referendarexamina, später gelegentlich einiger Stuttgarter Assessorexamina. So aufwendig diese Pflichten auch waren (hunderte Klausuren las ich öfters zur Zeitersparnis in einem abgelegenen Schwarzwaldhotel), halte ich die strenge Notengebung der Juristen in einer zunehmend zensurinflationären Universität für einen entscheidenden Qualitätsausweis unserer Disziplin. Der Herkunft aus einer Pädagogenfamilie verdankte ich wahrscheinlich die Freude an der Lehre. Im Hörsaal fühlte ich mich immer wohl, vor allem wenn es um meine Lieblingsfächer Verfassungs- Europa- und Völkerrecht ging. Besonders gerne denke ich an den Aufstieg des Europarechts zurück, das für mich 1968 mit einem Dutzend Hörer begann, um sich bis zur Emeritierung auf 200–300 zu steigern. Das lag weniger an den eigenen Künsten als an der rasanten Entwicklung der europäischen Einigung in jenen Jahrzehnten, die sich akademisch im Wandel vom exotischen Wahlfach zur Pflichtdisziplin für Alle widerspiegelte. Die ebenfalls geliebten Seminare eröffneten die Chance, wichtige Spezialthemen ( aktuelle verfassungspolitische, europäische und internationale Fragen oder Disziplinen wie das internationale Wirtschaftsrecht) aufzugreifen. Aus dem studentischen Zuspruch ergaben sich oft spätere Promotionsvorhaben und ebenso die Wechselbeziehung mit der eigenen Forschungs- und Publikationsbetätigung, über die hier nicht naher zur berichten ist.9 Ein Schwerpunkt lag in Austausch mit der Kultus- und Rundfunkpraxis über lange Jahre im Bildungs- Wissenschafts- und Medienrecht. Mein Agens lag dabei im Interesse an leistungsfähigen Strukturen in Schule und Universität beziehungsweise in der Rechtfertigung öffentlicher Medien in einem sich liberalisierenden Umfeld. 8  Liste der Promovierten in: Classen/Dittmann/Fechner/Gassner/Kilian (Hrsg.), Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001,901 und anschließend in Remmert (Hrsg.), Deutschlands Zukunft: Dur oder Moll?, 2012, 95. 9   Schriftenverzeichnis des Verf. in den beiden in Fn.  8 zitierten Titeln (S.  879 bzw. 91) sowie in Classen/Nettesheim/Graf Vitzthum (Hrsg.), Ius Europaeum. Beiträge (des Verf.) zur europäischen Einigung, 2006, 506.

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Fakultät Seit ich sie 1967 kennenlernte, zeichnete sich die Tübinger Juristenfakultät (bis 1969 mit den Nationalökonomen vereint) durch kameradschaftlichen „Korpsgeist“ aus. Er ergab sich aus der gemeinsamen Lebenserfahrung einer Kriegsgeneration, der die meisten großen Namen angehörten, welche die überlegte Berufungspolitik Eduard Kerns in den fünfziger Jahren in Tübingen zusammengerufen hatte. Natürlich gab es mancherlei Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Charakteren, aber sie wurden in der Sache ausgetragen und arteten nie in Feindschaft aus. Nach den Sitzungen ging es oft zu einem Glase Wein in die nahe „Museums“gaststätte. Jüngere wurden rasch akzeptiert, wenn sie etwas zu leisten schienen. Die Wirren 1968 ff. taten das Ihre, die Reihen zu schließen. Auch das Verhältnis zu den Assistenten und Studierenden blieb intakt, von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen. Wissenschaftlich manifestierte sich der innere Zusammenhalt der Fakultät von Zeit zu Zeit in grossen Ringvorlesungen, wie über „Tradition und Fortschritt im Recht“ anläßlich des 500jährigen Bestehens der Fakultät 1977 oder „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ 1989. 10 Das gute Klima übertrug sich auf die nächste Generation, als etwa Günter Püttner Otto Bachof ablöste, Wolfgang Graf Vitzthum Günter Dürig, Jan Schröder Dietmar Willoweit oder Wernhard Möschel Ludwig Raiser. Nach meinen Eindrücken hat es die Fakultät in ihrer Berufungspolitik bis heute verstanden, auf Qualität und Charakter gleichermaßen zu achten. Die freundschaftliche Verbundenheit – in welche die Ehefrauen einbezogen waren – und der intensive fachliche Austausch innerhalb der Fakultät wurde für mich zu einem wichtigen Kriterium, als ich mich anfangs und am Ende der siebziger Jahre entschloß, Rufen nach Hamburg und Bonn nicht zu folgen. In der Tübinger Juristenfakultät ließ sich leben. Manche Anregungen ergaben sich aus meiner Kooptation in die Sozialwissenschaftliche Fakultät in Kontakt mit den Politikwissenschaftlern (insbesondere Theoder Eschenburg und Rudolf Hrbek) und ebenso mit Ökonomen wie Norbert Kloten, Josef Molsberger und Joachim Starbatty. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit führte Ende der achtziger Jahre zur Gründung einer mehrjährigen DFG-Forschergruppe „Europäische und internationale Wirtschaftsordnung aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland“.

D.  Extra muros Die wiederholten Umgestaltungen der klassischen „Humboldt-Universität“ seit dem Ende der sechziger Jahre zur ökonomisierten Massenuniversität unserer Tage haben manchen Lack am Bild des deutschen Universitätsprofessors abblättern lassen. Gleichwohl habe ich es nie bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben. Es gibt kaum andere Tätigkeiten, die beinahe „hierarchielos“ in Kollegialität und in einem lockeren Rahmen so viele Freiheit zur Arbeit gemäß eigenen Neigungen und Vorstel10   Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift 500 Jahre Tübinger Juristische Fakultät, 1977 – Vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland. Ringvorlesung der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen 1989, 1990.

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lungen eröffnen. Neben den Pflichten in Lehre und Forschung ergeben sich regelmäßig Chancen, außerhalb der Universitätsmauern Aufgaben wahrzunehmen, die in Zusammenhang mit der eigenen Kompetenz stehen, dabei diese im wirklichen Leben auf die Probe stellen und umgekehrt das Wirken intra muros durch die gewonnenen Erfahrungen bereichern. Dies gilt besonders für eine Wissenschaft wie die Jurisprudenz mit ihrem politiknahen Feld des Verfassungs- und internationalen Rechts, wo im staatlichen und gesellschaftlichen Leben Maßstäbe bestehen, auf deren Grundlage Probleme und Konflikte mit Realitätssinn bewältigt werden müssen. Lohn solcher Anstrengungen sind immer wieder faszinierende Einblicke in die heimische wie weltweite politische und gesellschaftliche Wirklichkeit und ebenso die Befriedigung, welche erfolgreiche Mitwirkung an „gerechten“ Lösungen und Ergebnissen verleiht. In diesem Sinne seien im Folgenden einige Aspekte meiner Aktivitaten extra muros angesprochen, die sich im Laufe der Jahre ergaben.

Politik Ein Öffentlichrechtler steht kraft seines Faches zwangsläufig in der Nähe der Politik. „Staatsrecht ist politisches Recht“, wußte bereits Heinrich Triepel – und das gilt a minore ad maius für Europa- und Völkerrecht. Natürlich gehört es zu den elementaren Voraussetzungen des Juristen, sich der subtilen Grenze zwischen Auslegung der Norm lege artis und Parteilichkeit gemäß persönlichen politischen Überzeugungen bewußt zu bleiben. Etwas Anderes ist es jedoch, ob daraus folgt, dass der Öffentlichrechtler sich jeglicher Betätigung gemäß seinen politischen Ansichten zu enthalten hat. Hier ist sicher Raum für unterschiedliche Antworten. Ich selbst habe immer die Auffassung meines Lehrers Herbert Krüger geteilt, dass jemand, dessen Feld eine eminent politiknahe Disziplin wie das Verfassungsrecht ist, im Streit der Meinungen eigene Überzeugungen besitzen darf, vielleicht sogar muß. „Absolute Neutralität“ gibt es nicht oder allenfalls als eine Art Selbsttäuschung. Meine politische Sozialisation ergab sich altersmäßig aus dem Hineinwachsen in die Jahre der Kanzlerschaft Konrad Adenauers. Ich erlebte sie anfangs in unmittelbarer Nähe durch die Montagabendseminare Wilhelm Grewes in Freiburg in Gestalt des Ringens um die Souveränität der entstehenden Bundesrepublik, um ihre Westbindung und Teilnahme an der europäischen Einigung. Einblicke in die „Freiburger Schule“ der Nationalökonomie und ihr praktischer Erfolg in den „Wirtschaftswunderjahren“ sowie später die Tätigkeit im Bundeswirtschaftsministerium in den sechziger Jahren unter Alfred Müller-Armack nahmen für die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards ein. Hieraus ergab sich eine Art „Mischung“ bleibender Grundüberzeugungen, die man vielleicht als konservativ-liberal bezeichnen könnte und die sich in der politischen Praxis am ehesten in der damaligen Politik der CDU verkörperten. Mit Sympathie verfolgte ich gleichzeitig nach 1969 den kühnen Schwenk der Ostpolitik Willy Brandts. In der Tübinger Zeit zogen Mitglieder der Stuttgarter Landesregierungen mein Fachwissen mehrfach bei der Vorbereitung politischer Vorhaben zu Rate, Wilhelm Hahn bei Hochschulgesetzgebung der siebziger Jahre, Lothar Späth in den turbulenten Monaten der Wiedervereinigung 1989/1990 über die Leitung einer Kommission beim gleichzeitigen Auf bau des Europäischen Binnenmarktes und spä-

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ter Erwin Teufel 2002/2003 als sein Berater im Brüsseler Verfassungskonvent. 11 Europapolitisch ergaben sich Gespräche mit Walter Hallstein im Stuttgarter Ruhesitz des ehemaligen Kommissionspräsidenten. Er vertraute mir die Edition seiner wichtigsten Brüsseler Reden an.12 Ich empfand diese „Ausflüge“ in die Politik jedes Mal als willkommene Bereicherung für die Tätigkeit im Hörsaal und Seminar. Ähnliches galt auf Bundesebene für die Mitgliedschaft in den Kommissionen „Staatszielbestimmungen“ Ende der siebziger Jahre und zur erfolgreichen Reform des Hochschulrahmengesetzes 1983/84 sowie durch manch gutachterliche Betätigung.13

Prozeßvertretungen und Mitglied des Staatsgerichtshofes Baden-Württemberg Forensische Betätigung stand bei mir nie so im Vordergrund, wie bei manchen Kollegen, die sich jährlich vor den Schranken des Bundesverfassungsgerichts wiedersehen. Mir lag immer mehr das Gestalterische im Rahmen von Legislative und Exekutive, wie es sich aus Kommissionsmitgliedschaften, Beratungen oder gutachterlicher Expertise ergab. Gleichwohl ist es im „Rechtswegestaat“ des Grundgesetzes als Hochschullehrer des öffentlichen Rechts wohl unvermeidlich, ab und zu vor den Schranken von Gerichten aufzutreten. Neben verschiedenen nationalen Verfahren (Anfragen mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht trafen mich zur Unzeit) denke ich gerne an große Prozesse bei der europäischen Gerichtsbarkeit in Luxemburg als Bevollmächtigter der Bundesregierung zurück. In den siebziger Jahren ging es in einem „süffigen“ Sachverhalt um die Gleichstellung deutschen Sektes und Weinbrandes als indirekte geographische Herkunftsbezeichnungen mit dem seit Versailles 1919 geschützten französischen Champagner und Cognac. Noch aufwendiger gestaltete sich 1996–2003 der „siebenjährige Krieg“ mit der EU-Kommission vor dem Gericht erster Instanz und dem Gerichtshof um die europarechtliche Zulässigkeit millionenschwerer Beihilfen Sachsens für den Auf bau von VW-Werken in den neuen Bundesländern.14 Mitgliedstaaten haben es in Luxemburg bekanntlich immer schwer („in dubio pro communitate“), aber man konnte Einiges erreichen. Gute Erinnerung bedeuten die beiden Wahlperioden 1985–2003 als Mitglied des Stuttgarter Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg in Nachfolge von Otto Bachof. Die Tätigkeit ließ sich im Nebenamt unschwer bewältigen, da der in den fünfziger Jahren konzipierte Hof die Verfassungsbeschwerde damals noch nicht kannte, sodass jährlich nur wenige Verfahren anfielen, durchweg Kommunalverfahren, Organstreitigkeiten, meist zwischen Regierung und Opposition und Wahl11   Baden-Württemberg im Europäischen Binnenmarkt. Ausgewählte Analysen und Empfehlungen. Bericht des Beraterkreises zu EG-Fragen für die Landesregierung Baden-Württemberg, 1990 – Zum Verfassungskonvent unten bei E. 12   Walter Hallstein, Europäische Reden. Hrsg. von Thomas Oppermann unter Mitarbeit von Joachim Kohler, 1979. 13   Bundesminister des Innern/Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Bericht Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge, 1983 – Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.), Bericht der Expertenkommission zur Untersuchung der Auswirkungen des Hochschulrahmengesetzes, 1984. 14   Der „siebenjährige Krieg“. Erinnerungen an die Prozesse vor der europäischen Gerichtsbarkeit um die sächsischen VW-Beihilfen 1996–2003, Festschrift für Volkmar Götz, 2005, 211.

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rechtssachen. Das Gericht konnte sich ihnen mit der nötigen Sorgfalt widmen, wobei die Berichterstatter ihre Entwürfe ursprünglich ohne Hilfe selbst verfaßten. Sehr geschätzt habe ich die Mitwirkung dreier Laien im neunköpfigen Gremium, öfters erfahrene Persönlichkeiten wie die ehemaligen Minister Schiess und Schieler, der Gewerkschafter Steinkühler oder der evangelische Theologe Jüngel. Sie brachten praktischen Menschenverstand ein und sorgten dafür, dass komplizierte Juristensprache vermieden wurde, sodass sich die Entscheidungen für die meist nichtjuristischen Adressaten verständlich und überzeugend lasen. Der Staatsgerichtshof genoss und genießt unter seinen kompetenten Präsidenten wie zuletzt Lothar Freund und Eberhard Stilz unbestrittenes Ansehen im Lande.

Wissenschaftliche Vereinigungen „Muß“ für einen deutschen Verfassungs- und Völkerrechtler ist die Mitgliedschaft in der traditionsreichen Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer und der ihrerseits bis 1917 zurückreichenden Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (neuerdings für Internationales Recht). Die jährlichen bzw. zweijährigen Tagungen bilden festen Bestandteil des Kalenders. Gewinnbringend sind sie nicht zuletzt durch die Mitgliedschaft vieler österreichischer und schweizer Kollegen („deutsch=deutschsprachig“) Die Zusammenkünfte sind neben dem wissenschaftlichen Ertrag der Vorträge und Debatten wichtig für den inneren Zusammenhalt der „Zunft“. Freundschaftliche Beziehungen unter Kollegen – für mich besonders mit Peter Badura, Ferdinand und Paul Kirchhof sowie mit Klaus Stern – bedeuten beruflichen ebenso wie menschlichen Gewinn. Solche Kollegialität wird in jüngerer Zeit bei den Staatsrechtslehrern schwieriger durch die Aufblähung der Mitgliederzahl infolge der Universitätsentwicklung seit den sechziger Jahren. Ich trat 1967 bei der Frankfurter Tagung als Mitglied Nr.  167 ein. Heute zählt die Gesellschaft über 700 Kollegen und Kolleginnen in ihren Reihen. Eine freundschaftlich verbundene „Brüderschaft“ (Hans Peter Ipsen) hat sich zu einem locker strukturierten pluralistischen Großgremium gewandelt. Als Vorsitzender mußte ich in Bayreuth 1993 diese Veränderung in einer dramatischen Sitzung bewältigen, als die Aufnahme eines umstrittenen jungen Kollegen aus der „1968er-Generation“ zur Debatte stand. Unter allerlei Spaltungsdrohungen gelang es, die Aufnahme mit knapper Mehrheit zu vollziehen und den Zusammenhalt der Kollegenschaft zu erhalten. In der kühleren Luft des internationalen Rechts spielten solche Politisierungen keine ernsthafte Rolle. Als positiv habe ich in der Völkerrechtsgesellschaft neben den akademischen Kollegen stets die Mitgliedschaft einer größeren Zahl angesehener Praktiker aus Diplomatie, internationalen Organisationen oder transnationaler Gerichtsbarkeit empfunden, die den Debatten Realitätsnähe einbringt. In der Erinnerung hat sich mir besonders die Tagung im Mai 1989 in meiner alten Hamburger Heimat eingeprägt, die ich als Vorsitzender leitete. Für den, der politisches Gespür hatte, lag der beginnende Prozeß der deutschen Wiedervereinigung bereits wie eine Gewitterstimmung in der Luft. Die eingeladenen Vertreter der DDR-Schwesterver-

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einigung reagierten gereizt auf jede Erwähnung der Thematik. Zwei Jahre später waren die meisten ihrer Ämter enthoben, einige wenige zu uns gestoßen. Besonders bedeutsam war für mich über die Jahrzehnte die Zugehörigkeit in der International Law Association/London (ILA). Auftakt war die von Rolf Stödter glanzvoll organisierte Hamburger Tagung 1960, zu der ich als Assistent Herbert Krügers abgeordnet wurde. Ich behielt die Mitgliedschaft in der Bonner Ministeriumszeit bei und ging ab New York 1972 wieder regelmäßig zu den zweijährigen Kongressen in Europa und „Übersee“, die vielerlei Einblicke und Anregungen über die weltweiten Entwicklungen im Völkerrecht boten. Ab 1980 (Belgrad) konkretisierte sich meine Mitwirkung innerhalb des ILA-Komitees für eine neue Weltwirtschaftsordnung. Mit anderen „westlichen“ Mitgliedern führten wir unter der umsichtigen Leitung von Günter Jaenicke ein Jahrzehnt auf juristischer Ebene die Auseinandersetzung mit der Dritten Welt und dem Ostblock zwischen internationaler Planwirtschaft und den Marktprinzipien. Parallel zur weltweiten „Wende“ 1989 ff. verschwand die „neue Weltwirtschaftsordnung“ in der Rumpelkammer der Geschichte. In Kairo 1992 gelang die Umgründung in ein International Trade Law Committee (ITLC), in dem anerkannte Experten wie John Jackson und Ernst Ulrich Petersmann die Entwicklung von GATT und WTO lege artis begleiten.15 Ich konnte das ITLC bis 2000 auf die Rampe setzen, bevor es seitdem unter Leitung von Petersmann zu einem der wichtigsten Foren des WTO-Rechts aufgestiegen ist. Der Rückblick auf die ILA gehört zu den besonders schönen Erinnerungen. In der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht und im von der EU-Kommission gesponserten Arbeitskreis Europäische Integration (AEI) habe ich gerne mitgearbeitet und letzteren einige Jahre geleitet. Der AEI hat sich als lebendiges Zentrum der deutschen Politik- Rechts- und Wirtschaftswissenschaft etabliert, welches wichtige Ereignisse und Entwicklungen der Integration zeitnah in grundsätzlicher Weise aufgreift. Guten Einblick in das konstitutionelle Leben Italiens und Verbindung mit den dortigen Kollegen haben mir dank Christian Tomuschat seit 1979 die zweijährigen Colloquien des deutsch-italienischen Verfassungskreises geboten.

Gastprofessuren und Vortragsreisen Als Europarechtler und Internationalist ist man geradezu verpflichtet, sich den Wind jenseits des eigenen Landes um die Ohren wehen zu lassen. Für mich gehörten diese Abstecher zu den besonders befriedigenden Aspekten des Berufs. Vielleicht, so bilde ich mir ein, weil es mir liegt, fremde Verhältnisse in ihrer Eigenheit zu begreifen und sich ihnen zuzuwenden. Bei meiner Frau stehe ich in Schuld, dass sie mir den Rücken freihielt und mich als Haupt der großen Familie nur gelegentlich begleiten konnte.

15  Neue Weltwirtschaftsordnung-Welthandelsrecht-Nachhaltige Entwicklung. Ein Paradigmenwechsel in der International Law Association, angestoßen von Günther Jaenicke, Liber amicorum Günther Jaenicke, 1998, 681.

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Frankreich, Israel und Japan wurden mir durch kollegiale Verbindung und Aufenthalte besonders vertraut. Frankreich hat mich sprachlich und kulturell seit jeher besonders angezogen. Das Lyoner Auslandssemester 1953 und das „NATO-Halbjahr“ 1962 in Paris verstärkten neben den Brüsseler Begegnungen die Attraktion. So reihte ich mich gerne in die schon Mitte der fünfziger Jahre begründete Partnerschaft zwischen den Universitäten Aix-en-Provence und Tübingen ein, in der die beiden Juristischen Fakultäten eine zentrale Rolle spielten. Auslöser war für mich 1968 die Begegnung mit dem dortigen Verfassungsrechtler Michel-Henri Fabre, früherer Gründungsrektor der Universität von Madagaskar und unbeugsamer Gaullist der ersten Stunde. Mit Kollegen gelang es ihm, in jenem turbulenten Frühling die Aixer Fakultät aus den kulturrevolutionären Wirren herauszuhalten. Mit Fabre wie später mit dem eminenten Europarechtler Louis Dubouis entwickelte sich eine Freundschaft, die sich auf die Ehen erstreckte. Die Partnerschaft „TübAix“ hat sich im Laufe der Jahre zu einem Naheverhältnis entwickelt, das sich über zahllose gegenseitige Vortragsbesuche, Gastprofessuren und Studiensemester gleichermaßen auf die Kollegenschaft wie auf die Studierenden erstreckte. Ich nahm öfters teil, 1993 mittels einer längeren Gastprofessur16 Eine Zeitlang oblag mir die Organisation in Tübingen, bis anschließend Wolfgang Graf Vitzthum und Hans von Mangoldt die Partnerschaft weiter vertieften. Ebenfalls 1968 begann meine Beziehung zu Israel und seinen Rechtsfakultäten in Tel Aviv und Jerusalem. Dekan Karl Peters zog mich zu einem Gespräch mit dem bekannten jüdischen Wiedergutmachungsanwalt Edward Kossoy hinzu, der sich über die Nichtverwendung einer namhaften Spende an die Fakultät zur Aufnahme von Beziehungen zwischen den Tübinger und israelischen Juristen beklagte. So etwas geschah leicht unter den damals jährlich wechselnden Dekanen. Irgendwie „funkte“ es zwischen meinem baldigen Freund Edward und mir und ich nahm die Sache als Fakultätsbeauftragter in die Hand. Bis heute ist es durch mich und meine Nachfolger Michael Ronellenfitsch und Martin Nettesheim sowie auf israelischer Seite vor allem durch Amos Shapira und Kossoys Tochter Karin in Tel Aviv, Ruth Lapidoth in Jerusalem zu einem regelmäßigen Austausch unter den Kollegen beider Seiten gekommen, mehrfach intensiviert durch größere Symposien, wie 2006 in Tübingen anläßlich des 93. Geburtstags von Edward Kossoy.17 Reisen nach Israel gemeinsam mit meiner Frau und eine Gastprofessur in Jerusalem 1999 schenkten mir tiefe Einblicke in das gefährdete Heilige Land. Ermöglicht wurde all dies im Wesentlichen durch großzügiges Mäzenatentum Kossoys zugunsten der inzwischen in Tübingen gegründeten Kossoy-Hall-Stiftung. Der düstere Hintergrund deutsch-israelischer Beziehungen war präsent, hinderte jedoch nicht verständnisvolles Kennenlernen, das in manchen Fällen in Freundschaft erwuchs. In der eleganten Genfer Villa Edward Kossoys wurden – lange mit seiner Frau Sonia, einer Holocaustüberlebenden – immer wieder neue Pläne geschmiedet, bis sein Leben kurz vor dem 100. Geburtstag 2012 endete.18 16  Aix-en-Provence und Tübingen. Erinnerungen an die Begegnung zweier Juristenfakultäten, Mélanges en l’honneur de Louis Dubouis, 2002, 121. 17   Fünf Jahrzehnte „Kossoy-Hall-Stiftung“ – Dank an den Stifter, in: Nettesheim/Oppermann (Hrsg.), Ehrensymposium Edward Kossoy, 2007, 17. 18   Kossoy, Vom Holocaust zur Wiedergutmachung (Lebenserinnerungen), 2012.

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Japan war ein weiteres Land, zu dem sich durch besondere Umstände engere Beziehungen ergaben. Meine Frau hatte ihre Kindheit als Kaufmannstochter in Yokohama verbracht und mir den mit Deutschland verbundenen Inselstaat nahe gebracht. So traf es sich gut, dass seit den sechziger Jahren immer wieder japanische Kollegen über Humboldtstipendien u. ä. nach Tübingen kamen und hierdurch Beziehungen aufgebaut werden konnten. Fachlich ergaben sich durch die intensive Hinwendung Japans zum deutschen Recht seit Ende des 19. Jahrhunderts viele fruchtbare Anknüpfungspunkte. Im Laufe der Jahre vertieften sie sich dank gemeinsamer Anstrengungen mit Knut Nörr freundschaftlich vor allem mit Junichi Murakami und Hiroshi Shiono (beide Tokyo) sowie Zentaro Kitagawa (Kyoto). Seit Ende der achtziger Jahre gelang Tübinger und japanischen Kollegen mit Hilfe der Thyssen-Stiftung die Etablierung großer vierjähriger Symposien abwechselnd in Tübingen und Tokyo/ Kyoto, die zu einem festen Bindeglied deutsch/japanischer Rechtsvergleichung wurden.19 Eine andere „Schiene“ meiner Japan- Beziehung war für etliche Jahre die Betreuung junger japanischer „Gentleman-Studenten“ , welche das Tokyoter Außenministerium für jeweils zwei Jahre zur kulturellen Akklimatisierung nach Deutschland schickte. Mit dem späteren Botschafter Teruyoshi Inagawa und seiner Frau erwuchs auf diese Weise eine bis heute andauernde familiäre Freundschaft. Verschiedene Erkundungs- und Vortragsreisen durch Japan brachten mir das Land nahe. Bewegend war eine grössere Vortragsveranstaltung in Tokyo 1990 kurz vor der deutschen Einheit, in der sich Freude und Begeisterung des Publikums über den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung lauthals äußerte.20 Auch in die koreanischen Verfassungsverhältnisse gewann ich über Einladungen meines Doktoranden und späteren führenden Verwaltungs- und Steuerrechtlers Sung-Soo Kim (Seoul) 1986 und 1990 Kenntnisse, bis zu Fragen der dortigen Teilung einschließlich eines Blicks auf den kommunistischen Teil aus der Waffenstillstandsbaracke von 1953 in Panmunjon. In China konnte ich Kollegen in Taiwan und HongKong kennenlernen. Unvergesslich ist mir ein Vortrag vor der Fakultät in Kanton (Guangzhou) am 3. Oktober 1990 geblieben. Beim morgendlichen Frühstück mit dem Leiter des Goethe-Instituts HongKong um 7:00 Uhr im „White Swan-Hotel“ schlug in Berlin die Mitternachtsstunde, welche die deutsche Einheit einläutete. Wichtige Horizonterweiterung bedeuteten längere Vortragsreisen im Auftrag des Goethe-Instituts und anderer Institutionen nach Indien (1971), durch die Staaten des nordafrikanischen Maghreb (1980), durch Westafrika vom Senegal bis zum Kongo (1982) und über Japan nach HongKong und Singapur (1990). An der Ausbildungsstätte des Indian Civil Service in Mussouri am Fuße der Achttausender des Himalaya dozierte ich über Grundsätze deutscher sozialer Marktwirtschaft. In Algier ergaben sich Gespräche mit Kollegen über zwei Jahrzehnte Unabhängigkeit des Landes, dessen Aufstand gegen Frankreich ich in meinem Buch 1959 behandelt hatte. In Ghana war die Besichtigung der brandenburgischen Forts des 17. Jahrhunderts gemeinsam mit Arnulf Baring ein bleibender Eindruck, in Zaire die überall noch sichtbaren Spu19   Es begann mit „Die Japanisierung des westlichen Rechts“ in Tübingen 1988 und setzte sich über Veranstaltungen in Kyoto 1992, Tübingen 1996, Yokohama 2000, Tübingen 2004, Tokyo 2008 bisher bis zu „Rechtsprobleme alternder Gesellschaften in Japan und Deutschland“ in Tübingen 2012 fort. 20   Der Weg zur deutschen Einheit – politische und juristische Aspekte, Jahrbuch der Japanisch-Deutschen Gesellschaft für Rechtswissenschaft 1991, 20.

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ren der Kriege nach 1960 und die von freilaufenden Löwen bewachte Residenz Sese Seko Mobutus in Kinshasa. Ich gewann hohen Respekt vor der schwierigen, aber oft erfolgreichen Tätigkeit der Leiter der örtlichen Goethe-Institute und ebenso diplomatischer Vertretungen. Schwer war zu sagen, wie weit meine Vorträge in den fernen Ländern zum Nachdenken anregten. Interesse war unverkennbar, etwa an der Terra incognita des deutschen Verwaltungs- und Verfassungsrechtsschutzes zugunsten des Einzelnen. Für den kommunistischen Ostblock fehlte mir bis zur „Wende“ sowohl Interesse als auch Gelegenheit zum unmittelbaren Kennenlernen. Eine Ausnahme bildete Polen, dank meines Freundes Leszek („Lech“) Garlicki aus Warschau, der sich als Humboldtstipendiat am Lehrstuhl ab 1976 längere Zeit mit dem Grundgesetz befasste, sowie des „ständigen Polenreisenden“ Roman Schnur, an dessen Tübinger Lehrstuhl sich die Kollegen von der Weichsel die Klinke in die Hand gaben.21 Auf Lechs Einladung (inzwischen Kollege in Warschau, nach der Wende polnischer Richter am Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg) reisten meine Frau und ich 1987 ins (noch) kommunistische Polen. Ohne dass beim Bisonwodka mit den Kollegen in Warschau und Krakau viele Worte darüber gewechselt werden mußten, war bereits zu spüren, wie dünn in Polen der sowjetgrundierte Lack an der Oberfläche geworden war. – Nach der Wende reiste ich 1990 zu Vorträgen in die DDR nach Jena sowie an die Berliner Humboldt-Universität und half bei der Organisation zweier Symposien der Rechtsfakultäten aus den beiden „Karls-Universitäten“ in Prag und Tübingen, woraus sich europarechtliche Gemeinsamkeiten mit Lubos Tichy ergaben. Den American way of academic life durfte ich im Herbst 1991 bei einer mehrmonatigen „Rheinstein-Gastprofessur“ an der renommierten, gerade 100 Jahre alten Law School der Universität Chicago näher kennenlernen.22 Es galt European Community Law mittels der dort üblichen sokratischen Lehrmethode im engen Dialog mit den Studenten zu präsentieren und zu prüfen. Beruhigend wurde für mich das ausgezeichnete Abschneiden zweier deutscher Gastreferendare mit Prädikatsexamen. Unsere manchmal kritisierte deutsche Juristenausbildung braucht den Vergleich mit der US-Elite offensichtlich nicht zu scheuen. Beeindruckend war der enge Zusammenhalt innerhalb der Chicagoer Kollegenschaft, die sich beinahe wöchentlich zu über das Internet rasch zusammengerufenen Beratungen und Workshops traf. Eine wichtige Frucht meines Aufenthalts am Lake Michigan wurde die freundschaftliche Verbindung mit dem Konstitutionalisten David Currie, der US-Verfassung und Grundgesetz gleichermaßen bis ins Detail kannte. Als Humboldt-Preisträger sorgte Currie im Sommer 1996 in Tübingen mit einer Vorlesung über die 200jährige US-Verfassung für einen vollen Hörsaal. Die Chicago-Zeit konnte ich mit Abstechern nach Ann Arbor zu einem Seminar John Jacksons und zur St. Thomas University School of Law in Miami beim Ex-Tübinger Kollegen Sieg fried Wiessner für weitere Einblicke in amerikanische Law Schools nutzen.

 Mit Roman Schnur auf einem Flur. Gemeinsame Tübinger Jahre 1972 bis 1996, Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, 5. 22   Bericht für das Bundeskanzleramt über meine Max Rheinstein-Professur an der Law School der University of Chicago, 1991 (Manuskript). 21

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Alles in Allem empfinde ich die „auswärtige Zeit“ im Rückblick als wertvolle Bereicherung der eigenen beruflichen Erfahrungen sowie im Sinne gewachsener Erkenntnisse über weltweite Gemeinsamkeiten bei der Aufgabe, junge Menschen an den professionellen Umgang mit Recht und Gerechtigkeit heranzuführen.

E.  Emeritenjahre seit 1999 Hatte ich früher mit einer gewissen Besorgnis auf das heranziehende Alter mit dem beruflichen Einschnitt der Emeritierung geblickt, verflogen solche Gefühle rasch. Erleichternd wirkte die vielfältige Sympathie, die mir bei der von Dekan Christian Kühl wohlorganisierten Abschiedsvorlesung 1999 und ähnlich zum 70. und 80. Geburtstag 2001/20011 entgegenschlug.23 Zugleich bewies die Fakultät eine glückliche Hand bei der Nachfolge. Fachlich wie menschlich sah ich den Lehrstuhl mit Martin Nettesheim in den besten Händen. Auf diese Weise wurden die „Siebziger“ ein schönes Jahrzehnt, mit endlich mehr Zeit zusammen mit meiner Frau und der Familie und der Möglichkeit, in Freiheit Neigungen zu folgen. In der Erinnerung bleiben neben anderen Aktivitäten vor allem zwei Chancen, gewonnene Erfahrung noch einmal einzusetzen. Um die Jahreswende 2001/2002 hatte ich gerade begonnen, mich mit Walter Schmitt Glaeser an der Gründung der von Deutschland getragenen Andrassy-Universität in Budapest zu beteiligen, als mich Ministerpräsident Erwin Teufel fragte, ob ich ihn im Brüsseler Konvent für die Erarbeitung einer reformierten EU-Verfassung beraten würde, dem er als Mitglied des deutschen Bundesrates angehörte. Es war eines jener Angebote, das man nicht ablehnen konnte, hier sowohl wegen meiner europarechtlichen Vergangenheit als auch in Hochachtung vor dem Politiker Teufel. Ich durfte ihn bereits früher kennenlernen und wußte, dass ich in der europapolitischen Grundauffassung mit ihm übereinstimmte. Es folgten anderthalb hektische Jahre, meist im Arbeitsstab Konvent des Stuttgarter Staatsministeriums, in der Brüsseler Landesvertretung Baden-Württembergs und im Betonklotz des Brüsseler Sitzes des Europäischen Parlamentes, wo der Konvent tagte. Faszinierend waren die vielen Begegnungen mit einer Reihe prominenter Mitglieder des Konvents, an der Spitze sein Präsident Valéry Giscard d’Estaing, der das vielgestaltige Gremium in überlegter Regie Mitte 2003 zum Erfolg in Gestalt eines Verfassungsentwurfs führte, der in seiner Grundstruktur nach mancherlei Krisen Jahre später in Lissabon Wirklichkeit wurde.24 Erwin Teufel beeindruckte seinerseits in der Meisterschaft, sofort den „Draht“ zum Präsidenten zu finden und die nötigen Bundesgenossen für die föderalen Anliegen des Bundesrates zu gewinnen – Stärkung der Subsidiarität und klare Kompetenzordnung zwischen 23   Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, Juristenzeitung 1999, 317 (Abschiedsvorlesung); Classen/Dittmann/Fechner/Gassner/Kilian (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001; Remmert (Hrsg.), Deutschlands Zukunft – Dur oder Moll? 2012. 24   Eine Verfassung für die Europäische Union. Der Entwurf des Europäischen Konvents, Deutsches Verwaltungsblatt 2003, 1165, 1234; Valéry Giscard d’Estaing – Vater der Europäischen Verfassung, Festschrift Jost Delbrück, 2005, 519: Die Europäische Union von Lissabon, Deutsches Verwaltungsblatt 2008, 473.

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Union und Mitgliedstaaten.25 Innerlich zog ich manchmal den Vergleich zwischen dem beschaulichen Brüssel der sechziger Jahre, in das ich seinerzeit aus Bonn anreiste und dem heutigen „Raumschiff EU“ in Gestalt zahlreicher Gebäudekomplexe aus Beton und Glas, die in seelenloser Funktionalität die belgische Hauptstadt verunzieren. Immerhin blieb im Konvent etwas von jenem „europäischen Geist“ spürbar, der die EWG-Auf bruchszeit nach 1958 beherrscht hatte. Er manifestierte sich in der Abschlusssitzung, als die Conventionels sich spontan erhoben und Beethovens Ode an die Freude anstimmten. Eine wichtige neue Erfahrung wurde für mich 2007 ein Sommerkurs im Europarecht für eine Gruppe junger russischer Studierender an der Kant-Universität in Kaliningrad, dem alten Königsberg. Solche und manch andere Verbindungen zwischen Kaliningrad und Deutschland wurden von meinem Freund Dietrich Rauschning organisiert, der sich wie kaum ein Anderer Verdienste um die juristische Kooperation zwischen deutschen Universitäten und der Alma Mater seiner ostpreußischen Heimat erworben hat. Mich beeindruckte zum einen die Aufgeschlossenheit der russischen Kollegen und Kursteilnehmer für die politische und rechtliche Entwicklung im westlichen Europa und besonders in Deutschland. Man mochte kaum glauben, dass der „Eiserne Vorhang“ sie noch vor wenigen Jahren von alldem hermetisch ausgeschlossen hatte. Allgemein ging mir die in Kaliningrad und Umgebung überall spürbare morbide Mischung aus verwitternder deutscher Kultur und russischer Gegenwart nahe. Etwa wenn man auf den alten Königsberger Dom mit dem Kantgrab an seiner Seite und beinahe gleichzeitig auf die Goldtürme der riesigen orthodoxen Kirche Putins im Zentrum der Stadt blickte.26 Auf der alten Reichsstraße 1 bis Gumbinnen wurde einem die verbrecherische Hybris Hitlers bewußt, auf den Spuren Napoleons in die Weite Rußlands einzubrechen. Es gilt einzuhalten. Was bleibt in der Erinnerung von über sechs Jahrzehnten Beschäftigung mit Öffentlichem Recht im weiten Sinne? Haben sich die Anstrengungen gelohnt? Wie wohl die meisten Kollegen meiner Generation habe ich den Respekt vor dem Grundgesetz als der bislang gelungensten deutschen Verfassung zum Ausdruck zu bringen versucht.27 Ebenso den Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft Europas – weniger als „Vereinigte Staaten“ im Abklatsch der USA als zu einer dauerhaften Union eigener Prägung, die Frieden, Wohlstand und Rang des Kontinents in der heutigen Welt garantiert.28 International setze ich besonders auf eine sich allmählich vertraglich und justiziell verfestigende Ordnung der Weltwirtschaft als Speerspitze global akzeptierten und praktizierten Völkerrechts.29 Man hüte sich aber vor Illusionen über die Wirkkraft juristischer Publikationen. Von ganz wenigen Geniewürfen abgesehen sind sie wie Spuren im Sand, die eine Weile den Weg weisen, bevor sie allmählich verwehen. Eigentliche Chance akade  C. Palmer (Hrsg.), Europa in guter Verfassung – Erwin Teufel im Konvent, 2004.  Kaliningrad (Königsberg) – liegt hinter dem Ural? Sommereindrücke 2007 (Vortragsmanuskript). 27   Deutschland in guter Verfassung? 60 Jahre Grundgesetz, Juristenzeitung 2009, 481. 28   Wesen der Europäischen Union in: Ius Europaeum. Beiträge zur europäischen Einigung (Fn 9), 272. 29  Die neue Welthandelsorganisation – ein stabiles Regelwerk für weltweiten Freihandel? Europa-Archiv 1994, 195. 25

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mischer Tätigkeit ist auch und gerade in der Jurisprudenz nicht das beschriebene Papier, sondern die „Weitergabe des Feuers“ (Gustav Mahler) im Dialog mit den dem Lehrer anvertrauten jungen Menschen. Anteil am Erfolg ihres späteren Werdeganges erscheint mir wichtigster Lohn und Rechtfertigung der eigenen Bemühungen um das Recht.

Aus meinem Leben von

Prof. em. Daniel Thürer*, Universität Zürich „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Solange ich aber nur für mich selbst bin, was bin ich? Und: Wenn nicht jetzt, wann sonst?“1 „Bien entendu, rien n’est jamais aussi beau que dans nos souvernirs.“2

Eigentlich sollten wir mehr mit Blick auf die Zukunft schreiben als auf die Vergangenheit; mehr mit Blick auf das Allgemeine als auf die eigene Person, und eine Rechenschaft erst am Ende der Reise und nicht mittendrin versuchen; das entspricht meinem professionellen und republikanischen Ethos. Doch ich habe, aus irgendwelchen Gründen, Peter Häberle versprochen, im Jahrbuch des öffentlichen Rechts einen Artikel über mein (bisheriges) Leben zu schreiben, und Versprechen soll man loyal halten. So bitte ich die Leserin und den Leser, das Nachfolgende einfach als eine von möglichen Varianten der Darstellung eines Lebensverlaufs zu verstehen, wie er sich teils zufällig und teils geplant halt so ergeben hat: eine Erzählung, die berichten, unterhalten und relativieren soll und die mit ihrer Subjektivität und Ich-Lastigkeit naturgemäss nicht dazu angetan ist, destruktiv zu verkleinern, was für andere Ansporn sein könnte.3

  Prof. em. der Universität Zürich, Dr.iur. Dr.rer.publ.h.c., LL.M. (Cambridge).   Sprüche der Väter (Pirqe Avot), 1, 14. Der im Talmud enthaltene Spruch stammt von Rabbi Hillel dem Älteren aus der Zeit um Christi Geburt. Die Quelle verdanke ich Werner Kramer, emerit. Theologieprofessor an der Universität Zürich. 2   Tony Judt, Contre le vide moral, Paris 2011, S.  79. 3   Das Eigentliche, das ich zu sagen habe oder zumindest sagen will, steht in meinen Schriften und findet im vorliegenden Aufsatz nur am Rande Ausdruck. * 1

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Jugendjahre Wer man ist und was man geworden ist, hängt auch von Ort und Gegend ab, in denen man aufgewachsen ist; vor allem aber von der Familie, in der man erzogen wurde, und vom menschlichen Umfeld, das einen geprägt hat. Es sei nun versucht, gleichsam als „Beobachter“ seiner selbst dazu einige Stichworte zu geben. Ich wurde am 6. Juni 1945 in St. Gallen geboren und bin in einem idyllischen Dorf im Appenzellerland aufgewachsen. Weiss bemalte Bürgerhäuser mit ihren geschwungenen Dächern, die dominierende Grubenmann-Kirche und die palastähnlichen Gemeinde- und Schulhäuser, die den Dorf kern bildeten, standen inmitten einer weitgehend unversehrten, durch bäuerliche Streusiedlung geprägten Landschaft. Auf deren Hintergrund zeichnete sich als Kulisse das Alpsteinmassiv ab, in dem ich in meinen Jugendjahren viele unvergessliche Wander- und Klettertouren unternahm. Wir wohnten in der sog. „Villa Roth“, einem herrschaftlich angelegten, nach Plänen des bekannten Architekten Felix Wilhelm Kubli konzipierten und von einem grossen Park umgebenen Haus. Das Gebäude mit seiner prächtigen Gartenanlage war von Landammann und Ständerat Dr. Johannes Roth (1812–1870) erbaut und in der Folge von Dr. Arnold Roth (1836–1904) bewohnt worden, der ebenfalls Landammann und Ständerat war. Vater und Sohn Roth waren Urheber und Gestalter der Appenzell-Ausserrhodischen Kantonsverfassungen von 1838 und 18774. Arnold Roth war während 27 Jahren als „Minister“ der diplomatische Vertreter der Schweiz im Deutschen Kaiserreich in Berlin und Vertreter der Schweiz bei der Haager Friedenskonferenz von 1899.5 Die Villa Roth wurde dann vom Grossvater meiner Mutter, Regierungsrat und Oberrichter Johannes Tobler-Grubenmann, gekauft, und das ist der Grund, weshalb ich dort, zusammen mit drei Geschwistern, meinen Grosseltern und einem Onkel sowie Angestellten aufgewachsen bin. Mein Vater entstammte einer Bündner Familie, die im 19. Jahrhundert grossenteils in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, sodass heute in Amerika wohl mehr Menschen unseren Familiennamen tragen als in der Schweiz. Der Vater meines Vaters, unser „Neni“, hatte in Zürich, Basel, Heidelberg, Berlin, Florenz und Rom Theologie studiert und amtete dann als protestantischer Pfarrer zunächst in den Bündner Gemeinden Davos-Monstein und Tamins und schliesslich im glarnerischen Netstal. Er war ein nüchterner „no nonsense“-Mann, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Realitäten stand und der sich für seine akribischen, ausgedehnten geschichtlichen Forschungen mindestens ebenso stark engagierte wie für das Pfarramt, dessen seelsorgerische Arbeit er vor allem seiner gemütvollen und in der Gemeinde beliebten, ebenfalls aus dem Bündnerland stammenden Frau überliess.6 Mein Vater   Johannes Roth wurde für sein juristisches Wirken von der Universität Zürich mit dem Ehrendoktortitel ausgezeichnet. 5   Zum Ganzen vgl. Georg Thürer, Johannes und Arnold Roth – Zwei Appenzeller Staatsmänner, Teufen 1981; Hanspeter Spörri, Der Staat – Selbstportrait der Bürgerinnen und Bürger, in: Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft (Hrsg.), Appenzeller Jahrbücher, Heft 139, 2012, S.  11 ff. Roth wurde, nachdem ihn der gemässigte Zürcher Gelehrte Johann Caspar Bluntschli in Teufen besucht hatte, als „Jesuitenfreund“ verschrien, was ihm vorübergehend das Amt des Landammanns kostete. 6   Für seine historische Arbeit wurde mein Grossvater von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich mit dem Ehrendoktorat ausgezeichnet. Zu seinem Leben vgl. Paul Thürer, Damals in Mon4

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(1908–2000), Historiker und Germanist, war zunächst an den Gymnasien Biel und St. Gallen tätig und wurde dann schon in frühen Jahren Professor an der Hochschule St. Gallen (heute: Universität St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften). Er war ein sehr vielseitiger und schöpferischer Mensch: er verfasste, in narrativem Stil und für eine breite Leserschaft geschrieben, eine zweibändige „St. Galler Geschichte“ mit dem bezeichnenden Untertitel „Kultur, Staatsleben und Wirtschaft in Kanton und Stadt St. Gallen von der Urzeit bis zur Gegenwart“7. Er schrieb aber, frisch aus dem Leben heraus, auch Erzählungen, Gedichte und Aphorismen in Dialekt und Schriftsprache und (zum Teil vertonte) Volksspiele für grosse Jubiläen wie zum Beispiel Feiern für den Beitritt der Stadt St. Gallen als Zugewandter Ort zur Eidgenossenschaft vor 500 Jahren oder die 150-jährige Zugehörigkeit des Kantons St. Gallens zur Eidgenossenschaft.8 Schon frühzeitig hatte er sich entschieden gegen den Nationalsozialismus zur Wehr gesetzt. In einer Matura-Rede am Gymnasium Biel, die in der Folge in einer sozialdemokratischen Zeitung in vollem Wortlaut abgedruckt wurde, hatte er klar und deutlich gegen die Frontisten Stellung bezogen, und in dem 1935 verfassten Vorwort zu seiner Dissertation ist zu lesen: „(D)er Staatsgedanke der Herrschaft eines einzelnen eroberte im Gewande der Diktatur unsere eben noch republikanische Nachbarschaft zurück. Die Schweiz wird heute geistig belagert. Dieses Buch (.  .  .) wurde mit der Bürgerüberzeugung ausgearbeitet, dass es heute nötiger denn je sei, im tiefsten Sinne Schweizer zu bleiben und unsere freie genossenschaftliche Staatsform erforschen, vertreten und verkörpern zu helfen.“9

Mein Vater hatte in jener Zeit bis zur Erschöpfung Vorträge gegen den totalitären Geist und zur Stärkung des Widerstandes gehalten, was ihm mitunter eine (in der Folge abgewiesene) Klage vor Bundesgericht wegen Beleidigung des „Führers“ eintrug. Unmittelbar nach Kriegsende und auch inspiriert durch seinen St. Galler Kollegen und Freund, den Staatsrechtler Hans Nawiasky, war er Mitbegründer eines von 1945–1949 tätigen humanitären Hilfswerks von St. Gallen für München, das zu Hilfeleistungen vor Ort mitten in der kriegszerstörten Stadt und zu Begegnungen mit Kardinal Faulhaber und dem Landesbischof Meiser der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern führte.10,11

stein: Wie ein Bündner Bauernbub zum „Skipfarrer“ wurde – Erinnerungen 1878–1906, hrsg. von Andrea Mittelholzer und Thomas Gadmer, Zürich 2006. 7  Der erste Band (641 Seiten) erschien 1953 – Bundespräsident Karl Kobelt hatte, anlässlich der 150-jährigen Zugehörigkeit St. Gallens zum Bund ein Vorwort geschrieben; der (aus zwei Halbbänden bestehende) zweite Halbband (1006 Seiten) erschien 1972. 8   Mein Vater war weitherum bekannt. Dietrich Schindler schrieb uns unlängst: „Ich erinnere mich an den Tod Eures Vaters und Schwiegervaters. Als wir Ende September 2000 durch Teufen fuhren, um an der Hochzeit einer Nichte in Hundwil teilzunehmen, nahm im gleichen Moment die Trauerfeier für Euren Vater ihren Anfang. Eine grosse Zahl schwarz gekleideter Menschen strömten der Kirche zu. Wir waren von diesem Anblick tief beeindruckt und blieben in Gedanken längere Zeit stehen . . .“. 9   Georg Thürer, Kultur des Alten Landes Glarus – Studie des Lebens einer eidgenössischen Demokratie im 16. Jahrhundert, Glarus 1936, S.  III. 10   Vgl. Georg Thürer, Das St. Galler Hilfswerk für München, in: Eidgenössische Erinnerungen, St. Gallen 1989, S.  76–86. 11   Anlässlich der Feier des 60. Geburtstags meines Vaters sagte Karl Schmid: „Der kleine Staat, dem wir angehören .  .  . steht und fällt mit der .  .  . Überzeugung: derjenigen, der leichter arbeitet und mehr

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Die Familie mütterlicherseits hatte ein anderes, mehr weltläufiges Gepräge. Mein Grossvater, war – ebenfalls mit bäuerlichem Hintergrund – Stickereifabrikant. Er lebte, für sein Geschäft, mehr als zehn Jahre in Paris, war sehr musikalisch und, im Umkreis St. Gallens, einer der ersten Besitzer eines Autos, mit dem er unter abenteuerlichen Umständen über die Alpenpässe und bis in die französische Hauptstadt fuhr. Im Militär bekleidete er den Rang eines Majors. Seiner Familie entstammten auch zwei homöopathisch ausgebildete Ärzte, von denen einer Nationalrat bei der Demokratischen Partei war. Besonders stolz bin ich, dass der geniale Baumeister Hans Ulrich Grubenmann (1709–1783) der Familie angehörte, der weit herum prächtige Kirchen und Bürgerhäuser errichtete und in Schaff hausen die damals längste Brücke der Welt gebaut haben soll; es wurde ihm vor wenigen Jahren – die grösste Ehre, die dem Bürger der Republik widerfahren kann! – eine Sondermarke der Eidgenössischen Post gewidmet. Meine Grossmutter entstammte einer Familie aus dem (österreichischen) Vorarlberg, die im Zuge des damaligen (dem kalifornischen Goldrausch vergleichbaren) Booms der Textilindustrie in die Ostschweiz zog und dort schnell zu Wohlstand und Ansehen gelangte.12 Sie brachte das katholische Element in unsere Familie; die Ehe mit meinem ur-reformierten Grossvater wurde in der (barocken) Klosterkirche St. Gallen geschlossen. Meine Mutter (1919–2013) besuchte, ein Vierteljahrhundert vor mir, und zum Teil bei denselben Lehrern wie ich, das Gymnasium in St. Gallen und bestand dort die Matura. Sie wurde – wie ihre eigene Mutter – eine gediegene „Dame“ und schien sich, in Stil und geistiger Ausrichtung, immer mehr auf ihre österreichischen Wurzeln zu besinnen, auch wenn sie immer klar betont, Schweizerin zu sein und nichts Anderes sein zu wollen. Mit meinem Bruder Andreas und meinen zwei Schwestern Barbara und Annina verlebte ich eine harmonische Jugend in Teufen. Meine Eltern übernahmen in Gemeinde und Kirche verschiedene Ämter, und ich war – vielleicht als eine Art „Kompensation“ für das grosse Elternhaus – als Ausläufer der Lokalzeitung und einer Bäckerei und als Pfadfinderführer engagiert. Viele schöne Erlebnisse aus meiner Jugend bleiben mir in Erinnerung, so zum Beispiel, dass mein Vater mit mir in der Primarschulzeit eine Reise in die Romandie unternahm, wobei jedem welschen Kanton – Neuenburg, Waadt, Genf, Wallis und Freiburg – ein Tag gewidmet war und ich meine Eindrücke in einem Bericht zusammenfassen musste; Ziel der Reise war es, Neugier und Grundsympathien für Kultur und Landschaft und für Mitbürgerinnen und Mitbürger zu wecken, die einer anderen Sprachkultur angehörten, aber den politischen Grundkonsens des Landes teilten. Meine Adoleszenz verlief einigermassen stürmisch. Der Dorfpfarrer drohte anlässlich eines Hausbesuchs bei meinen Eltern an, mich nicht zu konfirmieren, weil ich mich weigerte, die als veraltet und „trist“ empfundenen Choräle auswendig zu lerkann als der Durchschnitt, müsse ein mehreres tun für die Republik.“ In: Thomas Sprecher, Karl Schmid (1907–1974) – Ein Schweizer Citoyen, Zürich 2013, S.  335. 12   St. Gallen war das Zentrum der schweizerischen Stickereiindustrie. Der Aussenhandel mit Stickereien zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand an der Spitze der schweizerischen Ausfuhr, übertraf also den Export von Uhren und Maschinen an Wert. Villen im Jugendstil mit klangvollen Namen wie „Atlantic“, „Union“, „Washington“ oder „Oceanic“ prägten das Stadtbild St. Gallens, in dessen Textilbereich meine Vorarlberger Familienangehörigen tätig waren. Zum Ganzen vgl. Georg Thürer, St. Galler Geschichte, Band  II, St. Gallen 1972, S.  451 ff.

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nen und weil ich das „Heidelberger Glaubensbekenntnis“ zurückwies, das ich als unverständlich, doktrinär, widersprüchlich, als mit seinem monotheistischen Anspruch autoritär und als Produkt einer fremden, grausamen, vergangenen Zeit empfand. An der Kantonsschule St. Gallen besuchte ich das altsprachliche Gymnasium. Ich war ein guter Schüler, aber es haperte in unserer Klasse, die bereits den 68er Geist vorwegnahm, und auch bei mir an Disziplin, sodass ein oder zwei Jahre vor der Matura der Abteilungsvorsteher meinem Vater zu dessen Entsetzen erklärte, die Schulleitung würde gegen mich, wenn sich mein Betragen nicht unverzüglich verbessere, das „concilium abeundi“ aussprechen.13 Geprägt wurde ich von zum Teil guten, gelehrten und engagierten Lehrern, aber wohl stärker auch von meinen Kollegen in einem „Philosophenclub“, wo mir der Name „Dämon“ gegeben wurde, und der politisch-liberal ausgerichteten Schülerverbindung Zofingia, wo ich „Micky“ hiess und die mir auf elegante Weise die Emanzipation von meinem (durchaus geliebten) Elternhaus ermöglichte. Auch an die St. Galler Kantonsschulzeit, wo ich einer reinen „Griechenklasse“ angehörte, habe ich viele gute Erinnerungen. Ein Nachteil war allerdings, dass am sog. Humanistischen Gymnasium aus einer gewissen Bildungssüffisanz heraus das Englische vernachlässigt wurde. Noch heute bin ich meiner Mutter dankbar, dass sie nach der Matura darauf drängte, dass ich zwei Mal einen Sprachkurs in England absolvierte – den einen in einer kleinen Privatschule in der Nähe von Oxford und den andern an einem Sprachzentrum in London. Insgesamt wurde ich mit mehr oder weniger Erfolg in meiner strengen und moralisch inspirierten Familie dazu erzogen, hohe Ansprüche an mich zu stellen, stets das Best-Mögliche anzustreben und die Pflicht über das Vergnügen zu stellen, wo immer ich mich befinde.

Studienjahre Dass ich in der Folge Rechtswissenschaft studierte, war nicht selbstverständlich. Ich hatte mich auch für Philosophie, Geschichte und Soziologie sowie für Biologie und Medizin interessiert. Letztlich gaben wohl zwei Vorbilder in der Familie – ein Cousin meiner Mutter, der Rechtsanwalt in St. Gallen war, und ein Bruder meines Vaters, der als Oberrichter in Zürich amtete – den Ausschlag für den Entscheid, es einmal mit „Jus“ zu probieren. Dass ich Zürich als Studienort wählte, hatte keine tieferen Gründe; es war dies einfach der Ort, wo – an der Universität und an der ETH – die meisten meiner Kollegen studierten. Ich stiess dort auf imponierende Lehrer – im öffentlichen Recht etwa die Professoren Werner Kägi, Hans Nef und Dietrich Schindler (jun.), die auch in der weiteren Öffentlichkeit vor allem wegen Artikeln, die sie in der „Neuen Zürcher Zeitung“ publizierten, bekannt waren. Kägi unterrichtete, stark ethisch engagiert, das „Allgemeine Staatsrecht“, Nef – positivistisch, liberal und humorvoll – das Bundesstaatsrecht und Schindler – ein kultivierter, 13   Wegen des schlechten Betragens erlangte ich an der Schule auch eine gewisse Berühmtheit; jedenfalls begrüsste mich der Italienischlehrer in der ersten Stunde mit dem (zweideutigen) Ausruf „Ecco il famoso!“

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eher pragmatisch orientierter Gelehrter – damals das Bundesverwaltungsrecht und humanitäres Völkerrecht. In meinen ersten Studienjahren engagierten wir uns in Arbeitsgruppen für die Beantwortung von Fragen, welche von der „Kommission Wahlen“ zur Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung verschiedenen Institutionen, darunter eben auch dass Universitäten, zur Vernehmlassung zugestellt wurden. In meiner Arbeitsgruppe setzte sich, als Student, der spätere Bundesrat Moritz Leuenberger für eine Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts auf Bundesebene ein, während ich für eine Verankerung der Rolle der Gemeinden in die Bundesverfassung plädierte; wir wurden vom vorsitzenden Professor aber belehrt, das widerspreche der Bundesverfassung, wobei wir freilich glaubten, eine Totalrevision der Bundesverfassung sei gerade dazu gedacht, vom (an der Universität gelehrten) geltenden Recht abzuweichen und über neue Formen der Rechts- und Staatsgestaltung zu reflektieren. Das „Unternehmen Totalrevision“ war vom (aus St. Gallen stammenden) Basler Professor Max Imboden angeregt worden, der zusammen mit seinen Studenten die kühne Idee hatte, in einem Büchlein über „Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte“ das Projekt einer neuen schweizerischen Verfassung zu lancieren; schon im Gymnasium hatte ich von dieser Idee gehört, die mich faszinierte. Meine Studienzeit in Zürich fiel in die aufregende 68er Zeit mit dem „Prager Frühling“, Marcuses „Repressiver Toleranz“ und der studentischen Forderung eines „Marschs durch die Institutionen“, die auch – von Paris bis Berlin und Berkeley – vor den universitären Traditionen, Hierarchien und Curricula nicht Halt machte. Revolutionäre Ideen und Doktrinen, wie sie in „Sit-Ins“ und Demonstrationen lautstark verkündet wurden, hatten eine faszinierende Kraft. Man schwankte zwischen Verbundenheit mit der Tradition und der Anziehungskraft der Utopie (dies im eigentlichen Sinn, weil eine gewaltfreie, ungebundene Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellten, nirgendwo bestand). Ich politisierte damals im ideologisch gespaltenen Vorstand des „Schweizerischen Liberalen Studentenverbands“, wobei ich schliesslich eine reformerische und nicht revolutionäre Richtung verfolgte.14 Entscheidend für diese Einstellung war – für die schweizerischen Verhältnisse vielleicht bezeichnend – dass die Festlegung meiner politischen Haltung in meiner Wohngemeinde erfolgte: als Mitglieder einer radikal gesinnten Gruppe – es waren dies Studenten verschiedener Universitäten – wollten wir mit gezielten Vorstössen an der in der Dorf kirche abgehaltenen Gemeindeversammlung das Gemeinde-“Establishment“ unterminieren und vor allem den Gemeindepräsidenten „entlarven“, einen einflussreichen Fabrikanten, der in der gängigen Ideologie als Inbegriff der versteckten, strukturell-verborgenen, manipulierenden Unterdrückung des arbeitenden Volkes erschien. Die Freundlichkeit und konstruktive Offenheit, welche die Mitbürger unserer Kritik entgegenbrachten, kam uns ungelegen und hatte eine ernüchternde, entwaffnende Wirkung auf unsere hochfliegenden, aber zum Teil auch naiv-arroganten Vorstellungen von einer besseren Welt. Die Gemeindeversammlung zu Hause wie wohl auch meine spätere, mehrmonatige Arbeit in einem israelischen 14   Mein Leben lang verfolgte ich eine ähnliche, gemässigte politische Linie, während kommunistisch-radikal gesinnte Altersgenossen später plötzlich – welch Wendehälse! – ebenso lautstark als Kapitalisten in Erscheinung traten.

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Kibbuz, in dem auf hohem intellektuellem Niveau mit alternativen Gesellschaftsformen experimentiert wurde, haben meine Staats- und Gesellschaftsvorstellungen praktisch ebenso geprägt wie viele Staatslehren, mit denen ich mich später wissenschaftlich befasste. Insgesamt kann ich auf eine glückliche Studienzeit zurückblicken. Glücklich auch, weil wir einer Generation angehörten, die unbekümmert durch berufliche Zukunftsaussichten eine Lebensphase relativ frei, wenn auch mit bescheidenen finanziellen Mitteln gestalten konnte. Heute kann ich auch sagen, dass ich über die Wahl meines Studienfachs insofern glücklich war, als es mir und meinen Freunden gestattete, auch anderen Interessen nachzugehen und oft mehr Zeit in den Alpen als in den Hörsälen zu verbringen. Auf der Haute Route oder bei der Besteigung des Mont Blanc und einer Anzahl anderer Viertausender, den Skitouren im Aostatal, im Wallis, Urner-, Bündner- und Glarnerland, im Berner Oberland und in Frankreich und Österreich hatten wir – Kollegen aus verschiedenen Fachgebieten, Hochschulen und Ländern – in unseren unendlichen und hitzigen Diskussionen (wir nannten uns – etwas hochgestochen – „Philosophen“) vielleicht mehr, auf jeden Fall anderes gelernt, als wenn wir diese Zeit in unseren Bibliotheken und Laboratorien verbracht hätten. Nach Abschuss meines Lizentiats (summa cum laude) bestand ich Prüfungen in Betriebswirtschaftslehre und Bilanzführung an der Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (HSG) und begab ich mich an die Universität Genf, um dort eine Dissertation an die Hand zu nehmen.

British Council Scholar in Cambridge Als ich mich in den Lizentiatsprüfungen der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät befand, stiess ich – in der Eingangshalle der Universität Zürich – auf einen Aushang des British Council mit der Anzeige von Bewerbungsmöglichkeiten für Post Graduate Studien in England. Das reizte mich. Ein Professor unserer Fakultät, den ich um Rat fragte, empfahl mir, dort eine Doktorarbeit zu schreiben zum Thema „Sachrechtliche und obligationenrechtliche Elemente in feudalistischen Miet- bzw. Pachtverträgen zwischen Landlord und Tenant im England des ausgehenden Hochmittelalters“. Auf Grund des so umschriebenen Ph.D.-Projekts (das mich keineswegs begeisterte) wurde mir, nach einem Interview bei dem für die Schweiz zuständigen „British Council Representative“ und seinen Beratern, eine grosszügig bemessene Scholarship des British Council für die Universität Cambridge zugesprochen, was ich erfuhr, als ich bereits an die Universität Genf umgesiedelt war. So zog ich weiter nach England, wo mir von 1972–1974 Cambridge und das Darwin College zur zweiten Heimat wurden. Mir begegnete ein Land, dessen insulares, vom „Continent“ distanziertes Selbstverständnis, aber auch Spuren eines mächtigen und reichen Empire in Geisteshaltung und äusserem Erscheinungsbild noch klar sichtbar waren, das sich aber in tiefgreifendem Wandel befand. Ich wurde, als „Overseas Scholar“, am Bahnhof vom betagten „Porter“ Jack (der mich zunächst mit „Sir“ ansprach) abgeholt, der es sich nicht nehmen liess, mein Gepäck in die alte, schwarze College-Limousine zu schleppen; der Verwalter von Darwin College („Bursar“) hatte seinerzeit in Indien als Brigadier

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gedient; und eine ältere „Maid“ besorgte mein Zimmer. Das College war von Lady Darwin, der letzten Nachfahrin des Evolutionsforschers Charles Darwin und Angehörigen der angesehenen und reichen Wedgewood-Familie, der Universität zugeeignet worden. Das erste, was ich an der Universität Cambridge unternahm, war, das mir empfohlene Dissertationsthema, das mir missfiel, über Bord zu werfen. Ich wählte als Thema „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – mit einem Exkurs zur Jurafrage“, das mir schon früher der St. Galler Völkerrechtsprofessor Hans Haug ans Herz gelegt hatte. Später erzählte ich meinen Studenten diese Episode; dies nur, um ihnen Mut zu machen, selbstbewusst zu entscheiden, was für eine Arbeit sie an die Hand nehmen wollten und „nein“ zu sagen, wenn sie das sichere Gefühl hatten, am falschen Ort zu stehen. Professor Derek W. Bowett, President of Queens’ College, wurde als mein Supervisor bestimmt, der mich mit unglaublich rigiden Fristansetzungen in den neuen Forschungsrhythmus hineinpeitschte, dann aber Vertrauen zu mir fasste und meine Arbeit wohlwollend begleitete. Ich arbeitete vor allem in der Squire Law Library, einer ehrwürdig ausgestalteten, weiten, mit Büchern überfüllten Halle, die Elihu Lauterpacht in einer Biographie über seinen Vater Hersch Lauterpacht wie folgt umschrieb: „(T)he Squire Law Library .  .  . comprised the magnificent reading room in the upper part of the Cockerell Building, together with a smaller room at the side. Leading off the length of the main reading room were a number of small offices, their windows facing north over Senate House Passage and Gonville and Caius College.“15

Zu meinen Lehrern gehörten auch, neben dem eloquenten Elihu Lauterpacht, der souveräne und freundliche spätere Richter am Internationalen Gerichtshof Robert Y. Jennings und der ursprünglich aus Berlin stammende Kurt Lipstein, der als einer der Ersten in England, in gut-kontinentaler Manier, Europarecht lehrte. Er schien in seinem kleinen, mit Büchern und Dokumenten voll gestopften Büro in der „Squire“ recht eigentlich zu Hause zu sein und hiess Absolventen immer herzlich willkommen, wenn sie später, vielfach mit ihren Familien, in den düsteren Gewölben der Library wieder auftauchten. Auch besuchte ich mit Begeisterung Vorlesungen über vergleichende Literatur von Prof. George Steiner, den ich als genial betrachtete; er sprach auch über neue Formen der Literatur wie Graffiti, war wie viele Professoren geistreich und innovativ und alles andere als „orthodox“. Es gehört zum Stil von Cambridge, dass das Studium nicht auf die Prüfungen ausgerichtet war; man ging davon aus, dass die Studenten sorgfältig ausgesucht worden seien und das Studium schon schaffen würden.16 So fuhr uns denn auch Prof. Clive Parry zornig an, wir sollten uns zum Teufel scheren, als sich eine Delegation von Postgraduate Studenten kurz vor den Examen in sein Office im Downing College begab, um uns nach dem genauen „Prüfungsstoff “ zu erkundigen; er sei kein „spoon feeder“, schrie er; er habe keinen Respekt vor Studenten unserer Stufe, die sich wie Schüler und Konsumenten verhielten, sagte er unserer Delegation verächtlich ins Gesicht. Man las halt in Cambridge und las und diskutierte und argumentierte und kannte keine standardisierten, abgestandenen Lehrbücher, keine Schemen   Elihu Lauterpacht, The Life of Hersch Lauterpacht, Cambridge 2010, S.  94.  Vgl. Tony Judt, Das Chalet der Erinnerungen, München 2012, S.  141/42.

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und keine öden Tafeln, sondern höchstens Sammlungen von „Fällen“ und „Materialien“ als Grundlage für die gemeinsame Besprechung (reasoning) mit Professoren, Dozenten und Tutoren, die oft einen scharfen, kritischen Ton hatten und meist nicht zu greif baren, „lernbaren“ Resultaten führten. Das gehörte zum – im guten Sinn – elitären Stil der Universität. Noch bis heute empfinde ich Aberwillen gegen eine letztlich unfruchtbare, nicht stufengerechte, über“pädagogische“ („pais“ heisst auf Griechisch „Kind“) Unterrichtsmethode17, wie sie an vielen unserer Universitäten betrieben wird. Und noch immer empfinde ich Achtung vor jenen Lehrern, die – ohne billig um die Gunst der Studenten und erst recht nicht der Medien zu buhlen – einfach sagten und taten, was ihnen als Wissenschaftern verantwortbar und richtig erschien. Schöne Erinnerungen verbinden mich mit meiner Studienzeit in England, den „dinners“ mit ihren „high“ und „low tables“, den lateinischen, in Rekordtempo heruntergehaspelten Gebeten, den (je nach akademischem Grad) mehr oder weniger prunkvollen „gowns“, dem Darwin College mit seinen Festivitäten und seinem weltoffenen Geist. Ich erinnere mich auch an die vielen „Punting“-Ausflüge nach Granchester, wo Lord Byron begraben ist, und in der The Orchard Inn Bilder von Aldous Huxley zu sehen waren, an meinen Weg zu den Vorlesungen, der am Studio von John Maynard Keynes vorbeiführte, und auch an die College Bar, der ich zeitweise vorstand, um so beim Ausschank von Lager Beer, Guiness und Whisky in gelöster Stimmung mein Englisch verbessern zu können; ich konnte dann später auf die Frage „Where did you learn your English?“ etwas missverständlich antworten: „in“ (nicht: „at“) the Bar. 1974 erhielt ich, nach Absolvierung der entsprechenden Prüfungen, den Titel eines „Bachelor of Laws“ der Universität Cambridge (LL. B. Cantab.), der später in einen LL. M. umgewandelt wurde, und im selben Jahr wurde ich „Dr. iuris utriusque“ der Universität Zürich (summa cum laude).

Referent am Max-Planck-Institut in Heidelberg Nach Abschluss der Dissertation war ich für ein gutes Jahr bei meinem Doktorvater Dietrich Schindler am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Universität Zürich tätig. Ich hatte die Chance, ihm bei der Erstellung von staats- und völkerrechtlichen Gutachten und wissenschaftlichen Arbeiten sowie im Unterricht an die Hand zu gehen. Ich hatte von seiner sachlich-kompetenten, zurückhaltenden Art viel gelernt. Doch schon zog es mich wieder ins Ausland. Ich lehnte das verlockende, sehr attraktive Angebot von Bundesrat Kurt Furgler ab, im Eidg. Justiz- und Polizeidepartement die Sektion Europarecht zu übernehmen, und interessierte mich für eine Stelle am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, obwohl es hiess, dass dort nur eine einzige Referentenstelle für Aus17   Das Wort „Unter-richt“ sagt Wesentliches aus über die traditionellen Lehrmethoden, die eigentlich in einer rege gewordenen, sich rasch wandelnden Welt durch freiere, dialektische Kommunikation und experimentierendes Denken gekennzeichnet sein sollte.

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länder bestünde. Trotz scheinbar geringen Aussichten für eine Anstellung begab ich mich im Frühling 1975 mit meiner Freundin (und späteren Frau) Susi für einen Wochenendausflug ins Neckartal und schaute bei dieser Gelegenheit dann auch, an der Berliner Strasse 48, beim besagten Institut vorbei. Der Zufall wollte es, dass – als ich nicht ohne Schwierigkeiten das Vorzimmer des Direktors mit einer etwas abweisend und barsch wirkenden Dame erreichte – die Türe zum Büro von Prof. Rudolf Bernhardt einen Spalt offen war, er die Stimme mit dem Schweizer Akzent hörte und mich zu sich rief. Direktor Bernhardt empfing mich sehr wohlwollend und eröffnete, dass eben die Stelle des Referenten aus dem Ausland frei geworden sei, und er bot mir an, diese anzutreten. Ich nahm an, und so erschloss sich für mich eine neue Welt: diejenige eines hochkarätigen rechtswissenschaftlichen Instituts mit seinen allwöchentlichen – bei den (unerbittlich auf Präzision „gedrillten“) Mitarbeitern gefürchteten, aber sehr ergiebigen – „Referentenbesprechungen“, für die mir grosszügigerweise die Berichtsgebiete „völkerrechtliche Kodifikationen“, „USA“ sowie „Australien und Neuseeland“ zugewiesen wurden. Auch konnte ich an mehreren internationalen Kolloquien mitwirken, was ich als sehr bereichernd empfand. Die Arbeit am Institut war durch hohe, solide Fachkompetenz der Mitarbeiter (meist Habilitanden) gekennzeichnet, auch wenn ich die durch exakte Registrierung rechtlicher Daten gekennzeichnete „Heidelberger Methode“ gelegentlich als zu sehr empirisch und positivistisch empfand und ich einen mehr experimentierenden und „philosophisch-spekulativen“ Geist vermisste. Erstaunlich ist im Rückblick, dass damals – in den siebziger Jahren – am Institut (wie auch etwa in der Schweiz) von den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs kaum je die Rede war, als hätte, in der Geschichte vergessen, ein nicht weiter ergründbares, zu ignorierendes Loch geklafft. Inhaltlich überzeugte mich der Ernst, welcher – auch dank enger Beziehungen zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe – dem Grundgesetz entgegengebracht wurde. Oft hatte man den Eindruck, die Verfassung erscheine in Deutschland wie der „Himmel auf Erden“ (Sebastian Haffner), zumindest wie eine Art Abglanz der Philosophie des Königberger Philosophen Immanuel Kant. Insgesamt ist es gewiss so, dass viele Länder von der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsrechtsprechung, aber auch von dem für Deutschland so kennzeichnenden „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger) viel lernen konnten. Gerade in der Schweiz wurde das deutsche Grundgesetz im Zuge der Erarbeitung der neuen Bundesverfassung von 1999, an der ich im Rahmen einer von Bundesrat Arnold Koller ernannten Expertenkommission mitwirken durfte, zu einer wichtigen Inspirationsquelle und hatte gelegentlich Massstabscharakter. Zusehends bin ich auch überzeugt, dass gerade die direkte Demokratie, zur Sicherung von Rationalität des politischen Handelns zum Schutz von Minderheiten, einer stärkeren Einbindung in den übergeordneten Verfassungsrahmen bedarf. Die Institutsdirektoren (Hermann Mosler, Rudolf Bernhardt, Helmut Steinberger und Karl Doehring) waren eindrückliche Gelehrte mit verschiedenen Temperamenten, und sie waren sehr offen und gastfreundlich. Mit den Mitarbeitern ergaben sich oft bleibende Freundschaften. Der Zufall wollte es auch, dass ich eines Tages im Treppenhaus des Instituts Professor Pierre Pescatore (Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg) begegnete, der mich – statt sich zu einem Nachtessen des

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Instituts-Kuratoriums zu begeben – zu einer Pizza in der Altstadt einlud. Jener Abend bleibt für mich unvergesslich. Pescatore war eine faszinierende, gebildete, für die „europäische Sache“ leidenschaftlich engagierte Persönlichkeit, die mich in der Folge stark geprägt hat. Er entfachte in mir eine (bis dahin nicht vorhandene) Leidenschaft für Fragen der europäischen Integration. Er wurde nicht nur eine Art Mentor für mich, sondern später auch hilfreich und mit seiner Autorität massgebend für die Gründung des Europa Instituts Zürich. Auch Heidelberg wurde zu einer Art Heimat für mich. Es war eine interessante Fügung, dass Susi und ich an der Hirschgasse wahrscheinlich im gleichen Haus wohnten wie anfangs des Jahrhunderts mein Grossvater als Theologiestudent.

Harvard Law School Es folgte, nach gut zwei Jahren, Harvard. Mein Heidelberger Institutskollege und -freund Rudolf Dolzer, der soeben an der Harvard Law School den S. J. D. erworben hatte, brachte mich auf den Gedanken, nach Massachusetts weiter zu ziehen, um dort meine Habilitationsschrift voranzutreiben. Das Projekt befasste sich mit dem Thema „Bund und Gemeinde – Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu den unmittelbaren Beziehungen zwischen Bund und Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz“. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützte einen Forschungsaufenthalt als „visiting scholar“ an der Harvard Law School, der von 1979 bis 1981 dauerte. Die USA kannte ich schon von einer mehrmonatigen Reise, die ich vor Jahren mit Greyhound-Bussen quer durchs Land unternommen hatte, und von vielfältigen familiären Beziehungen her. Die Welt, die sich für mich in Harvard auftat, prägte mich aber doch persönlich und intellektuell in tiefgreifender Weise. Ich war mit der Vorstellung nach Boston gezogen, Harvard sei eine elitäre, konservative Institution des WASP-Establishments an der Ostküste. Die Universität, die ich erlebte („veritas“ stand über dem Eingangstor und wurde von Studenten mit „vanitas“ überschrieben), war ganz anders. Harvard war gewiss elitär, aber in dem klassisch-akademischen und ambitiösen Sinne, dass dort, wie auch in anderen Ivy League-Universitäten, nur die (in einem meritokratischen Sinne) besten Leute lehren und lernen sollten. Und von einer provinziell allein oder vorwiegend auf einen kleinen Teil Amerikas ausgerichteten, traditionserstarrten Institution war überhaupt nicht die Rede. Vielmehr pulsierte in Harvard das Leben mit Menschen und Themen aus der ganzen Welt, und die geistige Ausrichtung war mehr kritisch-progressiv als historisch-bewahrend. Es war dies ja, an der Law School, die Zeit der Hochblüte der „critical legal studies“. Über Harvard schien die Philosophie zu walten, die seinerzeit Henry David Thoreau, als er sich nach seinem Studium in Harvard in die Einsamkeit des Walden Pond zurückgezogen hatte, mit folgenden Worten ausdrückte: „If you are acquainted with the principle, what do you care for a myriad instances and applications? To a philosopher all wens, as it is called, is gossip, and they who edit and read it are old women over tea.“18   Henry David Thoreau, Where I lived and and what I lived for, Boston 1854, S.  72.

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Es waren verschiedene Dinge, die mich an Harvard inspirierten und bis auf den heutigen Tag faszinieren: der offene, neugierige, experimentierende, am Grundsätzlichen orientierte „Geist“, aber auch der erzieherische Einsatz der Professoren für Studenten und Unterricht, das Interesse für jeden und jede der Studierenden, die ihre Klasse besuchten. Wohl war es die seinerzeit in Harvard von Dean Langdell ins Leben gerufene „sokratische“, d. h. auf dem Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden beruhende Methode, die den „class room enthusiasm“ schuf, von der schon Oliver Wendell Holmes als einer der berühmtesten Absolventen und Professoren der Schule gesprochen hatte; die Professoren lehrten „in a great manner“, hätte Holmes ebenfalls gesagt. Die Studenten sollten zunächst in den Grundfächern „handwerklich“ geschult und diszipliniert werden „to think like a lawyer“, dann aber – in späteren Abschnitten der Ausbildung – grosse Freiheit in der Wahl von Fächern ohne die geringste Erwartung enzyklopädischer „Vollständigkeit“ besitzen. Auch wurde von Rechtswissenschaft und Rechtsausbildung ein hohes professionelles Engagement gefordert. Was mich in Harvard vor allem beeindruckte, war die Galaxie brillanter Professoren (und Studenten). Noch heute stehen viele der damaligen Lehrer vor meinen Augen: so etwa der Gentleman und Zyniker Richard Baxter, damals Mitglied des Internationalen Gerichthofs, der in seinem Office hinter Bergen von Dokumenten verborgene, gütige und allwissende Völkerrechtler Louis B. Sohn, der streitbare und eloquente Verfassungsrechtler Lawrence Tribe oder der vielseitige, zwischen den Disziplinen agierende Detlev F. Vagts. Vor allem beeindruckte mich der junge Rechtsphilosoph Roberto M. Unger. Er entfaltete Visionen fundamentaler Neugestaltungen der Gesellschaft, wie er sie – so berichtete er – in Kooperativen seines Heimatlandes Brasiliens mitgestaltete. Seine Vorlesungen waren wie Musik. Und auch die folgende Begebenheit bleibt für mich, als typische Erinnerung an Harvard, unvergesslich. An der School of Government lehrte der berühmte Rechtsphilosoph John Rawls. Gerne hätte ich den Menschen kennen gelernt, der hinter dem Werk „A Theory of Justice“ stand, das ich verschlungen hatte, und der in Lexington, ganz in der Nähe von mir wohnte. So fasste ich eines Tages Mut und beschloss, Prof. Rawls zu Hause anzurufen. Er war zunächst erstaunt, denn ich gehörte nicht zu den Studenten, die in seinen Kursen eingeschrieben waren. Rawls wollte mich aber schon am nächsten Tag sehen; er habe – sagte er – gehört, dass junge Bürger in der Schweiz ein Tabu des politischen Establishment herausforderten, indem sie auf dem Wege einer Volksinitiative die Abschaffung der schweizerischen Armee verlangten. Es kam zu einer für mich unvergesslichen Diskussion in einem Café auf dem Campus, in der John Rawls von einem hergereisten Scholar ohne einen bedeutenden akademischen Status über Formen möglicher „Dialoge des Volkes mit sich selbst“ lernen wollte. Cambridge Massachusetts mit seinem globalen Geist und seiner Vielfalt intellektueller Zirkel und Bewegungen, mit dem Harvard Square mit seinem legendären Kiosk, in den sich frühmorgens die Schweizer Studenten stürzten, um eines der wenigen NZZ-Exemplare zu erwerben, die Umgebung von Cape Cod bis Concord mit dem nahe gelegenen „Walden Pond“ et cetera gehören zu den schönsten Erinnerungen und Erfahrungen in meinem Leben. Dreimal bin ich denn auch in der Folge mit meiner Familie nach Cambridge und an die Law School zurückgekehrt. Zwei-

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mal mieteten wir ein wohnlich eingerichtetes Haus ganz in der Nähe des Campus. Harvard, in dessen Umfeld meine Kinder auch zur Schule gingen – unter anderem an der Divinity School, wo Susi zusammen mit anderen Müttern einen kooperativen Kindergarten organisierte – bedeutete uns allen sehr viel. An Harvard schloss sich später ein Urlaubssemester mit meiner Familie an der kalifornischen Universität Stanford an.

Universität Zürich Es folgten eine Amtstätigkeit als Rechtsberater des Regierungsrats des Kantons Aargau (1981–1983), zu der mir mein späterer Fakultätskollege Georg Müller verholfen hatte19, und nach Abschluss des Habilitationsverfahrens 1983 die Ernennung zum Professor an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und Verfassungsvergleichung.20 Meine Antrittsvorlesung befasste sich mit dem damals noch weitgehend neuen Thema „Soft Law – eine neue Form des Völkerrechts?“. Die Möglichkeit einer Berufung an die Berner Fakultät verfolgte ich, trotz Bemühungen von Prof. Peter Saladin, nicht weiter. Einem interessanten Ruf an die Hochschule St. Gallen für Wirtschaftund Sozialwissenschaften folgte ich nicht. Auch einem Ruf von Bundesrätin Elisabeth Kopp als Direktor des Bundesamtes für Justiz – so verlockend er war – leistete ich nach einigem Zögen keine Folge. 1989 wurde ich, nach dessen Emeritierung, Nachfolger von Prof. Dietrich Schindler. An der Universität Zürich versuchte ich es mit der „sokratischen“ Lehrmethode, die mich an der Harvard Law School begeistert hatte. Gerne dachte ich auch an meine Erfahrungen aus England zurück. So hatte ich es etwa als erfrischend empfunden, dass Lord Denning zur Zeit, als Professoren auf dem Kontinent akribische Theorien über Gesetzeslücken („echte“, „unechte“, „planwidrige Unvollständigkeit“ usw.) erdachten, in einem an Rechtsstudenten gerichteten Buch in frappanter Einfachheit festhielt: „Faced with glaring injustice, the judges are, it is said, impotent, incapable and sterile. Not so with us in this court. The literal method is now completely out of date. It has been replaced by the approach which Lord Diplock described as the ‚purposive approach‘ .  .  . In all cases now in the interpretation of statutes we adopt such a construction as will ‚promote the general legislative purpose‘ underlying the provision. It is no longer necessary for the judges to wring their hands and say: ‚There is nothing we can do about it‘. Whenever the strict interpretation of a statute gives rise to an absurd and unjust situation, the judges can and should use their good sense to remedy it – by reading words in, if necessary – so as to do what Parliament would have done, had they had the situation in mind.“21 19   Besonders prominente Juristen waren Rechtskonsulenten des Regierungsrates des Kantons Aargau bzw. standen dessen Rechtsdienst vor: ich nenne, neben Georg Müller, etwa den späteren Staatsrechtsprofessor an der Universität Basel Kurt Eichenberger oder die späteren Bundesrichter Hans Dubs und Adrian Hungerbühler. 20  Vgl. Andreas Kley, Geschichte des öffentliche Rechts in der Schweiz, Zürich/St. Gallen 2011, S.  532. 21   Lord Denning, The Discipline of Law, London 1979, S.  16.

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Und anstelle des dogmatischen Streits über die Drittwirkung von Grundrechten, der damals – selbst in der Schweiz – in Lehre und Praxis die Juristen-Gemüter erhitzte, hielt Lord Denning lapidar fest: „.  .  . It is important that the law itself should provide adequate and efficient remedies for abuse or misuse of power from whatever quarter it may come. No matter who it is – who is guilty of the abuse or misuse. Be it government, national or local. Be it trade unions. Be it the press. Be it management. Be it labour. Whoever it be, no matter how powerful, the law should provide a remedy for the abuse or misuse of power, else the oppressed will get to the point when they will stand no longer. They will find their own remedy. There will be anarchy.“22

An der Zürcher Fakultät führte ich, nach einem entsprechenden Kolloquium am Max-Planck-Institut in Heidelberg, für das ich den schweizerischen Landesbericht erstattete, zum ersten Mal „Ausländerrecht“ als Studienfach ein. Ich erstellte Skripten nach dem Vorbild der amerikanischen Case Books, wollte aber kein „Lehrbuch“ schreiben, da die Materie stark im Fluss und zum Teil sehr technisch war und ich ganz allgemein kein Freund von Lehrbüchern war; für mich hatte das „Buch“ einen höheren Stellenwert. Ich liebte die Lehre, vor allem Blockseminare, die ich meist zusammen mit Kollegen und Studenten anderer Disziplinen, Fakultäten und Universitäten regelmässig „extra muros“ durchführte: in den Alpen, in Genf, in Den Haag oder in Rom. Den Hauptakzent legte ich allerdings aufs Schreiben, und ich weiss nicht, welch tiefe Spuren mein Unterricht bei den Studenten hinterlassen hat. Könnte ich meinen Weg an der Universität nochmals beginnen, so würde ich der Lehre mehr Gewicht beimessen, denn die Schulung und Formung junger Talente ist doch die schönste, wirksamste und wichtigste Aufgabe, die ein Professor wahrnehmen kann. Zusammen mit und unter der Direktive von Prof. Walter Haller leitete ich im altehrwürdigen „Haus zum Rechberg“, einem der schönsten Rokokobauten Zürichs mit seiner prächtigen Ausstattung und seinem stilvoll angelegten, gepflegten Garten, das von einem Wiener Kollegen als „Palais“ bezeichnet wurde, für Jahre das Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht. Als Dekan (1998–2000) konnte ich auch Einfluss auf die organisatorische Gestaltung der Fakultät nehmen. In einer Kommission, der auch unsere so anregende und leider allzu früh verstorbene Römischrechtlerin Marie-Theres Fögen angehörte, erarbeiteten wir ein innovatives Leitbild, das die Fakultät im Jahr 2000 einstimmig annahm, und in Verhandlungen mit dem Kirchenratspräsidenten des Kantons Zürich, dessen Räulichkeiten sich wie unser Institut im „Rechberg“ befand, gelang es, die Promotionsfeier von der viel zu kleinen Aula der Universität ins Grossmünster zu verlegen, was dem Anlass eine besondere Würde verlieh. Eine Promotionsrede schloss ich mit einer Vision von Leland Stanford, dem Gründer der Stanford University, der gesagt haben soll, die Aufgabe der Universität sei es, junge Leute zu gebildeten Menschen zu erziehen; ein Studium der Literatur sei für die Ausbildung von Ingenieuren wichtiger als Statik, Imagination für zukünftige „business men“ bedeutsamer als Buchführung. In der Tat darf „in-tuition“ nicht durch blosse „tuiton“ verdrängt werden. Ich weiss allerdings nicht, wie viele Anwesende der Feier in Zürich solche Gedanken als besonders inspirierend empfanden.   Lord Denning, What Next in the Law, London 1982, S.  309 f.

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Einen Höhepunkt für unsere Fakultät und auch in meinem persönlichen Leben bildete, im Sommer 1992, die im Hinblick auf die damals erwartete Mitgliedschaft der Schweiz im Europäischen Wirtschaftsraum erfolgte Gründung des Europa Instituts Zürich. Eigentlich hatten wir in der Fakultät die Errichtung eines besonderen Lehrstuhls für Europarecht angestrebt. Als dann aber auf Seite des zuständigen Regierungsrats des Kantons Zürich keine Bereitschaft hierzu bestand, beschlossen einige Fakultätsmitglieder (Prof. Walter R. Schluep, Prof. Roger Zäch und Prof. Rolf H. Weber und ich) zusammen mit dem Verein Zürcherischer Rechtsanwälte kurzerhand, auf privatrechtlicher Basis ein Institut zu gründen. Das in der Folge von Prof. Andreas Kellerhals geleitete Institut – ein erfolgreiches Experiment und Modell privater Initiative – funktionierte in der Folge ausgezeichnet, ohne vom Staat finanziell abhängig zu sein. Für die Universität Zürich wurde ein Fokus, eine wirksame Öffnung nach aussen geschaffen. Professor Pierre Pescatore, der an der Eröffnungsfeier in der überfüllten Aula die Festansprache hielt, hatte uns, wie gesagt, bei der Planung und Ausgestaltung des Projekts wesentlich unterstützt.23 Gegen Ende meiner 27-jährigen Professur versuchte ich, als neues Fach „Transnationales Recht“ zu lancieren, das eine neuartige Kombination von traditionellen Fächern wie Völkerrecht, Europarecht, Internationalem Privatrecht und Rechtsvergleichung beinhalten würde. Eine solch neuartige Ausrichtung von Lehre und Forschung läge wohl auch im Geiste von Peter Häberle, der in seiner besonders kreativer Sichtweise stets bestrebt war, künstlich Separiertes zu verbinden und neu zu durchdenken, und sie würde vielleicht seine Unterstützung finden.24 Hoffen wir, dass das Projekt auf einen grünen Zweig kommt!

„Professeur valise“ Die Universität Zürich habe ich immer auch als Sprungbrett benutzt, um ausserhalb zu wirken. Dies war bereits zu einer Zeit der Fall, als die Professoren und Studenten noch viel weniger mobil waren als heute. Ich erwähne nur einige Stationen: An der Universität St. Gallen übernahm ich Lehrstuhlvertretungen im Völkerrecht und Staatsrecht (1983–85) und an der Universität Freiburg i.Ue. befasste ich mich mit Föderalismus und Gesetzgebungslehre (1986–1992). Herausfordernd war, während meinem Dekanat im Jahr 2000, eine Einladung als „Distinguished Visiting Professor“ an die Universität Hong Kong. 2005 lehrte ich am Collège de Bruges. 2006 hielt ich, zusammen mit dem Präsidenten des Internationalen Strafgerichtshofes, vor der Indian Society of International Law eine Key Note Speech in New Delhi. 2007 unterrichte ich an der Universität Genf über Diskriminierungsrecht und 2007 und 23   Zum Ganzen vgl. etwa Andreas Heinemann, Tobias Jaag, Andreas Kellerhals, Rolf H. Weber (Hrsg.), 20 Jahre Europa Institut an der Universität Zürich – Ein Beitrag zur Diskussion der Beziehungen Schweiz-EU, Zürich 2012. 24   Vgl. etwa Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. erw. Auflage, Baden-Baden 2011; ders., Europäische Rechtskultur, Baden-Baden 1994; ders., Die Verfassung des Pluralismus -Studien zur Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, Königstein 1989. Vgl. Daniel Thürer und Roman Bretschger, Rechtentwicklungen und Rechtsausbildung in Europa im 21. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 131 (2012), Heft 4, S.  343 ff.

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2008 an der Universität Posen über Minderheitenrecht. Als „professeur invité“ an der Universität Panthéon-Assas (Paris II) hielt ich 2008 eine Vorlesungsreihe über Grundideen und Grundprinzipien der europäischen Integration.  2008 war ich auch Gast am Lauterpacht Centre for International Law der Universität Cambridge. An der Haager Akademie für Internationales Recht führte ich 2008 während einer Woche und für einige hundert Studenten einen Kurs durch über „International Humanitarian Law: Theory and Practice“, und am Institut des droits de l’homme in Strassburg hielt ich ein Jahr später eine Vorlesung über beweisrechtliche Fragen bei der gerichtlichen Durchsetzung von Verboten der Rassendiskriminierung. Thema eines Seminars des europäischen Menschenrechtsinstituts von Venedig waren Fragen von Macht und Recht (ich behandelte hier unter anderem, ohne grosse Resonanz, Hitlers Rassenideologie anhand seines Buches „Mein Kampf “, das ich nur mit Schwierigkeiten auftreiben konnte). Eine Gastvorlesung an der Hebrew University in Jerusalem befasste sich mit dem Thema „Urbi et orbi: the Role of Local Government under International Law“. Ich war 2012 der erste Inhaber des „Swiss Chair for International Humanitarian Law“ an der Akademie für humanitäres Völkerrecht in Genf und war beeindruckt vom konstruktiven Geist und vom hohen professionellen Niveau der Studenten, die aus aller Welt kommend das Nachdiplomstudium in Genf absolvierten. An der Universität St. Gallen nahm ich einen Lehrauftrag über humanitäres Völkerrecht wahr. An der Universität „Roma Tre“ hielt ich eine Gastvorlesung zum humanitären Völkerrecht und an der Andrassy Universität in Budapest zum Thema „Die Schweiz – ein Modell für Europa?“ Verschiedentlich war ich auch für Weiterbildung der Europäischen Akademie in Bozen (EURAC) und CONVIVENZA in Zürich tätig. An den Universitäten Graz, an der Universita Autonoma in Madrid, den Universitäten Helsinki sowie Turku, den Universitäten Genf, Lausanne und Neuenburg und Basel und der Universität Giessen wirkte ich an Seminaren, Promotionen und Evaluationen mit. Während vieler Jahre war ich Mitglied der Zulassungskommission für den Diplomatischen Dienst des Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten. In Genf war ich 2012 Mitglied der „Commission Couchepin“ zur Überprüfung des Verhältnisses der verschiedenen universitären Institutionen und Programme im Bereich der internationalen Beziehungen.

Schwergewicht beim Schreiben Im Zentrum meiner beruflichen Tätigkeiten stand eigentlich, wie gesagt, immer das Schreiben. Bereits früh in meinem Leben hatte ich damit begonnen. Mein Grossvater väterlicherseits hatte schon 1961 in seinem Tagebuch festgehalten, dass ich als Gymnasiast einen (heute nicht mehr auffindbaren) Zeitungsartikel geschrieben hätte.25 25   In einem Eintrag vom 25. April (S.  457/58 der Transkription) heisst es: „Mein Enkel Daniel Thürer hatte letztes Jahr mit seinem Vater bei schönem Wetter die Landsgemeinde in Glarus besucht. Die Appenzeller Landsgemeinden kannte er schon. Nun machten ihm die vaterländischen Tagungen einen so tiefen Eindruck, dass er sie, obwohl noch nicht ganz 16 Jahre alt, in der Neuen Bündner Zeitung 1961 N.  97 beschrieb. Fürwahr, ein junger Zeitungsschreiber. Er ist auch ein sehr guter Gymnasiast und liebt besonders die griechische Sprache.“ Ob ich ein sehr guter Griechischschüler gewesen bin, weiss ich

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Im Ganzen hatte ich nach meiner Dissertation mehr als 400 Publikationen verfasst.26 Diese reichen von mehr ganzheitlich konzipierten Büchern über eine Vielzahl von Beiträgen in Zeitschriften, Sammelwerken und Festschriften bis zu Artikeln in Zeitungen. Im Zentrum stehen neben Doktorarbeit und Habilitationsschrift etwa das zusammen mit Thomas Buergenthal, (amerikanischer) Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag27, verfasste Buch über „Menschenrechte – Ideale, Instrumente, Institutionen“ (Zürich und Baden-Baden 2010), das mich und meinen Lehrstuhl während langer Zeit beschäftigte. Zurzeit bin ich mit einem Buchprojekt „Europe: Idées de base“ befasst, das in Ko-Autorschaft auf der Grundlage von Vorlesungen erarbeitet wird, die ich am „Institut des Hautes Etudes internationales“ der Université Panthéon – Assas (Paris II) erteilt hatte. Auch werde ich mich bald einer zweiten Auflage des Buches „International Humanitarian Law: Theory, Practice, Context“ zuwenden, das als erweiterte Fassung meiner Vorlesungen an der „Académie de droit international“ erstmals 2011 in Den Haag erschienen war; das Werk hat die Ambition, eine weite Sicht der Struktur und Einbettung des humanitären Völkerrechts zu vermitteln, die von den Menschenrechten bis zu Bezügen zu den Weltreligionen, der Weltwirtschaft und den systematischen Grundlagen des Völkerrechts reicht. Sodann war ich Mitherausgeber (und Verfasser verschiedener Einträge) der monumentalen, im Rahmen des Heidelberger Max-Planck-Instituts erarbeiteten und bei Oxford University Press erschienenen „Encyclopedia of Public International Law“ wie auch der „Schweizerischen Zeitschrift für internationales und europäisches Recht“, und noch immer gehöre ich den Redaktionskommissionen der „ Zeitschrift für Schweizerisches Recht“ und des „Archivs für Völkerrecht“ an. Viele meiner Abhandlungen erschienen in den Bänden „Perspektive Schweiz – Übergreifendes Verfassungsdenken als Herausforderung“ (Zürich 1998), „Kosmopolitisches Staatsrecht – Grundidee Gerechtigkeit, Band  1“ (Zürich und Berlin 2005) und „Völkerrecht als Fortschritt und Chance, Grundidee Gerechtigkeit, Band  2“ (Zürich und Baden-Baden 2009), und bald soll das Buch „Europa als Erfahrung und Experiment – Grundidee Gerechtigkeit, Band  3“ veröffentlicht werden. Alle diese Bände sind keineswegs nur lose Sammlungen früher, publizierter oder noch nicht publizierter Texte, sondern sind – je in ihrer Weise – im Hinblick auf eine zentrale (Gerechtigkeits-) Thematik hin angelegt und ausgerichtet. Dass ich einen sehr grossen Teil meiner Energie auf das Verfassen von Texten verlegte, hat nicht nur mit der Lust am Schreiben zu tun. Auch grundsätzliche Überlenicht mehr; jedenfalls war ich froh, dass ich neben Latein und Griechisch nicht auch noch Hebräisch belegen musste. 26   Anlässlich der Übergabe der Festschrift an Prof. Michael Bothe in Frankfurt versuchte ich auszurechnen, wie weit die Zeilen, die er alle geschrieben hatte, reichen würden, wenn man sie alle zusammenfügte; sie würden – so war das Ergebnis – von Frankfurt bis nach Zürich oder sogar nach Luzern führen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Zeilen, die ich geschrieben habe, so viele Kilometer aufweisen würden; sie würden vielleicht von Zürich bis Chiasso, wohl aber nicht nach Verona führen, vielleicht in Colmar, nicht aber in Frankfurt ihr Ende finden. 27  Thomas Buergenthal verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Konzentrationslagern und war später Präsident des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichthofs, Mitglied des Internationalen Gerichtshofes und Professor für Völkerrecht, zuletzt an der George Washington University in Washington D. C. Ergreifend ist seine Autobiographie „Ein Glückskind“, 4.  Aufl., Frankfurt a. M. 2008.

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gungen kommen ins Spiel: das Bedürfnis nach präziser sprachlicher Festlegung durch das Wort, das der Öffentlichkeit vorgelegt wird, in ihr erprobt wird und der Kritik standhalten muss. Zentrale Themen meiner Arbeit haben also mit dem Gerechtigkeitsgedanken in einem weiten Sinn zu tun. Die Thematik begleitete mich seit Beginn meines Studiums. Ich war in Hörsälen, Lehrbüchern oder Kommentaren diesem Wort nie begegnet und fragte eines Tages meinen Onkel, der Vizepräsident des Obergerichts war, ob er mir sagen könne, was denn eigentlich Gerechtigkeit sei. Dieser lachte und antwortete mit einer Metapher: er sei, sagte er, wie ich ja wisse, enthusiastischer Bergsteiger; da interessierten ihn die nächsten Griffe oder die Gefahr von Steinlawinen, nicht aber das Wesen und das innerste Geheimnis der Gravitationskraft. Seine Richterkollegen, die ebenfalls am Kaffeetisch im Restaurant Kunsthaus sassen, stimmten zu. Die Gerechtigkeitsfrage liess ich nicht aus den Augen. Ein wissenschaftlicher Einstieg war das Referat für den Schweizerischen Juristentag 1987 zum Thema „Das Willkürverbot gemäss Art.  4 BV“, das ich meinem Berner Kollegen und späteren Freund Jörg Paul Müller verdanke. Weitere Themenfelder waren eher „architektonischer“ Natur (z. B. über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, Menschenrechte und Demokratie, alternative Formen der europäischen Integration). Sehr frühzeitig schaltete ich mich – zunächst mit einem Zeitungsartikel und dann in einer wissenschaftlichen Abhandlung – in die völkerrechtliche Debatte über die Zulässigkeit der Kosovo-Intervention der NATO ein. Verschiedene Schriften oder Vorträge drückten auch Empörung und Anklage aus. So war ich wohl einer der allerersten Völkerrechtler, der sich, zunächst 2003 in einer öffentlichen Ansprache und anschliessend in einem Artikel der Schweizerischen Zeitschrift für internationales und europäisches Recht, auf dem Wege einer rechtlichen Analyse und Kritik gegen Guantánamo wandte. In Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und in Interviews prangerte ich auch die Illegalität des Irakkrieges an. In einer Inaugurationsrede an der Genfer „Académie de droit international humanitaire“, die nunmehr in der Revista do Instituto Brasiliero de Direitos Humanos abgedruckt worden ist, vertrat ich die These, dass der Einsatz von Atomwaffen nach geltendem Völkerrecht uneingeschränkt verboten ist, dies im Unterschied zu einem 1996 ergangenen Gutachten des Internationalen Gerichtshofs. Immer wieder übte ich auch Kritik an Missbräuchen der direkten Demokratie (so sehr mir diese als solche am Herzen liegt), so vor allem in Bezug auf die Minarett- und die Ausschaffungsinitiative. In der Schweiz sollte der Minarettartikel durch einen Toleranzartikel ersetzt werden. Von einer Gruppe international anerkannter Völkerrechtler (bestehend aus Yoram Dinstein, Rüdiger Wolfrum, Rein Müllersson, Ugo Genesio und mir) wurde in diesem Sinn auch ein Modellgesetz zum Schutze der Toleranz erarbeitet, das die Staaten unseres Erachtens in ihr Landesrecht übernehmen sollten. In diesem Zusammenhang kann auch erwähnt werden, dass ich Gründungspräsident und heute Vizepräsident einer internationalen Vereinigung von Rechtswissenschaftern, Richtern und Rechtsanwälten (Association of Independence of Justice) bin, die sich – angeleitet vom tatkräftigen israelischen Professor Shimon Shetreet – an Konferenzen und in Form von Schriften auf der ganzen Welt für eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz als Garantin gegen Missbrauch der Macht einsetzt.

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Schliesslich sei festgehalten: bei allem, was ich schreibe (und rede), versuche ich, mich nicht nur an meine Fachkollegen zu wenden. Der Leser, den ich im Auge habe, ist der „amateur éclairé“ (Denis de Rougemont): der gebildete Staatsmann und Bürger oder die interessierte Wissenschafterin (auch anderer Fakultäten und Fachrichtungen) oder Journalistin. Immer versuche ich, das Ganze und den Kontext im Auge zu behalten. Vielleicht gibt es diesen Leser und diese Leserin – so frage ich mich gelegentlich ernüchtert – in Wirklichkeit gar nicht oder nur in geringer Zahl. Aber auch der „lecteur imaginaire“ kann uns anhalten, wesentlicher, einfacher und letztlich klarer zu denken und zu kommunizieren.

Expertentätigkeit In engem Zusammenhang mit der Jurisprudenz als praktischer Wissenschaft steht eine umfangreiche Expertentätigkeit, aus der auch zahlreiche Publikationen hervorgingen. Ich war, wie erwähnt, Mitglied einer vom Justizminister eingesetzten Expertengruppe zur der Erarbeitung einer total revidierten Bundesverfassung (Bereich des Verhältnisses von Völkerrecht und Demokratie). Herausfordernd in einer ganz anderen Art war es, unlängst (d. h. im Frühling 2012) im Rahmen einer vom Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten zusammengestellten Expertengruppe, im Südsudan vor Ort und kurz vor dessen Unabhängigkeit Fragen der verfassungsrechtlichen Grundlegung des in Entstehung begriffenen Staates zu explorieren; die Auseinandersetzungen mit Ministern und der verfassungsgebenden Versammlung sowie die Gesichter unserer Gesprächspartner, die zum Teil den Willen zum idealistischen Auf bruch, zum Teil aber auch Gier nach Amt, Macht und Pomp verrieten, sind für mich unvergesslich. 2011 betraute mich der Bundesrat mit einem Gutachten zu den Möglichkeiten einer institutionellen Weiterentwicklung der Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, dies neben einer vom Bundesgericht erbetenen Darstellung seiner einschlägigen Rechtsprechung. Das zusammen mit Prof. Thomas Burri erstellte Gutachten wurde in der Öffentlichkeit stark diskutiert und trug mir von nationalkonservativer Seite den Vorwurf ein, ein „Landesverräter“ zu sein, wogegen ich mich in der Presse wehrte. Für das Eidg. Finanzdepartement erarbeitete ich ein Gutachten zu Fragen der Legitimation der G-20. Neben diesen und weiteren Tätigkeiten als Gutachter in der Schweiz wirkte ich auch etwa als Experte im Ausland: so etwa zu Handen des Polnischen Parlamentes über Möglichkeiten der Einführung direkt-demokratischer Instrumente in die neue Verfassung oder zu Handen des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zu einem Projekt der Verankerung von Volksabstimmungen und Volksbegehren im Grundgesetz. Im Rahmen der UNO (vor allem des Hochkommissariats für Menschenrechte) war ich als Experte tätig etwa zu Fragen des Konstitutionalismus im Völkerrecht oder zur Reform des Sicherheitsrates und im Herbst 2013 trat ich am Hauptsitz der UNO an einem Panel über die Abrüstung von Nuklearwaffen auf. Verschiedentlich betätigte ich mich auch, an Weltkongressen und mit Studien, an den Aktivitäten des in Kanada domizilierten und heute mehr als ein Dutzend Bundesstaaten umfassenden „Forum of Federations“, womit ich alte Fäden aus der Arbeit an meiner Habilitationsschrift wieder aufnehmen konnte. Auch erarbeitete ich, zu-

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sammen mit Kollegen aus der Schweiz und auf Anregung von a. Bundesrat Arnold Koller, der eine wichtige Leitungsfunktion im „Forum“ innehatte, eine Schrift über „Guidelines for Good Federal Practices“, deren Grundzüge wir an der Internationalen Konferenz des Forums in Addis Abbeba vorstellten. Insgesamt hatte ich das Glück, dass sich in meinem Erfahrungsbereich immer wieder Chancen auftaten, mein Wissen für die Öffentlichkeit praktisch nutzbar zu machen und gehört zu werden; es ist vielleicht der besondere Vorzug von Rechtsprofessoren eines kleineren demokratischen Staates, im Sinne von „law in action“ Dogmatik mit der Praxis zu verbinden und bei der Gestaltung der Wirklichkeit zum Tragen zu bringen. Immer lässt man sich von Vorbildern leiten. In meinem Fall denke ich zum Beispiel, wenn es um engagierte Juristen geht, an den im 19. Jahrhundert wirkenden Professor Carl Hilty aus Bern oder an meinen Zeitgenossen Jean-François Aubert aus Neuenburg.

Über die Universität hinaus Alfred Kölz, von 1996–1998 Dekan der Zürcher Rechtswissenschaftlichen Fakultät, spielte in einer Rede anlässlich der Übergabe des Dekanats an mich spasseshalber mit dem Gedanken, wonach es nicht ausgeschlossen wäre, dass die Schweiz eines Tages den Vereinigten Staaten von Amerika beitreten würde. Unser Honorarprofessor Dietrich Schindler (jun.) könnte dann – so spekulierte er – der Senatsdelegation im Kapitol in Washington angehören. „Ich habe natürlich auch“, so fuhr der scheidende Dekan fort, „an meinen geschätzten Kollegen und Nachfolger im Dekanat Daniel Thürer gedacht; auch er ist ein hervorragender Völkerrechtler. Doch Daniel muss jetzt noch etwas warten, zunächst muss er noch während zwei Jahren – sozusagen als Training – das Dekanat absolvieren, bis er zu höheren Ehren gelangt.“28 Zur einem Sitz als „Member of U. S. Senate“ ist es auch nach Ablauf der zwei Jahre freilich nicht gekommen. Immerhin hatte ich mich aber immer auch und vor allem auch über meine wissenschaftliche „Feldarbeit“ definiert. Nie aber wollte ich voll Praktiker sein und in einem Amt aufgehen. Ich bin froh, dass ich seinerzeit das Angebot, Chef der Europa-Sektion im Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und, später, Chef des Bundesamtes für Justiz zu werden, abgelehnt hatte. Ein solches Amt hätte meine Unabhängigkeit und meine Energien zu sehr verzehrt. Auch etwa an das Amt eines Richters am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, der zu einem grossen, vielleicht allzu sehr abgeschotteten, zusehends bürokratische Züge aufweisenden Apparat geworden ist, hatte ich nie ernstlich gedacht. Allerdings liess ich verlauten, dass es mich freuen würde, eines Tages für den Fall der Verhinderung des amtierenden Schweizer Mitglieds als „ad hoc“-Richter eingesetzt zu werden. Im Ganzen entsprach meinem Naturell mehr eine vielfältige Verknüpfung meiner Stammaufgabe an der Universität mit auswärtigen Engagements. Ein welscher Kollege nannte mich denn auch einen „professeur valise“, und in der Tat glaubte ich, durch eine solche Kombination von Funktionen in meinem kleinen Bereich die Wissenschaft wirklichkeitsrelevanter machen und die Realität besser und einfacher verste28

  Alfred Kölz (1944–2003), Beobachtungen, Zürich und St. Gallen 2008, S.  49.

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hen und beurteilen zu können. Das Glück wollte es, dass mir solche Chancen in reichem Masse zuspielt wurden.

Mitglied des F. L. Staatsgerichthofes Von 1992 bis 2002 gehörte ich dem Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein an. Es entsprach der Tradition, dass von den fünf ordentlichen Mitgliedern des Verfassungsgerichts eines aus der Schweiz und eines aus Österreich stammt. Der Schweizer „Sitz“ wurde durch den Rücktritt meines Basler Kollegen Luzius Wildhaber frei. Ich weiss nicht, weshalb mich Regierungschef Hans Brunhart seinerzeit anfragte, das Amt zu übernehmen. Ich wurde auf meine Zusage hin vom Landtag gewählt. Dies geschah ohne die Notwendigkeit der Zustimmung des Fürsten, und ich musste gemäss der „Schweizer Formel“ einen Eid allein auf die Verfassung und nicht auch auf Loyalität dem Fürsten gegenüber ablegen. Meine Richterkollegen waren sehr gute Juristen. Es war für mich ein grosses Erlebnis, auf dem Wege der Auslegung und Anwendung des liechtensteinischen Rechts, aber auch der Rechtsvergleichung und Rezeption von Normen, Praxis und Literatur aus anderen Rechtssystemen dazu beizutragen, das Land in Formen des Rechts Schritt für Schritt weiter zu integrieren und zu konsolidieren. Ein willkommener Begleiteffekt meiner Zugehörigkeit zum Staatsgerichtshof war, dass ich an Kongressen europäischer Höchstgerichte in Warschau und Paris mit ihrem protokollarischen Pomp (aber eher dürftigen Inhalt) teilnehmen konnte. Im Rückblick scheinen mir etwa zwei Dinge erwähnenswert: die Möglichkeit von Richtern, abweichende Meinungen abzugeben, was ganz allgemein grösseren Ausgewogenheit, Innovationskraft und zu einer Verbesserung der sprachlichen Qualität der Rechtsprechung führt, und die Rolle, die eine Laienrichterin in unserem Juristen-Gremium spielte, deren intelligente, aber gelegentlich „naiv-unprofessionellen“ Fragen dem Gerichtshof halfen, in seinen Urteilen unnötigen Jargon zu vermeiden und den Stil zu verbessern und auch in einer breiteren Öffentlichkeit besser verstanden zu werden.

Bergier Kommission Der Bundesrat hatte 1996 – auf Druck aus den USA, aber doch noch zeitgerecht und weitsichtig – eine „Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg“ eingesetzt, die sich aus schweizerischen und ausländischen Fachleuten zusammensetzte. Die Ernennung der Mitglieder erfolgte zum Teil etwas überstürzt. Ich war, unter den neun Mitgliedern, als einziger Jurist vorgesehen. Da ich am Tage vor der Pressekonferenz zur Ankündigung der Zusammensetzung der Kommission für den mich telefonisch suchenden Bundesrat nicht auffindbar war, wurde in letzter Minute Prof. Joseph Voyame, hervorragender ehem. Chef des Bundesamtes für Justiz, angefragt. Im folgenden Jahr hielt ich im Nationalratssaal einen Vortrag „Zur Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und den daraus zu ziehenden Lehren“. Im Jahr 2000 folgte ich dann Voyame nach dessen vorzeitigem Rücktritt und gehörte der Bergier Kommission bis zum Abschluss ihrer Arbeiten an. Ich hatte zu

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ihren Mitgliedern, insbesondere auch zu deren Präsidenten Jean François Bergier, ein sehr gutes, freundschaftliches Verhältnis. Die von der Kommission und ihren zahlreichen Mitarbeitern erstellten Studien hatten eine meist beachtliche wissenschaftliche Qualität, und es gelang ihnen insgesamt, aus der zeitlichen Distanz die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in ein neues, akkurateres Licht zu rücken. Ich lernte, Wert und Bedeutung der „Historisierung“ für die Wahrheitssuche zu erkennen. Es bestanden aber zum Teil auch sachliche Divergenzen. Ich glaube, dass die Bedeutung des Rechtsprinzips (bzw. dessen Dekadenz und Verhöhnung unter totalitär-rassistischen Regimen) von der Kommission in seiner vollen Tragweite nicht recht verstanden und nicht angemessen gewürdigt wurde, erreichte aber immerhin, dass zu schwierigen Rechtsfragen neun ausgezeichnete Rechtsgutachten erstellt und in zwei Bänden der Veröffentlichungen der Kommission publiziert wurden.29 Ins­ gesamt hatte ich auch den Eindruck, dass häufig „Abrechnungen“ zwischen Historikergenerationen stattfanden und dass Urteile zum Teil zu sehr aus zeitgenössischer Sicht gefällt wurden, oft ohne angemessene Sensibilität für die Werte und die Welt, in der die Menschen damals fühlten, dachten und handelten.30 Der Schlussbericht war aber, trotz eines überrissenen Titels31, meines Erachtens gelungen und ich stimmte ihm zu.

Monitoring für die OSZE Im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa durfte ich verschiedene Missionen übernehmen: so etwa zur Verifizierung der Einhaltung von Standards des Menschenrechtsschutzes anlässlich der Dismembration der Tschechoslowakei, wo sich unsere Mission auch mit den Staatspräsidenten Vaclav Havel und Vladimir Meciar, zahlreichen Ministern sowie vielfältigen Vertretern der „civil society“ traf, oder zu Seminaren in der Ukraine und zu Verhandlungen vor 29  Juristen, die im intertemporalen Recht geschult sind, scheinen mir ein besonderes Sensorium dafür zu haben, Tatbestände, die in der Vergangenheit liegen, zunächst einmal nach Massgabe der damals geltenden Normen zu beurteilen und vorschnell Projektion von Normen, die sich gewandelt haben, in die Vergangenheit zu vermeiden. 30   George Orwell schrieb in „The Lion and the Unicorn“ (1941), London 1982, S.  36: „Things that could happen in one country could not happen in another. Hitler’s June purge, for instance, could not have happened in England.“ Ähnlich muss m.E. auch in Bezug auf die Schweiz gesagt werden: Nur schon angesichts der föderativen Struktur und Tradition, aber auch angesichts des widerborstigen, aber auch patriotisch-machtkritischen Geistes vieler Bürger wären in der Schweiz damals weder Militärdiktatur noch gleichgeschaltete Parteiherrschaft, weder Eroberungswille noch die Planung und Errichtung von Vernichtungslagern denkbar gewesen. Näheres zum Ganzen etwa bei Daniel Thürer, Im Schatten des UN-Rechts-Staates: Reaktionen auf den Nationalsozialismus im schweizerischen Rechtssystem, in: ders., Kosmopolitsches Staatsrecht – Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich und Berlin 2005, S.  355 ff. 31   Der Titel des 2002 publizierten Schlussberichts lautete „Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg“, was ich angesichts der beschränkten Reichweite unserer Forschungstandards als anmassend empfand. Wichtige Aspekte, so etwa des politischen „Widerstands“ und der Kultur (von Theater, Verlagswesen, kirchlichen Aktivitäten bis zur Rechtskultur), die für das Gesamtbild der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg essentiell waren, gehörten nicht zum eigentlichen Mandat der Kommission und wurden von ihr nicht bearbeitet.

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Ort in der Frage einer Neudefinition des Status von Transnistrien in Moldawien. Meine Arbeit für die OSZE beinhaltete auch etwa eine Expertise über den Status der OSZE im Völkerrecht und im Herbst 2012 ein Grundsatzreferat zum Schutz von Minderheiten im Rahmen der OSZE-Menschenrechtskommission in der Wiener Hochburg. Auch bin ich Mitglied des Präsidiums der 1996 geschaffenen OSZE Schlichtungs- und Schiedsgerichtshofs, der aber leider bisher noch mit keinem Fall betraut worden ist.

Mitglied der Internationalen Juristenkommission (ICJ) ICJ ist eine sehr angesehene NGO auf dem Gebiet des Rule of Law mit Sitz in Genf. Sie befasst sich vor allem mit dem Schutz klassischer Freiheitsrechte, der Unabhängigkeit der Justiz und der Rechte der Verteidiger. 1991 hatte ich, zusammen mit meiner Kollegin Dr. Katharina Sameli, die Schweizer Sektion der Internationalen Juristenkommission gegründet. Dem Vorstand, den ich präsidierte, gehörten mehrheitlich Praktiker (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte) aus dem Welschland an. Wir führten – zum Teil parallel – in der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz Veranstaltungen etwa zur Ausbildung von Richtern aus dem Baltikum oder „médecine en prison“ durch. 1994 wurde ich zum Mitglied der Internationalen Juristenkommission und 2004 in dessen Exekutivkomitee gewählt. Ich beteiligte mich an den Drei-Jahreskonferenzen von Bangalor und von Berlin.

Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Schon seit langem war mir das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ein Begriff. Ich kannte das IKRK vor allem als eine aus der Schweiz hervorgegangene herausragende, noble, humanitäre Institution, der verdiente Schweizer Persönlichkeiten ehrenamtlich angehörten. Als Völkerrechtler wusste ich um den genuinen Charakter des Komitees: eines auf der Grundlage des schweizerischen Privatrechts geschaffenen Vereins, der ein Rechtssubjekt des Völkerrechts darstellte und völkerrechtliche Funktionen auf dem Gebiet der Fortbildung des humanitären Völkerrechts wahrnahm. Erstaunt war ich aber, als eines Tages Prof. Dietrich Schindler – Mitglied des Komitees wie seinerzeit sein Vater und Grossneffe des berühmten IKRK-Präsidenten Max Huber – bei mir anklopfte und eröffnete, ich sei dem Komitee als neues Mitglied vorgeschlagen worden. In der Tat hatte kurz zuvor ein älterer, gediegener Geologe aus Zug einen Vortrag von mir zum internationalen Umweltrecht bei der Neuen Helvetischen Gesellschaft in einem Zürcher Zunfthaus besucht, und dieser welterfahrene Dr. Rudolf Jäckli scheint mich dann im „Comité de recrutement“ als neues Mitglied vorgeschlagen zu haben. In der Folge wurde ich 1991 als eines der jüngsten Mitglieder des Komitees gewählt. Zur Zeit der Präsidentschaft von Cornelio Sommaruga wurde ich mit zahlreichen interessanten Missionen betraut: in die baltischen Staaten, Polen und nach Deutschland, Russland und Weissrussland, Zimbabwe und Sambia, Sri Lanka, Ost Timor, Australien, Thailand (hier als Vizepräsident ad hoc, 2003, mit einem Mandat

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im Bereiche der Überwachung der Konvention zum totalen Verbot der Personenminen und einem gross angelegten Vortrag zu Ehren von Prinzessin Maha Chakri Sirindhorn über neue Entwicklungen im humanitären Völkerrecht). Weitere Missionen führten nach Myanmar, Dushambe in Tadschikistan im Zusammenhang mit dem Verbot von Personenminen. Zur Präsidialzeit von Jakob Kellenberger vertrat ich das IKRK an der Commonwealth Conference 2007 in Wellington, wo mir meine Ausbildungsjahre in England sehr zustatten kamen, und ich besuchte ein gigantisches Gefängnis inmitten von Manila, wo wir versuchten, gegen die skandalösen organisatorischen und sanitären Verhältnisse der Anstalt anzukämpfen und in Verhandlungen mit dem Präsidenten des Supreme Court rechtsstaatliche Reformen zu bewirken. Von 1996–1999 war ich Präsident der „Commission juridique“ des IKRK, und zur Zeit gehöre ich der „Commission de recrutement“ an. Missionen hatten mich auch zweimal nach Indien geführt, wo ich u. a. bei der Indian Society of International Law eine „Key Note“ Speech hielt. Ich habe bei meinem Engagement für das IKRK viel gelernt, vor allem auch von Cornelio Sommaruga mit seinem sprachgewaltig vertretenen humanitären Ethos und natürlich auch von Jakob Kellenberger, einem alten Freund schon aus der Zeit der Offiziersschule, mit seinem rigiden Glauben an das Wort, seiner Integrität und seiner Glaubwürdigkeit in der Verfechtung der humanitären Sache. Das IKRK wächst zusehends in allen Dimensionen: personell und ressourcenmässig. Es ist ein grosser, professionell funktionierender Apparat geworden. Wichtig ist aber, wie ich glaube, dass das idealistische, zivilgesellschaftliche Element seinen hohen Stellenwert behält. Unvergesslich ist mir ein Besuch bei Jean Pictet, Altmeister des humanitären Völkerrechts, anlässlich meines Eintritts ins Komitee. „Sie glauben doch“, sagte er, „dass die Bestie des Krieges mit den Mitteln des Rechtes gezähmt werden kann“. Ja, das gehörte in der Tat zu meinem Credo.

Mitglied der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates (EKRI) Seit bald acht Jahren gehöre ich, als Vertreter der Schweiz und in der Folge als Mitglied des leitenden Ausschusses, der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (EKRI) an. Es handelt sich hier um ein auf „soft law“ beruhendes Organ des Europarates, das auf dem Gebiet seines Mandats allgemeine Empfehlungen ausarbeitet und verabschiedet, periodisch Länderbesuche durchführt und Kontakte mit der civil society pflegt. Die Kommission setzt sich aus unabhängigen Experten mit einem häufig akademischen Hintergrund zusammen. Es handelt sich um eine in ihrer Funktionsweise einzigartige Monitoring-Institution des Menschenrechtsschutzes, die über weitreichende „fact finding“-Kompetenzen und quasi-diplomatische Funktionen verfügt. EKRI geniesst, wegen der Qualität von Mitgliedern und Sekretariat, in der Welt des Menschenrechtsschutzes ein grosses Ansehen. Ich hatte bisher an „country visits“ in Dänemark, Monaco, Georgien und Slowenien teilgenommen, was ich als sehr produktiv und lehrreich empfand; für 2014 ist ein Besuch Polens geplant.

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Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht Seit langem hatte ich wichtigen deutschsprachigen Berufsgemeinschaften angehört: der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, wo ich 1990, an der Zürcher Tagung, ein Referat zum Thema „Der Verfassungsstaat als Glied der europäischen Gemeinschaft“ hielt und deren Vorstand ich von 1998–2000 angehörte, und der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, an deren Leipziger Tagung ich über „Failed State“ referierte. Nachdem in den letzten Jahren Jochen A. Frowein (Heidelberg), Jost Delbrück (Kiel), Michael Bothe (Frankfurt) und Rüdiger Wolfrum (Heidelberg) die Gesellschaft präsidiert hatten, wurde ich, für mich überraschend, im Rat als Vorsitzender vorgeschlagen und gewählt. Meine Amtszeit von 2009 bis 2013, in der ich von meinen Vorstandskollegen Georg Nolte (Berlin) und Dagmar Coester-Waltjen (Göttingen) tatkräftig unterstützt wurde, gehörten – wie man mir sagte – zu den bewegtesten Jahren in der schon bald 90-jährigen Vereinsgeschichte. Dies nicht wegen meiner Person, sondern weil die Gestaltungsbedürfnisse einfach so fielen. Die Gesellschaft erhielt einen neuen Namen: Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht; damit sollte die enge Verbindung des Völkerrechts mit dem internationalen Privatrecht besser zum Ausdruck gebracht werden. Es wurde eine vielversprechende Kommission zur Reform des Völkerrechtsstudiums eingesetzt. Zusammen mit der Société française de droit international wurden ertragreiche Tagungen durchgeführt, und die Beziehungen zu den jungen Völkerrechtlern wurden verfestigt. Die Homepage wurde neu gestaltet. Der Bestand erhöhte sich erheblich auf heute mehr als 500 Mitglieder, und 2011 und 2013 fanden in Köln und Luzern Tagungen mit sehr guten Referaten in einer sehr produktiven Atmosphäre statt. In Luzern wurde, in der Person von Prof. Rudolf Bernhardt aus Heidelberg, auch zum ersten Mal ein Ehrenmitglied gewählt. Die Gesellschaft hat ihre traditionell „zünftische“ Natur beibehalten, dies in einem doppelten Sinn: sie setzt sich aus Berufsangehörigen in einem eng verstandenen, abgeschlossenen Sinn (Professoren und hohen Funktionären) zusammen, und ihre Mitglieder sollen, soweit praktikabel, in Form von minutiös ausgearbeiteten Referaten ihre „Gesellenstücke“ einbringen. Der Charakter einer auch „geselligen Gesellschaft“ breitet sich aber zusehends aus, was eine erfreuliche Entwicklung ist. Insgesamt fühle ich mich mit der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht, wie ich an der Luzerner Tagung auszuführen versuchte, aus zwei Gründen besonders verbunden: sie ist „deutsch“ in Sinne der Deutschsprachigkeit und die Sprache, mit ihrer Macht und spezifischen Gestalt, ist das Gehäuse, in dem wir uns als Juristen bewegen; und sodann pflegt unsere „Gesellschaft“, mehr als die meisten Schwestergesellschaften, neben Dogmatik und Kasuistik auch Fragen der Rechtskultur und Rechtstheorie.

Im Dienst der Allgemeinheit Nur kurz sei gesagt, dass – für einen demokratischen kleinen Staat wie die Schweiz – der Professor für öffentliches Recht naturgemäss auch stark mit der „Civil (oder besser: Civic) Society“ verwoben ist. Diese ist der „Humus“, aus dem lebendiges

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Engagement für die öffentliche Sache herauswächst. Ich habe viel Zeit und Energie für staatsbürgerliche Aufgaben eingesetzt. So war ich etwa Mitglied der Neuen Helvetischen Gesellschaft (Ortsgruppe Zürich) und des Stapferhauses und bin seit dessen Gründung im Jahr 1999 Präsident des Vereins Pro Monstein, der die Erhaltung des Ortsbildes dieses alten Bündner Dorfes und die Förderung der Kultur im Dorf und weit darüber hinaus zum Zweck hat.32 Viel Herzblut habe ich auch für die Errichtung der vielversprechenden Stiftung „CONVIVENZA – Internationales Zentrum für Minderheitenschutz“ eingesetzt, deren Ziel es ist, sich mit Mitteln der Theorie und des praktischen Einsatzes für den Schutz von Minderheiten auf der Grundlage des föderalistischen und demokratischen Gedankengutes zu engagieren.33 Zum Dienst an der Allgemeinheit kann auch meine gegen 1000-tägige Militärdienstzeit gerechnet werden, wo ich, zuletzt im Rang eines Hauptmanns, Untersuchungsrichter und dann Mitglied der Strategiegruppe des Generalstabschefs war.

Anerkennungen Ehrungen sind erfreulich, wichtiger aber ist die engagierte geleistete und zu leistende Arbeit. Als besondere Freude empfand ich die Verleihung der Würde eines Dr.rer.publ.h.c. durch die Universität St. Gallen im Jahre 2002, dies umso mehr, als ich dadurch in die gleiche Reihe gestellt wurde wie etwa der Historiker Herbert Lüthy und der Germanist Karl Schmid. Eine Anerkennung bedeutete auch die Mitgliedschaft im Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag und die Mitgliedschaft im International Institute of Humanitarian Law in San Remo wie auch die Tatsache, dass ich 2012 als Senior Fernand Braudel Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz tätig sein durfte (der Namensgeber, der so bedeutende französische Historiker, hat mich schon seit langem zutiefst beeindruckt). Auch bin ich etwa Consultant and Honorary Professor of the Gujarat National Law University in Indien und Mitglied des Advisory Board of the Concord Center in Jerusalem. Als besondere Auszeichnung empfand ich es, dass ich 2011 eingeladen wurde, Mitglied des renommierten „Institut de droit international“ zu werden.

Familie: chercher la (les) femme(s) Im Rechberg lernte ich Susi Reber kennen. Wir verliebten uns, und 1977 heirateten wir. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nie eine Schweizerin oder eine  Anlässlich der Generalversammlung des Vereins vom 31. Dezember 2012 versuchte ich, den Kerngedanken des Vereins mit drei Elementen zu formulieren: 1) Gemeinnutz steht vor Eigennutz; Pflege der Kultur des öffentlichen Raumes verdient Vorzug vor dem Kult des Privaten; 3) Freiwillige, unentgeltliche Zusammenarbeit ist zu pflegen statt selbstbezogener Gier und Jagd nach Profit. In diesem Sinne betrachte ich Pro Monstein als ein (erfolgreiches) Experiment und Modell. 33   Vgl. zu diesem Projekt meinen Beitrag über „CONVIVENZA – Über ein kleines, nicht spektakuläres Projekt des internationalen Minderheitenschutzes“, in: Andreas Fischer-Lescano, Hans-Peter Gasser, Thilo Marauhn und Natalino Ronzitti (Hrsg.), Frieden in Freiheit, Festschrift für Michael Bothe, Baden-Baden/Zürich 2008, S.  1199 ff. 32

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Juristin zur Frau zu nehmen. In diesem Fall war aber eine Ausnahme angezeigt. Nach dem Studium war Susi Auditorin am Bezirksgericht Zürich. Dann wurde sie eine engagierte Jugendanwältin, womit für sie „ein alter Traum“ gelebt werden konnte. 1984 und 1987 wurden unsere Töchter Anna-Katharina und Franziska Regula geboren. Neben ihrer Rolle als Mutter war Susi teilzeitlich als Ersatzrichterin tätig, und sie engagierte sich ehrenamtlich in diversen Vereinen und war Vizepräsidentin der örtlichen Kirchenpflege. In den USA liess sie sich zur Mediatorin ausbilden, und an der Universität Zürich absolvierte sie in der Folge ein Zusatzstudium in Psychologie. Heute steht Susi, neben einem Mix von anderen Funktionen, den sie liebt, vor allem als Richterin in Familiensachen am Bezirksgericht Zürich im Einsatz. Mit ihrer Freundin Eva Scholl hat sie ein „Ressourcenzentrum“ für Mediation und Coaching aufgebaut und, als Treff- und Diskussionspunkt, den „Club of Zurich“ gegründet. Sie hat mich bei allem, was ich unternahm, grosszügig und liebevoll unterstützt, aber auch mit guten Gründen kritisiert und „geerdet“. Mit unsern Töchtern Anne-Käthi und Fränzi sind wir eng verbunden. Dreimal verbrachte die ganze Familie längere Zeit in den USA (in Harvard und in Stanford), und wir verbrachten – unterwegs mit unserem Fiat 128 und unseren Volkswagen – immer wieder erlebnisreiche Ferien, was uns stark zusammenschweisste. Anne-Käthi ist Ethnologin und Fränzi Historikerin geworden. „Würde ich etwas anders machen?“, fragte sich Susi in einer Beschreibung ihres Lebens. „Nein und nochmals nein“, war ihre Antwort. „Meine Familie ist das Beste, was ich in meinem Leben habe.“34 Das lässt sich auch von mir sagen. Nur würde ich mich, könnte ich nochmals beginnen, der Familie mehr und dem Berufsleben weniger zuwenden.

Schluss und wie weiter? „When a man is satisfied with himself it means that he has ceased to struggle and therefore has ceased to achieve. He is dead, and may be allowed the thin delight of reading his own obituary.“35

Ja, das war ein Versuch eines Rückblicks auf mein bisheriges Leben, gerafft und subjektiv. Hätte nicht ich, sondern ein Anderer mein Leben betrachtet, wäre ein anderes Bild mit anderen Formen, mit anderen Akzenten und mit anderen Färbungen entstanden. Wäre ich an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit und in einer anderen Familie geboren worden und hätten manche Zufälle entscheidende Weichen in meiner Karriere nicht so, sondern anders gestellt, so hätte sich ein anderes Leben entwickelt. Hätte ich eine andere Frau geheiratet, so wäre mein Leben anders und wohl weniger glücklich verlaufen.  Eva Scholl und Susi Thürer-Reber, Im Gleichgewicht – Life-Balance oder der Umgang mit Mehrfachrollen, Bern 2008, S.  246. 35   Oliver Wendell Holmes, in: Richard A. Posner (ed.), The Essential Holmes, Chicago and London 1992, S.  149. 34

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Ich hatte das Glück, in einer Zeit, als dies – zumindest für Juristen – noch nicht üblich war, um die zehn Jahre im Ausland zu verbringen und im Rahmen herausragender Institutionen zu arbeiten. Ein Blick zurück suggeriert die Frage, wo wir stehen und was bevorstehen könnte. Wir befinden uns, glaube ich, in einer Epoche der vielfältigen Übergänge. Das individuelle und kollektive Leben ist im Begriff, sich in rasanter Beschleunigung weiter zu entwickeln. Werden die Welten der Universitäten Zürich, Genf, Cambridge, Harvard und Stanford, die mich geprägt hatten und die meinem Leben Sinn und Richtung gaben, weit in die Zukunft überleben? Wird es in hundert Jahren oder so – so können wir uns ja auch fragen – überhaupt noch Staaten, ja öffentliches Recht, ja ein Völkerrecht geben? Wie wird sich die Schweiz entwickeln: ihr Selbstverständnis zwischen geschichtsverwurzelter Identität und Öffnung hin zu einer sich globalisierenden Welt? Werden sich Institutionen wie das IKRK oder der Europarat, die in meinem Leben noch immer wichtig sind, zu blossen Funktionsträgern einer globalen Anspruchsgesellschaft wandeln? Werden Universitäten zu medioker (nicht meritokratisch) funkionierenden Apparaten der Vermittlung von zum Teil banalem Alltagswissens verkommen, determiniert durch Geldsuche und Effekthascherei, aus denen aber die grossen eigenständigen Denker (Gestalten mit Imagination und Vision) verschwunden sind? Wird bei der Gestaltung des öffentlichen Raums das für mich so wichtige „Wort“ noch weiter beschädigt und noch mehr dem „Bild“ weichen und dem „Sound“? 36 Ich denke angesichts der zusehends abstrahierenden, „mathematrisierten“ wissenschaftlichen Sprache auch an Marc Bloch, der schrieb: „Hüten wir uns davor, unserer Wissenschaft das Poetische wegzunehmen.“37 Wird es, so können wir auch fragen, in einer zukünftigen Welt eine Bürgerkultur mit ihrem Pflichtgefühl der Allgemeinheit gegenüber noch geben? Die Kultur als Bürger seines Staates oder letztlich der Welt? 38 Oder werden sich neue Formen des gesellschaftlichen Engagements, von „civic vitues“ entwickeln? Was ich hier schrieb, war „damals“. Mit Blick auf die Zukunft hoffe ich, – dass die Universitäten sich der schleichenden Nivellierung zu entziehen und ihren geistig-elitären Auftrag erneut wahrzunehmen vermögen, wenn auch in Form neuer Arrangierungen alter Disziplinen: so etwa, dass die Humanwissenschaften (vielleicht geleitet durch die Ethnologie) eine führende Position zurückgewinnen und etwa die Rechtswissenschaft ihr Potenzial einer am Gerechtigkeitsgedanken, aber auch an den Bedürfnissen der Praktikabilität orientierten Juris„prudenz“ voll realisieren kann, dies als Orientierungs- und Steuerungsfaktor für das Verhalten von Menschen in der modernen Gesellschaft;

36  Vgl. Mario Vargas Llosa, Alles Boulevard – Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Berlin 2013, S.  19. 37   Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart, 2.  Aufl. 2008, S.  10. 38  Weltpolitisches Denken war bereits das Anliegen von Benjamin Franklin, von dem es hiess: „Franklin was in some sense a citizen of the world. He did many things because he thought they were good for the world at large, not just for any group within it.“ Vgl. Edmund S. Morgan, Benjamin Frank­ lin, New Haven 2009, S.  49.

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– dass Wissenschaft ihre Berufung wahrnehmen kann, inmitten der Macht des Geschehens ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, prinzipielles Denken in den öffentlichen Diskurs einzubringen und an der Stärkung fairer Institutionen zu arbeiten; – dass die Bildung insgesamt mit ihrem universalen Charakter und ihrem generalistischen Urteil das Spezialistentum mit seinen in ihrer Summe auch gefährlichen Auswirkungen zurückdrängt; – d ass es in Zukunft vielen jungen Wissenschaftern vergönnt sein wird, wie ich zwischen der sog. theoretischen und praktischen Welt zu oszillieren. Ja, ich hatte bisher ein interessantes und glückliches Leben. Bedenken wir aber, was Ulrich Bräker, der „Arme Mann aus dem Toggenburg“, dessen für seine Frau gefertigte Hochzeitstruhe im Flur meines Elternhauses steht und (selten geöffnet) noch immer die Schulzeugnisse von mir und meinen Geschwistern birgt, ins Tagebuch vom Dezember 1779 eintrug: „Der Unterschied zwischen den Grossen und den gemeinen Leuten liegt hauptsächlich nur in Geburth, Vermögen und Erziehung.“39 Vielleicht war es gar nicht nötig, dieses „Lebensbild“ zu schildern. Denn wie Mitmenschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, die Welt betrachten, ist wohl viel instruktiver als Ansporn, die Welt oder zumindest einige Aspekte von ihr ein bisschen besser zu machen. Man nehme den Text einfach als eine Fortsetzung meiner im Jahr 2010 gehaltenen, damals als „Zwischenbilanz“ bezeichneten und in diesem Jahrbuch veröffentlichten Abschiedsvorlesung an der Universität Zürich; sie galt dem Thema „Res publica – Von Menschenrechten, Bürgerrechten und neuen Feudalismen“.

39   Holger Böning, Ulrich Bräker – Der Arme Mann aus dem Toggenburg. Eine Biographie, Zürich 1998, S.  11.

Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum

Untergesetzliche Rechtssetzung und Europäisches Recht Mazedonien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft von

Prof. Dr. Ulrich Karpen, Universität Hamburg und Tatjana Temelkoska, Skopje Inhalt I. Vorbemerkungen: Die gesellschaftliche, politische und rechtliche Lage Mazedoniens (Ulrich Karpen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 1. Der Auftrag: Erarbeitung eines Leitfadens für untergesetzliche Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . 559 2. Mazedonien: Grunddaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 3. Verfassung und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 4. Mazedonien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 5. Der Prozess der Ausarbeitung eines Leitfadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 II. Manual on Secondary Legislation for the Republic of Macedonia (Urich Karpen und Tatjana Temelkoska) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 1. Executive Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 2. General Remarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 3. Institutional Framework and Adoption Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 4. Nomotechnical Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 5. Approximation of Macedonian Law to EU-Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 I II. Annex: Classification of Secondary Legislation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

I. Vorbemerkungen: Gesellschaftliche, politische und rechtliche Lage Mazedoniens 1.  Der Auftrag: Erarbeitung eines Leitfadens für untergesetzliche Rechtssetzung Mazedonien strebt eine baldige Mitgliedschaft in der Europäischen Union an, ebenso wie die übrigen Balkanländer, die diesen Status noch nicht haben: Serbien, Montenegro, Kosovo, Albanien. Im Zuge der Vorbereitung für den Beitritt geht es bei allen Bewerbern unter anderem (und vor allem) darum, die rechtsstaatlichen Strukturen aller drei Staatsgewalten auf den europäischen Stand zu bringen. Das geht

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Ulrich Karpen und Tatjana Temelkoska

ohne ausländische Hilfe nicht so leicht, vor allem nicht in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit. Gesetzgebungs-, Regierungs- und Verwaltungsreform sind schließlich nur ein Teil der erforderlichen Transformationen. In erster Linie sind es Mitarbeiter aus dem Kreis der EU selbst und ihrer Mitgliedsstaaten, die Beratungsarbeit leisten. Hinzu kommen aber auch internationale Organisationen wie die OECD oder die OSZE, die in diesen Dingen große Erfahrung besitzen: Stabsarbeit, Planungen, Ausarbeitung von Entwürfen, Gesetzen, Personal- und Budgetplänen, Ausbildung, Schulung, Hilfe am Arbeitsplatz usw. Die hier zu beschreibende und zu analysierende Mission, die von der Niederlassung der OSCE in Skopje ausgeschrieben, betreut und finanziert wurde (2010–2011), umfasste die Bestandsaufnahme und wissenschaftliche Durchdringung untergesetzlicher Rechtsnormen (secondary legislation), von der Rechtsverordnung über Satzungen, Geschäftsordnungen und Verwaltungsvorschriften. Das Ergebnis sollte nicht nur im Erkenntnisgewinn bestehen, sondern auch und vor allem in der Erarbeitung einer praktischen Handreichung für Parlament, Regierung und Verwaltung: „Wie schreibe ich untergesetzliche Rechtsnormen besser und wie setze ich sie effektiver ein?“. Es handelt sich also um ein nicht untypisches Projekt auf dem Wege zu „Better Governance“.

2.  Mazedonien: Grunddaten1 Das im östlichen Balkan gelegene Land umfasst 25.700  k m 2 ; die Hauptstadt Skopje hat 486.000 Einwohner. Die Bevölkerung des Landes beträgt 2.022.000 Einwohner. Der Größe nach steht Mazedonien auf Platz 146 der Liste der Länder der Welt. Ethnisch sind 62% der Bürger Mazedonier, 25% Albaner, der Rest Serben, Türken, Roma und Vlachen, eine lateinisch sprechende Minderheit. 70% sind christlich(-orthodox), 25% Muslime. Die ethnische Segregation zwischen Mazedoniern und Albanern dominiert das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben. Es gibt eigentlich keine einheitliche Staatsnation, sondern zwei nationale Teilgesellschaften.2 Allenfalls auf höchster staatlicher Ebene kann die Polarisierung teilweise überwunden werden. Amtssprachen sind Mazedonisch (eine slawische Sprache) und Albanisch. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt 7,3 Mrd. Euro, davon Landwirtschaft 11%, Industrie 28%, Dienstleistungen 61%. Das Bruttonationaleinkommen je Einwohner beträgt 4730 US$. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 32%.

3.  Verfassung und Recht Im Zuge der Dismembration Jugoslawiens im Jahre 1991 proklamierte das Land – das ab 1944 Jugoslawien als Teilrepublik angehörte – am 25. Januar 1991 seine   Der Neue Fischer Weltalmanach 2013 – Zahlen, Daten, Fakten, Frankfurt 2012, S.  310.   Heinz Willemsen, Das politische System Makedoniens, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politi­ schen Systeme Osteuropas, Opladen, 2002, S.  731 (733). 1 2

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Unabhängigkeit. Sie wurde am 8. September 1991 durch Referendum bestätigt. Die neue Verfassung stammt vom 17. November 1991.3 Sie ist mit 134 Artikeln schlank und konzentriert. Allerdings haben sich in über zwanzig Jahren zahlreiche Verfassungsänderungen angelagert (63 Artikel), die vielfach tagespolitischen Notwendigkeiten Rechnung tragen. Der 1. Teil der Verfassung enthält die Staatsstrukturbestimmungen, unter ihnen – in Art.  8 – die Grundwerte, u. a. Pluralismus, Humanismus, Marktwirtschaft. Im 2. Teil folgen die Grundrechte. Es sind fünfzig Artikel, was nicht zuletzt auf ausführlich entfaltete wirtschaftliche, soziale, und kulturelle Grundrechte zurückzuführen ist, diese allerdings in der Regel „nach Maßgabe von Gesetz und Kollektivvereinbarung“, wie das Recht auf Sozialversicherung (Art.  34) oder „auf Arbeit“ (Art.  33). Der Vorrang von Verfassung und – in ihrem Rahmen – Gesetz ist in Art.  51 verankert. Der Gesetzesvorbehalt für grundrechtsbeschränkende Akte ist garantiert (Art.  12, 19, 27, 30 usw.). Mazedonien ist eine parlamentarische Republik, jedoch mit ausgeprägtem Referendumscharakter. Die Staatsorganisation ist im 3. Teil der Verfassung geregelt. Das Parlament (die Sobranie) besteht aus 120 Abgeordneten (Art.  61 ff.). Seine Rolle als oberste Staatsgewalt ist dadurch gestärkt, dass das Recht der gouvernementalen Parlamentsauflösung fehlt. Das Parlament erlässt Gesetze und interpretiert sie authentisch (Art.  68), neben den anderen üblichen Kompetenzen. Der Präsident der Republik wird vom Volk gewählt (Art.  79 ff.). In den Auf baujahren der Republik war sein faktischer Einfluss – über die begrenzten Amtskompetenzen hinaus – sehr stark. Die jure fehlt ihm das Parlamentsauflösungsrecht. Auch hat er keine eigene Verwaltung: die Bürokratie des Landes ist ausschließlich der Regierung verantwortlich. Die Regierung (Art.  88 f.) handelt kollektiv. Der Ministerpräsident hat keine Richtlinienkompetenz. Koalitionsregierungen sind die Regel, was sich schon aus der ethnischen Spaltung des Volkes ergibt. Nach Art.  90 wird die Regierung insgesamt vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählt. Es gibt Vertrauensfrage und Misstrauensvotum. Beide Entscheidungen erfordern die absolute Mehrheit, sollen sie erfolgreich sein. Eine dem Art.  80 Grundgesetz entsprechende Verordnungsermächtigung enthält die Verfassung nicht. Nach Art.  91 hat die Regierung allerdings die Kompetenz, „[to] adopt by-laws and other acts for the execution of laws“ und „[to] lay down principles on the internal organization and work of the Ministries and other administrative bodies, directing and supervising their work“. Es wird näher zu untersuchen sein, ob „by-laws“ als untergesetzliche Normen eine andere, weitere Kategorie sind als „Satzungen“ (von Gemeinden, Kommunen, Hochschulen) und mit welchem Begriff „by-laws“ in der Regel übersetzt wird. Im 5. Teil (Kommunale Selbstverwaltung) ist von „selbstgesetzten Normen“ jedenfalls keine Rede. Artikel 98 ff. sind der Gerichtsbarkeit gewidmet, an der Spitze dem Supreme Court. Ein eigener 4. Teil der Verfassung richtet ein Verfassungsgericht ein. Ihm gehören neun vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählte Richter an (Art.  109). Nach Art.  110 entscheidet das Gericht – soweit hier interessant – über die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Ver  Služben Vesnik (SV) 52, 1991, Pos. 998. (SV ist das mazedonische Gesetz-, Verordnungs- und Verkündungsblatt; siehe Klaus Schrameyer, The Republic of Macedonia, in: Nora Chronowski, Timea Drinóczi, Tamara Takács (Hrsg.), Governmental Systems of Central and Eastern European States, Warschau 2011, S.  684. 3

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fassung sowie über die Vereinbarkeit von Kollektivvereinbarungen und anderen Regulierungen mit der Verfassung und den Gesetzen.

4.  Mazedonien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft Die Bewerber um die Mitgliedschaft in der EU müssen folgende vier Schritte gehen: Am Beginn steht ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU. Sodann muss das zukünftige Mitgliedsland einen Beitrittsantrag stellen. Wird er angenommen, erlangt der Bewerber den Beitrittskandidaten-Status. Sodann beginnen ausführliche und zeitaufwändige Beitrittsverhandlungen zwischen den EU-Behörden und dem Bewerber, die im besten Fall mit einem Beitrittsvertrag beendet werden. Dieser muss – viertens – von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Nach Abschluss des Ratifizierungsprozesses wird das Beitrittsland mit dem im Vertrag vorgesehenen Tag zum Mitgliedsland der EU. Die genannten Verfahrensschritte des Beitritts sind in Art.  49 EUV geregelt. Im Einzelnen: Auf dem Zagreb-Gipfel vom 24. November 2000 lud die EU alle früheren Teilstaaten des Bundesstaates Jugoslawien zur Mitgliedschaft in der EU ein, also auch Mazedonien. Das Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen (SAA) zwischen der EU und Mazedonien trat am 1. April 2004 in Kraft. Bereits seit dem Jahre 2000 war es im Rahmen der Vorarbeiten zum SAA zu einer engen Zusammenarbeit mit Brüssel und unterstützenden und beratenden Mitgliedsstaaten gekommen. Der Beitrittsantrag wurde am 22. März 2004 in Dublin überreicht. Nach Art.  49 in Verbindung mit Art.  2 EUV werden von jedem Mitgliedsstaat die Einhaltung der freiheitlich-demokratischen Staatsform, die Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenwürde gefordert. Der Europäische Rat hat in seinen Kopenhagener Schlussfolgerungen vom 22. Juni 19934 vier generelle Voraussetzungen aufgestellt, die sich sowohl an den beitrittswilligen Staat wie an die EU richten: Verfassungsstaatlichkeit (wie oben detailliert), Binnenmarktfähigkeit, Integrationswilligkeit, Erweiterungsfähigkeit. Letztere Forderung richtet sich an die EU und betrifft die Fähigkeit, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen wird von Kommission und Rat überprüft. Beide Organe haben das in Bezug auf den Beitritt Mazedoniens getan und dem Land durch einstimmigen Beschluss am 15./16. Dezember 2005 den Status eines Beitrittskandidaten erteilt. Sodann erteilt – als dritter Schritt – der Rat der Kommission ein Verhandlungsmandat. Das ist im Falle Mazedoniens geschehen. Die Verhandlungen zwischen dem Erweiterungskommissar und dem Bewerberland betreffen vor allem den Zeitplan und die genauen Bedingungen für die Einführung des „Acquis Communautaire“, also der Gesamtheit aller europarechtlichen Vorschriften. Für die Verhandlungen wird der „Acquis“ in 35 Kapitel unterteilt, die vom freien Warenverkehr über Sicherheit, Freiheit und Recht bis zu institutionellen Fragen reichen. Für das im Folgenden näher zu analysierende Projekt treffen vor allem die Kapitel 23 ( Justiz und Grundrechte) und 24 (Sicherheit, Freiheit 4  EG Bull. 6/93, S.  13; dazu Rudolf Geiger, Daniel-Erasmus Khan, Markus Kotzur, EU/AEUV, Kommentar, 5. Auflage, München 2010, Art.  49, Rn.  7 f.

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und Recht) zu. Am Anfang der Verhandlungen über das jeweilige Kapitel steht das sogenannte „Screening“, das die Kommission mit dem Beitrittskandidaten durchführt. Der Rechtsrahmen für die jeweilige Materie wird im Einzelnen überprüft und es wird ermittelt, welche Reformen zur Anpassung an den „Acquis“ noch notwendig sind. Die Kommission erstattet dem Rat der EU über das Screening Bericht. Sie empfiehlt dann entweder, die Verhandlungen zu eröffnen oder zunächst bestimmte Vorleistungen des Beitrittslandes zu fordern (sogenannte „Benchmarks“). Die Inhalte des „Acquis“ sind unverhandelbar. Während der Verhandlungen kann mit dem Instrument der Heranführungshilfe dem Beitrittsland finanziell unter die Arme gegriffen werden. Solche Hilfen können von der EU etwa als sogenannte „Twinning-Vorhaben“ geleistet werden: Ein (erfahrenes) Mitgliedsland arbeitet mit den Behörden des Bewerberlandes zusammen – etwa bei der Stärkung der Verwaltungskapazität5 –, unter Beteiligung von Experten vieler Länder. Internationale Organisationen – wie die OSZE – leisten ebenfalls Infrastrukturhilfe, wie es im Falle der hier zu beschreibenden Analyse und praktischen Handreichung für untergesetzliche Normen geschah. Auch gibt es rechtliche „Vorleistungen“ auf den Beitritt, wie etwa das Visaerleichterungs-Abkommen zwischen der EU und Mazedonien vom 19. Dezember 2007.6 Für viele Materien sind die Vorbereitungen bereits fortgeschritten, wie den Fortschrittsberichten der Kommissionen von 2009, 2010, 2011 und 2012 zu entnehmen ist,7 so dass mit der baldigen Aufnahme formeller Kapitelverhandlungen gerechnet werden kann. Sodann kommt der vierte Schritt. Wenn die Verhandlungen über alle Kapitel abgeschlossen sind, nähert sich der Beitrittsprozess dem Ende. Der Beitritt wird mit dem Abschluss des Beitrittsvertrages zwischen den Mitgliedsstaaten und dem Kandidatenland eingeleitet. Nach Abschluss dieses Vertrages und dem in Aussicht genommenen Beitrittsdatum muss der Vertrag von allen bisherigen Mitgliedsstaaten und dem künftigen Mitgliedsstaat ratifiziert werden. Nach Abschluss des Ratifizierungsprozesses für den Beitrittsvertrag als einen völkerrechtlichen Vertrag8 wird das Land Mitgliedsstaat der Union.

5.  Der Prozess der Ausarbeitung eines Leitfadens Die Recherchen für die Ausarbeitung eines „Manual on Secondary Legislation“ zogen sich über ein Jahr hin: von 2008–2010. Beteiligt waren mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der OSZE-Mission in Skopje und ausländische Berater. Die Teamleitung lag bei einem OSZE-Mitarbeiter, die wissenschaftliche Verantwortung bei einer mazedonischen Rechtsanwältin und einem deutschen Staatsrechtslehrer. 5   So haben etwa Großbritannien und Kroatien bei der Ausarbeitung eines neuen Verwaltungsverfassungsgesetzes zusammengearbeitet, unter Beteiligung zahlreicher Lang- und Kurzzeitexperten aus mehreren Mitgliedsländern. Über dieses Projekt wurde im JöRNF, Bd.  60 (2012) S.  431–502 berichtet. 6   ABl.  EU L334/129. 7   Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderbericht Mazedonien, 16. Oktober 2012, www.kas.de/?maze donien. 8   Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Auflage, München 2011, S.  685, Rn.  20.

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Die Arbeitsmethode glich dem Standardvorgehen bei Aufträgen im Zuge der Transformation und Beitrittsertüchtigung von Beitrittskandidaten. Das Verfahren gliedert sich in sechs Phasen. Am Anfang steht die Analyse der bestehenden Rechtslage in Bezug auf untergesetzliche Normen, vor allem der Regierungs- und Verwaltungspraxis. Für diesen Schritt ist ein erheblicher Zeitaufwand notwendig, für Inländer wie – erst recht! – für Ausländer. Das Literatur- und Rechtsprechungsstudium erlaubt erste Orientierung. Bei Ländern, die aus einer Periode des sozialistischen Bürokratismus kommen und noch wenig Erfahrungen im demokratischen Grundrechte-Rechtsstaat sowie in einer Marktwirtschaft sammeln konnten, ist die Bewältigung der grundlegenden Rechercheaufgaben nicht leicht. Im Falle Mazedoniens haben sich Behördenbesuche und Gruppen- wie Einzelinterviews als sehr hilfreich erwiesen: ob in der Polizeiabteilung des Innenministeriums, der Europaabteilung des Amtes des Ministerpräsidenten, im Rechtsausschuss des Parlaments usw. Erste Einund Überblicke sowie Vergleiche mit den Regelungen „alter“ EU-Mitgliedsländer – wie Deutschland und Frankreich – oder „neuer“ – wie Tschechische Republik und Slowenien – ermöglichten die Ausarbeitung einer ersten Arbeitsfassung des Leitfadens. Es folgte eine Klausurtagung mit Mitarbeitern – nicht immer nur aus den Rechtsabteilungen – der wichtigsten Ministerien und Oberbehörden. Es zeigte sich ein recht unterschiedlicher Kenntnis- und Erfahrungsstand hinsichtlich der (rechtlich abgesicherten) Verwaltungspraxis in Bezug auf Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften, Satzungen, Leitlinien usw. Es gelang, in den wichtigsten Behörden jeweils eine Person ausfindig zu machen, die sich in der Materie besonders gut auskannte. Das war für die Bildung eines „Netzwerkes“ von Ansprechpartnern wichtig und ist es noch. Es schloss sich eine umfangreiche „zweite Schreibphase“ an, in der – wie häufig und eigentlich in allen Beratungsländern – Fragen der sprachlichen Äquivalenz von Begriffen erheblichen Diskussionsbedarf hervorriefen. Schreibarbeit muss aufgeteilt werden; Zwischen- und Endredaktion sind unerlässlich. Das Arbeitsergebnis wurde allen Klausurtagungsteilnehmern aus Regierung und Verwaltung zur kritischen Durchsicht vorgelegt. Nach Einarbeitung der Rückläufe wurde es der Regierung übergeben.

II.  Manual on Secondary Legislation for the Republic of Macedonia* 1.  Executive Summary The objective of this manual is to be used as a practical tool and to help in better understanding, drafting, implementing and monitoring of secondary legislation. It is primarily intended for the staff of state authorities and other bodies and institutions performing normative activities, who are directly involved in the above mentioned processes. However, due to simplicity of the style and content, the manual could also be used by any person who has an interest to learn more about secondary legislation. This manual is developed within the framework of activities and commitments of the OSCE Spillover Monitor Mission in Skopje, which are aimed at improvement of   Unter Mitarbeit von Tatjana Temelkoska.

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the legislative process and implementation of legislation as a foundation of democratic governance and the rule of law. These activities focus on providing support to the reform efforts by the competent authorities and institutions in the country towards advancement of the quality, effectiveness, inclusiveness and transparency of primary and secondary legislation. In this respect, the manual is developed as a response to the needs identified by the country’s authorities with the view to improve the current conditions which were, inter alia, noted in the OSCE/ODIHR Assessment on the Law Making and Regulatory Management.9 Several methodological approaches and methods were applied in the preparation of this manual, such as research and analysis, base-line survey and interviews and consultations with representatives of relevant state authorities and institutions. During the first phase of the work on this manual, a comprehensive and thorough analysis was carried about the existing legal and institutional framework in the country as well as a comparative analysis of the European Union legislation and the legislation of some member states (Germany, Slovenia, France, Croatia and Czech Republic). The analysis also included the reports produced by relevant international actors, and further a subject of observations were the practices and standards established in this area. Very important sources of information about the legal framework and national practices were the interviews and direct consultations with representatives of competent bodies and institutions held during the assessment mission and the base-line survey. At the end, an isolation session was held, where their comments on the working version of the manual were of great importance for further improvement of the quality and accuracy of the manual. This methodological approach ensured enrichment of the manual, but also strengthened the sense of ownership and acceptance by those to whom it is intended. The Manual elaborates the key aspects and issues concerning secondary legislation, which are actually interrelated in a circular process and are typical for all public policy instruments. It departs from the notion and distinctive features of secondary legislation, the requirement for an explicit legal basis and authorization to enact secondary legislation as well as the scope of regulation and the bodies and institutions that are competent to adopt secondary legislation. Furthermore, the manual details all phases and steps to be undertaken in the process of drafting and adoption of secondary legislation. A particular emphasis is given on how to ensure public participation and involvement in this process, and the different modalities of participation and consultation with interested and concerned parties, the public at large and the media. Due to their importance, a separate section is devoted to drafting and nomotechnical rules. The manual also focuses on monitoring and ex post evaluation of the implementation of secondary legislation. The approximation with European Union law is another important aspect which deserves particular attention. It is worth mentioning that all these issues are treated according

9  OSCE/ODIHR Assessment Report on the Law Making and Regulatory Management in the Former Yugoslav Republic of Macedonia. Source: www.oecd.org/dataoecd/42/21/1823473.pdf.

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to the current legislation of the Republic of Macedonia, but also in light of the rules and standards which have been developed and accepted in practice. With the view to improve the state of affairs and current practices, recommendations are offered throughout the text of the manual. These recommendations are primarily founded on the legal solutions and opportunities that already exist, and therefore they stress and reiterate the importance of full adherence and use thereof. On the other hand, some of the recommendations offer new options which are inspired by the comparative experiences and the best practices and standard in this area developed in the European Union. It is hoped that this manual will not only be used by the people who are involved in drafting and implementing secondary legislation, but also be used in the training and professional advancement of young law graduates. Moreover, the manual should give a new impetus and encourage further discussion and deeper analysis about certain issues concerning secondary legislation and the principle of rule of law.

2.  General Remarks a)  Notion of secondary legislation At present, the modern democratic societies function in a very dynamic and global surrounding, that leads towards a significant increase of the legislative and normative activity. This kind of extensive regulatory activity primarily stems from the need and socially accepted standards for respect of individual rights and freedoms, the principles of separation of powers and the rule of law as well as the requirements for limitation of the authority of the state. This means that the limitations of the intervention of the state and the bodies with public authority, through the act of adoption of general legal acts such as the laws and other regulations, are as important as are the limitations for direct intervention in the realization of the individual rights and freedoms through the adoption of individual legal acts and the realizations of the state functions. On the other hand, the legislator, quite often motivated by political or pragmatic reasons, gives away and transfers its original and legitimate authorization for policy creation and adoption of laws and regulations primarily to the executive bodies. For the purposes of implementation of policies and laws, the executive branch adopts secondary legislation. At the same time, the number of other autonomous bodies and organizations, who have regulatory competences and that adopt this kind of acts, is continuously increasing. Secondary legislation, in legal theory and practice, is marked with several different terms and as a result of which characteristic of theirs, such as general legal acts, has a decisive importance. Hence, the term secondary legislation is widely spread and that term is used with the aim to distinguish these acts from the primary legislation which includes the laws as primary sources of law. Moreover, the term delegated legislation is also used, which stresses the fact that the authorization for their adoption is not original, but that it is subtracted and transmitted by the bearer of legislative power to the governmental and other regulatory bodies and institutions.

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Starting from the basic aim for which secondary legislation is adopted, that is comprised of ensuring the implementation and execution of laws, these acts are also called implementing legislation. With the aim of having greater clarity and consistency the terms secondary legislation and regulations are used in this manual. Secondary legislation are abstract legal acts that have general legal effects (erga omnes) towards an unspecified number of individuals and entities for unlimited period of time, which govern public issues, behind which there is a power of coercion and are immediately under the laws in the hierarchy of legal norms. In fact, with the secondary legislation statutory provisions are further elaborated and the immediate execution of the laws is ensured. The basic aim of the secondary legislation is to decrease the burden and the obligation of the legislator from adoption of too extensive and detailed laws, which in fact is necessary for their execution by the administration and the courts. The secondary legislation is not only important but is usually necessary as well. Put in the terminology of the European Union, the secondary legislation allows for the arrangement of the non – essential elements of the primary legislation. “A legislative act may delegate to the (European) Commission the power to adopt non-legislative acts of general application to supplement or amend certain non-essential elements of the legislative act. The objects, content, scope and duration of the delegation of power shall be explicitly defined in the legislative acts. The essential elements of an area shall be reserved for the legislative act and accordingly shall not be the subject of a delegation of power.”10

b)  Legal framework for adoption of secondary legislation The legal framework that regulates the secondary legislation in the Republic of Macedonia is comprised of: The Constitution of the Republic of Macedonia11 – in which the foundation values of the constitutional order are determined, such as the separation of powers and the competencies of the legislative, executive and judicial branch, the principles of state of law and the rule of law, the constitutionality and legality, the hierarchy of legal acts, the obligation for publication of laws and other regulations, the prohibition for their retroactivity and the power for adoption of secondary legislation by the executive branch. The Law on the Assembly of the Republic of Macedonia12 and the Rulebook for the work of the Assembly of the Republic of Macedonia13 – contain relevant provisions for the relations between the Government and the Assembly of the Republic of Macedonia in the legislative process. 10   In accordance to Article 290, paragraph 1 of the Lisbon Treaty – consolidated version (Official Journal of the EU, C 115/47, 9/5/2008). Source: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/?LexUriServ. do? uri=OJ:C:2008:115:0047:0199:EN:PDF. 11   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  52/1991, 1/92, 31/99, 91/01, 84/03, 107/2005 and 3/09. 12   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  104/09. 13   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  130/10 – consolidated version.

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The Law on the Government of the Republic of Macedonia14 – which regulates the organization, the manner of work and the competencies of the Government of the Republic of Macedonia, as well as the types of secondary legislation that it adopts within the frame of its competencies. The Law on Organization and Work of the State Administrative Bodies (ZORODU) 15 – which regulates the organization, the competencies and the work of state administration bodies.These bodies are established in different areas and sectors of importance for the performance of state functions and due to effective realization of the rights and duties of the citizens and legal entities, as well as the types of secondary legislation they adopt. The Rulebook for the work of the Government of the Republic of Macedonia16 – that regulates the internal organization and the manner of work of the Government and its working bodies and the manner of drafting, reviewing and adoption of the secondary legislation in particular, as well as other issues that are of importance for the work of the Government. The Law on the Local-self Government17 – that regulates the competencies of the municipalities, the organization and the manner of work of their bodies, the participation of citizens in the decision-making, the possession of property, the adoption of a statute and other acts and other issues of local relevance. The substantive laws in which the legal grounds for adoption of secondary legislation are contained – there is a number of laws which govern a particular area wherein the legal basis for adoption of secondary legislation is prescribed. The legal framework for drafting and adoption of secondary legislation on the part of the independent regulatory bodies and the autonomous organizations and institutions which are not hierarchically subordinated to the Government, is comprised of the laws that regulate the area they cover, such as for example, higher education, personal data protection, electronic communications and many other areas.

c)  Legal basis, authorization and scope of organization The Government as the bearer of the executive power in the legislative process, in the largest number of cases, appears as the proposer of the laws and other regulations, in a manner in which it significantly influences the creation of legislation and policies. This process strengthens the position and the power of the executive branch, and it further stresses the need of the existence of clear constitution and legal guarantees as well as limitations of its competencies and powers. Therefore, the democratic legitimacy of the Government and the state administrative bodies to adopt secondary legislation and other regulations derives from, but at the same time, it is limited by 14   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  59/00, 12/03, 55/05, 57/06, 115/07, 19/08, 82/08 and 10/10. 15   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  58/00, 59/00 and 82/08. 16   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  36/08 – consolidated version and additional amendments published in Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  51/08, 86/08,144/08, 42/09, 62/09, 141/09,162/09, and 40/10. 17   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  5/02.

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the requirement for a clear legal basis and authorization for adoption of secondary legislation. These must be envisioned by the law, i.  e. with the primary legislation. The Assembly of the Republic of Macedonia, as the bearer of the legislative power, has the exclusive right to regulate certain issues and areas, such is the case with the following areas: 1) the rights and freedoms of each individual and the citizens and the rights and obligations of legal entities; 2) the competencies of the state administrative bodies; and 3) determination of criminal and other punishable offences.18 The exclusivity in these spheres is contained in the fact that the legislator could not give away or transfer this authorization to the other state administrative bodies. Moreover, in these two areas, the interventions of the executive branch are quite limited. Hence, it could not prescribe new ones, it could not decrease or expand the individual rights and freedoms, nor could it suspend or derogate them. With the secondary legislation that it is empowered to adopt the details for their realization are only further regulated. The previously mentioned also relates to the regulation of the competencies of the state administrative bodies, which are exclusively reserved as a legal matter, while the organizational and technical details for their realization are made more precise with the secondary legislation.19 Apart from the legal basis, a crucial requirement in view of the adoption of secondary legislation always is the clear authorization or power envisaged by the law. The legislator delegates and determines the frame for further normative activities by prescribing the content, the aim and the scope of the authorization for adoption of secondary legislation. Most often, the scope of this authorization is determined in a narrow manner, primarily to avoid possible surpassing, but it is still necessary to leave a certain degree of flexibility of the regulation of secondary legislation. On the other hand, the authorization for adoption of secondary legislation should neither be too broad nor too general. Thus, it is not always easy to find the proper balance between these two legitimate requirements. From a comparative point of view, countries with long-lasting democratic and legal tradition regulate differently the authorization for adoption of secondary legislation. Hence, in the French Republic, the executive branch is provided with a general and extensive authorization for adoption of secondary legislation (règlements). In the United Kingdom, there is no clear distinction between the primary legislation (statutory law) and the delegated legislation (statutory instruments). In the USA, although the so-called “doctrine of non-delegation” prevails, still the President and its administration adopt numerous regulations. A very characteristic example is the German one, where the basis and the limits of the authorization for adoption of secondary legislation (Rechtsverordnungen) are envisaged in the Federal Constitution and it relates to the Federal Government and the Government of each State (Land). Namely, the Constitution 20 clearly stipulates that   Article 61 of ZORODU.   For example, such is the provision that prescribes that the organization and the manner of work of the Government is prescribed by the law, which is contained in Article 89, line 6 of the Constitution of the Republic of Macedonia. 20   Article 80, paragraph 1 of the German Constitution from 1949 with the amendments. Source: http://www.constitution.org/cons/germany.txt. 18 19

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the content, the aim and the scope of the authorization are regulated by law and that each secondary legislative act should contain a reference to the legal basis according to which it is adopted. Concurrently, it provides for the municipalities to regulate issues of local significance with their acts, within the limits prescribed by the law.21 In accordance with the democratic principles, the Constitution of the Republic of Macedonia also contains provisions empowering the Government and the units of local self-government to adopt secondary legislation.22 Apart from the constitutional provisions, the Government, the ministries and the state administration bodies, draw on the legal competence and the basis for adoption of the secondary legislation from Article 35 of the Law on the Government and Article 55 of the Law on the Organization and Work of the State Administrative Bodies.23 It should be borne in mind that these constitutional and statutory provisions do not provide the Government, ministries and state administration bodies with a general legal authorization to adopt secondary legislation. For the adoption of secondary legislation it is necessary to have an explicit legal ground prescribed by the substantive law governing a given subject area. Also, the legal authorization for adoption of secondary legislation by the independent regulatory bodies has to be envisaged by a special law which regulates the subject area or subject matter. The scope of regulation of secondary legislation is decisively determined in Article 61 of the Law on the Organization and Work of the State Administrative Bodies, which prescribes that with the acts adopted by these bodies, no rights and obligations could be regulated for citizens and other legal entities, nor could they prescribe competence to other bodies.24 This means that the determination of rights and obligations of physical and legal persons and the competencies of the state administrative bodies represents exclusively a matter to be govern by primary legislation, while the manner and their immediate realization is subject to more detailed normative regulation by secondary legislation. Recommendation: The proposer of a law should, even in the early phase of preparation of the text of the draft law, decide which issues would be regulated by the law and which issues would be left out and under which conditions would they be subject to further regulation by secondary legislation. Furthermore, there is a need for clear and precise determination of the legal basis, the authorization and the scope of regulation of secondary legislation. In this regard, it is essential that in parallel to the draft law, drafts for secondary legislation are prepared where explanation would be provided as to the subject of regulation by the secondary legislation and the reason why it is governed with secondary and not with primary legislation.

  Article 28 paragraph 2, Ibid.   Article 91, line 5 and 6, Article 115 and Amendment XVIII, paragraph 1 of the Constitution of the Republic of Macedonia. 23   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  58/00, 59/00 and 82/08. 24  Ibid. 21

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d)  Types and classification of secondary legislation A wide spectrum of secondary legislation acts exists, which are not always clearly distinguished and it is not easy to include them in one comprehensive and consistent classification.25 In accordance with European standards, when the type of secondary legislation act is determined, the following criteria are considered as points of departure: – The body that adopts them: the Government, the state administrative bodies, the independent regulatory bodies and other independent bodies and institutions,26 – Legal nature of the act: general and abstract act vis-a-vis single and concrete act; – Legal effect of the act: an act that has general effect vis-a-vis the citizens and the other legal entities (erga omnes) and an act which produces effects only with regard to the state administration or certain person, i.  e. an act that has an individual effect (inter partes); – Depending on the authorization for adoption, a difference is made between acts that are adopted on the basis of a clear and concrete statutory authorization and acts that are adopted on the basis of a wider and general statutory authorization provided to the bodies of the executive branch and the administration, as well as to the units of the local self-government and the independent regulatory bodies; – The acts are distinguished also on the basis of the subject of regulation

In the classification of the types of secondary legislation the primary point of departure is the body that adopts them and the legal effect they have. Hence, in the group of general acts with general effect the following are included: ordinances, decrees, rulebooks, orders, guidelines, plans, programmes, principal attitudes and directions, methodologies, tariffs, by-laws and others. This list is not exhaustive; it leaves space for adoption of other types of acts for enforcement of the laws and other regulations.27 From these general acts, the internal acts which have individual effect are differentiated as are those that regulate the organizational and procedural issues, which relate exclusively to the management and the work of the ministry or to any other body of the state administration or an independent institution, such as: conclusions, directions and attitudes, mandatory instructions, or rules of procedure for the working time and rulebooks for the work of the internal working group or commission.28 The decisions which are taken to appoint or dismiss management personnel and to decide for separate issues envisaged by the law and another regulation, are also included here. Recommendation: In the process of drafting and adoption of secondary legislation, it is necessary to conduct proper, clear and essential distinction of the types of secondary acts on the basis of the mentioned criteria. In that sense, it is particularly important, even in the early phase of preparation, to evaluate and determine whether a given secondary act is concrete or general in its essence and whether it produces in  This weakness is identified in the Report of OSCE/ODIHR for the process of adoption of laws and the regulatory management from 2007, revised in 2008, pg. 7. 26   See more below in Section II of this manual. 27   The types of secondary legislation which are adopted by the Government and the ministries are regulated in the following provisions: Article 10, 35 and 36 from the Law on the Government of the Republic of Macedonia; Article 55, 56 and 60 from ZORODU and Article 111 and 112 from the Rulebook of the Government. 28   For example: The Rules of Procedure for the Performing of the Works of the Training Center of the Bureau for Public Security in the Ministry of Internal Affairs. 25

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dividual or general effect for all citizens and entities, something upon which the obligation for its publication would depend on. With the purpose to facilitate the use of this manual by practitioners, the Annex of this manual contains a table of secondary legislation, where they are categorized according to the competent body for adoption, their publication and legal effect and subject of regulation.

3.  Institutional Framework and Adoption Procedure a)  Bodies and institutions authorized to adopt secondary legislation In global, regional and national frameworks, we are witnesses of the intensive normative activity and of a constant growth of not only the number and the types of normative acts, as instruments which regulate the relationships between the subjects of the law and the policies are created and implemented, but also of the bodies and institutions which adopt them. This state of play and intention is also the case for the Republic of Macedonia, which is largely conditioned by the complexity and the dynamics of the relations in the divergent spheres of the social life. The authorization for adoption and limitation of the scope of regulation by the secondary legislation could be prescribed by constitution or by law, on the part of the competent bodies and institutions.29 In the Republic of Macedonia, there is a large number of bodies and institutions which have the authorization and are included in the process for drafting and adoption of the secondary legislation, such as: – T he Government of the Republic of Macedonia, as the bearer of the executive power, regulates the implementation policy of the laws and the other regulations and it monitors their execution and it adopts several types of secondary legislation.30 – T he state administrative bodies, of which the ministries are a part, other bodies of the state administration and administrative organizations. The ministries are established for the performance of the functions of the state administration and are grouped in areas for one or more similar administrative sectors. The other state administrative bodies are founded as autonomous bodies of the state administration (directorates, archives, agencies and commissions) or bodies within the ministries (inspectorate, bureau, service, inspectorate or the post authority), according to the type of the organization and the degree of autonomy.31 An example of autonomous state administration body is the State Bureau for Statistics, and an example of bodies within the ministries is the Public Procurements Bureau. – T he local self-government units, the councils and the bodies of municipalities and the City of Skopje are authorized to adopt statutes and other regulations, which regulate the issues related to their organization and performance.32 – Autonomous and independent state bodies such are agencies, directorates and commissions, whose composition or general manager is elected or appointed by the Assembly of the 29   Such a provision is contained in Article 80, paragraph 1 of the Constitution of the Federal Republic of Germany. 30   Article 10, 35 and 36 of the Law on the Government of the Republic of Macedonia. 31   Article 13, point (1), (2), (9) and (10) from ZORODU. 32   Article 91, line 5 and 6, Article 115 and Amendment XVIII, paragraph 1 of the Constitution of the Republic of Macedonia and Article 7 from the Law on Local Self-Government.

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Republic of Macedonia (for example, Directorate for Protection of Personal Data, State Commission for Prevention of Corruption, etc.). – Independent regulatory bodies, such are agencies and commissions, whose composition or general manager is elected or appointed by the Assembly of the Republic of Macedonia (for example, Postal Agency, Agency for Electronic Communications, Broadcasting Council, National Bank of the Republic of Macedonia, etc.). – T he Universities and the autonomous institutions of higher education adopt a statute as a basic act and rules of procedure, within the frame of the academic autonomy that they enjoy and the right to management.33 – Professional associations and organizations which perform public authorizations, such as the Bar Association and the Notary chamber, the Chamber of Enforcement Agents/Bailiffs, etc., whose authorization to adopt such acts is envisaged by the laws which have established them.

b)  Procedure for drafting and adoption The process of preparation and adoption, including also the monitoring and the evaluation of the implementation of the secondary legislation, to a large extent, collides with the process which is into force for the laws as the sources of the primary legislation, and it includes the following important steps: –  Preparatory activities –  Drafting and adoption of secondary legislation –  Participation and consultation of the concerned parties, the public and the media –  Publishing of secondary legislation –  Monitoring of the implementation of secondary legislation –  Ex post evaluation of the implementation of secondary legislation –  Revision of secondary legislation

aa)  Preparatory activities In the preparatory phase of drafting secondary legislation several key activities need to be undertaken, such as: 1) it is necessary to make checks and to clearly determine the legal basis, the authorization for adoption and limitation of the scope and the subject of regulation of the secondary legislation; 2) to perform the preliminary “ex-ante” evaluation of the influence and the effects of the secondary legislation which should be adopted; 3) to research, to check and to review the European Union law if the secondary legislation allows for transposition of the norms entailed in the general legal act of the EU; 4) to assess the relations and implications on other regulations and 5) to develop main guidelines for secondary legislation. Check of the legal basis, the authorization and the scope – it is necessary to perform several checks and to determine or to recognize the legal basis that is in power and the authorization for adoption of the secondary legislation. Concomitantly, the subject of regulation of the secondary act should be clearly and unambiguously determined and 33   In accordance to Article 9 of the Law on Higher Education (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  35/2008, 103/2008; 26/2009; 83/2009; 99/2009 and 115/2010).

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formulated. For example, if the law envisages that the secondary legislation determines the manner, the form and the content, it means that only these three elements would be regulated and it cannot be expanded possibly to a fourth or other supplementary element, for example, to regulate the conditions.34 Recommendation: In the preparation of the secondary legislation, the general legal framework and the limitations should always be taken into account that they could neither regulate the rights and duties of the citizens and the legal persons, nor they could prescribe competence to other bodies or proscribe punishable offences.35 The essence of the secondary legislation is to ensure execution of the laws, and in that manner, to ensure the realization of the individual rights and freedoms and the performance of competencies. For these reasons, the preparation and adoption of the secondary legislation is of key importance to collide in terms of time with the adoption of the basic law. Regulatory Impact Assessment (RIA) – is envisaged as a legal obligation only in the preparation of the draft laws which are not adopted in the urgent procedure and in the frames of the government procedure.36 In view of the secondary legislation, this kind of obligation for conducting ex ante regulatory impact assessment is not envisaged. Hence, it should be stressed here that the ministries and the bodies of the state administration, still have a legal obligation, together with the draft law to prepare and to submit to the Government, the thesis for secondary legislation. Recommendation: The RIA instrument is recommended to be expanded in the area of secondary legislation, i.  e. the ex ante regulatory impact assessment which is implemented in view of the draft piece of primary legislation, in parallel and concomitantly, to include the secondary legislation which are adopted with the view to its execution.37 Recommendation: Having regard to the legal nature of secondary legislation and its function to enable the enforcement and implementation of primary legislation, it is of paramount importance the drafting and adoption of secondary legislation to coincide in time with the adoption of the principal substantive law.

bb) Drafting The procedure for drafting and adoption of secondary legislation is differentiated in accordance to which body adopts them, i.  e. whether they are adopted by “state” or “non-state” bodies and institutions and what is the legal action that they produce. This manual is focused on the drafting and adoption of secondary legislation on the 34   For example, the provisions from Article 17(2), 20(1), 29(4), 36(5) and 37(6) from the Law on Free Legal Aid (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  161/09). 35   Article 61 from ZORODU. 36   Article 65(3) of the Rulebook of the Government of the Republic of Macedonia. 37   The Comparative experiences demonstrate this kind of approach towards the secondary legislature. For example, in the Republic of Slovenia a preliminary assessment is made on the impact that the secondary legislation could trigger over the performance of the public administration and the courts. In the Czech Republic, at the same time, the secondary legislation are subject to regulatory impact assessment, and this assessment could be little or wide in its scope or the same is regulated with the General rules for regulatory impact assessment (Government Decision, 877/2007).

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part of the Government, the ministries and the state administrative bodies. At the same time, a comparison is made and certain specifics and characteristics are taken into consideration of the procedure and the rules which are implemented by the independent regulatory bodies and institutions.38 In general, the procedure for drafting and adoption of the secondary legislation is more flexible and less formalized in comparison to the legislative procedure. There are no special rules and standards in view of the procedure, the phases and the manner of drafting of the secondary legislation. In practice, for these issues the procedural and nomotechical rules are implemented that are enforced for the laws.

cc)  Procedure in the ministries and the state administrative bodies The draft of the secondary legislation is prepared by the line ministry or another state administrative body, for which an internal working group is recommended and most often formed. In certain cases and when it is a matter for which more ministries are competent, a cross-sector working group could be formed in which all the concerned ministries and bodies are represented and at the same time a coordinator is selected.39 In case when the secondary legislation which are adopted upon a previously provided opinion or in accordance with another ministry or state administrative body are in question, consultations and mutual alignments are made. In case when no agreement could be reached, the ministries are obliged to inform the Government on the conflicting issue and to act according to the guideline that would be provided by the Government.40 In the preparation of the text of the draft secondary legislation act, as a rule, the services/units responsible for normative activity and persons who work or have worked on the primary law from which the basis for the adoption of the secondary legislation is drawn, should be involved It is recommended that the process for drafting of primary and secondary legislation is undertaken in parallel and at the same time, on a manner on which the danger of non-implementation of laws due to the inexistence or delay of the secondary legislation is avoided.41 Secondary legislation is in the competence of the ministries and the other bodies of the state administration are subject to cross-sector coordination and opinion of the Legislative Secretariat and the Secretariat of European Affairs. Finally, they are adopted or signed by the minister or the director of the autonomous body of the state administration.   One of the sources of data for the procedure for drafting of secondary legislation is the survey conducted on the part of the office of the OSCE Monitoring mission to Skopje and the series of talks realized in the period of the assessment mission in August 2010. 39   Article 99 from the Rulebook on the Work of the Government. 40   Article 59 from the Law on the organization and the work of the bodies of the state administration. 41   In the legislative rules of the Government of the Czech Republic it is prescribed that the secondary legislation is prepared in a timely manner, so that they could enter into force on the same day when the provisions of the law to whose implementation the secondary act is related to, enters into force. 38

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dd)  Procedure in the Government When there is a case of a secondary legislation which is adopted by the Government of the Republic of Macedonia, the procedure is more complex and formalized. In particular, this is in view of the questions for delivery, alignment and action with the materials that are subject to consideration and adoption of the Government Session.42 The materials which are prepared by the proposers – the line ministries, including the drafts legislation – are delivered in electronic form to the General Secretariat of the Government of the Republic of Macedonia, which is in charge of the cross-sector coordination. The draft laws, the other regulations and acts are delivered with a supporting letter and a memorandum, in which short and clear information on the content of the materials is provided. Together with the draft laws and the secondary legislation, inter alia, the form for regulatory impact assessment (RIA), the opinions and information on the performed consultations and cross-sector coordination, the corresponding table and the declaration on the approximation of the regulations with the European Union acquis communautaire are submitted).43 Cross-sector coordination – Prior to reviewing the working bodies of the Government, the proposals of the secondary legislation are sent to all the competent and concerned ministries and the state bodies depending on the nature of the material that is subject to consideration, with the aim of performing the necessary consultations and the approximation of the proposed acts.44 The proposals of the secondary legislation and the other acts are, inter alia, mandatory submitted to the Ministry of Finance due to the fiscal implications which are to be incurred, to the Legislative Secretariat that is responsible for reviewing of their alignment with the internal legal order, the ratified international agreements and with the EU acquis, as well as to the Secretariat for European Affairs when the secondary legislation is used for approximation to the European Union acquis. Each of these bodies, in the framework of their competencies, submits an opinion that is presented together with the draft of the secondary legislation. In case when, beside the consultations, there is no rapprochement (drawing closer) of attitudes, the draft would be withdrawn and no hearing would be held. Consideration by the working bodies of the Government – Prior to the review of the proposals of secondary legislation at the Government session, they are considered by the General Collegium within the Government which is composed of state secretaries of the ministries and by other working bodies.45 The proposer is mandatorily present and he/she explains the material, while the conclusions and the attitudes are adopted with a majority of votes.   Article 63, 64, 65, 66, 76, 78 and 79 from the Rulebook on the Work of the Government.   Article 76 (1) and Article 77, Ibid. 44   Article 67, 68, 69 and 70, Ibid. 45   These working bodies could be permanent and occasional. In the permanent commission the following are included – the Commission for political system, the Commission for economic system and the Commission for human resources and sustainable development. Apart from the working bodies, councils, boards and working groups could be formed (Article 26 and 27, Ibid). 42 43

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Screening of the legality of the proposals of the secondary legislation – The Legislative Secretariat, as an expert service of the Government, has a special role and it is responsible for ensuring the consistency of the legal order and for providing of expert opinions on the alignment of the laws and other regulations with the Constitution of the Republic of Macedonia, with the international agreements ratified in line with the Constitution of the Republic of Macedonia and with the European Union acquis.46 The Legislative Secretariat provides expert opinion, which is not compulsory for the proposer. Should the proposer and the Legislative Secretariat have difference in opinion; efforts will be made for conciliation and coordination. Adoption and signature – The draft law, i.  e. another draft regulation or another act, at the Government session, as a rule, are considered in principle, and then on the basis of their content. The secondary legislation, as well as the other acts that are in the competence of the Government, are adopted with a conclusion.47 The regulations and the other acts, including the secondary legislation is signed by the President of the Government or the deputy President of the Government who chaired the Government session to which they are adopted.48

ee)  Procedure in independent regulatory bodies The procedure for drafting and adoption of the secondary legislation on the part of the independent regulatory institutions and bodies is simpler, but in its essence it is similar to the procedure of the ministries. Namely, in the frame of the body which is authorized to prepare the draft secondary legislation a working group is formed. In the preparation of the draft secondary act the legal basis and the frame of the subject for regulation of the secondary act, which is usually contained in the general law, is used as the point of departure. Recommendation: It is recommended that the text of the draft of the secondary act, depending on the subject to regulation, should be considered and consulted with the concerned parties and the public at large. Following the phase of consultation, the final solutions of the text of the draft law are being prepared, and then the adoption and the signature follows on the part of the competent body as the Director, the Management Board, the Council, the Senate, etc.49 The secondary legislation which is adopted by the independent regulatory institutions and bodies are not subject to screening and verification of their internal and external legal consistency. The Legislative Secretariat, as an expert service of the Government, does not have competencies to provide opinions on the secondary legislation which is adopted by these bodies, but it still provides informal advice and assistance when requested.   Article 40 from the Law on the Government of the Republic of Macedonia.   Article 92 and 95 from the Rulebook on the Work of the Government. 48   Article 11 from the Law on the Government of the Republic of Macedonia and Article 113 from ZORODU. 49   For example, such kind of competence is in the possession of the Broadcasting Council in accordance to the Law on the Broadcasting Activity (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  100/2005, 19/2007, 103/2008 and 6/2010). 46 47

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Recommendation: It is necessary to find a systematic and institutional solution that would ensure screening of the quality and consistency of secondary legislation adopted in very important areas covered by the independent regulatory bodies.

c)  Participation and consultations with the interested parties, the public and the media The incorporation and the participation of the parties concerned and the public, even in the earliest phase of the preparation of the laws and the other regulations, represents a democratic value and it contributes towards the transparency, the public and the accountability in the work of the state bodies. At the same time, this significantly contributes also towards the improvement of the quality of the legislature and the readiness of the citizens and the other subjects to respect and enforcement in the future. In the Republic of Macedonia, there is a legal framework which provides for inclusiveness and participation of the concerned parties, the expert and the general public in the legislative process and in the creation of the general policies.50 In that sense, in the process of preparation of the laws and the other regulations, there are several different types through which participation and consultation with the citizens and the other concerned parties is ensured, i.  e.: 1) public announcement of the type, the content and the deadlines for adoption of the laws and the other regulations and the providing of opinions and comments; 2) the organizing of public tribunes and 3) gathering an opinion from the concerned citizens’ associations and other legal persons, etc.51 All the proposals for adoption of laws, the drafts and the proposals of laws, should be published by the competent ministry on their internet website and in the single electronic registry for regulations (ENER), unless in the case when laws are adopted in an urgent procedure. In this registry, all the concerned parties should submit an opinion, remarks and propositions related to the published proposals within 10 days from the day of the publication. The competent ministry should prepare a report for the received opinions in which the reasons are outlines according to which the provided remarks and propositions are not accepted. The report is published on the internet website of the ministry and the single electronic registry for regulations, where they are kept as reference material along with the draft law for the time period of one year.52 As opposed to the publication of the draft laws in the single electronic registry, the practice of publication of drafts of the secondary legislation is differently applied by 50   Apart from the legal provisions or those from the rulebook for the work of the Government, a Strategy for cooperation with the civil society sector is adopted, with an Action Plan for implementation 2007–2011, with the aim of establishing an institutional obligation for cherishing the quality relations of cooperation with the civil society sector. Source: http://ecnl.org.hU/dindocuments/101_Strat egy%20and%20Action%20Plan%20(macedonian).pdf. 51   Article 10 from ZORODU. 52   Article 71 from the Rulebook on the Work of the Government.

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the ministries and the state administrative bodies, inter alia, also due to the fact that there is no clear legal obligation. Recommendation: It is recommended that the thesis and the drafts of the secondary legislation are published at the same time and along with the laws, in such a manner so that publicity is ensured and so that they could obtain timely comments for the improvement of their essence and contents. At the same time, it is recommended that the obligation for the electronic publication of the draft laws should be extended to include the proposals of the secondary legislation, as well. The other type of participation of the concerned parties and the public is through the incorporation in public tribunes, debates and round tables organized particularly at that end. Concomitantly, there is also a possibility for them to immediately take part in the debate on the draft laws and the regulations in the working bodies of the Government. Namely, the President of the working body, on a proposal by the proposer of the material or on its own initiative, is able to call upon the representatives from the concerned parties, the organizations, the citizen’s associations, the trade unions, the chambers, as well as academics and experts, with the aim of providing opinions and consultations on the issues that are subject to consideration.53 This legal frame, however, is not sufficiently used in practice. In most cases, it is very rare that the interested and concerned parties and even rarely the representatives of the civil society, the media and the wider public are included mainly due to the legal-technical nature of the secondary legislation and the time limitations on their preparation. Recommendation: It is recommended that the principles of publicity, transparency, inclusiveness are diligently respected and not only formally and legally and to use their values in the adoption of the regulations.54 The interested and concerned parties, civil society representatives and the public at large should be involved in all stages i.  e. drafting and adoption, implementation and monitoring and evaluation of the secondary legislation. In particular, it is recommended that in this process the media are used and included as a means to ensure constructive criticism, but also support for the preparation, the consultation and the adoption of the primary and the secondary legislation. With the assistance of the media, a critical mass could be animated and created in the public opinion that would support the need for adoption, would ensure a forum for discussion and exchange of attitudes and opinions and finally it would contribute towards the creation of an appropriate surrounding for their acceptance and implementation. Good practice: Quite an inspirational example is the Czech Republic, where a well-developed system of consultations with the public in the process of preparation of the acts of the Government exists, for which a separate document with directions and minimal standards for participation of the public is adopted. In the document, four levels of participation are detailed out: partnership, consultations, commenting and exchange of information. The participation of the public starts in a very early   Article 48, Ibid.   A particular area which is distinguished with a high degree of inclusivity and participation of the public is the area of environment, within which a decree of the Government is adopted for the participation of the public in the preparation of the regulations and other acts, as well as the plans and programmes in the area of the environment (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  147/08). 53

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phase, i.  e. in the phase of regulatory impact assessment (RIA). In the case of implementation of the so-called wide RIA, a special publication appears on the website of the Government, related to the process of consultations with the public. In terms of the secondary legislation, such a wide RIA is rarely implemented. Instead, direct consultations with certain subjects are performed which have expertise in the given area.55

d)  Publication of secondary legislation An important element of the legal security and the rule of law is the constitutional guarantee that all the laws and regulations are published before they enter into force and before they produce legal action. The basic aim of the publishing is that the citizens and the other legal entities have substantial time (vacatio legis) to inform themselves with the provisions of the general legal act and the rights and obligations that stem for them, as well as time to undertake the necessary organizational and technical preparations for the implementation of the secondary legislation. A publication order for secondary legislation is issued to the ministries and the state administrative bodies by the Secretariat for legislation, while such kind of warrant is issued by the General Secretariat of the Government for those that are adopted by the Government of the Republic of Macedonia, after their consistency is ensured.56 The secondary legislation are published in the “Official Gazette of the Republic of Macedonia” or in another official medium (for example, in the medium of the units of the local self-government57) or in another appropriate manner (on the internet webpage of the regulatory body). Most often, they enter into force in eight days or on the day of their publication.58 The obligation for publication of the secondary legislation depends on the type of their legal effect. In that sense, in article 114 from the Rulebook for the Work of the Government a difference is made between the secondary legislation that is mandatorily published and those which are not published as a rule, but which the Government could decide to publish. In the first category the decrees, the decisions and the guidelines of the Government are included, while the decisions, which have an action inter partes, are published in cases when the Government decides so. At the same time, certain programmes and conclusions of the Government could also be published.59 Recommendation: The basic rule is that all the general legal acts which have erga omnes effect ought to be published in the Official Gazette of the Republic of Macedonia. The internal legal acts which are used to regulate organizational and proce55   General rules for regulatory impact assessment, Decision of the Government of the Czech Republic 877/2007. 56   Article 5 from the Law on the Publication of the Laws and other Regulations and Acts in the Official Gazette of the Republic of Macedonia (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  56/99). 57   Article 21, paragraph 4 from the Law on the Local self-Government. 58   For more on this issue see Section 4 of this manual. 59   See Annex 1 – Classification of secondary legislation.

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dural issues within the bodies that adopt them are published internally. Still, the differentiation between these acts is not always easy, and therefore, when there is a dilemma, the secondary legislation should be published in the Official Gazette in order to strengthen the legal certainty.

e)  Monitoring of the quality and implementation of secondary legislation In each Parliamentary democracy that rests on the principles of separation of power and the rule of law, the implementation of the laws and the other regulations falls within the area of executive and judicial branch. This does not mean that the legislative branch should be completely exempted and distanced from the issues related to the implementation of the laws and the other regulations. On the contrary, the work of the legislator should not be diminished only to voting and adoption of laws, but should also be directed towards monitoring and evaluation of the faith of their product: whether and to which extent the law is implemented and whether it realizes the goal for which it is adopted. In the Republic of Macedonia, there is a legal and institutional frame for the monitoring of the quality and the implementation of the regulations, while the emphasis is placed upon the constitutional-legal revision, the parliamentary supervision, the supervision on the part of the Government and inspection supervision.60 Still, it should be stressed here that the monitoring is a wider term than the supervision and the control. The monitoring signifies a systematic and methodological collection and analysis of data from different sources and it also signifies the incorporation and the participation of the different concerned parties in this continuous and cyclical process. The parliamentary supervision over the implementation of the regulations is carried out through different mechanisms on the part of the Assembly of the Republic of Macedonia, such as the supervisory debates, the parliamentary questions, the consideration and the adoption of the submitted reports on the part of the independent institutions and bodies whose top management is elected and appointed by the Assembly.61 However, none of these mechanisms of parliamentary control does refer to and does include the implementation of the secondary legislation, which represents a greater systemic flaw that should be surmounted. The quality based, timely and appropriate secondary legislation is of key importance for the implementation of the laws. The legislator has a legitimate right and interest to monitor the implementation of the laws that it creates, and thus, to monitor the secondary legislation which are of key importance for their implementation. Therefore, the secondary legislation is called implementing legislature. The parliamentary interest for the secondary legislation should exist not only in the phase of the ex post assessment of their implementation, but also in the first phase from the pro-

60   Law on Inspection Supervision (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.50/10, which entered into force as of January 1, 2011). 61   Article 20–23 from the Law on the Assembly of the Republic of Macedonia.

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cedure for adoption of the laws, which prescribe the basis and the competencies for adoption of secondary legislation. The Government determines the policy of implementation of the laws and the other regulations and it monitors their execution. The Government is responsible for undertaking measures for which it is authorized and it proposes to the Assembly to undertake appropriate measures when it will evaluate that the laws and the other regulations are not executed.62 With the aim of execution of the laws and the other regulations, the Government established directions and attitudes and it adopts different types of secondary legislation. The Government performs supervision over the work of the ministries and over the work of the other state administrative bodies. In the process of performing of the supervisory function, the Government has the following competencies: to hold back the enforcement of a regulation that is adopted by a minister, to point out or to propose to the minister to amend or withdraw the regulation in a given time period, to terminate or annul a regulation or another act of the ministries, the state administrative bodies and the administrative organizations who is not in line with the Constitution, the law or any other regulation. At the same time, the Government has the right to terminate or to annul a regulation or another act of the council or any other body of the units of the local self-government and the City of Skopje from the designated competence.63 The ministries and the state administrative bodies, within the frames of their competencies, perform inspection supervision, that entails supervision over the execution and the implementation of the laws and the other regulation on the part of the state bodies, the public enterprises, the commercial associations, the institutions, the natural and legal persons, as well as supervision over the legality of their work. To that end, inspectorates should be formed within the ministries, as it is the case with the State Administrative Inspectorate and other. The procedure of the inspection supervision is initiated and is performed ex officio, according to the rules of the administrative procedure.64 The supervision over the legality of the regulations that are adopted by the Units of the Local Self-Government and the City of Skopje is performed by the Ministry for Local Self-Government, while the supervision over the performance is done by the state administrative bodies. The supervision over the delegated competencies to the Local Self-Government is performed by the body whose competencies are delegated.65

f)  Ex post evaluation of the implementation of secondary legislation Following the adoption and the entry into force of the regulations, including also the secondary legislation, it is very important to follow their implementation in a   Article 5 and 9 from the Law on the Government of the Republic of Macedonia.   Article 32 and 34, Ibid. 64   Article 42–46 from ZORODU. 65   Article 38 and 38-a from ZORODU. 62

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regular and systematic manner and to perform an “ex post” evaluation. The retrospective or “ex post” evaluation of the legislation is a relatively new concept, which has been gradually developed and accepted as a significant instrument in the process of policy creation and realization. In the Republic of Macedonia, unlike the established system and the methodology for estimation of the regulatory impact assessment, there is no functional system for ex post evaluation of its implementation. The ex post evaluation, is primarily related to the effects and the changes that take part as a result of the norms contained in the regulations and it focuses on answering the question whether the goals to whose end the regulations were adopted are realized. The characteristic questions that are subject to consideration are as follows: whether the regulations are available and accepted, whether the provisions have showed to be implementable and whether they are respected, what are the side effects and whether they are significant in their scope and nature, whether there is a need of their terminating, amending or addening, etc. Apart from the quality of the regulations, for which more is said in Section 3, the subject of analysis and evaluation through the matrix of the ex post evaluation of the implementation of secondary legislation are the following three criteria: Efficacy marks whether and to what extent the general legal act achieves the aim for which it was adopted. In the sense of these criteria, it is primarily important that the aim of the act is clearly outlined and established. For example, the efficacy of the regulation on the use of the safety belts is proven when the number of injuries and victims in car accidents decreases due to their use, which represents its basic aim. Effectiveness indicates the extent to which the behaviour and the attitudes of the individuals and entities to which the regulation is referred correspond with the behaviour envisaged by the secondary legislation. In the example above, different societies and cultures react in different manners, to a greater or a smaller extent accept the use of safety belts. Efficiency means whether the “benefits” from the regulation justify the “costs” incurred, which are understood in a wider and not only in financial sense, such as institutional capacities and resources pay-off. In the provided example, the norm for the use of safety belts is efficient if there are no other more economic alternative ways for achieving the aim. Recommendation: It is recommended here, that the indicators and the parameters for monitoring and evaluation of the effects for implementation of the secondary legis­ lation are determined at the earliest possible convenience, i.  e. even in the stage of preparation of the theses of the secondary legislation and in the stage of performing an “ex ante” regulatory impact assessment. Moreover, it is recommended that the process of monitoring and ex post evaluation of the secondary legislation should be open, transparent and inclusive and to use a variety of data sources. Apart from the institution that adopts the act – the Government, the ministries and the state administrative bodies or the regulatory bodies – the process of monitoring should include the Assembly of the Republic of Macedonia; the Constitutional Court of the Republic of Macedonia that protects the constitutionality and legality; the regular courts that act and decide, and thus implement and monitor the implementation of the laws and the other regulations in concrete cases; the specialized bodies such as the State Audit Office, which is responsible for auditing of the regularity and

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successfulness; a large number of bodies and institutions which follow, directly implement or are concerned by the secondary legislation as well as the non-governmental organizations and the public. Recommendation: It is recommended that ex post evaluation of the implementation of the regulations is performed regularly. Henceforth, it is clear that the scope and the issues that would be subject to evaluation, the time frame, the methodology and the subjects which would be included in the evaluation should be determined from the outset. The time when the revision of the regulation is planned, i.  e. when it amendments and addenda are prepared seems to be the most convenient time for conduction such an assessment. In view of the assessment of the secondary legislation, it is recommended that it is performed in parallel to the retrospective evaluation of the law and to, inter alia, focus on the realization of the goals, the normative effects, the social changes and the changes in the individual behaviour of the entities which came to existence as their consequences. Finally, on the basis of the acquired information of the ex post evaluation, the future normative measures are most often determined, i.  e., it is decided whether the secondary legislation could be terminated or derogated, whether the regulation should be subject to amending or addening or should it be consolidated and a consolidated text to be prepared in order to make its enforcement easier. The revision could also signify amending or introducing of a new regulatory instrument in the given area. In this context, a particular attention should be paid to constitutional-judicial revision of secondary legislation. The Constitutional Court of the Republic of Macedonia protects the constitutionality and the legality and it decides, inter alia, on the alignment of the secondary legislation and the other regulations to the Constitution and to the law.66 The estimation of the court is done in abstracto, which means that it is done independently and not related to whether the contested secondary act has triggered damages on a certain concrete right of the entities to which it is referred. Hence, the court takes into consideration whether the principles of the separation of power are violated. Namely, the Constitutional Court determined whether the contested secondary act has a valid legal basis, whether the competence for adoption of secondary legislation and the limitation on the scope and the subject of regulation envisaged by the law are exceeded and whether the contested secondary act enters into an area that is exclusively reserved for the legislator. The constitutional-judicial review of the secondary legislation is, in fact, two-folded: (1) Review/assessment of the constitutionality of the basis of the secondary legislative act contained in the law, in view of the fact that even in the envisioning of the basis of the laws a violation of the principles and the separation of powers as well as the rule of law could be incurred. (2) Review/assessment of the constitutionality and the legality of the secondary legislative act with regard to the procedure for its adoption and the content.

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  Article 108 and 110 from the Constitution of the Republic of Macedonia.

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It is particularly important to mention that the constitutional-legal review of the secondary legislative acts is conveyed over the general legal (secondary) acts which have erga omnes action and which regulate in an abstract manner the legal relations, as opposed to the individual act which have inter partes action and for which constitutional-judicial control is generally envisaged. In that sense, the differentiation between the individual (inter partes) and the general (erga omnes) acts is not always established in a simple manner. From the practice of the Constitutional Court it stems that in the determination of the legal character of the act, the Court is not guided exclusively by formal criteria (title, legal basis, publication in the Official Gazette, etc.) On the contrary, the Constitutional Court enters into the essence of the act – the subject matter and the manner of regulating – and on the basis of such a comprehensive and deep analysis, it assesses whether the contested act is general or individual and accordingly, whether the Court is authorized to assess its constitutionality i.  e. legality.

4.  Nomotechnical rules a)  Structure of Secondary Legislation The respect of the basic rights and freedoms of humans and citizens and the principle of rule of law as foundational values of the constitutional order in the Republic of Macedonia,67 include, inter alia, the request for legal certainty, stability and consistency of the legal order. In essence, this means that the laws and other regulations should be clear, simple, understandable and predictable for the citizens and for those entities to which they are related to and to be consistent. The approximation of the legislation of the Republic of Macedonia towards the European Union law includes additional elements in the process of drafting and adoption of the regulations and in the ensuring of their quality. Each regulation, including the secondary legislation, should satisfy the following basic criteria for quality: 68 –  To have a valid legal basis – To be adopted on the part of an authorized body and in accordance to prescribed procedure –  To have an appropriate legal and logical structure –  To be properly prepared in a nomotechnical manner –  To have internal and external consistency –  To be written in a clear, unambiguous and comprehendible style –  To be predictable for the entities to whom it is referred –  To be accessible and enforceable In this section the focus of attention is placed precisely on the rules and techniques for drafting and writing of the secondary legislation. Therefore, the nomotechnical rules for drafting of the secondary legislation that are outlined in this Manual repre  Article 8 from the Constitution of the Republic of Macedonia.   These criteria stem from Article 6 from the European Convention on Human Rights and are developed through the jurisprudence of the European Court of Human Rights. 67

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sent a sublimation of the rules that stem from the long experience and expertise which is this area is possessed by the Legislative Secretariat of the Government of the Republic of Macedonia, which have been put together in the Manual on the nomotechnical rules.69 In the legal theory and practice, different points of view and attitudes may be encountered in view of the defining of the structure and the integral parts or components of the general legal acts. According to the predominant point of view, the structure of the legal regulations, including the secondary legislation, is composed of the following parts: – Introductory section – which includes the legal basis (the legal basis and the authorization for adoption of the act), the title and the general provisions. – Middle or central section – comprised of the main normative provisions of the regulation. – Concluding section – comprised of the transitional and concluding provisions, such as the date and the signature. – Annexes – which detail the technical aspects of the regulations.Most often they contain tables and graphs.70 This structure is commonly applicable to those secondary legislation acts that are frequently used such as ordinances, rulebooks and decisions. Other regulatory instruments such as programmes, plans, methodologies and strategies not always have such internal structure.

aa)  Introductory section In the introductory section, the regulation contains the basic information which identifies the regulation within the legal order, and which facilitates its enforcement. This section does not envisage normative rules, hence, it only has an indirect normative value. This section is comprised of the legal basis, the title of the regulation and the general provisions, such as the provision on the subject of regulation, the definitions of expressions and other elements. Having in mind the legal nature and their position in the hierarchy of the legal norms, the secondary legislation could not produce any legal action without a valid legal basis. Henceforth, in the legal basis, the secondary legislation calls upon the legal basis, through pointing out to the article from the law and its publication in the Of69   Rules of procedure on nomotechnic rules, issued with a financial support of the Government of Federal Republic of Germany through the Project of the German Association for technical support “Technical support for the process of approximation of the legislation with the European Union” (GTZ), 2007. 70   In the nomotechniques, other ways for determining of the structure of the regulations that are dependent as well on the legal tradition, are known. For this issue, see more: Rules of Procedure for nomotechnical rules, Legislative Secretariat of the Government of the Republic of Macedonia, 2007; Unique rules for the drafting of legal regulation in the institutions of Bosnia and Herzegovina, adopted on the part of the Parliamentary Assembly of Bosnia and Herzegovina on January 12, 2005 and Nomotechnical Directions of the Service for Legislature of the Government of the Republic of Slovenia, 2004.

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ficial Gazette of the Republic of Macedonia. The text of the secondary legislation act starts with a standard formulation: “Based on Article .  .  . of the Law on .  .  . (Official Gazette of the Republic of Macedonia, No.  .  .  .)”. Apart from the legal basis, another important issue that should be pointed out in the introductory part is the authorization and the procedure for the adoption of the secondary legislation. In the legal system of Macedonia the adoption of secondary legislation is allowed only on the basis of a clear legal authorization for each case separately.71 In the legal designation of the authorization for adoption of the secondary legislation, the body should be determined (ministry, agency, directorate, etc.) that is responsible for adoption of the secondary legislation along with the making of the procedure more precise and determining the timeframe for its adoption, which should be as real and as objective as possible. Thus, in the legal basis it is stated e.  g. that “[t]his Manual is adopted by the Minister for Environment, upon obtaining an approval from the Minister of Health”. The title signifies the name of the secondary legislation and it is written in the middle, right next to the legal basis. It enables the identification and the referencing of the regulation within the legal order. Therefore, the title should represent the content of the secondary act and it should be formulated as clear and as precise as possible. It is written with a capital letter and it always starts with information on the type of the secondary legislation, like: “Decree on .  .  .”, “Rules of Procedure on .  .  .” Right next to the title of the secondary act, an article which determined the subject of the regulation and the aim of the norm is found. Such a provision should be clear, short and to point out the main issues which are regulated with the secondary legislation, without unnecessary burden or numbering of all that is included in the same. This provision facilitates the enforcement and the referencing of the secondary legislation. In the introductory section of the secondary legislation, the following elements could also be found: An overview of the content of the regulation.It is used as a useful tool for the legislative and the normative practice in the European countries, i.  e. in the case when the text of the regulation is a composite part of a large number of articles, chapters and parts. A provision or an article in which the meaning of the expressions that are used in the regulation is defined, particularly in the case when the expressions are expert terms or have a double or different meaning from the meaning that they have in the colloquial language.72 This provision should be contained in one article, with the introduction of special paragraphs for every separate expression or term. It is generally expressed in the fol71   In accordance to Article 55 from ZORODU: “the Minister, i.  e. the Director of the autonomous state administrative body could adopt a secondary legislative act, when he/she is authorized to do so by the law.” 72   An example of the secondary legislative act in which the part on definition of expressions and terms is contained is the Rules of Procedure for the technical and organizational measures for ensuring of secrecy and protection of the processing of personal data, adopted by the Directorate for Protection of Personal Data (Official Gazette of the Republic of Macedonia No. 38/09).

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lowing manner “Separate expressions, used in this rules of procedure (or another regulation) have the following meaning .  .  .”. A provision about the goal of the secondary legislation, whereby the reasons and objectives of the regulation at stake are stated.

bb)  Middle or central part The middle section is the most important part of the secondary legislative act and it allows for the realization of the aim for which the regulation is essentially adopted. This section contains general legal norms i.  e. general and abstract rules which regulate a certain relationship or order or prohibit certain behaviour. Having in mind the legal nature, this section is comprised of provisions which provide for the immediate enforcement of the secondary legislative act. In view of the regulation and formulation of the provisions of the central section of the secondary legislation, the limitation of the scope of regulation according to which it is not allowed to confer rights and obligations on the citizens and the other legal entities as well as the prohibition to prescribe competencies to other bodies, should always be kept in mind. At the same time, in accordance to the constitutionally granted principle on legality in the determination of the criminal acts and misdemeanours, the secondary legislation is also not allowed to envisage criminal or misdemeanour provisions.73

cc)  Concluding section In the concluding section of the secondary legislation the transitional and the concluding provisions are contained along with the dating and the signature. The secondary act could contain, but it is not obliged to do so, transitional provisions. This type of provision is usually necessary when it is a question of an area that was previously legally regulated. These provisions determine the issues related to the transition from one to another legal state or legal regime. In principle, the continued implementation of the existing secondary legislation up until the adoption of the new secondary legislation should be determined with the transitional provisions of the new law. This is of particular importance for the significance of the secondary legislation, which obtain new legal basis according to this, and because they loose the same with the termination of the enforcement of the previous law. On the other hand, the termination of enforcement of secondary legislation whose enforcement is continued with the new law, should be regulated with the new secondary legislative act, which replaces the previous regulations. The transitional provisions should always contain all the previous regulations clearly and in a standardized manner which stop or continue to be enforced, with the listing of the titles and the publications in the Official Gazette. From a point of view of consistency of the legal order and legal certainty of the citizens, their lump sum   Article 14 from the Constitution of the Republic of Macedonia.

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enumeration is not allowed. It impeds clarity of the norm,if a final paragraph simply orders,for example:”All regulations, adopted on the basis of the Law on .  .  . remain in force” In case it is an issue of a secondary legislative act which transposes the European Union acquis (regulation, directives and decisions), it should be envisioned in the transitional provisions that all or part of the provisions of the secondary legislative act would be enforced “up until or starting from the accession of the Republic of Macedonia in the membership of the European Union”.74 With the concluding provisions the publication and the entry into force of the secondary legislation is established and in certain cases the termination of their validity and the starting of the implementation is also stipulated. These provisions, although related to the future time and the consequences which would come to the surface in the future, are always expressed in the present time. The provision for entry into effect is a mandatory element of the text of each regulation and this is always the last provision (article) of the regulation. As they are general legal acts which produce legal effect erga omnes, the secondary legislation are mandatorily published before they enter into force.75 The secondary legislative act enters into force after being published in the “Official Gazette of the Republic of Macedonia” or in another official journal (for example, in the journal of the local self-government units) or in any other appropriate manner (the internet website of the regulatory body). The period from the publication to the entry into force (vacatio legis) which usually lasts for eight days, is necessary not only for the purpose of acquainting the public with the new regulation, but also due to undertaking the various preparatory activities and measures, such as organizational changes, establishment of new bodies or institutions, transfer or employees and finances, etc. The provision for entry into force of the secondary legislation, as it is the case with the laws, is standardized and it reads “This Decree/these Rules of Procedure enter(s) into force on the eight day/the next day/with the day of publication in the Official Gazette of the Republic of Macedonia”. At the same time, these provisions could be used to envisage that the implementation of the secondary legislation is not in collision in terms of time with its entry into force. Nevertheless, this is more the case with the laws than with the secondary legislation and such kind of practice should be avoided because they are adopted precisely with the aim of ensuring and providing for the enforcement of laws. There are two basic ways in which the start of implementation of the regulations is determined, i.  e.: 1) direct determination of the day, the month and the year of commencement of the implementation of the regulations, for example: “This law enters into force on the eight day from the day of publication in the Official Gazette of the Republic of Macedonia”, and “it would start to be implemented as of January 1, 2011”; and 2) indirect determination of the delayed or conditioned implementation of the regulation, which is related to the origination of a certain event, circum-

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  On the issue of approximation with the European Union acquis see Section 5 of the Manual.   Article 52 from the Constitution of the Republic of Macedonia.

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stances or action. For example, “The provisions of these Rules of Procedure shall be implemented one year after the entry into force of the Law on .  .  .”. The regulations are generally adopted for an indefinite period, but there are also such kind of regulations which have previously a limited time of effect. This kind of regulations are, for example, the regulations that are adopted in times of emergency, strictly purposeful regulation such as those for conduction of census of the population on every four years time period or the so called sunset regulations, whose effect is terminated unless it continues upon the expiry of the deadline. The most common manner of termination of the effect of the regulations is when they seize to exist by way of another regulation with direct derogation. In that sense, the termination of the regulation could be complete or partial, i.  e. the subsequent regulation could terminate all or only parts of the provisions or parts of a certain regulation, In this sense, the horizontal rule according to which the regulation could be terminated and its enforcement could be stopped only by a regulation of the same or hierarchically lower rank, should be specifically stressed here. There are several ways according to which the termination of the effect of the regulation is determined in a nomotechnical way by direct derogation: 1) it is stipulated that with the entry into force of the new regulation the previous regulation has no longer effect; 2) the termination of the effect is specifically determined in days, months and years and 3) indirect stipulation of the termination of effect is related to a certain event, circumstance or action.

b)  Composite parts of the regulation and their internal interrelation The secondary legislation should be clear, simple, understandable, logical and enforceable in its entirety. To that end, it is necessary to precisely and clearly define the basic integral parts and structural components of the regulation and for them to be internally arranged and interconnected in a logical and functional system. The structure of the regulations, including that of the secondary legislation, consists of articles. The article represents a basic structural component of the secondary legislation that expresses one legal rule and possibly its exceptions. The article can have one or more paragraphs i.  e. sentences which represent logically connected thoughts. In that sense, too long formulations and use of unnecessarily sentences should be avoided in the articles. In the nomotechniques, there is a rule according to which every sentence that represents a new thought should be regulated in a separate paragraph unless it is not autonomous. Each “new” and autonomous thought, and if it expresses a separate legal rule in particular, should be regulated into a new article. In addition to the denomination “article” there is always enumeration with Arabic numbers. There are exceptions to this rule for certain regulatory instruments, such as decisions, programmes, etc., where the basic structural components units could be marked only with numbers (instead of article 1, article 3, etc., only I, II or 1, 2, etc. is marked). With the purpose of having a better overview, it is recommended that the use of titles which are usually placed above (or below) the denomination of the article. The titles of the articles should be as short as possible, and at the same time they should

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reflect the essence of the content of the given article. It should be stressed that the titles and the articles do not represent a composite part of the normative segment of the regulation, but that they make the comprehension easier and thus the enforcement of the provisions from the regulation.

aa)  Smaller structural components The article could also be divided into smaller structural components, such as paragraphs, points and lines. The paragraph represents one logical whole, which is generally expressed with only one sentence or thought, but it could also be comprised from one or two sentences. The paragraph is particularly used to determine exceptions and special conditions, different or additional regulations vis-à-vis the previous paragraph from a certain article. As a rule, all the paragraphs in the article should be marked with an ordinal number in brackets at the beginning of the text of the paragraph. The exception to this rule is when the article has only one paragraph. Such kind of denoting of the paragraphs leads towards greater overview and easier usage, and at the same time it makes the proper citations, the amendments, the referencing and the drafting of consolidated texts much easier. Certain paragraphs could also contain further divisions of the form to points and lines. The points are marked with Arabic numbers or with small letters with closed brackets or without brackets: for example: a), b) .  .  . or: a., b., .  .  . or: 1), 2), .  .  . or 1., 2., .  .  . The lines could be composite parts to a paragraph or to a point. Lines are marked with a hyphen: “–”.

bb)  Greater structural components With the aim of having greater overview and easier use of the immense regulations, there is a technique used in nomotechniques of content-based and logical unification and connection of the provisions and article in greater structural components. Here we have primarily the parts which are marked by Section one/First section or General/Special section. Furthermore, inside the sections unification of the provisions and the articles is done in heads, chapters, units, subunits and divisions. It is recommended that the joining of articles in greater and wider logical wholes and structural sections is used as a technique also for the wider secondary legislative acts. Recommendation: Starting from the delineated structure and the composite parts, it could be concluded that the secondary legislation is formulated in such a way so that it includes the legal basis for its adoption in the introductory section or in the legal basis, then the central normative sections follows that is formulated in articles or in points marked with Romanic or Arabic numbers. In that manner, the articles could be composed of paragraphs, points and lines, and the points could be composed of lines. The secondary legislative act always ends with a provision for its entry into force and implementation. In certain cases, the secondary legislative act contains also transitional provisions which regulate the transfer from one to another legal regime.

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c)  Language and style Apart from the structure and the internal interconnection of the regulations, the language and style of expression have a significant importance and they contribute towards their quality and implementation. The language and the style of expression should ensure clarity, precision, comprehension and predictability of the secondary legislation, which represents one of the foundations of the legal certainty and the legal state. The language and the style of expression that is used in the secondary legislation are identical to the ones that are used in the laws. The nomotechnical expression is based upon the general colloquial language. This signifies that the biggest part of the words and expressions which are used in the regulation have the same meaning as they have in the general colloquial language. Nevertheless, there are also such words and expressions which are not used in the general colloquial language or they have a completely different, divergent meaning of the one they have in the general colloquial language. There are also special expert expressions which are characteristic of the area of law or the legal terminology. Expert expressions from other areas of other disciplines are also used in the expressions, which could be either domestic or foreign. The use of foreign words is permissible, especially when there is no appropriate expression in the Macedonian language, which could allow for the sufficient and proper expression of the content-meaning.

aa)  Grammar rules In accordance with standard nomotechnical practice, in the formulation of the norms i.  e. the provisions of the laws and of the secondary legislation, it is as a rule and mandatorily, to use active verbs in present tense. The present tense is used even for the formulation of the provisions which are related to the future events (for example: “the persons, which would have 65 years of age in 2015 .  .  .”). As a rule, simple verbal forms are used. Furthermore, the use of expressions such as “must”, and “is obliged”, cannot be used, because secondary legislation cannot impose new obligations for individuals and legal entities. Instead, the term “should” is used commonly. The expressing in the regulations is done in one grammatical gender, most often in male gender, with which it is considered that both genders are included. The nouns and adjectives are used in one whole, unless when it should be expressed in plural. Other more characteristic rules relate to the writing of dates, numbers and monetary amounts. With regards to the dates, the one digit numbers are written without a zero before the number and the months are expressed with words, for example “This decree shall be implemented as of 1 January 2011.” The number from one to ten is written with words and from the number 11 onwards, they are marked with Arabian numbers. The monetary amounts are written with numbers, after which the currency is stipulated and its equivalent value, for example: 100 denars or 100 Euros in Denars equivalent value. The conjunctions “and” for cumulative and “or” for al-

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ternative numbering are used for the numbering and when there is a need to include both situations “and/or” is used.

bb)  Normative expression The legal and obligatory character of the regulations particularly has an impact over the linguistic expression in the regulation. That means that the style of expression and the formulation of the text of the provisions in the regulations is normative and abstract and not narrative i.  e. descriptive. Formulations that have no normative character should be avoided such as, for example, declarative statements. This type of style of expression is due to the fact that the secondary legislation prescribes or prohibits (in the form of an order or prohibition) a certain behaviour of the entities to which they are related to. In order to be able to implement the act or the norm, the entities should comprehend the same, and thus results the request for clarity, comprehension and lack of ambiguity of the normative expression. At the same time, the use of the rule of “five rows” is recommended in order to avoid a long and not understandable normative text which is difficult to use. In the expression of the regulations same and generally accepted standard expressions are used often. This contributes towards clarity, economy and stability of regulations. Hence, same standard expressions are used continuously i.  e. sentences for determining the beginning and the end of enforcement of regulations, for the text in the amendments and addenda, for the determining of the meaning of the expressions, etc. are used. In the process of normative expression, the chosen method of standardization should be particularly taken into account that could be closed or standardized when the norm encompasses all the cases to which it is referred and opened or exemplary when only a certain typical situation or case is regulated even though it refers to other similar mentioned cases. Finally, the quality of the secondary legislative act depends on its internal and external consistency. The external consistency is related to the interrelation and the alignment with the hierarchically higher acts (the basic law or the higher secondary legislative act). The internal consistency marks the content-based and the logical interrelation of the articles and the other structural units of the same regulation into a single logical and subsequent whole. That signifies that the basic principles should precede the detailed norms, the general should precede the particular, the permanent should precede the temporary, and that which is less important should follow after that which is considered to be more important. The language and style in the regulations should be: – clear and simple – words and expressions with the same meaning as in the general colloquial language should be used in order for it to be comprehensible for the persons to whom the regulation is referred, the use of jargon should be avoided, the Latin words and useless foreign or expert and technical words; – consistent – the use of the words and the expressions should be consistent primarily through the entire text of the secondary legislative act and, at the same time, the

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alignment with the language that is used in the higher legal acts and the use of more words with a same meaning should be avoided; – precise – precise words and terms should be used with which a certain behaviour of the legal entities is unambiguously ordered or prohibited, also the use of insufficiently determined or unclear expressions, such as:” as a rule”, “immediately” or “without postponement”, should be avoided; – necessary – each word in the regulation should be used as a result of a certain reason i.  e. due to its meaning, long sentences and phrases should be avoided, and repetition and use of more words than those that are necessary should be avoided, due to the fact that the economy and stability of the regulation is evaded. Often times, one characteristic such as precision is achieved on the account of another characteristic such as clarity, hence it is always recommended that the text of the draft of the secondary legislative act to be read and checked several times with the aim of finding the most convenient balance between these qualitative characteristics of the regulation.

d)  Amendment and addenda of the secondary legislation In the present conditions, in view of the dynamics of the political, the economic and the societal surrounding and living, the number of amended regulations substantially surpasses the original legal text and other regulations. The number of amendments and addenda and the lack of their systematization are not in line with the principles of economy, clarity and consistency of the legal order and it leads towards the deepening of the legal insecurity. Hence, it is recommended to use special caution in the approach towards revision of the regulations. The decision to move towards amendments and addenda of a certain regulation depend on the ex ante evaluation of the necessity and the usefulness of such amendments and on the degree of the changed circumstances and situations. In all cases when the scope of the amendment is almost one third or more of the regulation, it is recommended to move towards the adoption of a new regulation. In all cases when a new law is adopted, it is necessary to adopt a new secondary legislative act, in parallel. The amendments and addenda should be guided by one of the following basic rules: – Use of standardized expressions – it all starts in such a way that the title of the secondary legislative act that is amended is listed, and then it is put in brackets “The Official Gazette of the Republic of Macedonia” and the number where the text of the secondary legislative act is published and all its amendments and addenda are chronologically listed and then its first amendment, i.  e. addendum is mentioned. – In the process of formulation of the amendments and addenda a rule is enforced according to which the article, the paragraph, the point or the line with which the amendment is made is primarily mentioned and then follows the amendment text; – The text of the amendment is expressed with the following words: “is erased, is amended with the words, is added, is amended as follows” which is then followed

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by the mentioning of the new section or “integral text” of that section of the secondary legislative act; – In case greater or numerous amendments are to be made in the text of a certain paragraph or article, it is more convenient to determine a completely new integral text of the designated paragraph or article; – Each article that should be amended, is, as a rule, amended with a special (autonomous) article of the amendment and each separate amendment or addening appears as a separate paragraph of that article; – More articles which are placed one next to the other, could be erased with one article of the amendment or when a same type of amendment is made; – If the article, i.  e. the paragraph is comprised of more points and it has new points included among the existing one, in that case, the numbering of the points is moved. In order not to move the existing points, it is better that the new points are marked with numbers or letters, for example: 3-à, 3-b, 3-c, or 3–1, 3–2, 3–3; Example of an amendment: “in the Rules of Procedure .  .  ., article 5, paragraph 2, the word .  .  . is erased and is replaced with the words .  .  .”. Example of addendum: “In the Bylaw .  .  ., following article 5, paragraph 1 new paragraph 2 and 3 are added and they read as follows .  .  .”. Recommendation: In case when due to the large number of amendments and addenda, the text of the secondary legislative act becomes difficult to use, an approach towards adoption of the new act should be made instead of amending and/or addening the existing one. In that case, and for the sake of articulacy of regulations, their comprehension and clarity, it is recommended that a consolidated text of the secondary legislative act is prepared which should be, along with the amendments and addenda, mandatorily published.

e)  Referring and use of references The referencing and the use of references are techniques of nomotechniques which lead to avoiding of the repetition of long expressions and terms and it contributes towards the economy, stability and consistency of the regulation. The referencing should be carefully used due to the fact that it points to another legal source. When the secondary legislative act calls upon on another regulation, law in the most cases, then such kind of regulation or its separate provisions became a composite part of the secondary legislative act. The regulation which the secondary legislative act is referencing should be easily accessible. Moreover, it should be taken into account that the referencing does not disturb the logical whole of the secondary legislative act. The referencing should be used to make the text simpler and not to repeat the contents of the provisions which the secondary legislative act is referencing. Apart from referencing external laws and regulations, the referencing is possible also inside the frames of the existing regulation. The referencing should respect the hierarchy of the legal acts. The referencing in the regulations should be related to a regulation from the same rank, as a rule, or in

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the case of secondary legislative act, referencing could also be made to a regulation of a higher rank, as well. In special cases, the law could reference also the generally accepted principles from the international law and from the international agreements. There are two forms of referencing: open and closed. In view of the closed referencing, the articles and the provisions are cited in detail and the publication of the law and the secondary legislation in an official journal or in other official medium. In the case of the open referencing, the referencing is more descriptive and more flexible, without listing of the title and the publication of the law in an official journal, the area or the subject matter that it is regulated is determined, for example “.  .  . in line with the law/the regulations which regulate the protection of personal data.” In case when in the secondary legislative act there is a need of referencing of the same law for several times, than the first referencing has to be complete, while the subsequent referencing could be shortened. The use of circular references should be avoided (referencing of a legal act or article, which in itself point towards the primary provisions) and serial references (referencing of the provision which in itself points towards another provision). The citing of the publication of the laws and the regulations in the “Official Gazette of the Republic of Macedonia” is done in a chronological manner, starting from the first publication of the law, after which the subsequent amendments are chronologically listed. In that case, the publication of the law and the regulation is always listed at the beginning (in the first provision) in case of amendment or addenda, in terms of termination of the entire or part of the regulations, as well as in case of referencing or use of references. In the case of referencing in the regulations, the numbers of the published decisions by the Constitutional Court of the Republic of Macedonia (with which certain provisions of the law of the secondary legislative act are abolished) are not listed, the authentic interpretations of the law, the published corrigenda of the text, consolidated texts of the regulation, etc. No referencing should be made to consolidated texts The citing of the text of the regulation is performed according to the following rules: “in article 1 of this law” “in paragraph 1 of this article” “in article 1, paragraph (a), line a) of this article.” The use of the words “in the previous article/paragraph,” “in the next article/paragraph” should be avoided due to the fact that the sense of these words could be lost in the process of making amendments or addenda of the secondary legislative act.

aa)  Example of Good Practices at the European Union level A very good example of guidelines for legislation drafting could be found in the European Union acquis, which is used as the foundation towards which the Republic of Macedonia is acceding and harmonizing its internal legal system. Namely, the Council of the European Union adopted a Resolution on the Quality of Drafting of Community Legislation in 1993.76 On the basis of this resolution, an  Published in the Official Journal of the European Union, C 166, 17/06/1993 P. 0001–0001

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Inter-Institutional Agreement was achieved on 22 December, 1998 with regard to the joint directions for the quality of drafting Community legislation77, and afterwards an Inter-Institutional Agreement was achieved on 16 December, 2003 ob better law-making.78 These directions, which do not have any legal and obligatory character, are, at a later stage, developed and transposed in a manual accepted by all the institutions which have legislative competence in the European Union, i.  e. on the part of the Council of the European Union, the European Parliament and the European Commission.79 In the directions, the need of strengthening of the legal services of the institutions, including the legal experts and the editors, is stressed with the aim of improving the quality of the drafting of the Community legislation. The main aim of these directions is that the legislature (the primary and the secondary) of the Community is as clear as possible, simpler, more concise and comprehendible for the public and the entities to which it is directed. The previously mentioned is a precondition for proper and aligned implementation of the legislature in the member states. For that aim, the general legal acts should possess the following qualities: –  To have a standardized structure (articles, chapters, sections and units). – To have internal and external consistency – the provisions contained in the different types of legal acts should be mutually aligned. – To determine the rights and duties of the entities to which they are referred in a clear manner. –  To take into account the entities to which they refer to, in the process of drafting. – To avoid provisions which do not have normative character, such as wishes, declarations and political statements. – To avoid inconsistency of the text and repetition of the provisions from the existing legislature. – The act which is used to amend another legal act should not contain autonomous material provisions, it should be rather comprised of provisions which are directly incorporated into the act which is amended. – Finally, the date of entry into force and the transitional provisions must be clearly envisaged.

(Council Resolution of 8 June 1993 on the quality of drafting of Community legislation, Official Journal C 166, 17/06/1993 P. 0001–0001). 77   Published in the Official Journal of the European Union C 073, 17/03/1999 P. 0001–0004 (Interinstitutional Agreement of 22 December 1998 on common guidelines for the quality of drafting of Community legislation, Official Journal C 073, 17/03/1999 P. 0001–0004). 78   Published in the Official Journal of the European Union C 321, 31/12/2003 P. 0001–0005 (Interinstitutional agreement on better law-making, Official Journal C 321, 31/12/2003 P. 0001–0005. 79   Joint Practical Guide for Persons Involved in the Drafting of Legislation within Community Institutions, http://eur-lex.europa.eu/en/techleg/index.htm

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bb)  A Practical Dilemma In the practice, problems appear when the secondary legislation acts do not have or they lose the legal basis. This usually happens when the new law is derogating the law on the basis of which secondary legislation is adopted and in the meantime no new secondary legislation is adopted for its implementation. These positions could disable the citizens to realize their rights and freedoms conferred by the law. Without a formal – legal and content – based legal basis, the secondary legislative act is unlawful and it runs counter to the Constitution. However, the absence of an enforceable legal basis does not have as a consequence the automatic termination of the enforcement of the secondary legislative act or sections of its provisions. One of the possible solutions is to determine further implementation of the existing secondary legislative act until the adoption of the new secondary legislation. This has to be regulated in the transitional provisions. This is of particular importance for the significance of the secondary legislation, which gain new and necessary legal basis with the previously mentioned, which would be lost when the existing law seizes to be into force. Furthermore, in case when the old (the existing) law seizes to be in force as a whole and its usage is terminated, if it is deemed necessary, the use of the existing secondary legislative acts that have been implemented up to date should be extended until the adoption of the new ones. Depending on the circumstances, this continuation of the implementation could relate to the whole or certain parts or provisions of the secondary legislative act, which should be clearly stated. Finally, the termination of enforcement of the secondary legislation, whose implementation is extended by the new law, is stipulated with the new secondary legislative act which replaced the existing regulations.

5.  Approximation of Macedonian Law to EU-Law a)  Principles and sources of the Acquis The political and strategic determination of the Republic of Macedonia for integration in the European Union has a great impact on the production of laws and secondary legislation in the country, from both qualitative and quantitative point of view. A very important precondition and a challenge on the road towards European Union integration, apart from the fulfilment of the Copenhagen political and economic criteria, also is the approximation of the national legislature to the European Union legislature, i.  e. to the acquis communautaire. At present, this process takes place in parallel in all member states due to the continuous and dynamic development of European law and the deepening of the integration of the European Union. Nevertheless, this process is far greater and more complex for the candidate countries whose strategic aim and determination is to become part of the European Union, as it is the case with the Republic of Macedonia.80 80

  The obligation for approximation to the EU law is included in article 68 of the Stabilization and

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With the aim of directing and coordinating this extremely important process in a comprehensive and profound manner, several instruments are adopted in the Republic of Macedonia such as: – National Programme for the Adoption of the European Union Acquis (NPAA) – a document according to which the legislative and the normative activities undertaken by the Government, the competent ministries and other competent bodies and institutions are planned, in the direction of the approximation of the national legislature to the European Union acquis. Apart from the normative, the NPAA also envisages measures directed towards the strengthening of the institutional capacities and ensuring of the necessary human and financial resources for realization of the outlined short-term and medium-term goals.81 – Methodology for harmonization of the laws and technical regulations with those of the European Union – a document adopted by the Government of the Republic of Macedonia in 2000. – Special mechanisms envisaged with the provisions of the Rulebook on the Work of the Assembly and the Rulebook on the Work of the Government as main bearers of the legislative activity, which are aimed exclusively for more successful approximation of the national regulations to the European Union acquis, such as the correspondent tables and the statement of approximation to the EU acquis.82 – Decision of the Government concerning the form of accompanying letter and memoranda, the content and the form of the correspondent tables and the statement of approximation of the national legislation with the EU legislation.83 –  Decision of the Government for introducing a sign of the EU legislation and of the secondary legislation that is aligned to the EU legislation.84

In the process of approximation different approaches and instruments of transposition of the European Union acquis to the national legal systems of the member states or the candidate countries are used, which primarily depend on the type and the action of the legal act of the European Union which is subject to transposition. Therefore in this manual the sources and the principals of the European Union law are explained in brief. Acquis communautaire is a generic term which represents the legal system of the European Union, which contains all the legal rules, the common values and the achievements acquired from the establishment of the Communities, primarily starting from the founding agreements, the legal acts which are related to the institutions of the European Union and the jurisprudence of the European Court of Justice. It is estimated that the body of legal rules of the European Union is composed of over 30.000 Association Agreement (Law on ratification of the Protocol for the Stabilization and Association Agreement between the Republic of Macedonia on the one side and the European Communities and its member states on the other side.  .  . (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  46/05). 81   The National Programme for the Adoption of the European Union Acquis (NPAA) was adopted for the first time in 2007 and since then it is revised and adopted by the Government on annual basis. In the NPAA (2010 revision), the normative section includes annual planning which includes adoption of 102 laws and 374 secondary legislation. Source: http://www.sep.gov.mk/content/Dokumenti/MK/ NPAA%20Revizija%202010%20-%20Narativen%20del.pdf. 82   Article 77, 78 and 79 of the Rulebook on the Work of the Government and the decisions contained in their contents, the form and the manner of completion (Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  30/07, 133/07 and 92/10). 83   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  30/07, 133/07 and 92/10. 84   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  38/2010.

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legal acts, 10.000 judgments and over 4.000 international agreements, which testifies for its scope and complexity. Depending on their legal power and action, among the sources of EU law, a distinction is made between the following types of sources: 85 – Primarily or basic sources of EU law – the provisions and the principles contained in the founding agreements of the Communities and the Accession Agreements of the new member states. – Secondary sources of EU law include the unilateral legal acts and rules which are adopted by the EU institutions, such as: 1) regulations which are of general applicability, obligatory and have direct effect in all member states, 2) directives which are obligatory in view of the result that is to be achieved, while the manner and the form is to the be decided by the member states; and 3) decisions which are obligatory in their entirety for the entities to which they are referred to and multilateral acts, such as the international agreements.86 – Additional sources of EU law include the jurisprudence of the European Court of Justice and the First instance court, the international law and the general legal principles.

There are acts on the EU level which do not have legal and obligatory nature and are considered to be soft law. The communications, recommendations and opinions fall into this category as well as the opinions adopted by the institutions of the European Union, “white and green books,” political declarations, resolutions, press releases, action plans, conclusions from summits, etc. The basic principles of the European Union law are the following: 1) autonomy of the legal order, that is independent from the legal systems of the member states; 2) supremacy signifies superiority or primacy of the EU law over the national legal systems of the member states, i.  e. the legal order is supranational; 3) direct applicability means that the provisions are enforced and that no intervention by the bodies of the member states is necessary for their implementation and 4) direct effect signifies that the natural and legal persons could directly call upon the rights and duties that stem from the EU legal acts. With the exception of directives, all the legal acts of the EU are directly applicable.

b)  Transposition procedure for the EU law Approximation with the European Union acquis makes the process of adoption of new legislature and the amending and addening of existing legislature more complex as well as it introduces additional requirements. In order to provide assistance, this manual describes details of the transposition procedure.The most important steps and points of view are the following:

85  Source used: http://europa.eu/legislation_summaries/institutional_affairs/decisionmaking_? process/l14534_en.htm. 86   The types of secondary legal acts are regulated by Article 249 of the Treaty on the European Union, which is amended by Article 233 of the Lisbon Treaty, which left out the other instruments arising from the three pillars, as they were: framework decisions, principles and general guidelines, common strategies, common positions, joint actions.

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601

1)  Preparatory activities 2) Decision on the kind of the regulation that would be used for performing of the transposition 3)  Transposition rules 4)  Referencing of the EU legal act 5)  Preparation of supporting documents Within the framework of the preliminary activities, it is necessary to undertake a deep check and review of the importance of the regulations of the EU due to the fact that EU law is quite often subject to amendments and it is constantly extended and upgraded. The preparations include collecting, reviewing and analysis of all the relevant legal acts of the EU which should be transposed (regulations, directives, decisions, etc. and their codification and updated versions) and their translations into Macedonian language from the database maintained by the Secretariat for European affairs. It is recommended to use the original text of the legal act in one of the twenty-four official languages of the European Union. In addition, the existing national legislature is compared to the EU legal act in order to determine whether the subject matter is already regulated, completely or partially, it is evaluated whether the manner of regulation and the goals of the national legal norm match those of the EU legal norm or it is a subject matter which has not been regulated at all and therefor it is necessary to adopt a new national act. In this phase, an assessment is also performed to establish whether the subject matter in question is covered by the Stabilization and Association Agreement and whether it is necessary to additionally regulate the matter if it is included in the Agreement. Finally, an assessment of the priorities and the measures contained in the National Programme for the Adoption of the EU Acquis is made along with an assessment of the annual Programme on the work on the Government in the calendar year, where the quarters and the phases in which the plans for adoption of certain laws and secondary legislation are envisaged. The decision on the type of regulation that would be used for performing of the transposition is influenced by the type and the legal character of the legal act of the EU which is subject to transposition as well as the character and the tidiness of the subject matter. In such a way, when it is a question of an area that is not regulated at all, it is recommended that a new law is adopted. If the subject matter is already partially regulated, it is most convenient to perform amendments and addenda of the existing laws, or it may be sufficient to only adopt secondary legislation. Recommendation: The criterion which has a decisive role in determining whether the provisions of a certain general legal act of the EU should be the subject of regulation. Should they envision certain rights and obligations or new competencies for the state administrative bodies, such as for performing of the supervisory function, then they should be transposed in primary legislation, not in secondary legislation. The first evaluation with regard to whether and what types of secondary acts should be adopted for the purposes of transposition of the legal act of the EU, should be made in parallel, with the drafting of the proposed law that is subject to approximation with the European act. Recommendation: Starting from the legal nature and the scope of the regulation of the secondary legislation, it is recommended that they are used as appropriate instru-

602

Ulrich Karpen und Tatjana Temelkoska

ments of transposition and approximation of the national legislature to the European Union acquis. They are particularly useful instruments in case when it is an issue of very technical and detailed rules envisaged by the EU directives. There are certain rules that are specific to the transposition of EU legal acts in the national legal order. The basic rule is that the only secondary sources of EU law are subject of transposition. Further, provisions of the EU law which are directly applicable should not be transposed. Such are the provisions of the regulations and the decisions. However, in certain circumstances the application of the regulations is impossible without the adoption of national legal acts, such as for example, acts that stipulate the competent authority for acting upon supervision or sanctions for noncompliance with the provisions of the regulations are determined. It should be taken into account that before accession, all the European Union legal acts should be transposed. Prior to accession, the provisions should be transposed in the same manner as the directives. In the process of the transposing, attention should be paid to the systematic approach to avoid double regulation when the Republic of Macedonia would perceptively become a member of the European Union. Namely, in the legal norms, whose provisions transpose the regulations, a provision should be incorporated that they will enter into force upon accession of the Republic of Macedonia to the European Union. Due to the fact that directives are not directly applicable, their provisions should always be transposed into the legal order of the member state to be able to be implemented. When provisions of the directive are transposed, for example, according to which an obligation of preparing reports, delivering information, opinions and assessments to the competent EU bodies or provisions for mutual cooperation are envisaged, the national legal norm should specify the competent authorities, the manner and the procedure of enforcement of the obligation. There are three main approaches to the transposition of directives. The basic approach is transposing the essence of the directive into the national legal order in accordance with the national nomotechniques and in scope that provides a full implementation of the directives. The second approach consists in rewriting of certain parts of the text of the directive (regulation) in the national legal act. This method is permissible and appropriate in the cases where there are technical and very detailed provisions, such as lists, tables, formulas, etc. The third approach, which is used as an exception, is by instruction (placing a reference) to the technical supplements of the directives. Recommendation: The basic principle for drafting proposals of laws and other regulations which are used for transposition of EU legislation into the national legislation is to apply the basic nomotechnical rules of the national legal order, while at the same time taking in account the specificity of the structure and the specific terminology of the EU law and the consistency of the European and the national legal system. The provisions of the transposed acts should be clear, simple for understanding, unambiguous and easily applicable in practice for all entities to which they relate. 87

87   For the nomotechnical rules, the language and the style of expression in the regulations in detail see Section 4 of this manual.

Untergesetzliche Rechtssetzung und Europäisches Recht

603

A clear reference to the directive or the provisions of the EU legal act which is transposed in the national legal order should be placed in the national legal act. Hence, the title of the EU legal act is stated which should be identical to the title of the verified national language version, which is followed by an information for its publication in the Official Journal of the European Union, together with the short title of the act. The short title of the EU legal act consists of: type of the legal act (regulation, directive, decision), year of adoption of the legal act, number of the act, abbreviation of the Community which adopted the act (EEC, EC, EUROATOM). For example: Regulation 998/2002/EC and Directive 2001/32/EC (Observe the difference in the order of the year of adoption and the number of the act). The proposals of laws, other regulations and acts with which approximation is made, are marked with the European Union flag and are considered as a priority on the Government and Parliamentary sessions and it is necessary to submit data about the original acts of the European Union with full name and number. The proposers submit accompanying letter and memorandum, which, inter alia, contain number of the material according to the National Programme for the Adoption of the acquis (EPP number) and they are accompanied by: 1) correspondent tables and 2) statement of approximation with the European Union acquis.88 The content and the form of the correspondent table and of the statement of approximation of the regulations with the European Union acquis are prescribed by the Government by a decision.89 The correspondent tables are primarily used and prepared by the competent ministry and the Government as tools in the process of transposing the EU legislation and in the process of drafting new legislation or amendments to the existing one. The correspondent tables are available and are prepared in two invertible forms: – Form MKD-EU – the provisions of the draft national norms are used as points of departure and the appropriate legal acts of the EU are listed (regulation, directive, decision) which are transposed with it in the national legal order. This correspondent table is completed when they text of the draft regulations is drafted by the authorized proposer. – Form EU-MKD – the provisions of the EU legal act (regulation, directive, decision) are used as a starting point and the provisions of the relevant national legal acts where they are transposed are listed. This table shows which EU legal act is transposed in which national regulation, in which article, whether the transposition is complete or partial and what are the reasons why the transposition is not completely performed. It is prepared after the text of the draft law or the secondary legislative act is completed and it is sent to Government procedure.

The statement of approximation of the draft of the national regulation with the European Union acquis is an instrument which is used to evaluate the degree to which the transposition brings about approximation with the legal act of the European Union, that could be complete, partial or impartial approximation. This kind of statement is completed for the new regulations as well as for the amendments and addenda to the regulations in which the transposition of the European Union legal

  Article 76 (1) and 77 Rulebook on the Work of the Government.   Official Gazette of the Republic of Macedonia No.  30/07, 133/07 and 92/10.

88 89

604

Ulrich Karpen und Tatjana Temelkoska

acts is performed. Also, in the statement of approximation it is indicated which source of translation has been used: IE1, IE2, IE3 or IE4. The statement of approximation contains sections with data on the proposal of the national regulation, on the harmonization of the proposal of the regulation to the Stabilization and Association Agreement, on the harmonization with the sources of EU law, on the translation of the sources of EU law and the legal act, on the acquired professional assistance and opinions in the drafting of the proposed regulation, as well as date and signature by the head of the competent sector and by the Minister too.

c)  Interinstitutional cooperation and coordination The transposition of an EU legal act often requires normative measures and interventions in many areas and departments which are covered by the different ministries, state administration bodies or other bodies and institutions. Therefore, in the process of approximation of the national legislature to the EU law it is necessary to establish and develop an inter-institutional cooperation and close coordination between the institution that proposes and the institution that adopts the act and all other relevant bodies and institutions. This mutual coordination and cooperation should be established even in the earliest stages of preparation of the theses and the proposal of the norm. In this sense, the authorized proposer submits the proposal of the law or the regulation with the accompanying documents simultaneously to the General Secretariat, the Ministry of Finance, the Legislative Secretariat and the Secretariat for European Affairs. The cross-sector coordination and cooperation is primary concern of the General Secretariat of the Government of the Republic of Macedonia. The Ministry of Finance considers and provides an opinion on the proposal of the regulation in view of its financial implications. The Secretariat for European Affairs evaluates the completeness of the correspondents tables, the statement and the documentation from a formal-legal point of view, while the Legislative Secretariat makes substantial assessment and provides an opinion about the degree of approximation of the proposed national legal act with the EU legal act, with the international agreements and the national legal order.90 Due to the importance of European integration, these legislative instruments on the compliance with the European Union acquis should be available and in their preparation the highest legislative institution, all concerned parties, the public and the media should be consulted. The transparency and inclusiveness of this process represents a guarantee and a key factor on which the success, the quality and the dynamics of the approximation of the Republic of Macedonia to the European Union depends.

90

  Article 40 of the Law on the Government of the Republic of Macedonia.

Ordinance

Regulation

Decision

Rulebook

Order

Instruction

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Type of secondary legislation

Legal effect

Publication

It refers to specific issues and measures for enforcement of the laws, it establishes professional and other services for the Government, as well as shared services for the Government, the Ministries and the other bodies of the state administration

It regulated the enforcement of laws, establishes the principles for the internal organization of the ministries and the other state administrative bodies and another relations

Issues in the competence of the Assembly, in case when there is no possibility of its assembling at a state of war and emergency

Subject of regulation

The Government of the erga Mandatorily Republic of Macedonia, omnes published the Ministries, the state administrative bodies and the independent regulatory bodies

It prescribes the manner of work of the Ministries, the state administrative bodies and the independent regulatory bodies, it prescribes the manner of acting in the execution of certain provisions of the laws and other regulations

It orders or prohibits the action in a certain situation which has general importance in the execution of the laws and other regulations

Mandatorily Certain provisions of the laws and other regulations published in the are established and developed for their execution Official Gazette, except if it is a case of an internal act

The Ministries, the state erga Mandatorily administrative bodies omnes published in the and the independent Official Gazette regulatory bodies

The Ministries, the state erga administrative bodies omnes and the independent regulatory bodies

The Government of the erga Mandatorily Republic of Macedonia omnes published in the or other bodies Official Gazette

The Government of the erga Mandatorily Republic of Macedonia omnes published in the Official Gazette

The Government of the erga Mandatorily Republic of Macedonia omnes published in the Official Gazette

Competent body

Annex: Classification of Secondary Legislation

Untergesetzliche Rechtssetzung und Europäisches Recht

605

By-law

Plan

Programme

Methodology

7.

8.

9.

10.

Type of secondary legislation

Publication

Subject of regulation

The Government of the erga Republic of Macedonia, omnes the Ministries, the state administrative bodies and the independent regulatory bodies

The Government of the erga Republic of Macedonia, omnes the Ministries, the state administrative bodies and and the independent regulatory bodies

The Government of the erga Republic of Macedonia, omnes the Ministries, the state administrative bodies and the independent regulatory bodies

Published if it is decided by the body that adopts it

Published if it is decided by the body that adopts it

Published if it is decided by the body that adopts it

The manner of acting of the Ministries and the state administrative bodies in a specific area of their jurisdiction is regulated and aligned

The issues of importance to the execution of the laws are determined and detailed as well as other regulations for which deadlines and dynamics needs to be outlined

The issues of importance to the execution of the laws are determined and detailed as well as other regulations for which deadlines and dynamics needs to be outlined

OTHER REGULATORY INSTRUMENTS

Published in the Issues related to an organization, the manner of work appropriate official and the realization of the basic function are regulated. journal or by other means

GENERAL LEGAL ACTS

Legal effect

Councils of local erga self-government units omnes and the City of Skopje, university and independent organizations which perform public competences

Competent body

606 Ulrich Karpen und Tatjana Temelkoska

Conclusion

Principle Positions and Guidelines

Mandatory Instructions

Internal acts like: The Ministries, the state inter Rulebooks, Rules of administrative bodies partes Procedure, Decisions and the independent regulatory bodies

12.

13.

14.

15.

The fees for compensations are determined for certain services provided by the public companies or the organizations that perform public authorizations, as well as the amounts of awards for performing certain tasks in accordance with law

Not published

Generally it is not published but it is possible if it is decided by the body that adopts it

Not published

The Ministries, the state erga Not published administrative bodies omnes

The Government of the inter Republic of Macedonia partes

The Government of the inter Republic of Macedonia partes

Organizational and procedural issues are regulated, which are exclusively related to management, performance and action of the bodies that adopt them

Refer to the manner of execution of the matters which are entrusted to public companies and other legal and natural persons as public competencies as well as the Units of the local self-governments and the City of Skopje

The manner of work of the Ministries, the other bodies of the state administration and the administrative organizations in the execution of laws and other regulations is determined; the deadlines for the adoption of acts for which those authorities are empowered are determined and submitting of reports on certain issues, etc.

Views and opinions are taken on issues that are subject to consideration at the Government session, including on the proposals of laws and other regulations; issues related to the internal organization and the relations with the Government are decided; tasks of the Ministries and the state administrative bodies and tasks of the Government services are determined

OTHER ACTS WHICH ARE NOT SECONDARY LEGISLATION

The Ministries, the state erga It is published administrative bodies and omnes the independent regulatory bodies

Tariffs, including Decisions on Price Lists and Tariffs

11.

Untergesetzliche Rechtssetzung und Europäisches Recht

607

The Government of the inter Republic of Macedonia, partes the Ministries, the state administrative bodies and the independent regulatory bodies

Jobs Description Act

17.

Legal effect

Internal Organization The Government of the inter Act Republic of Macedonia, partes the Ministries, the state administrative bodies and the independent regulatory bodies

Competent body

16.

Type of secondary legislation

Not published

Not published

Publication

The titles and the number of working positions into the internal organizational structure are regulated and the description and the scope of working position is determined

The internal organizational setting and the basic structure of the bodies that adopt them, is regulated

Subject of regulation

608 Ulrich Karpen und Tatjana Temelkoska

Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber Das Beispiel eines Verfassungsentwurfs für Island (2013) *

1

von

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth I. Zueignung Dieses Geburtstagsblatt sei einem Jubilar gewidmet, der ein Meister in Bologna ist und der zu den führenden Verfassungsvergleichern weit über Europa hinaus gehört. Das zeigt sich nicht nur an den erfolgreichen Auflagen seiner Schriften (z. B. Diritto Costituzionale, 8.  Aufl. 2012 bzw. Diritto Costituzionale Comparato, 6.  Aufl. Bd.  I 2004), sondern auch an der großen Ausstrahlungswirkung bzw. Rezeption seiner Wissenschaft. Der Verf. dieses Geburtstagsblattes begegnete dem Jubilar mehrfach persönlich: so als Gast zu einem Vortrag in Bologna im Jahre 2000, so als Teilnehmer an dem internationalen Kolloquium in Ravenna 2007 und besonders anlässlich seiner eigenen ehrenvollen Aufnahme in die Vereinigung der italienischen Verfassungsrechtslehrer in Turin (2011). Bei jedem Gespräch mit dem Jubilar kam es zu einem freundlichen Gedankenaustausch. Es war nicht leicht, heute für G. de Vergottini ein Thema zu finden, das den weitgespannten Interessen des Jubilars wahlverwandt ist. Der Verf. dieser Zeilen hat schließlich doch ein Thema von besonderer Aktualität „entdeckt“. Im Frühjahr 2013 wurde nämlich ein Verfassungsentwurf publiziert, zu dem es prozessual auf ganz ungewöhnlichen Wegen kam und der die alte These des Verf. von der „offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und -interpreten“ (1975/78) ganz unerwartet speziell für Island bestätigt.

II. Vorgeschichte In Island haben die dortigen Bürger einen eigenen Verfassungsentwurf geschrieben, der schon jetzt die Aufmerksamkeit der Wissenschaft verdient. Es handelt sich um ein ungewöhnliches politisches Experiment. So offen sein Ausgang noch ist, so wichtig ist es für die vergleichende Verfassungsrechtslehre in europa- und weltbür Für G. de Vergottini zum 70. Geburtstag.

*

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Peter Häberle

gerlicher Absicht. In der Zeitungsöffentlichkeit speziell Deutschlands wurde dieser Entwurf kürzlich kommentiert mit den Worten: „Eine Verfassung wie Wikipedia“ (Süddeutsche Zeitung vom 16./17. März 2013, S.  9 ). Informationen erhält man insbesondere über diese prozessual neue Art von Verfassunggebung. Die Einwohner des Landes selbst haben aus sich heraus und transparent unabhängig von Parteieneinfluss den Entwurf zustande gebracht. Zwei Drittel der Bürger entschieden im Oktober 2012 per Referendum, dass sie den so erarbeiteten Text als Basis für eine künftige Verfassung Islands haben wollen. Eine Gruppe von Bürgern hatte das Verfahren in Gang gesetzt, unterstützt von der Regierung aus Links-Grünen und Sozialdemokraten. Knapp 1000 zufällig ausgewählte Isländer äußerten Wünsche und lieferten Ideen. Im November 2010 wurde aus 523 Kandidaten ein Bürgergremium aus 25 Personen gewählt. Das Parlament erklärte diese 25 Bürger zum Verfassungsrat. Innerhalb von knapp vier Wochen schrieben sie, begleitet von anderen Bürgern via Facebook, Youtube, Twitter und anderen Websites, einen Text (so die Meldung der SZ aaO.). Was 1975/78 vom Verf. in Marburg bzw. Augsburg als „offene Gesellschaft der Verfassunggeber bzw. -interpreten“ theoretisch konzipiert worden war und damals als konkrete Utopie erschien, wird jedoch in Island zu einem Stück einer möglichen Verfassungswirklichkeit („Möglichkeitsdenken“). Unabhängig davon, ob dieser Verfassungsentwurfstext letztlich formal in Kraft tritt: Er bleibt für die Wissenschaft ein lohnendes Dokument (www.althingi.is/pdf/ConstitutionJSAY7.pdf ).

III.  Ein Überblick Der Verfassungsentwurf besteht aus einer Präambel und insgesamt 114 Artikeln sowie einigen Übergangsvorschriften. Diese Kürze schon ist auffällig und ein Gewinn, denn viele neuere Verfassungen, etwa von Bolivien (2007) und Kenia (2010), sind weit umfangreicher und verlieren damit ein Stück konstitutioneller Öffentlichkeit, weil die Bürger wegen der Fülle der Texte nicht mehr so intensiv „angesprochen“ werden bzw. überfordert sind. Vorweg sei schon gesagt, dass in dem Entwurf die in vielen Verfassungen, vor allem der Schweiz, normierten Gottesbezüge fehlen. Es gibt weder eine „invocatio dei“ (wie in der Schweiz auf Bundesebene und Kantonsebene), noch gibt es sonstige Gottesbezüge wie im deutschen Grundgesetz von 1949 („im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“: Präambel).

1.  Die Präambel Die Präambel des Entwurfs ist ein Meisterwerk dieser Literatur- und Wissenschaftsgattung. Präambeln gleichen, kulturwissenschaftlich betrachtet, Prologen und Ouvertüren, auch Präludien. Sie können zum „Textereignis“ werden. Eine verfassungsrechtliche Präambeltheorie hat 1982 in Bayreuth erarbeitet, dass Präambeln in bürgernaher Sprache und in festlichem Ton eine Einstimmung auf den folgenden Text sind, oft in die Verfassungsgeschichte zurückgreifen, zugleich die Zukunft ent-

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werfen und ein Konzentrat der nachstehenden Verfassung bilden. Hierfür gibt es viele gelungene Beispiele. Genannt sei die Präambel Südafrikas (1996), Polens (1997), Albaniens (1998) oder Kenias (2010). Die Redaktoren der Präambel des isländischen Verfassungsentwurfs kennen offenbar viele Beispiele einer „guten Präambel“. Jedenfalls erkennt man allseits klassische Mosaiksteine im Ganzen der Präambel, auch aktive Rezeptionsprozesse von Klassikertexten aus der wissenschaftlichen Literatur oder aus anderen Verfassungstexten, doch stößt die isländische Präambel auch in neue Problemfelder vor und bringt aktuelle Entwicklungen auf prägnante neue Texte: so vor allem im Blick auf den Respekt von der „Biosphäre der Erde und der ganzen Menschheit“. Die Präambel entfaltet im Ganzen und in ihren Teilstücken normative Kraft. Im Einzelnen: Die Präambel des isländischen Entwurfs beginnt mit dem Klassikertext vieler demokratischer Verfassungen: „We, the people of Island“. Ihm wird der Wunsch zugeschrieben, eine gerechte Gesellschaft mit gleichen Chancen für Jedermann zu schaffen. Das Gerechtigkeitsprinzip ist also schon in diesem hohen Text präsent. Es folgt eine überaus gelungene Aussage zu den Verantwortungszusammenhängen, in denen „wir“, d. h. die Isländer stehen: „Our different origins enrich the whole, and together we are responsible for the heritage of the generations, the land and history, nature, language and culture“. Wie viele andere moderne Verfassungen ist damit der Generationenbezug hergestellt, überdies handelt es sich um eine kulturelles Erbe-Klausel, die die Natur und Sprache speziell einbezieht. Der zweite Absatz ist nicht weniger inhaltsreich und prägnant. Er verpflichtet sich auf die angloamerikanische „rule of law“, die dem Rechtstaatsprinzip im restlichen Europa entsprechen dürfte, und fügt den außerordentlichen Satz hinzu: „resting on the cornerstones of freedom, equality, democracy and human rights“. Der Begriff cornerstones findet sich schon im ähnlichen Kontext in der Verfassung von Südafrika (Art.  7 Abs.  1 Satz 1). Der dritte Absatz trifft die Aussage, dass die Regierung für die Wohlfahrt der Einwohner des Landes arbeitet, ihre Kultur stärkt und die Vielfalt des menschlichen Lebens des Landes „and the biosphere“ stärkt. Die Schutzklausel zugunsten der Biosphäre betritt Neuland. Man darf neugierig sein, ob und wie dieses Postulat dem Klimaschutz in Island praktisch hilft. Der vierte Absatz drückt den Wunsch nach Förderung des Friedens, der Sicherheit, des Wohlergehens und des Glücks „among ourselves and future generations“ aus. Damit ist erneut die zukünftige Generation in die Gegenwart hereingeholt. Bemerkenswert ist auch die Rezeption der US-amerikanischen „happiness“. Der anschließende Satz 2 bekennt sich zur Zusammenarbeit mit anderen Nationen im Interesse des Friedens und des „Respekts für die Erde und die gesamte Menschheit“. Der Kooperationsgedanke im Blick auf die Erde und die gesamte Menschheit ist in diesem Kontext neu und beachtlich – ein Stück kooperativen Verfassungsstaats. Der letzte und 5. Absatz wagt zum Teil ebenfalls neue Textstücke und formuliert in bemerkenswerter Sprache klassische Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates. Er lautet: „In this light we are adopting a new Constitution, the supreme law of the land, to be observed by all“. Mit dem Wort „light“ wagen die Bürger eine noch schönere Methaper als die übliche „Geist-Klausel“. Demgegenüber ist das Wort von der Verfassung als „supreme law of the land“ eine bekannte Formulierung, die sich in vielen neueren Verfassungstexten findet. Im Folgenden ein Blick auf wichtige Textstellen im Rahmen der insgesamt acht Kapitel.

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2.  Kapitel I: „Foundations“ Dieses Grundlagenkapitel, dessen Teilstücke auch in einer Präambel thematisiert sein könnten, trifft Aussagen zu wichtigen Themen, wie sie sich in vielen neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen finden. So formuliert Art.  1 Abs.  1 das Selbstverständnis Islands als Republik bzw. parlamentarische Demokratie; Art.  2 bringt überaus prägnant die Teilung in drei Gewalten zum Ausdruck. Art.  3 gilt der Territorialität und ist auch hier den traditionellen Texten verpflichtet, wobei sich auch Neues findet: „The Icelandic territorial land forms a single and indivisible whole“. Dieser (kulturelle) Ganzheitsaspekt ist im Vergleich zu den klassischen Territorialitätsklauseln eine neue Textstufe. Satz 2 verlangt, dass die See, der Luftraum und die „ökonomische“ Jurisdiktion durch Gesetz geregelt wird. Damit ist ein Parlamentsvorbehalt normiert, der der Wichtigkeit des Problems angemessen ist. Art.  5 umreißt unter dem Begriff „Scope“ Verfassungsaufträge, die an die Regierung gerichtet sind: dafür zu sorgen, dass Jedermann die Gelegenheit hat, sich der Rechte und Freiheit zu erfreuen, die in dieser Verfassung aufgeführt sind (Abs.  1). Abs.  2 verpflichtet jedermann in jeder Hinsicht auf diese Verfassung und auf die Gesetzgebung, die auf ihr beruht. Erstaunlich ist der folgende Satz: „Private persons shall, as applicable, respect the rights provided in Chapter II“. Denn damit könnte eine Art „Drittwirkung“ der Grundrechte angedeutet sein, die es jedoch im Verfassungsstaat nur als „mittelbare Drittwirkung“ und je nach Grundrecht differenziert geben kann. Im Folgenden sei nur eine Auswahl der nachstehenden Grundrechte und Freiheiten präsentiert. Es handelt sich um einen sehr weitgehenden Katalog, der in manchem als vorbildlich gelten kann, in anderem klassische kulturelle Errungenschaften des Typus Verfassungsstaat auf Texte bringt. Im Einzelnen: Art.  11 normiert einen weitgehenden Privatheitsschutz unter Einschluss von „Heim und Familie“ (privacy). Art.  12 befasst sich mit den Kinderrechten und ist praktisch eine Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Art.  13 garantiert das Recht auf Eigentum, sieht aber in Übereinstimmung mit fast allen Rechtsstaaten der Welt die Möglichkeit einer Enteignung im öffentlichen Interesse vor. Art.  14 gibt jedermann ein weitgehendes Recht auf „Ausdruck und Information“. Damit überschneidet er sich zum Teil mit Art.  15. Dieser gibt jedermann ein „Right to information“. In fünf Absätzen versucht der Entwurf die neuesten Problemfelder jedes Verfassungsstaates von heute zu skizzieren: Jedermann hat das Recht, Zugang zu öffentlichen Dokumenten zu haben, das Handeln öffentlicher Behörden soll „transparent“ sein, Dokumente sollen nicht zerstört werden, es soll ein umfassendes Dokumenten-Register erstellt werden. Auch wird ein Gesetz in Aussicht gestellt, das die Dauer von Beschränkungen gewisser Kategorien von Dokumenten festlegt. Dem Gesetzgeber wird die Befugnis gegeben, den Zugang zu „working documents“, soweit erforderlich, zu beschränken. Nur soweit gesetzmäßige öffentliche oder private Interessen es erfordern, ist Vertraulichkeit garantiert. Art.  16 garantiert eine neuartige Freiheit in den Worten: „Free and informed social debate“. Er schützt insbesondere das Vertrauensverhältnis zwischen Journalisten und ihren Quellen. Überdies werden „Vielfalt und Pluralismus“ in den Medien zugesichert, zusammen mit der Transparenz des Eigentümerverhältnisses. Alles soll dazu dienen, eine freie und informierte soziale Debatte herbeizuführen. Dieser Pluralismus-Artikel ist ganz offensichtlich von großen Texten bzw. Judikaten

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informiert. Erinnert sei an die deutsche Rechtsprechung des BVerfG zu Vielfalt und Pluralismus des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens bzw. an die EU-Grundrechte-Charta von 2007 (Art.  11 Abs.  2 ). Hier entsteht ein Stück „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ (vom Verf. 1991 entwickelt), auch wenn, wie in Italien, noch manches Defizit zu beklagen ist. Weitgehend ist auch Art.  17 mit seinen Worten: „Scientific and academic freedom, and freedom in the arts, shall be ensured by law“. Auch hier gibt es in Europa viele analoge Regelungen, z. B. Art.  13 EU-Grundrechte-Charta. Eine sehr isländische Besonderheit findet sich in Art. 18 bzw. 19 des Verfassungsentwurfs. Einerseits wird jedermann das Recht auf seinen Glauben, seiner Philosophie und seiner Überzeugung zugesprochen (auch der Religionswechsel wird thematisiert und freigestellt), überdies wird die freie Praxis von Religion oder Philosophie individuell oder korporativ, privat oder öffentlich garantiert. Andererseits wird die Evangelisch-lutherische Kirche zur „Nationalkirche“ erklärt und die Regierung sogar zur Unterstützung und zum Schutz verpflichtet. Hier wirkt das alte Staatskirchentum skandinavischer Länder nach. Schon die Verfassung der Republik Island (1944/68) dekretiert in fast wörtlicher Übereinstimmung in einem eigenen Kapitel VI §  62 Abs.  1: „Die evangelisch-lutherische Kirche ist Staatskirche und wird als solche vom Staat unterstützt und geschützt“ – ein Stück des traditionsreichen Staatskirchenrechts, das heute europaweit im „Religionsverfassungsrecht“ aufgehen sollte. Art.  20 garantiert die Vereinigungsfreiheit und nennt insbesondere die Gewerkschaften, Art.  21 schützt die Versammlungsfreiheit. Neue Themen finden sich in Art.  22–25. Diese nehmen sich der sozialen Grundrechte im weiteren Sinne an, ohne dass dies als eigener Unterabschnitt erkennbar wäre. So gibt Art.  22 soziale Rechte auf soziale Sicherheit und nennt eine Vielzahl von Gründen wie Arbeitslosigkeit, Kindheit, Alter, Armut, Behinderung und Krankheit. Art.  23 gibt ein Recht auf „Health and health services“ mit dem weitreichenden Zusatz: „to the highest possible standard“. Damit ist der von der deutschen Staatsrechtslehre 1972 erarbeitete „Möglichkeitsvorbehalt“ bei Grundrechten im Leistungsstaat auf soziale und prozessuale Teilhabe normiert. Einem eigenen Thema widmet sich Art.  24: „Education“. Bemerkenswert sind hier die Erziehungsziele in Abs.  3 : „Education shall aim at achieving comprehensive development for each individual, critical thinking and consciousness of human rights, democratic rights and obligations“. Damit werden die Menschenrechte sowie demokratische Rechte und Pflichten ausdrücklich zum Erziehungsziel. Was die Wissenschaft und politische Praxis vor allem in Spanien mit den Begriffen „Bürgerschaft durch Bildung“ erarbeitet haben, ist hier Text geworden. Weltweit finden sich einzelne Verfassungsstaaten, die in dieser Weise Menschenrechte und Demokratie zum Erziehungsziel für junge Bürger machen (vgl. Art.  72 Verf. Guatemala (1985) sowie Art.  22 Abs.  3 alte Verf. Peru (1979)). Die folgenden Artikel befassen sich mit der Freiheit der Berufswahl, der Bewegungsfreiheit und mit der Freiheitsentziehung auf Grund von Gesetzen und Gerichten sehr ausführlich. Art.  28 garantiert jedermann einen „fairen Prozess“ und entspricht damit den Standards der heutigen Entwicklung des Typus Verfassungsstaat. Hier finden sich Garantien wie die Unschuldsvermutung oder der Grundsatz „ne bis in idem“. Art.  29 verbietet die Todesstrafe und die Folter sowie jede andere inhu-

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mane oder degradierende Behandlung oder Bestrafung. Art.  30 normiert das Rückwirkungsverbot der Strafe, Art.  31 schließt den obligatorischen Militärdienst aus. Mit dem Thema Kultur und Natur, das sich schon in der überaus geglückten Präambel andeutet, machen die Art.  32–35 Ernst: so findet sich eine überzeugende „kulturelles Erbe-Klausel“, die ausdrücklich nationale und alte Manuskripte schützt und sogar ein Besitz- oder Gebrauchsverbot für alle Eigentümer normiert. Art.  33 nimmt sich der Natur und Umwelt von Island an. Hier gelingen dem Entwurf neue Textstufen, die die bisherigen Klauseln in anderen Verfassungsstaaten übertreffen. Abs.  1 Satz 1 prägt die schöne Formulierung: „Iceland’s nature ist the foundation of life in the country. Everyone is under obligation to respect it and protect it“. Damit wird die Natur als Grundlage des Lebens schlechthin definiert und eine Grundpflicht von jedermann normiert. Abs.  2 statuiert den Schutz der Vielfalt des Landes und der Biosphäre. Landschaften, auch „nichtbewohnte Wildnis“, sind in diesen weitgehenden Schutz samt Vegetation sowie Grund und Boden einbezogen. Fast ins Utopische führt das Recht auf gesunde Umwelt, frisches Wasser, saubere Luft und nicht verschmutzte Natur (Abs.  3 ). Abs.  4 verlangt ein Regelwerk, das langfristig die natürlichen Ressourcen in Achtung des Wertes der Natur und Interessen zukünftiger Generationen sichert. Einmal mehr werden die zukünftigen Generationen geschützt – das Paradigma vom Generationenvertrag als in die Zeit gestreckten Gesellschaftsvertrag wird sichtbar. Art.  34 ist erstaunlich, ja fast revolutionär: Islands nationale Ressourcen werden dem Privateigentum entzogen und sind „gemeinsames und ewiges Eigentum der Nation“ – eine neue Form verfassungsstaatlicher Ewigkeitsgarantien. Niemand kann sie erwerben oder gebrauchen. Abs.  2 zählt bis ins Einzelne die damit geschützten Fischbestände und Küstengewässer auf. Auch ist von nachhaltiger Entwicklung und öffentlichem Interesse (Abs.  3 ) die Rede. Art.  35 setzt den schon erwähnten allgemeinen Informationsanspruch auf dem speziellen Gebiet des Umweltschutzes fort: Die Regierungsbehörden müssen über den Zustand der Umwelt und Natur informieren, auch besteht öffentlicher Zugang zur Vorbereitung von Entscheidungen, die Einfluss auf Umwelt und Natur haben. Angesichts dieser sehr „grünen“ Regelungen des Entwurfs überrascht es nicht mehr, dass auch der Schutz von Tieren vorgeschrieben ist (Art.  36), ähnlich wie jüngst in Luxemburg (Art.  11 bis Verfassungsänderung von 2007).

3.  Kapitel III: „The Althing“ Das Parlament in Island hat sein eigenes Kapitel (Art.  33–75). Von den ausführlichen Bestimmungen sei nur Weniges herausgegriffen: so die Normierung der Unverletzlichkeit, des Friedens und der Freiheit des Althing (Art.  38), so Art.  39 Abs.  4, wo die politischen Parteien nicht in Worten, aber der Sache nach beschrieben sind. Das Fehlen eines ausdrücklichen Parteienartikels in der gesamten Verfassung ist auffallend, denn viele neue Verfassungen nehmen sich dieses Themas an, der Entwurf spricht stets nur von „politischen Organisationen“, so etwa bei dem Gebot, die Parlamentssitze müssten die Zahl der politischen Organisationen widerspiegeln. Festgelegt ist das Verhältniswahlrecht (Art.  39 Abs.  9 ), auch die Wahlkreiseinteilung wird wichtig genommen: verlangt ist bei Änderungen sogar eine 2/3-Mehrheit. Da der

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Entwurf entgegen einer verfassungsstaatlichen Tradition keinen Hauptstadtartikel normiert, muss Art.  45 genügen, wonach Reykjavík der Parlamentsort ist. Auch Art.  51 spricht statt von den Parteien von „politischen Vereinigungen“, deren Finanzen durch Gesetz geregelt werden müssen, um die Kosten „auf vernünftigem Niveau“ zu halten. Die Herstellung von Transparenz ist diesem Art.  51 ein wichtiges Anliegen (Stichwort: Parteifinanzierung). Art.  65 sieht eine Volksinitiative in Bezug auf Parlamentsgesetze unter bestimmten zeitlichen Bedingungen vor: „Referral to the nation“ – ein Stück unmittelbarer Demokratie. Aufmerksamkeit verdient zuletzt die Einrichtung eines Ombudsmannes (Art.  75), der die Rechte der Bürger, des Staates und der Gemeinden untersuchen soll. Auch wird ihm zur Aufgabe gemacht, die Verwaltung nach ihrer Übereinstimmung mit dem Gesetz und guten „Verwaltungspraktiken“ hin zu kontrollieren.

4.  Weitere staatsorganisatorische Regelungen Kap.  I V gibt dem Präsidenten, der unmittelbar vom Volk gewählt wird, eine relativ starke Stellung (Art.  76–85). Das Kabinett (Kap.  V, Art.  86–97) muss nach Art.  87 Abs.  5 seine Funktionen in Reykjavík erfüllen – auffällig ist, dass nicht ein Hauptstadtartikel vorweg normiert ist, sondern nur bei einzelnen Organen bzw. Funktionen Reykjavík genannt wird. Im Übrigen ist Art.  91 deshalb bemerkenswert, weil der Misstrauensantrag des Parlaments gegen den Premierminister nur mit dem Vorschlag eines Nachfolgers zulässig ist: hier wird ganz offenkundig das deutsche „konstruktive Misstrauensvotum“ (Art.  63 GG) rezipiert. Die Rechtsprechung ist in einem eigenen Kapitel VI (Art.  98–104) geregelt, wobei ein angloamerikanischer Einfluss erkennbar wird. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes wird sogar den jeweiligen Gerichten zugesprochen (inzidente Normenkontrolle). Als oberste Instanz wird der Supreme Court of Icland (Art.  101) eingerichtet. Die kommunale Selbstverwaltung in Kap. VII (Art.  105–108): „Municipalities“ sei wegen der Garantie ihrer Unabhängigkeit ebenso erwähnt wie die ausdrückliche Festlegung des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art.  106). Sogar ein Referendum über die „eigenen Angelegenheiten“ ist vorgesehen. Schließlich sei aus Kap. VII (auswärtige Angelegenheiten, Art.  109–111), Art.  111 erwähnt: „Transfer of State powers“. Hier wird die Öffnung des Verfassungsstaates für den Übergang von staatlichen Befugnissen auf internationale Organisationen festgelegt: im Interesse des Friedens und der ökonomischen Kooperation. Europa ist nicht als solches erwähnt. Sollte ein solcher Souveränitätstransfer „signifikant“ sein, muss das Urteil der Wähler durch ein Referendum eingeholt werden, das „bindend ist“. Auch hier findet sich wieder ein Stück des „kooperativen Verfassungsstaates“. Nur der Vollständigkeit halber sei aus dem Kap. IX die Regelung zur Verfassungsänderung genannt. Hier ist ein Referendum vorgesehen, auch werden bestimmte zeitliche Grenzen fixiert.

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IV. Ausblick Der Entwurf besticht durch die kluge Balance von Tradition und Innovation. Kaum je wurde das Volk so unmittelbar am Prozess der Verfassunggebung beteiligt. Island gleicht insofern einer „Werkstatt“ des Verfassungsstaates, wie sonst nur die Schweiz in Bund und Kantonen. Der Verfassungsentwurf ist fast ein „Wunder“. Auch die italienische Staatsrechtslehre dürfte sich darüber freuen, in erster Linie der Jubilar, dem diese Skizze von Deutschland aus gewidmet ist.

Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika

1852: Origins On “Bases” of Juan Bautista Alberdi and the Federal Constitution of the Argentine Republic, throughout time* by

Prof. Dr. Raúl Gustavo Ferreyra, Universität Buenos Aires I. Introduction The influence exerted by the work of Juan Bautista Alberdi (1852)1 on the creation of the rules of the Argentine federal Constitution of 1853 has both a practical and a *   It is not too venturesome to consider this contribution as an “overture”, provided that such term is not construed as the prelude to a great work. It is part of Lecciones sobre Derecho constitucional (Lessons on Constitutional Law), which I am currently writing. A genetic connection between the two is undeniable. But this contribution can be read and discussed separately. It is unusual to entitle a literary or artistic work with a year. “1789” (1789. als Teil der Geschichte. Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates), published by Peter Häberle in 1989; “1812” composed by Pyotr Ilyich Tchaikovsky (“1812”. Festival Overture. Op.  49) and first interpreted in 1882, are exceptional contributions, due to their scientific and artistic quality, respectively, and due to the titles used. I cannot deny I have been inspired by both works. At the same time, I must say that any errors are to be attributed to the author of “1852”. Because a source is just a source of inspiration for good decisions. “1852” is the year prior to the constitutional foundation of Argentina. I describe the reasons why the liberty of citizens and the community-based reasons limiting or encroaching on it, the irremediable original inequality, the power and weakness inherent in controls and, finally, the lack of rational support (which caused a continuing degradation) in the federal model were decisions more than incipiently adopted and realised in 1852. Before sunrise .  .  . I dedicate this work to Horacio Raúl Las Heras. 1   From here on, I shall refer to 1852 Bases (2nd), simply for the sake of economy. The complete reference is “Alberdi, Juan Bautista: Bases y puntos de partida para la organización política de la República Arjentina, derivados de la lei que preside al desarrollo de la civilización en América del Sud y del Tratado Litoral de 4 de enero de 1831, segunda edición, correjida, aumentada de muchos parágrafos y de un proyecto de Constitución concebido según las bases propuestas por el autor, Valparaíso, Imprenta del Mercurio, Santos Tornero y Cía., 1852”. The digitalized version may be freely accessed on the academic portal of the School of Law of the University of Buenos Aires, on the sub-site corresponding to the author of this article in the following links: http://www.derecho.uba.ar/biblioteca/alberdi/Bases-y-puntos-de-partida-para-la-organizacion-politica-de-la-Republica-Arjentina-Parte1-baja.zip http://www.derecho.uba.ar/biblioteca/alber

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theoretical meaning throughout time, as such influence is linked with truth rather than with wishes. The main purpose of this contribution is to analyse the deep influence that Alberdi’s work exerted or may have exerted on the drafters of the 1853 Constitution. This analysis is connected with the normative proposals of Alberdi’s draft of 1852 – hereinafter, “1852 Bases (2nd)” –, in comparison with the Argentine federal Constitution of 1853 (hereinafter, “1853 AFC” or “AFC”). Normative comparison, in essence, is not aimed at devaluating or detracting from the normative value of sources such as the US Constitution of 1787 or the 1810–1852 Constitutional Law of Argentina, which is nonetheless as poor as it is primitive. The aim is to compare norms, and this task is undertaken in section V, because norms are the basic, founding elements of Law and of Constitutional Law, respectively. Before that, section II deals with the Constitution and its time; section III discusses the definition and classification of Constitutional Law sources; and section IV assesses basic categories of Constitutional Law – i.e., its symbolic words – contained in 1852 Bases (2nd). It is therefore the purpose hereof to compare the text of 1852 with the text of 1853 and to determine the influence of the former over the latter –and even knowing that if two constitutional texts state the same, they do not necessarily rule community realities in a similar manner, because the influence of contexts is not to be set aside.2

II.  Time and Constitutional Law. Periods in the Argentine Constitutional Evolution An objective feature of the world is that men exist in the universe. The constituents of the universe, among which there are nature, men, and their artefacts, are things and entities in time. Evidence seems to indicate that time is the measure or relational pace of its change or of the change in worldly things, whether such change involves the generation or destruction thereof. Men do not create time, but they spend their lives in time; for a certain Greek conception, time, in its most representative and original meaning, could be equivalent to ‘source of vitality’ or ‘time in life’. As simple as that. Time is not a concrete thing,3 but it is real. It has no energy, but the effects of time, albeit not time itself, may be felt in successive events. Although it is difficult to note, astronomers, watchmakers, plane pilots, public servants, musicians, football players, professors, lawyers, students, among many others, determine or try to determine time, because such determination is an elementary part of their routine. Thus, in a proper sense, time is a relationship between the states of things which are present in the world. A relationship, not a thing. di/Bases-y-puntos-de-partida-para-la-organizacion-politica-de-la-Republica-Arjentina-Parte2-baja. zip. 2   See Häberle, Peter: “La constitución en el contexto”, Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional, CEPC, Madrid, 2003, 223; citing and paraphrasing Rudolf Smend. 3   Bunge, Mario: A la caza de la realidad. La controversia sobre el realismo, Gedisa, Buenos Aires, 2006, 335–341.

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Inquiring on the nature or the origin of time has been a recurring issue of thought for thousands of years. Time has been and is a constant challenge to human reason and intuition. Past, present, and future. The past, with the hallmark of its difficulty or impossibility of change; the present, as a demand for constant and continuous adaptation; the future, a special field of application for our intentions. This notion of past, present, and future is addressed by Aristotle. Let us see how he presents this in his Physics: .  .  . time is not a movement, but there is no time without movement .  .  . Hence, when we perceive now as a unit, and not as something before and after in movement, or as the same with respect to before and after, then it does not seem that any time has lapsed, as there has been no movement. But when we perceive ‘before’ and ‘after’, then we are talking about time. Because time is precisely this: the number of movement according to ‘before’ and ‘after’ .  .  . Time is the numbered thing, not that through which we measure. That which we use to number is different from the numbered thing.4

For more than two thousand years, philosophy and physics have discussed this Aristotelian conception. The assertion that time is the “order of existence of those things which are not simultaneous” or, put differently, that it is the order of things of the universe which are successive and that duration is the magnitude of time, embodies the concept proposed by Gottfried Leibniz circa 1715, in The Metaphysical Foundations of Mathematics.5 Without answering the distressing questions of whether or not time precedes existence and of whether or not time has been born with our universe, and without exploring the nature of time, the following is considered, with more modest aims and without a mark of truth: First: “Arrow of time” means a direction in a given sense, with no space correlate, not determined but determinable. An arrow is drawn; if, in following the design, one can detect that randomness increases in the state of things in the world, it would mean that the arrow heads to the future. When the rate of randomness decreases, the time arrow heads to the past. It cannot even be suggested whether or not there is one arrow of time for the entire universe; we can simply introduce a notion of time compatible with and relative to our knowledge, relative to our situation in space. Second: Everything seems to indicate that the notion of “arrow of time” is a relational element of all of the universe’s constituents.6 Third: There is no universal single time in which all the events of the world may be included; only the ideas mentioned above may be expressed, without a claim for absolutism.7 4  Aristotle: Física, translation and notes by Guillermo de Echandía, Planeta de Agostini, 1995, 148– 168. 5   See Leibniz, Gottfried W.: Philosophical Papers and Letters, 2nd ed., selection translated, edited, and introduced by Leroy E. Loemker, Kluwer Academic Publishers, Boston-London, 1989, 666–674. 6   Eddington, Arthur S.: La naturaleza del mundo físico, Sudamericana, Buenos Aires, 1952, 81–104. 7   Zaffaroni asserts that industrial civilization has a lineal idea of time, as opposed to the circular or punctual ideas of other cultures. Zaffaroni, E. Raúl et al.: Derecho Penal, Buenos Aires, Ediar, 2000, 193.

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Fourth: Time cannot and should not produce more converts, supporters, or followers than reason. Time relates to reason, but does not occupy its place. It is highly illogical to put time in lieu of reason. Neither does time rank higher than reason. Because each generation of citizens must have the same liberty to act for themselves “.  .  . in every circumstance .  .  . as the generations [of citizens] preceding them .  .  . [N]o generation has a property right over the generations to come”.8 Reason is the source of Law. Not tradition or custom throughout time. Naturally, Constitutional Law (a product of reason) is something that is in the world, i.e., in the universe. Constitutional Law is entirely a creation of men; hence, time is also a relationship of the object. Then, studying or writing the history of Constitutional Law entails an analysis of the changes in the object or, put differently, it is the arrow of time applied to Constitutional Law. There is no eternal, circular, or eternal-return Constitutional Law, since Constitutional Law is the order of liberty and of power among successive events. Men create their own history, but this creation is not entirely left to their discretion or will, nor does it occur under circumstances completely and decisively chosen by each of them. Past events, which men incorporate and face in both direct and indirect ways, are the unavoidable link to oppress or to develop the mind of the living.9 Being in time means that the thing is affected by time, by deterioration or generation. Those who hold that the world external to the individual, unmistakably as it presents itself, is the firm reality do not consider, speculate, or accept that there are material or immaterial things which always are. Because something that always is cannot be measured by time. Curiously enough, constitutions, especially the 1853 Argentine federal Constitution, are instruments devised and/or created to remain unaltered, or to change as little as possible. They are conceived so that they cannot change easily. The fact that a constitution is difficult to amend obviously does not mean that it is outside the world, because even things at rest are affected by time. Recently, Peter Häberle has suggested two dimensions for Constitutional Law to approach time. The macro dimension (constitution throughout time) analyses texts, their normative nature, in history. The micro dimension (time in Constitutional Law) analyses and approaches time in the current state of a specific Constitutional Law;10 as appears, for example, in the duration of terms of public servants arising from popular election: representatives serve for four years (section 50, AFC); senators serve for six years (section 56, AFC), and the president serves for four years (section 90, AFC); judges, when turning 75, require a new presidential appointment with the consent of the Senate to remain in their positions (section 99(4), AFC); and also in the timeline included in the Constitution to draft and approve a new law, if rejected by one of the Houses of Congress (section 81, AFC); to establish an administrative set of rules (sections 1, 28, 33, and 99(2), AFC) or to have access to jurisdiction and to obtain a court judgment within a reasonable time (sections 1, 18, 28, and 116, AFC).   See Paine, Thomas: Derechos del Hombre, Alianza, Madrid, 1984, 36.   See Marx, Karl: El 18 Brumario de Luis Bonaparte, translated by Adrián Melo, Longseller, Buenos Aires, 2010. 10   See this fundamental piece of literature: Häberle, Peter: “El tiempo y la cultura constitucional”, Contextos, No.  2 , 36–81, Defensoría del Pueblo de la Ciudad de Buenos Aires, 2011. 8 9

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When applying a macro approach, cycles are established in which the constitutional development of Argentina may be divided. As in any division into periods, there are segments with more importance than others for the author. Putting objects in time is a sufficiently true representation of the past. Specifically, it means adapting to the times. Whatever the nature of time, observing Constitutional Law throughout time is an extremely important endeavour: in the architecture of the constitutional building, time is the cement binding the bricks of the whole structure. Time in Constitutional Law is a reference framework where all processes and events of the outside world take place. The constitutional past is not infinite or disconcerting. Knowledge about constitutions, laws, and legal systems regulating community life increases remarkably when such instruments are examined throughout time. The constitutional past is presented as irreversible. It is made up of a series of statuses preventing their removal. It is prudent to bear in mind a reasoned segmentation of the “Argentine Constitutional Law, throughout time”. As an instrument, by application of the arrow of time, randomness thus decreases, sadly or fortunately, if the existence of the past is examined: i. From the colony (Spanish rule) to the 1810 May Revolution. ii. A people without a constitution or organisation (1810–1852). iii. Origins: liberal rules and constitutional organisation, without a people. The “oligarchic” republic (1853–1916). iv. Republic and electoral constitutional democracy (1916–1930). v. Fraud and the infamous regime (1930–1946). vi. Constitutional populism (1946–1955). vii. Autocracy, again (1955–1958). v iii. Limited electoral constitutional democracy. Second part (1958–1966). ix. More autocracy (1966–1973). x. People and given Constitution (1973–1975). (Populism and institutional vanishing.) xi. Autocracy, corruption, and crimes against humanity (1976–1983). xii. Preamble (1983–1985). x iii. Delegative constitutional democracy (1986–up to the present time). The arrow of time does not convey any idea of progress or regression. It does not entail that the past was better and the future will be decadent, or vice versa. Moreover, the intervals are sure to be analysed differently by different observers. Although all the periods mentioned above (i to xiii) are based on the determination of objective facts, the division in itself is connected with subjective temporal and space considerations of the author.11 More than two centuries, with changing vicissitudes, challenges, and routes of independent realisation, in loose legal terms. A little more than one century and a half since the origin of constitutionality. 11   See Russell, Bertrand: “Philosophy in the Twentieth Century”, in The Basic Writings of Bertrand Russell, Routledge, London-New York, 2010, 235–250.

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Now our arrow points to the past – a bygone good of the constitutional order. Specifically to the end of the period mentioned in (ii) and to the beginning of (iii). The following sections illustrate this. The macro dimension, the concrete and potential analysis of Alberdi’s work 1852 Bases (2nd), is a suggestive and appropriate perspective to fuel the emotional and rational bases of community consensus. Interpreting time as an order of successions, we direct our view to the past, to the 19th century, because nothing would have changed if there had been no time since then. While time cannot be experienced directly, one can perceive successive events, as set forth in the division into periods presented above.

III.  On Precedents and Sources of Constitutional Law 1.  A People Without a Constitution or Organisation The time of the rights of persons or groups of persons and the time of the powers of state bodies is born on the date when the state is founded, coinciding with the establishment of its regulatory framework. Isolated from time and space, there were 13 million Americans at the beginning of the 19th century; the population in mainland Spain was a bit more than 10 million. The Spanish were not American, but dominated America through brute force; Americans who were not Spanish would not be treated even as Spaniards.12 The colonies had no right to community self-determination. The idea of a free Argentina, with free citizens, was born on May 25, 1810. This was not the birth of constitutional democracy, but it was a precarious and sound constituent act. Moreover, it was undeniably the birth of the “people” as a player in Argentine history. A people free from a Spanish monarchy that was old-fashioned, insolent, despotic, and lacking in organisation. Spain’s political disorganisation was a heavy legacy which added to its no less pathetic legal disorganisation. Since the 15th century, exploiting and plundering natural wealth in the American continent was the main objective of the Spanish monarchy. Another objective was to conquer, dominate, and eliminate any native peoples.13 The Argentines of 1810 were citizens longing for liberty. Although they had inherited the Spanish organisational irrationality, they had their own problems not to get organised: the form of government, the form of state, the economic, financial, and tax model, the production model, and the regulation of liberty and equality to be adopted. On January 31, 1813 the General Constituent Assembly declared that it had the representation and exercise of sovereignty of the Provincias Unidas del Río de la Plata (United Provinces of the Río de la Plata); a few hours later, on February 2, it estab12   According to data from the United Nations (1973), at the beginning of the 19th century, world population was near 1 billion. It has been estimated that at that time, total population in the Argentine territory was a bit more than 550,000. In 1810 it was slightly more than 600,000. The results of the first population census of Argentina date from 1869: there were 1,737,076 inhabitants. 13   Essential literature: Galeano, Eduardo: Las venas abiertas de América Latina, Siglo Veintiuno, Buenos Aires, 2010.

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lished the freedom of wombs, an act of strict constituent nature. Through a similar order dated February 4, 1813, the General Assembly established that all slaves from foreign countries who were brought into the territory in any manner from that date on would be free just by stepping onto the territory of the United Provinces.14 In the 1815 Interim Rules for the Direction and Administration of the State (Estatuto Provisional de 1815 para la Dirección y Administración del Estado), the Assembly laid down, for the first time, a key rule of citizen sovereignty and of State organisation: Section One: The private actions of men which in no way offend public order or morality, nor injure a third party, are only reserved to God and are exempted from the authority of judges. Section Two: No inhabitant of the Nation shall be obliged to perform what the law does not demand clearly and expressly, nor deprived of what it does not prohibit in that manner. (See Section VII: Individual Security and Freedom of the Press, Chapter 1. On Individual Security.)15

Thirty-eight years later, this rule would, with small modifications, become section 19 of the AFC and a fundamental piece of the Argentine constitutional architecture, an example of moderation in language and of admirable density in the enunciation of norms. Formally, state sovereignty arises with the Declaration of Independence. It is the act constituting Argentina as a free state. Let us be clear: first, there is the revolutionary and seminal idea of liberation from the Spanish monarchy; then, after six years, independence, on July 9. Argentina’s independence has been defined by Ezequiel Martínez Estrada as an “act and a thesis”. Because in rural areas, independence was an act motivated by the state of inferiority, abandonment, and ignorance under which the people had been maintained; and in the city, it was the result of the inspiration in liberal doctrines, many of which were still at a gestation and trial stage.16 The Constitution of the United Provinces in South America (Constitución de las Provincias Unidas en Sud América), dated April 22, 1819, had no approval whatsoever or any type of normative validity. The Constitution sanctioned by the General Constituent Assembly (Constitución sancionada por el Congreso General Constituyente) on December 24, 1826, ended up in the same way as the 1819 Constitution. Entirely alien to the reality it was to regulate, the constitution was rejected by the provinces: it adopted Unitarianism, rather than Federalism, as the form of state organisation. The Pact of Argentine Confederation executed on January 4, 1831 (Pacto de Confederación Argentina suscrito el 4 de enero de 1831) by Buenos Aires, Entre Ríos, and Santa Fe meant, actually, a kind of rudimentary and preliminary organisation of the State. The rest of the provinces adhered to this agreement. The legal organisation of a confederate nature was structured by the Federal Pact of 1831 (Pacto Federal de 1831). In 1831–1852, the fourteen provinces or autonomous entities or quasi-sovereign states

  Sampay, Arturo Enrique: Las constituciones de la Argentina 1810–1972, Eudeba, Buenos Aires, 1975,

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15  The Declaration of the Rights of Man and of the Citizen approved in France in August 1789 is presented as the nearest and most pure source of the Argentine rule. See Sections I and V. 16   See Martínez Estrada, Ezequiel: Radiografía de la Pampa, Buenos Aires, Losada, 2007, 41.

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maintained a very particular form of legal organisation of the State: a highly precarious confederation. The San Nicolás de los Arroyos Agreement was executed on May 31, 1852 by governors and general captains of the provinces of the Argentine Confederation, except for the province of Buenos Aires. Its section 1 recognised that the Federal Pact of 1831 was a fundamental law between the provinces of Buenos Aires, Santa Fe, and Entre Ríos, because all other provinces of the Confederation had adhered to it. Its section 2 established that, as all provinces were in full liberty and peace, the stage provided for in section 16 of such treaty had come, namely, the stage in which to arrange through a Congress of the General Federation the general administration of the country under the federal system; its domestic and foreign commerce, its navigation, the collection and distribution of general income, the payment of the Republic’s debt, in such manner as would best further the security and development of the Republic, its domestic and foreign credit, and the sovereignty, freedom, and independence of each province. It was also determined that all provinces had equal rights as members of the Nation; for that reason, the sovereign General Constituent Assembly of the Argentine Confederation would be made up of two representatives from each province. The constitutional organisation took fifty years to be completed. The Sovereign General Constituent Assembly of the Argentine Confederation (SGCAAC, Soberano Congreso General Constituyente de la Confederación Argentina) was created and met in November 1852; in September, Buenos Aires had seceded upon rejecting the San Nicolás Agreement. The Constitution of the Confederation of Argentina, with “13 ranches or provinces, without Buenos Aires”, was promulgated on May 1, 1853. The constitutional order established in 1853 remained open and was completed in 1860, because only then did the federation become integrated with all of its members. Buenos Aires was not a party to the SGCAAC of 1853, but it did propose amendments and participated in the constitutional reform of 1860. With the constitutional reforms of 1866, 1898, 1957, and 1994, the original normative architecture has remained vigorously on its feet since 1853. The rules of the 1853 Constitution are probably among the oldest provisions in force in the world. The Argentine State, with its population, is born in 1810, but it fails to define the limits of the state and to route power through a constitution until 1853.17 The 1810–1860 period is a time of political struggles in the developing Argentina and of several constitutional projects which, for good or bad, attempted to organise the country. In Argentina’s inventory, in its account as an independent country, these two hundred years are the element that constitutes its past. Readings about the past may be indulgent or critical. They can include observations of open support or of flat rejection. But no rational reading should be done without a global, concrete understanding of the past. The past belongs to Argentina, with its good decisions and its mistakes; with horrifying contradictions, with calamities. With generous and obnoxious 17   See Ferreyra, Raúl Gustavo: “Argentine Constitutional Development. Creation and Application of the Federal Constitutional System in Focus”, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, volume 54, Germany, 2006, 713–736.

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situations. Love and disappointment. The past cannot be relinquished, and this is one of the most evident worries generated by time. It is not only the moments of happiness of the past that should be recalled. It is mandatory to bring back misfortune too. In performing a theoretical analysis of Argentina’s constitutional history, of the historical system of sources that has evidenced the origin of such evolution, many things can be done, but for one: to do without time. It cannot be sensibly observed, rationalised, or judged that what happened did not happen. Or that what did not happen, happened indeed. A consistent constitution is not only a code whose normative content is not contradictory; it is, mainly, a normative text prescribing an ideal action sphere projected towards community reality. When a constituent power produces a constitution, it wishes for community reality to be identical with or to bear a resemblance to what has been laid down as law. Constitutional rules establish, with eminent prescriptive force, the state of things designed by the constituent or original lawmaker, whether through rules of conduct and/or rules of competence. The history of a people or the evolution of self-determination or community sovereignty may be discovered in each constitutional project. A constitution or a project demarcates a constituent time. Moreover, each constitution is clearly connected with a given ideology or political standpoint, has a structure of its own, and pursues specific purposes. Hence, examining the origin of Constitutional Law rules means to value throughout time the “birth certificates” of such rules or the sources from which they derive. In other words: reason .  .  . throughout time!

2.  Sources or Origins of Constitutional Law Rules Maybe one of the irreplaceable or indispensable requirements to formulate a concept that acquires diffusion and even fame beyond the life of the thinker – a concept of such weight that generations will unavoidably have to ponder it – is the fact that the author has not been willing to attain the result in question; an absence of causality and intentionality, i.e., chance. The concept of sources of Law may reasonably be included in this approach. It cannot be asserted with precision who have been the authors of the concept; however, there is no structural or functional description of Law that disregards or can afford to disregard a theory of sources. These are ideas that throughout time have gone beyond the willingness or intention of their authors. Lexicographical definitions of the word “source” abound; let us focus here on one that refers to “principle, foundation, or origin of something”. In turn, the word “origin”, despite not having as many meanings as “source”, includes more than three, which is enough to create polysemy; one of these meanings is ‘principle, birth, source, root, and cause of something’. It is asserted, with enough margin of error, that the term “origins” as applied to Constitutional Law rules has a broader (and more concrete) semantic field than Constitutional Law “sources” when the aim is to ascertain, comprehensively and precisely, the root of the rule.

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“Sources or origins of Law” may have here several meanings. It should be recalled at this point that we hold that Law is, structurally, a combination of norms; at the base of any legal system there is the constitution. Therefore, it will be hard to discover something other than rules in the structure of Constitutional Law. Within such a dimension, therefore, “source” is identified with the instrumental form originating or validating Law. In other words: “source” refers undoubtedly to the origin of the norm. However, in connection with the body producing, discussing, and passing the norm, although its task is a legal function of normative production or creation, I do not think it is appropriate to place such body within the concept of sources of Law. The following concept and the ensuing distinction as sources or origins of Constitutional Law norms are adopted here, based on the fact that the concept was created more than fifty years ago and has not been refuted, and also due to its simplicity, its word economy, and its explanatory capacity: “the methods or forms whereby constitutional rules are created or established”. These are in turn divided into direct and indirect,18 with the adaptations and corrections set forth below without altering the original sense. The classification considers the degree of final influence of the source on the definitive design of constitutional rules. Strictly speaking, “sources” or “origins” would be reserved or limited to direct sources, because they directly create constitutional rules. The influence of indirect sources is important, however, because although they do not create in a direct manner, they can have a remarkable binding capacity as determinants. Notwithstanding the ambiguity of “sources” and the semantic and explanatory superiority of “origins”, and given that literature uses predominantly the first one, here “sources” and “origins” are used interchangeably, as synonyms. Direct sources are identified with the body creating or the instrument attesting to the existence of the norm; they create the constitution or bring Constitutional Law unequivocally to light, depending on the case. Indirect sources do not create or validate Constitutional Law; they simply realise it, by means of judicial or dogmatic interpretation. This type of source is a significant environment for the realisation or theoretical speculation of Constitutional Law or of constitutional formation, as appropriate.19 An exclusive and excluding direct source of the constitution or any amendments thereto is constituent power; on this issue we come back to the demarcation discussed above in connection with the bodies that create constitutional norms. The federal Constitution is the direct, originating, and validating source of Argentine Constitutional Law par excellence. That is to say that the Constitution stems from, is originated, or produced exclusively by the constituent power; more precisely, by the Federal Constituent Convention. Constitutional Law, in turn, originates from the constitution, with the following particular feature: the Argentine federal Constitution is the source of production of rules, both permanent and temporary, within the four corners of its text. Outside the text of the Constitution, at the 18   See Linares Quintana, Segundo V.: Tratado de la ciencia del Derecho constitucional argentino y comparado, Plus Ultra, Buenos Aires, 1953, 461 ff. 19   The distinction between contexts of production and realisation of Constitutional Law has recently been published. See Ferreyra, Raúl Gustavo: “An Approach to the Legal World. Constitution and Fundamental Rights”, Jahrbuch des Offentlichen Rechts der Gegenwart, Volume 60, 21–37, 2012.

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same time, by application of section 75(22) (generated by the derivative constituent power in 1994), the Constitution is a source for the application and validation of International Human Rights Law, which has constitutional rank. Therefore, there is an Argentine federal Constitutional Law with constitutional roots and rank; there is also another subsystem lacking constitutional roots, but with constitutional rank: International Human Rights Law, validated hierarchically by section 75(22). Also, there is an element of singular and exceptional creative nature not discussed here: judicial interpretation, especially those cases in which the Argentine Supreme Court of Justice (CSJN, for its Spanish acronym) performs the task of linking meanings and creating Constitutional Law.20 This new moment opens the “system of the federal Constitution”, thus composed of the three elements mentioned above: the rules included in the federal Constitution itself, rules arising from International Human Rights Law, and rules generated by the CSJN. In turn, Constitutional Law rules are the source or origin of the positive legal validity of all legal rules with general scope under the Constitution, produced by means of legislation and, exceptionally, custom or court decisions. To sum up, the system of the federal Constitution is the only source of the system of sources itself (Law with constitutional roots and rank); in a few words: the origin of sources. Or the source of sources. The system of the federal Constitution creates, by application and/or validation, Constitutional Law or Law of the Constitution, as G. Bidart Campos taught in 1995 in his work Derecho de la constitución y su fuerza normativa. Constitutional Law’s indirect sources are case law, scholarly opinions and works, and comparative law. The main feature of jurisprudence and comparative law is their historicity, i.e., they are considered historical sources. Historical sources may influence the creation of the constitution because of their ideology, their normative formulations, or their instrumental design.21 Constitutional Law rules stem from the system of the Argentine federal Constitution. It has been said that historical sources mean ideas, are valuations, or entail normative assessments which may have influenced or will influence a constitution. Taking into account the considerations set forth in points 1 and 2 of this section, it is relevant to examine Alberdi’s work, published in 1852, from this perspective: (a) within the very final part of the second period, the year 1852, closely linked to the origin or beginning of the third institutional period mentioned above, and (b) from the angle of indirect or historical sources of Constitutional Law, mentioned in this section.

  On the judicial interpretation of the Constitution, see Ferreyra, Raúl Gustavo: “Basic Aspects of the Constitutional Law: System; Liberty, Equality and Solidarity; Theory”, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, volume 57, 173–193, Germany, 2010. 21   Bidart Campos, Germán: Manual de la constitución reformada, Ediar, Buenos Aires, 1996, 289–290. 20

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III  bis. Interval. Chart of the System of Sources Without altering the order of ideas presented, the system of sources is illustrated graphically. Sources or origins of rules and declarations of Constitutional Law of the Argentine Republic  – Permanent and provisional rules  in the text. Have   constitutional roots and rank.  – Rules of Human Rights specified  Direct Source  in section 75,    System of the (Normative Creation)       Federeal Constitution  subsection 22, Constitution,  under the conditions  set to be in force. With constitu tional rank.   – Very exceptional dicisions by the  CSJN.  – Legal scholars: Descriptions. Theories and normative projects.  Indirect Source  –  Comparative Constitutional Law. (Does not create Law)   –  CSJN case law.

IV.  Legal Categories in Bases. Symbolic Words 1.  Words by a Person that is Gone 22 Juan Bautista Alberdi was born in Tucumán, Argentina, on August 29, 1810. His mother, Josefa Aráoz de Valderrama, died a few months after giving birth. His father, Salvador, died in 1820. Alberdi had not lived in Argentina since 1838. He came back to Buenos Aires forty-one years later, in 1879. On August 3, 1881 he set sail for good from the Port of Buenos Aires. He died in Paris on Thursday, June 19, 1884. Law and art are the two most sublime productions of men: Law, the most rigid of cultural products; art, the most variable expression of the soul of men.23 In their re  This is not an article evocative of Alberdi. The rule here is to provide a description. And within its own boundaries, this contribution is adequately limited to the normative architecture of Bases 1852 (2nd). They always say that all rules have an exception. Palabras de un ausente en que explica a sus amigos del Plata los motivos de su alejamiento is a work by Alberdi, Paris, 1874. “Loving one’s country, making its interests the study of one’s life, giving it destinies, and living abroad is a contradiction that requires explanation .  .  . .” These are the introductory words of his work. Breaking the rule allows, therefore, to evoke with this title the first subsection of this section IV. See Alberdi, Juan Bautista: Obras Completas, La Tribuna Nacional, Buenos Aires, 1887, volume VII, 134–176. 23   See Radbruch, Gustav: Filosofía del Derecho, Rev. de Derecho Privado, Madrid, 1944, 140–144. 22

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lationship, the inflexibility of Law and the variation of art have surely created a sort of “natural enmity”. Alberdi has probably been one of the few people – maybe the only one – in Argentina who settled or eased that natural hostility. An artist and a legal scholar, the user of well-chosen language contained in his thousands and thousands of pages written in more than fifty years of artistic and intellectual production, Alberdi represents the Argentine intellectual and artistic paradigm of the 19th century. In January 1852, Alberdi was in Lima, Peru. Probably, when returning to Chile,24 he was informed of Juan Manuel de Rosas’s defeat in Monte Caseros (February 3) by the military forces led by Justo José de Urquiza. The first edition of Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina, derivados de la ley que preside el desarrollo de la civilización en América del Sud [Bases and Starting Points for the Political Organisation of the Argentine Republic, Derived from the Law Governing the Development of Civilisation in South America] was published in Chile. The introduction is dated May 1, 1852, in Valparaíso. This work was 183 pages long and was divided into 28 chapters. In 1852 there were also reproductions of this work in Argentina, but it must be said that there is no solid evidence that they were “edited” by Alberdi.25 In this first edition, exactly one year before the approval of the federal Constitution, Alberdi wrote in Chapter 1 (“Constitutional Situation of the Rio de la Plata”): The Argentine Republic, currently only a tacit and implicit association, has to start by creating a national government and a general constitution governing it .  .  . . What are the bases and starting points of the new constitutional order and the new government to be created? This is the subject matter of this book, a result of many years of thought, albeit written with the urgency demanded by the Argentine situation. In it, my aim is to help constituent press and representatives to set the criterion bases to make headway in the constitutional issue.26

Alberdi was an optimist in writing the above text. The General Constituent Assembly was formed as late as November 20, 1852 and the San Nicolás Agreement had not been executed yet, which explains why constituent members had not even been elected. In Bases 1852 (2nd), Alberdi included, besides the amendments to the first version, a draft constitution. The Foreword of the author is dated August 31, but the publisher stated July 1852 as the publication date.27 24   Alberdi, in a letter sent to his great friend Juan María Gutiérrez, dated July 8, 1852, elegantly confessed: “I’ve .  .  . sent you my brief treatise [the first edition of Bases] and I’m attaching hereto another copy. You are the author of this work, because you have induced me to write it .  .  . .” 25   A detail of the more or less accurate reproductions of this first edition may be read in Mayer, Jorge M.: Las “Bases” de Alberdi, Sudamericana, Buenos Aires, 1969, 32–40. Before that, Ricardo Rojas published this first version and edition: See Alberdi, Juan B.: Las Bases, Librería La Facultad, de Juan Roldán, Biblioteca Argentina, Buenos Aires, 1915. 26   Alberdi, Juan B.: Las Bases, Buenos Aires, op. cit., 36. 27   Also in the Foreword of Bases 1852 (2nd) Alberdi said: “Having prepared these two editions in four months, in the scarce leisure time left by my work, and having written in an extremely fast manner, as is my custom, what I think slowly, this book has the same formal defects as its sister works. But, with no literary pretensions whatsoever, I would be absolutely quiet in the mind if the defects resulting from

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The second edition features 38 chapters distributed in 263 pages. By simply comparing the first and the second edition one can realise the increase in the number of pages. Among the new ten chapters, one of them (38), is the draft constitution prepared in accordance with the bases developed in the book itself. This second edition also includes an enlarged version of two chapters of the first edition. In the Foreword to the second edition, Alberdi wrote: This book was meant to have the following title: Means of Liberty, Order, and Development for Republics with a Spanish Origin. The title was the appropriate one for the matter at hand, regardless of my approach. But I was afraid that it might be too pretentious, so I chose the less general title it now has.

On May 14, 1855, the Government of the Argentine Confederation, convinced that “the writings on politics and Argentine public law by the citizen Juan Bautista Alberdi have beneficial influence over public opinion”, ordered a the publishing of a special edition of Bases and Starting Points for the Political Organisation of the Argentine Republic; Elements of Provincial Public Law for the Argentine Republic; Economic and Fiscal System of the Argentine Confederation; and To the National Integrity of the Argentine Republic, Under all of its Governments, the cost of whose edition was to be borne by the Argentine Treasury. Moreover, President Justo J. de Urquiza invited Alberdi, who accepted, to publish such work. So, the third edition of Bases and Starting Points for the Political Organisation of the Argentine Republic was published in 1856, in the city of Besanzón, José Jacquin’s Printing Press, and was part of the volume Political and Economic Organisation of the Argentine Confederation (OPECA, for its Spanish acronym) of 870 pages. The book Bases was included between pages 1 and 193. This third edition also included the other three works mentioned in this paragraph. Alberdi also incorporated the Constitution of the Argentine Confederation Sanctioned in 1853. On page 194, Alberdi meaningfully wrote: The Interim Director of the Argentine Confederation, based on the Federal Constitution of the Argentine Republic submitted by the General Constituent Assembly through a special committee created among its members and in accordance with the twelfth provision of the Agreement executed in San Nicolás de los Arroyos on May 31, 1852, hereby orders: Section 1. The Federal Constitution approved by the Constituent Assembly on May 1 in the city of Santa Fe shall be considered as the Organic Law for the entire territory of the Argentine Confederation .  .  . . Executed in San José de Flores on May 25, 1853 by Justo J. de Urquiza.

In the Preface to that third edition, dated in Paris on November 22, 1856, Alberdi stated: “.  .  . Bases, a book published in Chile in 1852, has influenced the general Constitution approved in 1853 by the Argentine Confederation. This can easily be noticed by reading its text inserted herein as an exhibit”.28 The third edition has 37 chapters, as it excluded the part on the Bolivian Constitution. The author himself, in a letter to his friend Juan María Gutiérrez, said: “.  .  . While I have made minor changes in the whole book, three are the chapters original of this third edition; they are mentioned in the foreword. The printing process is over the shortage of resources rather than speed were just formal defects”. See Bases 1852 (2nd), op. cit., III and IV. 28   See Alberdi, Juan B.: Organización política y económica de la Confederación Argentina, Besanzón, Imprenta Jacquin, 1856, VI.

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halfway and in less than a month it will be ready”.29 Alberdi was obviously referring to the secession of Buenos Aires, which occurred in 1852. I refer the reader to section IV.2.O below, on the key issue of the “capital city of the Confederation”. The Preface to the fourth edition was dated by Alberdi as follows: “Paris, June 1858”. As has been explained, it was an impression supplementary to the 1856 third edition, in the “same Jacquin printing press and probably with the same lead. The Preface of this impression, similar to that of 1856, but for the suppression of certain paragraphs .  .  . was made in two volumes to make reading easier and it includes the same works of the 1856 edition, plus the Constitution of the Province of Mendoza, dated November 20, 1855; the Constitution of the Province of Buenos, dated April 11, 1854; and the studies on the 1853 Constitution”.30 Alberdi died 26 years after the fourth edition of Bases was published. There is no evidence suggesting that he had directed another edition. Volume 3 of his Complete Works, published in 1886–1887, obviously includes Bases, on pages 386–580. The compilers did not publish the Constitution approved in 1853 or Urquiza’s executive order, but, curiously enough, at the end of the book, they stated: “The 1853 Constitution of the Argentine Confederation was approved and enacted in accordance with the prior draft Constitution [in reference to chapter 37, i.e., Alberdi’s draft].” Such edition also failed to include the Foreword contained in 1852 Bases (2nd).31

2.  Symbolic Words Presented nowadays as the fundamental organisation of the State and the rights of its inhabitants, Constitutional Law is nonetheless an object created no more than two centuries ago. However, in these more than two hundred years communities have been openly implementing in their own way, which explains that it has changed throughout time – even if the object maintained its original properties. Analysing a Constitutional Law question, problem, or issue today entails establishing, at a minimum: (a) its basic structure: power, democracy, and constituent moments; (b) fundamental concepts on liberty, equality, and solidarity; and (c) the organisation of power and its rational control. Naturally, these are categories chosen to examine and describe the object. After one hundred sixty years the three categories could be used to try to analytically discover the material contained in 1852 Bases (2nd). This would surely dovetail with the idea that reality is fond of or strengthened by symmetries. Nobody could 29   This letter is quoted by Jorge M. Mayer (in my view, the researcher who has studied Juan Bautista Alberdi’s life with the most rigour, exhaustiveness, and understanding). On the unpublished letter, see Mayer, Jorge M.: Las “Bases” de Alberdi, op. cit., 103. This author has made a proper and welcome disclosure of the letter. 30   Mayer, Jorge M: Las “Bases” de Alberdi, op. cit., 105–106. 31  Alberdi, Juan B.: Obras completas, La Tribuna Nacional, 1886–1887. Publication was ordered through law No.  1789, enacted on August 24, 1886, whose section 1 provided: “The Executive Branch is authorised to invest up to ten thousand pesos to print published and unpublished works by Juan Bautista Alberdi.” The compilation was entrusted to Manuel Bilbao and Arturo Reynal O’Connor. Volumes 1 to 6 have as imprint the year 1886; the following two, 1887. The quotation included in the main body hereof pertains to page 580 of volume 3.

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ignore the advantages of analysing a product of the past with a present-day approach. Sadly, in this case, I do not believe in such an influence. I have an example and it is not particularly felicitous: Would it be reasonable to analyse ideas about mechanisation in 1852 from today’s perspective? In a similar vein, would it be thinkable to evaluate the knowledge of medicine in 1852 about heart diseases through the categories of medical knowledge available today? The work Symbolic Words was first published in 1839 in the Dogma Socialista de la Asociación de Mayo (Socialist Dogma of the May Association): Alberdi wrote No.  15 (XIII). I therefore think that one can perfectly go through 1852 Bases (2nd) applying as an evaluation tool the very method suggested by the “symbolic words” to be detected in its content, with the projection horizon of section I;32 i.e., reference is not made to the list of 1839, but to the possibility of creation in the middle of the 19th century, in an environment skilfully managed by Alberdi. Incidentally, it should be noted that a reference does not involve praising the content, because – as has been proved with abundant references – it is inconsistent, discrete, and lacking in originality.33 So here starts the endeavour. Indications refer to the chapter number of 1852 Bases (2nd) and, as a general rule, an effort is made to condense Alberdi’s ideas, based on his own expression.

(a) Power There are not many references to power as such. It could be considered that the Alberdian definition is included, for example, in chapter XXIX: “Power entails the habit of obedience”; i.e., clearly the existence of two types of subjects: those who command and those who receive orders. Previously, in chapter II, he had expressed that the political power pursued by Europe in America consisted in conquest followed by colonial rule. In chapter XXVI he asserted that the purpose of the revolution would be saved by just establishing the democratic and representative nature of power and its responsible and constitutional nature. It is not easy to establish expressly in 1852 Bases (2nd) a reference to the democratic origin of power, i.e., what it would be and what would be its main features. It is not the constitutional democracy of the 21st century, but neither is it the Athenian democracy. Chapter XXXVIII, the draft Constitution, starts with this formula: “We, the representatives of the Provinces of the Argentine Confederation, gathered in General Constituent Assembly, invoking the name of God, Legislator of all creations, and the authority of the peoples we represent .  .  . .” It may be inferred that Alberdi had no doubt about community self-determination. He also had no doubt that all men are free, meaning that they have the right to govern themselves. Although presented suggestively, it would seem that Alberdi thought that having the right to govern oneself was not similar to knowing how to govern oneself.   Echeverría, Esteban: Dogma socialista, Jackson, Buenos Aires, 1953.   See Rosa, José María: Historia Argentina, volume IV, Oriente, Buenos Aires, 1973, 348–350.

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It should therefore come as no surprise that, according to Alberdi’s conception of power and democracy, the government should be taken on by the intellectual classes, a sort of aristocracy of knowledge. There is no further evidence to confirm or refute this, but in examining the electoral system, the matter could be clearer. In chapter XXIII, Alberdi suggested, in reference to the general requirements that public servants or people representatives should comply with, that countries – such as Argentina – which had to be formed and developed with foreigners from regions more learned than the locals should not absolutely close the doors of political representation, if they want it to be in line with the civilisation of the country. In chapter X he questioned harshly the Paraguayan Constitution of 1844. Alberdi warned that this Constitution contained the following provision: “The authority of the President of the Republic is extraordinary in situations of invasion, internal turmoil, and whenever it is necessary to preserve order and the public tranquillity of the Republic” (section 1, heading VII, emphasis added). Sincerely, it must be said that this rule quashed the separation of powers guarantee. Commenting on this constitutional rule, Alberdi expressed: “Strong power is essential in America, no question about it; but that of Paraguay is the exaggeration of such means.” There are no doubts that if Alberdi believed in a strong power he would have applied it in designing the presidential system of government. It may be assumed, then, that “strong”, in the Alberdian terminology of 1852 Bases (2nd), would mean executive powers or nondeliberative powers. “Where there is deliberation and will, there is no authority”, anticipated Sarmiento34 in 1845. Using different words, seven years later, Alberdi would agree with him. In fact, in the Alberdian thought there was no egalitarian separation of the powers of government. He proposed a rigorous predominance of the executive branch over the Congress.

(b)  The Constitution Alberdi, in 1852 Bases (2nd), refers to the Constitution at least in half of the 38 chapters. Let us go over some of his basic concepts: (i) In Alberdi’s view, the constitution was the rule for the organisation of the State and the republican government. He expressly stated in chapter XVIII that the constitution is the rule of existence of collective entities known as states, and its author is none other than those subject to that very constitution. Some paragraphs before, in this same chapter, with a deep attachment to the historical school, he had stated: Men do not choose their fat or thin, nervous or sanguine constitution discretionally; similarly, the people do not opt willingly for a monarchic or republican, federal or unitary constitution. Men receive these conditions after birth; and they depend on the land where men live, on the number and conditions of the first inhabitants of the territory, on previous institutions and on facts which form its history. In all of these considerations, their willingness has no further place than the direction given to the development of things in the most favourable sense to their providential destiny. 34

  Sarmiento, Domingo F.: Facundo, Cántaro, Buenos Aires, 2003, 155 (chapter 7).

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(ii) He was a supporter of a written constitution because one cannot rationally demand a policy which does not stem from an instrument lacking that inherent property, as fundamental as it is constituent (chapter XXXVII). In this chapter he clearly distinguished the parts of a constitution: (1) principles, rights, and guarantees, which are the bases and the object of the political association agreement; (2) the authorities in charge of enforcing and developing those rights. As the most popular law, the constitution must be “.  .  . perfectly clear even in the smallest details”, he stated at the end of this chapter. (iii) Chapter III features one of the best definitions of the system of sources of Constitutional Law. Alberdi said: Constitutional originality is the only one which could be aspired to without immodesty or pretension; it is not like originality in fine arts. It is not an innovation superior to all perfections known, but the suitability for the special situation in which the constitution is to be applied. In this sense, originality in matters of political association is so easy and simple as in private agreements of commercial or civil association.

(iv) The pactist nature is present in the constitutional concept of Alberdi. In chapter XI he dared to assert his belief: South American constitutions should resemble, in structure and function, corporate business contracts. Later on, in chapter XXX, he said: “.  .  . the constitution that is limited to a more or less competent and smart contract, in which some interests are disappointed by others .  .  . .” Alberdi did not clarify whether or not all the contracting parties had similar rights or who would be the persons defrauded or which would be their interests. (v) Alberdi introduced one of the most simple and vigorous constitutional classifications. In chapter XI, he expressed that it was not reasonable to hope that constitutions could hold “the needs of all times”. Because “as the scaffolding used by the architect to construct buildings, constitutions shall be useful for us in the never-ending task of our political building, to place them today in one manner and then in another, according to construction needs”. He therefore distinguished two types: (a) constitutions of transition and creation; and (b) definitive and conservation constitutions. (vi) The normative nature of a constitution entails that it is prescription; i.e., coercion. We do not have to go very far to affirm that Alberdi thought on modern theories about the normative force of the constitution, which were explained in the 20th century by H. Kelsen, K. Hesse, and G. Bidart Campos. Coercion, however, was not alien to the Alberdian model or conception of the constitution. The author himself states in chapter XXX: “For those who obey, for the people, any constitution is inherently good, because it always yields in their benefit. This is not so for those who command or influence.” He summed up his ideas in chapter XXXI: It is utopian to think that we can form the representative republic, i.e., the government of good sense, of calmness, of discipline through habits and virtue more than through coercion, of abnegation and disinterest, if we do not alter or modify the dough of which our people is made up .  .  .

The normative coercion of the constitution is timidly introduced by Alberdi as a true reasoning.

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(c)  Comparative Constitutional Law (i) Maybe because of the assertion that everything that first happens in other places (countries) in time ends up happening in one’s own country, Alberdi became acquainted with the Constitutional Law of his time. He commented on the Constitutions of Chile of 1833, of Peru of 1823, of Bolivia of 1839, of Colombia of 1821, of Mexico of 1824, of Uruguay of 1829, of Paraguay of 1844. His comments lie on a basic foundation described in chapter II: All the Constitutional Law of the once Spanish America is incomplete and faulty, regarding the most effective means to accomplish its superior goals .  .  . No South American constitution may be taken as a model to imitate .  .  . The constitutional history of our South America is divided into two essentially different periods; one begins in 1810 and finishes with the independence war against Spain, and another one which starts at such time and finishes in our days.

His conclusion is equally clear in chapter XI: This America, in the past thirty years, has only looked at liberty and independence; it is for these values that the constitutions were written. It did fine; that was its mission then .  .  . All things have changed and are looked at from a different perspective in the times we live .  .  . [C]urrent constitutions .  .  . should tend to organise and create the superior practical means to rescue the emancipated America from the dark and subordinate status in which it is today.

(ii) California’s Constitution of 1849 made a profound impression on Alberdi. In chapter XII he referred to it saying: “.  .  . [I]t is the confirmation of our constitutional bases.” It may be inferred that it was the constitutional introduction that prompted Alberdi’s praise. The first part of the Californian Constitution stated: Article I. Declaration of Rights, Section 1: All men are by nature free and independent, and have certain inalienable rights, among which are those of enjoying and defending life and liberty, acquiring, possessing, and protecting property: and pursuing and obtaining safety and happiness.

(iii) Alberdi acknowledged, in chapter XXXVII, before outlining his own draft constitution, that he had decided to follow the method of the Constitution of Massachusetts of 1780. Curiously, this Constitution is more precise than Alberdi’s draft; and maybe that is the reason why in chapter XIX he wrote: “I do not expect a constitution to embrace everything; I would rather it were branded as too restrained and concise.” Among the categorical omissions in the articles written by Alberdi, one is that no reference is made to university. But the Constitution of Massachusetts did refer to university in chapter V. (iv) In chapter XXIII, he expressed his favourable opinion of the Constitution of the United States of 1789: “The general mechanism of government of North America gives us an idea of the way of putting into practice the association of principles in the organisation of general authorities.”

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(d)  Constitutional Theory In chapter XXII Alberdi stated: “Here is the complete realisation of the constitutional theory which we had the honour to explain in this book. Now the definitive constitution should not deviate from this base.” Some paragraphs later, in chapter XXXI, he uses again the term “constitutional theory”. Alberdi is probably one of the first legal scholars who, in the middle of the 19th century, resorts to and applies constitutional theory, in a modern sense: a body of consistent and unitary propositions (knowledge) in relation to the study of the object (normative), Constitutional Law itself. A case of remarkable originality.

(e) Culture Without hesitation or euphemisms, playing an undoubtedly leading role, Alberdi, in chapter XXVII, wrote: “Laws are nothing but the expression of a given country’s culture and they always reflect the higher or lesser degree of education of the society producing the laws.”

(f)  Amendment and Interpretation of the Constitution In chapter XXXV Alberdi suggested that another method to strengthen the respect for the constitution was to avoid amendments as much as possible. Amendments may be necessary sometimes, but they always entail a more or less serious public crisis. In his draft constitution, amendments were regulated under “Progress and Order Guarantees”. Alberdi proposed to encourage the duration of the constitution. And to avoid the defects inherent in any constitution, the channel would have to be interpretation. In such chapter XXXV he pointed out: “With good jurisprudence, there is no bad legislation.” Here “jurisprudence” seems to refer more to the study of the Law than to judicial decisions35. Apart from that, there is no doubt that this assertion is clearly contradictory with what has been stated in connection with transition and definitive constitutions, because, as has been explained, Alberdi believed that Argentina needed a transition constitution.

(g)  Aims of the Constitution The true Alberdian policy is condensed in his assertion, contained in chapter III, that the Argentine Confederation should be organised as an “essentially agricultural

35   Please note that the word in Spanish for “case law” ( jurisprudencia) and the English word “ jurisprudence” (meaning the work of law scholars) are faux amis or false cognates, which look similar but have different meanings.

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and commercial republic”. Nothing can be added. This statement is self-explanatory. In chapter XX he also maintained that the impossible is not within the scope of politics, a utopia difficult to fit into the Alberdian language. Later on, in chapter XXXV, he stated: The general Constitution is the chart of the Argentine Confederation. Whenever there is bad weather or times are difficult, the Confederation will always provide a safe course towards a port of refuge, and it will be sufficient to resort to the constitution and to follow the path therein established to form the government and regulate its functions.

(h)  Form of the State The two economic models which clashed with each other in the Argentina of the 19th century received names stemming from the political organisation of the state: Federalists and Unitarianists. Neither of these two projects was designed to conceive a type of state different from the “essentially commercial and agricultural republic” designed by Alberdi, or went further than that. One faction, Federalists, wanted fourteen agricultural and commercial ranches, sharing in the revenues of the Buenos Aires customs. The other faction concentrated, in fact and in law, all the power in Buenos Aires, with less autonomous ranches. One of the factions, Federalists, expressed an incipient intent to implement a capital accumulation and economic concentration model of their own, with an emphasis on state sovereignty; the other faction, Unitarianists, wanted, in essence, to create a new metropolis, whose centre in the future would not be Buenos Aires or Argentina. In legal and political terms, federation or union were the constituent elements of a debate whose gravity centre was the degree of sovereignty or, rather, of autonomy to be held and maintained by each of the fourteen provinces or entities in the constitutionally organised country. Alberdi studied Unitarist and Federalist precedents carefully and thoroughly in chapter XVIII. He proposed a “mixed system” combining the liberties of each province and the prerogatives of the Nation. Moreover, he believed that such and none other was the “inevitable solution”, which resulted from the application to the two great terms of the Argentine problem – Nation and Provinces – of the formula that was then to preside over politics: a harmonic combination of individuality with generality, localism with Nation, or with the right of association. Later on, in chapter XXII, he said that the type created by the US Constitution of 1787 was a “Federalist and Unitarist mixed system”. The Argentine Confederation, in Alberdi’s conception, was organised by its Constitution as a “federative State”. How to create a federal government? In chapter XXIV he proposed that provincial governments should resign or abandon a certain part of their powers. Because giving away a part of the local or provincial government and “.  .  . seeking to retain it completely is like subtracting two from five and pretending that it always equals five”. What would be the starting point for the creation of the federal and general government? In chapter XXVIII, Alberdi answered this question. He suggested that the

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starting point should be, precisely, the “existing provincial governments”. Moreover, these should be “.  .  . the natural agents of the creation of the new general [and federal] government”.

(i)  Form of Government The first noun used by Alberdi in his draft constitution was “republic”. It is his first normative decision. In chapter XXXVIII, specifically in section 1 of his draft, he wrote: “Argentine Republic .  .  . .” In chapter XIII one can discern that he was aware that monarchic ideas were still alive. Nevertheless, he believed that the republican government form was the only “sensible solution”. At the same time, he considered that the idea of having a representative monarchy in America was “extremely poor and ridiculous”. Then, he concluded: “Happily, the republic, so prolific in forms, recognises several degrees and can be adapted to all requirements of age and space. Knowing how to adapt it to our times is what the art of a republic being in force among us is all about”.

(j)  System of Government. A King with the Name of President In chapter XIII, Alberdi attributed to Simón Bolívar this profound statement: “The new states of the once Spanish America need kings with the name of presidents.” He did not refute Bolívar. The only possible way to “tie the tradition of the past” with the “chain of modern life” was to give the Executive “all possible power”, but, as he tried to clarify in chapter XXVI, “.  .  . such power must be given through a constitution”. Alberdi was firmly convinced that “We .  .  . are .  .  . poor, uneducated, and few” (chapter XX). There is no doubt that, in Alberdi’s view, having the right to govern oneself did not mean knowing how to govern and, therefore, he distrusted the rational deliberation which must necessarily precede a responsible leadership. He trusted leadership or execution. Hence, his proposal was a leader with the strongest power that could be concentrated in a myriad of powers. In chapter XXXVIII we can realise that almost thirty per cent of the provisions of Alberdi’s draft refer to the regulation of the Argentine Confederation’s presidential powers. Alberdi naively thought that a person called “president” would be lucid enough every day of each of the six years that the person would serve in the position. In other words, between tradition and reason, he chose the security afforded by the former, instead of the (possible and sometimes, only sometimes, august) truth of the latter.

(k)  Legislation. Regulation of Rights Alberdi clearly distinguished between the original constituent power, creator of the Constitution, and constituted powers, in charge of enforcing or realising it. In chapter XXX he said that the constitutions with the least chances of success are those arising from the “vote of the people gathered in constituent assemblies .  .  . The Con-

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stitution to be adopted by the Argentine Republic will belong to this difficult type”. He added that the powers of the members of the constituent assembly should be very broad and subject to no limitations to regulate the constitutional object. After drafting the constitution, Alberdi entrusted to the lawmaker the development of constitutional matters, but up to a certain point. He feared that Constitutional Law might terminate or be blocked by the action or omission of federal authorities. To avoid a disintegration or degradation of the high value of constitutional rights, Alberdi set two cardinal rules in his chapter XXXVIII. In sections 23 and 36, respectively, Alberdi referred both to laws and treaties governing the “principles, rights, and guarantees” therein established; under no circumstance should they alter, diminish, or distort constitutional provisions through regulation. Previously, in chapter XXXIV he had asserted: It is not enough that the constitution contains any and all liberties and guarantees known. It is necessary .  .  . that it contains formal declarations prohibiting any laws which, with the excuse of organising and regulating the exercise of these liberties, annul and falsify them with regulatory provisions.

Understanding Alberdi entails a deliberate and orderly reading, if one wishes to establish the sources or origins of the rules on the legislative determination of fundamental rights. His design is eloquent; his meaning, powerful, because it is not possible to study the regulation of constitutional rights or their limitation without a rigorous analysis of the Alberdian source.

(l)  Electoral System. Alberdian Concept of Democracy: An Oxymoron? The government of the Republic is democratic, says section 2 of the Alberdian draft. The word “democracy” does not appear again. This is an indisputable advantage with respect to the 1853 Constitution, as “democracy” was not included in such instrument by its drafters. (i) In chapter XX Alberdi remarked that “.  .  . democracy, among us, rather than a formality, is the very essence of government”. (ii) In chapter XXVI he referred to the “.  .  . democratic origin .  .  .” of power. (iii) Alberdi distinguished the political structure of a democratic nature from other opposite structures, for which he did not provide a name and which we today call “autocracy”. (iv) However, the Alberdian constitutional state, in which all are equally subject to the law, does not coincide with the conception spread in Argentina in the 21st century. (v) He also rejected, as is the case today, the authoritarian State. I insist: he did not call it that way, but it can be clearly inferred that he meant the state in which all are arbitrarily subject to the will of those who command. (vi) The Alberdian democratic conception could be as follows: government of the people, for the people, but – and this should be underscored – with partial, relative, or controlled participation of the people. (vii) In chapter XXIII he pointed out:

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Intelligence and fortune up to a certain degree are not conditions excluding the universality of suffrage, since everyone can have access to them through education and industry. Without a serious alteration in the electoral system of the Argentine Republic, we shall relinquish the hope of obtaining honourable governments through suffrage. To avoid the challenges of an abrupt abolishment of rights pertaining to the crowd, a double or triple electoral system may be applied, which is the best means to purify universal suffrage, without reducing or abolishing it, and to prepare the masses for the future direct suffrage. The success of the republican system in countries like ours depends entirely on the electoral system.

(viii) Alberdi believed that universal suffrage could be the universal suffrage of ignorance. Sovereignty could not be handed over to an ignorant crowd. Why should those who do not know how to govern themselves entrust others to do that? In the light of our days, these ideas deserve utter rejection and can be refuted with several arguments. The reader would be right if assumes that, consistent with this, universal suffrage does not appear in the Alberdian draft. This explains his limited conception of democracy as a method of production of the legal system or, if it is preferred, in modern terms, as the political form of the state.

(m)  To Govern is to Populate Alberdi had powerful ideas on populating the Republic. At the beginning of the second half of the 19th century, the population of the Argentine Confederation was less than 1,300,000. In 1869 illiteracy, according to the results of the first national census, was as high as 77% (calculated based on people older than 14). There are no estimations about illiteracy in 1852, but it cannot possibly be presumed that it was lower than it was in 1869. (i) In chapter XV he introduced one of his most questionable ideas: “We, those who call ourselves Americans, are nothing but Europeans born in America; skull, blood, colour, everything is from outside”. Alberdi cannot be charged with the brutal extermination of native peoples in the 19th century. But he did not pretend: the natives would not be part of his “federative State”. In the same chapter, he went on to say: In America, everything that is not European is barbarian; there is no other division than this: first, natives, i.e., savages; second, Europeans, i.e., us, who were born in America and speak Spanish .  .  . There is no other division of the American man .  .  . [T]he savage has been defeated; in America, the savage has no control or power to rule. We, Europeans of race and civilisation, are the owners of America.

This is the situation then. Nobody should marvel at these assertions, nor should they generate admiration.36 (ii) In chapter XVI, he stated: “Each European that approaches our beaches brings us more civilisation in their habits – which are then transmitted to our inhabitants – than many philosophy books”. Then he added: “The English people .  .  . is the result 36   E. Raúl Zaffaroni has postulated that “.  .  . our legal order is based on genocide”. Then, the (hypothetical) fundamental norm formulated by H. Kelsen should be tied to the “colonising genocide” in Latin America. (Zaffaroni, E. Raúl: Lecture “Ser y deber ser en América Latina”, San Juan, 2010).

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of an infinite mix of castes, and that is precisely why the English are the most perfect of men”. How can we interpret this assertion? Alberdi projected a new house (the Argentine Republic), without all its inhabitants. (iii) Chapter XXXII, as well as chapter XXXIII, was specially introduced in the second edition. He believed that Argentina was a desert, plainly and simply (chapter XXXII), a desert “half populated and half civilised” (chapter XXXIII). And the key aim, he assured in chapter XXXII, to which the constitution should be directed was “.  .  . the policy of population creation, of conquest over loneliness and desert .  .  . Populating is the aim and is the means at the same time .  .  . Thus, in America, to govern is to populate .  .  .”.

(n)  Economic Model Progress is a constant in Alberdi’s thought. In 1852 Bases (2nd), he refers to progress approximately one hundred times. It is impossible to sum up those ideas here, apart from the fact that it is not the objective. It must be considered, however, that in Alberdi’s view progress should have been the registered trademark of Argentina’s constitutional organisation. In the first lines of chapter I he wrote: The Monte Caseros victory does not give by itself everything the Argentine Republic needs. This victory places Argentina on the path to its organisation and progress, and so it is considered an event as great as the May Revolution, which destroyed the colonial government .  .  . .

The law of progress devised by Alberdi is based on history, instead of on usefulness or reason. The law of progress, which filled him with illusion and expectation, was closely tied, in his own beliefs, to the “expansion and indefinite enhancement of the human species”. In his view, the law of progress was a kind of historical fatalism; the association of men replacing or succeeding exploitation would occur, almost providentially, for their future well-being. Such new state of things had no other meaning than the very evolution of history itself. That is, progress, in Alberdi, is not the result of history and does not prevail in history; it is immanent,37 inherent in humanity, because divine creation is not an exceptional act, but a constant one. In chapter XVIII, he held: “God actually gives each people their constitution or normal way of being, as He does with every man.” So, according to Alberdi, God neither is nor was: he evolves, incessantly, in nature and in history. In his constitutional preamble, Alberdi mentioned the “intellectual and material progress”; one of the four chapters of the First Part of his draft was entitled “Public Guarantees of Order and of Progress”; and section 67(3) contains the famous progress clause. Maybe this was his legal theory, because at the time it was written, there were no other similar normative conceptions. A real legal rule creating a future reality; not a rule thought to be adapted to a reality (one’s own past and present) deplored by Alberdi. 37   Alberini, Coriolano: “La metafísica de Alberdi”, in Archivos de la Universidad de Buenos Aires, year IX, volume IX, June-September, 1934.

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What would then be the basic means for progress? Immigration. In chapter XIX Alberdi set forth some commandments about his peculiar form of political organisation of the future constitutional State. Without specifying any hierarchical order, he proposed that everyone should be able to constitutionally enjoy: freedom of trade; of arriving at safe and free ports; of managing and executing on their behalf any trade acts, without the obligation to employ nationals for that; of exercising all civil rights inherent to the citizen of the Republic; of not being obliged to do the military service; of being free from forced loans; the assurance that all the stated guarantees will be maintained even if relationships with a foreign nation are broken; total freedom of conscience and worship. Moreover, the railway, as he wrote in chapter XVI, would contribute to “.  .  . the unity of the Argentine Republic more than all congresses”. The railway was an agent of progress and culture. He did not hesitate over asking – almost imploring – that the Confederation take loans, or engage in any other state task, so that the railway could become a reality. Alberdi believed that public debt was the incentive of the economy. And internal customs, its poison. Regarding private relationships, in chapter XVII he said: “Any law against private credit is an act against America.” Our understanding of the brave Alberdian faith in connection with progress, upon which Argentina’s future depended, may be completed by examining this sentence from chapter XVI: “This America needs capital as much as it needs population.”

(o)  The Capital Issue The capital of the Republic was a key issue of Constitutional Law which was only settled as late as 1880. In chapter XXVII, Alberdi asserted that the city of Buenos Aires would be the “.  .  . most appropriate country for the general government, in charge of directing the Republic towards its new destinations”. With the versatility of a storyteller, he advised: “If the capital of the Argentine Republic were not based in Buenos Aires, it should be necessary to place it there in the interests of progress.” Surprisingly enough, in section 2 of his draft Constitution he did not establish the “capital in Buenos Aires”: he wrote an ellipsis and referred the reader to chapter XXVII, the key concept of which is set forth in the preceding paragraph here.

(p)  Religious Tolerance Was Alberdi tolerant? If tolerance means respect for the possibility that each individual carries out his own life plan, without interference, even if one’s own or majority opinions are contradicted, it cannot be said that he was tolerant. If tolerance means that each individual should have the free, unrestrained possibility of organising his own life plan and that the State has to safeguard the possibility of doing so without interference, neither can we say that he was tolerant. In chapter XVI, Alberdi asserted that the State should not encourage atheism, if “.  .  . you want moral and religious inhabitants. If you want families shaping private habits, respect their beliefs .  .  .”.

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However, his “religious tolerance” is of a clear utilitarian, business nature: “.  .  . the dilemma is crucial: or exclusively Catholic and deserted, or populated, thriving, and tolerant regarding religion”. The opening to religious tolerance, which is wide in Alberdi, has no other aim than public or private business. Without tolerance, there would be no immigration, he believed. And as he thought that immigration was necessary to work and generate wealth, and that wealth would bring with it the cultural growth of the population, he had no other option than to rule that everyone has the freedom to profess any religion (section 16 of his draft and chapter XVI). I think, then, that tolerance in Alberdi is motivated more by usefulness than by true belief in it. A partial and distinctly limited tolerance, as atheists or agnostics are condemned rather than tolerated. I admit that to speak of partial tolerance entails almost a contradiction in terms. Aware of this implication as we are now, let us entertain, with tolerance, the fragile Alberdian thought.

V.  Influence of Alberdi’s Constitutional Draft on the 1853 Constitution. Normative Comparison 1.  Preliminary Observation As proposed in section I, we proceeded with the comparison of norms. Some preliminary remarks are in order here: First: The Alberdian draft is used: chapter XXXVIII of 1852 Bases (2nd). The author said: “.  .  . a practical idea of the way of turning the doctrine in this book into institutions and law .  .  . .” Second: Regarding the 1853 Constitution, the text published by Emilio Ravignani is used: Asambleas Constituyentes Argentinas, Instituto de Investigaciones Históricas de la Facultad de Filosofía y Letras, Universidad de Buenos Aires, 1939, volume 6, second part, 794–831. Third: Certainly the most important one, as the focus is on meaning. A norm, any norm, has a finite number of possible meanings. No syntactic identity between one text and the other is pursued. Our research concerns meanings. Specifically: what portion of meaning from Alberdi’s norms can be reasonably observed in the 1853 text. The semantic field is thus given priority over conceptual syntax.

2.  Comparison of Alberdi’s Draft with the 1853 Constitution The comparison of norms, section by section, can be found online. The analysis has been performed by the author. The reader is referred to the text for the sake of brevity.38 38  http://portalacademico.derecho.uba.ar/catedras/archivos/catedras/156/alberdi%20y%20la%20c onstituci%F3n%20de%201853.%20comparaci%F3n%20normas.pdf.; http://www.circulodoxa.org/do cumentos/Alberdi%20y%20la%20Constitución%20de%201853.%20comparación%20normas.pdf.

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VI.  Final Comments First: The 1853 AFC and the draft constitution set forth in 1852 Bases (2nd) have a similar legal structure: a preamble and two parts. The First Part of 1852 Bases (2nd) is entitled “Principles, Law, and Basic Guarantees”; the First Part of the 1853 AFC, “Declarations, Rights and Guarantees”. The Second Part of 1852 Bases (2nd) and the 1853 AFC share the title “Authorities of the Confederation”; they also share the division criterion, because in order to regulate the Constitutional Law of power, Alberdi divided the work into two parts: General Authorities and Province Governments, respectively (“sections”, in the Alberdian terminology); and the 1853 AFC: Federal Government and Province Governments, respectively (“titles”, as they were called by the members of the Constituent Assembly). The similarity stands: constituted powers have the same name. The names of each of the powers of the legislative, executive, and judicial branches, and of province governments are also identicals Second: Curiously enough, both texts have the same number of sections: 107. We should not bow to this coincidence, because a constitutional section may contain one or more legal norms. The 1853 AFC is forty per cent larger than that of 1852 Bases (2nd). Three: 1852 Bases (2nd) arrived in Argentina during the spring of 1852, maybe some days before. The Constitutional Affairs Committee of the SGCAAC was appointed a few month later, on December 24, 1852; the ACF draft was submitted on April 18, 1853. It is evident that the members of the Constituent Assembly could have read 1852 Bases (2nd). (It is also worth noting that the “debate of the Constituent Assembly” took only a few days. The 1853 ACF was sanctioned on May 1.) Fourth: Almost ninety per cent of the text drafted by Alberdi in 1852 bears a conceptual resemblance to the rules approved by the original constituent power in 1853. It has wisely been written: “.  .  . [A]s far as you are concerned, Juan Bautista [Alberdi], no glory shall be denied to you, but no misfortune either.”39 A normative comparison is not commonplace. I do not want to get tangled up, because other authors have previously made this comparison. The direction maintained here is original, in the sense that all meanings of the text have been assessed, leaving syntax aside and with a focus on semantics. Fifth: Each constitutional text is defined forever in an instant. A moment that reveals a truly significant event. The text does not choose when to unfold. Whether the text reunites with itself will depend on the path it follows – specifically, on its realisation process. Sixth: H. G. Wells in 1896 “invented” a time machine.40 His great discovery – in the most imaginative of fictions – was to allow movement in time: a traveller through time. That remains in fiction, in its suitable and magic originality, because men cannot travel in every direction of time.

This article can also be read on Contextos, volume 3, Defensoría del Pueblo de la Ciudad de Buenos Aires, 2012, 98–130. 39   See Piglia, Ricardo: Respiración artificial, Anagrama, Buenos Aires, 2010, 71. 40   Wells, Herbert G.: La máquina del tiempo, Centro Editor de Cultura, Buenos Aires.

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Seventh: Constitutions, highly sophisticated elements, are or should be some sort of instrument permitting dialogue among generations. They should allow free men, in equal standing, to agree and re-agree on the foundational pact. Because each generation has the right to deliberate and decide, always for the present, its legal organisation, starting from the constitutional structure. Simple machines are one of the first human inventions. They allowed and continue to allow men to reach and enjoy everything they cannot benefit only with their individual energy. Constitutions are an invention and may also produce an organisational power higher than that of each citizen. They are extremely important social institutions.41 Eighth: Constitutions can be metaphorically understood as simple machines, as they are capable of distinguishing and organising a citizen force, with rationality and direction. Ninth: Naturally, constitutions are not a time machine. Even if present generations found their institutions to have already been organised when they were born, and some realities may be very difficult to change in the future, the present may be lived to the full, whether to preserve it or to change it radically or progressively. And there lies the past, in order for present generations to praise or criticise what has been regulated. Tenth: Alberdi, with his virtues and defects, is a guide. There is no doubt about it. Argentines do not descend just from immigration (“from the ships”, as they say). They have a specific heritage; in this case, they have the ideas of Alberdi to cultivate or disregard, even if taking just what they consider acceptable in them, but, in any event, to challenge the notion that the constitution of a foreign country has been copied word for word. Alberdi’s draft is original, as the 1853 Constitution was original in adopting the draft and in its own original and clear wording – for example, section 19, 1853 ACF –, notwithstanding the evident defects that both texts have regarding rights, the concept of democracy, and the exclusion or conservative mark which distinguished them. It must also be remembered that Alberdi designed a system of legal rules for a community barely larger than one million people. Alberdi was not a philosopher. He followed postulates of Romanticism and, to a lesser extent, only residually, of the Enlightenment. It is impossible for me to agree with some of Alberdi’s ideas. For example, his beliefs about the need to organise a strong presidential system. Or his ideas on political rights, limiting the access of citizens to the right to vote. Or his economic ideas based on liberal capitalist beliefs, which 160 years later have become a new way of savage exploitation of men by men. Or his ideas on women, both as individuals and as community members. Or his ideas about civilisation, identified with income, rather than with well-being and the principle of not causing damage to others. This last principle provides one of the clearest targets if Alberdi is to be thoroughly criticised. How did he solve the life of natives and nationals of European descent? By symbiosis with the foreigner? By denaturalising their culture? Would they be buried by immigration? 41

  See Popper, Karl: La sociedad abierta y sus enemigos, Paidós, Buenos Aires, 1992, 76.

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It is likewise impossible to share Alberdi’s ideas on property law: They failed to solve the existing patent inequality, mainly inherited from the colonial system. Alberdian ideas regarding the organisation of constituted powers are fairly modest. We cannot agree with his idea that the government should be run by an elite. Alberdi was a conservative, because he intended pre-political guarantees of existence to remain almost intact: life, liberty, and property. To become president, senator, or representative, a citizen should have a significant annual income. I also believe that his conception of political process had oligarchic (money) and aristocratic (knowledge) features in equal shares. Still, he forgot to establish the requirements to become a judge. Alberdi’s model, however, was consistent enough with existing models at the time it was thought and described in writing. In Alberdi, the state community was built from the top to the bottom. The will of citizens and their own ideas about personal sovereignty were not entitled to any privilege whatsoever. His ideas about fundamental rights are clear and open, albeit succinct. He conceived civil rights broadly for all those who could be entitled to such rights. But he conceived political rights just for a few. Despite this, the model is actually better than many others existing at his time. It is worth noting that it was not he who drafted section 19 of the ACF, a pillar of the constitutional design of 1853. An architect never erects a building on his own. That is not possible. Tens, hundreds of people are involved in the design and final production stages. Similarly, the constitutional organisation of a State can never depend on one person, irrespective of moral, technical, or scientific qualifications. Moreover, conceptually, constitutions are the product of assemblies of citizens exercising the constituent power. A sum of individuals, indeed, but never individuals who are isolated or alone. Because constitutionalism is a synonym of pluralism. Did Alberdi take ideas from other normative models? There is no doubt. It is an indisputable fact, which can be corroborated by means of a simple comparison: Massachusetts, 1780; United Stated of America, 1787; California, 1849, to cite but a few examples. We should not exclude the Argentine drafts of 1819 and 1826. It is true, though, that each of the 107 sections of the Alberdian draft may be dissected, separated, individualised, and researched .  .  . and thus we would be able to establish which was the source of each of them, in other documents. Does this detract from or erase Alberdi’s originality? No.  Because Alberdi created a comprehensive plan. It was he, and nobody else, who made such a comprehensive, global design for the first time. Or is it that at some point in time there was one first and only lawmaker? The key ideas of Alberdi, specifically those written in 1852 Bases (2nd), were those of an architect. Throughout time, 1852 Bases (2nd) became, indirectly, an unquestionable source of the 1853 AFC. It could then be said that Alberdi was the architect of the time machine.42

42   I wish to thank sworn translator Mariano Vitetta, who translated this essay from Spanish, and professors Sebastián Toledo, Mario Cámpora and Leandro E. Ferreyra, and student Juan Ignacio Ferreyra for their valuable linguistic observations to the original version of this article.

Das Amparo-Verfahren im Verhältnis zur Individualverfassungsbeschwerde von

Axel Tschentscher * und Caroline Lehner **, Universität Bern Das Amparo-Verfahren ist ein ausserordentlicher Rechtsbehelf, der in den lateinamerikanischen Staaten traditionell gegen Grundrechtsverletzungen durch Beamte und Behörden zur Verfügung steht. Entwickelt in naher Verwandtschaft zum habeas corpus des anglo-amerikanischen Rechts, zielt das Verfahren im Kern nach wie vor auf eine Schutzschrift zugunsten des einzelnen Betroffenen. Damit geht eine inter partes-Wirkung einher, die sich von der erga omnes-Wirkung einer voll ausgebauten Normenkontrolle unterscheidet. Überlagert wird diese funktionale Differenz durch eine organisatorische Entwicklung, bei der immer mehr lateinamerikanische Staaten ihre Gerichtsbarkeit durch spezialisierte Verfassungsgerichte kontinenaleuropäischen Musters ergänzen. Gleichzeitig wird an der spezifisch lateinamerikanischen Tradition des Amparo mit Modifikationen festgehalten, so dass sich für Lateinamerika eine eigenständige Mischform der Verfassungsgerichtsbarkeit herauszukristallisieren beginnt.

I.  Das Amparo-Verfahren in Lateinamerika 1.  Herkunft, Varianten und Verbreitung a) Das Amparo-Verfahren, welches mittlerweile in beinahe ganz Lateinamerika etabliert ist, hat seinen Ursprung in Mexiko. Es wurde in der Verfassung des mexikani­schen Bundesstaates Yucatán vom 31. März 1841 erstmals rechtlich verankert und dient bis heute dem Schutz der Grundrechte der Bürger gegenüber staatlichen Eingrif ­fen.1 Dieser Schutz bestand von Anfang an auch gegenüber dem Gesetz*

  Ordinarius für Staatsrecht, Rechtsphilosophie und Verfassungsgeschichte am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern. **   Assistentin am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern. 1   Dazu und zum Folgenden Norbert Lösing, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika, Baden-

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geber.2 Folg­lich konnte in einem Amparo-Verfahren bezüglich der dadurch geschützten Rechte schon immer inzident die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen gerichtlich überprüft wer­den. Der Amparo stellt damit einen bedeutenden Teil der allgemeinen diffusen Ver­fassungs­kontrolle dar, welche ebenfalls 1841 in der Verfassung von Yucatán verankert wurde, beeinflusst insbesondere vom US-ame­r ikanischen Modell der judicial review.3 Mit der Revision der mexikanischen Bundesverfassung im Jahr 1847 fand das Amparo-Verfahren Eingang in das nationale Verfassungsrecht. Den Entwurf dazu lieferte Mariano Otero, weshalb das dazumal verankerte Prinzip, nach welchem eine gerichtliche Ent­scheidung in einem Amparo-Verfahren nur eine Wirkung zwischen den Parteien (inter partes) entfaltet, Otero-Formel genannt wird.4 Jene Formel, deren weitgehende Beschränkungswirkung Mariano Otero vielleicht nicht einmal gewollt hat,5 gilt auch unter der aktuellen mexikanischen Verfassung nach wie vor praktisch unverändert.6 Abgemildert wird die Formel lediglich durch eine enge Aus­nahme, die der mexikanische Jurist Ignacio Vallarta 1882 gegen die Otero-Formel in Stellung geBaden 2001, S.  45 f.; siehe auch Rainer Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens in Mexiko, in: JöR 53 (1993), S.  271–292 (273 f.). 2   Héctor Fix-Zamudio/Salvador Valencia Carmona, Derecho constitucional mexicano y comparado, Mexiko: Porrúa 2007, S.  869. 3   Marbury v. Madison, 5 U.S.  (1 Cranch) 137 (1803); ausführliche Analyse mit weiteren Nachweisen etwa bei Werner Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, in: Der Staat 42 (2003), S.  267–283 (267 ff.); zum Selbstermächtigungscharakter Axel Tschentscher, Supreme Court und Schweizerisches Bundesgericht als Modelle integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Thomas Simon (Hrsg.), Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte, Abschnitt III.1.b (im Erscheinen). 4  Die Otero-Formel findet sich am Ende von Artikel 25 des Reformgesetzes von 1847 (zitiert nach der Publikation in: Arturo Gonzáles Cosío, El juicio de amparo, Mexiko: Porrúa 1994, S.  31): „[...] limitándose dichos tribunales a impartir su protección, al caso particular sobre el que verse el proceso, sin hacer declaración general respecto de la ley o del acto que la motivare“ (... die Gerichte beschränken ihren Schutz auf den konkreten Fall, um den der Prozess geführt wird, ohne eine allgemeine Aussage über das betroffene Gesetz oder die in Frage stehende Handlung zu machen). Publikation des Reformgesetzes in modernisierter Sprachfassung ausserdem auf den Rechtsinformationsseiten der Regierung: http://www.ordenjuridico.gob.mx/Constitucion/1847.pdf (Stand: 18.04.2013). 5   Vgl. dazu Franzcisco Fernández Segado, Du Contrôle Politique au Contrôle Juridictionnel – Evolution et Apports de la Justice Constitutionnelle en Amérique Latine, in: JöR 54 (2006), S.  655–700 (696 f.), der den Wirkungsunterschied dieses legal transplants gegenüber dem Präzedenzsystem des US case law betont (rule of precedent, stare decisis). 6   Die mexikanische Verfassung enthält die Regelung in Art.  107 Nr.  II Abs.  1 Verf.-MX: „Las sentencias que se pronuncien en los juicios de amparo sólo se ocuparán de los quejosos que lo hubieren solicitado, limitándose a ampararlos y protegerlos, si procediere, en el caso especial sobre el que verse la demanda.“ (Die Urteile, die in einem Amparo-Ver­fahren gefällt werden, befassen sich nur mit den Klägern, die das Verfahren beantragt haben, und beschränken den allenfalls gewährten Schutz auf den vom Verfahren betroffenen Einzelfall.) Publikation der Verfassung auf den Seiten des Parlaments unter: http://www.diputados.gob.mx/LeyesBiblio/pdf/1.pdf (Stand: 18.04.2013). Für die Verfassungen und Gesetze werden hier und im Folgenden die Ländercodes gemäss ISO 3166 verwendet: Argentinien (AR), Bolivien (BO), Brasilien (BR), Chile (CL), Costa Rica (CR), Dom. Republik (DO), Ecuador (EC), El Salvador (SV), Guatemala (GT), Honduras (HN), Kolumbien (CO), Kuba (CU), Mexiko (MX), Nicaragua (NI), Panama (PA), Paraguay (PY), Peru (PE), Uruguay (UY), Venezuela (VE). Soweit nicht anders angegeben, werden im Folgenden für die Verfassungs- und Gesetzestexte die Publikationen auf den offiziellen Internetseiten verwendet (Regierung, Parlament, Amtsblatt etc.).

Das Amparo-Verfahren

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bracht hatte: 7 Wenn der Ober­ste Gerichtshof seine Verfassungsrechtsprechung in fünf aufeinanderfolgenden Urteilen mit einer qualifizierten Mehrheit von acht der elf Richter be­stätigte (sog. jurisprudencia), sollte die Bindungswirkung für alle übrigen Gerichte eintreten.8 In Mexiko gilt diese Präjudizienbindung aber nur für Gerichte, nicht für Verwaltungsbehörden, so dass von einer allumfassenden erga omnes-­Wirkung keine Rede sein kann.9 Die jurispru­den­cia-Regel, die sogar beim neuen Nichtigerklärungsverfahren anwendbar bleibt,10 än­dert darum nichts an der grundsätzlichen inter partes-Wirkung des mexikanischen Amparo. Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ist die inter partes-Wirkung als Charakteristikum des Amparo-Verfahrens anzusehen.11 Durch die Erweiterung der Funktionen des mexikanischen Amparo stieg im Laufe der Zeit die Zahl dieser Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof, was zu seiner Über­la­stung führte. Aus diesem Grund wurden 1951 fünf Bezirkskollegialgerichte (tribunales colegiados de circuito) eingerichtet, welche den Obersten Gerichtshof in den Amparo-Ver­fah­ren entlasten sollten und sich hierarchisch zwischen ihm und den Bundesdistriktsgerichten befinden.12 In den Jahren 1967/68 erhöhte man deren Zahl auf siebzehn und leg­te fest, dass der Oberste Gerichtshof nur noch in Fällen von größter Bedeutung selbst entscheiden soll.13 b) Im Vergleich zu den restlichen lateinamerikanischen Staaten ist der mexikanische Amparo auch heute noch derjenige, der die meisten Funktionen in sich vereint, wobei nur die ersten beiden von Anfang an bestanden. Den Prüfungsmassstab bei allen Amparo-Funktionen bilden seit der Verfassungsrevision von 2011 nicht nur die Grundrechte der mexikanischen Verfassung, sondern auch jene Menschenrechte, die in internationalen Verträgen verankert sind, die Mexiko ratifiziert hat.14 Die erste 7   Zur Entwicklung der jurisprudencia als besonderer Bindungswirkung von Präzedenzfällen durch die Gerichtsbarkeit unter Vallarta und durch dessen Entwurf des Amparo-Gesetzes von 1882 siehe Matthew C. Mirow, Marbury in Mexico: Judicial Review’s Precocious Southern Migration, in: Hastings Constitutional Law Quarterly 35 (2007), S.  41–117 (55 ff., 57, 63 f.). 8   Héctor Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika, in: JöR 25 (1976), S.  649–693 (664); heute ausdrücklich geregelt im mexikanischen Amparo-Gesetz (Ley de amparo, LA): Art.  222 LA-MX (neu gefasst am 2. April 2013) gemäss Publikation im Amtsblatt (http://www.or­denjuri­­dico.gob.mx/­ Docu­mentos/Federal/wo6028.pdf, Stand: 18.04.2013): „La jurisprudencia por reiteración del pleno de la Suprema Corte de Justicia de la Nación se establece cuando se sustente un mismo criterio en cinco sentencias no interrumpidas por otra en contrario, resueltas en diferentes sesiones, por una ma­yoría de cuando menos ocho votos.“ (Bindende Jurisprudenz durch Wiederholung des Obersten Gerichtshofs der Nation entsteht, wenn die gleiche Entscheidung in fünf aufeinanderfolgenden Urteilen verschiedener Sessionen durch eine Mehrheit von acht [aus elf ] Richtern bestätigt wird.). 9   Carlos Báez Silva, La „fórmula Otero“ y la declaración general de inconstitucionalidad en el Proyecto de nueva Ley de Amparo de la Suprema Corte de Justicia, in: Revista del Instituto de la Judicatura Federal 11 (2002), S.  17–51 (37). 10   Zu der durch Verfassungsreform 2011 eingeführten und mit der Amparo-Gesetzesreform 2013 umgesetzten declaratoria general de inconstitucionalidad siehe unten bei Fn.  76. 11   Lydia Brashear Tiede/Aldo Fernando Ponce, Ruling Against the Executive in Amparo Cases: Evidence from the Peruvian Constitutional Tribunal, in: Journal of Politics in Latin America 2 (2011), S.  107–140 (109). 12   Dazu und zum Folgenden Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  51. 13   Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens (Fn.  1), S.  276. 14   Art.  103 Nr.  I Verf.-Mexiko; dazu auch Héctor Fix-Zamudio, Las reformas constitucionales mexicanas de junio de 2011 y sus effectos en el sistema interamericano de derechos humanos, in: Manuel

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Funktion besteht im grundrechtlichen Individualschutz gegenüber staatlichen Handlungen und Unterlassungen.15 Darin enthalten ist auch der Schutz der persönlichen Freiheit, weshalb der Amparo in dieser Hinsicht weitgehend dem angelsächsischen habeas corpus entspricht (sog. amparo libertad), mit dem das Amparo-Verfahren hi­sto­risch eng verbunden ist.16 Die zweite Funktion besteht in der Anfechtung verfassungswidriger Gesetze (amparo contra leyes) durch direkte Klage (acción de inconstitucionalidad) oder durch das Rechtsmittel der Beschwerde (recurso de inconstitucionalidad). Die acción de inconstitucionalidad greift unmittelbar eine gesetzliche Bestimmung wegen ihrer verfassungswidrigen Konsequenzen in einer spezifischen Situation an (Gesetzesverfassungsbeschwerde bei unmittelbarer Betroffenheit). Der recurso de inconstitucionalidad richtet sich hingegen gegen ein Gerichtsurteil, das sich auf eine verfassungswidrige Gesetzesbestim­mung stützt (Urteilsverfassungsbeschwerde mit inzidenter Normenkontrolle). In beiden Verfahren steht die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm im Zentrum. Die dritte und am meisten verwendete Funk­t ion, die sich ab 1869 entwickelte, besteht in der Anfechtung von Gerichtsentscheidungen (amparo de casación).17 Mit einem amparo de casación wird überprüft, ob ein Gericht eine an sich verfassungsmäßige Gesetzesbestimmung in verfassungswidriger Weise angewendet hat. Im Gegensatz zum recurso de inconstitucionalidad steht hier nicht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes selbst in Frage. Es handelt sich also um eine schlichte Urteilsverfassungsbeschwerde ohne inzidente Normenkontrolle. Die vierte Funk­t ion beinhaltet die Kontrolle von Regierungs- und Verwaltungsakten auf ihre Grundrechtskonformität (amparo administrativo).18 Dabei geht es häufig um die Frage der genügenden gesetzlichen Grundlage. Formal bildet die vierte Variante des ­A mparo denjenigen Ausschnitt der Verfassungsgerichtsbarkeit, der die Grundrechtsbindung des Verwaltungshandelns direkt durchsetzt, ohne zunächst die Gerichtsentscheidung eines einfachen Gerichts abzuwarten. Soweit die Fiskal- und Verwaltungsgerichtsbarkeit noch nicht lückenlos ausgebaut ist, kommt diesem amparo administrativo eine eigenständige Bedeutung zu.19 Die fünfte und letzte Funktion des mexikanischen Amparo entwickelte sich ab 1962 und besteht im Schutz der Landwirte, die durch eine Maßnahme im Zusammenhang González Oropeza/Eduardo Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), El juicio de amparo. A 160 años de la primera sentencia, Bd.  1, Mexiko, 2011, S.  423–471 (427). 15   Dazu und zum Folgenden Alan R. Brewer-Carías, Constitutional Protection of Human Rights in Latin America. A Comparative Study of Amparo Proceedings, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2009, S.  83 f., 231; Héctor Fix-Zamudio/Eduardo Ferrer Mac-Gregor, El derecho de amparo en México, in: dies. (Hrsg.), El derecho de amparo en el mundo, Mexiko: Porrúa, 2006, S.  461–521 (472 ff.); Fix-Zamudio/Valencia Carmona, Derecho constitucional mexicano y comparado (Fn.  2 ), S.  871 ff.; Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens (Fn.  1), S.  277 ff.; Hans-Rudolf Horn, Grundzüge des mexikanischen Verfassungsrechts, in: JöR 29 (1980), S.  479–526 (500 ff.). 16   Domingo García Belaunde, Latin-American Constitutionalism and its Influences, in: JöR 54 (2006), S.  701–711 (707 f.). 17   Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor, El derecho de amparo en México (Fn.  15), S.  468; Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  48 f. 18  Dazu Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  663. 19   Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens (Fn.  1), S.  280; vgl. auch Héctor Fix-Zamudio, El juicio de amparo mexicano y el recurso constitucional federal alemán (breves reflexiones comparativas), in: Boletín Mexicano de Derecho Comparado 77 (1993), S.  461–488 (467 f.); Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  62 mit Fn.  175.

Das Amparo-Verfahren

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mit der Agrarreform betroffen werden (amparo agrario).20 Aufgrund der Entwicklung einer Fiskal- und Verwaltungsgerichtsbarkeit (ab 1936) sowie der Errichtung einer besonderen Agrargerichtsbarkeit (1992) haben die letzten beiden Funktionen heute an Bedeutung verloren.21 Die Anwendung des Amparo wird sich somit in Zukunft insbesondere in seinen ersten drei Funktionen (amparo libertad, amparo contra leyes, amparo de casación) konsolidieren. c) Ausgebreitet hat sich das Institut des Amparo ausgehend von Mexiko auf sämtliche lateinamerikanische Staaten mit Ausnahme Kubas.22 Die ersten, die es übernommen haben, sind die zentralamerikanischen Staaten El Salvador (1886), Honduras und Nicaragua (1894), sowie Guatemala (1921); die letzten beiden Kolumbien (1991) und die Dominikanische Republik (1999).23 Übernommen wurde der Amparo insbesondere in seiner ersten Funktion (amparo libertad). Inwiefern er auch weitere Funktionen beinhaltet, wie beispielsweise die Anfechtung von Gerichtsurteilen, ist von Staat zu Staat unterschiedlich geregelt.24 Schließlich hat sich der Amparo sogar außerhalb von Lateinamerika etablieren können. Er hat 1931 Eingang in die Verfassung Spaniens gefunden (damals Art.  121 lit. b; heute Art.  53 Abs.  2 ) sowie durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2007 auch in die Rechtsordnung der Philippinen.25

2.  Verhältnis zu habeas corpus und anderen Spezialinstrumenten Entwicklungsgeschichtlich kann man nach dem Alter der Instrumente die habeas corpus-Aktion von den später entwickelten Varianten des Amparo-Verfahrens und diese wiederum von den noch später entwickelten Verfahren der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit unterscheiden, insbesondere von der Individualverfassungsbeschwerde. Inhaltlich fällt bei dieser Gegenüberstellung auf, dass die habeas corpus-Aktion spezifisch die körperliche Freiheit der Person schützt, während sich Amparo und Individualverfassungsbeschwerde grundsätzlich auf die Gesamtheit der Grundrechte richten. Funktional ist die habeas corpus-Aktion zudem auf die Kontrolle indivi­dueller Verstösse gegen das Freiheitsrecht, nicht aber auf die abstrakte Gesetzeskontrolle gerichtet. Die Spezialität der habeas corpus-Aktion wurde in einigen la  Details bei Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  664 f.  Dazu und zum Folgenden Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor, El derecho de amparo en México (Fn.  15), S.  475 ff.; Fix-Zamudio/Valencia Carmona, Derecho constitucional mexicano y comparado (Fn.  2 ), S.  885, 891 ff.; vgl. auch Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  62 mit Fn.  175. 22   Dazu und zum Folgenden Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  84 f.; Fix-Zamudio, El juicio de amparo mexicano (breves reflexiones) (Fn.  19), S.  469 ff. 23   Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  662, benennt nach Guatemala ausserdem Argentinien (1921), Panama (1941), Costa Rica (1949), Venezuela (1961) sowie Bolivien, Ecuador und Paraguay (alle 1967). 24   Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  663; vgl. ausserdem aus jüngerer Zeit ders./Valencia Carmona, Derecho constitucional mexicano y comparado (Fn.  2 ), S.  870 ff. 25   Zu Spanien: Horn, Grundzüge des mexikanischen Verfassungsrechts (Fn.  15), S.  507; zu den Philippinen: Supreme Court of the Philippines, Manila, A.M. No. 07-9-12-SC, The Rule of the Writ of Amparo, Resolution, 25. September 2007, publiziert unter: http://lib.ohchr.org/HRBodies/UPR/ Documents/Session1/PH/KAR_PHL_UPR_S1_2008anx_03.pdf (Stand: 18.04.2013). 20 21

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teinamerikanischen Ländern zum Anlass genommen, um das Instrument vom Amparo-Ver­fah­ren zu trennen. So hat beispielsweise Argentinien seit der Verfassungsreform von 1994 getrennte Aktionen für Amparo und habeas corpus.26 Auch El Salvador und Costa Rica unterscheiden schon auf Verfassungsebene zwischen dem Amparo-Verfahren und der habeas corpus-Aktion.27 Entsprechend dieser Entwicklung sind auch neue Spezialelemente, die eher dem habeas corpus als dem allgemeinen Amparo entsprechen, häufig gesondert von diesem geregelt. In Ländern, die eine sogenannte habeas data-Aktion kennen, ist dies beispielsweise der Fall (z. B. in Argentinien, Panama, Paraguay, Peru). Die Verfassung von Paraguay enthält dafür bereits detaillierte Bestimmungen in getrennten Artikeln.28 Auch die Kataloge der Aktionen in der brasilianischen und der peruanischen Verfassung sind Beispiele für die Anerkennung des habeas data als eines separaten Instruments.29 Schliesslich kann man auch die fünfte Form im traditionellen mexikanischen Amparo als eine Sonderform begreifen. Dieser Agrar-Amparo (amparo agrario) ist entwickelt worden, um den besonderen Bedürfnissen des Besitzschutzes im Rahmen von Landreformen Rechnung zu tragen.30 Dahinter steht mehr als ein einzelnes Grundrecht, weil die Schutzrichtung neben dem Eigentum auch die agrarischen Kooperativstrukturen, die Erwerbsmöglichkeit und sonstige Sozialrechte der Bauern sowie deren rechtliches Gehör umfasst. Gleichwohl ist der Gegenstandsbereich deutlich kleiner als die Gesamtheit der Grundrechte, wie sie mit den ersten vier Formen erfasst werden (Individualrechtsschutz, Normenkontrolle, Urteilskontrolle, Verwaltungskontrolle). Der Form des Agrar-Amparo wurde darum sowohl im mexikanischen Amparogesetz als auch in der Literatur zum mexikanischen Amparo eine Sonderstellung eingeräumt.31 Im Folgenden bleiben die Spezialinstrumente habeas corpus, habeas data und amparo agrario ausser Betracht, zumal der Agrar-Amparo nach der jüngsten Revision (2013) nicht einmal mehr im Amparogesetz geregelt ist.

3.  Funktionale Überschneidung mit der Individualverfassungsbeschwerde Das Amparo-Verfahren gleicht demjenigen der Individualverfassungsbeschwerde auf den ersten Blick so stark, dass eine funktionale Doppelung und damit Redundanz droht, wenn den lateinamerikanischen Amparo-Gerichten neuerdings Verfassungsgerichte kontinentaleuropäischen Zuschnitts an die Seite gestellt werden. Beide Verfahren haben den Schutz der Grundrechte zum Gegenstand. Beide Verfahren stehen den einzelnen Grundrechtsträgern zur Verfügung. Und beide Verfahren werden als Rechtsbehelfe vor Gerichten eingesetzt.   Artikel 43 Verf.-AR.   Artikel 247 Verf.-SV, Artikel 48 Verf.-CR. 28   Artikel 134 (Amparo), 133 (habeas corpus), 135 (habeas data) Verf.-PY; dazu auch Anja SchoellerSchletter, Verfassungstradition und Demokratieverständnis, Paradigmenwechsel und Reform. Die Verfassung der Republik Paraguay vom 20. Juni 1992, VRÜ-Beiheft Nr.  17, Baden-Baden 2001, S.  203 ff. 29   Artikel 5 Nr.  68 (Amparo), 67 (habeas corpus), 71 (habeas data) Verf.-BR; Artikel 200 Verf.-PE. 30   Vgl. oben Text bei Fn.  21. 31   Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens (Fn.  1), S.  280. 26 27

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Die funktionale Überschneidung wird deutlich, wenn man die Varianten des mexikanischen Amparo-Verfahrens beispielhaft den Varianten einer Individualverfassungsbeschwerde gegenüberstellt, wie sie in der Ver­fassungs­gerichts­bar­keit Deutschlands zur Verfügung steht. Der mexikanische Amparo in der ersten Variante, also als grundrechtlicher Individualschutz gegenüber staatlichen Handlungen und Unterlassungen, entspricht in Deutschland der Kombination von ordent­lichem Rechtsweg und Urteilsverfassungsbeschwerde. Der mexikanische Amparo in der zweiten Variante, bei dem verfassungswidrige Gesetze entweder direkt oder als Rechtsmittel angefochten werden, entspricht im deutschen Modell dem Dreiklang aus (1) der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze, (2) der inzidenten Normenkontrolle im Vorlageverfahren sowie (3) der Urteilsverfassungsbeschwerde, soweit die Fehlerhaftigkeit der letztinstanzlichen Entscheidung mit der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes begründet wird. An dieser zweiten Amparo-Variante zeigt sich, dass diffuse Normenkontrollen (mexikanischer Amparo) funktional teils einfacher auszugestalten sind als konzentrierte Normenkontrollen (Bundesverfassungsgericht mit Verwerfungsmonopol). Der mexikanische Amparo in der dritten Variante, der die Anfechtung von Gerichtsentscheidungen zum Gegenstand hat, entspricht im deutschen System der Urteilsverfassungsbeschwerde, soweit ausschliesslich die verfassungswidrige Rechtsanwendung ge­r ügt wird, während das angewendete Gesetz als verfassungskonform gilt. Der mexikanische Amparo in der vierten Variante, gerichtet gegen Verwaltungsentscheide, die der gerichtlichen Kontrolle nicht unterliegen, geht in Deutschland wegen der umfassenden Rechtsweggarantie (Art.  19 Abs.  4 GG) in der Urteilsverfassungsbeschwerde auf. Er entspricht den Verfahrensarten, die zeitlich vor dem Grundgesetz für Fälle der „Justizverweigerung“ bestanden haben.32 Im Ergebnis finden dadurch alle Amparo-Schutzfunktionen, soweit sie nicht Sonderbereiche betreffen (amparo agrario, fünfte Variante), in der Individualverfassungsbeschwerde eine Entsprechung. Abgesehen von dieser funktionalen Überschneidung finden sich im Amparo-Verfahren auch sonst zahlreiche Voraussetzungen, die als prozessuale und materielle Kriterien bei Individualverfassungsbeschwerden eine Rolle spielen – beispielsweise die persönli­che Betroffenheit des Beschwerdeführers, die Gegenwärtigkeit seiner Beschwer, die Unmittelbarkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung (Eingriffsbegriff ) und das Fehlen einer freiverantwortlichen Einwilligung (Grundrechtsverzicht).33

4.  Grundlegende Unterschiede zur Individualverfassungsbeschwerde Erst der Blick auf die Details offenbart auch Unterschiede. Diese bestehen (a) in der Wirkungsweise, (b) in der Institutionalisierung und (c) in der Integration von einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Fragen: a) Hinsichtlich der Wirkungsweise ist zunächst zu bedenken, dass das AmparoVer­fahren wie die habeas corpus-Aktion auf eine Schutzschrift des Gerichts zugunsten 32   Details etwa bei Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 9. Auflage, München 2012, Rn. 197. 33   Vgl. zu diesen Erfordernissen Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  261 ff.

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des einzelnen Betroffenen zielt. Damit einher geht eine bloße inter partes-Wirkung. Sie hat sich prominent in der Otero-Formel niedergeschlagen, die in Mexiko bis heute geltendes Recht ist.34 Anders als bei einer Normenkontrolle, die durch die Individualverfassungsbeschwerde eröffnet wird und zu einem allgemeinen Entscheid mit erga omnes-Wirkung führt, auf den sich fortan sämtliche Grundrechtsträger berufen können, muss im System des Amparo grundsätzlich jederzeit eine weitere Anwendung des verfassungswidrigen Gesetzes befürchtet werden, die dann zu weiteren Amparo-Verfahren im Einzelfall führt.35 Auch die ausnahmsweise Bindung anderer Gerichte nach der jurispruden­cia-Regel führt nicht zu einer erga omnes-Wirkung, weil sie die Verwaltungsbehörden ungebunden lässt.36 Die Bindung der Gerichte nach dieser Regel kann zudem wiederum mit einer qualifizierten Mehrheit des Obersten Gerichtshofs aufgehoben werden.37 Selbst die jüngste Reform hat an diesen Defiziten des Amparo-Verfahrens nichts Grundsätzliches geändert.38 Die Normenkontrolle des Amparo ist folglich zwar einfacher zugänglich, aber bezogen auf das Rechtssystem insgesamt weniger wirksam als diejenige einer Individualverfassungsbeschwerde. Ein einzelnes Am­paro-Verfahren hat in Mexiko bis heute keinerlei Präzedenzwirkung.39 b) Auch institutionell zeigt sich der Unterschied entlang der Kriterien Einfachheit und Wirksamkeit. Ein Amparo kann als allgemeine Aktion nach dem Modell des habeas corpus-Verfahrens grundsätzlich vor jedem Gericht geltend gemacht werden. Selbst in denjenigen lateinamerikanischen Staaten, in denen spezielle Amparo-Gerichte ausgewie­sen sind, handelt es sich – mit Nicaragua als einziger Ausnahme40 – um eine Mehrzahl von Gerichten, nicht um ein bei einem einzelnen Verfassungsgericht konzen­trier­tes Modell. Demgegenüber geht die spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit regelmässig davon aus, dass die Normenkontrolle widerspruchsfrei durch ein einziges Gericht ausgeübt wird. Das entstehungszeitlich ältere Modell einer integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normenkontrolle, das ausserhalb der lateinamerikanischen Staaten in Nordamerika, in der Schweiz und in Skandinavien Tradition hat, wird immer seltener verfolgt.41 Wenn aber die Normenkontrolle bei einem einzigen Gericht konzentriert werden soll, erhöht das den Aufwand, was beim Vorlageverfahren besonders deutlich wird. Auch institutionell wird die grössere systemische Wirksamkeit folglich mit einem Verlust an Einfachheit erkauft. c) Bei jeder Verfassungsgerichtsbarkeit stellt sich die Frage, wie die verfassungsrechtliche Kontrolle mit der einfachrechtlichen zusammenspielt. Im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde kann es durchaus dazu kommen, dass das Verfassungsgericht sämtliche Fragen ohne Zurückverweisung abschliessend behandelt.42 Das gilt zwar beim Vorlageverfahren nicht, wohl aber für Urteilsverfassungsbe Zur Otero-Formel siehe oben Fn.  4.   Am Beispiel Mexikos Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  127. 36   Siehe oben bei Fn.  8. Zur Fortgeltung der jurispruden­cia-Regel auch im neuen (2011) Verfahren der delcaratoria general de inconstitucionalidad siehe unten bei Fn.  77. 37   Art.  228 Abs.  1 LA-MX. 38   Zur Reform siehe unten bei Fn.  76 ff. 39   Mirow, Marbury in Mexico (Fn.  7 ), S.  75. 40   Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  139 ff. 41   Tschentscher, Supreme Court und Schweizerisches Bundesgericht (Fn.  3 ), Abschnitt IV. 42   Siehe etwa Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn.  32), Rn. 376. 34 35

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schwerden, bei denen die einfachrechtliche Basis durch die vorausgegangenen Rechtsmittelinstanzen bereits hinreichend aufgearbeitet wurde, so dass die Sache aus Sicht des Verfassungsgerichts nunmehr insgesamt entscheidungsreif ist. Ganz anders verhält es sich insoweit beim Amparo-Verfahren. Hier gilt der Grundsatz des nichtkompensatorischen Charakters, so dass ein Gericht zwar präventive und restaurative Entscheidungsgehalte in seinen Urteilsspruch aufnehmen darf, die Frage des Schadensersatzes aber aus Prinzip den einfachen Gerichten und damit einem weiteren, nicht auf Amparo gestützten Verfahren überlassen muss.43 Auch hier gibt es Ausnahmen, weil beispielsweise in Kolumbien die Schadenersatzfragen jedenfalls in abstracto durch das Amparo-Gericht mitbehandelt werden, worauf hin das zuständige Fachgericht nach Verweisung nur noch über den Umfang des Schadensersatzes zu entscheiden hat.44 Der Ausnahmecharakter solcher Varianten bestätigt allerdings die Regel, dass sich der Amparo im Entscheidungsgehalt als blosse Schutzschrift versteht, nicht als umfassender Rechtsbehelf für alle irgendwie verfassungsbezogenen Rechtsfragen. Schliess­ lich kann es je nach Land im Amparo-Verfahren erhebliche Kostenvorteile geben, etwa wenn in Peru nur Kopierkosten, aber keine Gerichtsgebühren anfallen.45 Insgesamt zeigt die Gegenüberstellung von Amparo und Individualverfassungsbeschwerde, dass es trotz funktionaler Überschneidungen doch grosse Unterschiede in der Realisierung des Grundrechtsschutzes gibt. Das ältere Instrument des Amparo kann darum nicht in jeder Hinsicht als ein Äquivalent für die spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen werden. Dies dürft die Erklärung dafür sein, dass immer mehr lateinamerikanische Länder dazu übergehen, ihren traditionellen Grundrechtsschutz um Verfahren vor speziellen Verfassungsgerichten zu erweitern.

43   Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  384 ff. m. w. N.; explizit bestimmt beispielsweise in Artikel 35 des Ley de procedimientos constitucionales von El Salvador: „En la sentencia que concede el amparo, se ordenará a la autoridad demandada que las cosas vuelvan al estado en que se encontraban antes del acto reclamado. Si éste se hubiere ejecutado en todo o en parte, de un modo irremediable, habrá lugar a la acción civil de indemnización por daños y perjuicios contra el responsable personalmente y en forma subsidiaria contra el Estado.“ (Im Urteil eines Amparo-Verfahrens wird die beklagte Behörde angehalten, diejenige Situation wiederherzustellen, die vor dem in Frage stehenden Akt bestanden hat. Wenn der Akt bereits auf irreversible Weise ganz oder teilweise ausgeführt wurde, kann eine Zivilklage auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder subsidiär gegen den Staat geführt werden.) 44   Siehe Artikel 25 des Dekrets Nr.  2591 vom 19. November 1991 zur acción de tutela, publiziert unter http://www.alcaldiabogota.gov.­co/sis­jur/normas/Norma1.jsp?i=5304 (Stand 22.04.2013): „[...], en el fallo que conceda la tutela el juez, de oficio, tiene la potestad de ordenar en abstracto la indemnización del daño emergente causado si ello fuere necesario para asegurar el goce efectivo del derecho así como el pago de las costas del proceso. La liquidación del mismo y de los demás perjuicios [...] para lo cual el juez que hubiere conocido de la tutela remitirá inmediatamente copia de toda la actuación.“ (Hervorhebung hinzugefügt) (... in dem Tutela-Verfahren [Amparo] kann der Richter von Amtes wegen in abstracto die Wiedergutmachung des entstandenen Schandens anordnen, wenn dies für die Effektivierung des Rechtsschutzes nötig ist ... worauf der Tutela-Richter die Sache zur Konkretisierung sofort an das zuständige Verwaltungsgericht oder die Vorinstanz verweist). Zu wenigen weiteren Ausnahmen (Bolivien, Guatemala, Costa Rica) siehe Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  386. 45   Brashear Tiede/Fernando Ponce, Ruling Against the Executive in Amparo (Fn.  11), S.  109.

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II.  Wandel der Verfassungsgerichtsbarkeit Beim Wandel der Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika sind zwei Entwicklungsstränge unterscheidbar. Zuerst etablierte sich je nach Land das Amparo-Ver­fah­ ren oder eine inzidente Normenkontrollkompetenz der einfachen Gerichte. Beides führte strukturell zu einer diffusen Normenkontrolle, bei der alle oder jedenfalls mehrere Gerichte die Verfassungsmässigkeit anhand konkreter Fälle inzident prüfen (1). Diese Tradition der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normen­ kon­trolle wurde später durch die ab­strakte Normenkontrolle erweitert, die in Lateinamerika immer konzentriert realisiert wurde. Mit dieser Erweiterung verbunden ist ein zweiter, institutioneller Entwicklungsstrang, der in der Emergenz spezialisierter Verfassungsgerichte nach europäischem Muster liegt (2). Die Konzentrationstendenz bei der abstrakten Normenkontrolle hatte dann Rückwirkungen auch auf die konkrete Normenkontrolle, die teils mitkon­zen­triert wurde. Im Ergebnis kristalliert sich aus diesen Entwicklungen heute für Lateinamerika eine eigenständige Mischform der Verfassungsgerichtsbarkeit heraus (3).

1.  Diffuse Normenkontrolle als Ausgangspunkt Ausser in Mexiko hat sich das Modell der diffusen Normenkontrolle ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch in den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten etabliert. Die Kompetenz der Richter, eine verfassungswidrige Norm in einem konkreten Fall ausser Acht zu lassen, wurde in einigen Staaten sogar noch vor der Einführung des Amparo verankert.46 Hinderlich war bei dieser integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normen­kon­trolle allerdings die Beschränkung, nach der eine allgemein gültige Erklärung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes grundsätzlich ausgeschlossen ist. Im Amparo-Verfahren folgte diese Schranke aus der Otero-Formel; bei der inzidenten Normenkontrolle ergab sie sich aus der inter partes-Wirkung konkreter Gerichtsentscheide. Die diffuse Normenkontrolle führt noch heute zu Rechtsunsicherheit, beispielsweise wenn das oberste Gericht zwar als letzte Instanz in einem Amparo-Verfahren entscheidet, diese Entscheidung für die übrigen Gerichte aber nicht (oder nur ganz ausnahmsweise) bindend ist.47 Ausserdem wird den Bürgern zugemutet, immer wieder neu gegen ein Gesetz vorzugehen, was im Ergebnis gerade für soziale Randgruppen eine schwer überwindbare Hürde bedeutet, die zu rechtlicher Ungleichbehandlung führt.48 In vielen Staaten Lateinamerikas wurde darum zusätzlich zur diffusen Normenkontrolle eine beim obersten Gericht konzen-

46   Beispielsweise Venezuela, Dominikanische Republik, Brasilien, Kolumbien, Peru, Argentinien. Siehe die erste Zeitachsengrafik bei Fn.  83. 47   Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  86. 48   Zum Konflikt der inter partes-Wirkung mit dem Rechtsgleichheitsgebot Héctor Fix-Zamudio, La declaración general de inconstitucionalidad en Latinoamérica y el juicio de amparo mexicano, in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional 6 (2002), S.  87-142 (136 f.); Arturo Zalvídar Lelo de Larrea, Hacia una nueva Ley de Amparo, Mexiko: Universidad Nacional Autónoma de México, 2002, S.  116; zum sozialen Aspekt Horn, Grundzüge des mexikanischen Verfassungsrechts (Fn.  15), S.  506.

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trierte abstrakte Normenkontrolle eingeführt.49 Diese Mischung aus diffuser und konzentrierter Normenkontrolle besteht, wie die folgende tabellarische Übersicht verdeutlicht, auch heute noch in einer Mehrheit (10) der lateinamerikanischen Staaten, die über ein Amparo-Ver­fah­ren verfügen (18).50 (Spezialisierte) Verfassungsgerichtsbarkeit mit Normenkontrolle (NK)

AmparoVerfahren vor ...

Konzentriert ( jede NK)

Gemischt (konkrete NK diffus, abstrakte NK konzentriert)

Diffus (nur konkrete NK)

... einem einzigen Gericht

Costa Rica

El Salvador Nikaragua



... einer Mehrzahl von Gerichten

Bolivien Chile Honduras Panama Paraguay Uruguay

Brasilien Dom. Republik Ekuador Guatemala Kolumbien Mexiko * Peru Venezuela

Argentinien

Funktional ein spezialisiertes Verfassungsgericht, dem Namen nach wie ein oberstes Instanzgericht: „Oberster Gerichtshof “

*

Die Ausgestaltung der abstrakten Normenkontrolle ist dabei sehr unterschiedlich. Einige Staaten gingen so weit, die abstrakte Normenkontrolle als Popularklage jedem Bürger unabhängig von seiner persönlichen Betroffenheit zu eröffnen.51 Andere Staaten behalten die Initiierung bis heute bestimmten Amtsträgern (Staatspräsident, Generalstaatsanwalt, gewisse Anzahl Parlamentarier) oder Organen vor (Regierungen der Gliedstaaten, parlamentarische Fraktionen etc.).52 Im Vordergrund steht da49   Eine Ausnahme dazu bilden Paraguay, Uruguay und Argentinien, die keine abstrakte Normenkontrolle kennen. Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  116 f., 119; zu Paraguay SchoellerSchletter, Verfassungstradition (Fn.  28), S.  212. 50  Brasilien, Kolumbien, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Mexiko, Peru, Venezuela, Nicaragua. Vgl. Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  9 0, 102 f., der allerdings El Salvador nicht erwähnt, obgleich Art.  185 Verf.-SV, der eine diffuse Normenkontrolle bei allen Gerichten vorsieht. Insoweit zutreffend Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  110; S.  Enrique Anaya, La justicia constitucional en El Salvador, in: Armin von Bogdandy u. a. (Hrsg.), La justicia constitucional y su internacionalización. ¿Hacia un Ius Constitucionale Commune en América Latina?, Vol. I, Mexiko: Universidad Nacional Autónoma de México, 2010, S.  297–344 (310 ff.). 51   El Salvador, Honduras, Kolumbien, Nicaragua, Panama, Venezuela; dazu Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  671, 674 f., 679 f.; ders., La declaración general de inconstitucionalidad (Fn.  48), S.  96 ff., sowie Art.  185 Verf.-HN. 52   Vgl. Art.  105 Nr.  2 Verf.-MX; Art.  103 Verf.-BR (1988); Art.  120 Abs.  1 Verf.-BO.

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bei die Kontrolle einer parlamentarischen Minderheit gegenüber den von der Parlamentsmehrheit verabschiedeten Gesetze.53 Teils wird die abstrakte Normenkontrolle weiter erschwert, etwa bei der acción de inconstitucionalidad in Mexico, die für die Nich­tig­erklärung von Normen ein Quorum von acht aus elf Richtern (72  % ) fordert.54 Die abstrakte Normenkontrolle ist in Lateinamerika immer konzentriert (nicht diffus) realisiert. Das ist zwar theoretisch nicht zwingend, weil auch eine konkurrierende Ungültigerklärung von Normen durch mehrere Gerichte denkbar wäre. Aber es ist jedenfalls praktikabler und rechtssicherer, wenn über die Gültigkeit eines Gesetzes nur ein einziges Gericht entscheiden kann, also entweder das Oberste Gericht oder ein neu gegründetes Verfassungsgericht. Bei dieser ohnehin stattfindenden Konzentration gingen einige lateinamerikanische Staaten noch einen Schritt weiter. In Bolivien, Chile, Honduras und Panama ist neben der abstrakten auch die konkrete Normenkontrolle beim jeweils obersten Gericht konzentriert.55 Doch genügt dies in Lateinamerika noch nicht, um ein Normverwerfungsmonopol zu realisieren. Eine bedeutende Ausnahme von der exklusiven Kompetenz besteht nämlich gerade in den Amparo-Verfahren, die weiterhin auf eine Mehrzahl von Gerichten verteilt bleiben. Um auch dort eine gewisse Einheitlichkeit zu sichern, haben die Staaten verschiedenste Mechanismen eingebaut. So wird in Chile, Paraguay und Uruguay auch ein Amparo-Verfahren an das Oberste Gericht überwiesen, wenn es um die Frage der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes geht.56 In Bolivien und Honduras müssen die Amparo-Ur­tei­le zur Überprüfung an die verfassungsgerichtliche Instanz weitergeleitet werden.57 Im übrigen führt, wie das Beispiel Perus zeigt, auch der normale Instanzenzug letztlich zu einer Vereinheitlichung der Amparo-Rechtsprechung.58 Betrachtet man die Entwicklung in Lateinamerika insgesamt, so bildet sich ein Nebenein­ander von diffuser und konzentrierter Normenkontrolle heraus. Das einzige rein kon­zentrierte System in Lateinamerika, in welchem jede verfassungsrechtliche Frage und damit auch jedes Amparo-Verfahren ausschließlich durch das oberste Gericht beurteilt wird, besteht in Costa Rica.59   Fix-Zamudio, La declaración general de inconstitucionalidad (Fn.  48), S.  121 ff.; ders./Valencia Carmona, Derecho constitucional mexicano y comparado (Fn.  2 ), S.  918. 54   Art.  105 Nr.  II Verf.-MX; dazu und zum Folgenden auch Hans-Rudolf Horn, 80 Jahre mexikanische Bundesverfassung – was folgt?, in: JöR 47 (1999), S.  399–440 (422). 55   Dazu und zum Folgenden Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  102, 107. 56   Art.  93 N° 6 Verf.-CL; Art.  582 Ley N° 1.337/88 Código Procesal Civil (PY); Art.  257 Verf.-UY und Art.  509 Abs.  1 N° 2 Ley 15.982 Código Genral del Proceso (UY); Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  111, 116, 118; Norbert Lösing, La justicia constitucional en Paraguay y Uruguay, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano 2002, S.  109–133 (128 f.); Jorge Seall-Sasiain, El Amparo en Paraguay, in: Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), El derecho de amparo (Fn.  15), S.  581–591 (183 f.). 57   Art.  19 Nr.  I V, Art.  120 Abs.  7 Verf.-BO; Art.  32 Abs.  1, Art.  33 LA-HN; vgl. auch José Antonio Rivera Santivañez, El amparo constitucional en Bolivia, in: Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), El derecho de amparo (Fn.  15), S.  81–122 (84 f.); Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  108 f.; Francisco Daniel Gómez Bueso, El derecho de amparo en Honduras, in: Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), El derecho de amparo (Fn.  15), S.  4 09–460 (411, 425). 58  Dazu Brashear Tiede/Fernando Ponce, Ruling Against the Executive in Amparo (Fn.  11), S.  109 f. 59   Brewer-Carías, Constitutional Protection (Fn.  15), S.  103. Brewer zählt El Salvador ebenfalls dazu. Gemäss Art.  185 Verf.-SV hat jedoch jeder Richter die Möglichkeit, eine verfassungswidrige Norm 53

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2.  Spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit als Ergänzung Ab Mitte des 20. Jahrhunderts führten zahlreiche lateinamerikanische Länder spezialisierte Verfassungsgerichte ein,60 nachdem es bereits ab 1940 vereinzelt Tribunale mit gleicher Funktion gegeben hatte.61 Darin liegt eine Annährung an das kontinentaleuropäische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit.62 Auch hier sind die Gestaltungsformen vielfältig. Es gibt reinen Verfassungsgerichte (Tribunales Constitucionales) außerhalb des Instanzenzugs, reine Verfassungsgerichte innerhalb des Instanzenzugs und blosse verfassungsgerichtliche Spruchkörper (Salas Constitucionales), die in den Obersten Gerichtshof eingegliedert sind.63 Etwas mehr als die Hälfte der Staaten, die eine spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit einführten (14), behielten daneben die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normen­kon­trolle bei (9).64 Das jeweilige Verfassungsgericht geniesst dort also keine exklusive Kompetenz zur Behandlung verfassungsrechtlicher Fragen. Zu dieser Kategorie gehört auch Mexiko, dessen Oberster Gerichtshof (Suprema Corte de Justicia) mit der Verfassungs- und Gesetzesrevisionen von 1988 und 1995 allmählich von seinen Aufgaben als Kassationsgericht entbunden wurde, damit er sich auf die Aufgaben eines Verfassungsgerichts konzentrieren kann.65 Im Ergebnis ist die Suprema Corte von Mexiko somit seit 1995 trotz der anderslautenden Bezeichnung ein spezialisiertes Verfassungsgericht.66 Gleichzeitig bleiben aber weitere Gerichte im Rahmen der allgemeinen diffusen Verfassungskontrolle sowie in den Amparo-Verfahren an der Lösung verfassungsrechtlicher Fragen beteiligt. Dies gilt in Mexiko sogar dann, wenn es um die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes geht. Insoweit hat auch das neue Amparo-Gesetzes vom April 2013 keine weitere Konzentration bewirkt.67 außer Acht zu lassen. Vgl. auch S.  Enrique Anaya, La justicia constitucional en El Salvador, in: Armin von Bogdandy u. a. (Hrsg.), La justicia constitucional y su internacionalización. ¿Hacia un Ius Constitucionale Commune en América Latina?, Mexiko, 2010, S.  297–344 (310 ff.); Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  110. 60  Ecuador (1948), Guatemala (1965), Chile (1970), Peru (1979), Kolumbien (1991), Bolivien (1994), Dominikanische Republik (2010). Ausserdem Salas Constitucionales in: El Salvador (1983), Costa Rica (1989), Honduras (1989), Paraguay (1992), Nicaragua (1995), Venzuela (1999); dazu Fix-Zamudio, La declaración general de inconstitucionalidad (Fn.  48), S.  106 f.; Domingo García Belaunde, Verfassungsgerichte in Lateinamerika, in: A. Blankenagel u. a. (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt: Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S.  595–604 (599 ff.); teils abweichend García Belaunde, Latin-American Constitutionalism (Fn.  16), S.  708 (Ecuador 1945, Chile 1971). 61   García Belaunde, Latin-American Constitutionalism (Fn.  16), S.  708. 62   Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  687. 63   Giancarlo Rolla, La evolución del constitucinoalismo en América Latina y la originalidad de las experiencias de Justicia Constitucional, Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional 16 (2012), S.  329–351 (339); García Belaunde, Latin-American Constitutionalism (Fn.  16), S.  708 (Costa Rica 1989); Brashear Tiede/Fernando Ponce, Ruling Against the Executive in Amparo (Fn.  11), S.  115 f. 64   Siehe die tabellarische Übersicht oben bei Fn.  50. 65  Dazu und zum Folgenden Fix-Zamudio, El juicio de amparo mexicano (breves reflexiones) (Fn.  19), S.  483; ders./Ferrer Mac-Gregor, El derecho de amparo en México (Fn.  15), S.  470 f.; Horn, 80 Jahre mexikanische Bundesverfassung (Fn.  54), S.  421; Mirow, Marbury in Mexico (Fn.  7 ), S.  95 f. 66   Lösing, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  52. 67   Vgl. Art.  33 LA-MX zur Zuständigkeit mehrerer Gerichte für die Amparo-Verfahren.

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3.  Entwicklungsstand und Entwicklungsperspektiven Bei den beiden Entwicklungssträngen (modernisiertes Amparo-Verfahren, teilweise Konzentration der Verfassungsgerichtsbarkeit) ist Mexiko nicht länger als der unbestrittene Vorreiter anzusehen.68 So wurde beispielsweise die Ausdehnung des Amparo-Verfahrens auf Menschenrechte in internationalen Verträgen, die teils ein solches Verfahren explizit forderten,69 in Mexiko später als in anderen lateinamerikanischen Staaten eingeführt.70 Vorreiter war hier Costa Rica (1989), gefolgt von einer Reihe anderer Staaten.71 Auch bei der Effektivierung der abstrakten Normenkontrolle sind andere Staaten Mexiko voraus, indem sie ein Recht auf Popularklage eingeräumt haben.72 Dennoch bleibt Mexiko ein gutes Beispielland, denn es zeigt die Komplexität, mit der die zwei Entwicklungsstränge ineinander greifen. Ausserdem hat das Land mit dem im April 2013 neu erlassenen Amparogesetz gerade wieder einen aktuellen Entwicklungsschub erfahren. Mexiko hat die Nachteile der inter partes-Wirkung im Amparo-Verfahren zunächst durch die 1994 eingeführte abstrakte Normenkontrolle vor dem Obersten Gerichtshof relativiert. Entgegen anfänglicher Skepsis73 wird diese Option intensiv genutzt. Allein zwischen 1995 und 2002 hat der Gerichtshof in 25 Verfassungswidrigkeitsklagen (acciones de inconstitucionaldiad) eine Norm für nichtig erklärt.74 Dies obwohl die ab­strakte Normenkontrolle in Mexiko nicht von jedermann (Popularklage), sondern nur durch einen Antrag des Generalstaatsanwalts, ein Begehren eines Drittels der Abgeordneten einer Parlamentskammer oder einer Reihe anderer Gruppierungen ausgelöst werden kann (Art.  105 Nr.  2 Verf.-MX). Weitergehende Reformideen fanden in der Verfassungsrevision von 2011 ihren Niederschlag, die jetzt im neuen Amparo-Gesetzes vom April 2013 umgesetzt wurden.75 Danach kann der Oberste Gerichtshof nun auch in bestimmten Amparo-Verfahren ein Gesetz mit allgemeiner Wirkung für nichtig erklären (declaratoria general de

68   Zur Kritik, insbesondere am Festhalten an der Otero-Formel, siehe Fix-Zamudio, La declaración general de inconstitucionalidad (Fn.  48), S.  136. 69   Vgl. für die Amerikanische Menschenrechtskonvention Humberto Nogueira Alcalá, El derecho y acción constitucional de protección (amparo) de los derechos fundamentales en Chile a inicios del siglo XXI, in: Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), El derecho de amparo (Fn.  15), S.  159–211 (180); Carlos M. Ayala Corao/Rafael J. Chavero Gazdik, El amparo constitucional en Venezuela, in: ebd., S.  649–692 (655 ff.). Die Konvention (Art.  2 und 25) verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung eines unbürokratischen und schnellen Verfahrens des Individualrechtsschutzes vor einem Richter. 70   Eingeführt in Mexiko durch Verfassungsrevision 2011; vgl. dazu Text und Belege oben bei Fn.  14. 71   Beispielsweise Argentinien (1994), dazu Néstor Pedro Sagüés, El derecho de amparo en Argentina, in: Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor (Hrsg.), El derecho de amparo (Fn.  15), S.  41–80 (50); Ecuador (1998), dazu Hernán Salgado Pesantes, La garantía de amparo en el Ecuador, in: ebd., S.  305–331 (319 f.); Venezuela (1999), dazu Carlos M. Ayala Corao/Rafael J. Chavero Gazdik, El amparo constitucional en Venezuela, in: ebd., S.  649–692 (667 f.), Art.  27 Verf.-VE; Bolivien (2003), dazu José Antonio Rivera Santivañez, El amparo constitucional en Bolivia, in: ebd., S.  81–122 (92). 72   Siehe oben bei Fn.  51. 73   Horn, 80 Jahre mexikanische Bundesverfassung (Fn.  54), S.  424. 74   Fix-Zamudio, La declaración general de inconstitucionalidad (Fn.  48), S.  138. 75   Zu den Anfängen dieser Reform siehe Fix-Zamudio/Ferrer Mac-Gregor, El derecho de amparo en México (Fn.  15), S.  508 ff.

Das Amparo-Verfahren

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inconstitucionalidad).76 Allerdings muss dazu nach dem Amparo-Gesetz jurisprudencia vor­liegen, das heisst eine Norm muss in fünf aufeinanderfolgenden Urteilen mit qualifi­zierter Mehrheit für verfassungswidrig erklärt worden sein.77 Mit dem Erlass des neu­en Amparo-Gesetzes vom April 2013 gingen Hoffnungen einher, dass die Voraussetzungen für eine jurisprudencia, die in der Verfassung nicht konkretisiert sind, einfachgesetzlich etwas gelockert würden, indem man nur noch drei aufeinanderfol­ gende Urteile verlangte.78 Eine solche Regelung war im Entwurf zum neuen Gesetz vorgesehehen und hätte eine declaratoria general de inconstitucionalidad erleichtert.79 Durchsetzen konnte sich diese Neuerung indessen nicht. Das neue Amparo-Gesetz hält in Art.  222 nach wie vor an den früheren Voraussetzungen fest. Immerhin gibt es jetzt, wenn die Hürde der jurisprudencia-Regel überwunden ist, wenigstens ausnahmsweise eine erga omnes-Wirkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, denn ansonsten sind die Verwaltungsbehörden völlig ungebunden und können die in Amparo-Ver­fahren für verfassungswidrig erklärten Gesetzesbestimmungen weiterhin anwenden.80 Die Nichtigerklärung eines Gesetzes schliesst auch aus, dass der Oberste Gerichtshof seine Rechtsprechung mit einer umgekehrten Mehrheit wieder durchbricht.81 Mit dem neuen Amparo-Gesetz wird ausserdem der Zugang zur Verfassungsgerichtsbarkeit zukünftig erleichtert. Während vor der Reform ein juristisches Interesse (interés jurídico) und damit eine persönliche und direkte Betroffenheit in eigenen subjektiven Rechten notwendig war, reicht neu ein irgendwie geartetes legitimes Interesse (interés legitimo, Art.  107 Nr.  I Verf.-MX).82 Insgesamt ist Mexiko damit ein gutes Beispiel für den am häufigsten zu beobachtenden Trend in den lateinamerikanischen Ländern. Sowohl das Amparo-Verfahren als auch die spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit werden durch die Reformen weiter entwickelt. Es ist also nicht so, dass die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normen­kon­trolle überall durch eine spezialisierte mit konzentrierter Normenkontrolle abgelöst würde. Die Entwicklungsperspektive richtet sich vielmehr in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder auf ein längerfristiges Nebeneinander beider Pfade der Verfassungsgerichtsbarkeit (Mischsystem). In der folgenden Übersicht 1 sind die historischen Entwicklungsschritte derjenigen Länder zusammengestellt, die bis heute über eine diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen und durch die Einführung einer konzentrierten abstrakten Normenkontrolle nunmehr abei alle ein Mischsystem aufweisen.83 Einzig in Argentinien   Art.  107 Nr.  II Abs.  3 Verf.-MX; Art.  231–235 LA-MX; sog. indirekte Amparo-Ver­fah­ren, die erst zweitinstanzlich an die Amparo-Gerichte gelangen. 77  Zur jurisprudencia-Regel siehe oben bei Fn.  7 ff. 78   Fix-Zamudio, La declaración general de inconstitucionalidad (Fn.  48), S.  140. 79  Art.  222 i. V. m. Art.  232 Abs.  2 LA-MX (Entwurf ), vgl. dazu http://www.cjf.gob.mx/re­ for mas/bo­letin/0812/5.2NuevaLeyAmparo.pdf (Stand: 22.04.2013). 80   Zu diesem Defizit Báez Silva, La „fórmula Otero“ y la déclaratión general (Fn.  9 ), S.  37. 81   Zu dieser Möglichkeit oben bei Fn.  37. 82   Marcos del Rosario Rodríguez/Raymundo Gil Rendón, El juicio de amparo a la luz de la reforma constitucional de 2011, in: Universidad Nacional Autónomo de México (Hrsg.), Biblioteca Jurídica Virtual del Instituto de Investigaciones Jurídicas http://www.juri­ d icas.unam.mx/publica/librev/rev/ qdiuris/cont/15/cnt/cnt4.pdf (Stand: 22.04.2013), S.  57–73 (69). 83   Die verwendeten Daten entstammen, soweit sie nicht anhand aktuellerer Verfassungs- und Gesetzestexte korrigiert werden mussten, den folgenden Quellen: Brewer-Carías, Constitutional Protection 76

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Argentinien Brasilien Dom. Republik Ekuador El Salvador Guatemala Kolumbien Mexiko Nikaragua Peru Venezuela

1830 1850 1870 1890 1910 1930 1950 1970 1990 2010

Übersicht 1.

Amparo-Verfahren Diffuse Normenkontrolle Abstrakte Normenkontrolle Spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit

blieb das diffuse System in reiner Form bestehen. Allerdings besteht dort die Besonderheit, dass die unteren Instanzen dazu neigen, den verfassungsrechtlichen Urteilen höherer Instanzen wie bei einer abstrakten Normenkontrolle erga omnes-Wirkung beizulegen.84 Hinsichtlich der resultierenden Wirkungsvielfalt kann man darum sogar bei Ar­gentinien von einem Mischsystem sprechen. Die Balken auf der Zeitachse stehen nacheinander für: (1) das Amparo-Verfahren, das nicht abgeschafft wurde, sondern überall beibehalten ist; (2) die diffuse Normenkontrolle, die neben dem Amparo-Verfahren fortbesteht; (3) die abstrakte Normenkontrolle, die überall bei einem einzigen Gericht konzentriert ist (meist zunächst beim Obersten Gerichtshof ); und (4) die Einführung einer spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit. Demgegenüber enthält Übersicht 2 die Entwicklungsschritte derjenigen Länder, die ihre gesamte Normenkontrolle bei einem Gericht konzentriert haben.85 Auch in (Fn.  15), S.  85; Sergio J. Cuarezma Terán, Introducción al control constitucional en Nicaragua, in: Víctor Bazán (Hrsg.), Derecho Procesal Constitucional Americano y Europeo, Vol. 1, Buenos Aires: Abeledo Perrot, 2010, S.  605–626 (608); Iván Escobar Fornos, El amparo en Nicaragua, in: Fix-Zamudio/Fer­rer Mac-Gregor (Hrsg.), El derecho de amparo en el mundo (Fn.  15), S.  523–563 (523); Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  671 ff. (mit vereinzelten Abweichungen); Peter Häberle, Argentinien als Verfassungsstaat, in: JöR 60 (2012), S.  571–584 (577 f.); Lösing, Ver ­f assungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika (Fn.  1), S.  46 ff. und passim; ders., La justicia constitucional en Paraguay y Uruguay, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano 2002, S.  109–133 (122). Die der Grafik zugrunde gelegten Jahreszahlen (chronologische Reihenfolge der Balken) sind: Argentinien (1888, 1957), Brasilien (1891, 1934, 1965), Dom. Republik (1844, 1997, 1999, 2010), Ecuador (1967, 1983, 1992, 1996), El Salvador (1883, 1939, 1950, 1983), Guatemala (1921, 1965, 1985), Kolumbien (1910, 1968, 1991), Mexiko (1847, 1857, 1995), Nicaragua (1894, 1987, 1995, 1998), Peru (1936, 1979), Venezuela (1893, 1961, 1999). 84   Fix-Zamudio, Verfassungskontrolle in Lateinamerika (Fn.  8 ), S.  670 f. 85   Die der Grafik zugrunde gelegten Daten entstammen, soweit sie nicht anhand aktuellerer Verfas-

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Das Amparo-Verfahren Bolivien Chile Costa Rica Honduras Panama Paraguay Uruguay

1830 1850 1870 1890 1910 1930 1950 1970 1990 2010

Übersicht 2.

Amparo-Verfahren Diffuse Normenkontrolle Abstrakte Normenkontrolle Spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit

diesen Ländern besteht das Amparo-Verfahren daneben weiter oder wurde sogar später hinzugefügt. Die Balken auf der Zeitachse stehen nacheinander für: (1) das Amparo-Verfahren, das nicht abgeschafft wurde, sondern überall beibehalten ist; (2) die diffuse Normenkontrolle, die später in eine konzentrierte überführt wurde; (3) die konzentrierte Normenkontrolle (konkret und meist auch abstrakt); und (4) die Einführung einer spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Übersichten zeigen insgesamt, dass es bei den lateinamerikanischen Staaten zwar keine bestimmte Reihenfolge der Entwicklungsschritte gibt, wohl aber eine klare Tendenz hin zu einem Mischmodell, bei dem Amparo-Verfahren und spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit nebeneinander bestehen.

III.  Herausforderungen für das Amparo-Verfahren Mit dem Trend zum Mischmodell stellt sich die Frage, ob die funktionalen Unterschiede zwischen Amparo-Verfahren und spezialisierter Verfassungsgerichtsbarkeit genügend gross sind, um ein dauerhaftes Nebeneinander zu rechtfertigen. In erster Linie läuft diese Frage auf das Ergänzungsverhältnis zwischen inter partes-Wirkung und erga omnes-Wirkung hinaus. Verfassungsvergleichende Hinweis auf eine Antwort können die älteren Verfassungsordnungen mit einer integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit geben (U.S.A., Schweiz).

sungs- und Gesetzestexte korrigiert werden mussten, den oben Fn.  84 genannten Quellen: Bolivien (1878, 1935, 1967, 1994), Chile (1867, 1925, 1970, 1976), Costa Rica (1887, 1938, 1946, 1989), Honduras (1894, 1965, 1982), Panama (1917, 1941), Paraguay (1967, 1992), Uruguay (1848, 1934, 1988). Es musste anhand dieser Quellen offen bleiben, ob und ggf. wann in Paraguay ausserhalb des Amparo eine diffuse Normenkontrolle bestanden hat.

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1.  Traditioneller Gleichklang von Amparo und integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit Lateinamerika zählt in der Verfassungsvergleichung nach wie vor zu jenen Regio­ nen der Welt, die traditionell eine integrierte statt spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit vorziehen. Dabei wird die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht durch ein einzelnes Verfassungsgericht, sondern durch mehrere, unter Umständen sogar durch alle Gerichte parallel wahrgenommen. Zusätzlich zu diesem organisatorisch-insti­t u­ tio­nel­len Aspekt wird die Normenkontrolle einschliesslich der Normverwerfungskompetenz meist über verschiedene Gerichtsinstanzen verteilt, statt sie bei einem Gericht zu konzentrieren. Traditionsgemäss entspricht der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit folglich eine diffuse statt konzentrierte Normenkontrolle. Bei dieser diffusen Normenkontrolle kann höchstens eine beschränkte erga omnes-Wirkung eintreten. Das lässt sich am Beispiel der U.S.A. und der Schweiz zeigen, die beide eine integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normenkontrolle realisieren:

a)  Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle in den U.S.A. In den U.S.A. geht das Modell der diffusen Normenkontrolle mit der angloamerika­n i­schen Funktion der Präjudizienbindung einher (rule of precedent, stare decisis). In diesem Kontext geht selbst aus einer diffusen Kontrolle unter Umständen eine erga omnes-Wirkung hervor.86 Falls ein Instanzengericht die Anwendung eines Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit verweigert und diese Verfassungswidrigkeit im entscheidungstragenden Begründungsgehalt (holding) statt bloss in den beiläufigen Erwägungen (obiter dictum) enthalten ist, sind die unteren Instanzen fortan in dieser Fallkonstellation an den Normverwerfungsentscheid gebunden. Diese formale Bindung an den Präzedenzfall ist allerdings beschränkt, denn sie strahlt nur nach unten aus. Sie gilt nicht gegenüber gleich­rangigen Instanzen, beispielsweise unter mehreren US-Bezirksgerichten (Circuit Courts), und erst recht nicht gegenüber höherrangigen Instanzen, beispielsweise im Verhältnis eines Bezirksgerichts zum Obersten Bundesgericht (Supreme Court). Insgesamt ist im praktischen Ergebnis folglich eine beschränkte erga omnes-Wirkung zu konstatieren.

b)  Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle in der Schweiz Die Schweiz folgt im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern dem Vorbild der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit in den U.S.A. Wie in Kontinentaleuropa üblich besteht allerdings keine formale Präjudizienbindung. Auch sonst gelten in der Schweiz einige Besonderheiten. Als wichtigste Beschränkung sind zunächst alle formellen Bundesgesetze durch ein verfassungsunmittelbares Rechtsanwendungsgebot für die Gerichte und Behörden verbindlich (Art.  190 BV). Ein Gericht, selbst das Bundesgericht als oberste Instanz, kann zwar die Verfassungswidrig86  Vgl. Fernández Segado, Du Contrôle Politique au Contrôle Juridictionnel (Fn.  5), S.  697 („une véritable efficacité erga omnes, analogue à celle de l’abrogation de la Loi“).

Das Amparo-Verfahren

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keit eines Bundesgesetzes prüfen und feststellen. Es ist aber nicht befugt, einer Norm des Bundesgesetzgebers die Anwendung zu versagen. Der Feststellungsentscheid ist dann Appellentscheid an den Gesetzgeber, hat aber weder inter partes noch gar erga omnes irgendeine unmittelbare Rechtswirkung. Die diffuse Normenkontrolle aller untergeordneten Rechtssätze (Bundesverordnungen, kantonale Gesetze) ist hingegen umfassend gewährleistet und schliesst die Normverwerfungskompetenz ein. Jedes Gericht ist bei dieser diffusen Normenkontrolle gleichzeitig Verfassungsgericht. Es kann die Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm mit der Verfassung feststellen und dieser Norm die Anwendung im konkreten Fall versagen, also mit Wirkung inter partes. Der blossen Nichtanwendung eines Gesetzes kommt allerdings keine normvernichtende Gestaltungswirkung zu.87 Weil in Kontinentaleuropa auch keine formale Bindungswirkung an Präjudizien besteht, können grundsätzlich alle Gerichte weiterhin neu und anders über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes befinden. Eine erga omnes-Wirkung scheint damit zunächst ausgeschlossen. In der Literatur wird indes die materielle Bindung betont, die auch ohne formelle Präjudizienbindung mittelbar eintritt. Diese Bindung entsteht erstens als rechtliche Selbst­bin­dung des Gerichts an seine Spruchpraxis. Eine unvermittelte Änderung gilt in der Schweiz in einzelnen Fallkonstellationen als unzulässig.88 Praxisänderungen werden darum möglichst erst angekündigt, bevor ein Gericht sie in einem späteren Verfahren tatsäch­lich vollzieht. Dies verschont die Verfahrensbeteiligten vor Überraschungen. Die Bindung entsteht zweitens als tatsächliche Instanzbindung innerhalb der Gerichtshierarchie, weil die unteren Instanzen regelmässig die Entscheidungen der höherrangigen Gerichte in ihre eigene Spruchpraxis integrieren.89 Ein Nichtanwendungsentscheid des Bundesgerichts gelangt durch diesen instanziellen Zusammenhang in der ganzen Gerichtsbarkeit zu tatsächlicher Wirkung. Drittens schliesslich gibt es eine juristische ergo omnes-Wirkung, wenn das Bundesgericht im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine Norm auf hebt (normvernichtende Gestal­t ungs­ wirkung).90 Nach dem schweizerischen Verfahrensrecht reicht für eine solche Individualverfassungsbeschwerde direkt gegen das Gesetz die blosse „virtuelle Beschwer“: Wer immer von einer kantonalen Gesetzesregelung möglicherweise zukünftig betroffen sein könnte, hat die Befugnis, direkt dagegen Beschwerde zu führen. Insgesamt gibt es also in der Praxis einige Konstellationen, in denen eine erga omnes-Wirkung eintreten kann. Mit Blick auf die grosse Bedeutung der inzidenten Normenkontrollen, bei denen jedenfalls rechtlich keine solche Wirkung entsteht, gilt aber für die Schweiz insgesamt, dass die diffuse Normenkontrolle im Prinzip nur inter partes 87   Bernhard Rütsche, Rechtsfolgen von Grundrechtsverletzungen. Mit Studien zur Normstruktur von Grundrechten, zu den funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit und zum Verhlätnis von materiellem Recht und Verfahrensrecht, Basel u. a. 2002, S.  111. 88  Zur Praxisänderung Susan Emmenegger/Axel Tschentscher, Kommentierung zu Art.  1 ZGB, in: Heinz Hausheer/Hans Peter Walter (Hrsg.), Berner Kommentar, Band I.1: Schweizerisches Zivilgesetzbuch. Einleitungsartikel, Bern 2012, Rn. 490 ff. (497 f.) m. w. N. 89   Rütsche, Rechtsfolgen von Grundrechtsverletzungen (Fn.  87), S.  433 m. w. N. zur älteren Literatur. 90   Zum Beispiel die Auf hebung des Verbots des intratubaren Gametentransfers in §  4 Abs.  2 lit. c des Gesetzes des Kantons Basel-Stadt betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen (GRM) in BGE 119 Ia 460 E. 8 S.  489 ff. – Reproduktionsmedizin Basel.

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wirkt. Das unterscheidet die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit im Übrigen grundlegend von derjenigen in Deutschland, bei der die erga omnes-Wirkung gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 31 Abs.  1 BVerfGG).91

c)  Vergleich mit dem Amparo-Verfahren Die Wirkungsanalyse der Normenkontrolle in den U.S.A. und der Schweiz zeigt, dass diffus organisierte Systeme regelmässig von einer inter partes-Wirkung der Norm­ verwerfung ausgehen und diese nur teilweise durch eine erga omnes-Wirkung ergänzen. Mit diesem Grundmodell einer organisatorisch integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit, die eine diffuse Normenkontrolle realisiert, verträgt sich das Amparo-Verfahren sehr gut. Hier wie dort ist die Verfassungskontrolle im Grundsatz zunächst auf die Verfahrensbeteiligten beschränkt und wird nur in Einzelkonstellationen zu einer allgemeinen Gestaltungswirkung für die ganze Rechtsordnung ausgebaut. Vereinfacht kann man darum sagen, dass die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normenkontrolle mit dem Amparo-Verfahren eng verwandt ist, während das systematische Gegenmodell, also die spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit mit konzentrierter Normenkontrolle in der Amparo-Tradition zunächst als Fremdkörper angesehen werden müsste.

2.  Neue Aufgabenverteilung zwischen einfachen Gerichten und spezialisierten Verfassungsgerichten Nun hat die Analyse der aktuellen Entwicklung und die daraus abzuleitende Zukunftsperspektive allerdings gezeigt, dass auch in Lateinamerika ein klarer Trend zu spezialisierten Verfassungsgerichten zu verzeichnen ist. Mit dieser Spezialisierung geht – jedenfalls für die abstrakte Normenkontrolle – regelmässig eine Konzentration einher. Dies liegt daran, dass die erga omnes-Wirkung, die im Interesse der Effizienz und Rechtssicherheit erstrebt wird, sich nur dann sinnvoll realisieren lässt, wenn Widersprüche zwischen den Entscheidungen der Einzelgerichte ausgeschlossen werden. Nichtanwendung und Anwendung eines Gesetzes können nicht gleichzeitig innerhalb des ganzen Rechtssystems geboten sein. Soweit spezialisierte Verfassungsgerichte begründet und mit der konzentrierten Normenkontrolle betraut worden sind, muss diese Kompetenz bei den einfachen Gerichten im Amparo-Verfahren sinnvollerweise abgebaut werden, um eine Doppelung zu vermeiden. Dadurch tritt eine neue Aufgabenverteilung ein. Während im reinen Amparo-System alter Prägung die gesamte Verfassungskontrolle integriert und diffus erfolgte, bleiben zukünftig nur die auf inter partes-Wirkung ausgerichteten Kontrollmittel für das Amparo-Verfahren, wohingegen die auf erga omnes-Wirkung ausgerichtete Kontrolle, insbesondere die abstrakte Normenkontrolle, exklusiv den 91   Zur weiten Auslegung dieser Präjudizienbindung jüngst ausführlich Antje von Ungern-Sternberg, Normative Wirkungen von Präjudizien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 138 (2013), S.  1–59 (16 ff.) m. w. N.

Das Amparo-Verfahren

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neuen Verfassungsgerichten zugewiesen ist. Eine typische Variante dieser Reformrichtung zeigt sich in Bolivien, wo das Amparo-System mit seiner inter partes-Wirkung durch die Verfassungsreform von 1994 um eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit erweitert wurde. Seit dieser Reform besteht eine exklusive Kompetenz des Verfassungsgerichts zur Nichtigerklärung von Gesetzen, also mit erga omnes-Wirkung.92 Im wichtigen Beispielland Mexiko ist die Aufgabenverteilung, wie oben dargestellt, etwas komplizierter.93 Aber auch hier bestätigt sich der geschilderte Trend, denn das materiell zu einem Verfassungsgericht umgestaltete Oberste Gericht ist die einzige Instanz, die eine im Rechtssystem konzentrierte Entscheidung mit erga omnes-Wirkung trifft.

3.  Auf dem Weg zu einem „Lateinamerikanischen Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit Zeichnet sich in der lateinamerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit ein konsoliertes Modell ab, das den klassischen Formen der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit (USA, Schweiz, Skandinavien) und der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit (Kontinentaleuropa) gegenübergestellt werden kann? Verneinen muss man diese Frage, wenn es um die Details der frühen Entwicklungsschritte und die Abgrenzung der Instrumente voneinander geht. Schon die Einführung des Amparo-Verfahrens erfolgte überall zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten. Auch bei der diffusen Normenkontrolle gibt es statt einer einheitlichen Lösung zwei Ländergruppen mit unterschiedlichem Ansatz. Soweit bisher die Modellbildung versucht wurde, war sie typischerweise auf einzelne Beispielländer konzentriert.94 Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika ist angesichts ihrer Entwicklungsvielfalt als „absolut heterogen“ charakterisiert worden.95 Doch wäre es angesichts der engen kulturellen Verbundenheit der lateinamerikanischen Völker einigermassen erstaunlich, wenn sich im gesellschaftlich wichtigen Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht längerfristig doch eine gewisse Annäherung der Verfassungsordnungen einstellen würde.96 So lässt sich die Frage nach einem „Lateinamerikanischen Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit schon heute hinsichtlich einer Reihe von Aspekten bejahen: Erstens wurde überall ein AmparoVerfahren bewahrt oder eingeführt, das regelmässig mit blosser inter partes-Wirkung verbunden ist und auch sonst keine abschliessende Regelung aller Rechtsfragen, etwa 92   Artikel 58 Verf.-BO, einschliesslich eines Vorlageverfahrens für inzidente Normenkontrollen in Artikel 59 Ley del Tribunal Constitucional No 1836 vom 1. April 1998 http://www.tribunalconstitucional.gob.bo/descargas/ltc1836.pdf (Stand: 25.04.2013). 93   Siehe den Text oben bei Fn.  8 ff. 94   Beispielsweise bei Belaunde, Verfassungsgerichte in Lateinamerika (Fn.  60), S.  597 ff. 95   Fernández Segado, Du Contrôle Politique au Contrôle Juridictionnel (Fn.  5 ), S.  655 („un devenir évolutif absolument hétérogène“) und S.  689 („un véritable laboratoire constitutionnel“). 96  Vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage, Berlin 1998, S.  83 ff. (kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts), S.  1111 ff. (Annäherung der Instrumente des Kulturgüterschutzes in Lateinamerika); ders., Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JöR 45 (1997), S.  89–135 (98 ff.: Verfassungsgerichte als „gesellschaftliche“ Gerichte).

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hinsichtlich des Schadensersatzes, bieten kann. Zweitens haben die Länder fast alle eine abstrakte Normenkontrolle eingeführt, die bei einem Gericht konzentriert ist und erga omnes-Wirkung entfaltet. Drittens gibt es einen klaren Trend zur Einführung spezialisierter Verfassungsgerichte, denen mindestens die abstrakte Normenkontrolle zugeordnet wird. Viertens wird in einer bereits relativ grossen Zahl von Ländern die Konzentration ausser bei der abstrakten Normenkontrolle auch bei der konkreten Normenkontrolle vorgenommen, wodurch im Ergebnis ein Normverwerfungsmonopol des Verfassungsgerichts entsteht.

IV. Fazit Trotz aller Vielfalt in Genese und Reform zeichnet sich unter den lateinamerikanischen Ländern inzwischen ein besonderes Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit ab, das eine Mischform zwischen integrierter und spezialisierter Verfassungsgerichtsbarkeit verwirklicht. Dabei obliegen dem Amparo-Verfahren die auf den Einzelfall beschränkten Kontrollen der Verfassungsmässigkeit – sie sind institutionell integriert, funktional diffus und haben inter partes-Wirkung. Den Verfassungsgerichten obliegen demgegenüber die auf das Rechtssystem insgesamt ausstrahlenden Kontrollen der Verfassungsmässigkeit – sie sind institutionell spezialisiert, funktional zunehmenden konzentriert und haben erga omnes-Wirkung. In dieser Aufgabenverteilung findet sich die lateinamerikanische Tradition der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit gewahrt. Gleichzeitig werden die Vorteile der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie sich im Gefolge des österreichischen Vorbilds in Kontinental­europa verbreitet hat, für Lateinamerika fruchtbar gemacht.

Rights to Social Security in Constitutional Peruvian Case-Law* by

César Landa** Primun vivere deinde filosofare

I. Presentation The Constitution of 1979 registered the Peruvian state within the frame of democratic and social Rule of Law, when defining it as (Article 79) a democratic and social Republic, independent and sovereign. Also reflected in the constitutional dispositions that refer to the person as the supreme goal of society and state (Article 1), to the rights to social security (Article 12 in fine), to work (Article 42), to health (Article 15) to a home (Article 18), to education (Article 21); as well as in the general principles that regulated the social market economy as a general economical regime (Article 110), the property (Article 124) and the enterprise (Article 118 in fine), among others. Within this constitutional frame it corresponds to the government to promote the economical and social conditions to foment on one hand, the social security to cover the risks of sickness, maternity, invalidity, unemployment, accidents, old age, death, widowhood, orphanage and any other susceptible contingency to be protected in accordance with the law; as well as to promote employment, create equal opportunities, eliminate poverty and to protect work as the main source of wealth1. The said Constitution prohibited the existence of any condition that impeded the exercise of fundamental rights or ignored or reduce human dignity.

*   Speech at Macao Meeting of the Xi’an Roundtable of International Association of Constitutional Law, about “Rights to Social Security in Constitutional Comparative Law”. October, 23–27, 2011, China. **   Former President of the Constitutional Court of Peru. Professor of Constitutional Law at the Pontificia Universidad Católica del Perú and at the Universidad Nacional Mayor de San Marcos. 1   Rendón Vásquez, Roberto. Derecho de la Seguridad Social. Lima: Tarpuy, 1992, pp.  47–57; where the historic evolution of social protection in Peru can be checked.

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Regardless of what was established in the said Constitution, from the start of the first government of former president Fujimori (1990–1992), these rights were weakened considerably when limiting the increment of salaries, the improvement of working conditions and restrictions to the negotiation of the collective bargaining of workers and public employees. On the other hand, banks and private corporations of insurances were included in the consolidation of the social benefits of the workers in charge of the companies; and, a private system of pensions was created – as an alternative – of the public system of pensions, which was expressed in the weakening of the public system of pensions. Once the self-coup of State of Fujimori of 1992 was produced it was established juridically in the new Constitution of 1993, the subsidiary role of the State in the economy, granting preferences to private investment and to the market, in prejudice of the guiding and advising role of the state in the economy, as guarantor of the general and social interest. This way, the liberalization of the national system of social security is radicalized, privileging an alternative system, with state support to the private system of pensions2. Therefore one attended, in the doings, the juridical, politic and economic tension of two models of organization and functioning of the state of law: one, characterized to give priority to the social issue and the redistribution of power, and the other, based on the social issue subordinated to the market and to the concentration of power. In other words, the juridical conflicting ideologies that hold the model of the social State and the model of the neoliberal State could be appreciated with clarity3. The consequence of this ideological prevailing model caused an impact directly in the validity and efficiency, certainly more nominal than real, of the social rights consecrated in the Constitution of 1979; particularly, of the lack of financial sustainability of the public system of pensions. However, with the democratic transition of 2001, the fundamental rights to work and to social security have been object to more attention and guaranteed development by constitutional case-law4 which has allowed them to be conceived not like programmatic rights lacking demandability, but rather as social fundamental rights that impose authentic civil rights for the citizens and constitutional duties for the Government, in order to provide the necessary conditions for their complete fulfillment5. This only was possible in virtue that the flexibility of the social rights established in the decade of the nineties was not corrected by the legislator; leaving the pending 2   Neves, Javier. “Los sistemas públicos y privados de pensiones: de la relación alternativa a la complementaria”. In VV. AA. Derechos Laborales, Derechos Pensionarios y Justicia Constitucional. II National Congress of the Peruvian Society for the Right to Work and Social Security. Lima: SPDTSS, 2006, pp.  821– 834. 3   Blancas, Carlos. “Estado Social Constitución y Derechos Fundamentales”, in VV. AA. Constitución, Trabajo y Seguridad Social. Compared study in 20 Spanish-American Constitutions. Lima: ADEC-ATC, 1993, pp.  23–37; Sanguinetti, Wilfredo. Derecho constitucional del trabajo. Relaciones de trabajo en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional. Lima: Diálogo con la Jurisprudencia, 2007, pp.  21 ss. 4   VV. AA. Estudios sobre la jurisprudencia constitucional en materia laboral y previsional. Lima: Judicial Academy – Sociedad Peruana de Derecho del Trabajo y de la Seguridad Social, 2004, pp.  428. 5   Abramovich, Víctor and Courtis Christian. Los derechos sociales como derechos exigibles. Madrid: Trotta, 2002. pp.  254; also, Cascajo Castro, José Luis. La tutela constitucional de los derechos sociales. Madrid: CEC, 1988, pp.  101.

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social demands under the aegis of the jurisprudence of the Constitutional Court; which has put forward theoretic and practical problems about the nature of the social rights and of the reaches of his jurisprudence. Furthermore, of the universe of constitutional requests received by the High Court, the social pension rights constitute 40% of their task, and labor demands add up to 28% of the cases to solve; which have promoted ample debates around the arguments and decisions of the constitutional sentences6.

II.  The social rights in the Constitution of 1993 The Constitution of 1993 (Title I), in its Chapter I recognizes a whole catalog of fundamental rights conceived as classic liberties of the person; while Chapter II establishes social and economical rights, among which is recognize the right to health (Article 7), to social security (Article 10), free access to health and pension services (Article 11), to education (Articles 13 to 19), to work (Articles 22 and 23), to a remuneration (Article 24) and to trade unionism, collective negotiation and strike (Article 28). On the other hand, in Chapter III political rights and civic duties are established. The separation between fundamental rights and social rights in the Constitution of 1993, not rarely have been understood in the sense that only the civil rights that the Constitution recognizes as “fundamentals” and political rights, -previous a legislative regulation of these last ones- are objects of immediate and direct protection by the State. While social rights which are of progressive application, their fulfillment are not only subject to previous legal development, but also to the existence and availability of financial resources that will allow the Government to provide an interim ruling on them. This reflects a positivist and formalist conception that dehumanizes the theory and the praxis of the fundamental social rights. Furthermore, “the level of exercise of social fundamental rights increases in times of economic crisis. But, precisely then, there can be little to distribute (.  .  .). But, precisely in time of crisis, a protection of the fundamental rights of social standings seems indispensable, for as minimum as it could be” 7 . It is not an obstacle to be at least raising four main issues or questions about the social rights. First, which is the normative structure of the said norms? Second, what are the obligations or duties that they generate for the Government? Third, all social rights are judicially demandable before the State in a direct and concrete way? Fourth, is the public budget a sine qua non condition to satisfy the requests of the social rights?

  Constitucional Court. Jurisprudencia y Doctrina Constitucional Laboral. Centro de Estudios Constitucionales. Lima: Palestra: 2006, pp.  432. 7   Alexy, Robert. “Derechos Sociales Fundamentales”, in Carbonell, Miguel et. al. Derechos sociales y derechos de las minorías. México: UNAM – IIJ, 2000, p.  80. 6

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1.  The juridical structure of social rights The determination of the normative structure of the fundamental social rights, following ALEXY, can be divided into three points of view: “First, could be norms that confer subjective rights or norms that obligate the Government only objectively. Second, they can be binding or not binding and, in this sense, be programmatic enunciations. A norm will be addressed as “binding” if it is possible that its damage is verified by the Federal Constitutional Court. Third, norms can lay foundations rights and definite duties or prima facie, that is, can be principles or rules”8. It is pertinent to point out that in relation to the social rights of work and of social security, the Peruvian Constitution contains basically rules and principles that are juridical norms, with different deontic formulations that can be: Imperative norms, prohibit norms and optional norms9. In consequence, the difference between principles and rules are distinctions between the two types of norms that regulate fundamental rights in general and the social rights in particular. The principles are norms with a high degree of generality and rules are norms with a relatively low level of generality. Principles are mandates of optimization, which are characterize for the fact that they can be carry out in different grades of intensity and the extent of their fulfillment not only depends on the possibilities of its juridical structure, but also on a budget. While, rules are prescriptive norms which only can be carry out or not; because they contain concrete determinations within the juridical field and they are factually possible. There for, a casuistic analysis between the different constitutional rights should be done to identify in each one of them the norms, rules and/or principles. So, the classical social rights, like freedom/right to work (Article 26), the eight-hour labor day (Article 25), trade unionism, collective bargaining and strike (Article 28), can be conceived as defense rights in front of the employer or a third party, an asymmetric situation in which the State should protect the weak party in an efficient and independent way. The rights that regulate work has a constitutional formulation that has been conferred as rule norms, that is imperative norms, that because of their clear and obvious constitutional configuration they can be without doubt appreciated when they are carry out or not, insofar as the solution to a case is based on the subsumption of the assumed fact in the preestablished norm. It is not an obstacle for the Constitution to collect prohibitive principle norms, as that in any working relation the exercise of constitutional rights cannot be limited, nor ignored or reduced the worker’s dignity (Article 23); also, it is stipulated that in working relations the following principles should be respected: undiscriminating equal employment opportunity, non-transferable character of the rights recognized in the Constitution and in the law, and; interpretation favorable to the worker in case of insurmountable doubt in the sense of the norm (Article 26)10, which require interpretation.   Alexy, Robert. Derechos sociales fundamentales .  .  ., op. cit., pp.  68–69.   Atienza, Manuel – Ruiz Manero, José. Ilícitos atípicos. Madrid: Trotta, 2006, pp.  70–76. 10  Toyama, Jorge. “Derechos fundamentales de los trabajadores y la jurisprudencia del Tribunal Constitucional”. In VV. AA. Derechos Laborales, Derechos Pensionarios y Justicia Constitucional. II National 8 9

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But, also there are norms that ascribe the legislator the expedition of the law that grants the worker the adequate protection against the arbitrary layoff; the duty to promote conditions for the social and cost-reducing progress, specially by means of policies of fostering productive employment and education for work (Article 27); the right of the workers to take part in the company’s profits and the promotion of other ways of participation (Article 23), or, that the law regulates the right of strike so that it can be exercise in harmony with social interest, indicating its exceptions and limitations (Article 28–3). These constitutional mandates formulated as juridical principles or of delegation to the legislator for their development, are norms that have active normative force because they create a definite or determinable jurisprudence, and passive normative force because they impede that the law or the legal acts that develop them do not contradict or empty their contents. However, in the suppositions of conflict the judge should specify the norms in a particular case, from the pondering of rights or constitutional benefits at issue following the test of reasonability or proportionality, but with different grades of intensity in terms of the nature of the right or of the constitutional benefit to guard11. But, there are social fundamental rights, like the right to social security, that have the purpose to cover the risks of sickness, maternity, invalidity, unemployment, accident, old age, death, widowhood, orphanhood and any other susceptible contingency to be protected in a Democratic and Social State of Law, that can be considered prima facie as imperative norms of principles and/or optional; which are typical of the rights of participation of the Government in their satisfaction; Insofar as they contain an obvious mandate but not the way of their juridical realization. Although Article 10 of the Constitution has foreseen that the Government guarantees the universal and progressive right for everyone to social security for their protection in front of the contingencies that the law specifies and for the increment of the quality of life; the fact is that it has concentrated in the system of pensions and of health. For which it is required a legal norm that regulates the subject, allowing the operators of the law a judgment of subsumption, in the measure that the right to a pension from which that constitutional order derives, is one of legal configuration. From where it is understood that arrived the point of contingency foreseen in the different laws of retirement for public and private employees (Decree Law N 20530 and Decree Law N 19990) between other special systems of public service, as an army officer or diplomat, the employee will be able to request and obtain according to law a pension, because of a serious illness, or invalidity, or widowhood or orphanhood. Also Article 11 stipulates that the State guarantee free access to health services and to pensions, through public entities, mixed or private. In consequence, with the privatization process of public services the dismemberment of public entities renders of pension and health service care has been carried out (the Peruvian Institute of Social Security: Instituto Peruano de Seguridad Social), in Health Insurance (Seguro de Congress of the Sociedad Peruana de Derecho del Trabajo y de la Seguridad Social. Lima: SPDTSS, 2006, pp.  103–226, in special pp.  170–182. 11   Bernal, Carlos. El principio de proporcionalidad y los derechos fundamentales. Madrid: CEPC, 2005, pp.  873.

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Salud: EsSALUD) and the Provisional Normalization Office (Oficina de Normalización Previsional: ONP). Also, the opening of the said services to the private sector drove the national and foreign banks to created the entities denominated Private Pensions Administrators (Administradora Privadas de Pensiones: AFP) and by means of their insurance companies established Health Service Companies (Empresas Prestadoras de Salud: EPS). In that context, the said constitutional norms become anathematized with their legal configuration; because as norms of principles the legislator conceives them as materially programmatic norms, except in does where the Government promotes and guarantees the privatization of the social-security12. Legal mandates that in the present stage of legislative and regulatory development are regulated prima facie as norm rights without greater linkage with their nature of constitutional rights founded in the principles of dignity. That’s why, it could be indicated that the normative structure of the constitutional rights to pensions finds itself configured in the law and in its regulations, prior to the Constitution. However, the normative structure of the social rights because it contains different types of rule norms or norms of principles, its legislative regulation often is complex; whereas, next to the establishment of these civil rights of legal configuration there are obligations or objective duties for the Government, that implements them in its social policies and legislation in matters of labor and social security, the same that should be compatible with the Constitution13.

2.  Obligations or duties of the State In front of the fundamental rights of freedom the same as in front of the social rights, following Van Hoof, the State has four levels of government obligations: “The obligations to respect are define by the obligations of the State to not interfere, obstruct or prevent access to the enjoyment of the benefits that constitute the object of the right. The obligations to protect consist in impeding that third parties interfere, obstruct or prevent access to those benefits. The obligations to insure involve guaranteeing that the right holder accesses the benefit when he cannot do it by himself. The obligations to promote characterize themselves for the obligation to develop conditions in order that right holders access the benefit”14. Perhaps it should be also integrated as a fifth level the obligation of the State to repair the harm of the social rights. 12   In effect, the closure of the public system of pensions is encourage, existing only up to the extinction of the obligations with the actual pensioners and transferring the new workers as affiliates of the private system; in this way emptying the contents of the mandate of plurality of the pension system, implementing this change would require a Constitutional reform. C fr. González, César. “La necesaria reforma del sistema de seguridad social de pensiones”. In VV. AA. Desafíos y perspectivas del derecho del trabajo y de los regímenes de pensiones en el Perú. Lima: SPDTSS, 2004, pp.  319–348. 13   Cascajo Castro, José Luis. “Recientes anotaciones conceptuales sobre los derechos sociales”. in Revista Oficial del Poder Judicial 1/1. Madrid: 2007, pp.  351–369. 14   Abramovich, Víctor y Courtis Christian. “Apuntes sobre la exigibilidad judicial de los derechos sociales”. In Roberto Gargarella (coordinator) Teoría y Crítica del Derecho Constitucional. Volume II. Derechos. Buenos Aires: Abeledo – Perrot, 2009, p.  977.

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In consequence, even though there are no substantial differences between the government’s obligations to respect, protect, insure and promote civil and social rights; on the other hand it is consider that the degree or the intensity of the tutelage of the government of these should be modulated. It is true that the scarce protection of the civil rights is proper of the old constitutional tradition of the second worldwide postwar years. However, the normative force of the Constitution and the doctrines of fundamental rights and international human rights constitute the battering rams to revert the auto limitative conceptions concerning the role of the distributive justice in matters of public interest. That’s way, it could be said, in detail, that as to civil rights the Government’s behavior is not only to let the person to its free will, but also guaranteeing the tutelage of the same when it is affected by an authority, government employee or anybody. In the meantime, the exercise of political rights demands a positive behavior of the State through the law, before abstaining from interfering in its exercise. The social fundamental rights, for their part, are rights of participation so that the Government procures the conditions that permit to satisfy the fundamental needs of the citizens, most of all in favor of those who are in situations of social and economical disadvantage. Thus, the Government offers in matters of work programs of temporary jobs in small communal and social infrastructure projects, in relation with social security it counts with the National System of Pensions (Sistema Nacional de Pensiones) in charge of the Provisional Normalization Office (Oficina de Normalización Previsional) and in matters of health the State offers “gratuitously” basic attention to the poor, through the public health system. Also, the State has begun to share with the private sector a part of the social benefits of retirement or health, but private corporations assume a part in the attention of said services under the rules of the market, meaning it’s not free but with a value that covers the cost of the highquality service and so it’ll be profitable. Thereby, it can be distinguish between those services that being obligations of public nature, the government transfers them to the private system for its offer to the public user and those that by the principle of subsidiary is reserved for the poorest sector of the population that is out of the market. In effect, the companies that are constituted to render those services, for example in matters of payment of pensions and health, do it in accordance with the economic rules of the free market, meaning they’re seeking to maximize their profits, by which the cost/benefit of the company is defined in terms of the contributions of the insured persons of the private pension funds and of companies render of health services. In these cases the State has establish that their services be supervised by mixed organisms regulators of the market of health services and of the social-security pensions. That way, the Superintendence of Banks and Insurances (Superintendencia de Banca y Seguros) has been transformed into the Superintendence of Banks, Insurances and Private Administrators of Fund Pensions (Superintendencia de Banca, Seguros y Administradoras Privadas de Fondos de Pensiones) and the Superintendence of Health Service Entities (Superintendencia de Entidades Prestadoras de Salud) has been created, entrusted with the supervision of the said services; but, before a position of guaranteeing the safeguarding of social rights, it is questioned its lack of im-

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partiality and independence in relation with the private corporations that lend the said public services. In consequence, it can be indicated that the Government assumes: a) The obligation to respect free access to employment, insofar as everyone has the right to choose a particular system of pension while the State guarantees free access to the pension systems through public, mixed or private, entities as indicated in Article 11 of the Constitution. In this understanding, the government should also assure the respect of the principle of equality and no discrimination in the access to social security, of the public entities and above all the private provider of social-security services, in accordance with the mandate of equality and no discrimination before the law, established in Article 2–2 of the Constitution15 ; In virtue of which the government promotes the no discrimination in social security, particularly of the disabled16. b) The obligation to protect the pensioners involves offering and granting universal coverage of social security, based on a jointly responsibility for those who have contributed for it, that means not denying them or cutting the right to a pension based on their contributions; most of all, for the senior citizens that suffer diseases that require to assume the costs of their attention. From there the right that the fundamental right protects every person to a minimum pension of retirement and of health, and in that way, reasonably, the constitutional rights on matters of social security be protected in Article 10 of the Constitution17. c) The obligation to guarantee minimally the rights to social security, it should indicate the state-owned programs of coverage of people that not having worked or having worked informally or in an independent way they are offered a minimal pension and system of universal assurance in health, on basis of a contributive or semi-contributive payment of for those who may assume partially the payment of the service, or free for the people in a state of poverty and extreme poverty18. d) The obligation to promote social-security coverage -retirement payment, widowhood, orphanhood-; disease; unemployment; invalidity; pregnancy, among others-. In effect, in the measure that “They Are primary government duties (.  .  .) to guarantee the complete validity of human rights; (.  .  .); promote the general well-being that is based on justice and in the integral and balanced development of the Nation” (Article 44 of the Constitution); as well as, that the (.  .  .) the State guides the development of the country, and acts principally in the promotional areas of job, health, education, security, public services and infrastructure (Article 58 of the Constitution). The said 15   Blancas, Carlos. Derechos fundamentales de la persona y relación de trabajo. Lima: PUCP -Editorial Fund, 2007, pp.  137 ss. 16   C fr. Law N 27050, Ley General de la Persona con Discapacidad (General Law of the Disable), which establishes the protection system in health, work, education, rehabilitation, social security and prevention for their development and social, economical and cultural integration, in accordance with Article 7 of the Constitution, or the Program Construyendo Peru (Building Peru) for which more than 6 thousand provisional jobs have been created for the disable. (http://www.construyendo peru.gob. pe). 17   Neves, Javier. Pensiones. Reforma y jurisprudencia. El D. L. 20530 y la jurisprudencia del Tribunal Constitucional. Lima: PUCP – Editorial Fund, 2009, pp.  25–41. 18   See Plan Esencial de Aseguramiento en Salud (PEAS), approved by Law N 29344, Ley Marco de Aseguramiento Universal en Salud.

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promotion catches up with the fostering of the tasks of education, information and access to the media as much the programs that the State and private corporations develop.

3.  The judicial enforcement of social rights Even though all fundamental rights are civil rights consecrated in the Constitution and therefore enjoy the normative force originated of its most general or specific configuration established by the constituent power, the efficiency in the fulfillment of the same put two issues forward. First, in the meantime civil rights are demandable of protection on behalf of the State and subsidiary are opposable in front of third parties; that way in the case of fundamental civil rights the demandability of its judicial tutelage is direct and immediate, without advocating any previous legal norm; while in the case of political fundamental rights its enforcement needs a legal complementary norm that specifies the secondary reaches of the same. Second, even though the Constitution foresees a social or economical right but that it has not been developed by the legislator, it is argued if the judge can fill the lagoon or emptiness of the norm. With regard to this matter, it has been pointed out that the constitutional aspiration of social rights is so general that juridical concrete pretenses via legal interpretation cannot be deduced; but rather, they are directed for the legislator’s immediate application and subsequently for public administration19. However, it is pertinent to point out that fundamental rights cannot be manipulated; some to fundamental rights of juridical freedom and judicially demandable and; others, to fundamental social rights reduced to a duty of public policies of the State of questionable normative structure, but of impossible judicial demandability20. In that sense the constitutional courts has begun to give a substantive and procedural impulse to the tutelage of social fundamental rights, most of all through the constitutional remedies of protection and of unconstitutionality of laws21. In particular the Peruvian Constitutional Court has had the opportunity to pronounce itself on the judicial enforcement of social rights. However, this has not been a theme that the Court had undertaken with clarity in its first sentences in which it had the opportunity to pronounce itself. Indeed, in one of the first sentences in which it manifests itself in relation with the nature of social rights, the Court affirmed that: “(.  .  .) although the person’s dignity is the ontological assumption common to all the fundamental rights, it is not less true that among themselves it is possible to establish differences of different order. The heterogeneity that presents the fundamental rights between them, not   Böckenförde, Ernst-Wolfgang. Escritos sobre Derechos Fundamentales. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1993, pp.  76–78. 20   In this respect, Pisarello, Gerardo y De cabo, Antonio. “‘Quién debe ser el guardián de los derechos sociales’ (Who should be the guardian of social rights?) Legisladores, jueces y ciudadanos”. In Miguel Angel Aparicio (coordinator). Derechos constitucionales y formas políticas. Actas del Congreso sobre derechos constitucionales y Estado autonómico. Barcelona: CEDECS Editorial, 2001. pp.  219 y ss. 21  Alvitez, Elena. La Participación de la Jurisdicción Constitucional en la Defensa del Constitucionalismo Social. A propósito de la Protección Jurisdiccional de los Derechos Sociales por el Tribunal Constitucional Peruano. Thesis Doctoral, University of Alicante, Spain, 2004, not published. 19

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only rest in theoretic issues of historic character, but these dissimilitudes, in turn, can imply significant practical repercussions. As much as the right to social security like the right to health protection are a part of those social fundamental rights of deferred perceptivities, benefits, or also named progressives or programmatic, (.  .  .). The ratio of the said denominations is based on that they are not about auto-application rights; its validity and demandability requires a leading role of the State in its development”22.

With regard to this matter, it is the case to point out how the Court referred, indistinctly to, the social rights either as progressive or as programmatic rights. And it is to support that social rights are progressive rights or saying that they constitute programmatic rights is not a mere issue of terms, because there is a difference and a not only theoretic but also political meaning that is not at all irrelevant, which is reflected precisely in the sphere of its judicial demandability. Quite so, while the programmatic implies that social rights do not constitute more than simple declarations and, as consequence, can be respected or not, understanding them as progressive rights involves, in itself, an ineludible duty for the government to supply the minimum material conditions for its widest possible realization. The Constitutional Court has finally understood that the recognition of social and economical rights implies surpassing its “programmatic” conception, perfecting the social mandates of the Constitution, as well as the obligation of the Government, in which it imposes itself specific objectives to guarantee the validity of social rights23. This new vision of social rights allows recognizing, in its essential contents, principles as solidarity and the respect to a person’s dignity, which, in turn, constitute the fundamental pillars of the Social State based on the Rule of Law. Quite so, in the opinion of the High Court: “(.  .  .) the fundamental right to a pension has a tight relation with the right to a life in accordance with the principle-right of dignity, meaning, with the vital transcendence of a substantial dimension of life, before a merely existential or formal dimension, those pretenses are a part of their essential content be means of which it is sought to preserve the concrete right to a “vital minimum”, that is, to that Indispensable and irreplaceable portion of income to attend the basic essentials needs and in that way enable a person and his family a worthy subsistence; without an adequate minimum income it is not possible to assume the most elementary expenses (.  .  .) in such a form that its absence attempts in a serious and direct way the human dignity (.  .  .)”24.

That way, the protection is made judicially demandable, by means of Amparo, a constitutional process of urgent tutelage of the fundamental rights, demanding the protection of the essential content to the pension, that is free access to a pension system and to a pension, to the no arbitrary privation of them and to a minimum vital amount of retirement pension; the other aspects of a nonessential content, as leveling or the additional content of the pension of widowhood or orphanhood are matters initially of protection through administrative legal action, competence of the Judicial Power25.   Sentence of the Constitutional Court File N.° 0011–2002-AI/TC (Paragraphs 9 y ss.).  Gonzales Moreno, Beatriz. El Estado social. Naturaleza jurídica y estructura de los derechos sociales. Madrid: Civitas, 2002. p.  153. 24   Sentence of the Constitutional Court. File N.° 1417-2005-AA/TC (Paragraphs 37.c.). 25   Sentence of the Constitutional Court. File N.° 1417-2005-AA/TC. (Paragraph 37). 22

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Also, a worker arbitrarily fired through an Amparo (remedy’s constitutional right protection) will be able to demand his replacement in his job, meaning when a wrongful, without cause or fraudulent dismissal has been carried out26, provided that there are no controversial facts that require probatory terms, because the process of Amparo does not have the probatory stage; Otherwise, demands will have to be processed in the ordinary labor process, if be it controversies on labor matter of private character; or, through administrative lawsuit, if it is about controversies on labor matter of public character27. In conclusion if all fundamental rights are based on human dignity regardless of its diverse nature, they can become judicially enforce immediately or mediately in relation to their content. In this scenario, the judge’s work converts itself vitally important to guarantee the complete validity of the social rights recognized by the Constitution. Because of this it is pertinent to mention that the Constitutional Court has established definite criteria on the judicial tutelage in payment of pensions and labor matters, with the purpose of delimiting the issue that can be validly demanded Constitutionally and that, which on the contrary, that subject has to be demanded through ordinary court action, due to the residual character of the constitutional process of Amparo. Without detriment of, the verdicts of the ordinary and constitutional justice that demand prima facie forecasts of the public budget to attend social demands protected judicially raise the question of lateness or the budgetary non-fulfillment by the Government and, in consequence, of the non-fulfillment of the sentences in a Democratic and Social State of Law.

4.  The budgetary progressiveness of social rights A main theme about the difficulties of fulfillment of the so-called social rights, as the economic and cultural is that being demandable obligations to the Sovereign Power, one demands in principle, not only a legal norm that develops it, but also a budgetary provision that completes the efficacy of a subjective right when it causes public expense. But, it is not the case of all these rights, because the right to a pension of the private system fund of pensions are not services of the State, but pensions of public entities; In any of the two suppositions, the Government has the obligation to respect, to protect, to insure, to promote and to repair them economically when it corresponds.

  In accordance with the same sentence, when the wrongful dismissal is originated because of sex, race, religion, opinion, language or of any other nature, they will be defended through the procedure of amparo action, when a worker is fired because of pregnancy, when the worker has the condition of physically or mentally disable. On the other hand, the fraudulent dismissal is configure when the worker is imputed with inexistent facts, falsehood or is imputed an imaginary fault, or legally inexistent. Finally, the dismissals which are prosecuted are those in which there is no cause whatsoever. (Sentence of the Constitutional Court File N° 0206-2005-AA/TC. Paragraphs 7, 8 y 15). 27   Sentence of the Constitutional Court. File N.° 0206-2005-AA/TC (Paragraph 36). Arce, Elmer. La nulidad del despido lesivo de los derechos constitucionales. Lima: PUCP – Fondo Editorial, 1999, pp.  337. 26

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Thus, for example, in relation with the right to access a retirement pension, the State has the obligation to safeguard and to respect it, as making the employer respect it by means of the inspections that are arranged by the Superintendence of Banks, Insurances and Private Administrators of Fund Pensions. This is not a burden on the public budget, insofar as the State is the guarantor of the general interest and of compliance with laws. Now then, because of the Democratic and Social State of Law model, pension rights of clear economical benefit nature exist based on the funds and public reserves of social-security, where the public-sector workers have kept on contributing a percentage of their monthly salary, in order to count at the end of their labor life with a retribution that covers up their vital needs. The issue or problem of this system constitutes the payable pension amount, because up to the year 2004 it was recognized that the pensioners of the state of Decree-Law N 20530 regime, were enjoying a pension identical 100% to the salary of the position in which they stopped working, with the increments received – mirror effect –. The aforementioned system had two fundamental problems: One, the quantity contributed by each worker in its labor life did not cover the pension amount received as a retired person, so the fund of the national system of pensions being of jointly nature, maintained the payment of 100% at the expense of the public deficit. Two, of the universe of pensioners -around 300 thousand- an irrational distribution of pension resources with amounts from 60 dollars for the majority of pensioners and of 10 thousand dollars monthly for a few, according to the position occupied in their last year of labor. Law N° 28390 (27-11-2004) reformed the Constitution precisely to close the pension system of Decree Law N° 20530 and eliminate the “mirror effect”, also in order to incorporate the theory of the maxim of precedent decisions (tempus regis actum) to the legal norm in use at the moment of the request of pension to apply to the future pensioners and not the law of pensions with which initiated his/hers services with the State. From this constitutional reform and the expedition of the Law N° 28449, a status of pensions in function to the right of a minimum and a maximum pension, that in function to a percentage of an index of reference – Applicable Tax Unit-, would oscillate between 160 and 2,400 dollars28. Furthermore, the law has foreseen that the progressive increment of inferior pensions up to a minimum of 160 dollars will be carried with the reduction of the higher pensions up to the limit of 2,400 dollars, in a period of eight years. In this way it has been tried to give fulfillment to the eleventh Final and Transitory Provision of the Constitution that indicates: “The dispositions of the Constitution that demand new or higher public expenses are applicable progressively”. Certainly, the fundamental right to a pension for public employees of the DecreeLaw N° 20530 has allowed to reduce the fiscal deficit uniting it and making more efficient and solidarity the pension right; but, there are other collateral needs proper of the right to social security that demands public expenses for its defense or fulfill28   García Granara, Fernando. “Los topes pensionarios en el régimen de pensiones del Estado”. In Estudios sobre la jurisprudencia constitucional en materia laboral y previsional. Lima: Academia de la Magistratura – Sociedad peruana de Derecho del Trabajo y de la Seguridad Social, 2004, pp.  217–235.

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ment, like the render of public health services, the establishment of the physical and social infrastructure for those of the third age, the provision of shelters and programs of low-cost housing. All of this requires public expenses, from tributes and other income that the government collects to comply with programs of social and public interest (Articles 44, 58 of the Constitution). It can be pointed out that the progressiveness of the social rights entails, then, one concrete but flexible government obligation of improving the conditions of full enjoyment and exercise of the rights to social security. In this sense, the Committee on Economic Social and Cultural Rights UN has specified that the progressiveness “should not be misinterpreted in the sense of depriving the obligation of all significant content. It is about a necessarily flexible mechanism on one hand that reflects the realities of the real world and the difficulties that presents for all the country guaranteeing the complete realization of economic, social and cultural rights”29. As a result also it is impose the principle of prohibition of its regressively in the sense that the Government forces itself to improve the situation of these rights and simultaneously assumes prima facie the prohibition of decreasing the protective sphere of the rights in force or of annulling the existing rights30. Thus, it has corresponded to the Constitutional Court to pronounce itself on the budgetary demandability of the social rights. At a opportunity, the Court specified that the Constitution of 1993 configures the peruvian regimen as a Democratic and Social Rule of Law, which demands, on one hand, the existence of minimal material conditions to attain its budgets; and on the other hand, the state identification with its intentions of social content 31. Precisely, that vital minimum seeks to guarantee equal opportunities in all the social levels; in the same way, supposes to eliminate those discriminatory and violating situations of the human dignity32. Because of it, saying about the Court, the achievement of these material minimal conditions of existence should motivate the intervention of Government and society in a united way for the attainment of this goal. It is there also where the enforcement of social and economical becomes imperative, insofar as they represent the social purposes of the Government through which the individual can achieve its complete self-determination and realization. Nevertheless – the Court says –, “when one talks of demands, we are referring to the right to require that the Government adopts the adequate measures for the achievement of social goals, because not in all cases, social rights are, by themselves, juridically punishable, when being necessary the budgetary support for their execution”33. 29   Opinión General N° 3 (1990) “La índole de las obligaciones de los Estados Partes”, paragraph 9 of Article 2 of the Pact. Elaborated in the 5th Period of sessions, 14/1290. 30  Abramovich, Víctor y Courtis Christian. Los derechos sociales como derechos exigibles .  .  ., op. cit., p.  94. 31   Sentence of the Constitutional Court. File. N° 008-2003-AI/TC (Paragraph 12). 32   Landa, César. “Dignidad de la persona humana”. In Cuestiones Constitucionales, Mexican Magazine of Constitutional Rights, N.° 7, julio-diciembre, 2002. pp.  110 y ss. 33   Sentence of the Constitutional Court. File N° 2945-2003-AA/TC (Paragraphs 8 y ss.). On August 13, 2002, a person lodged a demand of an Amparo against the peruvian government, requesting that he be granted integral medical attention in his condition of a patient with HIV/AIDS, consisting on the constant provision of the necessary medicines for the treatment of HIV/AIDS and the realization of periodicals medical exams, also the CD4 tests and viral charge. The State solicitor answered the de-

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The previous does not mean, that we are in front of mere programmatic norms of mediate efficiency – as traditionally has been pointed to tell them apart from the named fundamental rights of immediate efficiency, as the civil and political norms –, because its minimal satisfaction justly represents an indispensable guarantee also for the enjoyment of economical and social rights34. In this way, without social security, as the right to work, to education, to health and in general to live in dignity, one could badly talk of freedom and social equality. Which demands that the legislator as much as the administration of justice should extend their recognition and protection of them in a joint and interdependent form. Even though it is true that the effectiveness of social rights in charge of the State requires a minimum of government acts through the establishment of public services, as well as society by means of contribution by taxes, since every social policy requires a budgetary execution, also these derive in specific obligations to be comply, because of which the government should adopt constant and efficient measures to achieve the complete progressive effectiveness of the them on equal conditions for all of the population, in accordance with the eleventh Article of Final Transitory Provision of the Constitution. Of which, the constitutional justice also is responsible and not only Congress or Public Administration. In consequence, the generation of a public expenditure derived from a constitutional sentence, should be a consequence of a meditated pondering of the concern constitutional values, and never of any voluntarism opinion. Under such consideration, performed the said rational pondering by the Constitutional Court, the application of the economic cost necessary for the due protection of a fundamental social right ordered by a constitutional sentence, is not a subject that becomes freed to the discretionary of the public powers, but has become an authentic constitutional obligation. Therefore, once well understood, “[l] the financial consequences of constitutional decisions would not be determined by the [Constitutional Court], they would emanate from the Constitution, to which all, included the legislator, find themselves subordinated. (.  .  .) if the expenses are not discretionary, because they are imposed by the Constitution (according to the interpretation done by the “Constitutional Court”), the expenditure is made an obligation. Therefore, once it is established that

mand and required it be declare inadmissible, adducing that a violation or a specific threat of any right has been proved; also indicated that that the rights established in Article 1) subsection 1) and Article 2), of the Constitution, in relation with the respect of human dignity, as to life and physical integrity, constitute fundamental rights of obligatory observance, this doesn’t imply an obligation by the government grant sanitary attention nor facilitate free medicaments to the demander nor any other person. The Constitutional Court protected the demand, précising that though social rights do not represent specific benefits by themselves, because they depend on the availabilities with which the State counts, his does not justify the State inaction, because this will mean a constitutional omission. In such sense, ordered that the plaintiff be considered within the group of patients that receive integral HIV/AIDS treatment by the Ministry of Health, which includes the provision of medicines and the corresponding free analysis. 34   Witker, Jorge. “Derechos económicos y sociales en el Area de Libre Comercio de las Américas”. En Kurczyn Villalobos, Patricia y Puig Hernández, Carlos (coordinadores). Estudios jurídicos en honor al doctor Néstor de Buen Lozano. México D. F.: UNAM, 2003. p.  825.

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the expense is constitutionally binding, the legislator cannot contrast the decision [of the Court] on behalf of the proper discretional politic” (Paragraph 23)35. In the manner that the social rights should be interpret as true fundamental rights of the citizen in front of the State within a vision that seeks to revalue the juridical efficiency of the constitutional mandates and, as a consequence, the normative force of the whole Constitution. Task that has become outlined with previous Constitutional Court decisions on matters of rights to social security, which are presented next.

III.  The rights to social security in the constitutional jurisprudence The protection of rights to social security is a matter that the Constitutional Court has been supposed to develop in each provisional case, as supreme interpreter of the Constitution and defender of the rights consecrated in the Fundamental Law. However, it has also developed and specified its limits, because of which it is pertinent to give an account of the jurisprudential development that the rights to social security has had in Peru, through the sentences of the High Court.

1.  Fundamental right to a pension Perhaps one of the most relevant sentences of the Constitutional Court on the subject of social rights is the one in which it pronounced itself on the reform of the system of pensions of the retired persons of the Decree-Law N° 2053036. This sentence is especially relevant not only because it came to settle a transcendent issue – concretely on the right to the pension – but also because it prevented that the socialsecurity national system collapse. As a consequence of the denaturalization of the Regime of Pensions and Compensations for Services Rendered to the State of the Decree-Law N° 20530 -one of the two main regimes of social security in charge of the State-, that caused a serious crisis of the system of pensions in Peru, in front of the impossibility of the Government to cover its amount and due to the significant increase of workers that had joined the said regime. However, the most serious was determined by the fact that, inside the said regime existed an unreasonable and disproportional differentiation between those that perceived very high pensions with those that perceived the lowest amount 37. Besides, there was an unexcused and arbitrary difference relating to other regimes of pensions because, unlike these, the pensions of those who were in the regimen regulated by the Decree-Law N° 20530, they homologated their pensions with the salaries of the active workers, which didn’t apply in any other pension regime.

  Sentence of the Constitutional Court. File N° 00014-2007-AI/TC.   Sentence of the Constitutional Court. File N° 0050-2004-AI/TC. 37   In some cases maximum pensions reach a sum equivalent to $ 8,500 dollars; while in other cases the minimum pensions reach only $ 30 dollars. 35

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This influence so that the Congress of the Republic, in the year 2004, to set off the constitutional amending act of the system of pensions, which definitely shut down the pension regime of Decree-Law N° 20530. This law was at a later time challenged in its constitutionality, causing a pronouncement by the Constitutional Court. With regard to this matter, it is pertinent to point out that one of the most relevant interrogations that was proposed was that the reform affected the beginning of progressiveness of the social rights, when prohibiting the right of “leveling” of the pensions with the remunerations of the active workers, eliminating the right of readjustment of the pensions, subordinating them to the decisions and economical possibilities of the Government 38. This questioning, in turn, was suppoted by The Inter-American Court’s sentence of Human Rights in case Five Pensioners vs. Peru39. In consequence, the Constitutional Court should have pronounced itself essentially on the following: a) the constitutional reform of the pension regime of DecreeLaw N 20530 constituted a violation of the right to a pension and, as a consequence, to the right of property?, and b) the right to a pension was a liable right to be limited and, if so, what were those limits?. In order to answer these questions, the Constitutional Court specified the essential contents of the right to a pension, (Article 11 of the Constitution). With regard to this matter, a first point to highlight is that the Court, regardless that the right to a pension is establish in the Chapter referred to economical and social rights, it recognized its character of fundamental apart from its position in the constitutional text. In that sense, it determined, based on the principal of proportionality, its essential contents, which was constituted by (a) the right to access a pension, (b) the right to not arbitrarily deprive of it and (c) the right to a minimum vital pension. But also it specified, on one hand, its accidental contents, determined by the pension readjustment and by a maximum limit pension; and, on the other hand, its additional contents configured by the right to a pension for the ascendants for widowhood and to a pension for orphanhood. The Court considered, also, that even though the right to a pension is a vested interest, in accordance with Article 21 of the American Convention of Human Rights, Governments can put limitations on the enjoyment of the proprietary right by reason of social interest or public utility. In the case of the patrimonial effects of the pensions (amount of the pensions), Governments can reduce them only through adequate legal forms and for the motives already indicated40. In consequence, even 38   These pensions were within the system of Decree-Law N 20530, denominated “life cell” (cédula viva); in virtue of which they received from the State a dismissal leveling pension, progressively, in accordance with the salaries of government employees in activity of the respective categories. 39   This case is relevant, because the Court, in that opportunity, recognized pensions as a sphere of the rights of private property. With which the doctrine on human rights was broaden, which was centered in reestablishing the classical civil and political rights. In relation with this see: American Court of Human Rights. Caso Cinco Pensionistas vs. Perú. Sentence of February, 28th, 2003. In: http://www. corteidh.or.cr/. 40   This Court’s position was also sustain by Article 5° of the Additional Protocol to the American Convention in matters of Economical, Social and Cultural Rights which only permits the States to establish limitations and restrictions to the enjoyment and exercise of economical, social and cultural rights, “by means of laws enacted with the object to preserve the general welfare of a democratic society, as far as it does not contradict their reason and purpose”. In all or in any circumstance, if the restric-

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though the pension enters the protective sphere of the right to private property, this could be affected; but provided that the limitations are compatible with the goal of the pensionary right. In the specific case, of the constitutional reform of the regime of the Decree-Law N° 20530, not only were in between the rights of the aforementioned pensioners, but there was the risk of an inevitable economical collapse of the whole national system of social security. For which the constitutional change of the general legal system of the vested rights was made and in particular of the pension regimes, with which the mentioned pension regime was closed. Altogether the Court considered that juridically the constitutional reform carried out by Congress did not violate the right to the plaintiffs pension. With which, the social interest and the public utility, under a criteria of proportionality and reasonability constituted limits to the right to a pension. In addition, the Court indicated that superior values as justice, equality and solidarity, equally constituted limits to the right to a pension. And the fact is that the system of pensions in Decree-Law N° 20530, had allowed broadening, without reason, the differences between the amounts of pensions of this regime, converting each pensioner “on basis of the rule of commutative justice, in a cell insulated of the system and dependent upon an external condition, very advantageous for him, but inequitable for the rest: the remuneration of the active worker in the position in which the pensioner ceased”.41 This judicial decision of the Constitutional Court was impeached by a group of pensioners before the Inter-American Commission on Human Rights, whom after analyzing the arguments of the parties rejected its admission, in reason that the constitutional and legal reform of the pension system of Decree-Law N° 20530 was compatible with the American Convention of the Human Rights. This insofar as it complied with the conventional standards of General Observation 3 Article 11 (2) of the International Pact of Economic, Social and Cultural Rights, in which it is stipulated that: “(.  .  .) all the measures of retroactive character in this aspect will require the most careful consideration and should be justified completely by reference to all of the rights foreseen in the Pact and in the context of complete use of the maximum of resources available(.  .  .)”.

The mentioned observation constituted the interpretative frame of the InterAmerican Commission to apply the test of the reasonability, meaning that the restriction a) was established through law; b) was due to a legitimate goal, as the social interest or preserving the general well-being; c) was proportional to obtain the said goal and that in any case it did not sacrifice the essential contents of the fundamental right to a pension42. tion or limitation affects the right to property, this should be done, also in accordance with the parameters establish in article 21° of the American Convention (in relation with this see case Cinco Pensionistas vs. Perú. Sentence of the American Court of Human Rights, dated February 28th, 2003. Paragraph 116. 41   Sentence of Constitutional Court File N° 0050-2004-AI/TC (Paragraph 64). 42   Inter-American Commission of Human Rights. Report No.  38/09. Case 12,670. Admisibilidad y fondo. Asociación Nacional de ex servidores del Instituto Peruano de Seguridad Social y otra vs. Peru. March 27th, 2009.

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Finally, it is clear that to correct the differences in the payment of pensions and to pave the way to objective and proportional equality is an obligation of the Democratic and Social State of Law (Article 2–2 and Article 44 of the Constitution). Therefore the measures of positive equalization undertaken by the Government are constitutionally legitimate, since they promote the material equality between individuals43.

2.  Life pension for occupational disease An important sentence emitted by the Constitutional Court, this time in the matter of payments of pensions, was pronounce because of the interposition of a demand of an Amparo lodged by the insurance company “Rímac Internacional Compañía de Seguros y Reaseguros” against the Constitutional and Social Rights Division of the Supreme Court, requesting that a previous procedure of Amparo initiated by Mr. Ysidro Altamirano Puppi in which his demand was declared founded ordering that a life pension in accordance to Law N° 26790 be granted should be annul with its complementary norms44, because they were supporting that the controversy should be solved in a conciliatory process, and be it case in an arbitrational process before the Superintendency of Health Care Providers (Superintendencia de Entidades Prestadoras de Salud). With the purpose of solving this case, the Constitutional Court took into account the normative frame of arbitration and in addition to it the conditions of the activity of the mining workers, as well as the working conditions and occupational health of the said activity, after having ceased to work. This way, it managed to determine that, in the specific case, the life pension for occupational disease which corresponded to Ysidro Altamirano Puppi was correct, and that the defendants rejected the arbitral exception using as grounds what was indicated by the Constitutional Court in the STC 3746-2004-AA-CT: “As to the exception of arbitration put forward by the subpoenaed, this Collegiate considers that, being this about a right of unavailable nature as the right to health, this should be rejected, in accordance with Article 1 of the General Arbitrational Law, Law N° 26752, given that it invokes the infringement of an organic law of which the plaintiff ’s subsistence depends on, right that is protected by the Political Constitution of the Peru and is interpreted by virtue of Article V of the Preliminary Title of the Constitutional Procedure Code. Therefore it is necessary to analyze the bottom of the controversy in attention to Article II of the Preliminary Title of the same normative body, where it is establish as one of the goals of the constitutional procedures the effective validity of constitutional rights”. 43   In terms of distributive justice, the Collegiate has indicated the following: “(.  .  .) it cannot be denied that it is also an obligation of the Democratic and Social State of Law to promote in the social associations equality between its members. The Constitution not only recognize equality in a formal way, but also material; because of which the constitutional reform parts from recognizing that material equality is identify with pensionary matters; meaning, with a joust distribution of material and social resources above all, with the possibility to count with the same opportunities to obtain them”. (Sentence of the Constitutional Court. File N° 0050–2004-AI/TC (Paragraph 64). 44   Sentence of the Constitutional Court. File N° 00061-2008-PA/TC.

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The Constitutional Court considered, in accordance with Article VII of the Preliminary Title of the Constitutional Code Of Procedure, to reiterate and outline obligatory observance criteria in relation to the arbitration established in the normative of the Supplemental Security Work Risk (Seguro Complementario de Trabajo de Riesgo – SCTR), because that decision should have focused on determining if the arbitration established in Article 9° Of Supreme Decree N° 003-98-SA constituted the jurisdiction predetermined by law, in order to discuss pretenses referred to the granting of a disability benefit by accident at work or occupational disease according to law N° 26970 and its complementary and connected norms. It supported that the regulation of arbitration established in Article 9° of Supreme Decree N° 003-98-SA was unconstitutional because of the binding precedent with normative effects of STCs 6612-2005 BP and 10087-2005 BP; for considering that when regulating a compulsory arbitration it infringes the principle of autonomy of will and the right to an effective judicial tutelage, in its angle of access to justice and to a natural judge. It was also determined that the Article 9° of Supreme Decree N° 003-98-SA establishes a compulsory arbitration for the pensioners and beneficiaries of the Supplemental Security Work Risk, eliminating their possibility of being able to access the jurisdictional organs to request the granting of a disability benefit according to law N° 26790 and to its complementary and connected norms. As a result this Constitutional Court in the legal ground 10 of the STC N. 6167-2005-PHC/CT had established that arbitration cannot be interpreted as a mechanism that displaces the Judicial Power, neither as its substitute, but as an alternative that complements the judicial system at the service of society for the pacific solution of the controversies. Also, the Court evidenced than in the specific case what the insurance firm wanted was not to pay the life pension and revert the sentence granted by the judicial instance; with which this constituted a violation to the right to health of the affected, even more if one takes into account that the said gallery mine workers carried out a dangerous work, which is why they required special protection. In consequence, this sentence established as a rule with normative affects that: “Binding precedent 1: The arbitration established in the Article 9° of Supreme Decree N° 003-98-SA, Substantial rule: when in an Amparo Action procedure a demand for a disability pension is lodged according to law 26790 and Supreme Decree 003-98-SA, and the subpoenaed proposes an arbitral exception or arbitrational agreement having as grounds Article 9° Of the Supreme Decree N. 003-98 S. A., the Judge should reject, under responsibility, the referred exception, because the granting pretence of a disability pension forms part of the contents constitutionally protected by the right to a pension, which has the character of unavailable, and because the disability pension of the SCTR has the purpose to tutelage the right to health of the insured which has been affected by an accident at work or an occupational disease, which also has the character of unavailable for the parties.45 Binding precedent 2: The arbitration established in Article 25° Of Supreme Decree N° 003-98-SA.

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  Sentence of the Constitutional Court. File N° 00061-2008-AA/TC (Paragraph 12).

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Substantial rule: the voluntary arbitration to be constitutional, upon the moment of the installation of the arbitrational organ the arbiter or arbiters will have to put on record that they informed: 1. The advantages that offers the arbitration of the Center of Conciliation and Arbitration of the Superintendency of Health Care Providers. 2. That for the resolution of their controversy the jurisprudence and the binding precedents established by the Constitutional Court will be applied. 3. That the insured party or the beneficiary, if he prefers it, can renounce arbitration and prefer its natural judge, that it is the Judicial Power. 4. That against the arbitrational award there are the resources established by the General Arbitrational Law.

Voluntary arbitration will be unconstitutional if it is initiated by the private insurer and the insured party or the beneficiary does not wish to submit to it”46. Finally, this Constitutional Court considers opportune to establish as binding precedent since the initiation of the contingency in the SCTR. “Substantial rule: As to the date on which the right is generated, this Court estimates that the contingency should establish itself from the date of the dictate or medical certificate emitted by a Medical Commission of Health Social Security of Peru (EsSalud), or from the Health Ministry or from a Health Care Providers (EPS), that credits the existence of an occupational disease, since the benefit derives exactly from the sickness that afflicts the plaintiff, and it is from the said date that the life pension should be paid of the Decree-Law N° 18846 or disability pension of Law N° 26790 and its complementary and connected norms.”47

3.  Right to free disaffiliation from the private pension system In another occasion the Constitutional Court emitted a pronouncement about the constitutional validity of the return of the Private System of Pensions (PSP) to the National System of Pensions (NSP)48, on purpose to a request a process of Amparo lodged by Mr. Víctor Augusto Morales Medina against the Administrator of Pension   Sentence of the Constitutional Court. File N° 00061-2008-AA/TC (Paragraph 15).   Sentence of the Constitutional Court File N° 00061-2008-AA/TC (Paragraph 18). 48   In relation with the differences between both systems the Constitutional Court has indicated the following: “In Article 30° of the PSP Law it is foreseen that, aside from the properly said pension expenditure, a percentage of the insured remuneration should be paid for disability and survival benefits and another to finance funeral services, as the amount charged by the AFP. In respect to the sum that the worker should pay by concept of the pension, according to the sole Article of Law N 28445 this has been 8% of the insurable remuneration. In front of this, in the NSP, e.g. in Decree-Law N°20530, as developed by Article 7, the pensionable remunerations were affected by a differential discount in dependence of the income (up to S/. 10,000, 8%; by excess of S/. 10,000 up to S/. 20,000 12%; and by excess of S/.20,000 15%. What’s more, in accordance with Article 1° of Law 28047, at the moment declared unconstitutional (File N° 0030–2004-AI/TC), this parameter was pretended to be changed, and standardize the payment in 13%, amount which was modify in 2006 (20%) and later in 2009 (27%). Because of this it is perhaps more simple the transfer from SNP to SPP, because en this case, the worker does not need to contribute more to that which has already given, on the contrary, the contributions made have been superlative, although there enters the recognition bond, if its acceptance is possible. The problem arises, when the opposite case is submitted to discussion (.  .  .)” (STC. File N° 17762004’AA/TC, Paragraph 34). 46 47

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Funds (Administradora de Fondos de Pensiones-AFP) and the Superintendency of Banking and Insurance (Superintendencia de Banca y Seguros-SBS). With regard to this matter, it is important to point out that even though this problems already had been put forward before the Constitutional Court in previous opportunities, due, principally, to the mass affiliations to the pension funds-AFP in the last decade, it was not until the emission the sentence handed down on File N. 17762004-AA/TC, that the aforementioned Collegiate considered necessary – before the social conflict that this issue was generating – specifying the content of Article 11 of the Constitution, that consecrates free access to the payments of pensions. It is that way that, attending to the fact that the Private System of Pensions is driven by private corporations that do not appeal the constitutional principle of solidarity but to individualism and concur on the market in an asymmetric competitive relation, the Constitutional Court exposed the vital importance of the constitutionally protected right to a pension, by the private agents. Also, the Court emphasized that even though the pension funds-AFP have assumed responsibilities in the payment of pensions demanded constitutionally, this does not exempt the State of supervising the access to said benefit; in the way that both are equally obligated to observe conducts of respect, fulfillment and protection in favor of the pensioners. However, the right to free access to social benefits of the payment of pensions is not an unrestricted or unlimited right, because it demands that the individual satisfy conditions legally established for such effect; That way “(.  .  .) not every citizen has effective access to the systems of pensions, but only those that have the condition of workers and as such, observe the requirements of each system. What the Constitution guarantees is that those that comply with the requirements and conditions establish by law, not refuse them access to the pension system that they elect.”49 Therefore, that the Constitutional Court had estimated that not existing absolute fundamental rights, it does not result reasonable to admit an unconditional return and without expression of cause of the Private System of Pensions (PSP) to the National System of Pensions (NSP). On the contrary, the said return will justify itself only in those cases in which they configure the following budgets: first, that the person fulfills the requirements required to access a pension secondly, that there has not been information in order to the affiliation takes place; and third, when the work that represents a risk to life or to health is protected 50. Such suppositions found themselves established in the infra-constitutional legislation that regulated the matter. Also, the Constitutional Court specified that in all those cases in which a favourable ruling on the matter was emitted, this would not have for effect the plaintiff ’s automatic disaffiliation, but the initiation of the formality of disaffiliation before the corresponding pension funds-AFP and the Superintendency of Banking and Insurance-SBS would be ordered. After the emission of this sentence, the Congress of the Republic emitted Law N° 28991, the same one that was published in the official newspaper The Peruano on March 27th, 2007. However, this law only contemplated two of the three causes recognized in the sentence 1774-2004-AA-CT for the return of the Private System of   Sentence of the Constitutional Court. File N° 1776-2004-AA/TC (Paragraph 17).   Sentence of the Constitutional Court. File N° 1776-2004-AA/TC (Paragraphs 35–46).

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Pensions to the National System of Pensions, omitting that one that made reference to the absence of information or to the insufficiency of the same at the moment of coming into effect the affiliation. Also, this law incorporated a new cause, referred to those persons that would had joined National System of Pensions up to December 31st, 1995, and, at the moment to come into effect such disaffiliation corresponded to them a retirement pension, regardless of her age. Before a new demand of Amparo procedure and once this legislative modification was accomplished the Constitutional Court considered necessary to emit a new pronouncement on the matter51, discussing, in the first place, the cause omitted by the legislator. In effect, the aforementioned Collegiate estimated to integrate that the cause referred to the fault or the insufficiency of information as a budget for the disaffiliation was inferred directly from articles 10, 11 and 65 of the Constitution52, so even though the said cause had not been recorded specifically in the text of the law, this did not mean that, in anyway, that its fulfillment had become null; because this would suppose not to recognize the principle of juridical supremacy of the Constitution (Article 51 of the Constitution) and the direct efficacy – vertical and horizontal – of the fundamental rights. This way, the Constitutional Court, by virtue of Article 201 of the Constitution and Article VII of the Preliminary Title of the Constitutional Code of Procedure integrates a binding precedent referred to the lack or insufficiency of information as cause of disaffiliation in the following sense: “The Constitutional Court ruled that the State protects the users before the lack of information or its insufficiency (Article 65 of the Constitution); because of which it constitutes a legitimate juridical supposition in order to initiate the procedures of disaffiliation of a certain pension funds-AFP. In consequence, the demands in process, before the Judicial Power or this Collegiate, will have to be remitted to the corresponding administrative authority, so that the procedure of disaffiliation may start”53.

In the same way, now in relation to the procedure to follow when this cause of disaffiliation appears, the Constitutional Court indicated – also as binding precedent – the following: “(.  .  .) the procedure to be used in the petition of the disaffiliation should be the one that the Bylaws of the Law N° 28991 determine; while it happens, it will be of supplementary application the procedure established in Article 52 of Resolution N° 080-98-EF-SAFP, taking into account what has been indicated by this Collegiate in fundaments 32 to 36 of the present sentence”54.   Sentence of the Constitutional Court. File N° 7281-2006-AA/TC.   Article 10° of the Constitution: “[e]l The State recognizes the universal and progressive right of every person to social security, for its protection in front of the contingencies establish by law and for the increment of the quality of life”. Article 11° of the Constitution: “[e]l The State guarantees free Access to health and pension benefits, through public entities, private or mixed. Also supervises its efficient functioning”. Article 65° of the Constitution: “[e]l The State defends the consumers and users interests. For such effect it guarantees the right to information in relation with goods and services at their disposition in the market (.  .  .)”. 53   Sentence of the Constitutional Court. File N° 7281-2006-AA/TC (Paragraph 27). 54   Sentence of the Constitutional Court. File N° 7281-2006-AA/TC (Paragraph 37). 51

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In this way, before a legislative omission of the legislator, the Constitutional Court established a new precedent in matter of payment of pensions, the same that should be observed not only by the constitutional judges, but also for all the powers of the State, the constitutional organs and administrative or private entities, insofar as the said precedent constitutes a concretization of Articles 10, 11 and 65 of the same constitutional text. However of this rule, Law N° 28991, Law on Informed Free Disaffiliation, Minimum Pensions and Supplementary and Special Early Retirement Scheme (Ley de Libre Desafiliación Informada, Pensión Mínima y Complementarias y Régimen Especial de Jubilación Anticipada) was demanded as unconstitutionality by over thirty congressman, who put forward, within other arguments, for violating the equality of some affiliates before others, because it excluded on the basis of an arbitrary date, December 31st, 1995 – the valid return to the Public System of Pensions, established in the STC N 1776-2004-AA-CT, because of an undue information that could have been victim the worker at the moment of becoming affiliated to Pensioners’ Private System of Pensions and; of the proprietary right because the law established that the worker that decided to return the Public System of Pensions, did it with his Individual Capitalization account and his profitability, forgetting to indicate the return of part of the commissions gained, with which there would be an illicit enrichment in favor of the pension funds-AFP. The Court resolved that the return of the paid commissions should be a right of all the workers that return to the Public System. It stipulated that the contributors, in accordance with Articles 1 and 2 of the initiated law, had the possibility of disaffiliating from the Private System of Pensions and return to the Public System of Pensions: a) to those who had affiliated to the Public System of Pensions up to December 31st, 1995 and that at the moment of disaffiliating from the Private System of Pensions corresponds a retirement pension in the Public System of Pensions, regardless of their age (Article 1); And, b) those who at the moment of affiliating to the Private System of Pensions, had comply with the requirements to obtain a retirement pension in the Public System of Pensions (Article 2). As can be observe, as much in one as in another supposition, a necessary condition to disaffiliate from the Private System of Pensions was to have complied with the years of contribution demanded in the Public System of Pensions to obtain a retirement or unemployment pension. In other words, the supposition of fact proposed by the petitioners as term of comparison, was the case of the persons that fulfilled the requirements to obtain a retirement pension, while in the case that pretended that it be judged as a supposition of discriminatory treatment compared with that one, was the one with persons that did not fulfill such requirements, in spite of having been subject to an undue information. In the opinion of the Constitutional Court, the difference in which they the two suppositions were in fact (in a case they comply with the number of years of contribution to obtain a retirement payment in the Public System of Pensions, while in the other they don’t), was sufficiently relevant to conclude that the first case was not sufficiently a valid term of comparison in relation with the second case. As to the proprietary right, even though the judgment would create a certain additional margin of public expense; at least, three reasons existed of fundamental rel-

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evance which the Court found merit enough to endow immediate binding effect the present resolution. First, because the referred public expense was minimum and it was not immediately applicable, in the measure that, in accordance with what’s established by the Article 5 of the challenged law, each transfer from the Private System of Pensions to the Public System of Pensions involved transferring directly the balance of the respective Individual Accounts of Capitalization-CIC to the Insurance Standardization Office (Oficina de Normalización Previsional-ONP) directly, and, be it the case, the value of the Recognition Bond (Bono de Reconocimiento) or the Title of Recognition Bond (Bono de Reconocimiento). In other words, in the immediate period, once the transfer was produced, the payment of the pensions was done charged to these concepts and not to state resources. Secondly, because it was the legislator, and not the Court, the one that recognized that the State, charged to the Provisional Reserve Fund (Fondo de Reservas Provisionales), was in capacity to cover the costs of the minimum pensions, as much in the Public System of Pensions as in the Private System of Pensions. This, indeed, was not an obstacle to obligate the pension funds-AFP to contribute in the financing of the referred Fund.

IV. Conclusion After the entrance in force of the Constitution of 1993, it has not been but in the sphere of the constitutional justice where the rights to social security have obtained special protection, either before the legislator, to the state administration or to the individuals. It becomes more evident if it is taking into account that these rights have been object of an important development, principally, from the jurisprudence of the Constitutional Court, the same one that has specified his progressiveness, demandability and also its limits, like the exemplified in matter payment of pensions -the right to a pension, life pension for occupational disease and disaffiliation of the pension funds – AFPs –. In this way, in our constitutional organization, the bases to surpass that positivist and reliable conception according to which, the social rights are mere programmatic declarations, to conceive them as fundamental rights with juridical direct and immediate efficiency are settling. Without doubt, the contribution of the International Right of Human Rights constitutes a juridical catalyst of the constitutional decisions; but, he is not an easy task, because the difficulties of the implementation of the rights to social security as fundamental rights derive, as a last resort, of a political weakness that is also fruit of a theoretic weakness55. The same that, however, the Constitutional Court has kept on reverting from assuming its tutelary role of the fundamental rights, for which it has been necessary for it to occupy its subsidiary role as (re)creator of the fundamental rights that the Constitution consecrates.   Ferrajoli, Luigi. In the Proloque of the work of Abramovich, Víctor and Courtis Christian. Los derechos sociales como derechos exigibles. Madrid: Trotta, 2002. p.  9; Grandez Castro, Pedro (editor). El Derecho frente a la pobreza. Los desafíos éticos del constitucionalismo de los derechos. Lima: Palestra, 2011, pp.  307. 55

Die normative Ausgestaltung des brasilianischen Umweltrechtes und die Hauptprobleme seiner methodisch abgesicherten Anwendung Auf dem Weg zu einer produktiveren Dogmatik von

Andreas Krell, Maceió/Brasilien* I. Einführung Bei der akademischen Diskussion über „Umweltrecht in Brasilien“ tut sich früher oder später beinahe zwangsläufig die Frage auf, warum die die natürlichen Ressourcen schützende Gesetzgebung des Landes hochgradig unwirksam ist. Diese gehört sicherlich in vielen Punkten zu den modernsten der Welt, obwohl die brasilianische Regierung und Verwaltung im Ruf stehen, nur sehr wenig effektive Maßnahmen gegen die Abholzung der Wälder, die massive Gewässerverschmutzung oder die allgemein verbreiteten wilden Müllhalden zu treffen. Normalerweise weisen die Erklärungen für die mangelhafte Anwendung der zahlreichen von Bund, Ländern und Kommunen erlassenen Umweltnormen in den soziologischen und politischen Bereich, wobei die Szene beherrscht wird von Begriffen wie dem kulturell bedingten Vollzugsdefizit, der traditionellen Korruption des Staatsapparates, des beherrschenden Einflusses der ökonomischen auf die politischen Akteure, der das Gemeinwohl schädigenden Verquickung öffentlicher und privater Interessen oder der unzureichenden technischen Kapazitäten der zuständigen Behörden. Diese Phänomene sollen hier als weitgehend bekannt vorausgesetzt und nicht weiter vertieft werden. Der Ansatzpunkt dieser Abhandlung sind einige theoretische Überlegungen in Bezug auf die Interpretation der umweltschützenden Gesetze Brasiliens durch die *   Doctor Juris (FU Berlin – 1993); Professor für Umwelt- und Verfassungsrecht an der Rechtsfakultät der Bundesuniversität Alagoas (UFAL), Maceió (Brasilien); Dozent des Postgraduierten-Programms der Rechtsfakultät von Recife, Bundesuniv. Pernambuco (UFPE); Stipendiat des Nationalen Rates für Forschung und technologische Entwicklung (CNPq) des Bundesministeriums für Bildung und Kultur (MEC); nationaler Vertreter des Bereichs der rechtswissenschaftlichen Forschung im Beirat des CNPq (2010–13); e-mail: [email protected].

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Organe der öffentlichen Verwaltung und Rechtsprechung. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die mangelhafte gesetzliche Programmierung der hoheitlichen Entscheidungen gelegt werden, welche nicht nur durch die Formulierung der einschlägigen Vorschriften selbst bedingt wird, sondern deren negative Effekte erst aufgrund der noch unzureichenden dogmatischen Reflektion über das komplexe Zusammenspiel der eher subsumtiven Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und der Abwägung zwischen Prinzipien voll zum Tragen kommen. Wenig geklärt ist ebenfalls die Beziehung zwischen den rechtlichen bzw. den politischen Elementen, die den hermeneutischen Prozess im Bereich der diffusen Interessen bestimmen, zu denen nach hiesigem Verständnis auch der Umweltschutz gehört.

II.  Der „Umweltstaat“ europäischer Prägung: ein realisierbares Modell für Brasilien? Aus der europäischen Diskussion ist hinlänglich bekannt, dass längerfristig wirkende Umweltrisiken wie Atomenergie, Genforschung oder Klimawandel dazu geeignet sind, Zweifel an der Funktionsfähigkeit des repräsentativ-demokratischen Instrumentariums des Rechtsstaates auf kommen zu lassen. Wenn es dabei um Themen wie die Gefährdung der menschlichen Existenzgrundlagen, die Ungewissheit der Entscheidungsfolgen, die gerechte Verteilung der Nutzen und Lasten oder gar die Beendigung des Gebrauchs bestimmter Technologien geht, gilt es, überkommene institutionelle Strukturen fortzuentwickeln, um die Akzeptanz der zu treffenden Entscheidungen in der Bevölkerung zu erhöhen. Deswegen muss die Etablierung eines „ökologischen Verfassungsstaates“, die nicht nur symbolischen Charakter haben soll, mit der Schaffung ihm angemessener Institutionen einhergehen, welche geeignet sind, sein effektives Funktionieren sicherzustellen.1 Während in den Industriestaaten heutzutage die größte Herausforderung des Konstitutionalismus nicht mehr in der traditionellen sozialen Frage liegt, sondern im Bedürfnis der Bürger nach präventivem Schutz gegen die negativen Folgen des technischen Fortschritts (Risikovorsorge),2 stellt sich die Situation in Brasilien anders dar. Hier hat der Begriff Umweltstaat weder einen besonders schillernden, noch bedrohlichen Klang, sondern eher einen akademischen und wirklichkeitsfernen, da man nicht behaupten kann, dass der Staat den Umweltschutz zum „wesentlichen Ziel und Maßstab seiner Entscheidungen“3 gemacht habe oder dass gar ein „Paradigmenwechsel hin zum »vorsorgenden Rechtsstaat«“ stattgefunden hätte. Die Legitimation der Staatsgewalt hängt hierzulande aus verschiedenen sozio-kulturellen Gründen noch kaum davon ab, ob sie den in der Verfassung festgeschriebenen „Staatszweck Umweltschutz“ wirksam erfüllt oder nicht.4 Im Gegensatz zum europäischen Weg des modernen Verfassungsstaates, der, wenn auch nicht immer geradlinig, vom liberalen Rechtsstaat über den Industrie- und So  Rudolf Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, 336 f., 349.   Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: eds. J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, 2003, 28 f. 3   Michael Kloepfer, Umweltrecht, 1998, 131 f. 4   Christian Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, 30 f., 68, 99. 1 2

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zialstaat zum Umweltstaat geführt hat,5 fehlt fast allen lateinamerikanischen Ländern die politische und institutionelle Erfahrung eines einigermaßen effektiven Sozialstaates, was die Ausformung eines Umweltstaates erheblich behindert. So stellt sich schon die Frage, welche Art von Führungsanspruch der brasilianische Staat auf seinen verschiedenen föderativen Ebenen im relativ neuen Bereich des Umweltschutzes überhaupt beanspruchen kann, bleibt er doch seinen Bürgern auf Gebieten wie der Sozialfürsorge, Erziehung, Gesundheit und Sicherheit einfach noch zu vieles schuldig. Außerdem agieren die Umweltbehörden oft selbst jenseits der Rechtsmäßigkeit, besonders bei der Genehmigung von politisch wichtigen Projekten im Bereich der Infrastruktur (Staudämme, Häfen, Fernstraßen, etc.). Zweifellos zwingt die heutige Rechtsordnung des Landes die verschiedenen Regierungsebenen, bei der Durchführung ihrer Projekte stärker als zuvor auch die Belange der Umwelt zu berücksichtigen. Dazu unterhalten sie Spezialbehörden zur Überwachung umweltgefährdender Aktivitäten, die auf der Basis der inzwischen sehr umfangreichen Gesetze über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen tätig werden. Diese Normen stehen jedoch klar unter dem Zeichen einer Gesetzgebung, bei der die Staatsgewalt „so tut, als geschehe etwas für die Umwelt, den davon negativ Betroffenen aber augenzwinkernd und für die anderen kaum merkbar zu verstehen gibt, so ernst sei es denn doch nicht gemeint“,6 sei es in der Form legislativer Akte als Alibi (zur Befriedigung der Öffentlichkeit als ganzer), als Kompromiss (zur Vertagung der politischen Entscheidung über kollidierende Interessen) oder unter dem Vorzeichen eines von vornherein programmierten Vollzugsdefizits.7 Darüber hinaus kommt es in letzter Zeit auch zunehmend zu formellen Gesetzesänderungen, die das erreichte ökologische Schutzniveau wieder abschwächen.8 Obwohl die theoretischen Grundlagen des eurozentrischen Umweltstaat-Modells der Risikogesellschaft im Sinne Ulrich Becks von der brasilianischen Literatur inzwischen hinlänglich erörtert worden sind, fehlt es bislang noch an einer eingehenderen Analyse der Voraussetzungen und Möglichkeiten für dessen konkrete Ausgestaltung. Vor allem stellt sich die Frage, inwieweit die bürokratische Tradition und institutionell-politische Kultur des Landes die Auszurichtung an einem solch veränderten Staatsbegriff überhaupt zulassen und bis zu welchem Punkt die verbindliche Orientierung der öffentlichen Gewalt auf mehr präventiven Schutz und Vorsorge gegenüber ökologischen Risiken praktisch möglich ist, stoßen diese doch meistens schon im Bereich der herkömmlichen Gefahrenabwehr auf ihre Grenzen. Dazu trägt besonders die kaum entwickelte politische Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung bei, welche den Problemen des Umweltschutzes allgemein nur geringe Bedeutung beimisst. So erscheinen die mit dem Konzept des Umweltstaats   Ivo Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, 54 f., 123 ff.   Horst Sendler, Recht – Gerechtigkeit – Rechtsstaat, 2006, 118; unter den brasilianischen Autoren hat sich vor allem Marcelo Neves (Symbolische Konstitutionalisierung, 1998, 33 ff., 143 ff.) mit diesem Thema beschäftigt. 7   Diese verschiedenen Typen der Alibi-Gesetzgebung treten im Bereich des Umweltrechts oftmals in kombinierter Form auf; vgl. Jens Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung, 2003, 49 ff. 8   Bestes Beispiel ist das im Mai 2012 in Kraft getretene Gesetz n°  12.651, welches zahlreiche Schutzbestimmungen des Waldgesetzbuchs von 1965 abgeschwächt hat und deswegen von vielen seiner Kritiker als „Entwaldungs-Gesetzbuch“ bezeichnet wird. 5 6

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eng verbundenen neuen Formen der gesellschaftlichen Partizipation an ökologisch sensiblen Entscheidungen der Staatsgewalt, die in Begriffen wie „nachhaltige Demokratie“ oder „Governance“ ihren Ausdruck finden, noch in einem recht fahlen Licht. Auch existiert hierzulande weiterhin eine die Staatsmacht faktisch innehabende bürokratisch-technokratische Führungsschicht, deren Vorgehen der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Die wirklich entscheidenden Auseinandersetzungen spielen sich deshalb noch mehr als in Europa oder den USA jenseits „der parlamentarischen, von der Verfassung vorgezeichneten Bühne, sondern in den Hinterzimmern des bürokratisch-wirtschaftlich-technischen Komplexes“ ab.9

III.  Verfassungsrechtliche Grundlagen für eine ökologische Ausrichtung der Staatsorgane Mit dem Art.  225 schuf der Verfassungsgeber 1988 ein spezielles Kapitel über das Recht auf eine gesunde Umwelt,10 welches die Basis für die herausragende Position bildet, die der Umweltschutz im Rechtssystem des Landes heute – zumindest formell – einnimmt. Dabei sind die Möglichkeiten einer effektiven Anwendung der einzelnen Vorschriften untrennbar mit der Verwirklichung der im Art.  170 enthaltenen Vorgaben für die Wirtschaftsordnung des Landes verflochten.11 Diese hat sich außer an den Prinzipien der freien Konkurrenz, der Vollbeschäftigung und des Privateigentums auch am Verbraucherschutz, an der sozialen Funktion des Eigentums und der „Verteidigung der Umwelt“ zu orientieren.12   Steinberg (Fn.  1), 388.   „Art.  225. Alle haben das Recht auf eine ökologisch ausgeglichene Umwelt, die ein Gut zum gemeinsamen Gebrauch des Volkes darstellt und für eine gesunde Lebensqualität unabdingbar ist, wobei öffentliche Gewalt und Allgemeinheit verpflichtet sind, sie zu schützen und für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu erhalten. §  1 Um die Wirksamkeit dieses Rechts sicherzustellen, obliegt es der öffentlichen Gewalt: I – die wesentlichen ökologischen Abläufe zu bewahren und wiederherzustellen sowie für die ökologische Behandlung der Arten und Ökosysteme zu sorgen; II – die Mannigfaltigkeit und Unversehrtheit des genetischen Erbes des Landes zu bewahren und die Einrichtungen zu überwachen, die sich der Erforschung und Veränderung von genetischem Material widmen; III – in allen föderativen Einheiten besonders schützenswerte Gebiete mitsamt ihrer Bestandteile auszuweisen, deren Veränderung und Auf hebung nur durch Gesetz erfolgen darf, wobei jegliche Art von Nutzung untersagt ist, die deren Unversehrtheit oder die Merkmale beeinträchtigt, welche ihren Schutz rechtfertigen; IV – in der Form eines Gesetzes für die Durchführung von Vorhaben und Handlungen, die dazu geeignet sind, eine bedeutende Beeinträchtigung der Umwelt hervorzurufen, eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung zu verlangen, die zu veröffentlichen ist; V – die Erzeugung, das Inden-Handel-Bringen und die Anwendung von Techniken, Methoden und Wirkstoffen zu kontrollieren, die ein Risiko für Leben, Lebensqualität und Umwelt darstellen; VI – auf allen Bildungsebenen die Umwelterziehung sowie das öffentliche Bewusstsein für die Bewahrung der Umwelt zu fördern; VII – die Fauna und die Flora zu schützen, bei gesetzlich zu erfolgendem Verbot von Praktiken, die deren ökologische Funktion gefährden, die Ausrottung von Arten bewirken oder die Tiere grausamer Behandlung unterwerfen.“ (Übersetzung des Verfassers.) In weiteren fünf Absätzen werden u. a. die Wiederherstellung der Umwelt nach der Ausbeutung von Bodenschätzen vorgeschrieben (§  2 ), die strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen wegen Umweltdelikten bestimmt (§  3 ) und verschiedene Ökosysteme unter besonderen Schutz gestellt (§  4 ).“ 11   Cristiane Derani, Direito Ambiental econômico, 1997, 187 f. 12   „(.  .  .) Einschließlich differenzierter Behandlung von Produkten und Dienstleistungen, gemäß den Auswirkungen und Verfahren zu ihrer Herstellung und Erbringung“ (Art.  170, VI, CF). 9

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Trotz erheblicher Diskrepanz zwischen diesem konstitutionellen Bekenntnis und der politischen und administrativen Realität des Landes sind die erwähnten Bestimmungen keineswegs als schlichtes normatives „Alibi“ anzusehen, kommt dem Verfassungstext doch eine wichtige Symbolkraft mit suggestiver Wirkung zugunsten ökologischer Werte zu, die längerfristig auf das Rechtsgefühl der Gesellschaft einzuwirken geeignet sind.13 Überdies hält eine jede Verfassung eine mehr oder weniger weite Distanz zur sozialen Wirklichkeit, wodurch sie überhaupt erst fähig wird, als Maßstab für das Handeln und die Beurteilung der Politik zu dienen. Dabei stehen die normative und die empirische Verfassung im Zeichen einer gegenseitigen Wechselwirkung: der Anspruch kann nur eingelöst werden, wenn und inwieweit bestimmte außerrechtliche Faktoren eintreten.14 So mag es manchem zweifelhaft erscheinen, den konstitutionellen Text Brasiliens als „ökologische Verfassung“ oder „Umweltverfassung“ zu titulieren, da die Distanz zwischen Verfassungsauftrag und sozialer Realität einfach zu frappierend ist, mangelt es doch den meisten politischen Entscheidungsträgern, Beamten und Vertretern der Zivilgesellschaft in Sachen Umweltschutz letztlich an einem ausreichenden „Willen zur Verfassung“ (K. Hesse). Immerhin kann der Begriff des Umweltstaates als verfassungsrechtliche Vorgabe eines zu erreichenden Zieles oder als Parameter verstanden werden, an dem sich die wissenschaftliche Diskussion und auch die staatlichen Behörden auszurichten haben, um die Verfahren zu seiner Verwirklichung zu optimieren.15 Der normative Anspruch eines solchen Umweltstaates oder einer Umweltverfassung übersteigt jedoch bei weitem den einer Staatszielbestimmung im Sinne des deutschen Grundgesetzes, da er auf nicht weniger als den ökologischen Umbau der staatlichen Organisation als ganzer abzielt. Während über das Staatsziel Umweltschutz vornehmlich effektivere Maßnahmen zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen angestrebt werden, fordert das Leitbild des Umweltstaates (oder „ökologischen Rechtsstaats“) von der öffentlichen Gewalt nicht nur Reformen, sondern eine umfassende Transformation in Richtung nachhaltiger Gesellschaft, was normalerweise „schroffe politische, ja weltanschauliche Gegensätze“ der beteiligten Akteure zum Vorschein kommen lässt. Ein Umweltstaat scheint letztlich nur auf der Basis grundlegender ethischer Korrekturen im Sinne einer allgemeinen Anerkennung des Bezuges der menschlichen Freiheit zur Natur entstehen zu können. Angesichts der diffizilen gesellschaftlichen Verhältnisse Brasiliens stellt sich umso mehr die Frage, ob die Umweltrechtslehre sich nicht besser auf die Notwendigkeit strengerer Schutzvorschriften, eines wirksameren Gesetzesvollzugs und der intensiveren Beteiligung der Öffentlichkeit konzentrieren sollte anstatt das Heraufziehen eines neuen „ökologischen Paradigmas“ zu beschwören.16 Die Frage nach der Überforderung der Verfassung durch Einbeziehung der Umwelt in ihre Gewährleistungen hat sich in Brasilien nicht gestellt. Der Text von 1988 13   Walter C. Rothenburg, A Constituição ecológica, in: eds. S. Kishi et al, Desafios do Direito Ambiental no século XXI, 2005, 820 f. 14   Grimm (Fn.  2 ), 21 f. 15   José R. Morato Leite, Sociedade de risco e Estado, in: eds. G. Canotilho / M. Leite, Direito Constitucional Ambiental brasileiro, 2007, 151. 16   Klaus Bosselmann, Der ökologische Rechtsstaat: Versuch einer Standortbestimmung, in: ed. H. Baumeister, Wege zum Ökologischen Rechtsstaat, 1994, 53 f., 57, 60, 69 f.

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schreibt den Umweltschutz nach dem Vorbild der portugiesischen Verfassung (von 1976) als individuelles Grundrecht fest, ohne dass eine weniger intensive Positivierung in Betracht gezogen worden wäre. Das gleichzeitig individuelle und diffuse Grundrecht auf eine gesunde Umwelt garantiert jedoch bei weitem noch nicht die Realisierung der notwendigen Maßnahmen zur effektiven Umsetzung der Ziele eines demokratischen Umweltstaates. Besonders schwierig gestaltet sich die Veränderung der politischen und juristischen Kultur des Landes, welche trotz gegenteiliger gesetzlicher Bestimmungen seit jeher stark durch den Vorrang privater gegenüber öffentlicher Interessen geprägt worden ist.17 Unter hiesigen Verhältnissen erscheint zudem das konstitutionelle Leitbild eines sozialen Umweltstaates angemessener, da es die Notwendigkeit einer untrennbar gleichzeitigen Ausrichtung auf die Ziele der stets vernachlässigten öffentlichen Wohlfahrt erkennen lässt. Die Herausforderung liegt hier in einer Konvergenz der sozialen und ökologischen Agenden zu einem einheitlichen rechtspolitischen Projekt zur nachhaltigen humanen Entwicklung. Teile der Lehre bemühen sich gegenwärtig darum, die aus dem Bereich der sozialen Grundrechte stammenden Begriffe des Existenzminimums und des Verschlechterungsverbots auch für eine verfassungsrechtliche Dogmatik zugunsten des Umweltschutzes fruchtbar zu machen.18

IV.  Die zentrale Rolle der Gerichte bei der Konkretisierung des Umweltschutzes Als Krönung des Rechtsstaats gilt gemeinhin ein funktionierendes System des umfassenden Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte gegen jede Art von hoheitlichen Maßnahmen. Die Rechtsordnung Brasiliens sieht im Umweltbereich sehr weitreichende Möglichkeiten der gerichtlichen Kontrolle normativer und administrativer Hoheitsakte vor. Dabei hat die Auslegung und Anwendung der Gesetze im Einzelfall auch hier stets im Lichte der Grundrechte zu erfolgen, was leicht zu mannigfaltigen Kollisionen zwischen denselben führt.19 Eine Eigenart des Umweltrechts des Landes sind die sog. „diffusen Rechte“ (direitos difusos), welche über die öffentliche Zivilklage (ação civil pública) gerichtlich eingefordert werden können. Die ihnen zugrunde liegenden „diffusen Interessen“ stellen eine besondere Kategorie des öffentlichen Interesses dar und zwar in den Bereichen, wo direkt keine Rechte bestimmter Individuen oder Personengruppen betroffen sind 20 und (gerade auch deswegen) die staatlichen Organe generell nur unzureichende Aktivitäten zur Lösung der anfallenden Probleme entwickelt haben. Schutzobjekte sind hier neben der Umwelt u. a. die Rechte der Verbraucher, die städtebauliche

  Oliveira Vianna, Instituições políticas brasileiras, 1999, 306 ff.   Ingo W. Sarlet / Tiago Fensterseifer, Estado socioambiental e mínimo existencial (ecológico?), in: ed. I. Sarlet, Estado socioambiental e direitos fundamentais, 2010, 16 f., 28 ff.; Patryck de A. Ayala, Devido processo ambiental e o direito fundamental ao meio ambiente, 2003, 179 ff. 19   Gilmar F. Mendes et al, Curso de Direito Constitucional, 2008, 247 ff., 266 f. 20   Rodolfo de C. Mancuso, Interesses difusos, 2004, 147 f. 17

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Ordnung sowie Güter von künstlerischem, ästhetischem, historischem, touristischem und landschaftlichem Wert.21 Der weitaus größte Teil dieser Klagen wird von der funktionell recht unabhängigen Staatsanwaltschaft (Ministério Público) als Stellvertreterin des gesellschaftlichen Interesses erhoben, welche in den letzten Jahren aufgrund ihrer stärkeren Resistenz gegenüber politischem und ökonomischem Druck im Bereich des Umweltschutzes eine deutlich wirksamere Rolle als die Verwaltungsbehörden selbst gespielt hat.22 Diese agieren normalerweise im Stile von captured agencies, die sich sehr leicht mit den Interessen der Projektträger identifizieren, weil die jeweiligen Klientelbeziehungen die Unvoreingenommenheit der Beamten untergraben.23 Eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Umweltrechts hat das Oberste Bundesgericht (STF) gespielt, dem die Funktion eines Verfassungsgerichtshofs zukommt und welcher in den letzten 15 Jahren die Mechanismen zur Öffnung verfassungsrechtlicher Verfahren im Sinne einer wachsenden Pluralität von Teilnehmern stets ausgebaut hat, teilweise unter direkter Bezugnahme auf die Lehre P. Häberles von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“.24 Im Jahre 1995 erkannt es das Recht auf eine gesunde Umwelt als „authentisches Grundrecht“ an und betonte die Wichtigkeit seiner Umsetzung durch die geltende Rechtsordnung.25 Zehn Jahre später folgte die Feststellung, dass die ständige Spannung zwischen den Belangen der nationalen Entwicklung und des Umweltschutzes, dieses „Antagonismus gegensätzlicher Verfassungswerte“, nur durch konkrete Abwägung zwischen den im Einzelfall kollidierenden Interessen erfolgen könne. Dies müsse im Sinne einer Harmonisierung geschehen, wobei die Interpretation zum Ausgleich der Forderungen von Ökonomie und Ökologie von dem Verfassungsrang zukommenden Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung zu bestimmen sei, solange es dadurch nicht zur Entleerung des Wesensgehaltes der Grundrechte komme, „zwischen denen, wegen seiner bedeutenden Wichtigkeit, sich das Recht auf Erhaltung der Umwelt hervorhebt“.26 Auch das zweithöchste Organ der Judikative des Landes, der Höhere Gerichtshof (STJ), stellte unlängst fest, dass die Instrumente des gerichtlichen und außergerichtlichen Umwelt-Rechtsschutzes sich an seinen elementaren Prinzipien zu orientieren hätten, besonders am Vorsorgeprinzip in Bezug auf Gefahren und längerfristige Risiken, am Verursacherprinzip sowie an den Grundsätzen der Solidarität zwischen den Generationen, Information der Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung.27 Diese wegweisenden Entscheidungen führten bislang jedoch kaum zu einem Richtungswechsel der unteren Instanzen im Sinne einer verstärkten Ausrichtung auf   Artikel 2 des Gesetzes über die öffentliche Zivilklage (n.  7.347), von 1985.   Lesley K. McAllister, Making law matter: environmental protection and legal institutions in Brazil, 2008, 14 ff. 23   Evelyn Hagenah, Neue Instrumente für eine neue Staatsaufgabe: zur Leistungsfähigkeit prozeduralen Rechts im Umweltschutz, in: ed. D. Grimm, Staatsaufgaben, 1996, 495. 24   Gilmar Mendes, Der Einfluss des Grundgesetzes auf die brasilianische Verfassung 1988, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd.  58, 2010, 111 ff. 25   STF – MS 22.164-0/SP, Trib. Pleno, Rel. Min. Celso de Mello, j. 30.10.1995, 18 ff. 26   STF – ADI-MC n.  3540–1/DF, Trib. Pleno, Rel. Min. Celso de Mello, 1.9.2005, p.  34 ff. (fls. 565 ff.). 27   STJ – REsp n.  1.115.555 – MG, Rel. Min. Arnaldo E. Lima, j. 15.2.2011. 21

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den Schutz der Umwelt und der natürlichen Ressourcen; auch haben sie nur wenig zur Integration der in verschiedenen Sachressorts angesiedelten Umweltpolitiken und -maßnahmen beigetragen. Von einer „substanziellen, flächendeckenden Ökologisierung“ der nationalen, regionalen oder lokalen politischen Agenden kann keine Rede sein, ebenso wenig von konkreten Ansätzen zu die Umweltmedien übergreifenden, integrativen administrativen Strategien, welche die spezifischen ökologischen Wechselwirkungen und Verlagerungseffekte berücksichtigen würden. Dies ist besonders auf die traditionelle Zersplitterung der vertikalen (föderativen) und horizontalen (sektoralen) Zuständigkeiten der brasilianischen Behörden, die mangelhafte Kooperation zwischen den Regierungsebenen, die fehlende Qualifikation des Personals und eingefahrene Behördenroutinen zurückzuführen.28 Die Kontrollrechte der Gerichte im Umweltbereich sind (zumindest theoretisch) beträchtlich, weil sie dafür zuständig sind, die diffusen Rechte und Interessen selbst festzustellen und damit in den Konkretisierungsprozess auch wertender Rechtsbegriffe aktiv einzugreifen, ohne sich auf eine Vertretbarkeitskontrolle in Bezug auf die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden beschränken zu müssen. Deswegen kommt es zu keiner ausreichenden gegenseitigen Durchdringung und Ergänzung der nebeneinander stehenden gesetzlichen, administrativen und gerichtlichen Definitionen öffentlicher Interessen, die wiederum auf die Auslegung der einschlägigen speziellen normativen Begriffe zurückwirken könnten. Die Umweltgesetze nehmen selbst viel zu wenige klare Wertungen vor, sondern überlassen die abwägende Ausfüllung der konkurrierenden allgemeinen öffentlichen und spezielleren diffusen Interessen vornehmlich der Exekutive und der Judikative. Die Lehre steht den Gerichten dabei durchaus auch die Wahl zwischen verschiedenen „politischen Optionen“ zu, deren Ausübung gerade im dynamischen und stets veränderlichen sozialen Kräftefeld der diffusen Rechte und Interessen unvermeidlich sei.29 Hinter dieser seit Rückkehr zur Demokratie zunehmend über das Prozessrecht vorgenommene Ausdehnung der richterlichen Kontrolle steht letztlich auch das unausgesprochene, aber durchaus berechtigte Misstrauen gegenüber dem staatlichen Verwaltungsapparat selbst, der nicht nur im Bereich des Umweltschutzes von vielen Bürgern unwillkürlich mit zeitraubender formalistischer Bürokratie, unverhohlener Korruption, politischer Willfährigkeit und mangelhafter technischer Kompetenz in Verbindung gebracht werden. Der Mangel an gesetzlich näher bestimmten Vorgaben zur Lösung von Interessenkonflikten in stets wiederkehrenden Fallkonstellationen führt jedoch dazu, dass die öffentlichen und diffusen Interessen innerhalb der Ermessensspielräume der Verwaltung kaum normative Kraft entwickeln; genauso wenig übt das positive Recht bislang eine determinierende Kraft in Bezug auf die Interessen selbst aus.30 Im Allgemeinen erklärt die Rechtsordnung gewisse Interessen für schutz- und vorzugswürdig 28   Vgl. Wolfgang Kahl, Der Nachhaltigkeitsgrundsatz im System der Prinzipien des Umweltrechts, in: eds. H. Bauer et al, Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, 131 f., 140 f. 29   Marcelo Dawalibi, Ação civil pública, escolhas políticas e litigiosidade, in: ed. É. Milaré, Ação civil pública após 25 anos, 2010, p.  595 f. 30   Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2006, 328 ff. Es handelt sich dabei um die zweite Auflage der 1970 erschienenen Freiburger Habilitationschrift des Autors, deren Inhalt außerhalb Deutschlands noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat.

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gegenüber anderen, indem sie Entscheidungen über typischerweise anfallende Konflikte trifft; wo das nicht geschieht, wird unklar, was das Recht den verschiedenen in der Gesellschaft vorhandenen Interessen eigentlich entgegenzusetzen hat, wobei „viel an rechtsdogmatischer Strenge und begrifflicher Kontrollierbarkeit über Bord“ geht. Eine juristische Entscheidung kann nicht auf eine reine Interessenabwägung reduziert werden;31 genau dies ist jedoch die Tendenz der Urteilsfindung in vielen Bereichen des brasilianischen Umweltrechts. Dabei wissen die Angehörigen der juristischen Berufe nur zu gut, dass die Bereitschaft der Richter, zur Begründung ihrer Entscheidung auf Prinzipien zurückzugreifen oder nicht, weniger mit Fragen der Rationalität zu tun hat als mit der politischen Rolle, welche diese im Einzelfall für sich selbst für angemessen halten. Bei Diskussionen vor Gericht darüber, in welchem Grad einem wenig bestimmten Gesetzesbegriff normativer Wert zukommt und wie er angewendet werden soll, hat es generell nur wenig Sinn, auf der Basis anspruchsvoller juristischer Theorien zu argumentieren. Die Richterschaft ist auch hierzulande vor allem praktisch orientiert und denkt zuerst daran, ihre Entscheidung möglichst einfach zu begründen sowie an die voraussichtlichen praktischen Folgen des Urteils.32 Darüber hinaus kommentieren viele Autoren die in den letzten Jahren immer prominenter werdende Rolle der Gerichte bei der Kontrolle staatlicher Maßnahmen – besonders der sog. „öffentlichen Politiken“ (public policies) – sehr skeptisch, befürchten sie doch ein Abgleiten der noch jungen Demokratie in einen elitär-technokratischen Jurisdiktionsstaat.33 Besonders in den Bereichen Umweltschutz und soziale Daseinsvorsorge ist diese Kritik jedoch wenig stichhaltig, da hier der vielbeklagte,34 aber in der Praxis eher seltene Aktivismus der Judikative in den meisten Fällen einfach nur eine konsequent verfassungsgemäße Anwendung der geltenden Gesetze darstellt, welche die Exekutive aus verschiedenen Gründen zu leisten nicht imstande oder gewillt ist.35 In diesem Sinne stellte der STJ im Jahre 2007 fest, dass sich in Brasilien die Pflicht zum Schutz der Umwelt direkt aus den Gesetzen und der Verfassung ergebe, die kaum Lücken aufwiesen oder „halbe Worte“ enthielten, weswegen in diesem Bereich auch kein Aktivismus der Gerichte notwendig sei.36   Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 391 f., 397.   Carlos A. Sundfeld, Princípio é preguiça?, in: eds. R. Macedo Jr. / C. Barbieri, Direito e interpretação: racionalidade e instituições, 2011, 297. 33   Cláudio P. de Souza Neto, A justiciabilidade dos direitos sociais: críticas e parâmetros, in: eds. C. P. Souza Neto / D. Sarmento, Direitos sociais, 2008, 522 ff.; Martônio Mon’t Alverne Barreto Lima, Jurisdição constitucional: um problema da teoria da democracia política, in: eds. C. P. Souza Neto et al, Teoria da Constituição, 2003, 199 ff. 34   Andreas Krell, Direitos sociais e controle judicial no Brasil e na Alemanha, 2002. 35   Eine Ausnahme stellen die in den letzten Jahren ständig zunehmenden Gerichtsentscheidungen dar, durch welche die Bundesstaaten und Kommunen Brasiliens auf Zahlung teurer Medikamente und Behandlungsmethoden zugunsten einzelner Personen (besonders der oberen Mittelschicht) verurteilt worden sind, obwohl viele dieser Pharmazeutika und Heilungstechniken nicht von den Instanzen des öffentlichen Gesundheitssystem (SUS) anerkannt sind. Auch in diesem Bereich haben jedoch die oberen Gerichte (STF und STJ) bereits eine Korrektur ihrer Rechtsprechung vorgenommen, um der missbräuchlichen Begehung des Rechtsweges Einhalt zu gebieten. 36   STJ – REsp n.  1650.728 – SC, Rel. Min. A. H. Benjamin, j. 23.10.2007. Selbst Roberto Mangabeira Unger, einer der bekanntesten brasilianischen Sozialwissenschaftler und erklärter Gegner des judicial activism, räumt ein, dass, solange es zu keinen strukturellen Reformen einer von korporativen und 31

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V.  Mangelnde Bestimmtheit der Umweltgesetze; materielle Programmierung durch Prozeduralisierung? Bis heute wenig Beachtung gefunden haben die Folgen der gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßenden, generell schwachen normativen Programmierung der Umweltgesetze Brasiliens. Auch hierzulande wären angesichts der weitreichenden Folgen der Entscheidungen über technische Entwicklungen, welche die Lebensbedingungen heutiger und künftiger Generationen verändern können, verstärkt die Parlamente gefordert, um durch entsprechende Normierungen den Risikodimensionen, der Komplexität und den Zukunftswirkungen solcher Prozesse angemessen Rechnung zu tragen. Obwohl das demokratisch-rechtstaatliche Prinzip des Gesetzesvorbehalts allgemein anerkannt ist, wird es noch von unzähligen legislativen Vorschriften missachtet, welche die Regelung wesentlicher, grundrechtsrelevanter Angelegenheiten ohne Fixierung klarer Vorgaben weitgehend auf die Exekutive abwälzen.37 In dieser Frage ist es bislang noch zu keiner effektiven gerichtlichen Kontrolle gekommen. Die hiesigen Umweltgesetze leiden generell an einem Regelungsdefizit, da sie kaum einigermaßen stringente Programmierungen bezüglich der unzähligen Konstellationen des administrativen bzw. gerichtlichen Vorgehens enthalten, was die Unvorhersehbarkeit der Entscheidungen erhöht. Die notwendige Auslegung der Rechtsnormen, d. h. die Einordnung der Tatsachen in Bezug auf die gesetzlichen Vorgaben, bezieht sich deswegen nur selten auf entsprechende (mehr oder weniger bestimmte) Termini auf der Seite des Tatbestands oder der Rechtsfolge der einschlägigen Vorschriften. Die Abschätzung von Gefahren und Risiken im Umweltbereich sowie die Fixierung entsprechender Richtwerte und Standards zu einem angemessenen Management derselben stellen jedoch auch eine politische Frage dar und können nicht als eine rein technisch-bürokratische Angelegenheit abgetan werden.38 Besonders im politisch brisanten Bereich der Genehmigung (licenciamento) von potentiell umweltgefährdenden Anlagen, Stoffen oder Aktivitäten engt der parlamentarische Gesetzgeber den Entscheidungsspielraum bezüglich wichtiger Fragen nicht selbst durch Einführung entsprechender Rechtsbegriffe ein. Anstelle konkreter gesetzlicher Voraussetzungen zur Erteilung von Genehmigungen, Auflagen und deren Widerruf finden sich in den Gesetzen vornehmlich nur Kompetenzzuweisungen, verfahrenstechnische Regeln und einige ausdrückliche Verbote. Auch fehlen konstitutionelle Kriterien zur Abgrenzung eines Rahmens für die Normsetzung der Exekutive.39 Genauso ist es nicht üblich, dass formelle Gesetze den Projektbetreibern konkrete Pflichten auferlegen, ihnen fachspezifische Qualifikationen abverlangen oder die materiellen Maßstäbe für eine verhältnismäßige Abwägung der wichtigsten Aspekte der jeweiligen Sachlagen fixieren. Normalerweise nehmen die Normtexte gruppenspezifischen Interessenkonflikten beherrschten Zivilgesellschaft komme, die Richter oft die einzigen verfügbaren und/oder gewillten institutionellen Akteure zur Durchsetzung der Grundrechte darstellen (O direito e o futuro da democracia, 2004, 147). 37   Gustavo Binenbojm, Uma teoria do Direito Administrativo, 2006, 150. 38   Steinberg (Fn.  1), 191 ff., 200, 207 f. 39  So enthält die brasilianische Verfassung keine dem Art.  80 des deutschen Grundgesetzes vergleichbare Vorschrift eines Bestimmtheitsgebots für Rechtsverordnungen.

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auch keinen direkten Bezug auf den allgemeinen Stand der Technik, die besten verfügbaren Techniken usw. Dabei soll hier nicht einer perfektionistischen Überprogrammierung der administrativen Entscheidungen seitens der Legislative das Wort geredet werden, welche angesichts der beim Schutz von Umwelt und natürlichen Ressourcen besonders wichtigen Flexibilität der Behörden illusorisch wäre. Auch ist keineswegs eine Idealisierung des deutschen Umweltrechtssystems beabsichtigt, das traditionell stark auf die Formulierung materieller Inhalte in den Gesetzestexten ausgerichtet und weniger an einer prozeduralen Konkretisierung der normativen Begriffe orientiert ist, obwohl diese in den meisten europäischen Staaten und in den Umweltnormen der EU inzwischen vorherrscht.40 Es steht außer Zweifel, dass den Parlamenten generell kaum gesichertes Wissen über die direkten oder kumulierenden Auswirkungen technischer Anlagen oder das In-Verkehr-bringen von Produkten auf die natürliche Umwelt zur Verfügung steht. Auch folgt daraus gewiss in vielen Bereichen des Umweltrechtes das Fehlen zuverlässiger Bewertungskriterien und eine nur unzureichende Regelungs- und Determinierungswirkung materieller Normen. Diese allgemeine Ungewissheit bezüglich ökologischer Risiken darf jedoch nicht dazu führen, dass sich die demokratisch legitimierten Volksvertretungen der sachlichen Regelung der jeweiligen Konflikte fast vollständig entziehen. Bevor „offene materielle Fragen“ an spezielle Entscheidungsverfahren der Spezialbehörden unter Mitwirkung gesellschaftlicher Gruppen delegiert werden können,41 müssen die parlamentarischen Gesetzestexte selbst ein Grundgerüst normativer Programmierung errichten. Auch ist der vielbeschworene „prozedurale Umweltstaat“ in einem sozialen Ambiente von kaum ausgeübten Bürgerrechten und einer traditionell heterogenen, labilen und korporativistisch belasteten Zivilgesellschaft mit Vorbehalt zu betrachten. Ausserhalb der Judikative fällt die Formel vom „Gemeinwohl durch Verfahren“42 bislang noch auf wenig fruchtbaren Boden, weil es generell an Legitimation stiftender Kommunikation zwischen den Vertretern der Staatsgewalt, wirtschaftlichen Interessengruppen, Umweltverbänden und den betroffenen Bürgern mangelt, welche den Verfahrensergebnissen normative Kraft verleihen könnte. Die prozedurale Regulierung des Umweltrechts (durch UVP, Beteiligung, Anhörungen, Verhandlungen), welche vor allem auch der Einwirkung auf materiale Entscheidungsinhalte dient, stellt ein bislang nur wenig ausgeschöpftes Potenzial dar. Obwohl auch hierzulande kooperative, vom Konsens getragene Konfliktlösungen und die Förderung des Verantwortungsgefühls der Unternehmerschaft unverzichtbar sind, ist daran zu erinnern, dass staatliche Behörden nur aus einer gefestigten institutionellen Position heraus in einer für das Gemeinwohl gedeihlichen Form mit privaten Akteuren „verhandeln“ können. Wo sie keine privilegierte Stellung einnehmen und ihnen wirksame ordnungsrechtliche Druckmittel kaum zur Verfügung stehen – wie es leider in vielen Regionen des Landes immer noch der Fall ist –, geraten die Umweltbehörden gegenüber

  Michael Brenner, Das Verwaltungsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft, in: eds. R. Pitschas / A. Uhle, Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, 2007, 473. 41   Hagenah (Fn.  23), 491, 514. 42   Häberle (Fn.  30), 252 ff., 499 ff. 40

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den Projektträgern leicht ins Hintertreffen, da diese ein hoheitliches Entgegenkommen eher als Ausdruck von Schwäche und „Einladung zu Blockade“43 ansehen. Auch das im Verfassungstext von 1988 (Art.  225, §  1, IV) ausdrücklich verankerte Instrument der UVP wird den Erwartungen noch kaum gerecht, da eine effektive Evaluierung und Kritik derselben durch die staatlichen Organe nur selten und seitens der Bevölkerung praktisch überhaupt nicht stattfindet. Vor allem fehlt es an der wohl wichtigsten Voraussetzung für eine wirkungsvollere Prozeduralisierung des Umweltrechts, nämlich an engagierten und realen Einfluss ausübenden Akteuren, welche fähig sind, die Belange des Umweltschutzes in den administrativen Entscheidungsprozessen in angemessener Weise zur Geltung zu bringen.44 Auch im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle spielt die UVP bislang eine nur untergeordnete Rolle, weil die meisten Richter eine materielle Überprüfung ihres Inhaltes ablehnen und selbst in Fällen klar tendenziöser Ergebnisse kaum Gegengutachten anfordern. Dazu kommt noch, dass sie im Bereich des Umweltrechts den durchaus üblichen Verstoß gegen formell-verfahrensrechtliche Vorschriften nur selten für ausreichend erachten, bereits erteilte Genehmigungen aufzuheben.45 Das gesetzliche Regelungsdefizit behindert ebenfalls das Entstehen einer dichteren Umweltrechtsdogmatik, was wiederum dazu führt, dass die Rechtsanwender bei der Abfassung ihrer Entscheidungen viele juristische Fragen stets von neuem erörtern müssen, da ihnen allgemein anerkannte, griffige dogmatische Begründungsformeln kaum zur Verfügung stehen. Aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil der Probleme im Bereich der Auslegung der Umweltnormen noch nicht hinreichend systematisch durchdrungen und theoretisch abgeklärt worden ist, finden sich in unzähligen Bescheiden und Urteilen höchst oberflächliche Argumentationslinien, denen es an Überzeugungskraft mangelt und die nicht dazu taugen, in späteren Prozessen als die Materie ordnende Präjudizien herangezogen zu werden. So bleibt es letztlich vor allem dem einzelnen Beamten überlassen, welche normativen Texte, sporadischen Präzedenzfälle oder vereinzelte Positionen der Lehre er zur argumentativen Grundlage seiner Entscheidung macht, was deren Vorhersehbarkeit drastisch verringert und gleichzeitig die Anfälligkeit zur Korruption erhöht, da praktisch jedes Ergebnis vertretbar ist. Wenig sinnvoll ist insofern die bis heute von vielen Rechtstheoretikern Brasiliens zur Schau gestellte Verachtung gegenüber „den Dogmatikern“, welche angeblich nur auf die „trockenen Rechtsnormen“ fixiert und der sozialen Wirklichkeit entfremdet sind. Vielmehr liegt das wirkliche Problem darin, dass im umweltrechtlichen Szenario – wie auch in anderen Bereichen der nationalen Rechtsordnung – eine wenig ausgereifte, oberflächliche und vornehmlich rhetorische Dogmatik vorherrscht, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen eines demokratischen Rechtsstaats noch kaum entspricht.46 Diese Misere kann jedoch nicht der juristischen Dogmatik als solcher angekreidet werden, sondern ist das Ergebnis verschiedener Faktoren wie der   Appel (Fn.  5 ), 505.   Hagenah (Fn.  23), 511. Zudem sind in den letzten Jahren in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise immer mehr Arten umweltgefährdender Vorhaben vom Erfordernis der UVP befreit und weniger anspruchsvollen Verfahrensformen unterworfen worden. 45   Paulo de Bessa Antunes, Direito Ambiental, 2010, 248 f. 46   Joao Maurício Adeodato, A retórica constitucional, 2009, 142. 43

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über Jahrzehnte einseitig formalistischen juristischen Ausbildung, der Abhängigkeit und Verquickung der Rechtslehre im Verhältnis zu den praktischen juristischen Berufen oder der fehlenden Tradition einer objektiv-kritischen akademischen Diskussion.

VI.  Der politische Charakter umweltrechtlicher Entscheidungen und die angemessene Auslegung von Rechtsprinzipien Als Teile des öffentlichen Rechts können auch das Verfassungs- und Verwaltungsrecht Brasiliens als „eine Form der Artikulation von Politik“47 angesehen werden. Die daraus folgende besondere Politiknähe ist im Bereich des Umweltrechts noch markanter, da hier die ausgeprägte Konfliktträchtigkeit der involvierten diffusen Interessen leicht zu Entscheidungen führt, deren konkreter Inhalt als Ausdruck politischer Optionen der jeweiligen Rechtsanwender erscheinen. Allerdings unterliegen diese in jedem Falle „internen Kriterien der Kohärenz“ juristischer Urteile.48 Trotz der nicht zu leugnenden Gefahr einer methodisch unangemessenen Vermengung rechtlicher und politischer Argumente, die sicherlich auf unterschiedlichen Kriterien der rationalen Begründung und Legitimation auf bauen, hilft die radikale systemtheoretische Abgrenzung zwischen Recht und Politik als zwei „operativ geschlossenen Systemen“ mit verschiedenen Funktionen, Kodierungen und Programmen hier kaum weiter.49 Der Unterschied zwischen rechtlich und politisch ist in diesem Zusammenhang eher graduell-quantitativ als qualitativ zu verstehen: während bei politischen Ent­ scheidungen das positive Recht oft nur den Rahmen bildet, innerhalb dessen die jeweiligen Standpunkte argumentativ zu rechtfertigen sind, liegt die Basis juristischer Entscheidungen unmittelbarer in den normativen Vorgaben des positiven Rechts, welche mehr auf Tradition als auf Innovation abzielen und sozialen Folgen normalerweise weniger stark mit in die Betrachtung einbeziehen.50 Im Bereich des brasilianischen Umweltrechtes verdienen besonders diejenigen Entscheidungen das Attribut politisch, welche die Aussetzung des Vollzugs der von Richtern der ersten Instanz erlassenen einstweiligen Anordnungen zum Gegenstand haben. Durch diese Maßnahme des präventiven Rechtsschutzes „zur Verhinderung einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung, Gesundheit, Sicherheit und Wirtschaft“51 wird ein Großteil der umweltrechtlichen Fälle praktisch vorausentschieden, meistens zugunsten einflussreicher Unternehmer oder der projekttragenden öffentlichen Körperschaften selbst. Dabei kommt es gewöhnlich zu einer nur oberflächlichen Abwägung zwischen den diffusen Interessen und den mit ihnen konkret kollidierenden öffentlichen Interessen, Gütern und gemeinschaftlichen Werten. Diese monokratisch vom Präsidenten des jeweiligen Gerichtshofes 47   Christoph Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des öffentlichen Rechts, in: eds. M. Jestaedt / O. Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 172. 48   Idem, ibidem. 49   Vgl. Luhmann (Fn.  31), 417 ff. 50   Matthias Eberl, Verfassung und Richterspruch, 2006, 444, 466 f. 51   Artikel 12 §  1 des Gesetzes über die öffentliche Zivilklage (n.  7.347/85).

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auf Landes- und Bundesebene angeordneten Suspendierungen nehmen meistens das Ergebnis der Klage praktisch vorweg, ohne dass sich die Mitglieder der Spruchkammern überhaupt mit der materialen Rechtslage eingehender auseinandergesetzt hätten. Bei der Ausfüllung der an das öffentliche Interesse anknüpfenden unbestimmten Rechtsbegriffe (öffentliche Ordnung, öffentliche Moral, öffentliche Gesundheit, Wohl der Allgemeinheit usw.) müssten sich die Gerichte jedoch mehr an den von anderen Organen bereits vorgenommenen normativen Bewertungen orientieren, was nicht bedeutet, dass sie diese notwendigerweise zu bestätigen hätten. Um einen subjektiv-politischen Dezisionismus zu verhindern, wäre auch ein höherer Grad der rationellen Begründung vonnöten, geleitet von den allgemein akzeptierten juristischen Auslegungsmethoden und Argumentationsformen. Dabei kreisen immer mehr Entscheidungen um die Gewichtung verschiedener Prinzipien; diese sollen dem brasilianischen Umweltrecht Homogenität verleihen, gerade weil die Normtexte wenig systematisch vorgehen und der Verwaltung kaum auszufüllende Rechtsbegriffe an die Hand geben. Bei der Anwendung dieser Grundsätze gehen die Rechtsanwender jedoch nur selten in methodisch befriedigender Weise vor. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1988 kam es zu einer allseits begrüßten und eingehend erörterten Konstitutionalisierung der Rechtsordnung des Landes. Im folgenden Jahrzehnt wurden die lange Zeit als rein politische Formeln geschmähten konstitutionellen Prinzipien und Programmnormen von Lehre und Rechtsprechung immer mehr zu vollwertigen Rechtsnormen erklärt und angewendet. Inzwischen gibt es kaum noch ein Rechtsgebiet, in dem nicht von Grundsätzen, Abwägung und verfassungsrechtlicher Filterung der einfachgesetzlichen Bestimmungen die Rede wäre. Es wird jedoch zu Recht beklagt, dass die an sich positive Aufwertung der Prinzipien vielerorts zu einer „methodischen Anarchie“ geführt habe, weil die argumentativ ungeordnete und methodisch wenig fundierte Berufung auf zahlreiche Grundsätze in einer so unsteten und übermäßig flexiblen Rechtskultur wie der brasilianischen dazu beiträgt, den ohnehin schon schwachen Appell zur stringenten und kohärenten Anwendung der Gesetze noch weiter aufzuweichen.52 Das in Sachen juristischer Methode am intensivsten behandelte Thema ist seit längerer Zeit die angemessene Interpretation der Verfassungsprinzipien. Angesichts der „Allgegenwärtigkeit“ derselben in der juristischen Argumentation wird zunehmend auf die Gefahren hingewiesen, die mit einem überzogenen und wenig reflektierten Rückgriff auf Prinzipien in der Gesetzesauslegung einhergehen.53 Die explizite Berufung auf dieselben dient nicht selten der Verdeckung wenig stichhaltiger Argumente und der Verschleierung eines ausgeprägten Voluntarismus in der Entscheidungsfindung.54 Innerhalb dieses ziemlich chaotischen hermeneutischen Ambientes beachten viele Rechtsanwender nicht, dass die Konkretisierung von Prinzipien durch 52   Daniel Sarmento, Livres e iguais, 2010, 200 ff. Der Autor spricht i. d. Z. sogar von einem „Verfassungskarneval“. 53   Vgl. den Sammelband Direito e Interpretação (note 30), 261–380, dessen viertes Kapitel bezeichnenderweise den Titel „Prinzipien: Gebrauch und Missbrauch“ trägt. 54   Sundfeld (Fn.  32), 303. Bestes Beispiel ist der Grundsatz der Menschenwürde, der von Rechtsprechung und Lehre zur oberflächlichen Begründung völlig verschiedener Ergebnisses herangezogen zu werden pflegt.

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Abwägung im Sinne R. Alexys einem rationalem Verfahren zu folgen hat und in eine vernunftgeleitete Begründungsstruktur einzugliedern ist, die mit den traditionellen juristischen Methoden abgestimmt werden muss. Diese disziplinierte Auslegungsarbeit wird jedoch nur von wenigen Rechtsanwendern geleistet; den meisten gilt der Rückgriff auf Prinzipien und deren Abwägung als Einladung zu ungehemmtem Subjektivismus und unkontrolliertem Ermessen.

VII.  Die Stagnation der Diskussion über den Gebrauch juristischer Methoden Einer der Gründe für die massiven Probleme bei der Anwendung des Umweltrechts durch die Verwaltungsbehörden und Gerichte Brasiliens ist deren mangelhafte Orientierung seitens der Rechtslehre. Es gibt gegenwärtig kaum Autoren, die das so wichtige Thema eines aktualisierten, adäquaten Gebrauchs der juristischen Methoden und der praktischen Argumentationsmuster der Rechtsanwendung wirklich problematisieren und produktiv abhandeln; 55 vielmehr ist es üblich geworden, die traditionelle Methodenlehre für zweifelhaft, wenn nicht gar für nutzlos zu erklären. Diese Tendenz ist gewiss eine Reaktion auf die Zeit der Militärdiktatur (1964–1985), während derer die juristische Kultur des Landes großen Schaden nahm und die noch heute mit den Phänomenen des Rechtspositivismus, Dogmatismus und der deduktiven Subsumtion mittels der traditionellen Methoden assoziiert wird. Nachdem das Jurastudium und die akademische Produktion auf eine positivistisch-technische Linie eingeschworen worden waren, die den Interessen des autoritär-elitären Rechtssystems entsprach und bei der Einflüsse humanistischer Theorien weitgehend unterbunden wurden, kamen nach der Rückkehr zur Demokratie die philosophischen, soziologischen, politischen, historischen, semiotischen und anthropologischen Dimensionen des Rechts wieder stärker zur Geltung. Insoweit ist die „hermeneutische Frage“ im Brasilien der letzten drei Jahrzehnte stets auch Ausdruck der Reaktion gegen eine technokratisch-formalistische Gesetzesauslegung gewesen.56 Darüber hinaus stand die Rechtslehre des Landes über lange Zeit unter starkem Einfluss des Rechtspositivismus im Sinne Kelsens, der mit seiner schroffen Ablehnung der Analyse metajuristischer Wertungen bei der Rechtsanwendung zur Deskreditierung der juristischen Methoden beitrug. Auch der wohl bedeutendste brasilianische Jurist des 20. Jahrhunderts, Pontes de Miranda, klammerte das Thema der Gesetzesauslegung aus seinem Werk nahezu aus, da er das Recht nicht als Schöpfung der Norminterpreten ansah, sondern als eine sich selbst entfaltende wissenschaftliche Wahrheit.57 Mit der Verfassung von 1988 rückte die Interpretation ihrer zahlreichen 55   Die letzte substanzielle Aktualisierung des Lehrbuchs von Carlos Maximiliano (Hermenêutica e aplicação do Direito), für viele das Standardwerk der juristischen Methodenlehre Brasiliens, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück; die seitdem erschienenen Neuauflagen (die letzte von 2010) fügen dem Originaltext nur Kommentare hinzu. 56   Wilson Madeira Filho, O hermeneuta e o demiurgo, in: eds. C. Boucault / J. Rodriguez, Hermenêutica plural, 2002, 50. 57   F. C. Pontes de Miranda, Comentários à Constituição de 1967 (com a EC n.  1, de 1969), tomo I, 1987, 555 f.

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prinzipienhaften Bestimmungen in den Blickpunkt der Rechtslehre, wobei die generell ablehnende Haltung gegenüber den klassischen Interpretationsmethoden im Bereich der Verfassungsauslegung der Diskussion über Angemessenheit, Möglichkeiten und Grenzen derselben mehr geschadet als genützt hat.58 Vielen Theoretikern fällt es auch immer noch schwer zu akzeptieren, dass es bei der juristischen Auslegung nicht darum geht, die eine „wahre“ oder einzig mögliche Lösung für das jeweilige Problem heraus zu präparieren, sondern vielmehr darum, eine vertretbare Lösung zu erarbeiten und diese intersubjektiv zu rechtfertigen. Dabei wäre es gerade Aufgabe der Rechtswissenschaft die Gründe aufzuzeigen, warum die Auslegungsarbeit des Rechtsanwenders im konkreten Falle akzeptiert werden kann oder nicht. Die juristische Entscheidung ist kein vornehmlich politisches oder gar irrationales Handeln und ebenso wenig reiner Willensakt des Richters, sondern eine Dimension, die ganz natürlich zum Recht gehört und methodischer Rationalisierung durchaus zugänglich ist.59 Auch hierzulande bietet sich das Bild einer Rechtswissenschaft, die „von der Praxis methodisch nichts anderes als spontane Dummheiten“ erwartet und sie „eher mit pädagogischen oder gar satirischem Interesse“ beobachtet, und einer Praxis, welche die Wissenschaft weitgehend ignoriert und „wenn nötig, ihre methodischen Bausteine ad hoc selber“ herstellt, sich auf Präjudizien beruft und die Theorie meidet „wie der Teufel das Weihwasser“.60 Beredtes Zeugnis dieser von Indifferenz geprägten Beziehung legt die Tatsache ab, dass die in Brasilien als wegweisend geltenden rechtstheoretischen Schulen generell der Perspektive des Beobachters Vorrang einräumen gegenüber der des beteiligten Rechtsanwenders.61 So fühlen sich viele Praktiker von den Theoretikern bei ihrer täglichen Arbeit im Stich gelassen und gleiten in den Dezisionismus ab, d. h. sie begründen ihre Entscheidungen nicht in angemessener und nachvollziehbarer Weise. Im Gegensatz zu Ländern, wo sich im Bereich der Rechtsauslegung ein gewisser Standard methodischer Argumentation herauskristallisiert hat,62 existiert in Brasilien noch kaum etwas, was den Namen „gegenwärtige juristische Hermeneutik“63 für sich beanspruchen könnte. Stattdessen gleicht die Situation besonders im öffentlichen Recht eher einem „Neben-, Mit- und Durcheinander ‚transzendenter Metatheorien‘“.64

  Virgílio Afonso da Silva, Interpretação constitucional e sincretismo metodológico, in: ed. V. A. da Silva, Interpretação constitucional, 2005, 116 ff. 59   Cláudio P. de Souza Neto, A interpretação constitucional contemporânea entre o construtivismo e o pragmatismo, in: eds. A. Maia et al, Perspectivas atuais da Filosofia do Direito, 2005, 476. 60   Winfried Hassemer, Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, 141. 61   Ein Großteil orientiert sich dabei an Autoren wie H. Kelsen, J. Habermas, N.  Luhmann, M. Heidegger oder H.-G. Gadamer. 62   Genannt seien K. Engisch, J. Esser, A. Kaufmann, K. Larenz, W. Hassemer, U. Neumann, K. Hesse und R. Alexy. 63   So der Titel des Special Workshops (SW 10) des 25. Weltkongresses der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), Law, Science, Technology, Goethe-Universität Frankfurt (15.–20.  8. 2011), IVR Abstract book, 158. 64   Matthias Jahn, Pluralität der Rechtsdiskurse – Sektoralisierung der Methodenlehre, in: eds. M. Jestaedt / O. Lepsius. Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 183. 58

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Einige vertreten, fern ab der traditionellen Methodik, eine integrierende Hermeneutik auf der Basis der Werte der Rechtsordnung und der gesellschaftlichen Moral65 oder eine tiefgreifende Umorientierung der juristischen Interpretation im Sinne der philosophisch-ontologischen Hermeneutik Gadamers und Heideggers.66 Vielen ist schon die teleologische Auslegungsmethode als angebliche Tarnkappe für die persönliche Meinung des Rechtsinterpreten suspekt; noch mehr gilt dies für die Bezugnahme auf Werte und deren Abwägung, obwohl diese in der Praxis allgemein üblich geworden ist.67 Auch ist der Einfluss postmoderner Rechtstheorien radikal-relativistischer Prägung auszumachen, nach denen konkrete Auswirkungen jeder Art von Texten beim jeweiligen Adressaten schlichtweg unvorhersehbar sind, was die gesamte methodisch geordnete Auslegung von Gesetzen ad absurdum führt. Es genügt jedoch nicht, sich auf die beinahe schon zynische Formel des anything goes zu beschränken; vielmehr gilt es, eine möglichst objektive Analyse der durchaus subjektiven Faktoren vorzunehmen, welche die Auslegung bestimmen, um diesem alltäglichen Akt die Aura der Unvorhersehbarkeit und Kontingenz zu nehmen.68 Aus den genannten Gründen ist es im Bereich des Umweltrechts seitens der Lehre noch zu keiner ausreichenden Abstraktion hinsichtlich der unzähligen Konflikte und der entsprechenden gerichtlichen Entscheidungen gekommen, die zur Lösung der allgegenwärtigen Auslegungsprobleme dringend notwendig wäre. Hier fehlt es noch weitgehend an einer konstruktiven Dogmatik, die bekanntlich versucht, „die politisch getroffenen Entscheidungen des Gesetzgebers und die auf den Einzelfall bezogenen Urteile der Gerichte in einen widerspruchsfreien, systematischen Zusammenhang zu bringen“.69 Dieses Vakuum verschärft die Schwierigkeiten der mit der Anwendung des Umweltrechts befassten Behörden und Gerichte, die meist vagen und wenig bestimmten gesetzlichen Begriffe („Risiko“, „beträchtliche Einwirkung auf die Umwelt“, „Verschmutzung“, „überwiegendes ökologisches Interesse“, „Ästhetik der Landschaft“ usw.) auf rationale und vorhersehbare Weise auf den jeweiligen Tatbestand anzuwenden und so in konkrete Entscheidungen umzusetzen.

VIII.  Rationale Begründung, Verstehen und juristische Methode; Möglichkeiten einer juristischen „Umwelthermeneutik“ Im juristischen Denken sind Methode und Ergebnis miteinander in weit komplexerer Form verschränkt als dies die Logik gemeinhin zuzugeben bereit ist; vieles spricht für eine gegenseitige Abhängigkeit beider Elemente innerhalb des hermeneu  Raimundo B. Falcao, Hermenêutica, 2004, 242 ff.   Lenio Streck, Hermenêutica jurídica e(m) crise, 2011, 243 ff. 67   In Brasilien gilt ein „diffuses“ System der konstitutionellen Kontrolle, das die Richter aller Instanzen dazu berechtigt, Rechtsnormen wegen Verfassungswidrigkeit nicht auf den konkreten Fall anzuwenden. Obwohl solche Urteile angefochten werden können, hat dieses System (besonders seit der Verfassung von 1988) die gerichtlichen Entscheidungen bzgl. derselben Materie immer unvorhersehbarer werden lassen, was in den letzten Jahren zu Gesetzesänderungen führte, die auf eine stärkere Vereinheitlichung der Spruchpraxis abzielen. 68   Adeodato (Fn.  46), 145, 151. 69  Philippe Mastronardi, Juristische Methode und Rechtstheorie als Reflexionen des Rechtsverständnisses, 2010; www.alexandria.unisg.ch/export/DL/53445.pdf (Aug. 2011). 65

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tischen Prozesses. Dabei repräsentiert der klassische Methodenkanon eine „Sequenz der Stufen der juristischen Denkweise“,70 welcher ein einigermaßen sicheres Maß festlegt, nach dem Überlegungen topischer, assoziativer oder folgenorientierter Art in den Interpretationsprozess eingeführt und beurteilt werden können. Mit den Argumentationsregeln verbindet die juristischen Methoden die Möglichkeit einer intensiveren (obgleich nicht umfassenden) analytischen Kontrolle. Sie entlasten den Rechtsanwender zwar nicht von seiner höchstpersönlichen Einschätzung und Wertung der normativen Voraussetzungen und möglichen Rechtsfolgen seiner Entscheidung, setzen jedoch Leitpunkte und Orientierungslinien für seine Auslegung fest und stecken den Rahmen zur Bewertung des Ergebnisses durch andere ab. Insofern sind die Methoden Mittel zur intersubjektiv kontrollierbaren Begründbarkeit eines bestimmten Vorverständnisses. Das Warum einer Entscheidung für oder gegen eine Auslegung durch Analogie, Ausfüllung gesetzlicher Lücken, grammatikalische oder teleologische Normelemente, Appellieren an Werte sowie der Rückgriff auf gewisse dogmatische Konstruktionen oder Topoi findet keine Antwort in den Interpretationskriterien selbst, kann aber ebenfalls nicht von ihrer Anwendung abgetrennt werden. Dieses individuell, sozial, kulturell und professionell bedingte „Vor-Urteil“ in Bezug auf einen Fall ist zu präzisieren durch juristische Kenntnisse, die Rechtsdogmatik und methodisches Denken.71 Außerdem sollte es vom Interpreten selbst ständig in Frage gestellt, überdacht und korrigiert werden; inwieweit diese Art kritischer Selbstkontrolle in der Praxis tatsächlich stattfindet, mag hier einmal dahinstehen. Im Rahmen der Gesetzesauslegung und -anwendung überzeugt es wenig, zwischen einer primären „hermeneutischen Phase“ des Verstehens und einer sekundären „analytischen Phase“ des Begründens strikt unterscheiden zu wollen.72 Die Momente des verstehenden Interpretierens und erklärenden Argumentierens der juristischen Interpretation stehen in einem dynamischen (oder dialektischen) Verhältnis der Gegenseitigkeit, die im Rhythmus des trial and error fortschreitet und jederzeit punktuelle Korrekturen zulässt.73 Innerhalb dieser „Gesamtheit von sukzessiven Spezifizierungen und Konkretisierungen“ sind deren logisch-analytische sowie hermeneutisch-wertende Elemente in Einklang zu bringen, die keine gegensätzlichen, sondern vermittelnde Dimensionen darstellen. Auf dem Wege zum Verstehen wird die anfängliche Normhypothese, d. h. die wenig durchschaubare und vom eher intuitiven Judiz getragene erste geistige Annäherung des Interpreten an den zu entscheidenden Fall, bestätigt oder negiert und entsprechend korrigiert, wobei es zu miteinander untrennbar verwobenen Momenten des erklärenden Begründens und des Verstehens kommt. Dieses geht der methodischen Erklärung sicherlich meistens voraus, begleitet sie und schließt sie ab; die Erklärung wird jedoch ihrerseits notwendig, um den Verstehensprozess auszulösen und zu entwickeln.74 70   Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988, 73 ff., 81. 71   Philippe Mastronardi, Juristisches Denken, 2001, 174, 182. 72   Lenio Streck, O que é isto – decido conforme minha consciência?, 2010, 73 ff. 73   Paul Ricoeur, Teoria da interpretação, 2000, 85 ff. 74   Giuseppe Zaccaria, Razón jurídica e interpretación, 2004, 86, 185 ff., 283 ff.

Das brasilianischen Umweltrecht

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Zur Verwirklichung der Ziele des sozialen Umweltstaates in Brasilien ist vorgeschlagen worden, eine spezifische juristische „Umwelthermeneutik“ zu entwickeln, die sich an den Grundsätzen der Vorsorge, Nachhaltigkeit, Verantwortung, Solidarität, Verhältnismäßigkeit und Bürgerbeteiligung zu orientieren habe und dadurch zwingend das Vorverständnis der Umweltrechts-Interpreten bestimmen müsse.75 Eine „hermeneutisch angemessene Entscheidung“ soll dabei im Einzelfall direkt aus der Ökologisierung der Verfassung hervorgehen, deren Prinzipien weniger der Begründung von Entscheidungen im Umweltbereich dienlich seien, sondern vor allem das vorgelagerte Verständnis des konkreten Rechtsproblems bestimmten.76 Obgleich die genannten Prinzipien zweifelsohne wichtige Bezugspunkte zur Herstellung angemessener Entscheidungen darstellen, ist fraglich, inwieweit sich das Vorverständnis eines Norminterpreten überhaupt durch Verfassungsprinzipien oder andere Rechtssätze beeinflussen lässt. Normative Aufträge verschiedener Dichte müssen auf der Seite der argumentativen Rechtfertigung einer Entscheidung konkretisiert werden; auf das von seiner spezifischen Lebensform oder Weltauslegung geprägte hermeneutische Vorverständnis des Rechtsanwenders haben sie allenfalls indirekten Einfluss, da dieses mitsamt seiner Vorurteile nicht durch Reflexion gebildet wird, sondern mit der allgemeinen Spracherfahrung vorgegeben ist.77 Wer in Bezug auf die Gesetzesauslegung das Vorverständnis zum entscheidenden Faktor erklärt, tut gut daran, sich auf dessen rechtliche Aspekte zu konzentrieren, mögen diese auch noch so sehr von den philosophischen oder allgemein ideologischen Vorbegriffen beeinflusst sein. Die juristische Eigenart liegt gerade darin, dass eine richtige Entscheidung zu treffen und diese möglichst überzeugend zu begründen ist. Außer durch Normtexte wird dieses Vorverständnis vor allem geprägt durch die Kenntnis dogmatischer Figuren, Lehrmeinungen, der Rechtsprechung und sonstiger sachlicher Zusammenhänge bezüglich der anfallenden Probleme, darüber hinaus auch von berufsbedingten Anschauungen. Daher wird es auf dem Gebiet des Umweltrechts in Brasilien solange kaum zu einer positiven Beeinflussung des Vorverständnisses der gesetzesanwendenden Beamten in Richtung nachhaltige Entwicklung kommen bis die Dogmatik, Theorie und Methodenlehre des Landes geeignete Mittel zur Verfügung stellen, um „die spezifisch juristischen Momente dieser Vorurteilshaftigkeit“ zu begründen, differenzierend abzugrenzen „und sie damit als strukturierten, kontrollierbaren und diskutierbaren Faktor in den Vorgang der Konkretisierung einzubringen“.78

IX.  Abschließende Überlegungen Bis heute hält ein Teil der Umweltjuristen Brasiliens die „ökologischen Rechte“ allein aus sich heraus für selbstverständlich, ohne dass bezüglich ihrer Geltung und Auslegung noch lange nach dogmatischen oder theoretischen Erklärungen gesucht   Germana P. Belchior, Hermenêutica jurídica ambiental, 2011, 197 ff., 239.   Gustavo da S. Santana / Haide M. Hupfer, Da impossibilidade do poder discricionário do intérprete para os hard cases no Direito Ambiental, Revista de Direito Ambiental, n.  64, 2011, 136 f. 77   Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994, 49 f. 78   Friedrich Müller / Ralph Christensen, Juristische Methodik – Bd.  I, 2002, 221 ff. 75 76

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zu werden brauchte. Dabei ist gerade das Umweltrecht eine Disziplin, bei der – will sie nicht dem leeren Diskurs verfallen – besonders eindringlich nach den effektiven Ergebnissen der Anwendung einfachgesetzlicher und konstitutioneller Vorschriften zu fragen ist.79 Die juristische Hermeneutik täte deswegen gut daran, sich wieder verstärkt der traditionellen Methodenlehre zuzuwenden und die neuen Verbindungen zwischen dem klassischen Methodenkanon und den verschiedenen Argumentationsformen der Entscheidungsbegründung besser herauszuarbeiten. Diese recht banal klingende Feststellung scheint besonders für die Fortentwicklung der Hermeneutik im Bereich des brasilianischen Staats- und Verwaltungsrechts von großer Wichtigkeit zu sein. Auch verdiente die Problematik des Gebrauchs abwägender Denk- und Argumentationsmuster bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen in den Gesetzestexten mehr Aufmerksamkeit.80 Die Entscheidungen der Behörden und Gerichte im Umweltbereich müssen vor allem methodisch sauber getroffen und abgesichert sein, da nur so die weitreichenden gesetzlichen Schutzbestimmungen in einigermaßen vorhersehbarer und nachvollziehbarer Weise angewendet werden können. Seine intensive Ausrichtung auf Interessen, Prinzipien, Abwägung und Ermessen hat dem brasilianischen Umweltrecht nicht unbedingt gut getan, weil die dogmatische Ausformung der einzelnen Begriffe und Instrumente bislang noch nicht ausreichend gewesen ist. So sind die immer noch spärlichen pro-ökologischen Entscheidungen der staatlichen Organe, besonders was größere umweltbelastende Projekte und Vorhaben betrifft, vor allem von der subjektiv-persönlichen Einstellung des jeweiligen Interpreten motiviert und werden deswegen oftmals im Instanzenzug wieder aufgehoben. Das verwirrende Bild der Auslegung umweltschützender Gesetze in Brasilien passt sich nahtlos ein in die Szenerie einer gestörten Kommunikation zwischen juristischer Praxis und Lehre, besonders auf dem Gebiet der Rechtstheorie und Methodenlehre. Hier wird im wahrsten Sinne des Wortes eine „pragmatische Wende“ vonnöten sein, um das Umweltrecht aus der hermeneutischen Sackgasse herauszuführen, in die es in den letzten Jahren geraten ist.

79   Antônio Herman Benjamin, Constitucionalização do ambiente e ecologização da Constituição brasileira, in: eds. G. Canotilho / M. Leite, Direito Constitucional Ambiental brasileiro, 2007, 65 ff. 80   Hege Stück, Subsumtion und Abwägung, ARSP 84 (1998), 405 ff.

Aspekte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Brasilien1 von

Prof. Dr. Ricardo Perlingeiro2, Universität Río de Janeíro 1. Einführung Die Aufnahme eines Dialogs zwischen Brasilien und Deutschland über das Verwaltungsprozessrecht beider Länder ist dringend erforderlich. Die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen zu einer vergleichenden Forschung über das Verwaltungsprozessrecht in Brasilien und Deutschland ist verhältnismäßig gering, obwohl der deutsche Einfluss auf das öffentliche Recht Brasiliens ständig wächst 3. Dies betrifft beispielsweise den Grundsatz des Vertrauensschutzes4, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit5, das kontradiktorische Prinzip6 und das Recht zur Einforderung der 1   Der Text des Beitrags geht auf einen Vortrag zurück, der während des Seminars „Komparative Rechtswissenschaft: Brasilien – USA. Verwaltungs-, Umwelt- und Strafrecht“ in der Sektion „Verwaltungsprozessrecht“ an der Regionalen Bundesrichterakademie der 4. Region (EMAGIS) am 31. Mai 2012 in Porto Alegre gehalten wurde. 2   Bundesrichter in Rio de Janeiro. Ordentlicher Professor an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (Universidade Federal Fluminense). Mitglied des Brasilianischen Instituts für Prozessrecht (Instituto Brasileiro de Direito Processual), des Iberoamerikanischen Instituts für Prozessrecht (Instituto Ibero-Americano de Direito Processual) und der Internationalen Vereinigung für Prozessrecht. Hauptgeschäftsführer der Kommission zur Ausarbeitung eines Musterkodex zum gerichtlichen und außergerichtlichen Verwaltungsprozess für Iberoamerika. Mein Dank gilt Barbara Mesquita für die Übersetzung und Prof. Dr. Friedrich Lehmann von der Hochschule Bremen und Dr. Franziska Kruse von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer für die Durchsicht der Übersetzung. 3   Ricardo Perlingeiro/Hermann-Josef Blanke/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Código de jurisdição administrativa: o modelo alemão (Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetz: Das deutsche Modell), Rio de Janeiro 2009, S.  65. 4  Brasilien, Bundesgericht der 2. Region (Tribunal Regional Federal da 2a Região), APELRE 200551010223947, 5. Senat (5a Turma), Berichterstatter Marcelo Pereira da Silva, Entscheidung verkündet von Richter Ricardo Perlingeiro, veröffentlicht am 19.4.2012, verfügbar unter: www.trf2.jus.br, Stand 18.7.2012. 5   Paragraph 2, VI, des Gesetzes Nr.  9.784/98. 6   Ricardo Perlingeiro, Los principios de procedimiento administrativo en Brasil y los desafíos de igualdad e de seguridad jurídica (Die Grundsätze des Verwaltungsverfahrens in Brasilien und die Herausforderungen von Gleichheit und Rechtssicherheit), in: Pedro Aberastury/ Hermann-Josef Blanke (Hrsg.), Tendencias actuales del procedimiento administrativo en Latinoamérica y Europa (Aktuelle Tendenzen des Verwaltungsverfahrens in Lateinamerika und Europa), Buenos Aires, Konrad-Adenauer-Stiftung,

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Grundrechte, die durch den Vorbehalt des Finanzierbaren und die Gewährung des Existenzminimums begrenzt werden7. Ziel der vorliegenden Studie ist es, ausgehend von den Prinzipien der Rechtstaatlichkeit und des effektiven Rechtsschutzes, wie sie in den Ordnungssystemen des Verwaltungsrechts in Europa verwirklicht sind8, eine beschreibende, punktuelle Analyse des Systems der brasilianischen Verwaltungsgerichtsbarkeit hinsichtlich des Verwaltungsverfahrens, der Gerichtsorganisation und des Gerichtsverfahrens unter Herausstellung einiger positiver und negativer Charakteristika und ihres Einflusses auf einige Modelle in Iberoamerika vorzunehmen, welche als Grundlage für eine vergleichende Studie mit dem deutschen System dienen soll. Zu Beginn ist es jedoch erforderlich, die Reichweite und den Kontext der zu verwendenden Terminologie zu definieren. Der Ausdruck „Verwaltungsverfahren“ bezieht sich auf die Beschwerden oder Anfechtungen, die eine Privatperson gegen das Vorgehen einer Verwaltungsbehörde vornimmt. Der Ausdruck „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ bezeichnet die Ausübung rechtsprechender Gewalt im Verwaltungsprozess, und „Verwaltungsgerichte“ sind die für diese Rechtsprechung verantwortlichen staatlichen Organe.9

2.  Das verwaltungsrechtliche Vorverfahren Prinzipiell soll in einem Rechtsstaat die Klärung von Verwaltungsstreitigkeiten ausschließlich der Rechtsprechung obliegen. Es ist indes zulässig, dass ein Konflikt vorab der Überprüfung durch die öffentliche Verwaltung selbst unterworfen wird, ohne dass dies jedoch eine Ausnahme von dem Prinzip des Rechts auf einen gesetzlichen Richter bedeuten würde (Unterwerfung der Verwaltung unter einen Richter).10 Gemeint ist damit die Möglichkeit, dass der Betroffene im Falle von Einwänden seitens der Verwaltung ein außergerichtliches Rechtsmittel bei einer hierarchisch übergeordneten Behörde einlegen kann. Diese Möglichkeit ist in den meisten Systemen vorgesehen, und zwar am augenfälligsten in Deutschland, wo derartige Rechtsbehelfe sofortige aufschiebende Wirkung haben und bis zur teilweisen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens als Voraussetzung sine qua non für eine Klageerhebung bei Gericht galten.11 Gemeint ist damit auch das von den unabhängigen Verwaltungsbehörden angewandte Verfahren, bei dem über die außergerichtlichen Rechts2012, S.  326–327; Brasilien, Oberster Bundesgerichtshof (Supremo Tribunal Federal), MS 25787, Berichterstatter Gilmar Mendes, Brasília, Bundesdistrikt. 7   Brasilien, Bundesgericht der 2.   Region (Tribunal Regional Federal da 2a Região), APELRE 200551010214934, 5. Senat (5a Turma), Berichterstatter Ricardo Perlingeiro, veröffentlicht am 23.5. 2012, verfügbar unter: www.trf2.jus.br, Stand 18.7.2012. 8   Michel Fromont, Droit administratif des Etats européens, Paris, PUF, 2006, S.  7: Das französische Recht, das englische Recht und das deutsche Recht. 9   Universidade Federal Fluminense (Bundesuniversität Rio de Janeiro), Núcleo de Ciências do Poder Judiciário (Fachbereich Rechtsprechungswissenschaften), Projeto Acadêmico do Programa de PósGraduação Justiça Administrativa – PPGJA-UFF (Akademisches Projekt des Post-Graduierten-Programms Verwaltungsgerichtsbarkeit), Niterói, 2008. 10   Fromont, op. cit., S.  112–119. 11   Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO (Gesetz vom 21.1.1960), §§  68, 80.

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mittel von öffentlichen Vertretern entschieden wird, die zwar unmittelbar durch Angehörige der ersten Verwaltungsebene ernannt werden, ihre Funktion jedoch unabhängig erfüllen und darin keinem Vorgesetzten unterstehen. Dies ist bei den englischen „Verwaltungsgerichten“, den „Rechtsmittelkommissionen“ der Schweiz und den „Verwaltungskammern“ in Österreich der Fall.12 In Brasilien lassen sich beide genannten Verfahren ausmachen, bei deren Inanspruchnahme durch die Betroffenen zur Wahrung des effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit zur gleichzeitigen Beantragung rechtlicher Eilmaßnahmen dennoch weiter besteht. Das bei einer höherrangigen Verwaltungsbehörde eingelegte Rechtsmittel, welches nicht zu verwechseln ist mit dem Widerspruch (welcher häufig unabdingbar ist für die Begründung des subjektiven Rechts selbst), ist in der brasilianischen Gesetzgebung zum Verwaltungsverfahren vorgesehen.13 Das bei einer unabhängigen Verwaltungsbehörde eingelegte Rechtsmittel hat zum Beispiel Ähnlichkeit mit den Rechtsmitteln, die beim Rat der Steuer- und Finanzverwaltung (Conselho Administrativo de Recursos Fiscais/ CARF) 14, bei den Regulierungsbehörden15, den Rechnungshöfen16 und auch beim Nationalen Justizrat (Conselho Nacional de Justiça/ CNJ) 17 eingelegt werden.

3.  Die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit Die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne, die im Wesentlichen von der Verwaltung unabhängig ist, lässt sich wie folgt unterteilen: (1) in eine Verwaltungsgerichtsbarkeit mit beratender und rechtsprechender Funktion wie in Frankreich18, den Niederlanden19, Italien 20, Griechenland 21, Belgien 22 und Ko-

  Fromont, op. cit.   Gesetz Nr.  9.784 vom 26.12.1996, Paragraph 56. 14   Gesetz Nr.  11.941 vom 27.05.2009. 15  Agência Nacional de Aviação Civil – ANAC (Nationale Zivile Luftfahrtagentur) (Gesetz Nr. 11.182 vom 27.9.2005); Agência Nacional de Aguas – ANA (Nationale Wasseragentur) (Gesetz Nr.  9.984 vom 17.7.2000); Agência Nacional de Energia Elétrica – ANEEL (Nationale Stromagentur) (Gesetz Nr.  9.427 vom 26.12.1996); Agência Nacional de Petróleo, Gás Natural e Bicombustíveis – ANP (Nationale Agentur für Erdöl, Erdgas und Biokraftstoffe) (Gesetz Nr.  9.478 vom 6.8.1997; Gesetz Nr.  9.990 vom 21.7.2000; Gesetz Nr.  12.351 vom 22.12.2010); Agência Nacional de Saúde Suplementar – ANS (Nationale Agentur für Zusätzliche Gesundheitsleistungen) (Gesetz Nr.  9.961 vom 28.1.2000); Agência Nacional de Transportes Terrestres – ANTT (Nationale Agentur für Landbeförderung) (Gesetz Nr.  10.233 vom 5.6.2001); Agência Nacional de Vigilância Sanitária – ANVISA (Nationale Agentur für Hygieneüberwachung (Gesetz Nr.  9.782 vom 26.1.1999). 16   Tribunal de Contas da União/TCU (Bundesrechnungshof ) (Gesetz Nr.  8.443 vom 16.7.1992). 17   Gesetz Nr.  11.364 vom 26.10.2006. 18   Code de Justice Administrative, R. 122-15, R. 122-18 und R. 122-20. 19   Wet van 9 maart 1962, op de Raad van State (Gesetz vom 9.3.1962), Paragraph 1. 20   Legge 27 aprile 1982, n.  186 (Gesetz Nr.  186 vom 27.4.1982). 21   Νομοθετικού διατάγματος [I] 170/1973 (Gesetzeserlass Nr.  170/1973, abgeändert durch die Gesetze Nr.  702/1977 und Nr.  1.470/1984 und kodifiziert durch Erlass Nr.  18/1989). 22   Constitution Belge (Verfassung von 1993, Textkoordination vom 17.2.1994), Paragraph 160; Loi du 23 décembre 1946 – Loi du Conseil d’Etat de Belgique (Gesetz vom 23.12.1946). 12 13

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lumbien 23, wobei die jeweiligen Obersten Verwaltungsgerichte gleichzeitig sowohl höchste Gerichtsinstanz als auch Beratungsorgan sind; (2) eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die eine unabhängige Gerichtsbarkeit mit einem spezifischen, höchstinstanzlichen öffentlich-rechtlichen Gericht darstellt und einzig und allein rechtsprechende Funktion hat, wie in Deutschland 24, Österreich 25, Schweden 26 und Portugal 27; (3) eine in der ersten und zweiten Stufe unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit, die indes einem einzigen höchstinstanzlichen Gericht nicht nur des öffentlichen Rechts, sondern auch des Privatrechts unterstellt ist, wie in Spanien 28, der Schweiz29, Ungarn30 und Mexiko31; (4) eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die auch unter der Bezeichnung „unteilbare Gerichtsbarkeit“ oder „monistisches System“ bekannt ist und sowohl öffentliches Recht als auch Privatrecht umfasst und mitunter über spezielle Organe der Verwaltungsgerichtsbarkeit verfügt und typisch ist für die Systeme des common law, wie England 32, Irland 33, Dänemark 34 sie kennen, die aber auch in Argentinien35, Chile36, Costa Rica 37, Peru38 und Venezuela 39 anzutreffen sind. Das brasilianische Recht kennt kurioserweise alle vier Organisationsformen der Verwaltungsgerichtsbarkeit. In vorrepublikanischer Zeit kam sie einer Verwaltungsgerichtsbarkeit mit beratender und rechtsprechender Funktion nahe, obgleich der   Constitución Política de Colombia (Politische Verfassung Kolumbiens vom 20.7.1991), Paragraph 237; Gesetz Nr.  1.437 vom 18.1.2011. 24   Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO, §§  49, 50. 25   Bundesverfassungsgesetz (Verfassung vom 1.10.1920), Paragraph 130, 1. 26   Författning 1974 (Verfassung von 1974, gebilligt am 1.1.1975), Paragraph 1, Kapitel 11. 27   Verfassung der portugiesischen Republik vom 2.4.1976, Paragraph 209, 1, b; Código de Processo nos Tribunais Administrativos (Gesetz über das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten) (Gesetz Nr.  4 -A vom 19.2.2003). 28   Constitución Española, vom 29.12.1978, Paragraph 106, 1. 29   Verfassung der Schweiz (Per Referendum vom 12.3.2000 gebilligte Verfassung), Paragraph 29 a, 191 und 191 b. 30   Bírósági szervezet szóló 1997 (Gesetz über die Gerichtsverfassung von 1997). 31   Constitucion Política de los Estados Unidos Mexicanos (Politische Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten) vom 5.2.1917, Paragraph 94; Ley Orgánica del Tribunal Federal de Justicia Fiscal y Administrativa (Organgesetz des Bundessteuer- und Bundesverwaltungsgerichts) (Letzte teilweise Ersetzung veröffentlicht am 3.6.2011). 32   Jacques Ziller, Administrations comparées. Les systèmes politico-administratifs de l’Europe des Douze, Paris, Montchrestien, 1993, S.  4 41. 33   Fromont, op. cit. 34   Ziller, op. cit. 35   Constitución Nacional (Nationale Verfassung) (gebilligt durch den Allgemeinen Verfassungsgebenden Kongress vom 1. Mai 1853, novelliert und verabschiedet vom Nationalkonvent vom 25. September 1860 und mit den Abänderungen der Vereinbarungen der Jahre 1866, 1898, 1957 y 1994), Paragraph 116. 36   Código Orgánico de Tribunales (Organgesetz der Gerichte) (Gesetz Nr.  7.421, vom 15. Juni 1943), Paragraph 5, 2. 37   Constitución Política de la República de Costa Rica de 1949 (Politische Verfassung der Republik Costa Rica aus dem Jahr 1949) (Aktualisiert bis Gesetz Nr.  8.365 vom 15. Juli 2003), Paragraph 152 und 153; Ley Orgánica del Poder Judicial (Organgesetz der Rechtsprechenden Gewalt) Gesetz Nr.  7.333/1993, abgeändert durch das Gesetz Nr.  7.728 vom 15. Dezember 1997). 38   Constitución Política del Peru de 1993 (Politische Verfassung Perus aus dem Jahr 1993), Paragraph 139. 39   Constitución de la República Bolivariana de Venezuela de 1999 (Politische Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela aus dem Jahr 1999), Paragraph 259. 23

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Staatsrat des Kaiserreichs („Conselho de Estado do Império“) ein Spiegel der ersten Version des französischen Conseil d’État mit einer in der Hand des Kaisers „zurückgehaltenen Justiz“ ohne echte rechtsprechende oder an sie delegierte Funktionen war.40 Erst mit der Verfassung von 1891 lernte das brasilianische Recht die Verwaltungsgerichtsbarkeit kennen, die zu jener Zeit die Eigenschaften der Systeme des common law mit Gerichten besaß, die sich sowohl im Bereich des öffentlichen Rechts als auch Privatrechts bewegten. Dieses noch heute vorherrschende System einer „unteilbaren Gerichtsbarkeit“ ist bis zu einem gewissen Grad auf das öffentliche Recht spezialisiert, wie im Falle der Finanzverwaltungsgerichte der ersten Stufe („Varas de Fazenda Pública“) und den Kammern („Turmas“ oder „Câmaras“) der Berufungsgerichte.41 Was die erste und zweite Stufe der Bundesjustiz angeht, die eine Verwaltungsgerichtsbarkeit miteinschließt, welche die öffentliche Bundesverwaltung betrifft,42 so ähnelt deren Modell dem Spaniens und dem der Schweiz und untersteht einem gemeinsamen höchstinstanzlichen Gericht, das auch das Privatrecht mitbehandelt: dem Obersten Gerichtshof (Superior Tribunal de Justiça/ STJ).43 Bei der Wahlprüfung hingegen folgt das brasilianische Modell streng dem deutschen und dem portugiesischen mit einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, an deren Spitze ein besonderes höchstinstanzliches Gericht steht: das Oberste Wahlprüfungsgericht (Tribunal Superior Eleitoral/ TSE).44

4.  Reichweite der Verwaltungsgerichtsbarkeit Hinsichtlich der Reichweite der Verwaltungsgerichtsbarkeit stellt sich zuallererst die Frage nach der vornehmlichen Rolle, die ihren Grundsätze und spezifischen Normen zukommt. Aus welchem Grund sollte der Gesetzgeber den Auf bau der für die Verwaltungsgerichtsbarkeit verantwortlichen Gerichte anders handhaben? Aus welchem Grund sollte der Gesetzgeber das Gerichtsverfahren in der Verwaltungsgerichtsbarkeit in besonderer Weise gestalten? Die Einrichtung spezieller Organe der Rechtsprechung, die mit einer qualitativ hochwertigen Rechtsprechung vereinbar sind, und die Festschreibung besonderer Prinzipien und Regeln für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die einerseits die Schwäche des Bürgers gegenüber der Verwaltung berücksichtigen und andererseits abwägen zwischen öffentlichem und privatem Interesse, sind zweifelsohne Maßnahmen, die darauf abzielen, zugleich einen effektiven Rechtschutz für den Bürger und die Kontrolle über die Rechtmäßigkeit der öffentlichen Verwaltung zu gewährleisten.   Perlingeiro/Blanke/Sommermann, op. cit., S.  65.   Regimento Interno do Superior Tribunal de Justiça (Dienstvorschrift des Obersten Gerichtshofs), Paragraph 9, §  1; Regimento Interno do Tribunal Regional Federal da 2a Região (Dienstvorschrift des Regionalen Bundesgerichts der 2. Region, Paragraph 2, III, §  4, und Paragraph 13, III; Código de Organização e Divisão Judiciárias do Estado do Rio de Janeiro (Gesetz über die Organisation und Einteilung der Justiz des Bundesstaates Rio de Janeiro), Paragraph 94, III, und 97. 42   Constituição da República Federativa do Brasil (Verfassung der Föderativen Republik Brasilien) vom 5. Oktober 1988, Artikel 109. 43   Ibid., Artikel 105. 44   Ibid., Artikel 118. 40 41

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Worin genau also bestehen die Anforderungen an eine Verwaltungsgerichtsbarkeit? In den Systemen Europas und Iberoamerikas werden zur Definition der Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Regel folgende Kriterien angewandt: (1) Verwaltungsrechtssachen, bei denen Verwaltungsbehörden oder private Institutionen mit öffentliche Funktionen involviert sein können, wie es in Frankreich45, Spanien46, Portugal47, Griechenland48, Costa Rica49, Peru, Venezuela50, Kolumbien51 und Argentinien52 der Fall ist; (2) Rechtssachen, die im Zusammenhang mit Verwaltungsakten oder -handlungen stehen, mit Ausnahme von zivilrechtlichen Haftungsfragen und Verwaltungsverträgen, wie in Deutschland53, Österreich54 und der Schweiz55; (3) Rechtssachen, die sich auf rechtlich geschützte Interessen beschränken, ausgenommen subjektive Rechte, wie in Italien56 und Belgien57; (4) Rechtssachen des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts, sofern die Verwaltung ein Interesse daran hat; dies ist typisch für Ordnungen mit einer unteilbaren Rechtsprechung wie sie in England, Irland, Norwegen, Dänemark58, Chile59 und Mexiko60 bestehen. Im Hinblick auf dieses Thema erweist sich das brasilianische System ebenfalls als hybrid. Im Allgemeinen hat entsprechend seinem System einer unteilbaren Rechtsprechung das Kriterium des öffentlichen Interesses Vorrang, unabhängig davon, ob die Rechtssache öffentlichen oder privaten Charakter aufweist. Als Beispiel seien die Zuständigkeit der erstinstanzlichen Finanzverwaltungsgerichte („Varas de Fazenda Pública“) und der Bundesjustiz angeführt und die Anwendung besonderer prozessualer Regeln, wie das abweichende Recht bei der Vollstreckung von Urteilen gegen

  Code de Justice Administrative, Paragraph L. 211–1.   Gesetz Nr.  23, vom 7. Juli 1998, Paragraph 1, 1. 47   Estatuto dos Tribunais Administrativos e Fiscais (Satzung der Verwaltungs- und Finanzgerichte) (Gesetz Nr.  13 vom 31.1.2002), Paragraph 4. 48   Σύνταγμα της Ελλάδας (Verfassung vom 9.6.1975), Paragraph 94 und 95; Πράζη 1406/1983 (Gesetz Nr.  1.406 aus 1983). 49   Código Procesal Contencioso-Administrativo (Verwaltungsprozessordnung) (Gesetz Nr.  8.508 vom 1. Januar 2008), Paragraph 1. 50   Constitución de la República Bolivariana de Venezuela de 1999 (Verfassung der Bolivarischen Republick Venezuela aus dem Jahr 1999), Paragraph 259. 51   Gesetz Nr.  1.437 vom 18. Janur 2011, Paragraph 2. 52   Ley Contencioso Administrativo de la Província de Buenos Aires (Verwaltungsprozessgesetz der Provinz Buenos Aires) (Gesetz Nr.  12.008 vom 1. Juni 1999), Paragraph 1. 53   Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO, §  4 0. 54   Fromont, op. cit., S.  147. 55   Bundesgerichtsgesetz/BGG, vom 17. Juni 2005; Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968, Artikel 5. 56   Costituzione della Repubblica Italiana (Verfassung der Italienischen Republik vom 27. Dezember 1947, Artikel 103. 57   Fromont , op. cit., S.  150. 58   Ibid., S.  152–156. 59   Codigo Organico de Tribunales (Organgesetz der Gericht) (Gesetz Nr.  7.421 vom 15. Juni 1943), Paragraph 48. 60   Ley Orgánica del Tribunal Federal de Justicia Fiscal y Administrativa (Organgesetz des Bundessteuerund Bundesverwaltungsgerichts) (Letzte teilweise Ersetzung veröffentlicht am 3.6.2011), Paragraph 14. 45

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die Verwaltung (gerichtliches Zahlungsersuchen – precatório judicial), die längeren Fristen zur Verteidigung für die Verwaltung etc.61 Beim gerichtlichen Verfahren zur Sicherungsverfügung 62 ist im brasilianischen Recht indes ein Kriterium analog dem deutschen System verwurzelt, bei dem der Betreffende Verwaltungshandlungen anficht, auch wenn sie von privaten Institutionen bei der Ausübung hoheitlicher Befugnisse vorgenommen wurden; allerdings ist ihm der Anspruch auf Entschädigung vor demselben Richter verwehrt. Die brasilianische Sicherungsverfügung hätte im Übrigen in Anbetracht ihrer offenkundigen Identitätskrise ein eigenständiges Kapitel verdient: Erstens, weil sie von den writs inspiriert ist, die heute durch den claim for judicial review ersetzt worden sind63, und zweitens wegen ihrer Wurzeln in der mexikanischen Verfassungsbeschwerde ( juicio de amparo), einem rein verfassungsmäßigem Rechtsprechungsverfahren, drittens wegen ihrer unverkennbaren Charakteristika einer französischen verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage aus einer Zeit, als diese Maßnahme sich auf die Nichtigkeitserklärung eines Verwaltungsaktes beschränkte64 und schließlich, weil sie heutzutage in ein prozessuales und konstitutionelles System eingebettet ist, in dem unabhängig von dem gewählten Gerichtsverfahren jeder Betroffene jeden Anspruch gegenüber der Verwaltung geltend machen kann.

5.  Die Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit Den öffentlichen Amtsträgern und der Gerichtsstruktur, die die Aufgabe haben, die der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstehenden Rechte und Interessen zu schützen, müssen die der persönlichen und institutionellen Unabhängigkeit inhärenten Vorrechte zugesichert werden. So müssen die Richter unabsetzbar sein und auf Lebenszeit ernannt werden, ihre Vergütung muss gerecht und angemessen sein. Auswahl, Lauf bahn und Führung der Richter müssen einem Organ anvertraut werden, das deren Unabhängigkeit gewährleistet, um zu verhindern, dass sich eine vertikale Struktur des Karrieredenkens und der hierarchischen Ordnung innerhalb der Richterschaft herausbildet.65 Außerdem muss die Besetzung des Richteramts – und dies gilt für alle Stufen der Rechtsprechung – in einem offenen, objektiven und transparenten Verfahren erfolgen, das auf der fachlichen Befähigung und den beruflichen Qualifikationen des Betreffenden gründet. Diese Prinzipien, die sich in dem Modellgesetz für – gerichtliche und außergerichtliche – Verwaltungsverfahren für Iberoamerika finden,66 sind zum Teil in der brasilianischen Verfassung verwirklicht. 61   Constituição da República Federativa do Brasil (Verfassung der Föderativen Republik Brasilien) vom 5. Oktober 1988, Artikel 100 und 109; Código de Processo Civil (Zivilprozessordnung) (Gesetz Nr.  5.869 vom 11. Januar 1973), Paragraph 191 und 730. 62   Gesetz Nr.  12.016 vom 7. August 2009. 63   Fromont, op. cit., S.  191. 64   Ibid., S.  164–168. 65   Eugenio Raúl Zaffaroni, Poder Judiciário (Gerichtsbarkeit), São Paulo, Revista dos Tribunais, 1995. 66   Instituto Ibero-Americano de Direito Processual (Iberoamerikanischen Institut für Prozessrecht), Código Modelo de Processos Administrativos – Judicial e Extrajudicial – para Ibero-América (Musterkodex für gerichtliche und außergerichtliche Verwaltungsverfahren für Iberoamerika), Paragraph 26, 27, 28 und

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Im brasilianischen Recht kann jeder Bürger, der mit entsprechendem Abschluss an einem öffentlichen Auswahl- und Prüfungsverfahren teilnimmt, für das Amt eines Richters der ersten Stufe ernannt werden. Die Richter der ersten Stufe werden entweder nach Verdienst oder nach Dienstjahren in die zweite Stufe befördert, wobei von ihnen eine ständige Weiterbildung an der Richterakademie verlangt wird. Ein Teil der zur Verfügung stehenden Richterämter der zweiten Stufen wird nach politischen Kriterien auf Vorschlag der berufständischen Organe (brasilianische Rechtsanwaltskammer und Staatsanwaltschaft) und später der Gerichte besetzt; die endgültige Ernennung erfolgt dann durch den Regierungschef. Bei der Besetzung des Obersten Gerichtshofs bestehen ähnliche Kriterien, wobei hier noch die Genehmigung des Parlaments erforderlich ist.67 In Brasilien sind bei der Ausübung der Verwaltungsrechtssprechung keine ehrenamtlichen Richter vorgesehen, mit Ausnahme der Sondergerichte, die, wenngleich Artikel 98, I e §  1 sie erlaubt, gesetzlich noch nicht vorgesehen sind. Die Verfassung von 1988 hat in Artikel 96 II die Gerichte mit der Befugnis zur Selbstverwaltung ausgestattet, die in der Wahl ihrer Leitungsorgane, der Ausarbeitung ihrer Geschäftsordnungen, der Organisation ihrer Geschäftsstellen, der unterstützenden Dienste und der Richterdienste, der Besetzung der Ämter der Berufsrichter der jeweiligen Gerichtsbarkeit sowie der Besetzung der erforderlichen Stellen der Justizverwaltung besteht. Die Verwaltungs- und Finanzautonomie ist auch in der Übertragung der Befugnis an die Gerichte verwirklicht, innerhalb der von den sonstigen Hoheitsträgern festgelegten Grenzen und gemäß den Haushaltsgesetzen ihre eigenen Haushaltspläne aufzustellen. Um die Gefahr äußerer Abhängigkeit auszuschließen, sind in Artikel 95 der Verfassung Verbote und Vorrechte für die Richter festgelegt 68 : die Ernennung auf Lebenszeit, womit gewährleistet ist, dass der Richter bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres im Amt verbleiben kann, außer im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung; die Unabsetzbarkeit, womit verhindert wird, dass der Richter zu einem anderen 29, Buenos Aires, IIDP, 2012, einsehbar unter: http://www.nupej.uff.br/12062012-aprovado-peloinstituto-ibero-americano-de-direito-processual-em-buenos-aires-código-modelo, Stand 16.6.2012. Genehmigt von der Hauptversammlung des Iberoamerikanischen Instituts für Prozessrecht anlässlich der XXIII. Iberoamerikanischen Prozessrechtstage in Buenos Aires am 8. Juni 2012. Das Projekt wurde im Februar 2012 durch die Überprüfungskommission abgeschlossen, welche bestand aus Prof. Ada Pellegrini Grinover, Brasilien (Vorsitzende). Prof. Ricardo Perlingeiro, Brasilien (Hauptgeschäftsführer), Prof. Abel Zamorano, Panama, Prof. Adriáns Simons, Peru, Prof. Angel Landoni Sosa, Uruguay, Prof. Carlos Manuel Ferreira da Silva, Portugal, Prof. Euripides Cuevas, Kolumbien, Prof. Gumesindo García Morelos, Mexiko, Prof. Ignacio M. Soba Bracesco, Uruguay, Prof. Juan Antonio Robles Garzón, Spanien, Prof. María Rosa Gutiérrez Sanz, Spanien, Prof. Odete Medauar, Brasilien, Prof. Ruth Stella Correa Palacio, Kolumbien und Prof. Sergio Artavia Barrantes, Costa Rica. 67   Constituição da República Federativa do Brasil (Verfassung der Föderativen Republik Brasilien) vom 5. Oktober 1988, Artikel 104. 68   Für die Richter gelten folgende Verbote: I – Die Ausübung anderer Ämter oder Funktionen als denen des Richteramts, auch bei bestehender Verfügbarkeit; II – Die Erhebung von Kosten oder Prozessbeteiligung, aus welchem Grund und unter welchem Vorwand auch immer, ebenso wie die Annahme von Hilfsleistungen oder Beiträgen seitens natürlicher Personen bzw. öffentlicher oder privater Einrichtigungen; III – Die Beteiligung an parteipolitischen Aktivitäten; IV – Die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs an dem Gericht, an dem er das Richteramt ausgeübt hat, vor Ablauf von drei Jahren nach seiner Entlassung oder Pensionierung.

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Organ der Justiz versetzt wird; dies kann nur aus Gründen des öffentlichen Interesses und aufgrund einer Mehrheitsentscheidung des Gerichts oder des Nationalen Justizrates geschehen, und schließlich die Unantastbarkeit der Besoldung. Die Effektivität dieser institutionellen und persönlichen Vorrechte der Richterschaft wird jedoch stark in Frage gestellt. So ist es beispielsweise erlaubt, dass die Exekutive bei der Haushaltsaufstellung auf die Mittelzuweisung an die Judikative Einfluss ausübt und die Unantastbarkeit der Richterbesoldung lediglich nominell besteht, ihre tatsächliche Geltung aber nicht gewährleistet ist. Intern ist es, obgleich die Richter sich vollkommen unabhängig fühlen, keine ideale Lösung, dass die Richter der zweiten Stufe disziplinarische Befugnisse und Befugnisse bei der Auswahl der Richter der ersten Stufe innehaben.69 In der Gesellschaft kann so der Eindruck einer hierarchischen, karriereorientierten Struktur entstehen, und es können Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf kommen, wenn ein Richter der ersten Stufe über die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten der zweiten Stufe desselben Gerichts, dem er angehört, entscheidet, womöglich gar über Angelegenheiten, die dessen Mitglieder betreffen.

6.  Die Anwaltserfordernis in der Verwaltungsgerichtsbarkeit Die Anwesenheit eines Rechtsanwalts im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit darf nicht als ein Recht, sondern muss als eine Pflicht betrachtet werden, und zwar auch für die Verwaltung selbst, für die es erforderlich ist, sich professionell juristisch vertreten zu lassen. Die Anwaltspflicht in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist schon allein aufgrund der Komplexität der Rechtsangelegenheiten des öffentlichen Rechts geboten. Wenn Anwaltspflicht besteht, muss der Staat jenen, die dafür nicht die Mittel haben, Prozesskostenhilfe gewähren.70 Obwohl in Brasilien die Anwaltspflicht nur vor den Sondergerichten fakultativ ist, hat in der Praxis jeder Betroffene einen Rechtsbeistand, auch wenn es sich dabei vielleicht nur um einen Bediensteten des Gerichts handelt, und so funktioniert das System der (was Anwaltshonorar und Gerichtskosten betrifft) unentgeltlichen Rechtsprechung relativ gut, was Effizienz und Umfang im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit angeht.71

7.  Zulässige Klagebegehren und Kontrolldichte Hinsichtlich ihrer Reichweite hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit in dem Sinne uneingeschränkt zu sein, dass sie in der Lage sein muss, das geltend gemachte subjek  Zaffaroni, op. cit.   Instituto Ibero-Americano de Direito Procesual (Iberoamerikanischen Institut für Prozessrecht), Código Modelo de Processos Administrativos – Judicial e Extrajudicial – para Ibero-América (Musterkodex für gerichtliche und außergerichtliche Verwaltungsverfahren für Iberoamerika), op. cit., Paragraphen 32, 33 und 34. 71   Constituição da República Federativa do Brasil (Verfassung der Föderativen Republik Brasilien) vom 5. Oktober 1988, Artikel 5, LXXIV; Gesetz Nr.  1.060 vom 5.2.1950. 69

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tive Recht in vollem Umfang zu verwirklichen und mithin, wenn nötig, einer Feststellung, Annullierung/Anfechtung, einer Verurteilung zu einem Tun oder Unterlassen oder der Verurteilung zur Herausgabe oder Zahlung zu entsprechen, und dies auch mittels gerichtlicher Entscheidungen über Eil- und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.72 Von dieser Uneingeschränktheit der Jurisdiktion sind der effektive Rechtsschutz und der Rechtsstaat abhängig, und damit ist auch das Dogma überwunden, die Justiz dürfe der Verwaltung keine Verpflichtung zu bestimmten Handlungen auferlegen, Buß- oder Zwangsgelder verhängen (contempt of court civil e criminal) oder auch öffentliches Vermögen von nicht grundlegender Bedeutung enteignen oder pfänden.73 Die Effektivität der Verwaltungsgerichtsbarkeit darf ihre Grenzen lediglich in einem punktuell vorgebrachten und nachgeprüften öffentlichen Interesse unter Beachtung der Gewährleistung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens und Mitteln zur Kompensation des Betreffenden finden. In dieser Hinsicht hat sich das brasilianische Recht beträchtlich entwickelt. Die Zivilprozessordnung, die hilfsweise auch auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit anwendbar ist, gestattet die Geltendmachung jedes Anspruchs gegenüber der Verwaltung. Es sind Eil- und Zwangsmaßnahmen vorgesehen, und zwar in unbedingt nötigen Fällen auch zur Zahlung von Bargeld, nach entsprechenden Präzedenzfällen des Obersten Bundesgerichtshofs.74 Die größte Schwierigkeit stellt indes die in der Verwaltung gängige Praxis dar, sich gegen Zwangsmaßnahmen mit dem simplen Argument einer Verletzung des öffentlichen Interesses mittels einer „einstweiligen Aussetzung“ („suspensão de liminar“) oder „Aussetzung des Urteils“ („suspensão de sentença“) zu wehren, was dem kontradiktorischen Prinzip im eigentlichen Sinne nicht gerecht wird.75 Der Ausschluss bestimmter öffentlicher Handlungen von der gerichtlichen Kontrolle ist nach wie vor in einigen Systemen präsent, obwohl eine Kategorie besonderer Handlungen, die sich ihrem Wesen nach in nichts von den übrigen Verwaltungshandlungen unterscheiden, theoretisch nicht mehr vorgesehen ist.76 Es ist jedenfalls unbestreitbar, dass die Unmöglichkeit der gerichtlichen Kontrolle des politischen Inhalts öffentlicher Handlungen ein Mythos ist. Diese Frage verdient es, ausgehend von den grundlegenden Prinzipien der Verwaltungsgerichtsbarkeit parallel zu den Prinzipien der Verfassungsgerichtsbarkeit, erneut beleuchtet zu werden. In Brasilien ist die Bezeichnung des Richters als bouche de la loi zweifellos als Floskel zu verstehen.77 Die wiederholte Behandlung der Politik im öffentlichen Gesund72   Instituto Ibero-Americano de Direito Procesual (Iberoamerikanischen Institut für Prozessrecht), Código Modelo de Processos Administrativos – Judicial e Extrajudicial – para Ibero-América (Musterkodex für gerichtliche und außergerichtliche Verwaltungsverfahren für Iberoamerika), op. cit., Darlegung der Gründe. 73   Ibid., Darlegung der Gründe. 74   Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Bundesverfassungsgericht), AI 59.7182, 2. Kammer, Berichterstatter Min. Cezar Peluzo, DJ, 6.11.2006. 75   Gesetz Nr.  8.437 vom 30. Juni 1992, Paragraph 4. 76   Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht (Direito administrativo), Übersetzt von Antônio F. de Sousa, Lissabon, Fundação Calouste Gulbenkian, 2006. S.  247; Eduardo García de Enterría, La lucha contra las inmunidades del poder (Der Kampf gegen die Immunität der Gewalt), Madrid, 1995, 3. Auflage, Civitas, S.  70–78. 77   Maria Teresa Sadek, Judiciário e arena pública: um olhar a partir da ciência política ( Justiz und

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heitswesen vor Gericht, die von den verschiedenen Seiten der brasilianischen Justiz konstatiert worden ist und sowohl die Verfassungs- wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit betrifft, ist ein treffliches Beispiel dafür, dass keine Handlung der öffentlichen Gewalt als von der Gerichtsbarkeit ausgenommen angesehen werden kann.78 Die gerichtliche Kontrolle über die Verwaltungshandlungen darf nicht nur die formalen und inhaltlichen Aspekte der Verwaltungshandlung betreffen, sondern muss auch die Ermessenskontrolle miteinschließen, wenn das Ermessens über die vom Gesetz erlaubten Grenzen hinaus ausgeübt oder zweckentfremdet wird oder Grundrechte oder Grundsätze wie die der Gleichheit, der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, der Verhältnismäßigkeit und des Vernunftprinzips verletzt.79 In diesem Zusammenhang wird von der Verwaltung ein vor allem ethisches und mit dem Rechtsstaat in Einklang stehendes Verhalten erwartet, das sich vorrangig durch die Einhaltung der Grundrechte und auf der Handlungsebene durch die Beachtung der Grundsätze des Verwaltungsrechts auszeichnet, von denen ich folgende hervorheben möchte:

8.  Grundsatz der Recht- und Gesetzmäßigkeit Der Grundsatz der Recht- und Gesetzmäßigkeit zielt darauf ab, die Verwaltung dem Recht zu unterstellen, und der Umstand, dass es in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehen ist, stärkt es noch, wie das peruanische Verwaltungsverfahrensgesetz belegt: „Las autoridades administrativas deben actuar con respeto a la Constitución, la ley y al derecho, dentro de las facultades que le estén atribuidas y de acuerdo con los fines para los que les fueron conferidas.“ (Die Verwaltungsbehörden müssen im Rahmen der ihnen erteilten Befugnisse unter Beachtung der Verfassung, des Gesetzes und des Rechts und in Übereinstimmung mit den Zwecken handeln, zu denen sie ihnen erteilt wurden.) 80 Außerdem ist zu betonen, dass die Verwaltung nicht nur über die Rechtmäßigkeit und die Verfassungsmäßigkeit, sondern auch über den Schutz der Menschenrechte wachen muss und dass sie auf diese Weise dazu befugt ist, das Gesetz oder die Verwaltungsnorm, an die sie gebunden ist, nicht zu erfüllen, wenn sie sie für nicht konventions- oder verfassungsgemäß erachtet, und sie, unbeschadet des Grundsatzes der hierarchischen Unterordnung, den zuständigen Kontrollorganen zur Feststellung der Konventions- oder Verfassungswidrigkeit vorlegt.81 Dennoch wird der Verwaltung öffentliche Arena: Ein Blick aus politikwissenschaftlicher Perspektive), in: Ada Pellegrini Grinover/ Kazuo Watanabe (Hrsg.), O controle jurisdicional de políticas públicas (Die rechtliche Kontrolle der Politik der öffentlichen Hand), Rio de Janeiro, 2011, 1.  Aufl., Forense, S.  1–33. 78   Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Bundesverfassungsgericht), Plenum SL 47 AgR, Berichterstatter Min. Gilmar Mendes, j. 17.3.2010, DJ 30.4.2010. 79   Instituto Ibero-Americano de Direito Procesual (Iberoamerikanischen Institut für Prozessrecht), Código Modelo de Processos Administrativos – Judicial e Extrajudicial – para Ibero-América (Musterkodex für gerichtliche und außergerichtliche Verwaltungsverfahren für Iberoamerika), op. cit., Paragraph 25. 80   Peru, Ley del Procedimiento Administrativo General (Gesetz über das Allgemeine Verwaltungsverfahren) (Gesetz Nr.  27.444 vom 10. April 2001), Paragraph IV, 1.1. Übersetzung aus dem Spani­ schen: Barbara Mesquita. 81  Henrique Savonitti Miranda weist auf die in Brasilien geführte Grundsatzdiskussion über die

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in Brasilien trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Bestimmung im Gesetz oder in der Verfassung die Initiative auferlegt, das Eingabeverfahren wirksam zu betreiben; es ist nicht zu rechtfertigen, dass verfassungs- oder konventionswidrige Gesetze übergangen oder in Erwartung eines nationalen oder internationalen Eingreifens seitens der Gerichtsbarkeit in Kauf genommen werden. Zum Fehlen eines nationalen Gesetzes zur Kontrolle des Schutzes der Menschenrechte hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte wörtlich ausgeführt: „En relación con las prácticas judiciales, este Tribunal ha establecido en su jurisprudencia que es consciente de que los jueces y tribunales internos están sujetos al imperio de la ley y, por ello, están obligados a aplicar las disposiciones vigentes en el ordenamiento jurídico. Pero cuando un Estado ha ratificado un tratado internacional como la Convención Americana, sus jueces, como parte del aparato del Estado, también están sometidos a ella, lo que les obliga a velar porque los efectos de las disposiciones de la Convención no se vean mermados por la aplicación de leyes contrarias a su objeto y fin, que desde un inicio carecen de efectos jurídicos. En otras palabras, el Poder Judicial debe ejercer un „control de convencionalidad“ ex officio entre las normas internas y la Convención Americana, evidentemente en el marco de sus respectivas competencias y de las regulaciones procesales correspondientes. En esta tarea, el Poder Judicial debe tener en cuenta no solamente el tratado, sino también la interpretación que del mismo ha hecho la Corte Interamericana, intérprete última de la Convención Americana. De tal manera, es necesario que las interpretaciones constitucionales y legislativas referidas a los criterios de competencia material y personal de la jurisdicción militar en México, se adecuen a los principios establecidos en la jurisprudencia de este Tribunal, los cuales han sido reiterados en el presente caso. Bajo ese entendido, este Tribunal considera que no es necesario ordenar la modificación del contenido normativo que regula el artículo 13 de la Con­ stitución Política de los Estados Unidos Mexicanos.“ (Hinsichtlich der gerichtlichen Praxis hat dieses Gericht in seiner Rechtsprechung festgestellt, dass es sich durchaus bewusst ist, dass die Richter und Gerichte dem jeweiligen landesinternen Gesetz unterstehen und deshalb dazu verpflichtet sind, die in der Rechtsordnung geltenden Bestimmungen anzuwenden. Wenn jedoch ein Staat ein internationales Abkommen wie die Amerikanische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat, sind seine Richter in ihrer Eigenschaft als Teil des Staatsapparates dieser ebenfalls unterworfen und dazu verpflichtet darüber zu wachen, dass die Wirkungen der Bestimmungen der Konvention nicht durch die Anwendung ihrem Sinn und Zweck entgegenstehender Gesetze geschmälert werden, denen es von Beginn an rechtlichen Wirkungen mangelt. Mit anderen Worten, die Justiz muss von Amts wegen kontrollieren, ob zwischen den innerstaatlichen Normen und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention Konformität herrscht, wobei dies selbstverständlich innerhalb des Rahmens ihrer jeweiligen Kompetenzen und der entsprechenden prozessualen Regularien zu erfolgen hat. Dabei muss die Justiz nicht nur das Abkommen Möglichkeit der Verwaltung hin, sich schlicht zu weigern, Gesetze oder Verwaltungsakte mit normativem Charakter zu befolgen, die der Verfassungs widersprechen. Befürworter sind Carlos Maximiliano; Francisco Campos; José Celso de Mello Filho; Caio Tácito; Manoel Gonçalves Ferreira Filho; Miguel Reale; Hely Lopes Meirelles. Gegner: Celso Antônio Bandeira de Mello; Gilmar Ferreira Mendes; Zeno Veloso (Henrique Savonitti Miranda, Licitaçoes e contratos administrativos (Verwaltungsausschreibungen und Verwaltungsverträge), Brasília, 2004, Escola Nacional de Administração Pública (Nationale Schule für Öffentliche Verwaltung), verfügbar unter: www.enap.gov.br/downloads/ec43ea4f UFAM-HenriqueLicita.pdf, Stand 19. April 2011). Ich bin jedoch der Ansicht, dass keine Kontroversen hinsichtlich der Möglichkeit bestehen, die Verfassungswidrigkeit dem zuständigen Organ, dem Bundesverfassungsgericht, vorzulegen.

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selbst berücksichtigen, sondern auch seine Auslegung durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, der die höchste Instanz zur Auslegung der Konvention darstellt. So ist es erforderlich, dass die Verfassungs- und Gesetzesinterpretationen hinsichtlich der sachlichen und personellen Zuständigkeit der mexikanischen Militärgerichtsbarkeit den in der Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte festgelegten Grundsätzen entsprechen, die im vorliegenden Fall wiederholt worden sind. Diesem Verständnis nach hält dieses Gericht es nicht für erforderlich, eine Änderung des normativen Inhalts zu verfügen, der Artikel 13 der politischen Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten regelt.) 82

9.  Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Vernunftprinzip Die brasilianische Rechtslehre neigt dazu, von einer Identität von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vernunftprinzip auszugehen. Bandeira de Mello bemerkt dazu: „Streng genommen ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nichts anderes als eine Facette des Vernunftprinzips. Er verdient eine eigenständige Hervorhebung, eine besondere Erwähnung, damit die spezifische Physiognomie eines Mangels sichtbar wird, der auftreten und sich in der Gestalt der Unverhältnismäßigkeit eines Verwaltungsaktes zeigen kann, wobei sich auf diese Weise die Möglichkeiten einer auf diese Grundlage gestützten gerichtlichen Korrektur deutlich hervortun. Insofern als er ein spezifischer Aspekt des Vernunftprinzips ist, versteht sich, dass seine Verfassungsmatrix dieselbe ist.“83

Obgleich beide Prinzipien in Artikel 2 des Gesetzes Nr.  9.784/98 erwähnt werden, wird nur der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dort wie folgt erklärt: „Angemessenheit zwischen Mitteln und Zweck, bei dem Verbot der Auferlegung von Pflichten, Beschränkungen und Sanktionen über das Maß hinaus, das für die Wahrung des öffentlichen Interesses unbedingt notwendig ist“ (Artikel 2, VI). Bemerkenswert ist, dass der fragliche Grundsatz im Gesetz mit dem „öffentliche Interesse“ in Verbindung gebracht wird und selbstverständlich neben den Grundsätzen der Gleichheit, des guten Glaubens und des Vertrauensschutzes bei der Ausübung des freien Ermessens in der Verwaltung gebraucht wird.

10.  Das Gleichheitsprinzip Die Justiz sollte Adressatin des Gleichheitsprinzips ein und sich gleichermaßen darum bemühen, es denen zuteil werden zu lassen, über die sie Recht spricht und die sich faktisch in der gleichen Lage befinden. Vor diesem Hintergrund sind bestimmte prozessuale Instrumente wie die Sammelklage, die bindende gerichtliche Vorent82   Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte, in der Sache Radilla Pacheco ./. Mexiko, Vorläufige Einreden, materielle Gründe, Aufwendungen und Kosten. Urteil vom 23. November 2009. Serie C Nr.  209. Verfügbar unter: http://www.tc.gob.pe/corte_interamericana/seriec_209_esp.pdf. Stand: 12. Juli 2012. Übersetzung aus dem Spani­schen: Barbara Mesquita. 83   Celso Antônio Bandeira de Mello, Curso de direito administrativo (Verwaltungsrecht), São Paulo, 2006, 21.  Aufl., Malheiros, S.  107–108.

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scheidung und der Musterprozess gerechtfertigt, die ebenfalls der Idee eines umfassenden Zugangs zur Justiz und zur Reduzierung der Zahl sich wiederholender oder massenhafter Gerichtsverfahren dienen. Wenn es jedoch um Rechtssachen des öffentlichen Rechts geht, bei denen das Verhalten oder die Handlungsweise der Verwaltung von allgemeiner Reichweite in Frage stehen, ist die Anwendung des Gleichheitsprinzips in der Rechtsprechung doppelt notwendig, vor allem im Hinblick auf das Gleichheitsgebot, an das die öffentliche Verwaltung im materiellen wie außergerichtlichen Bereich stets gebunden gewesen ist.84 Es wäre widersinnig, wenn gegen ein ursprünglich auf das Gemeinwesen gerichtetes Verwaltungshandeln, nachdem es bereits vor Gericht verhandelt worden ist, nur noch von denen Einwände erhoben werden könnten, die eine Klage erheben wollten. Die Justiz darf nicht mit einer Auslegung in Verbindung gebracht werden, die in der Lage ist, das Prinzip der Gleichheit vor der öffentlichen Gewalt zu brechen. Andererseits dient das von der Verwaltung zu berücksichtigende Prinzip der Gleichheit nicht dazu, das Leugnen von subjektiven Rechten zu rechtfertigen. Es konterkariert die Idee der Gleichheit, wenn einem Bürger ein Recht gewährt wird, das sich auch auf alle anderen ausdehnen ließe, die sich in der gleichen Lage wie er befinden, ohne dass dies jedoch geschieht. Der Fehler indes besteht nicht darin, dass die Justiz das Recht anerkennt, sondern darin, dass die Verwaltung diese Anerkennung nicht ausdehnt.85 So besteht denn auch eine der größten Herausforderungen des zeitgenössischen Verwaltungsrechts in dem Fehlen einheitlicher Verwaltungsentscheidungen in Bezug auf die Betroffenen, die sich faktisch in ein und derselben Lage befinden. Dadurch wird eine Vielzahl sich wiederholender Klagen vor allem im Bereich der Rechtsprechung genährt, die die Rechtssicherheit potentiell erschüttern können. In Europa stößt das Gleichheitsprinzip in einigen nationalen Systemen auf Schwierigkeiten bei seiner Anwendung auf die Verwaltungsentscheidungen, aber in der Rechtslehre ist dieses Thema bisher nicht untersucht worden.86 Gemäß dem Musterkodex für Verwaltungsverfahren für Iberoamerika muss die Gleichheit in der Verwaltung so sein, dass wenn ein individuelles Klagebegehren mit den rechtlichen Wirkungen eines Verhaltens der Verwaltung von allgemeiner Reichweite verbunden ist, der Ausgang der Streitigkeit von Interesse für die Gesamtheit der Betroffenen dieses Verhaltens sein und sich die Lösung mithin aus einer einzigen Verwaltungsentscheidung mit Wirkungen erga omnes ergeben muss.87   Ricardo Perlingeiro, „O princípio da isonomia na tutela judicial individual e coletiva, e em outros meios de solução de conflitos, junto ao SUS e aos planos privados de saúde“ in: Milton Nobre/ Ricardo Dias (Hrsg.), O Conselho Nacional de Justiça e os desafios da efetivação do direito à saúde, Belo Horizonte, 2011, Forum, S.  429–441. 85   Brasilien, Tribunal Regional Federal da 2a Região (Regionales Bundesgericht der 2. Region), AG 201102010109190, 5. Kammer, Berichterstatter Ricardo Perlingeiro, E-DJF2R 13.2. 2012. 86   „L’existence du principe d’égalité dans le droit administratif ne fait l’objet d’aucune hésitation dans les divers pays étudiés. Certes le droit britanique a longtemps préféré parler de rationalité et de cohérence plutôt que d’égalité, même si les solutions concrètes étaient pratiquement les mêmes; mais depuis une vingtaine d’années, le principe d’égalité est ouvertement appliqué par le juge britanique.“ Fromont, op. cit., S.  253–256. 87   Instituto Ibero-Americano de Direito Processual (Iberoamerikanischen Institut für Prozessrecht), Código Modelo de Processos Administrativos – Judicial e Extrajudicial – para Ibero-América (Musterkodex für gerichtliche und außergerichtliche Verwaltungsverfahren für Iberoamerika), Paragraph 5. 84

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Als direkte Folge daraus würden gerichtliche Übereinkünfte, die Verwaltungsnormen oder Handlungen von allgemeiner Reichweite mit sich bringen, notwendigerweise all jene erreichen, die sich faktisch in der gleichen Lage befänden, selbst wenn sie an diesen Übereinkünften nicht beteiligt wären.88

11.  Die Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes Die Rechtssicherheit soll als Begrenzung der Befugnisse zur Selbstkontrolle der Verwaltung fungieren. Die Rücknahme von rechtswidrigen Verwaltungsakten, -normen oder -entscheidungen, die indes begünstigende Wirkungen für die Betroffenen gezeitigt haben, ist abhängig von einem verwaltungsrechtlichen Vorverfahren und soll aus objektiver Sicht lediglich innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen, außer im Falle nachweislicher Bösgläubigkeit, und aus subjektiver Sicht dann, wenn damit kein Vertrauensverlust des Betroffenen in den Bestand des Verwaltungshandelns verbunden ist.89 Das Prinzip des Vertrauensschutzes ist an die subjektive Dimension des guten Glaubens gekoppelt, welche auf den Grundrechten fußt, und wird von der Rechtssicherheit des Rechtsstaates abgeleitet, wie das deutsche Gesetz sie vorgibt. Demzufolge darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung gewährt, (.  .  .) nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann.90

Abgesehen von solchen Fällen, muss nach Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes und Abwägung des öffentlichen Interesses ein Ausgleich des durch das Vertrauen in seinen Bestand erlittenen Schadens erfolgen.91 In beiden Fällen kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, wenn arglistige Täuschung, Drohung, Bestechung, Kenntnis der Ungültigkeit oder Unkenntnis infolge grober Fahrlässigkeit seitens des Betreffenden oder eine Erwirkung des Verwaltungsaktes auf der Grundlage unrichtiger oder unvollständiger Angaben vorgelegen hat.92 Die Rücknahme ist innerhalb der Frist von einem Jahr ab dem Zeitpunkt der Kenntnis der Ungültigkeit zulässig, ausgenommen im Falle arglistiger Täuschung, Drohung und Bestechung, wobei der jeweils andere Aspekt des Vertrauensschutzes nicht vorliegen muss.93 Für Forsthoff gibt es im deutschen Recht lediglich zwei Situationen für eine Rücknahme von Verwaltungsakten: Die Auf hebung (Unwirksamkeit eines Verwal  Ibid., Paragraph 72, II.   Ibid., Paragraph 19 und 20. 90   Verwaltungsverfahrensgesetz/VwVfG (Gesetz vom 25. Mai 1976), §  48 Abs.  2 . 91   Ibid., §  48 Abs.  3. 92   Ibid., §  48 Abs.  2 S.  3 (Nr.  1–3); Abs.  3 S.  2 . 93   Ibid., §  48 Abs.  4. 88 89

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tungsaktes, der nur belastende Wirkungen hat) und der Widerruf (Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes, der begünstigende Wirkungen zeitigt). Prinzipiell ist der „freie“ Widerruf unzulässig, außer wenn der ungültige Verwaltungsakt auch rechtswidrig ist, wie im Falle der arglistigen Täuschung, oder wenn neue sachliche und rechtliche Umstände vorliegen.94 Im französischen Verwaltungsrecht ist der Grundsatz der Rechtssicherheit an das Prinzip der Nichtrückwirkung und das Prinzip der erworbenen Rechte (rechtlich konsolidierte Situationen) geknüpft. Im Falle der Veränderung einer Situation, auch wenn sie widerrechtlich ist, verbindet die französische Verwaltung den Grundsatz der Rechtssicherheit mit der „Pflicht zur Wiederherstellung einer rechtskonformen Situation“. So kann die Verwaltungsentscheidung, durch die die rechtswidrigen „Rechte“ begründet worden sind, zurückgenommen werden, was allerdings innerhalb einer bestimmten Frist zu geschehen hat.95 Das ist die objektive Logik des französischen Rechts. Im britischen Recht ist die Rechtssicherheit mit dem Schutz der rechtmäßigen Erwartungen verbunden (legitimate expectations), so dass die Verwaltung den Betreffenden nicht zu Fehlern verleiten darf. Was jedoch widerrechtlich gefestigte Situationen anbetrifft, ist das englische Recht noch strenger als das französische und lässt die Möglichkeit von subjektiven Rechten contra legem in keinem Fall zu.96 Das europäische Verwaltungsrecht, das die nationalen europäischen Rechtsordnungen immer stärker beeinflusst, betont allerdings den Vertrauensschutz deutschen Ursprungs.97 In Brasilien hat das Gesetz Nr.  9.784/99, teilweise im Widerspruch zu dem Wortlaut des Leitsatzes Nr.  473 des Obersten Bundesgerichtshofs („Die Verwaltung kann ihre eigenen Verwaltungsakte für nichtig erklären, wenn diese Mängel aufweisen, die sie widerrechtlich machen, weil aus ihnen keine Rechte herrühren .  .  .“), neben dem deutschen Subjektivismus mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, die französische objektive Matrix zur Rechtssicherheit in das Recht aufgenommen, und zwar insbesondere in zwei Punkten: (1) Nach Ablauf von fünf Jahren verfällt das Recht zur Nichtigerklärung von Verwaltungsakten mit begünstigender Wirkung, ausgenommen im Falle nachgewiesener Bösgläubigkeit; (2) Möglichkeit der Heilung mangelhafter Verwaltungsakte, die keine Verletzung des öffentlichen Interesses oder Dritter mit sich bringen. Das Nichtvorliegen einer Bösgläubigkeit – welche der Abwesenheit von arglistiger Täuschung entspricht – rechtfertigt in Verbindung mit dem Ablauf der Frist die Heilung von Verwaltungsakten mit begünstigender Wirkung, die gesetzeswidrig sind und als für nichtig zu erklären gelten (Paragraph 54 des Gesetzes Nr.  9.784/99: „Das Recht der Verwaltung, Verwaltungsakte zu annullieren, die begünstigende Wirkungen für die Empfänger zeitigen, verfällt innerhalb von fünf Jahren ab dem Datum, an dem sie ausgeführt wurden, ausgenommen im Falle nachgewiesener Bös94   Ernst Forsthoff, Verwaltungsrecht (Tratado de derecho administrativo/Übersetzung Legaz Lacambra, Garrido Falla und Gómez de Ortega y Junge), Madrid, 1958, Instituto de Estudios Políticos, S.  359 und 363. 95   Fromont, op. cit., S.  261–269. 96   Ibid., S.  268. 97   Jean Sirinelli, Les transformations du droit administratif par le droit de l’Union Européenne, Paris, LGDJ, 2011, S.  499.

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gläubigkeit“). Diese Vorschrift entspricht analog der Bestimmung des §  48 Abs.  4, des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG). Gemäß den Bestimmungen des Paragraphen 55 des Gesetzes Nr.  9.784/99 („Bei Entscheidungen, die offenkundig weder eine Verletzung des öffentlichen Interesses noch Schaden für Dritte mit sich bringen, können Verwaltungsakte, die heilbare Mängel aufweisen, von der Verwaltung selbst für wirksam erklärt werden“), hängt die Heilung rechtswidriger Verwaltungsakte zu jedem Zeitpunkt von der Nichtverletzung des öffentlichen Interesses ab, welches, dies sei erwähnt, nicht zu verwechseln ist mit dem Interesse der Verwaltung. Doch trotz der Lücke darf die Heilung nur dann beschränkt werden, wenn dies für die Wahrung des Interesse derer notwendig ist, die von ihr profitieren in Anbetracht des in die öffentliche Gewalt gesetzten Vertrauens, das sich immer dann zeigt, wenn ernsthafte Gründe dafür sprechen, an den Bestand des Verwaltungsaktes zu glauben. Somit bekommt die Vorschrift einen direkten Bezug zum Grundsatz des Vertrauensschutzes nach dem Beispiel des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), §  48 Abs.  2 und 3. Was den Schutz der erworbenen Rechte als Bedingung für den Widerruf von Verwaltungsakten in Paragraph 53, Gesetz Nr.  9.784/99, angeht, erscheint es offensichtlich, dass die Verwaltung unter normalen Umständen rechtmäßige Verwaltungsakte, die Rechte begründen, nicht widerruft. Die Vorschrift wäre mithin nur dann sinnvoll, wenn der Begriff „Widerruf “ in der deutschen Weise auf die Rücknahme unwirksamer Verwaltungsakte mit begünstigender Wirkung bezogen gebraucht würde und die „erworbenen Rechte“ eben die sich aus den begünstigenden Wirkungen ergebenden wären.98 Der erwähnte Paragraph könnte auch wie in der französischen Rechtsprechung von der Existenz zweier Kategorien von Verwaltungsentscheidungen ausgehend ausgelegt werden, nämlichen denen, die Rechte begründen (solche, die beispielsweise Geldleistungen genehmigen), und denen, die keine Rechte begründen (wie Verwaltungsakte der Polizei). Nur bei letzteren könnten später eintretende Umstände zu einer Rücknahme des Verwaltungsaktes führen.99 In diesem Zusammenhang halte ich in Brasilien die Interpretation für zulässig, dass sofern keine Verletzung des öffentlichen Interesses vorliegt, die begünstigenden und vollzogenen Wirkungen rechtswidriger Verwaltungsakte ebenso schutzwürdig sind wie die Wiedergutmachung der durch das in die Verwaltung gesetzte Vertrauen erlittenen Verluste und Schäden. Sofern keine arglistige Täuschung vorliegt und die Fünfjahresfrist verstrichen ist, wird der rechtswidrige Verwaltungsakt geheilt und bewahrt zudem die vollzogenen Wirkungen.

12.  Das Prinzip der Rechtmäßigkeit des Verfahrens (Umfassende Verteidigung und kontradiktorisches Prinzip) Zur Legitimierung jedweder individuellen Verwaltungsakte mit punktuellen und restriktiven Wirkungen auf Rechte oder Interessen muss das Verwaltungsverfahren,   Forsthoff, op. cit., S.  359 und S.  363.   Fromont, op. cit., S.  266.

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dies sei betont, vor deren Zustandekommen erfolgen. Die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs, mit dem der Verwaltungsakt nach dem kontradiktorischen Prinzip a posteriori angefochten wird, entbindet nicht von der Pflicht zu einem Verfahren vor dessen Zustandekommen; das Verwaltungsverfahren ist eines der konstitutiven Elemente des Verwaltungsaktes. Das dem Verwaltungsverfahren innewohnende kontradiktorische Prinzip und das der umfassenden Verteidigung sind nicht nur mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör oder der Durchführung einer Beweisaufnahme am Day in court gleichzusetzen, sondern vor allem mit dem Recht, eine begründete öffentliche Entscheidung zu erlangen, die vor allem die von den Parteien vorgebrachten Tatsachen und rechtlichen Argumente berücksichtigt.100 Ganz in diesem Sinne erfolgen unter dem Einfluss der Spruchpraxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts die Entscheidungen des brasilianischen Obersten Bundesgerichtshofs, so dass das Recht auf Verteidigung und das kontradiktorische Prinzip nicht nur das Recht auf Äußerung und das Informationsrecht beinhalten, sondern auch das Recht des Individuums darauf, dass seine Argumente von dem Rechtsprechungsorgan berücksichtigt werden.101 Was offenkundig zu sein scheint, fordert in Brasilien indes bis heute vielfach den Widerstand der öffentlichen Verwaltung heraus. Als Beispiele seien hier zwei paradigmatische Fälle angeführt, die sich bei den Gerichten häufig wiederholen. Der eine betrifft Verwaltungsakte zur Regelung von Einzelfällen, der andere bezieht sich auf Allgemeinverfügungen.

a)  Rückzahlung von Beamtenbezügen Der erste Fall bezieht sich auf die Rückzahlung von Beamtenbezügen. Ziel ist die Rückerstattung zu Unrecht gezahlter Beträge auf der Grundlage des Gesetzes Nr.  8.112/29,102 wobei den Beamten kein vorheriges Verwaltungsverfahren zugesichert wird. Die Vorstellung, dass die öffentliche Verwaltung zur Beitreibung von Schulden die Befugnis hat, Abzüge von der Vergütung ihrer eigenen Bediensteten vorzunehmen, ohne die Zusicherung des gebotenen rechtmäßigen Prozesses vor einem Rechtsprechungsorgan zu beachten, ebenso wie Aussagen der Art, „ein Beamter im öffentlichen Dienst hat kein erworbenes Recht auf eine Regelung seines Status“,103 können 100   Instituto Ibero-Americano de Direito Processual (Iberoamerikanischen Institut für Prozessrecht), Código Modelo de Processos Administrativos – Judicial e Extrajudicial – para Ibero-América (Musterkodex für gerichtliche und außergerichtliche Verwaltungsverfahren für Iberoamerika), op. cit., Darlegung der Gründe. 101   Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Oberster Bundesgerichtshof ), MS 25.787–3/DF, Berichterstatter Gilmar Mendes, Brasília, DF. 102  Gesetz Nr.   8.112 vom 11.   November 1990 (in der Fassung der Einstweiligen Anordnung Nr.  2 .225–45 vom 4.9.2001), Paragraph 46. 103   Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Oberster Bundesgerichtshof ), AI 64.1911, AgR. 1. Kammer, Berichterstatterin Min. Carmen Lúcia, j. 8.9.2009, DJe 1.10.2009; Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Oberster Gerichtshof ), RE 116.683, Berichterstatter Min. Celso de Mello, DJ 13.3.1993; Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Oberster Bundesgerichtshof ), AI 685–866-AgR, Berichterstatter Min. Ricardo Lewandowski, DJe 22.5.2009.

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als Überreste eines Verständnisses der sogenannten „besonderen Gewaltverhältnisse“ vom Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet werden, demzufolge sich die Staatsdiener zur Befriedigung ihrer aus der Bindung an den Staat resultierenden Ansprüche besonderen Statuten oder Vorschriften zu unterwerfen hatten, gegenüber denen die Grundrechte, der Gesetzesvorbehalt und die Rechtssicherheit nicht griffen.104 Diese besonderen, verfassungsmäßig institutionalisierten Beziehungen des öffentlichen Rechts waren gekennzeichnet durch eine eigene, lediglich intern verbindliche Disziplinarordnung105 sowie begründet und begrenzt, entweder qua Gesetz, wie bei den Beziehungen des Wehrpflichtdienstes, oder durch den Willen des Betreffenden selbst, wie bei den Beziehungen der Beamten des öffentlichen Dienstes und den Berufssoldaten. Damals hieß es sogar, ein Professor könne „einen nachlässigen Studenten ohne Weiteres einsperren“.106 Wenn der Bürger in den Staatsdienst eintrat, verließ er die Gesellschaft.107 Diese Sichtweise eines lediglich formell existierenden Rechtstaates von damals ist heute überwunden. In Deutschland erfolgte der endgültige Bruch mit der Auffassung, die besonderen Gewaltverhältnisse schafften rechtsfreie Räume, mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht von 14.3.1972, mit der bestätigt wurde, dass die Grundrechte auch beim Wirksamwerden von Verwaltungsstrafen gelten.108 Es liegt auf der Hand, dass die ausschließlich mit seinen administrativen Kompetenzen verbundenen Ansprüche eines öffentlich Bediensteten nur scheinbare sind und dass eventuelle Streitfragen interna corporis von der Verwaltung selbst gelöst werden müssen; in diesen Fällen existiert kein subjektives Recht im eigentlichen Sinne. Die Verwaltung hat keine Rechte sich selbst gegenüber, und dies war auch die Intention des Instituts des „besonderen Gewaltverhältnisses“ in Verbindung mit einem internen und somit als rechtsfrei angesehenen Rahmen. Daher rührt die zutreffende Behauptung, die Justiz solle sich nicht in interne Fragen der Verwaltung einmischen. Diese muss die Satzungen, Ordnungen und Regelwerke respektieren, die beispielsweise die Kriterien für die interne Auswahl des Präsidenten einer öffentlichen Universität (Autonomie der Universität) oder auch eines Gerichts festlegen, zumal die Auswirkungen eines Konfliktes dieser Natur sich intern erschöpfen und es folgerichtig keine subjektiven Rechte gibt, die rechtlich zu schützen wären. Ebenso verhält es sich mit der Verwaltungsstruktur der Legislative (Wahl zu Parlamentsausschüssen etc.) Wenn ein öffentlich Bediensteter jedoch eine Verletzung seiner Vermögenssphäre geltend macht, muss das entsprechende Begehren, auch wenn es direkt aus seiner Bindung an die Verwaltung herrührt, von den Grundrechten geschützt sein. Im Ge-

104   Hartmut Maurer, Direito administrativo geral (Allgemeines Verwaltungsrecht), Barueri, 2006, Manole, S.  195. 105   Otto Mayer, Derecho administrativo alemán (Deutsches Verwaltungsrecht), Buenos Aires, 1982, Depalma, t. I, §  10, III, S.  170–171. Forsthoff, op. cit., S.  201. 106   Walter Jellinek, Verwaltungsrecht S.  122, 341, apud Maurer, op. cit., S.  195. 107   Wolff/Bachof/Stober, op. cit., S.  111. 108   BVerfGE, 33, 1.

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gensatz zu früheren Auffassungen ist der öffentlich Bedienstete nicht Objekt dieses „besonderen Gewaltverhältnisses“, sondern nach wie vor Rechtssubjekt.109

b)  Das Prinzip des Anspruchs auf weitreichende Verteidigung bei Entscheidungen des brasilianischen Bundesrechnungshofs Im zweiten Fall geht es um ein vorheriges Verwaltungsverfahren als Bedingung für den Erlass von Entscheidungen durch die Rechnungshöfe. Über viele Jahre herrschte in Brasilien überwiegend die Auffassung, dass in einem Verwaltungsverfahren vor einem Rechnungshof kein Grund dafür bestehe, den potentiell Betroffenen das Recht auf Verteidigung zu gewährleisten, und zwar deshalb nicht, weil man davon ausging, dass dieses Verfahren ausschließlich gegen die Verwaltung gerichtet sei und mithin ein interner Vorgang zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verwaltung. Gegebenenfalls sollten die Betreffenden direkt gegenüber der Verwaltung ihre Rechte einfordern. Indes wäre eine nach dem Prinzip der hierarchischen Unterordnung gegliederte Verwaltung in der Realität niemals in der Lage, sich einer vom Rechnungshof vertretenen Auffassung entgegenzustellen, wodurch das Recht auf Verteidigung zu einem rein protokollarischen Recht ohne jede praktische Auswirkung wurde. Im Jahr 2007 hat der brasilianische Oberste Bundesgerichtshof dann in seinem bindenden Leitsatz („súmula vinculante“) 3 Folgendes verkündet: „In den Verfahren vor dem Bundesrechnungshof werden das kontradiktorische Prinzip und die umfassende Verteidigung in den Fällen zugesichert, in denen die Entscheidung die Nichtigerklärung oder den Widerruf eines Verwaltungsakts zur Folge haben kann, der den Betreffenden begünstigt [.  .  .].“110 In seiner Auslegung dieses Leitsatzes hat der Bundesrechnungshof dann entschieden, dass es dem Bundesrechnungshof nicht obliegt, das kontradiktorische Prinzip für alle Betroffenen bei allgemeinen Bestimmungen des Gerichts anzuwenden – die in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Befugnisse erlassen werden, von denen, über die Recht gesprochen wird, die genaue Einhaltung des Gesetzes zu verlangen –, wenn deren Inhalt lediglich objektiv ist und keine konkreten subjektiven Situationen gewürdigt werden, also ohne die Anwesenheit des bestimmten passiven Subjekts.111

Wie bereits erwähnt, muss es in jedem Verwaltungsverfahren die Möglichkeit zu umfassender Verteidigung und Anwendung des kontradiktorischen Prinzips geben mit dem Ziel, das Zustandekommen von Verwaltungsakten zu legitimieren, die Auswirkungen auf den privaten Bereich der Betreffenden haben. Angesichts des eigentlichen Wesens des Verwaltungsverfahrens sind es jedoch tatsächlich nur die Verwaltungsakte und -entscheidungen im Einzelfall, die eine vorherige Ausübung des Rechts auf Verteidigung gestatten. Sichergestellt werden muss, dass wenn von der   Wolff/Bachof/Stober, op. cit., S.  494.   Brasilien, Supremo Tribunal Federal (Oberster Bundesgerichtshof ), Súmula Vinculante n 3 (Bindender Leitsatz Nr.  3 ), Plenum, 30. Mai 2007, Brasília, DF, DJe Nr.  31 vom 6.6.2007, S.  1. 111   Brasilien, Tribunal de Contas da União (Bundesrechnungshof ), Urteil 2.553/2009, Plenum, Berichterstatter Min. José Jorge, DJ 4.11.2009. 109 110

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Gründung konkreter Verwaltungsakte oder von Allgemeinverfügungen oder von den allgemeinen Auswirkungen individueller Verwaltungsakte die Rede ist, das Verwaltungsverfahren das sogenannte verschobene kontradiktorische Prinzip ermöglicht. In diesem Fall wird aufgrund der Unmöglichkeit, jeden einzelnen Betroffenen zur Vertretung seiner Interesssen vorzuladen, die Maßnahme durch eine Volksbefragung oder eine öffentliche Anhörung ersetzt, wie sie in der brasilianischen Gesetzgebung in Paragraph 31 und 32 des Gesetzes Nr.  9.784/1999 vorgesehen sind. Entsprechende Bestimmungen finden sich auch in den Rechtsordnungen anderer iberoamerikanischer Länder, so in Costa Rica, Peru, Mexiko und Venezuela.112 Hervorzuheben ist weiter, dass dem Betreffenden die Möglichkeit zugesichert wird, später ein neues Verwaltungsverfahren mit uneingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten anzustrengen mit dem Ziel, die aus dem vorherigen Verwaltungsverfahren herrührenden individuellen Auswirkungen des allgemeinen Verwaltungsaktes zu beseitigen, in welchem er durch die Institutionen vertreten wurde, die an den öffentlichen Anhörungen teilnehmen konnten. Zuletzt sei daran erinnert, dass Fragen von allgemeinem Interesse nicht von einer Verwaltungsbehörde entschieden werden dürfen, die auf einer niedrigeren hierarchischen Stufe steht als die, welche den Konflikt ausgelöst hat. Die Entscheidung fällt vielmehr in die Zuständigkeit der Behörde, die die Selbstkontrolle über die sachrechtliche Frage wahrnimmt, welche von den Betreffenden aufgeworfen worden ist. Auf diese Weise kann für den Fall, dass das Begehren die Feststellung der Unwirksamkeit oder Unrechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes beinhaltet, nur die für die Nichtigerklärung des Verwaltungsaktes zuständige Verwaltungsbehörde selbst oder eine ihr übergeordnete das Verfahren entscheiden, weil ansonsten eine Missachtung oder Ungehorsam gegenüber der Verwaltung vorläge. Die Rechnungshöfe müssen es also unterlassen, die Einhaltung der umfassenden Verteidigung und des kontradiktorischen Prinzips stets an die Verwaltung zu delegieren und dazu übergehen, selbst die zur Anfechtung ihrer Entscheidungen durch Einzelpersonen bestimmten Verwaltungsverfahren zuzulassen, bei denen die sach  Allan Brewer-Carías, Principios del procedimiento administrativo en América Latina (Grundsätze des Verwaltungsverfahrens in Lateinamerika), Bogotá, 2003, Legis, S.  98–99. In Frankreich ist um die Beteiligung von Betroffenen an Entscheidungen von kollektivem Interesse eine schwierige Diskussion entbrannt, für die die Nationale Kommission für Öffentliche Diskussionen zuständig ist, die derzeit den Status einer unabhängigen Verwaltungsbehörde innehat und deren Funktion darin besteht, für eine Stärkung der Beteiligung der Bevölkerung an Verfahren zur Erarbeitung von Städtebauprojekten mit Auswirkungen auf Wirtschaft und Umwelt zu sorgen (Marcel Pochard, La Administración Pública y la protección de los derechos fundamentales, in: Consejo de Estado de la República de Colombia. Seminario Franco-Colombiano sobre la Reforma a la Jurisdicción Contencioso Administrativa (Französisch-Kolumbianisches Seminar über die Reform der Rechtsprechung in Verwaltungsverfahren), Bogotá, 2008, Imprenta Nacional de Colombia, S.  85–86; Fromont, op. cit., S.  220–221). Am stärksten engagieren sich die britischen Gesetze mit öffentlichen Anhörungen in die öffentlichen Verfahren: „Incontestablement, c’est le droit britannique qui a donné le plus d’importance aux procédures publiques qui sont appelées enquêtes publiques. Ce qui caractérise les enquetes, c’est que celles-ci commencent par des mesures de publicité permettant à l’ensemble des personnes intéressées de prende part aux audiences qui sont ensuite organisées de façon contradictoire selon un modèle quasi juridictionnel, mais qui ne portent en principe que sur la situation de fait du territoire concerné, ce qui permet ensuite à l’autorité administrative compétente de prendre en considération des objectifs qui dépassent le strict cadre territorial“ (Fromont, op. cit., S.  220). 112

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rechtliche Frage von allgemeinem Interesse ist, um auf diese Weise die Garantien eines rechtmäßigen Verfahrens in vollem Umfang zu gewährleisten, dies unter dem Vorbehalt, dass die begünstigenden Wirkungen der abschließenden Lösung notwendigerweise auf alle ausgedehnt werden, die sich faktisch in der gleichen Situation befinden.113

13.  Die brasilianische Verwaltungswirklichkeit Ich halte die brasilianische Verwaltungsgerichtsbarkeit, ihre Organisationsstruktur, ihre Richter, ihren Normen und prozessualen Grundsätze im Allgemeinen für konform mit den grundlegenden Prinzipien des effektiven Rechtsschutzes und des Rechtsstaates. Das Gleiche gilt für die Beurteilung der brasilianischen Verwaltungsverfahrensgesetzgebung. Jedoch ist in der brasilianischen Gesellschaft das Empfinden zu verzeichnen, die subjektiven Rechte würden von der Verwaltung nicht geachtet114 und die Justiz sei zu langsam und unfähig, angemessen zu reagieren.115 Die statistischen Angaben deuten in der Tat auf eine wachsende Zahl von Streitigkeiten mit der Verwaltung hin.116 113   Beispielhaft sei hier die Dienstordnung des brasilianischen Bundesrechnungshofs genannt (genehmigt durch den Verwaltungsbeschluss Nr.  15 vom 15. Juni 1993), Paragraph 161 und 281. 114   Laut einer Studie des Nationalen Justizrates (Conselho Nacional de Justiça/CNJ) mit dem Titel Justiça em Números ( Justiz in Zahlen) stellen die Fälle, in denen die öffentliche Hand der Antragsteller bzw. Antragsgegner ist, die absolute Mehrzahl der bei Gericht bearbeiteten Fälle aus dem Bereich des öffentlichen Rechts. Wie aus der Webseite des CNJ http://www.cnj.jus.br/ hervorgeht, zielt Justiça em Números darauf ab, durch das Sammeln und Systematisieren von statistischen Daten und die Ermittlung aussagefähiger Indikatoren für die Leistungsfähigkeit der Gerichte die Kenntnisse über das Justizwesen zu erweitern. Im speziellen Fall der vorliegenden Studie geht es dabei um die Ermittlung des Klageprofils, um die Regierungsbeteiligung an den gerichtlichen Klagen, um die Streitintensität und den Arbeitsanfall, unter Berücksichtigung der Anzahl neuer Fälle, der Arbeitsbelastung der Richterschaft, des Bearbeitungsstaus bei der Justiz, der Quote externer wie interner Berufungen und der Änderungsquote der getroffenen Entscheidungen. Den für das zugrunde gelegt Jahr 2009 erhobenen Daten zufolge hat die öffentliche Hand bei der ersten Stufe der Bundesjustiz insgesamt 3.458.831 neue Fälle als Klägerin anhängig gemacht. Darin sind die fünf regionalen Bundesgerichte ebenso enthalten wie die durch den Bund, die Kommunen, durch Stiftungen und durch öffentliche Unternehmen sowohl auf bundesstaatlicher als auch auf Distriktebene Ebene eingereichten Klagen, Stadt- und Kommunalverwaltungen, Stiftungen und öffentliche städtische Unternehmen. Die öffentliche Hand wurde insgesamt in 2.580.232 Fällen in der 1. Stufe verklagt. In der 2. Stufe hat sie insgesamt 740.818 Klagen eingereicht und wurde selbst 676.966 Mal verklagt. Auf bundesstaatlicher Ebene brachte die öffentliche Hand es als Klägerin auf insgesamt 4.126.159 Verfahren, wobei zur Erläuterung hinzugefügt werden muss, dass laut der Webseite in einigen Bundesstaaten keine Daten zur Verfügung standen, woraus der Schluss gezogen werden darf, dass das tatsächliche Ergebnis noch höher ausfällt. In dieser Zahl sind die 1. und die 2. Stufe der Justiz erfasst. Auf bundesstaatlicher Ebene wurden im Jahr 2009 insgesamt 1.134.963 Entscheidungen gegen die öffentliche Hand getroffen. 115   Lilian Matsuura, Para brasileiro, Justiça é lenta, cara e parcial (Für Brasilianer ist Justiz langsam, teuer und parteilich), Consultor Jurídico (Rechtsberater), 22. Februar 2009. Verfügbar unter: http:// www.conjur.com.br/2009-fev-22/brasileiro-poder-judiciario-lento-caro-imparcial. Stand: 16. Juni 2012. 116   Die zitierte Äußerung wird durch eine Studie bestätigt, die die Abteilung für Rechtsstudien des Nationalen Justizrates zur Ermittlung der 100 am häufigsten vor den bundesstaatlichen Gerichten, den regionalen Bundesgerichten und den Arbeitsgerichten auftretenden Streitparteien durchgeführt hat. Die Studie belegt, das das Staatliche Sozialversicherungsinstitut (Instituto Nacional do Seguro Social/

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Proportional dazu nimmt auch die Dauer bis zum einem Abschluss eines Gerichtsververfahrens zu,117 was insofern paradox ist, als die gerichtlichen Strukturen mit entsprechendem Anstieg der Kosten ebenfalls erweitert worden sind.118 Dies ist ein Symptom dafür, dass hier etwas im Argen liegt. Zweifellos besteht eine Distanz oder zeitliche Verschiebung zwischen der Gesetzgebung und der brasilianischen Verwaltungswirklichkeit. Ich habe versucht zu zeigen, dass ein Großteil der Konflikte aus einem mitunter der Unkenntnis geschuldeten Widerstand der Verwaltung dagegen herrührt, die grundlegenden Prinzipien zu befolgen, die in den Bestimmungen des Verwaltungsverfahrens, dem Rückgrat des Verwaltungsrechts, verwirklicht sind. Noch heute, 15 INSS) für über ein Fünftel der Verfahren verantwortlich ist, die in dem Ranking insgesamt erfasst sind. Auf Bundesebene führt der öffentliche Sektor mit insgesamt 38,5% der Fälle, gefolgt von dem öffentlichen Sektor auf bundesstaatlicher Ebene mit 7,8% und dem städtischen Sektor mit 5,2% der Fälle; insgesamt stehen die Institutionen der Öffentlichen Verwaltung mithin für 51,5% der Verfahren. Das bedeutet, dass der Bund, die Bundesstaaten, die Städte, ihre Kommunen und Stiftungen, insgesamt ca. 20 Institutionen, drei juristische Personen des öffentlichen Rechts und 15 juristische Personen der Verwaltung es indirekt auf eine höhere Anzahl von Klagen bringen, als die übrigen 80 größten Streitparteien des Landes einschließlich des gesamten Banken- und Telekommunikationssektors. Verfügbar unter: http://www.cnj.br/iagens/pesquisa-judiciarias/pesquisas_litigantes-pdf. Stand: 3.   Juni 2011 (Vanila Cardoso Andre de Moraes, Demandas repetitivas decorrentes de ações ou omissões da Administração Pública: hipóteses de soluções e a necessidade de um direito processual público fundamentado na Constituição (Aus Handlungen oder Unterlassungen der öffentlichen Verwaltung herrührende Wiederholungsklagen: Hypothesen für Lösungen und die Notwendigkeit eines auf der Verfassung basierenden öffentlichen Prozessrechts), 2011, 231 S., (Masterarbeit in Verwaltungsjustitz, Universidade Federal Fluminense, Niterói, RJ, 2011). 117   „(.  .  .) der 2. Instanz der Bundesjustiz unter besonderer Hervorhebung des Regionalen Bundesgerichts der 1. Region gelingt es auch trotz eines verbesserten Managements nicht, die Verfahrensdauer bis zu Fällung einer Entscheidung abzukürzen. Im Gegenteil, die Verfahrensdauer verlängert sich sogar noch. Unwiderlegbarer Beweis für diese Feststellung ist die Stabilisierung oder gar Zunahme der Verfahrensstauquote im Laufe der Jahre, wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich ist: GERICHT

2004

2009

Regionale Bundesgerichte (Durchschnitt)

67,1%

67,1%

Regionales Bundesgericht der 1. Region

69%

87,2% .“

Die Angaben wurden der Webseite des Nationalen Justizrates (CNJ) entnommen und finden sich in der Cartilha Novos Tribunais: uma questão de justiça (Leitfaden Neue Gerichte: Eine Frage der Gerechtigkeit), die von dem Verband der Bundesrichter Minas Gerais (Associação dos Juízes Federais de Minas Gerais/ AJUFEMG) im November 2010 erarbeitet wurde. (Associação dos Juízes Federais de Minas Gerais – AJUFEMG/Brasilien, Cartilha Novos Tribunais: uma questão de justiça (Leitfaden Neue Gerichte: Eine Frage der Gerechtigkeit), Minais Gerais, 2010, S.  34). Verfahrensstauquote: Anzahl der in einem Jahr eingegangenen und nicht verhandelten Verfahren. http://www.cnj.jus.br/. Es wird darauf hingewiesen, dass der starke Anstieg der Verfahrensstauquote zum Teil auf eine Änderung der Methodik des CNJ zwischen den Jahren 2008 und 2009 zurückzuführen ist (De Moraes, op. cit.). 118   Die Bundesjustiz ist seit 1989 in der 1. Instanz um 470% gewachsen und bereits in 214 Stadtkreisen präsent. Durch das Gesetz 12.011/2009 wurden weitere 230 Bundesgerichtsabteilungen geschaffen. Für die Jahre 2010 bis 2014 soll die Bundesjustiz auf 606% und 273 Stadtkreise anwachsen. (Associação dos Juízes Federais de Minas Gerais – AJUFEMG/Brasilien, Cartilha Novos Tribunais: uma questão de justiça (Leitfaden Neue Gerichte: Eine Frage der Gerechtigkeit), Minais Gerais, 2010, op. cit.).

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Jahre nach dem Erlass des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (Gesetz Nr.  9.784) und 25 Jahre nach der Veröffentlichung der brasilianischen Verfassung, hat man es mit einer Verwaltung aus einer Zeit zu tun, in der Verwaltungsakte ohne Recht auf vorherige Verteidigung oder Anwendung des kontradiktorischen Prinzip diktiert wurden. Die unter den öffentlich Bediensteten allgemein verbreitete mangelnde Kompetenz trat offen zu Tage, als vor einiger Zeit das neue Gesetz über den Zugang zu Informationen in Kraft trat. Die Presse, einschließlich der Regierungspresse, brachte die Nachricht von der Überraschung der öffentlich Bediensteten: „Was für ein Zugangsgesetz ist das?“119

14. Schlussbetrachtungen Vor dem Hintergrund dieser Widrigkeiten, einer der Vergangenheit angehörenden Kultur und Mentalität, wäre es meiner Ansicht nach überstürzt und geradezu tollkühn, als erstes die Macht der Verwaltung, Verwaltungsstreitigkeiten zu entscheiden, weiter zu stärken und damit einen lediglich hilfsweisen Zugang zur Justiz einzuschränken oder zu gestatten. Indes erkenne ich an, dass mittelfristig die Vervollkommnung der sogenannten „unabhängigen Verwaltungsbehörden“ der natürliche Weg ist. Wir benötigen also eine Reform, die jedoch zur Zeit nicht exakt in einer Neuordnung des Justizwesens oder der (gerichtlichen und außergerichtlichen) Verwaltungsverfahrensgesetzgebung bestehen kann. Stattdessen benötigen wir für den Anfang eine Reform der Verwaltung selbst. Diese dringend notwendige Reform muss insbesondere auf die Qualifizierung und Ausbildung der öffentlich Bediensteten in fachlicher wie in ethischer Hinsicht ausgerichtet sein, sowie auf die Korruptionsbekämpfung und zu einer effizienten, glaubwürdigen und gestärkten Verwaltung als einer wahrhaftigen dritten Gewalt führen. Wir brauchen eine Reform, deren Ergebnis eine Verwaltung ist, die sich nicht hinter einer strikten Legalität versteckt und in bequemer Manier die Anerkennung von in der Verfassung und der Internationalen Konvention der Menschenrechte verankerten Rechten an die Justiz delegiert. Und schließlich brauchen wir eine Reform, die zu einer dem Rechtsstaat verpflichteten Verwaltung führt, die von sich aus die Initiative ergreift und die Grundrechte gewährleistet.

  Cássio Bruno/Isabela Bastos/Juliana Castro/Sérgio Ramalho, Que lei de acesso é essa? (Was für ein Gesetz ist das?) Reaktion einer Bediensteten. O Globo, 17. Mai 2012. Verfügbar unter: http://clippingmp.planejamento.gov.br/cadastros/noticias/2012/5/17/que-lei-de-acesso-e-essa-reage-uma-servidora. Stand: 15. Juni 2012. 119

Innovationsimpulse des interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes von

Johann Justus Vasel* I.  Einführung – Das interamerikanische Menschenrechtsschutzsystem Menschenrechte verlangen nach einem umfassenden Schutz. Zur Gewährleistung dessen hat sich im „Zeitalter der Menschenrechte“1 unterhalb der universalen Ebene eine besonders effektive, regionale Schutzebene herausgebildet. Grund- und Menschenrechtsschutz wird also nicht nur national und universal, sondern zunehmend auch regional verwirklicht. In diese Kategorie ist das im deutschen Völkerrechtsdiskurs bislang wenig beachtete interamerikanische Menschenrechtschutzsystem einzuordnen 2. Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte orientiert sich materiell und formell stark an dem europäischen Modell des Europarates, ist gewissermaßen dessen Replikat. Einerseits bleibt es in seiner Verdichtung bisher hinter dem europäischen Pendant zurück3, andererseits hat es aber maßgeblichen Einfluss auf die Menschenrechtssituation im lateinamerikanischen Raum und gibt allgemein Entwicklungsimpulse für den staatlichen und überstaatlichen Menschenrechtsschutz. So, wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) integraler Bestandteil des Europarates ist, entstammt auch das interamerikanische System einer regionalen zwischenstaatlichen Organisation, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Diese 1948 gegründete Organisation mit Sitz in Washington D. C. umfasst

*   Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard) am MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam und Doktorand bei Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke) an der Universität Hamburg. Für wertvolle Hinweise während eines Forschungsaufenthaltes dankt er Manuel E. Ventura Robles, Vizepräsident des interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes in San José, Costa Rica. 1   N.  B obbio, Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, 1999; L. Henkin, The Age of Rights, 1990. 2   Früh allerdings dazu J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986. 3  So T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S.  297.

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Johann Justus Vasel

alle 35 Staaten des nord- und südamerikanischen Kontinents4. Obgleich auch im Rahmen der OAS zahlreiche weitere Menschenrechtsverträge geschlossen worden sind, bildet auch hier die Konvention zum Individualrechtsschutz das Zentrum. Grundlegender Unterschied zum europäischen Pendant ist die duale Grundstruktur des interamerikanischen Systems. Es basiert sowohl auf der Amerikanischen Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen von 1948 als auch auf der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) von 1969. Zwar sind diese miteinander verschränkt, so dass sie sich materiellrechtlich als konzentrische Kreise beschreiben lassen, doch bildet die Konvention das Herzstück des interamerikanischen Systems. Die Deklaration von 1948 enthält zunächst einen Katalog an weitestgehend bekannten freiheitlichen Rechten (Art.  1–28), reichert diese aber noch um zehn Pflichten, wie etwa Wahl- und Steuerpflicht, an (Art.  29–32). Die einst rechtlich unverbindliche Resolution ist durch den interamerikanischen Gerichtshof zu einem autoritativen Dokument mit Bindungswirkung erklärt worden. Den Kern des Schutzsystems bildet sodann die mittlerweile von 25 der 35 OAS-Mitgliedsstaaten ratifizierte AMRK, auch „Pakt von San José“ genannt. Sie ist im Wesentlichen der EMRK nachgebildet und enthält somit primär bürgerliche und politische Freiheitsrechte, die im zweiten Kapitel in Art.  3 bis 25 aufgeführt sind. Gleichwohl reicht sie inhaltlich über die nahezu zwei Dekaden früher entstandene EMRK hinaus und weist gänzlich eigene Akzentuierungen auf 5. Inhaltlich ist das interamerikanische System durch zwei Zusatzprotokolle ergänzt bzw. weiterentwickelt worden. Das sogenannte „Protokoll von San Salvador“ aus dem Jahre 1988, zwischenzeitlich von 16 Staaten ratifiziert, erweitert die AMRK um Rechte der zweiten Dimension, also um Verbürgungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art. Ebenso wie in der EMRK erfolgte mit dem zweiten Zusatzprotokoll aus dem Jahre 1990 die Abschaffung der Todesstrafe. Das Protokoll ist bislang lediglich von 13 Staaten ratifiziert worden. Institutionell erfolgt der Schutz durch die interamerikanische Kommission für Menschenrechte mit Sitz in Washington D. C. (Art.  34 ff. AMRK), die im Jahre 1960 errichtet wurde und seit 1965 die Befugnis inne hat, über die obligatorische als actio popularis (Popularklage) ausgestaltete Individualbeschwerde zu befinden (Art.  44 AMRK) 6. Aufgrund dieser Ausprägung ist sie auch als „altruistische“ Individualbeschwerde bezeichnet worden7. Ferner sieht Art.  45 AMRK eine fakultative Staatenbeschwerde vor. Neben diesen quasi-gerichtlichen Funktionen kommen ihr gemäß Art.  41 AMRK konsultativ geprägte Aufgaben zu, etwa ein Bewusstsein für Menschenrechte zu schaffen, Empfehlungen zu unterbreiten, Berichte anzufertigen und 4   Grundlegend zur OAS C. G. Fenwick, The Organization of American States: The inter-American regional system, 1963. 5   Dazu zählen bereits Art.  1 II und Art.  3, die ausdrücklich die Rechtssubjektivität des Menschen fixieren und diese zum zentralen Bezugspunkt erklären. Ferner sind etwa das Recht auf Erwiderung oder Gegendarstellung (Art.  14), ein Namensrechts (Art.  18) und ein basales Recht auf Staatsangehörigkeit (Art.  20), das als „Recht auf Rechte“ im Sinne von H. Arendt verstanden werden kann, der AMRK eigen. Art.  23 AMRK regelt detailliert staatsbürgerliche Rechte wie die Mitgestaltung öffentlicher Angelegenheiten, Wahlrechtsgrundsätze und Zugang zu öffentlichen Ämtern. 6   Vgl. T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, 13.  Aufl. 2012, Rn.  1078. 7   M. Herdegen, Völkerrecht, 12.  Aufl. 2013, §  49 Rn.  5.

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notwendige Informationen von den Mitgliedsstaaten einzufordern sowie einen Jahresbericht für die Generalversammlung der OAS zu erstellen. Sodann besteht seit 1979 der in San José, Costa Rica, errichtete interamerikani­ sche Gerichtshof (IACHR). Dieser prüft in seinen regelmäßig vier Mal im Jahr stattfindenden Sitzungen die an ihn überwiesenen Beschwerden und hat zudem eine weitreichende Gutachtenkompetenz zu Fragen der Exegese von Menschenrechtsverträgen im Rahmen der OAS. Parteifähig sind vor dem Gerichtshof lediglich Kommission und Vertragsstaaten, nicht aber das einzelne Subjekt (Art.  61 AMRK). Seine Urteile sind bindend, final (Art.  67 AMRK) und erschöpfen sich nicht in der bloßen Feststellung der Konventionsverletzung, sondern erlauben auch, Kompensationen und eine angemessene Wiedergutmachung auszusprechen (Art.  63 AMRK). Insgesamt hat sich mit dem interamerikanischen Konventionssystem ein durchaus effektiver Schutzmechanismus herausgebildet, der institutionell und instrumentell dem Entwicklungsstand der EMRK vor der Ratifikation des 11. Zusatzprotokolls von 1998 gleicht8. Indes ist die Menschenrechtswirklichkeit eine andere als in den meisten Mitgliedstaaten des Europarates. Autoritäre Regime, politisch-gesellschaftliche Instabilitäten und Pauperismus führen zu gravierenden Menschenrechtsschutzverletzungen. Es kommt immer wieder zu massiven und systematischen Fundamentalverletzungen von Leben, Gesundheit und Freiheit. Gerade diese Miss- und Widerstände, die die Konventionsorgane vor große Herausforderungen stellen, zeitigen – als „dialektische Reaktion“ – eine besonders innovative und progressive Rechtsprechung. Dadurch wird zum einen auch die AMRK zu einem „Katalysator“ der allgemeinen Völkerrechtsentwicklung 9, zum anderen ergeben sich zunehmend Rezeptions- und Reproduktionsmöglichkeiten10, spätestens seitdem auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ob der starken Erweiterung des Europarates auf 47 Mitgliedstaaten mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen konfrontiert ist.

II.  Exemplarische Innovationsfelder des interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes Einen Überblick zu Leistungen und Innovationen des interamerikanischen Schutzsystems zu gewähren, ist nahezu unmöglich obwohl im Vergleich mit dem europäischen Pendant Rechtsprechung in geringerem Umfang ergangen ist. Aufgrund der mittlerweile etwa 300 Urteile und 20 Gutachten im interamerikanischen System soll nachfolgend keine vollständige Abbildung und Würdigung der „Recht-

  T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, 13. Auflage 2012, Rn.  1072.  Vgl. dazu A. Zimmermann, Menschenrechtsverträge als Katalysatoren der Völkerrechtsentwicklung? in: L. Gunnarson/A. Zimmermann (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Menschenrechtsschutzes 2011, S.  27 ff. sowie M. T. Kamminga/M. Scheinin (Hrsg.), The Impact of Human Rights Law on General International Law, 2009. 10   Dazu konkret T. Rensmann, Menschenrechtsschutz im Inter-Amerikanischen System: Modell für Europa?, VRÜ 33 (2000), S.  137 ff. 8 9

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sprechungslinien“ und „Rechtsprechungsstufen“11 unternommen werden, sondern exemplarisch solche Rechtsprechungsleistungen skizziert werden, die das interamerikanische System nachhaltig prägen und von paradigmatischer Bedeutung für den menschenrechtlichen Schutz im Völkerrecht sind. Die ersten beiden Schwerpunkte beleuchten die Vergangenheit, sind retrospektiv auf die im Zusammenhang mit den in Bürgerkriegen und Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre erfolgten systematischen und radikalen Menschenrechtsverletzungen gerichtet und dokumentieren den innovativen Umgang des Gerichtshofes mit ihnen. Das dritte Beispiel erweist sich als repräsentativ für die besonders progressive Rechtsprechungsleistung der „Corte de San José“.

1.  Rechtsprechungsleistung zur Forced Disappearance-Problematik „Desaparición forzada“ oder „Forced Disappearance“ bezeichnet das Entführen oder sonstige rechtswidrige Ergreifen und Verbringen von zumeist regimekritischen Personen, an das sich regelmäßig Folter und Exekution anschließen12. Sie ist eines der drängendsten menschenrechtlichen Probleme der Gegenwart13. Wenngleich auch in Europa die Problematik durch die Erweiterung des Europarates Einzug gehalten und der EGMR mittlerweile in über 150 Fällen zu dieser Problematik judiziert hat14, liegen die Ursprünge dieses globalen Phänomens15 maßgeblich auf dem südamerikanischen Kontinent. Das Verschwindenlassen galt als typisches Instrument der Militärdiktaturen Lateinamerikas seit den 1960er Jahren, um politischen Widerstand zu eliminieren und wurde sodann als notwendiger Akt der nationalen Sicherheit gegen subversive Kräfte deklariert16. Die Forced Disappearance betrifft dabei nicht nur das Opfer selbst, sondern zielt nachgerade darauf, Demokratie als solche und im Ganzen zu unterminieren17. Öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren insbesondere die Militärdiktatur Argentiniens unter J. Videla, in deren siebenjährigen Bestehen allein ca. 30.000 Menschen verschwanden18, und das Regime A. Pinochets in Chile. Aufgrund der korrelierenden systematischen, massiven Menschenrechtsverletzungen ist es nicht verwunderlich,

11  Eine solche findet sich bei A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010), S.  629 ff. 12   Vgl. dazu Art.  2 des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED). 13   M. Nowak, Monitoring disappearances – the difficult path from clarifying past cases to effectively preventing future ones, EHRLR 4 (1996), S.  360. 14   S. Jötten, Enforced Disappearances und EMRK, 2012, S.  18. 15   Der jüngste Human Rights Council Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, A/HRC/22/45 vom 28.1.2013 listet 53.986 registrierte Fälle in 84 Staaten. 16  Vgl. A. L. M. Theissen, La desaparición forzada de personas en América Latina, IIDH 1996, S.  64 ff. 17   In diese Richtung stellt der Gerichtshof fest, Forced Disappearance erzeuge „a general state of anguish, insecurity and fear“, IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  149. 18   Zur Aufarbeitung dessen M. Hemmerling, Vergangenheitsaufarbeitung im postautoritären Argentinien, 2011.

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dass auch die Rechtsprechungsinstrumente zu deren Auf klärung und Sanktion ihren Ursprung im lateinamerikanischen Kontext finden. So ergingen die ersten Urteile des interamerikanischen Gerichtshofes überhaupt zur Problematik der „desaparición forzada“19. Deren dogmatisch schwer erfassbarer Charakter und der Umstand, dass Forced Disappearance bis dahin noch kaum internationale Behandlung erfahren hatte20, es mithin das erste Mal war, dass ein internationales Rechtsprechungsorgan zu der Involvierung staatlicher Organe in das systematische Verschwindenlassen von Menschen Stellung beziehen sollte, stellten den Gerichtshof vor eine herausfordernde Aufgabe. Zunächst galt es die Frage zu beantworten, ob es sich bei dem Verschwindenlassen um einen einheitlichen Verletzungs­ tatbestand oder eine Mehrzahl an Menschenrechtsverletzungen handelt21. In seiner ersten Entscheidung, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, konstatierte der Gerichtshof, Forced Disappearance sei „eine komplexe Form der Menschenrechtsverletzung“, der man „ganzheitlich“ begegnen müsse22 und attestiert ihr den Charakter einer „multiple and continuous violation of many rights under the Convention (.  .  .)“23. Diesen „multiplen“ Gehalt dekonstruierte der Gerichtshof in eine Verletzung des Rechts auf persönliche Freiheit (Art.  7 AMRK), auf menschliche Behandlung (Art.  5 AMRK) und des Rechts auf Leben (Art.  4 AMRK) in Verbindung mit der Schutzpflicht aus Art.  1 I AMRK 24. In späteren Entscheidungen hat der Gerichtshof, den Empfehlungen der interamerikanischen Menschenrechtskommission folgend, diesem Normenverbund noch das Recht auf Anerkennung als juristische Person aus Art 3 AMRK angefügt25. Aus diesen konstitutiven Einzelverletzungen zusammengesetzt, spricht er der Forced Disappearance eine „autonomous nature“, einen Charakter sui generis, zu26. Ihre Komplexität erfordere eine „integrale“ Behandlung27. Sodann korreliert die Forced Disappearance auch mit erheblichen Beweisschwierigkeiten – schließlich ist es die Intention dieser Praxis, die staatliche Beteiligung am Verschwindenlassen der Opfer zu camouflieren 28. Der interamerikanische Gerichtshof hat deshalb im Fall Velásquez-Rodríguez bereits Indizien ausreichen lassen. Aus den Faktoren eines nicht unerheblichen Zeitablaufes seit dem Verschwinden, dem allgemeinen politischen Kontext und dem systematischen Verschwinden weiterer   IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4.   Es bestanden zu diesem Zeitpunkt lediglich die Working Group on Enforced Disappearances of the United Nations Commission on Human Rights auf Grundlage der Resolution 20 (XXXVI) vom 29.2.1980 und einige Resolutionen der Generalversammlung der OAS.  Vgl. dazu IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  152. 21  Vgl. L. Burgorgue-Larsen in: L. Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights. Case Law and Commentary, 2011, S.  300 f. Rn.  13:04 f. 22   IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  150. 23   IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  155. 24   Der Gerichtshof hat diese Reihenfolge in den jüngeren Urteilen seit der Sache Goiburú umgekehrt. Er beginnt nun mit einer Verletzung des Rechts auf Leben aus Art.  4 AMRK als Fundamentalrecht, vgl. IACHR, 22.9.2006, Goiburú et. al. v. Paraguay, Series C Nr.  153 Rn.  94. 25   Explizite Rechtsprechungsänderung in: IACHR, 22.9.2009, Anzualdo Castro v. Peru, Series C Nr.  202 Rn.  9 0 ff. 26   IACHR, 22.9.2006, Goiburú et. al. v. Paraguay, Series C, Nr.  153 Rn.  81. 27   IACHR, 22.9.2006, Goiburú et. al. v. Paraguay, Series C, Nr.  153 Rn.  81 und 85. 28   IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  129 und 131. 19

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Personen hat er die Annahme kombiniert, dass die betreffende Person tot sei29. Gleichzeitig hat er die Beweislast, nicht für das Verschwinden verantwortlich zu sein, dem beteiligten Staat auferlegt. Dessen Schweigen bzw. „elusive or ambiguous answers“ können zudem als Eingeständnis klassifiziert werden30. Insbesondere die vom interamerikanischen Gerichtshof unternommene opferschutzorientierte Verteilung von Beweislast und Beweismaß erweist sich sowohl für den internationalen als auch für den regionalen europäischen Menschenrechtsschutz als wegweisend 31. Besondere Schwierigkeiten scheint allerdings die Annahme zu bergen, es handle sich bei Forced Disappearance um eine permanente, andauernde Verletzung. Eine solche konfligiert möglicherweise mit der Zuständigkeit der Konventionsorgane ratione temporis32. Der Gerichtshof orientiert sich diesbezüglich jedoch an Art.  28 WVK und hat bislang eine retroaktive Anwendung der Konvention abgelehnt 33. Gleich die ersten Entscheidungen des interamerikanischen Gerichtshofes bewegten sich also an der Spitze der damaligen Völkerrechtsentwicklung. Nicht nur sachlich-inhaltlich auf dem Gebiet der Forced Disappearance, sondern auch dogmatisch-strukturell ist er Pionier auf diesem Gebiet. Im Anschluss an die ersten drei Disappearance-Fälle der 1980er Jahre hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung sukzessive weiterentwickelt. Als bemerkenswert gilt insbesondere der Fall Blake v. Guatemala aus dem Jahre 1998. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung den Schutzbereich ratione personae extrem erweitert und sieht auch die Angehörigen der verschwundenen Person als erfasst an34. Später entwickelte er hieraus unter gewissen Umständen einen Informations- und Investigationsanspruch der Hinterbliebenen35, der sich heute in Art.  24 des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED) reflektiert findet. Gerade die Entwicklung dieser positiven Pflichten mit prozeduralem Charakter ist maßgeblich das Verdienst des Gerichtshofes von San José, der diese auf Basis von Art.  1 I AMRK („to ensure“) bereits in seinen ersten Urteilen begründet   Vgl. IACHR, 29.7.1988, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  188.   IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  138. 31  Vgl. J. Hoffmann, Aus den Augen – aus dem Sinn?, in: J. Menzel/T. Pierlings/J. Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S.  640 und 641; I. Taqi, Adjudicating Disappearance Cases in Turkey: An Argument for Adopting the Inter-American Court of Human Rights’ Approach, in: Fordham International Law Journal 24 (2001), 940 ff. 32  Dazu S. Parayre, La desaparición forzada de personas como violación continuada de los derechos humanos y su incidencia en la determinación de la competencia ratione temporis de la Corte Interamericana de los Derechos Humanos, Revista IIDH 29 (1999), S.  25 ff. 33   Kritisch hingegen das Sondervotum von A. A. Cançado Trindade zu IACHR, 2.7.1996, Blake v. Guatemala, Series C Nr.  27, Rn.  1 ff. und insbesondere Rn.  12, der aus der Kontinuität der Verletzung, dem jus cogens-Charakter des Rechts gegen das Verschwindenlassen und der mangelnden Derogierbarkeit der in Rede stehenden Rechte, eine Anwendung bejaht. Abermals bekräftigt er dies in seinem Sondervotum zu IACHR, 23.11.2004, Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Series C Nr.  118 Rn.  1 ff. und zu IACHR, 1.3.2005, Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Series C Nr.  120 Rn.  5 ff. 34   Nach Auffassung des Gerichtshofes ist die „mental and moral integrity“ der Angehörigen als direkte Konsequenz verletzt; Konsequenz der Forced Disappearance sei „suffering“, „anguish“, „insecurity, frustration and impotence“, so IACHR, 24.1.1998, Blake v. Guatemala, Series C Nr.  36 Rn.  114 ff. 35  IACHR, 22.11.2005, Gómez-Palomino v. Peru, Series C Nr.  136. Rn.  60 und IACHR, 22.9. 2006, Goiburú et. al. v. Paraguay, Series C, Nr.  153 Rn.  95 ff. sowie IACHR, 12.8.2008, Heliodoro Portugal v. Panama, Series C Nr.  186 Rn.  163. 29

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hat 36. So zentriert er um die staatliche Schutzpflicht, Forced Disappearances zu verhindern, staatliche Untersuchungs-, Pönalisierungs- und Reparationspflichten. Ferner überwacht der Gerichtshof auch die Implementierung und Inkorporierung des Schutzes gegen Forced Disappearances in den einzelnen Staaten (sog. Monitoring). Beispielhaft für Verurteilungen wegen einer ungenügenden und unzulänglichen, meist auch zögerlichen straftatbestandlichen Umsetzung sind die Entscheidungen Gómez-Palomino v. Peru37 und Heliodoro Portugal v. Panama38. Von eminenter Bedeutung ist auch das Goiburú-Urteil39, das im Kontext der Aufarbeitung des Widerstandes gegen die Militärdiktatur A. Stroessners in Paraguay erging. Der Gerichtshof erklärte in diesem nicht nur das Verbot der Forced Disappearance selbst, sondern auch die Handlungspflichten des Staates zur Auf klärung zu völkerrechtlichem jus cogens: „(.  .  .) the prohibition of the forced disappearance of persons and the corresponding obligation to investigate and punish those responsible has attained the status of jus cogens“40. Darüber hinaus hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Präambel der „Inter-American Convention on Forced Disappearance of Persons“ dieses – sofern das Verschwindenlassen keinen Einzelfall bildet, sondern in einem systematischen Zusammenhang steht – sogar zu einem Verbrechen gegen die Menschheit deklariert41. Insgesamt hat der interamerikanische Gerichtshof mit seinen Entscheidungen die Entwicklung des Völkerrechts zum Schutz gegen das Verschwindenlassen zunächst initiiert und sodann in beispielhafter Weise zur Fortentwicklung des internationalen corpus iuris beigetragen42. In Nachfolge zu seinen ersten Urteilen ist es zunächst zu einer „Declaration on Enforced Disappearance“ (1992) gekommen. Darauf folgend ist im Jahre 1994 die „Inter-American Convention on Forced Disappearance of Persons“ geschaffen worden, die in ihrem Art.  III den Signatarstaaten die Inkorporation strafrechtlicher Sanktionstatbestände zur Bekämpfung von Forced Disappearance in die nationalen Rechtsordnungen aufgibt. Sie gibt dem Gerichtshof maßgeblich einen Anknüpfungspunkt für seine Monitoring-Prozesse. Im Jahre 2006 ist schließlich das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwinden-

36   L. Burgorgue-Larsen in: L. Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights. Case Law and Commentary, S.  304 Rn.  13:09 f. Vgl. dazu IACHR, 29.7. 1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  166 und 176 f. 37   IACHR, 22.11.2005, Gómez-Palomino v. Peru , Series C Nr.  136. 38   IACHR, 12.8.2008, Heliodoro Portugal v. Panama, Series C Nr.  186. 39   IACHR, 22.9.2006, Goiburú et. al. v. Paraguay, Series C Nr.  153. Das Urteil ist auch sonst sehr weitreichend. So verpflichtet der Gerichtshof den Staat u. a. dazu, als Reparation ein Denkmal für die Opfer der „Operation Condor“ zu errichten (Rn.  177). Grundsätzlich zu der Bedeutung von Denkmälern: P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011. 40   IACHR, 22.9.2006, Goiburú et. al. v. Paraguay, Series C Nr.  153 Rn.  84 sowie 93, 128 und 131. Bestätigt etwa in IACHR, 29.11.2006, La Cantuta v. Peru, Series C Nr.  162 Rn.  157. 41   Erste Ansätze dazu bereits in IACHR, 29.7.1988, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Series C Nr.  4 Rn.  153. Ferner IACHR, 26.11.2008, Tiu Tojín v. Guatemala Series C Nr.  190 Rn.  91. Ebenso IACHR, 23.11.2004, Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Series C Nr.  118 Rn.  100. 42   Dies verdeutlichend auch T. Scovazzi/G. Citroni, The Struggle against Enforced Disappearance and the 2007 United Nations Convention, 2007.

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lassen (CPED) verabschiedet worden43. Auch das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes berücksichtigt in Art.  7 II i) das Verschwindenlassen. Dass das Verbrechen der Forced Disappearance ein solches Maß an Aufmerksamkeit erfahren hat44 und zu seiner Bekämpfung ein umfassendes völkerrechtliches Instrumentarium entwickelt worden ist, mag auch das Verdienst des interamerikanischen Gerichtshofes sein. In jedem Fall trägt der Gerichtshof Anteil daran, mit seiner Rechtsprechung eine Art „kollektive Erinnerung“, ein „kollektives Gedächtnis“ der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte geschaffen zu haben45.

2.  Das Recht auf Wahrheit In engem Zusammenhang mit der Forced Disappearance steht auch das Recht auf Wahrheit, „derecho a la verdad“. Es ist gewissermaßen deren „Reflex“46. Die damit umschriebenen Rechte hinsichtlich des Verbleibens und des Schicksals einer verschwundenen Person sind insbesondere im Rahmen der (immateriellen) Entschädigungsfestsetzung relevant. Wenngleich Idee, Motiv und Hintergrund für die Konzeption dieses Rechts dem humanitären Völkerrecht entstammen und seine Vorläufer in Art.  32 und 33 des ersten Zusatzprotokolls von 1977 zu den Genfer Konventionen von 1949 zum Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte erkannt werden können, haben diese Obligationen im Zusammenhang mit der Problematik des Verschwindenlassens eine progressive Konkretisierung erfahren. Maßgeblichen Einfluss auf diese innovative Rechtsprechungsleistung kommt dabei auch der Existenz und Wirkung von Wahrheitskommissionen zu, die seit den 1980er Jahren in Afrika und im Besonderen in Lateinamerika eingesetzt wurden47, um massive und systematische Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit außergerichtlich aufzuarbeiten und die schwierigen Transformationsprozesse von Diktaturen zu Demokratien („transition to democracy“) auf klärerisch-kritisch zu begleiten. 43   Vgl. dazu M. L. Vermeulen, Enforced Disappearance: determining State responsibility under the International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance, 2012. 44   Verschwindenlassen ist Gegenstand von Literatur, Musik und Filmkunst geworden. Durch die UN-Resolution 65/209 vom Dezember 2010 existiert seit dem Jahre 2011 sogar ein International Day of the Victims of Enforced Disappearances. Zur Bedeutung von Feiertagen für das Recht, P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 45   L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights. Case Law and Commentary, 2011, S.  320 Rn.  13.38. 46   A. F. Amaya Villarreal, „Efecto reflejo“: La práctica judicial en relación con el derecho a la verdad en la jurisprudencia de la Corte Interamericana de Derechos Humanos, Revista Colombiana de Derecho Internacional 10 (2008), S.  131 ff. 47   Dem kulturwissenschaftlichen Ansatz von P. Häberle verpflichtet (vgl. ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage 1998), sei auf die umfangreiche Auseinandersetzung mit Wahrheitskommissionen in Film, Literatur und Theater hingewiesen. So etwa in A. Dorfmans Theaterstück „Der Tod und das Mädchen“, das die Militärdiktatur unter A. Pinochet in Chile thematisiert und von R. Polanski gleichnamig verfilmt worden ist. Der Roman „Red Dust“ von G. Slovo beschäftigt sich mit dem Amnestieproblem in Südafrika und ist von T. Hooper verfilmt worden. Berühmtheit hat der Film „In My Country“ von J. Boorman erlangt, der auf den Memoiren „Country of My Skull“ von A. Krog basiert und sich mit der Truth and Reconciliation Commission in Südafrika befasst. Deren Aktivität hat auch der Film „Long Night’s Journey Into Day“ von D. Hoffmann und F. Reid zum Inhalt.

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Der positivrechtliche Anknüpfungspunkt und die konkrete Herleitung des Rechts sowie sein Charakter sind zwischen den interamerikanischen Konventionsorganen umstritten. Während die interamerikanische Kommission zur Begründung Art.  1 I, 8, 13 und 25 AMRK heranzieht, es als eigenständige Garantie begreift, stützt es der Gerichtshof – dem spiritus rector des Rechts A. A. Cançado Trindade folgend – allein auf Art.  8 und 25 AMRK48 und begreift es als ein Teil des Rechts auf ein faires Verfahren49. Mit den genannten Normen ist der potentielle Schutzgehalt vorgezeichnet. Das Recht entspringt der umfassenden staatlichen Schutzpflicht aus Art.  1 I AMRK, basiert maßgeblich auf dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art.  8 AMRK, hat zumindest nach Ansicht der Kommission Anteil an dem Recht auf Zugang zu Informationen gemäß Art.  13 AMRK und ist integraler Bestandteil des Rechts auf juristischen Schutz aus Art.  25 AMRK. Anschauliches Beispiel ist die Entscheidung Bámaca-Velásquez v. Guatemala aus dem Jahre 2002. Dementsprechend verpflichtet das multipolar begründete „Amalgamrecht“ den Staat zunächst zu effektiven Investigationen unter anderem auch durch Gewährleistung von rechtlichem Gehör50, zur Herstellung von Öffentlichkeit und zur Offenbarung von Informationen51. Die Bekanntmachung bedeutet ein Zu- und Eingeständnis, schafft gesellschaftliche Akzeptanz und bildet damit das Fundament für Versöhnung und Schlichtung. Die opferzentrierte Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihre Aufarbeitung vermitteln Respekt und führen idealiter zu einer „sozialen Katharsis“52. Erst die Ermittlung der Wahrheit53 bzw. wirklichkeitsnaher Vergangenheit und die Herstellung von Publizität lassen den Betroffenen jenes notwendige Maß an Gerechtigkeit zuteil werden, vermöge dessen ihnen die Überwindung traumatischer Erfahrungen, Aussöhnung und Befriedung möglich sind. Insofern ist das Wahrheitsrecht ganz maßgeblich im Bereich der Entschädigungsfestsetzung zu lokalisieren, dient der Restitution und Rehabilitation54. An Investigation und Bekanntmachung schließen sich sodann weitere Pflichten des Staates wie Verfolgung, Bestrafung und Kompensation an55. 48   IACHR, 22.2.2002, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  91 Rn.  75 und zuvor IACHR, 25.11.2000, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  70 Rn.  197 f. sowie das dazu ergangene Sondervotum von A. A. Cançado Trindade Rn.  29. 49   Der Gerichtshof bezeichnet es deshalb auch als „subsumed“, siehe IACHR, 22.2.2002, Báma­caVelásquez v. Guatemala, Series C Nr.  91 Rn.  75. 50   Vgl. IACHR, 4.7.2007, Zambrano Vélez Series C Nr.  166 Rn.  120 ff. So auch mit Beispielen J. E. Méndez, The Right to Truth, in: C. C. Joyner (Hrsg.), Reining in Impunity for International Crimes and Serious Violations of Fundamental Human Rights: Proceedings of the Siracusa Conference 1998, S.  266. 51   IACHR, 22.2.2002, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  91 Rn.  73 ff. insbesondere 78 und 84. 52   J. E. Méndez, The Right to Truth, in: C. C. Joyner (Hrsg.), Reining in Impunity for International Crimes and Serious Violations of Fundamental Human Rights: Proceedings of the Siracusa Conference 1998, S.  277. 53   Zur Bedeutung der Wahrheit im Verfassungsstaat und bei der Aufarbeitung der Vergangenheit in Osteuropa, P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S.  68 ff. 54   J. Hoffmann, Das Recht der Opfer auf die Wahrheit, in: J. Menzel/T. Pierlings/J. Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S.  651 f.; IACHR, 22.2.2002, Bámaca Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  70 Rn.  76. 55  Dazu J. E. Méndez, The Right to Truth, in: C. C. Joyner (Hrsg.), Reining in Impunity for International Crimes and Serious Violations of Fundamental Human Rights: Proceedings of the Siracusa

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Berechtigt ist zunächst das Opfer selbst (direct victim), darüber hinaus aber auch Familie, Angehörige und Nahestehende (indirect victim) 56, die vom Begriff der „injured party“ des Art.  63 I AMRK eingeschlossen sind57. Dies ist schon deshalb geboten, weil das Opfer selbst regelmäßig verstorben oder verschwunden ist, weshalb dessen Ansprüche auf seine Angehörigen übergehen58. Ferner ist auch die Gesellschaft als solche berechtigt59. Insofern weist das Recht auf Wahrheit eine duale Schutzrichtung auf – es ist Individualrecht und Kollektivrecht zugleich. Das Recht auf Wahrheit ist für postdiktatorische Staaten von eminenter Bedeutung. Effektiver Rechts- bzw. Opferschutz und eine Aufarbeitung der Vergangenheit (T. W. Adorno) blieben im nationalstaatlichen Kontext aufgrund mangelnder Distanz und Befangenheit immer defizitär. Erst der außerstaatliche, internationale Kontext ermöglicht die erforderliche Objektivität und Neutralität, bringt das kritische Potenzial auf, eine adäquate Vergangenheitsreflexion zu gewährleisten. Das einst prätorische Recht auf Wahrheit hat mittlerweile Eingang in das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED) gefunden60. Es ist sowohl in der Präambel als auch in Art.  24 II eingefügt. Ihm wird auch Rechnung getragen durch einen Internationalen Tag des Rechts auf Wahrheit61. Abschließend sei die Frage nach Rezeptionsmöglichkeiten in Europa aufgebracht, schließlich handelt es sich um ein ubiquitäres Phänomen, das auch in Europa von großer Bedeutung ist, bestanden doch in Spanien, Portugal und Griechenland bis in die 1970er und 80er Jahre Militärdiktaturen. Man denke an die Franco-Diktatur, nach deren Ende 1977 Spanien unmittelbar dem Europarat beitrat und die EMRK ratifizierte, die griechische Militärdiktatur von 1967 bis 1974, die den EGMR bereits damals beschäftigte oder in jüngerer Zeit die Vielzahl osteuropäischer Staaten mit diktatorischer bzw. repressiver Vergangenheit. Deutschland sieht sich im letzten JahrConference 1998, S.  263. Vgl. auch IACHR, 22.2.2002, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  91 Rn.  73. 56   Zu dieser Differenzierung J. M. Pasqualucci, Victim Reparations in the Inter-American System: A Critical Assessment of Current Practice and Procedure, Michigan Journal of International Law 18 (1996), S.  17 f. 57   IACHR, 22.2.2002, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  91 Rn.  30. 58   IACHR, 22.2.2002, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  91 Rn.  52. 59  IACHR, 22.2.2002, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C Nr.  70 Rn.  74 ff. insbesondere Rn.  76. 60   Es ist insofern beispielhaft für das sog. „Textstufenparadigma“, P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates (1989), in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S.  3 ff. Zu der Frage nach dem Status des Rechts auf Wahrheit auch V. Newman-Pont, Falso o verdadero (¿El derecho a la verdad es norma imperativa internacional?), Revista Colombiana de Derecho Internacional 14 (2009) S.  43 ff. 61   Die Vereinten Nationen haben den 24. März zum „International Day for the Right to the Truth Concerning Gross Human Rights Violations and for the Dignity of Victims“ erklärt, vgl. GA RES 65/196 vom 21.12.2010. Dieses Datum dient auch der Würdigung und Erinnerung an Erzbischof Oscar Arnulfo Romero, der sich als Vertreter der „Theologie der Befreiung“ im Kampf um die Menschenrechte in San Salvador verdient gemacht hat und an diesem Tag von der Militärdiktatur exekutiert worden ist. Damit manifestiert sich zugleich der international-universale Charakter des Rechts auf Wahrheit wie auch dessen besondere Bedeutung in Lateinamerika. Zur Funktion von Feiertagen im und für das Recht vgl. P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987.

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hundert gleich zweifach mit einer diktatorischen Vergangenheit konfrontiert, deren Aufarbeitung begonnen hat, bis heute aber unabgeschlossen ist. Das Hemmnis für eine Beschäftigung des Gerichtshofes mit autoritärer Vergangenheit liegt zunächst in der Zuständigkeitsbegrenzung ratione temporis: Die Staaten hatten zum relevanten Zeitpunkt die EMRK noch nicht ratifiziert. Zweifelsohne ließe sich aus dem metapositiven und insofern auch metachronischen Charakter der Menschenrechte eine omnitemporale Zuständigkeit begründen – die Radbruchsche Formel also in der Zeit und im Völkerrecht zur Anwendung bringen. Vielleicht reicht aber auch die Rezeption des aufgezeigten innovativen Verständnisses des IACHR, nach dem bestimmte Verbrechen ein „continuous crime“ darstellen, zur Zuständigkeitsbegründung im Einzelfall aus. Weiterhin erweist sich das Verständnis des EGMR von Art.  41 EMRK als Hindernis, nach dem er auf die Zusprechung von Entschädigungszahlungen beschränkt ist. Wenngleich diese Norm nicht so weit gefasst ist wie die Parallelnorm in der AMRK, böte der Wortlaut „just satisfaction“ durchaus Anknüpfungspunkt für ein weiteres, an der Rechtsprechung des IACHR orientiertes Verständnis zur Herstellung einer umfassenden Entschädigung 62.

3.  Wirtschaftliche und soziale Rechte – Das Regressionsverbot Erste Elemente regional niedergelegter sozialer Rechte finden sich in Lateinamerika weitaus früher als in Europa. Während die Europäische Sozialcharta erst aus dem Jahre 1960 stammt, wurde bereits 1948 die „Inter-American Charta of Social Guar­ antees“ verabschiedet63. Auch die gleichzeitig entstandene Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen enthält einige soziale und wirtschaftliche Rechte64. Die OAS-Charta als Pendant zur Satzung des Europarates nennt in Art.  45 und 49 ebenfalls einige soziale Rechte. Auch die AMRK selbst enthält in Art.  26 – anders als ihr europäisches Pendant – eine Norm zur „progressiven Entwicklung“ („Desarrollo Progresivo“) der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Nicht nur systematische Gründe, nämlich die von den anderen Garantien isolierte, in einem eigenen, dritten Kapitel abgefasste Stellung, sondern auch der Normtext vermittelt allerdings den Eindruck, es handele sich um einen unverbindlichen Programmsatz, eine Art außerstaatliche (Staats-)Zielbestimmung. Vielleicht blieb auch deshalb diese Norm lange Zeit von den Rechtsprechungsorganen unbemüht. Sofern wirtschaftliche und soziale Aspekte von Belang waren, erfolgte ihr Schutz zunächst maßgeblich – äquivalent zum europäischen System – durch die extensive Auslegung bürgerlicher und politischer Rechte sowie über Verfahrensgarantien65. Beispielhaft für einen solchen derivativen Schutz wirtschaftlicher und sozialer Rechte sind etwa arbeitsrechtliche Schutzelemente   IACHR, 27.11.1998, Castillo-Páez, Series C Nr.  43 Rn.  48.   Wenngleich diese kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine Resolution ist, dokumentiert sie doch das frühe Bemühen auf diesem Gebiet und hat über die Zeit normative Kraft entfaltet. 64   Vgl. Art.  V II, XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI. 65   L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights. Case Law and Commentary, 2011, S.  620 Rn.  24.04 und S.  621 ff. Rn.  24.06 ff. 62

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durch das Recht auf ein faires Verfahren (Art.  8 AMRK) und das Recht auf rechtlichen Schutz (Art.  25 AMRK) 66 sowie die Fortentwicklung des Rechts auf Leben in Art.  4 AMRK als ein Leben in Würde, wodurch ein Mindestmaß an Ernährung, Gesundheitsschutz und Bildung fixiert ist67. Ferner hat der Gerichtshof soziale und kulturelle Elemente in der Vereinigungsfreiheit (Art.  16 AMRK) 68 und dem Recht auf Eigentum (Art.  21 AMRK) erkannt69. Art.  26 AMRK selbst ist erstmals in der Entscheidung Five Pensioners v. Peru aus dem Jahre 2003 relevant geworden70. Zwar betonte der Gerichtshof den individuellen wie kollektiven Charakter der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, doch nutzte er diese Feststellung, um die Anwendung von Art.  26 AMRK mit Verweis auf den exklusiven Kreis von Pensionsberechtigten zurückzuweisen71. Gleichwohl geben bereits zwei zu diesem Urteil ergangene Sondervoten Kenntnis von dessen Umstrittenheit und greifen der nachfolgenden Entwicklung vor. Richter S. García Ramírez etwa deutet in seinem Sondervotum das noch zu entwickelnde Potential des Art.  26 AMRK an und konstatiert die Gleichrangigkeit der bürgerlichen und politischen Rechte mit wirtschaftlichen und sozialen Garantien. Richter C. Vicente de Roux Rengifo macht in seiner dissenting opinion darauf aufmerksam, dass es gerade Wesen und Aufgabe eines über Individualbeschwerden urteilenden Gerichtshofes sei, Einzelentscheidungen zu treffen, weshalb die Erklärung der Unanwendbarkeit des Art.  26 AMRK mit dem Verweis auf den begrenzten Kreis an von der Pensionsbegrenzung Betroffenen nicht überzeugen könne. Die paradigmatische Wende vollzog der Gerichtshof in Abkehr von der Beschränkung auf diesen derivativen, reflexhaften Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte aber erst in der Sache Acevedo-Buendia et al. v. Peru aus dem Jahre 2009. Nach Aussagen über die Entstehung und den Gehalt der travaux préparatoires entkräftet der Gerichtshof zunächst die systematischen Bedenken zur Justiziabilität von Art.  26 AMRK aufgrund ihrer gesonderten Platzierung im dritten Kapitel. Dazu führt er an, dass dieses Kapitel, ebenso wie die bürgerlichen und politischen Rechte, Teil  I untersteht, der „State Obligations and Rights Protected“ behandelt72. Auch die globale Verpflichtungswirkung aus Art.  1 und 2 AMRK, die das erste Kapitel kon66   Vgl. IACHR, 2.2.2001, Baena-Ricardo et. al. v. Panama, Series C Nr.  72 und IACHR, 7.2.2006, Acevedo Jaramillo et. al. v. Peru, Series C Nr.  144, die beide Massenentlassungen von Angestellten des öffentlichen Dienstes betrafen. 67  M.w.N. L.  B urgorgue-Larsen, in: L.  Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The InterAmerican Court of Human Rights. Case Law and Commentary, 2011, S.  621 Rn.  24.08. 68   Beispielhaft sind IACHR, 3.3.2005, Huilca Tecse v. Peru, Series C Nr.  121 und IACHR, 10.7. 2007, Cantoral Huamaní and García Santa Cruz v. Peru, Series C Nr.  167, die beide die Exekution von Gewerkschaftsfunktionären zum Gegenstand hatten und in denen der Gerichtshof eine weitreichende staatliche Schutzpflicht für Gewerkschaften und ihre Mitglieder etablierte. 69   Dies etwa im Hinblick auf Grundbesitz von Ureinwohnern. Ihre besondere kulturelle Verbundenheit ist vom Gerichtshof mit zahlreichen Auswirkungen gewissermaßen in den Eigentumsbegriff integriert worden, vgl. IACHR, 31.8.2001, Mayagna (Sumo) Awas Tingni Community v. Nicaragua, Series C Nr.  79; IACHR, 17.6.2005, Yakye Axa Indigenous Community v. Paraguay, Series C Nr.  125; IACHR, 29.3.2006, Sawhoyamaxa Indigenous Community v. Paraguay, Series C Nr.  146. 70   IACHR, 28.2.2003, Five Pensioners v. Peru, Series C Nr.  98 Rn.  142 ff. und insbesondere 145 ff. 71   IACHR, 28.2.2003, Five Pensioners v. Peru, Series C Nr.  98 Rn.  147. 72   IACHR, 1.7.2009, Acevedo-Buendía et. al v. Peru, Series C Nr.  198 Rn.  100.

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stituiert und den weiteren Garantien vorangestellt ist, spricht nach Ansicht des IACHR für diese Lesart. Über diese systematischen Argumente hinaus konstatiert das Gericht die Interdependenz zwischen bürgerlichen und politischen Rechten mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Garantien, stellt einen Konnex her und bekräftigt die Unteilbarkeit der Menschenrechte73. Der Gerichtshof greift zur Begründung dessen auf die Präambel des zweiten Zusatzprotokolls zur AMRK, dem „Protokoll von San Salvador“74, zurück, die von einer „close relationship“ zwischen den unterschiedlichen Generationen an Menschenrechten und einem „indivisible whole“ spricht. Im Anschluss daran begründet der Gerichtshof die Justiziabilität der in Art.  26 AMRK eingefassten, lediglich als Staatsstrukturprinzip oder programmatischen Entwicklungsauftrag anmutenden Garantie75 mit dem Diktum: „the regression is actionable when economic, social and cultural rights are involved“76 und etablierte unter Verweis auf das UN-Komitee für Wirtschaftliche und Soziale Rechte eine Art „principle of non regression“77. Die Entscheidung steht in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang sowie legitimierendem Kontext zu der Annahme des Zusatzprotokolls zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 2008 durch die Generalversammlung der UN; die Kenntnis dessen wird auch an der Bezugnahme des Gerichts auf die Präambel des Zusatzprotokolls deutlich78. Die Pionierleistung des Interamerikanischen Gerichtshofes auf dem Gebiet der „derechos economicos, sociales y culturales“ ist mit der Entscheidung Acevedo-Buendia evident, hat er doch als erster internationaler Gerichtshof überhaupt die Operationalisierbarkeit und Justiziabilität79 des Progressionsgebotes anerkannt80. Der weiteren Entfaltung, einer Emergenz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, ist damit im interamerikanischen System der Weg geebnet. Diese sind nicht zuletzt auch deshalb so bedeutsam, weil in den Staaten des interamerikanischen Schutzsystems eine Menschenrechtswirklichkeit vorherrscht, die stark von wirtschaftlich-sozialen Differenzen und damit verbundenen Konflikten geprägt ist. Soziale Ungleichheit ist mit der Geschichte des Kontinents von Anbeginn untrennbar verbunden. Schon wegen des modernen, holistischen Verständnisses des IACHR, dem es gelungen ist, den zusammenhängenden und unteilbaren Charakter aller Menschen  IACHR, 1.7.2009, Acevedo-Buendía et. al v. Peru, Series C Nr.  198 Rn.  101.   Das Zusatzprotokoll aus dem Jahre 1998 enthält wesentliche Menschenrechte der zweiten Generation. Bedauerlicherweise ist es erst von 15 der 23 Staaten, die sich der Gerichtsbarkeit unterworfen haben, ratifiziert. Ferner ist es mit dem Mangel behaftet, dass nach Art.  19 Nr.  6 ZP lediglich für die Art.  8 a) und Art.  13 die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs aktiviert wird. 75   So auch noch V. Rodriguez Rescia, Los derechos económicos sociales y culturales en el marco del sistema interamericano: mecanismos para su protección, 2004. 76   IACHR, 1.9.2009, Acevedo-Buendía et. al. v. Peru, Series C Nr.  198 Rn.  103. 77   IACHR, 1.9.2009, Acevedo-Buendía et. al. v. Peru, Series C Nr.  198 Rn.  102 f. 78   Auf diesen Wirkungszusammenhang weist L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights. Case Law and Commentary, 2011, S.  634 Rn.  24.31 hin. 79   Dazu eingehend A. A. Cançado Trindade, La justiciabilidad de los derechos económicos, sociales y culturales en el plano internacional, Lecciones y Ensayos Nr.  69/70/71 (1997–1998) S.  53 ff. 80   L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Ubeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights. Case Law and Commentary, 2011, S.  634 Rn.  24.31. 73 74

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rechtsgenerationen zu manifestieren, gebührt ihm Anerkennung und Respekt. In seiner Rechtsprechung überwindet er die in den beiden UN-Menschenrechtspakten dokumentierte und auch der unilateral negatorischen EMRK eingeschriebene weltpolitisch-ideologische Dichotomie in bürgerliche und politische Rechte einerseits und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits. So richtungsweisend diese innovative Rechtsprechung des IACHR ist, bleibt es aber dennoch zweifelhaft, ob die Realisation der Rechte zweiter Generation durch die Etablierung des „principle of non regression“ nachhaltig gelingen kann. Die Vorteile des Regressionsverbots liegen in seiner Offenheit und Unbestimmtheit sowie dem Verzicht auf klare Vorgaben, die die Einschätzungsprärogative und Gestaltungsfreiheit des demokratischen Gesetzgebers über Gebühr einschränkten. Auch sind dem Regressionsverbot Elemente des wichtigen Prinzips der Rechtssicherheit als Teil der „rule of law“ immanent. So fungiert es zumindest als soziales Stabilitätsprinzip. Gleichwohl birgt das Prinzip auch kritische Aspekte. Als problematisch erweist sich, dass das Regressionsverbot tiefgreifende Eingriffe in die Budgethoheit und das Haushaltsrecht als Ur- und Kernrecht des Parlamentes begründen kann. Dieser Souveränitäts- und Selbstbestimmungserosion entspricht ein damit verbundenes Legitimationsproblem regionaler Gerichtsbarkeit. Ferner läuft zumindest ein dogmatisch-starres Verständnis des Regressionsverbotes Gefahr, die Zyklizität verfügbarer Ressourcen nicht zu berücksichtigen. Anders als bürgerliche und politische Rechte, werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nämlich maßgeblich durch Distribution realisiert, also durch staatliche Aktivität, nicht Passivität, durch Handlung statt Unterlassen. Das ist aber nur möglich, wenn und soweit überhaupt finanzielle Mittel zur Verfügung stehen81. Die Potenzen des Staates stehen insofern unter einem „Möglichkeitsvorbehalt“ (P. Häberle). Schließlich sind dem Prinzip keine Verbesserungsanreize zu entnehmen. Das Regressionsverbot ist deshalb nur ein Teilbestand des Progressionsgebotes aus Art.  26 AMRK. Es erschöpft sich nicht in dieser negativen Dimension. Im Ergebnis kann das Regressionsverbot noch als konturenlos-unscharf klassifiziert werden, seine juristische Operationalisierbarkeit ist noch nicht sichergestellt. Gleichwohl hat es großes Potential, die Rechtsprechung des IACHR weiter zu prägen und sich über die Zeit zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Konventionsgarantien zu entwickeln. Die Chancen für eine Rezeptionsmöglichkeit dieser progressiven Rechtsprechung in Europa als Teil des Dialoges zwischen den beiden regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen fällt indes gering aus82. Es steht dem EGMR schon keine dem Art.  26 AMRK vergleichbare textliche Grundlage zur Verfügung. Zwar hat er auch in der Vergangenheit ohne explizite Konventionsgarantie durch richterliche Rechtsfortbildung und aufgrund seines Verständnisses der Konvention als „living instrument“ 81   Der Gerichtshof scheint das allerdings insoweit zu berücksichtigen, als er die Pflicht als „conditioned“ begreift und ausführt, das Prinzip „shall not be always understood as a prohibition to adopt measures that restrict the exercise of a right“, IACHR, 1.9.2009, Acevedo-Buendía et. al. v. Peru, Series C Nr.  198 Rn.  103. 82   Wenngleich der interamerikanische Gerichtshof auf das Urteil ECHR, 9.10.1979, Airey v. Ireland, Serie A Nr.  32 Rn.  26 verweist, indem auch der EGMR die Unteilbarkeit der Menschenrechte andeutet, IACHR, 1.9.2009, Acevedo-Buendía et. al. v. Peru, Series C Nr.  198 Rn.  101.

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neue Garantien kreiert. Eine derartig weit ausgreifende Rechtsschöpfung wäre aber eingedenk der historischen Entstehungsbedingungen und der monopolen Ausrichtung auf Rechte des status negativus wohl als „contra legem“ bzw. „ultra vires“ anzusehen. Vielversprechend wäre allerdings in Anlehnung an das Protokoll von San Salvador eine Ergänzung der EMRK um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vermöge eines weiteren, fakultativen Zusatzprotokolls.

III.  Ausblick: Das zukünftige Innovationspotential eines permanenten interamerikanischen Gerichtshofes Begann die Rechtsprechungstätigkeit des IACHR – durch prozedurale Aspekte gehemmt – erst verzögert in den 80er Jahren, hat er sich nachfolgend mit einer Vielzahl an progressiven Urteilen hervorgetan. Auch inhaltlich ist eine bemerkenswerte Entwicklung auszumachen. Stand einst die Aufarbeitung massiver, fundamentaler Menschenrechtsverletzungen der autoritären und repressiven Regime der 1960er und 1970er Jahre im Fokus, die im wesentlichen Verletzungen des Rechts auf Leben (Art.  4 AMRK), des Rechts auf menschliche Behandlung (Art.  5 AMRK) und des Rechts auf persönliche Freiheit (Art.  7 AMRK) rügte, hat sich das Jurisdiktionsspektrum stark erweitert. Der Gerichtshof schöpft zunehmend die ganze Bandbreite des Normbestandes der AMRK aus und hat auf dieser reichen Grundlage viele innovative Judikate gesprochen. Zukünftig wird es darauf ankommen – ähnlich wie in Europa mit dem 11. Zusatzprotokoll von 1998 geschehen – den IACHR zu einem ständigen Konventionsorgan mit obligatorischer Gerichtsbarkeit zu transformieren. Gleichwohl sollte der europäische „Fehler“, das duale Institutionengefüge zugunsten eines „Single Court“-Modells aufzugeben angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzung und der zu erwartenden Überlastung, nicht wiederholt werden. Sollte es aber gelingen, das interamerikanische Rechtsschutzsystem dahingehend zu reformieren83, dass der Gerichtshof in San José neben der weiterhin unverzichtbaren Kommission den Status einer „corte permanente“84 und das Individuum locus standi erhält, wird seine Bedeutung für den internationalen Menschenrechtsschutzdiskurs signifikant zunehmen. Damit stünden nicht nur einzelne Innovationsimpulse durch den Gerichtshof zu erwarten, sondern reifte dieser – dem EGMR vergleichbar – zu einem unverzichtbaren regionalen Akteur des universellen Menschenrechtsschutzes heran85.

83   Dazu auch A. Dulitzky, The Inter-American Human Rights System Fifty Years Later: Time for Changes, Quebec Journal of International Law, (Special Edition) 2011, S.  127 ff. 84   M. E. Ventura Robles, La Corte Interamericana de Derechos Humanos: Camino hacia un Tribunal Permanente, Revista IIDH 32–33 (2000–2001), S.  271 ff. 85   Vgl. zu dieser Rolle, M. Kotzur, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: ein regionaler Akteur im Dienste universeller Menschenrecht, in: B. v. Hoffmann (Hrsg.), Universalität der Menschenrechte. Kulturelle Pluralität, 2009, S.  41 ff.

II. Asien

Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Mongolei von

Dr. Dr. h. c. Jürgen Harbich, München I.  Kurzer Rückblick Die Mongolei, ein Land mit langer, wechselvoller Geschichte, erlebte 1206 unter Dschingis Khan die politische Einigung. Dschingis Khan und seine Nachfolger begründeten ein Weltreich, das weite Teile Asiens und Osteuropas umfasste. Im 13./14. Jahrhundert beherrschten die Mongolen etwa 100 Jahre China, das sich seinerseits die Mongolei im 17. Jahrhundert untertan machen konnte; von 1691 bis 1911 war die Mongolei Bestandteil des Chinesischen Reiches, das von der mandschurischen Qing-Dynastie (1644–1911) beherrscht wurde. Den Ausbruch der chinesischen Revolution im Jahr 1911 nutzte die Äußere Mongolei1, sich von China loszulösen; doch geriet die Mongolei nun unter russische Oberhoheit. Seit 1921 sprechen wir von der Mongolei als selbständiger Republik. Sie wird seit 1924 „Mongolische Volksrepublik“ genannt, ist eine Republik sozialistischen Typs, bleibt rechtlich selbständig, gilt jedoch als treuer Vasall der Sowjetunion. Die politische Wende in Mittel- und Osteuropa im „annus mirabilis“ 1989 blieb auch der mongolischen Jugend nicht verborgen. Im Frühjahr 1990 versammelten sich in Ulan Bator auf dem Sukhbaatar-Platz vor dem Staatspalast junge Mongolen, unter ihnen auch Studenten, die im Herbst 1989 während ihres Studiums in der DDR erlebt hatten, wie eine sozialistische Diktatur mit friedlichen Demonstrationen in die Knie gezwungen wurde. Die mongolische Jugend protestierte mit einem Hungerstreik gegen ihre politische Führung, gegen das sozialistische Einparteiensystem. Es blieb friedlich, kein Blut floss, keine Fensterscheibe ging zu Bruch; und dennoch blieb der Erfolg nicht aus: Die MRVP, die bis dahin diktatorisch regierende Mongolische Revolutionäre Volkspartei, öffnete den Weg für einen politischen Wandel, wie wir ihn von Europa der Jahre 1989/1990 kennen 2. 1992 gab sich das mongolische Volk eine neue Verfassung, mit der sich die Mongolei zu Demokratie, Gewaltentei1   Von der sog. Äußeren Mongolei ist im folgenden die Rede; die Innere Mongolei gehört als eine der fünf Autonomen Republiken zum Hoheitsgebiet der Volksrepublik China. 2   S. dazu Dendevijn Terbishdagva, Der Wandel in der Mongolei nach der Wende 1990: Probleme, Lösungsansätze, Ergebnisse und Perspektiven, in: Hanns-Seidel-Stiftung, Die Mongolei im Wandel, 2004, S.  28 ff.

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lung und Grundrechten bekennt. Noch im selben Jahr wird das von der Verfassung vorgesehene Verfassungsgericht installiert. Damit waren die Fundamente für die Errichtung und Festigung eines demokratischen Rechtsstaates gelegt.

II.  Die Vorgeschichte der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung 1995 eröffnete die Hanns-Seidel-Stiftung ein Büro in Ulan Bator. Zu den Arbeitsgebieten, die mit der mongolischen Regierung vereinbart wurden, gehören die Beratung bei der Rechtsentwicklung, die Stärkung rechtsstaatlicher Elemente und die Ausbildung der Juristen an der Staatsuniversität. Die mongolischen Partner der Stiftung sind daher u. a.: das Justiz- und Innenministerium, das Verfassungsgericht, das Oberste Gericht und die Staatsuniversität. Im Einvernehmen mit den mongolischen Partnern organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung Konferenzen, Seminare und Vortragsveranstaltungen zu zentralen verfassungsrechtlichen Themen – stets unter Beteiligung deutscher Juristen. In den zahlreichen Gesprächen, die mongolische Minister, Abgeordnete, Ministerialbeamte, Richter und Professoren mit den deutschen Juristen führten, war Heinrich Scholler 3 einer der ersten, der die Mongolen überzeugte, dass ein moderner Verfassungsstaat Rechtsschutz gewähren müsse gegen belastende Akte der Exekutive und dass das am besten durch Richter geschehe, die hierfür ausgebildet und sachkundig seien4. M. a. W.: Es sei unausweichlich, in der Mongolei eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zu installieren. Den mongolischen Gesprächspartnern leuchtete ein, dass Verwaltungsgerichte nicht nur für die eigenen Staatsbürger, sondern wegen der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes auch für ausländische Investoren notwendig sind. Da Deutschland mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit mehr als 100 Jahre Erfahrung hat und die deutsche Justiz in der Mongolei einen guten Ruf genießt, lag es für die mongolische Seite nahe, sich bei der Ausarbeitung einer Verwaltungsgerichtsordnung von deutschen Juristen beraten zu lassen. Das Justizministerium setzte eine Arbeitsgruppe ein, die unter der Leitung von Byaraa Chimid5, einem früheren Justizminister und Präsidenten des Obersten Gerichts, bereits 1996 das erste Mal tagte. Zahlreiche Gespräche folgten – in Ulan Bator, mehrmals unter deutscher Beteiligung, und immer wieder in München, so dass die mongolische Arbeitsgruppe neben Heinrich Scholler und dem Verfasser dieses Beitrages auch Verwaltungsbeamte, Ver3   Professor an der Universität München, Ehrendoktor des Rechtsinstituts der Mongolischen Staatsuniversität. 4   Das in der Zeit der politischen Wende erlassene Gesetz vom 23. März 1990 gestand den Bürgern das Recht zu, sich gegen ungesetzliche Handlungen staatlicher Verwaltungsorgane mit Beschwerde an die höhere Behörde zu wenden und, wenn die Beschwerde erfolglos war, bei Gericht, d. h. beim Zivilgericht, zu klagen. Das Gesetz konnte jedoch wegen der durch den politischen Umbruch verursachten Rechtskrise und wegen des Fehlens einer Verwaltungsgerichtsbarkeit „nie richtig lebendig“ werden; in diesem Sinn Chimid Byaraa, Die gerichtliche Aufsicht vor der Schaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit – Grundlagen der neuen Struktur, in: Verwaltungsgerichtsbarkeit: Reformen in der Mongolei und Weltpraxis, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung, Ulaanbaatar, 2004, S.  35 ff., 39 f. 5   Professor für öffentliches Recht (1934–2013), gehörte in der Mongolei zu jener Generation, die im alten System „groß geworden“ ist, nach dem politischen Umbruch jedoch rechtsstaatliche Reformen mit Nachdruck förderte; Chimid Byaraa war der bekannteste Jurist der Mongolei.

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waltungsrichter und Rechtsanwälte konsultieren konnte. Bei diesen zahlreichen Zusammenkünften konnten wir die Mongolen von manchen Prinzipien der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung überzeugen, so dass diese ihren Niederschlag im mongolischen Recht gefunden haben. Die einzelnen Vorschriften der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung (mVwGO) formulierten die Mongolen mit selbstverständlicher Souveränität ohne deutsche Hilfe. Den Gesetzentwurf der mVwGO, der schließlich im Großen Staatskhural (= Parlament) eingebracht wurde, sahen die deutschen Juristen nicht. Am 26. Dezember 2002 beschloss das Parlament die Verwaltungsgerichtsordnung; seit 1. Juni 2004 ist sie in Kraft6.

III.  Prinzipien der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung 1. Enumerationsprinzip Die mongolische Arbeitsgruppe zeigte durchaus Sympathie für die deutsche Generalklausel (Art.  19 Abs.  4 GG, §  40 VwGO). Sie erklärte aber, dass eine verwaltungsgerichtliche Generalklausel in der Mongolei – jedenfalls derzeit – politisch nicht durchsetzbar sei. Man könne dem Parlament, jedenfalls der Mehrheit des Parlaments, nicht vermitteln, dass sich auch der Staatspräsident vor Verwaltungsgerichten zu verantworten habe. Das hat durchaus praktisches Gewicht, ist doch der Staatspräsident auch zum Erlass von Verwaltungsakten zuständig, z. B. zur Ernennung der Richter. Hierbei entscheidet der Präsident im Rahmen eigenen Ermessens; und wie man hört, macht er von dieser Befugnis auch Gebrauch. Konkurrentenklagen unterlegener Bewerber würden nach heute geltendem Recht an der Zulässigkeitshürde scheitern. Da das mongolische Recht bisher keine Verfassungsbeschwerde kennt, mit der die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht werden könnte, ist der Individualrechtsschutz derzeit lückenhaft. In §  4 Abs.  1 mVwGO sind die möglichen Beklagten eines Verwaltungsprozesses aufgeführt; in der ursprünglichen Fassung des §  4 Abs.  1 war in Nummer 1 auch die Regierung der Mongolei genannt. Gestützt auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 31. März 2005 hat der Große Staatskhural die Regierung aus dem Katalog des §  4 Abs.  1 mVwGO herausgenommen, weil Streitigkeiten, an denen die Regierung beteiligt sei, Verfassungsstreitigkeiten seien, für die nur das Verfassungsgericht zuständig sein könne. Diese Entscheidung, die nicht differenziert, ob die Regierung als Verfassungs- oder Verwaltungsorgan handelt, hat in Juristenkreisen und in der mongolischen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt und scheint bis heu  Es gibt keine amtliche Übersetzung der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung. Der deutsche Text der in diesem Beitrag zitierten mongolischen Gesetze ist bei der Hanns-Seidel-Stiftung in München erhältlich. Die Hanns-Seidel-Stiftung hat auch den von Heinrich Scholler und Jürgen Harbich verfassten „Deutschen Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung der Mongolei“ im Jahr 2007 in der Reihe „Argumente und Materialien der Entwicklungsarbeit“ veröffentlicht; dieser Kommentar ist auch in mongolischer Sprache in einem Kommentar, verfasst von mongolischen Juristen, im Jahr 2009 in Ulan Bator erschienen; auch die 2. Auflage dieses Kommentars von 2012 enthält Kommentierungen von H. Scholler und J. Harbich; siehe auch J. Harbich, Erstmals Verwaltungsgerichte in der Mongolei, BayVBl.  2005, 76 ff. 6

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te umstritten zu sein7. Trotz dieser Einschränkungen der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit bleibt das Arbeitsfeld der mongolischen Verwaltungsgerichte groß genug, was die Bevölkerung als wohltuend empfindet.

2. Offizialmaxime In der Arbeitsgruppe wurde ausgiebig über die Frage diskutiert, ob für den Verwaltungsprozess der Verhandlungsgrundsatz oder die Offizialmaxime gelten soll. In den Beratungsgesprächen war amerikanischer Einfluss zu spüren. Manches Par­ laments- und Regierungsmitglied hatte von Gastaufenthalten in den USA die Kunde von angeblich positiven Aspekten des Verhandlungsgrundsatzes mitgebracht. Das erschwerte die Überzeugungsarbeit der deutschen Juristen, die sich kompromisslos für die Offizialmaxime einsetzten. Schließlich war abzusehen, dass die mVwGO für den gesamten Instanzenzug keinen Anwaltszwang vorsehen würde; da war es notwendig, die Offizialmaxime gesetzlich zu verankern (s. §§  31, 37 Abs.  1 Nr.  2 mVwGO).

3. Klagearten §  1 mVwGO, der das „Ziel des Gesetzes“ festlegt, spricht nur vom „Schutz vor rechtswidrigen Verwaltungsakten“. Dieser Wortlaut lässt zunächst vermuten, dass die mVwGO nur die Anfechtungsklage im Blick hat. Doch §  32 mVwGO, der an die Klageschrift bestimmte Anforderungen stellt, spricht nicht nur vom – Antrag auf Auf hebung eines Verwaltungsaktes, sondern auch – vom Antrag auf Feststellung der offensichtlichen Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes und – vom Antrag auf Behebung der Folgen eines rechtswidrig verweigerten Verwaltungsakts, was im deutschen Recht mit der Verpflichtungsklage und dem Anspruch auf Folgenbeseitigung korrespondiert. Es fällt auf, dass die Vorschrift über die Feststellung keine Aussage über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses enthält. Diese Lücke schließt §  70 Abs.  2 mVwGO, der den möglichen Inhalt verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen festlegt. Nach Nr.  2 dieser Norm kann das Gericht auch das „Bestehen oder das Fehlen von Rechtsbeziehungen“ feststellen. Dass eine mögliche Gerichtsentscheidung von den Prozessbeteiligten auch beantragt werden kann, bedarf keiner weiteren Erörterung. Auf Grund der Vorgeschichte überrascht es nicht, dass die Klagearten des mongolischen Prozessrechts dem System der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung nachgebildet sind. Die Regelungen über den nichtigen Verwaltungsakt weisen jedoch Unterschiede auf. Von den besonderen Fällen des §  44 Abs.  2 dVwGO abgesehen, verlangt die Definition des deutschen Rechts für einen nichtigen Verwaltungsakt nicht nur das 7   Adilbischiin Erdenetsogt (Dozent an der Mongolischen Staatsuniversität), Festigung des mongolischen Rechtsstaates durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, BayVBl.  2010, 104 ff.

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Vorliegen eines offensichtlichen Fehlers (so das mongolische Recht), sondern auch, dass dieser Fehler besonders schwerwiegend ist (§  44 Abs.  1 VwVfG). Aus der Sicht des Rechtsschutz suchenden Bürgers muss man die mongolische Regelung nicht bedauern. Misslich wird es, wenn man an das gerichtliche Verfahren denkt, weil die Zulässigkeit jeder Klage von einem fristgebunden eingeleiteten Vorverfahren abhängt (dazu unter II. 4). Die mongolische Verwaltungsgerichtsordnung kennt auch die Kontrolle untergesetzlicher Rechtsvorschriften. Die Normenkontrolle hat jedoch nicht wie im deutschen Recht (§  47 dVwGO) eine eigene Ausgestaltung erfahren. Sie unterscheidet sich nicht vom „normalen“ Klageverfahren, weil nach der Legaldefinition in §  3 Abs.  1 Nr.  4 mVwGO auch Rechtsverordnungen und Satzungen als Verwaltungsakte behandelt werden. Diese für einen deutschen Juristen ungewöhnliche Regelung hat in der verwaltungsgerichtlichen Praxis der Mongolei noch zu keinen Schwierigkeiten geführt, weil ein Klageverfahren dieser Art bis jetzt nicht angestrengt worden ist.

4. Vorverfahren Dem Klageverfahren ist ein verwaltungsbehördliches Vorverfahren – auch im mongolischen Recht Widerspruchsverfahren genannt – vorgeschaltet (§§  6–11 mVwGO). Der zulässige Widerspruch setzt die Behauptung der Verletzung eigener Rechte voraus und ist bei der nächsthöheren Behörde schriftlich einzulegen. Das hat innerhalb von 30 Tagen zu geschehen, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist. Das Gesetz kennt auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§  6 Abs.  3 mVwGO). Insoweit ist eine weitgehende Parallelität mit dem deutschen Recht festzustellen. Auf zwei Abweichungen sei jedoch hingewiesen: Nach mongolischem Recht kann der Widerspruch nur bei der nächsthöheren Behörde eingelegt werden. Diese Regelung mag auf Erfahrungen in der vordemokratischen Epoche beruhen; Beschwerden, die bei den Ausgangsbehörden eingelegt worden waren, seien in dieser Zeit häufig nicht „angekommen“ oder „verloren gegangen“, wie die deutschen Juristen in den Beratungsgesprächen erfuhren. Zum anderen fällt auf, dass die Widerspruchsbehörde nur überprüft, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist; die Nachprüfung der Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts ist im Vorverfahren ausgeschlossen. Eine Begründung für diesen Ausschluss war nicht erhältlich; er könnte damit zusammenhängen, dass dem früheren Rechts- und Verwaltungssystem die Rechtsfigur des Ermessens fremd war. Bei den ersten Übersetzungsversuchen wurde Ermessen mit Willkür gleichgesetzt. In intensiven Seminargesprächen scheint es gelungen zu sein, den mongolischen Juristen eine Vorstellung vom rechtsstaatlich gebundenen Ermessen zu vermitteln. Auch wenn die Widerspruchsbehörde nicht befugt ist, im Rahmen des Vorverfahrens die Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts zu überprüfen, so bleibt doch festzuhalten, dass dadurch das hierarchische Prinzip nicht angetastet wird und die Widerspruchsbehörde als vorgesetzte Behörde außerhalb des förmlichen Vorverfahrens durch Weisung auch in den Ermessensspielraum der ihr nachgeordneten Behörde eingreifen kann.

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5. Klagefrist Förmliche Rechtsbehelfe können üblicherweise nur innerhalb gesetzlich bestimmter Fristen eingelegt werden. So verlangt die mongolische Verwaltungsgerichtsordnung für die Einlegung des Widerspruchs die Einhaltung einer 30-Tage-Frist (§  6 Abs.  1); auch die Rechtsmittel der Berufung und der Revision sind befristet (§  81 Abs.  1, §  91 mVwGO i. V. m. §§  167 Abs.  5, 172 Abs.  1 mZPO). Für die Erhebung der Klage, die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhoben werden kann, hat der Gesetzgeber von 2002 keine Frist vorgesehen. Lediglich für den Fall, dass gegenüber der Ausgangsbehörde keine höhere Verwaltungsbehörde existiert, verlangt die mVwGO in §  12 Abs.  2 die Erhebung der Klage innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts. Die Lücke im Gesetz führte zu lebhaften Diskussionen mit den Verwaltungsrichtern, die sich zur Analogie gezwungen sahen und verlangten, dass Klagen, denen ein Widerspruchsverfahren vorgeschaltet ist, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides erhoben werden müssen; sie beriefen sich hierbei auf das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit. Auch Rechtsanwälte zeigten in einem VwGO-Seminar Verständnis für diese Rechtsauffassung. Inzwischen ist der Große Staatskhural der Rechtsprechung gefolgt und hat durch Gesetz vom 29. Oktober 2010 die Lücke geschlossen.

6. Rechtsbehelfsbelehrung Die mongolische Verwaltungsgerichtsordnung schreibt nicht vor, dass den Verwaltungsakten der Ausgangsbehörden, den Widerspruchsbescheiden und den Gerichtsentscheidungen eine Rechtsbehelfsbelehrung beizufügen ist. Das ist misslich; denn in allen Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen kann der Bürger ohne Rechtsbeistand auftreten. Die Verwaltungsrichter der ersten und zweiten Instanz nehmen auf den rechtsunkundigen Bürger Rücksicht und belehren am Ende der mündlichen Urteilsbegründung die unterlegene Partei, welchen Rechtsbehelf sie in welcher Frist bei welchem Gericht einlegen kann. Die Richter erfüllen, wie sie sagen, ein „nobile officium“. Dennoch sollte der Gesetzgeber die Erteilung der Rechtsbehelfsbelehrung zur Pflicht machen, weil sich die Verwaltung die Nobilität der Richter nicht zu eigen gemacht hat. In einem aktuellen Gesetzentwurf des Justiz- und Innenministeriums ist eine entsprechende Pflicht der Verwaltungsbehörden vorgesehen.

7. Instanzenzug Entsprechend dem bewährten Instanzenzug in der mongolischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit hat sich der Große Staatskhural auch für drei Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden. Als erste Instanz fungieren die Aimaggerichte; das sind die Berufungsgerichte der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, bei denen eine Verwaltungskammer installiert wurde. Da die Mongolei in 21 Aimags (= Provinzen) gegliedert ist und für die Hauptstadt Ulan Bator ein eigenes Verwaltungsgericht, genannt Hauptstadtgericht, errichtet wurde, gibt es 22 Verwaltungsgerichte erster

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Instanz. Mit den Aufgaben der verwaltungsgerichtlichen Berufungs- und Revisionsinstanz betraute der Gesetzgeber des Jahres 2002 das Oberste Gericht, das bisher schon eine Zivil- und eine Straf kammer hatte. Der nun hinzugekommenen Verwaltungskammer gehörten sechs Richter an: je drei Richter nahmen die Aufgaben der Berufungsinstanz bzw. der Revisionsinstanz wahr. Bei der Gründung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ließen Kostengesichtspunkte und die Ungewissheit über den künftigen „Geschäftsanfall“ die geschilderte Konstruktion als verständlich erscheinen. Auf die Dauer konnte sie nicht aufrecht erhalten werden. Wurde gegen eine Entscheidung des Berufungsgerichts, das in der Besetzung von drei Richtern entscheidet (§  52 Abs.  3 mVwGO), Revision eingelegt, so standen für das revisionsgerichtliche Verfahren nur drei Richter der Verwaltungskammer zur Verfügung, weil es nach allgemeinen auch in der Mongolei geltenden Prinzipien Richtern nicht gestattet ist, in derselben Sache in zwei Instanzen tätig zu werden; denn die Verwaltungskammer des Obersten Gerichts ist als Revisionsgericht mit fünf Richtern besetzt (§  52 Abs.  4 mVwGO). Zu den drei ständigen Mitgliedern der Verwaltungskammer mussten jeweils zwei Richter aus der Zivil- bzw. der Straf kammer „zugezogen“ werden. Demnach wirkten bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren in der Revisionsinstanz stets zwei „sachfremde“ Richter mit. Eine solche Regelung wurde der Bedeutung revisionsgerichtlicher Entscheidungen nicht gerecht. Diese Ungereimtheit und die Zunahme der Berufungs- und Revisionsverfahren veranlassten den Gesetzgeber, mit Wirkung vom 1. Januar 2011 in Ulan Bator ein eigenes Berufungsgericht für Verwaltungsstreitsachen zu errichten (Art.  1 des Gesetzes vom 31. Dezember 2010). Einschließlich des Präsidenten ist das Berufungsgericht derzeit mit sieben Richtern besetzt. Eine weitere Änderung brachte §  16.1. des neuen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 7. März 2012. Danach besteht das Oberste Gericht seit dem 1. Juli 2013 aus dem Präsidenten und je acht Richtern für die Zivil-, die Strafund die Verwaltungskammer. Der strukturelle Auf bau der mongolischen Verwaltungsgerichtsbarkeit kann damit als abgeschlossen betrachtet werden.

8.  Aufgaben der Rechtsmittelinstanzen Die Aufgaben des Berufungs- und des Revisionsgerichts entsprechen weitgehend denen, die auch aus anderen Rechtsordnungen bekannt sind: Das Berufungsgericht ist Tatsachen- und Rechtsinstanz (§§  81 ff. mVwGO), während das Revisionsgericht darauf beschränkt ist, die Einhaltung der Verfahrensvorschriften und die Anwendung des materiellen Rechts zu überprüfen (§  91 mVwGO i. V. m. §§  172 ff. mZPO). Das heißt, dass auch das mongolische Revisionsgericht selbst keine Beweise erhebt, sondern das angefochtene Urteil ggfs. auf hebt und die Vorinstanz zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet (§   91 mVwGO i. V. m. §   178 Abs.   1 Nr.   5 mZPO). Eine für deutsche Juristen ungewöhnliche Vorschrift enthält §  85 Abs.  3 mVwGO. Danach ist das Berufungsgericht verpflichtet, die Entscheidung der ersten Instanz insgesamt zu überprüfen, also auch den Teil der Entscheidung, gegen den Berufung nicht eingelegt wurde. Eine gleiche Regelung enthält die mongolische Zivilprozessordnung für das zivilgerichtliche Berufungsverfahren (§  166 Abs.  4 mZPO). Ähn-

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liches gilt für den Strafprozess (§  308 mStPO). Das Berufungsgericht ist demnach ggfs. befugt und verpflichtet, den Berufungskläger über seinen Antrag hinaus besser zu stellen; es kann und muss den Berufungskläger ggfs. auch schlechter stellen, als der Kläger durch das Urteil der ersten Instanz gestellt war. Diese Regelungen weichen fundamental von den Prinzipien des deutschen Rechtsmittelrechts ab, die für das verwaltungsgerichtliche Verfahren in §§  128, 129 dVwGO niedergelegt sind. Nach unserem Verständnis von den Aufgaben eines Rechtsmittelgerichts ist eine „reformatio in peius“ überhaupt nicht diskutabel. Die dem mongolischen Berufungsgericht durch §  85 Abs.  3 mVwGO auferlegte Pflicht wirft die Grundsatzfrage nach dem eigentlichen Zweck des Rechtsmittelverfahrens auf. Während für das deutsche Prozessrecht der Gedanke des Rechtsschutzes im Vordergrund steht, spielt für das mongolische Rechtsmittelverfahren auch der Gedanke der Kontrolle eine wesentliche Rolle. Zwar gilt die Vorschrift des §  85 Abs.  3 mVwGO nur für das Berufungsverfahren; doch das Revisionsgericht prüft nach, ob das Berufungsgericht seiner ihm von §  85 Abs.  3 mVwGO auferlegten Pflicht nachgekommen ist. Mongolische Verwaltungsrichter zeigten in Gesprächen durchaus Verständnis für die deutsche Sicht. M. E. ist die Diskussion über das in §  85 Abs.  3 mVwGO durchscheinende Prinzip nicht beendet.

9.  Umweltschutz und Klagerecht Der mongolische Gesetzgeber hatte beim Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung in erster Linie das Individuum im Blick. Daher bleibt rechtswidriges Verwaltungshandeln, das subjektive Rechte nicht verletzt, außerhalb gerichtlicher Kontrolle; der Gesetzgeber vertraut in diesen Fällen der Eigenkontrolle der Exekutive. Funktioniert diese, gibt es für Klagen keinen Grund. Die Erfahrung lehrt jedoch – nicht nur in der Mongolei –, dass der Staat mit seinen eigenen Gesetzen manches Mal großzügig „umgeht“, vor allem dann, wenn der laxe Gesetzesvollzug für den Staat vordergründig vorteilhaft ist, wie z. B. bei der Vergabe von Lizenzen für den Abbau von Bodenschätzen. Es sind die Mongolen selbst, die einen sorglosen Umgang mit der Umwelt beklagen und nach Wegen suchen, die zu einem besseren Schutz ihrer Umwelt führen. Im Frühjahr 2012 beschäftigte sich in Ulan Bator eine internationale Konferenz (ohne deutsche Beteiligung) mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei behördlicher Verletzung des Umweltschutzrechts der Verwaltungsrechtsweg eröffnet werden kann. An der Konferenz nahmen Rechtsanwälte, Verwaltungsrichter, Verwaltungsbeamte, Universitätsdozenten und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen teil; für ihre unterschiedlichen Standpunkte konnte kein gemeinsamer Nenner gebildet werden, so dass kein Vorschlag für eine Ergänzung der Verwaltungsgerichtsordnung formuliert wurde. Dennoch nimmt man erfreut zur Kenntnis, dass der gerichtliche Rechtsschutz der Umwelt öffentliches Interesse gefunden hat. Sicherlich wird dieses Thema die Öffentlichkeit und auch die Rechtswissenschaft weiterhin beschäftigen.

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IV.  Aus- und Fortbildung der Verwaltungsrichter 1.  Die historische Situation von 2004 Wer Richter werden will, muss nach der juristischen Ausbildung mindestens drei Jahre in einem juristischen Beruf gearbeitet haben und sich in einem Bewerbungsverfahren einer schriftlichen Einstellungsprüfung unterziehen. Die Richter haben daher bei der Übernahme ihres ersten Richteramtes unterschiedliche Vorerfahrungen. Nach Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung im Jahr 2002 und vor deren Inkrafttreten am 1. Juni 2004 wurden nach erfolgreicher Beteiligung der Hanns-Seidel-Stiftung an einer Ausschreibung der Weltbank deutsche Juristen beauftragt, eine Gruppe von etwa 20 mongolischen Juristen (Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Hochschuldozenten und Verwaltungsbeamte) in einem vierwöchigen Seminar auf der Grundlage der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung mit den Aufgaben der Verwaltungsgerichtsbarkeit in einem demokratischen Rechtsstaat vertraut zu machen. Die mongolischen Juristen gaben anschließend die im Seminar erworbenen Kenntnisse an Kollegen weiter, die Interesse gezeigt hatten, sich für das Amt eines Verwaltungsrichters zu bewerben. Dieses Prinzip der „mittelbaren Seminararbeit“ hat sich in der Mongolei inzwischen gut bewährt, u. a. auch deshalb, weil die deutschen Juristen umfangreiches schriftliches Material ausarbeiten, das sich durch systematische Übersichten und anschauliche Fallbeispiele auszeichnet. Da die deutschen Texte von mongolischen Juristen übersetzt wurden, die auch mit der deutschen Rechtssprache vertraut sind, und die mongolischen Juristen hochmotiviert waren, in der völlig neuen Gerichtsbarkeit mitzuwirken, kann man von einem gelungenen Wissenstransfer sprechen. Eine anschließende schriftliche Prüfung ermittelte die besten Bewerber, die der Staatspräsident mit Wirkung vom 1. Juni 2004 zu Verwaltungsrichtern ernannte. Der Verfasser dieses Beitrags hatte die Ehre, in Ulan Bator am 1. Juni 2004 mit den frisch ernannten Richterinnen und Richtern an einem festlichen Essen teilzunehmen. Selten hat man Gelegenheit, in so strahlende Gesichter zu blicken, so frohgemuten Menschen zu begegnen, die sich ihrer historischen Rolle bewusst sind und mit Elan an eine völlig neue Aufgabe herangehen.

2.  Die Multiplikatorengruppe Das für die Gerichtsbarkeit zuständige Justiz- und Innenministerium, die Verwaltungsrichter selbst, die Hanns-Seidel-Stiftung und die deutschen Juristen waren sich bewusst, dass die eben geschilderte „Schulung“ nur ein bescheidener Anfang sein konnte. Die Hanns-Seidel-Stiftung und das Oberste Gericht der Mongolei kamen daher überein, für die Verwaltungsrichter eine Seminarreihe zu entwickeln, die sich auf drei Jahre (2007–2009) erstreckte. Es war jedoch nicht möglich, dass 60 bis 70 Richter an diesen Seminaren teilnehmen. Das Oberste Gericht bildete daher eine zehnköpfige Multiplikatorengruppe, der acht Richter der ersten Instanz, eine Richterin der Berufungsinstanz und der Vorsitzende der Verwaltungskammer des Ober-

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sten Gerichts angehörten. Mit dieser Gruppe (acht Frauen8, zwei Männer – im Alter zwischen 34 und 55 Jahren), deren Zusammensetzung die drei Jahre über unverändert blieb, arbeiteten deutsche Juristen jährlich zwei bis drei Wochen intensiv zusammen9. Eine dieser Seminarwochen fand auf bayerischem Boden (München, Augsburg) statt. Hier begegneten die mongolischen Verwaltungsrichter ihren bayerischen Kollegen nicht nur im Seminar, sondern auch im Gerichtssaal: Beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof waren sie Zeugen einer mündlichen Verhandlung, nachdem sie der Vorsitzende Richter in einem Vorgespräch mit dem Streitgegenstand vertraut gemacht hatte. Günstig war, dass die Seminarteilnehmer bereits mehrjährige verwaltungsrichterliche Erfahrung mitbrachten. So konnten sie die Seminarthemen mit ihrer beruflichen Praxis in Verbindung bringen. Die Diskussionen bewegten sich daher nicht in abstrakten Gefilden, sondern waren in der Regel auf „erlebte Fälle“ gestützt. Die Themen der Seminare wurden nicht einseitig von deutscher Seite vorgegeben, sondern jeweils mit den mongolischen Kollegen abgestimmt. Beispielhaft seien einige Themen genannt: – die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in einem demokratischen Rechtsstaat – Auslegungsmethoden – Abgrenzung des Verwaltungsrechtswegs von der Zivil-, der Straf- und der Verfassungsgerichtsbarkeit – Prinzipien der mongolischen und der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung, insbesondere das Enumerationsprinzip und die Generalklausel, die Klagearten – die Offizialmaxime einschließlich der materiellen Beweislast – Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff – Gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen der Verwaltung – Konkrete Fälle mit Aspekten des formellen und materiellen Rechts – Begründung gerichtlicher Entscheidungen – Ethos der Verwaltungsrichter. In aller Regel waren die Themen von deutscher Seite mit schriftlichem Material begleitet, das die mongolischen Kollegen in ihrer Sprache erhielten. Im Seminar sprach jeder in seiner Muttersprache. Es musste daher übersetzt werden – eine wahrhaft herkulische Arbeit der Dolmetscher! Die Seminarteilnehmer waren nicht auf das Zuhören beschränkt; sie stellten viele Fragen, diskutierten mit dem deutschen Referenten und nicht selten untereinander. Jeder Teilnehmer, auch der Oberste Verwaltungsrichter, hielt einen prozessrechtlichen Vortrag und musste sich anschließend mit kritischen Fragen der Kollegen, der Kolleginnen und des deutschen Referenten auseinandersetzen. Immer wieder standen die mongolischen Kollegen vor Problemen der Auslegung, einem sensiblen Thema, das bis dato in der mongolischen Rechtslehre noch kaum angekommen war. Die klassischen Auslegungsmethoden erfuhren allgemeine Akzeptanz. Schließlich war man sich im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung einig, dieses Gesetz auch

  Mindestens zwei Drittel aller mongolischen Richter sind Frauen.   Im wesentlichen war die Aufgabe dem Verfasser dieses Beitrags anvertraut.

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mit der Methode der Rechtsvergleichung10 auszulegen. Einen besonderen Schwerpunkt in den Seminaren bildete die Begründung gerichtlicher Entscheidungen. An Hand zahlreicher schriftlich ausgearbeiteter Fälle hatten die Teilnehmer die Aufgabe, die wesentlichen Gründe der Entscheidung schriftlich niederzulegen, im Seminar vorzutragen und sich der Diskussion zu stellen. Die penible, überprüf bare Subsumtionsarbeit, die systematische und die teleologische Interpretation empfanden manche Richter anfänglich als Neuland, in dem sie sich bei fortschreitenden Übungen immer sicherer bewegten. Auf diesem Feld spürte man Nachwirkungen des alten Systems, in dem die Begründung gerichtlicher Entscheidungen im Hinweis auf einschlägige Rechtsvorschriften bestand und darüber hinaus kein Thema war. Dass der Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat einen Anspruch auf die Begründung staatlicher Entscheidungen hat – jedenfalls dann, wenn diese den Bürger belasten –, war für jeden Richter einsichtig. Wie man hört, hat sich diese Einsicht nunmehr in der richterlichen Praxis niedergeschlagen. Man muss weit reisen, um eine Diskussionskultur zu erleben, wie sie diese Seminare prägte. Dass im Seminar nicht die Hierarchie, sondern nur das Argument zählte, war von Anfang an selbstverständlich. So durfte jeder jeden attackieren; und das geschah auch. Dabei kamen die Diskutanten ohne diplomatische Floskeln aus. Es war erfrischend zu erleben, wie sich eine Richterin gegen die Rechtsauffassung von neun Kollegen auflehnte. In dem Meinungsstreit konnte für den deutschen Referenten nicht jedes Wort übersetzt werden. Offensichtlich gab es keine Verletzungen; denn am Ende des Seminartages, schließlich beim festlichen Abschiedsessen konnten alle wieder lachen, konnte jeder jedem in die Augen sehen.

3.  Die Fortbildung der anderen Verwaltungsrichter Bei der Bildung der Multiplikatorengruppe sah das Konzept vor, dass die Mitglieder dieser Gruppe die in den Seminaren erworbenen Kenntnisse unter Verwendung des Materials, das von deutscher Seite ausgearbeitet worden war, an ihre Kollegen aus dem ganzen Land weitergeben. Diese Aufgabe war jeweils zwei Multiplikatoren als Team anvertraut; als Referent wirkte gelegentlich auch Byaraa Chimid 5 mit, der „Vater der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung“. Diese Seminarreihe ist auch im Jahr 2009 beendet worden – nach anonymer Beurteilung der Richterkollegen mit gutem Erfolg.

V.  Bewährung in der Praxis Nach zehn Jahren mongolischer Verwaltungsgerichtsbarkeit kann der Versuch unternommen werden, eine erste Bilanz zu ziehen: Wenn man sich regelmäßig in der Mongolei auf hält – was dem Verfasser dieses Beitrags Jahr für Jahr vergönnt ist –, hört man da und dort, dass die Verwaltungsbehörden beim Erlass belastender Akte 10   Von der Rechtsvergleichung als der fünften Auslegungsmethode spricht erstmals Peter Häberle, JZ 1989, 913 ff.

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vorsichtiger geworden seien. Allein in dieser Änderung des behördlichen Verhaltens kann man einen großen Fortschritt sehen. Natürlich ist noch nicht in alle Amtsstuben der Rechtsstaat eingezogen. Das ist in einem Staat, der sich erst vor 24 Jahren entschloss, sich in einen demokratischen Rechtsstaat umzubauen, auch nicht zu erwarten. Doch die Gewährung des Rechts, Akte der Exekutivbehörden durch unabhängige Richter überprüfen zu lassen, wird von der Bevölkerung sehr begrüßt; sie macht vom Klagerecht auch zunehmend Gebrauch. Nach zugänglichen Statistiken sind – jedenfalls in den ersten Jahren der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung – mehr als 50% der zulässigen Klagen für den Bürger erfolgreich11. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit zunehmend an Ansehen gewinnt, während andererseits Spannungen zwischen der Richterschaft und den Verwaltungsbehörden einschließlich der Ministerien nicht ausbleiben. Die mongolischen Verwaltungsrichter (denen der Verfasser zum größten Teil persönlich begegnet ist) sind nach Art.  49 Abs.  1 der mongolischen Verfassung12 unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Mit souveräner Gelassenheit und beeindruckender Objektivität führen sie die gerichtlichen Verhandlungen13 ; die Urteile schließlich sind auch Ausdruck ihrer inneren Unabhängigkeit. Es überrascht nicht, dass weite Kreise in der Mongolei erwarten, der Große Staatskhural möge den Verwaltungsgerichten die Zuständigkeit zum Schutz der Umwelt übertragen. Ohne Wenn und Aber: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Mongolei ist auf gutem Weg.

  S. dazu die Darstellung von Adilbischiin Erdenetsogt (Anm.  7 ).   Dieser Artikel stimmt mit Art.  97 Abs.  1 GG wörtlich überein. 13   Mehrmals konnte der Verfasser das beobachten. 11

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Sachregister Bearbeitet von Roland Schanbacher, Richter am Verwaltungsgericht Die Zahlen verweisen auf die Seiten des Jahrbuchs

Akzeptanzsicherung 165 Allgemeinheit – des Rechts (Idee)  465 ff. Alvarez, L.  287 ff. – city government  821 Amerika – Verfassungsrecht (Entwicklungen)  617 ff. Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK)  738 ff. Amparo-Verfahren – in Lateinamerika  647 ff. – inter partes-Wirkung  649 – u. habeas corpus  651 f. – u. Individualverfassungsbeschwerde (Verhältnis  647 ff. – – funktionelle Überschneidung 652 ff. – – Herausforderungen 663 ff. – – integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit 664 – – Unterschiede 653 ff. Anwaltserfordernis 721 Apostasie  143 f. Argentine Republic – constitutional evolution (periods)  618 ff. – constitutional law  618 f. – – sources of origins  625 ff. – economic model  641 f. – Federal Constitution  617 ff. – government 638 – legislation  638 f. – power  632 f. – religious tolerance  642 f. Argentinien  617 ff. s. a. Argentine Republic – Gesetzgebung  638 f. – Regierungssystem 638 – Staatsform 637 – Verfassungsrecht  618 ff. – Wahlsystem  639 f. – Wirtschaftsmodell  641 f. Aristoteles 290 Asien  753 ff. Aulehner, J.  211 ff. Ausländer- u. Asylrecht – W. Zeidler  479

Autonomie – kirchliche ~ (Rumänien)  378 Baden-Württemberg – Staatsgerichtshof  519 f. Bagatellvorbehalt  280 f. Balaguer Callejon, F.  311 ff. Beamtenbezüge  730 f. Befugnisse – familienrechtliche ~  182 ff. Bergier Kommission  549 f. Berufsfreiheit u. Organtransplantation  224 f. Betroffenenbeteiligung – im Gesetzgebungsverfahren – – Akzeptanzsicherung 105 – – Chancengleichheit 160 – – Funktionen 163 f. – – im GG 170 – – in den Geschäftsordnungen  170 f. – – Informationsfunktion 163 f. – – Kompatibilität 168 f. – – Normierung 176 f. – – Partikularinteressen (Einflussmöglich­ keiten) 166 – – Qualitätssicherung 163 f. – – rechtliche Normierung 169 f. – – Risiken 166 f. – – Vertrauensverlust 168 – – Vollzugssicherung 165 Brasilien – Umwelthermeneutik  709 f. – Umweltjuristen  711 f. – Umweltrecht  693 ff. – – Entscheidungen 705ff. – Umweltschutz (Konkretisierung durch Gerichte)  698 ff. – „Umweltstaat“ (Modell?)  694 f. – Verfassung – – ökologische Ausrichtung der Staats­ organe  696 ff. – Verwaltungsgerichtsbarkeit  713 ff. – – Anwaltserfordernis 721 – – Bundesrechnungshof 732 f.

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Sachregister

Brasilien – – Gleichheitsprinzip 725 ff. – – Klagebegehren 721 ff. – – Organisation 715 ff. – – Recht- u. Gesetzmäßigkeit (Grundsatz) 723 f. – – Rechtssicherheit (Prinzipien) 727 f. – – Reichweite 717 ff. – – Richter 719 ff. – – Systeme 718 – – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 725 – – Vernunftprinzip 725 – – Vertrauensschutz (Prinzipien) 727 ff. – – Verwaltungsverfahren 729 f. – Verwaltungswirklichkeit  734 f. British Council Scholar (Cambridge) – Daniel Thürer  535 ff. Brosius-Gersdorf, F.  179 ff. Bünnigmann, K.  259 ff. Bürgerbegriff – der EU  332 ff. Bundesrechnungshof – brasilianischer ~  732 f. Bundesverfassung – von Argentinien  617 ff. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) – Institution der Hoffnung  471 f. – Kruzifix-Beschluss  287 f. – Unionsbürgerstatus  335 ff. – Wahlsysteme  16 ff., 26 f. – W. Zeidler  475 ff. Bundeswirtschaftsministerium  513 f. Case-law – constitutional ~(Peru)  669 ff. Citizenship  311 ff., 321 f. Constitution – of the Argentine Republic  617 ff., 633 f. – – aims of ~  636 f. – – amendment and interpretation  636 – – power 632 f. – – symbolic words 628 ff. – – system of sources (chart)  628 – of Peru  669 ff. – – social rights 671 ff. – of the Republic of Macedonia  567 f. Constitutional Court – of Peru  676 ff. Constitutional evolution – Argentine (periods)  620 f. Constitutional identity – citizenship (idea)  321 f. – Europe  320 f. Constitutional jurisprudence (Peru)  683 f. Constituional law (Argentine)  618 ff. – comparative ~  635

– constitutional theory  636 – culture 636 – government 638 – legislation  638 f. – on precendents and sources  622 f. – symbolic words  628 ff. – system of sources (chart)  628 – Wahlsystem  639 f. „Constitutional moments“ – globale Perspektive  445 ff. – Theorie v. Bruce Ackerman  448 f. Dauergefahr – privater Waffenbesitz  252 f. Demokratie – repräsentative ~  – – Charakter 167 Demokratiedefizit – der Union?  367 f. Demokratiediskurs – europarechtlicher ~  352 f. – – Legitimationsdefizite 353 f. – – Substanz 353 f. Demokratieprinzip – unionsrechtliches ~  327 – Vertragsparteien der EU (Position)  358 Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht – D. Thürer (Präsident)  553 Deutscher Bundestag – Wahlsystem  21 ff. Deutschland – u. Islam  145 ff. – – Islam-Charta 147 ff. – – Zentralrat der Muslime (ZMD)  146 f. Drittes Reich – idealistische Konstitutionalisierung (Marburger Lehren: Herrfahrdt)  431 ff. Droit administratif allemand – premières recherches (Heidelberg 1956–58)  501 ff. Droit allemand – droit des principaux pays du monde (1988–2001)  506 f. Droit constitutionnel allemand  504 ff. Dschihad 156 Échanges juridique francoalle­mande  499 ff. – droit administratif allemand  501 f. – hommages et remerciements  500 f. EGMR – Lautsi-Urteil (Kruzifix)  287 Ehe u. Familie  482, 483 Eigentum (Art. 14 GG) – Begriff  93 f.

Sachregister – geistiges ~  93 f. – Gewährleistung 482 – Inhalts- u. Schrankenbestimmung  103 f. – Schutzbereich u. Inhalt  93 ff. – Wesensgehaltsgarantie 106 Eigentumsgarantie – im Verfassungsentwurf Islands (2013)  612 Elterngrundrecht 191 Elternrecht – Kindeswohl  203 ff. – Schranken  192 f. – Übertragung 193 – – freiwillige ~ 194 – – unwiderrufliche ~ 198 f. – – widerrufliche ~ 194 ff. Elternschaft – familienrechtliche Befugnisse  182 ff. – gesellschaftlicher Wandel  179 ff. – Grundrecht u. Grundpflicht  191 f. – Mitsorgerecht 199 – Pluralisierung  207 f. – Sorgerecht  182 f., 190 ff. – soziale ~  179 ff. – Stiefeltern (Rechte)  186 f. – Umgangsrecht  184 f. – Verbleibensanordnung  185 f. EMRK 61 Enumerationsprinzip  755 f. Erfolgswert – im Wahlsystem  24 f. Erhard, L. 513 Erziehung – Neutralitätsmodelle  292 ff. – u. Neutralität  289 ff. – u. Unterricht  289 f. – Ziele  301 ff. Erziehungsziele – Europa  302 ff. – Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, Teil­ habe  307 f. – rechtsdogmatische Konstruktion  303 ff. – Verfassungsprinzipien  305 f. „Esra“-Beschluss  259 ff. – gerichtlicher Prüfungsumfang  264 – Kunstfreiheit (Stärkung)  264 ff. Europa  61 ff. – Erziehungsziele  302 f. s. a. grenzüberschreitende Zusammenarbeit Europabürgerschaft  311 ff. europäische Integration – Rechtskultur  329 ff. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates (EKRI) – D. Thürer  552 Europäisches Parlament  361 f. – Bürgerrecht (Legitimationswirkung)  2

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Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte u. Grundfreiheiten (EMRK) 61 Europäische Union (EU)  61 ff. – Bürger u. Volk  333 – Freiheitsidee  325 ff., 332 ff., 352 ff. – Grundrechte  326, 332 ff. – Menschenrechte 326 – u. Europarat (Konkurrenz?)  61 ff. – Vertrag von Lissabon (EUV)  161 Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ)  66 ff. s. a. EVTZ Europäisches Parlament – Verhältniswahl  26 ff. Europäisches Recht – untergeordnete Rechtsetzung  559 ff. Europarat – u. Europäische Union (Konkurrenz?)  61 ff. Europe – citizenship (idea)  320 f. – model of integration  318 f. European identity  311 ff. European integration  312 f. EU – „Demokratiedefizit“  367 f. – demokratische Freiheitsidee (Verwirk­ lichung)  352 f. – Parlament (Legitimation)  365 ff. – Repräsentation – – demokratische-bürgerschaftliche ~ 359 ff. – Rumänisch Orthodoxe Kirche  387 EU-Law – Macedonian law  598 ff. EU-Mitgliedschaft – Mazedonien (Weg)  559 ff. – – Leitfaden 563 f. EU-Urheberrechtsrichtlinie  91 f. EUV – Unionsbürger (Rechte)  339 f. EVTZ (Entwicklung)  66 ff. – Gründungsvertrag  82 f. – Rechtsgrundlagen  71 ff. – u. VEZ (Parallelen)  68 ff. – – rechtliches Verhältnis 87 ff. – Verordnung  71 ff. Familie – im Recht (Bedeutung)  469 f. Ferreyra, R. G.  617 ff. Fiktion – als Texteigenschaft  281 f. – Esra  271 f. – Etikettierung  272 f. – Signale 270 – Umgang mit ~  277 f.

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Sachregister

Fiktion – u. Realität  263 f. – Vermutung  264 ff. Föderalismusvergleichung  41 f. Forced disappearance  740 f. Forschen – u. Hoffen  459 ff. Freiheit – Erziehungsziel  307 f. Freiheitsidee – demokratische ~  325 ff., 352 f. – grundrechtliche ~  325 ff. Freiheitsprinzip – u. Hoffnung  460 ff. Freiraum – künstlerischer ~  266 f. Fromont, M.  499 ff. Gefahr – abstrakte ~ – – ungesicherter Waffenbesitz 284 ff. – auf Dauer  252 f. Gefahrenabwehr – im Waffenrecht  255 f. Geistiges Eigentum – Schutzbereich u. Inhalt  93 ff. Genealogie – Wertetheorie  422 ff. Gerichte – Selbstverwaltung (Brasilien)  720 Gesellschaft – offene ~ (Verfassungsgeber)  609 ff. Gesetzesauslegung – u. intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung  48 f. Gesetzgeber – demokratischer ~ – – multikulturelle Neutralität 304 f. Gesetzgebung – in Argentinien  638 f. – u. intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung  52 f. Gesetzgebungsverfahren – Betroffenenbeteiligung  159 ff. – Legislatives Gehör  162 f. – Lobbyismus  162 f. – Partizipation  162 f. Gesetzgebungsverfahrensrecht (Zulässigkeit)  171 f. Gewaltenteilung – im Verfassusngsentwurf Islands (2013)  612 Gewissensfreiheit – u. Organtransplantation  223, 228 Glaubensfreiheit – u. Organtransplantation  223, 228

Gleichheit – Erziehungsziel  307 f. – im Wahlrecht  17 f. Gleichheitsgrundsatz  106 f. Gleichheitsprinzip  725 ff. Gleichsetzung – Kunstinadäquate ~ – – v. Fiktion u. Realität  263 f., 273 ff. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit (Europa) – Europäische Union – Europarat (Konkurrenz?)  61 ff. – – rechtliche Probleme 64 ff. – Madrider Rahmenübereinkommen  73 ff. – – Verwaltungsabkommen 79 f. – – Völkerrechtsfreundlichkeit (Grundsatz)  77 f. Groh, K.  235 ff. Gründungsvertrag – EVTZ u. VEZ  83 f. Grundlagen  – Urheberrecht  93 ff. Grundentscheidungen – der Verfassung – – u. Grundrechte (Widerstreit)  481 ff. Grundpflicht – der Eltern  191 f. Grundrechte – auf Sicherheit? (Waffenrecht)  236 f. – der Eltern (Art. 6 II 1 GG)  191 f. – der Organempfänger  220 f. – der Organspender  225 ff. – der Transplanteure  223 ff. – Gleichordnung 212 – Schutzbereiche  220 f. – u. Grundentscheidungen der Verfassung (Widerstreit)  481 ff. Grundrechtseingriffe – bei Organtransplantationen  230 ff. – verfassungsrechtliche Rechtfertigung  232 f. Grundrechtskollisionen – im Urheberrecht  98, 101 ff. Grundrechtskonkurrenzen  212 ff. Grundrechtssituationen – Denken in ~  211 ff. – – dogmatische Grundlagen 212 ff. – – Organtransplantationen 217 ff. Grundrechtsverhältnis – Bestandsaufnahme  214 ff. – in der Literatur  215 ff. – in der Rechtsprechung  214 Grundrechtsverständnis – eindimensionales u. bipolares  211 ff. Habeas corpus u. Amparo-Verfahren  651 f.

Sachregister Habermas, J. 456 Häberle, Peter  417 ff., 445, 452, 511, 529, 609 ff., 620 Hangartner, Yvo  485 ff. – beruflicher Einstieg  488 f. – Dissertation  487 f. – Habilitation 492 – Jugendzeit 485 f. – Lehrauftrag 492 – Staatsdienst  488 f. – Studienzeit  486 f. – Verfassungsentwurf  494 f. – Verwaltungsrechtspflege (Gesetz­ entwurf )  490 f. Harbich, J.  753 ff. Harvard Law School – Daniel Thürer  535 ff. Hentsch, C.-H.  91 ff. Herrfahrdt, Heinrich – Lehren  421 ff. – neue Weltordnung (Aussichten)  437 ff. – Wiederauf bau (Hessen)  437 Hesse, K. 445 Hoffen – Antrieb menschlichen Denkens  459 f. – auf Antworten  467 – auf Institutionen  469 f. – Bundesverfassungsgericht  471 f. – Rationalität des Rechts  462 ff. Hoffnung – im Freiheitsprinzip  460 ff. – u. Vernunft  462 Homogenität – soziale ~  292 f. Identity – european ~  311 ff., 317 f. – federal european model  318 f. Informationsfreiheit  95 ff. – Schutzbereich  95 f. – versus Geistiges Eigentum  99 f. Informationsfunktion – in der Gesetzgebung  163 f. Instanzenzug  758 f. Institutsgarantie  – Eigentum 106 Integration – europäische ~ (Rechtskultur)  329 ff. – model of (EU)  311 ff., 317 f. Integrationsmodell – Europa  311 ff. Interaktion  259 ff., 269 f. – Esra-Beschluss  269 f. – Fiktion – – rechtlicher Umgang 277 f.

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Internationale Juristenkommission (ICJ) – D. Thürer  551 Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRR) – D. Thürer  551 f. Inter partes-Wirkung – Amparo-Verfahren 649 Intimsphäre – Verletzung der ~  267 f. Islam – Charta  147 ff. – Menschenrechte  117 ff. – u. Deutschland  145 ff. – – Zentralrat der Muslime (ZMD)  146 f. Islam-Charta  147 ff. – Bewertung  155 f. Islamische Menschenrechte  117 ff. – Dialog 124 – Diskurs (Vorbemerkungen)  121 ff. Island – Verfassungsentwurf (2013)  609 ff. Jannasch, A.  475 ff. „Je-desto“-Formel  283 f. Juristenaustausch – deutsch-französischer ~  499 ff. Juristes allemands et juristes français – service des échanges  499 ff. Juristische Fakultät – Tübingen – – Thomas Oppermann 514 ff. Kalif  125 f. Karpen, U.  559 ff. Kind – Grundrecht u. -pflicht der Eltern  191 f. Kindeswohl – u. Elternrecht  203 ff. Kirche – Orthodoxe ~ (Rumänien)  371 ff. Kirchhof, P.  459 ff. Klagearten – in der mongolischen Verwaltungsgerichts­ ordnung  756 f. Klagebegehren – Verwaltungsgerichtsbarkeit Brasilien  721 ff. Klagefrist 758 Klagerecht 760 Klassenzimmer – Kruzifix  287 ff. Kloepfer, M. 174 Konstitutionalisierung – idealistische ~ (3. Reich)  431 ff. Konstitutionalismus – universaler  417 ff.

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Sachregister

Konstitutionelle Momente – Typisierung/Kategorisierung  453 f. – Zusammenschau  449 ff. Kontrolldichte – in der Verwaltungsgerichtsbarkeit Brasiliens  721 ff. Kopien – elektronischer Versand  113 f. Koran – Menschenbild  125 ff. – Menschenrechtsbild  117 ff. – – Religionsfreiheit 143 f. – – Schöpfungsgeschichte 125 f. – – Untersuchung 120 f. Kotzur, M.  445 ff. Krausnick, D.  33 ff. Krell, A.  693 ff. Kruzifix – Beschluss (BVerfG)  287 – in europäischen Klassenzimmern  287 ff. – Neutralitätsbegriff  295 ff. – Tatsachenproblem  308 f. Kulturvergleichung  40 f. Kunst  260 ff. Kunstfreiheit  264 ff. – u. Persönlichkeitsschutz  283 Landa, C.  669 ff. Lateinamerika – Amparo-Verfahren  647 ff. – Gerichte – Verfassungsgerichte (Aufgaben­ verteilung)  666 f. – Normenkontrolle  656 f. – Verfassungsgerichtsbarkeit (Wandel)  655 f. Leben – u. Organentnahme  225 – v. Daniel Thürer  529 ff. – v. Thomas Oppermann  511 ff. – v. Yvo Hangartner  485 ff. Lebensformen – familiäre ~ (Pluralismus)  179 ff. Legislation (Macedonia)  564 ff. – general remarks  564 ff. – language and style  592 ff. – nomotechnic rules  585 ff. – secondary legislation (classification)  571, 605 ff. Legislatives Gehör  162 f. Legitimation – des europäischen Parlaments  365 ff. Legitimationswirkung – des Bürgerrechts (EU)  361 ff. Lehner, C.  647 ff. Leitgedanken – des Rechts  473

Leseplätze – elektronische ~  112 f. Liechtenstein – Staatsgerichtshof (D. Thürer)  549 f. Lissabon Vertrag (EUV) 161 Literatur – Grundrechtsverhältnis  215 ff. Lobbyismus  162 f. Luther, J.  421 ff. Maastricht-Vertrag 346 Macedonia s. a. Mazedonien – authorization  568 ff. – constitution 567 – government  576 f. – laws – EU-law (Approximation)  598 ff. – legal basic  568 ff. – legislation  564 ff. – – Adoption procedure 572 ff. – – general remarks 566 ff. – – institutional framework 572 ff. – – language and style  592 ff. – – nomotechnic rules 585 ff. – – secondary ~ 566 f. – scope of organization  568 ff. Madrider Rahmenübereinkommen  73 ff. – Gesetzgebungsvertrag  79 ff. – Verwaltungsabkommen  79 ff. – Völkerrechtsfreundlichkeit (Grundsatz)  77 f. Max-Planck-Institut (Heidelberg) – Daniel Thürer  537 ff. Mazedonien s. a. Macedonia – EU-Mitgliedschaft (Weg)  559 ff. – – Leitfaden 563 f. – Grunddaten 560 – Lage (gesellschaftlich, politisch, rechtlich) 559 ff. – Recht  560 f. – Verfassung  560 f. Mehrfachelternschaften – Gefahren  207 f. Meinungskundgabe  278 f. Menschenbild – im Koran  125 ff. Menschenrechte – im Islam  117 ff. – – Ausblick 157 f. – – Apostasie 143 f. – – dogmatisch-fundamentalistische Strömung  129 ff. – – Gottesbezogenheit 130 – – Religionsfreiheit 143 f. – – säkulare Menschenrechtsidee (Verein­ barkeit)  128 f. – – traditionell-konservative Sichtweisen 132 ff.

Sachregister Menschenrechtsbild – im Koran  117 ff. – – Untersuchung 120 f. Menschenrechtserklärungen – islamische ~  135 ff. – Arabische Menschenrechtscharta v. 1994  137 f. – „Kairoer Erklärung v. 1990“  136 f. Menschenrechtsgerichtshof – interamerikanischer ~ – – forced disappearance-Problematik (Rspr.)  740 f. – – Recht auf Wahrheit  744 ff. – – Regressionsverbot 747 f. – – wirtschaftliche u. soziale Rechte  747 f. Menschenrechtsidee – säkulare ~ – – u. Islam 128 f. Menschenrechtskonvention – amerikanische ~ (AMRK)  738 – europäische ~ (EMRK)  61 Menschenrechtsschutzsystem – interamerikanisches ~  737 ff. Menschenrechtsverständnis – in islamischen Menschenrechtserklärungen  135 ff. – – Schariavorbehalt 141 ff. – – Typologisierung 139 f. Menschenwürde – Organtransplantation  226 ff. Mexico  1 ff. – Amparo-Verfahren  647 f. – coat of arms  2 ff. – flag 2 – national symbols  1 ff. – – power of ~  7 ff. Mitsorgerecht  199 ff. Mongolei – Verwaltungsgerichtsbarkeit  753 ff. – – Rückblick 753 f. – – Vorgeschichte 754 f. national symbols – of Mexico  1 ff. Netzwerk – der EU-Mitgliedstaaten  341 ff. Neutralität – Begriff  295 ff. – multikulturelle ~  294 f. – politische ~  293 f., 299 ff. – radikale ~  292 f., 296 ff. – u. soziale Homogenität  292 f. Neutralitätsmodelle – im Erziehungswesen  292 ff. – multikulturelle ~  307 f. – – u. demokratischer Gesetzgeber  308 f.

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Neutralitätspflicht – des Staates  287 ff. Niedobitek, M.  61 ff. Nohlen, D.  11 ff. nomotechnic rules – Macedonia  585 ff. Normenkontrolle – in Lateinameerika  656 f. – in der Schweiz  664 f. – in den USA  664 – u. Amparo-Verfahren (Vergleich)  666 Österreich – Wahlsystem 25 Öffentliches Recht  511 ff. Offizialmaxime 756 Oppermann, Thomas  511 ff. – Ausbildung (Studium u. Promotion)  511 ff. – Bundeswirtschaftsministerium 513 – Emeritenjahre  525 f. – extra muros  517 f. – Gastprofessuren  521 ff. – Habilitation  513 f. – Politik  518 f. – Staatsgerichtshof Baden-Württemberg  519 f. – Tübinger Juristenfakultät  514 ff. – Vortragsreisen  521 ff. – wissenschaftliche Vereinigungen  520 f. Organempfänger – Verfassungspositionen  220 f. Organisationsstruktur – der orthodoxen Kirchen  373 ff., 385 f. Organspender – Grundrechte – – Eingriffe 230 ff. – – Schutzbereiche 225 ff. Organtransplantation  211, 218 ff. – Grundrechtssituationen – – „Gesamtgrundrecht“ (Schutzbereich 219 ff. – Organempfänger (Verfassungspositionen) 220 f. – Regelungsmodelle  218 f. – – Einwilligungs-/Widerspruchs- u. Erklärungslösung 219 – – Notstandslösung 218 – – Widerspruchslösung 218 – – Zustimmungs- und Informations­lösung 218 f. Orthodoxe Kirche – von Rumänien (Statut)  371 ff. – – Einfluss der EU-Politik  387 f. – – kirchliche Autonomie (Kommunismus)  378 – – Organisationsmerkmale 385 f. – – Zentralorganisation (Organe) 379 ff. – – Zusammenarbeit (Staat) 382 f. OSZE 550

772 Parlament – Europäisches ~ – – Verhältniswahl 26 ff. Parlamentsvorbehalt – Verfassungsentwurf Islands (2013)  612 Partikularinteressen – Einflussmöglichkeiten (Gesetzgebungs­ verfahren) 166 Partizipation – in der Gesetzgebung  162 f. Perlingeiro, R.  713 ff. Persönlichkeitsrecht – allgemeines ~ (Organspender)  228 f. – Esra u. Lale  261 ff. – u. Kunstfreiheit  283 Peru  669 ff. s. a. case-law (Peru) – constitution (1979)  669 ff. – constitutional court  676 ff. – state (obligations or duties)  674 ff. Petersmann, E.-U. 452 Pluralismus – Erziehungsziel  307 f. – familiärer Lebensformen  179 ff. Politik  518 f. – des Sonderweges  11 ff. – – konzeptionelle Aspekte 12 f. Präambel – Verfassungsentwurf (Island 2013)  610 ff. Qualitätssicherung – im Gesetzgebungsverfahren  164 f. Realität – Etikettierung  271 f. – u. Fiktion  263 f. – u. Roman (Wechselwirkung)  259 ff., 279 f. Rechnungshof – von Brasilien  732 f. Recht – Allgemeinheit (Idee)  465 ff. – Leitgedanken 473 – Rationalität des ~  462 – Sprachoptimismus  468 f. – Toleranz 467 Rechtfertigung – verfassungsrechtliche ~ – – Grundrechtseingriffe bei Organtrans­ plantationen  232 f. Rechtliche Normierung – Betroffenenbeteiligung  169 f. Rechtmäßigkeit – des Verwaltungsverfahrens (Prinzip)  729 f. Rechtsbehelfsbelehrung 758 Rechtsgebiete – deutsche ~

Sachregister – – intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung  57 ff. Rechtskultur – europäische Integration  329 ff. Rechtsmittelinstanzen (Aufgaben)  759 f. Rechtspersönlichkeit – von EVTZ u. VEZ  83 ff. Rechtsprechung – Grundrechtsverhältnis  214 f. Rechtssetzung – untergesetzliche ~ (EU)  559 ff. Rechtssicherheit  727 ff. Rechtsstaatsprinzip 482 Rechtsvergleichung  33 ff. s. a. Verwaltungsrechtsvergleichung Rechtswissenschaft – u. Hoffnung  462 ff. Regierungssystem (Argentinien) 637 Regressionsverbot  747 f. Religionsfreiheit – in Argentinien 642 f. – im Islam  143 f. – in Rumänien – – staatskirchenrechtlich 375 f. – – verfassungsrechtlich 375 f. – u. Organtransplantation  223, 228 Repräsentation – bürgerschaftliche ~ (EU)  359 ff. – demokratische ~ (EU)  359 ff. Richter – der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Brasilien)  719 ff. Richterbilder – Wolfgang Zeidler  475 ff. Rights – to Social Security (Peru)  669 ff. Risikominimierung – im Waffenrecht  238 f. Risikosteuerung – im Waffenrecht  235 f. Risikovorsorge – im Waffenrecht  239 Roman – u. Realität (Wechselwirkung)  259 ff., 279 f. Rossi, M.  159 ff. Routinekontrollen – im Waffenrecht  248 ff. Rumänien – Gesellschaft (Geschichte)  384 f. – orthodoxe Kirche (Statut)  371 ff. – Religionsfreiheit  375 ff. Schaefer, J. P.  325 ff. Scharia – Vorbehalt (Bedeutung u. Reichweite)  128, 132, 139, 141 ff., 151

Sachregister Schmitt, C.  435, 452 Schöpfungsgeschichte – koranische ~  125 ff. Schranken – im Urheberrecht – – Dreistufigkeit 104 f. – – Gemeinwohlorientierung (Eingriffs­ zwecke) 105 Schwartmann, R.  91 ff. Schweiz – Normenkontrolle  664 f. – Wahlsystem  24 f. Secondary Legislation – classification (Macedonia)  605 ff. Secularism – of Mexico  1 ff. Selbstdarstellung – Staatsrechtslehre  511 ff. s. a. Hangartner, Yvo Selbstverwaltung – der Gerichte (Brasilien)  720 Sicherheit – Grundrecht? (Waffenrecht)  236 f. social security rights (Peru)  669 ff. – budgetary progressiveness  679 ff. – constitution (1993)  671 ff. – judicial enforcement  677 ff. – juridical structure 677 ff. – jurisprudence  683 f. Sonderweg – Politik  11 ff. Sorgerecht – großes ~  190 ff. – Grundrecht u. -pflicht der Eltern  191 f. – Kindeswohl  203 f. – kleines ~  182 f., 187 ff. Sorgerechtsbefugnisse – Übertragung  179 ff. – – Bedingungen u. Grenzen  193 ff. – – freiwillige ~ 194 – – Gestaltungsoptionen 208 ff. – – unwiderrufliche ~ 198 f. – – widerrufliche ~ 194 ff. Sozialhilfe 383 Sozialstaatsprinzip 482 Sphärenlehre 282 Sprachoptimismus – im Recht  468 f. Spurensuche – völkerrechtliche ~  445 ff. Staat  472 f. – Neutralitätspflicht  287 ff. Staatsangehörigkeit – EU  332 ff. Staatsform (Argentinien) 637

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Staatsgerichtshof – des Fürstentums Liechtenstein (Thürer)  549 f. – v. Baden-Württemberg  519 f. Staatspflichten – Peru  674 ff. Staatsrechtslehre – Selbstdarstellungen  511 ff. Statut – der Rumänischen Orthodoxen Kirche  371 ff., 386 ff. – – Besonderheiten 388 ff. – kirchenrechtliche Bedeutung  373 ff. – Organisationsstruktur  373 ff. – Textanhang  391 ff. Stiefeltern – Rechte u. Pflichten  186 ff. Stief kindadoption  206 f. Tatsachenbehauptung  278 f. Teilhabe – Erziehungsziel  307 f. Teilverfassungen – völkerrechtliche  417 ff. Temelkoska, T.  559 ff. Textanhang – Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche  391 ff. Thürer, Daniel  529 ff. – Bergier Kommission  549 f. – British Council Scholar (Cambridge)  535 ff. – Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht 553 – Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates (EKRI)  552 – Expertentätigkeit  547 ff. – Familie  554 f. – Harvard Law School  539 ff. – im Dienst der Allgemeinheit  553 f. – Internationale Juristenkommission (ICJ)  551 – Internationales Komitee v. Roten Kreuz (IKRR)  551 f. – Jugendjahre  530 ff. – Max-Planck-Institut (Heidelberg)  537 ff. – OSZE (Monitoring)  550 f. – „professeur valise“  543 f. – Schreiben  544 ff. – Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein  549 f. – Studienjahre  533 ff. – Universität Zürich  541 ff. Tschentscher, A.  647 ff. Übertragbarkeit – von Sorgerechtsbefugnissen  193 ff. Überwachungskosten – im Waffenrecht (Überwachung)  254 ff.

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Sachregister

Überwachungsrechtsverhältnis – im Waffenrecht  240 ff. Umgangsrecht  184 f. Umweltgesetze – Bestimmtheit  702 ff. Umwelthermeneutik (Brasilien)  709 f. Umweltjuristen (Brasilien)  711 f. Umweltrecht – brasilianisches ~  693 ff. – – Entscheidungen 705 ff. – – juristische Methoden 707 ff. Umweltschutz 760 – in Brasilien – – Konkretisierung durch Gerichte  698 ff. „Umweltstaat“ – Brasilien (europäisches Modell?)  694 f. Unabhängigkeit – richterliche ~  719 Unionsbürger – Rechte (EUV, AEUV u. Charta)  339 f. Unionsbürgerschaft  329 ff. – Bürgerbegriff  332 f. – Bundesverfassungsgericht (Position)  335 f. – Netzwerk der Mitgliedstaaten (Grundlage)  341 ff. – rechtliche Gestalt  338 f. – Status  332 ff. – zw. Individuum u. Union  350 ff. Unionsgrundrechte 326 Unionsrecht – intraföderale Verwaltungsrechtsvergleichung  53 ff. Universität  470 f. – Zürich – – Daniel Thürer 541 ff. Unterricht – u. Erziehung (Unterschied)  289 f. Unversehrtheit – körperliche ~ (Organentnahme)  225 f. Urheberrecht  91 ff. s. a. Wissenschaftsurheberrecht – Grundrechtskollisionen  98 f., 101 ff. – Schranken  103 ff. – – Dreistufigkeit 104 f. – – elektronische Leseplätze 112 f. – – Gemeinwohlorientierung 105 – – Kopienversand 113 f. – – Schranken-Schranken 105 – – Verfassungsmäßigkeit 104 – verfassungsrechtliche Grundlagen  93 ff. – Zweitverwertungsrecht  115 f. Ursa, J.  371 ff. USA – Normenkontrolle 664 Uslucan, S.  117 ff.

Valadés, D.  1 ff. Vasel, J. J.  737 ff. Verbleibensanordnung  185 f. Vereinigungen – wissenschaftliche ~ (Oppermann)  520 f. Verfahrensrecht – Gesetzgebung  171 f. Verfassung – Geltungsgrund  463 ff. Verfassung von Argentinien  617 ff. Verfassung von Brasilien – Staatsorgane – – ökologische Ausrichtung 696 ff. Verfassungsauslegung  49 ff. Verfassungsbeschwerde – u. Amparo-Verfahren (Verhältnis)  647 ff. – – funktionelle Überschneidung 652 f. – – Unterschiede 653 ff. Verfassungsentwurf – für Island (2013)  609 ff. – – „Althing“ 614 f. – – „Foundations“ 612 ff. – – Gewaltenteilung 612 – – Parlamentsvorbehalt 612 – – Präambel 610 ff. – – staatsorganisatorische Regelungen 615 f. – – Überblick 610 ff. – – Vorgeschichte 609 f, Verfassungsgeber – offene Gesellschaft (Island)  609 ff. Verfassungsgericht – von Peru  676 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit – in Lateinamerika (Wandel)  655 f. – – Entwicklungsstand- u. perspektiven  660 f. – – integrierte ~ 664 f. – – Normenkontrolle 656 f. – „lateinamerikanisches Modell“ (Weg)  667 f. – u. Normenkontrolle (USA, Schweiz)  664 f. Verfassungspositionen – der Organempfänger  220 f. – der Transplanteure  223 ff. – Gleichordnung 212 Verfassungsprinzipien – Erziehungsziele  305 f. Verfassungsrecht – im außereuropäischen Raum (Entwicklungen)  617 ff. – mexikanisches ~ – – Amparo-Verfahren 648 ff. verfassungsrechtliche Grundlagen – Urheberrecht  93 ff. Verfassungsrechtsprechung – in Peru – – Recht auf soziale Sicherheit  683 f. – W. Zeidler  481

Sachregister Verfassungsrechtsvergleichung  475 f. Verfassungsvergleichung  43 f. Verhältnis – rechtliches ~ – – EVTZ u. VEZ  87 ff. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 725 Verhältniswahl – Einwände  19 ff. Vernunftprinzip 725 Vertrauensschutz  727 ff. Verwaltungsgerichtsbarkeit – in Brasilien  713 ff. – – Anwaltserfordernis 721 – – Bundesrechnungshof 732 f. – – Gleichheitsprinzip 725 ff. – – Klagebegehren 721 ff. – – Organisation 715 ff. – – Recht- und Gesetzmäßigkeit (Grundsatz)  723 f. – – Rechtssicherheit (Prinzipien) 727 ff. – – Reichweite 717 ff. – – Richter 719 ff. – – Systeme 718 – – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 725 – – Vernunftprinzip 725 – – Vertrauensschutz 727 ff. – – Verwaltungsverfahren 729 f. – – Verwaltungswirklichkeit 734 f. – in der Mongolei  753 ff. s. a. Verwaltungsgerichtsordnung – – Bewährung (Bilanz) 763 f. – – Multiplikatorengruppe 761 f. – – Rückblick 753 f. – – Verwaltungsrichter (Aus- und Fort­ bildung)  761 ff. – – Vorgeschichte 754 f. – u. Verwaltung (Verhältnis)  478 Verwaltungsgerichtsordnung – mongolische ~  754 f. – – Instanzenzug 758 f. – – Klagearten 756 f. – – Klagefrist 758 – – Klagerecht 760 f. – – Prinzipien 755 f. – – Rechtsbehelfsbelehrung 758 – – Rechtsmittelinstanzen (Aufgaben) 759 f. – – Umweltschutz 760 f. – – Vorgeschichte 754 f. – – Vorverfahren 757 Verwaltungsrecht – interföderales ~  44 f. – interkantonales ~  44 f. – internationales ~  44 f. Verwaltungsrechtsvergleichung – intraföderale ~ (Grundfragen)  33 ff. – – Anwendungsfelder 48 ff.

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– – deutsche Rechtsgebiete 57 ff. – – Föderalismusvergleichung (Abgrenzung)  41 f. – – Gesetzesauslegung 48 f. – – Gesetzgebung 52 f. – – Kulturvergleichung 40 – – methodische Fragen 56 f. – – Politikbezug 41 – – praktische Probleme 47 ff. – – Rechtskreise 38 ff. – – Sprachprobleme? 36 – – staatsorganisatorische Voraussetzungen 55 f. – – Unionsrecht 53 ff. – – Verfassungsabhängigkeit 46 f. – – Verfassungsauslegung 49 ff. – – Verfassungsvergleichung 43 f. – – Völkerrechtsbezug? 35 f. Verwaltungsrichter – Aus- u. Fortbildung (Mongolei)  761 ff. Verwaltungsverfahren – Rechtmäßigkeit  729 f. Verwaltungswirklichkeit (Brasilien)  734 f. VEZ (Entwicklung)  66 ff. – Rechtsgrundlagen  71 ff. Völkergemeinschaft – konstitutionelle Momente (Zusammenschau)  449 ff. Völkerrechtsfreundlichkeit (Grundsatz)  77 f. Vollzugssicherung – im Gesetzgebungsverfahren  165 f. Vorortkontrolle – im Waffenrecht  243 ff. Vorverfahren 757 – verwaltungsrechtliches ~ (Brasilien)  714 f. Wahlrecht – Gleichheit  17 f. Wahlrechtsgleichheit – Differenzierung  18 f. Wahlreformen 15 Wahlsystem – Deutscher Bundestag  21 ff. – deutsches ~  – – Entstehung und Verständnis  21 ff. – – Machtfrage 14 ff. – in Argentinien  639 f. – Österreich 25 – Wahlrechtsgleichheit  23 f. – Zählwert u. Erfolgswert (Rechts­ vergleich)  24 f. Wahrheit – Recht auf ~  744 ff. Waffenbesitz – privater ~ – – Dauergefahr (abstrakte) 252 f.

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Sachregister

Waffengesetz – neues Sicherheitsrecht (Logiken)  235 ff. Waffenrecht – abstrakte Gefahr – – ungesicherter Waffenbesitz 248 ff. – Gefahrenabwehr 235 – Risikosteuerung 235 – – Risikominimierung 238 f. – – Risikovorsorge 239 – Routinekontrollen  248 ff. – sicherheitsrechtliche Entwicklungen  236 ff. – Überwachungskosten (Überwälzung)  254 ff. – Überwachungsrechtsverhältnis – – Wohnraum 240 ff. – Vorortkontrolle  243 ff. – Vorsorge- u. Kostenüberwälzung  235 ff. – Zuverlässigkeitsprognostik  238 f. Weber, Max 12 Weimarer Verfassung – Umbauanleitungen  425 ff. Werte – an der Front  421 ff. Wertetheorie – Genealogie  422 ff. Wesengehaltsgarantie – Eigentum 106 Wirtschaftsfreiheit – u. Organtransplantation  223 f. Wirtschaftsmodell (Argentinien)  641 f. Wissenschaftsfreiheit  95 ff. – Schranken  107 ff. – Schutzbereich  97 f. – versus Geistiges Eigentum  100 f. – Zitatrecht  107 f. Wissenschaftsschranken  107 ff. Wissenschaftsurheberrecht – Wechselwirkungen  91 ff. Wohnraum – im Überwachungsrechtsverhältnis  240 ff.

Zählwert – im Wahlsystem  24 f. Zeidler, Wolfgang  475 ff. – Ausländer- u. Asylrecht  479 – Grundrechte u. Grundentscheidungen (Widerstreit)  481 ff. – Harvard University Law School  476 – in der nationalen u. internationalen Öffentlichkeit  483 f. – Präsident – – des Bundesverfassungsgerichts  475 ff. – – des Bundesverwaltungsgerichts  475 ff. – Promotion – Verfassungsrechtsprechung – – im Rahmen der staatl. Funktionen  481 – Verwaltungsgerichtsbarkeit u. Verwaltung (Verhältnis) 478 – von Hamburg nach Karlsruhe  476 Zentralorganisation – der Rumänischen Orthodoxen Kirche  379 ff. Zentralrat der Muslime (ZMD)  146 ff. – Islam-Charta  147 ff. – – Bewertung 155 f. Ziele – Erziehung  301 f. Zitatrecht – im Urheberrecht  107 f. Zugehörigkeit – Unionsbürger  332 f. Zusammenarbeit – grenzüberschreitende ~ (Europa)  61 ff. – – rechtliche Probleme 64 ff. – – Vergleich EVTZ u. VEZ  66 ff. Zweitverwertungsrecht – im Urheberrecht  115 f.