Jahrbuch Des Offentlichen Rechts Der Gegenwart. Neue Folge (German Edition) 3161507568, 9783161507564


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German Pages 714 [720] Year 2011

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Titel
Inhaltsverzeichnis
60 Jahre Deutsches Grundgesetz (Dritte Folge)*
Claus Roxin: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Strafrechts
Jörg Neuner: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Privatrechts
Fritz Rittner/Meinrad Dreher: 60 Jahre Grundgesetz und das Wirtschaftsrecht
Eberhard Eichenhofer: 60 Jahre Grundgesetz und Sozialrecht
Christian Waldhoff: 60 Jahre Grundgesetz – aus der Sicht des Steuerrechts. Vgl. NF 56 (2008), 141: Osterloh
Peter-Christian Müller-Graff: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Europarechts. Vgl. NF 49 (2001), 1: Böttcher/Mahrenholz/Tsatsos/Hirsch
Peter Graf Kielmansegg: 60 Jahre Grundgesetz. Anmerkungen eines Politikwissenschaftlers
Young Huh: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht Koreas. Vgl. NF 35 (1986), 575: Kim; 38 (1989), 565: Huh; 48 (2000), 471: Huh
Abhandlungen
Andreas Vosskuhle: Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund. Vgl. NF 42 (1994), 325: Rinken
Christoph Enders: Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner. Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung? Vgl. NF 57 (2009), 89: Dederer
Helmuth Schulze-Fielitz: Meinungs- und Religionsfreiheit im verfassungsdogmatischen Vergleich
Stefan Martini: Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG
Antonio D’Atena: Staatszielbestimmungen und Verfassungswerte als Problem des Verfassungsrechts
Lothar Michael: Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element einer gemischten Bundesstaatslehre
Waldemar Hummer/Julia Villotti: Korruptionsbekämpfung auf internationaler und nationaler Ebene
Markus Kotzur: Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz
Anne Peters: Das subjektive internationale Recht
Antrittsvorlesungen
Ulrich Hufeld: Vom Wesen der Verfassung Europas
Margarete Schuler-Harms: Sozialstaatlichkeit und europäische Integration: Eine aktuelle Positionsbestimmung
Andreas von Arnauld: Die Rückkehr des Bürgers: Paradigmenwechsel im Europäischen und Internationalen Verwaltungsrecht?
Richterbilder
Bernd Rüthers: Hans Brox – Verfassungsrichter – Hochschullehrer – Autor – Mensch. Vgl. NF 48 (2000), 253: Heyde (Hans Kutscher), m. w. N.; 55 (2007), 509: Benda (Konrad Hesse); 56 (2008), 261: Waldhoff (Erna Scheffl er)
Die Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen
Karl Doehring: Mein Leben als Jurist. Vgl. NF 58 (2010), 337: Bernhardt, m. w. N.
Herbert Schambeck: Recht und Politik. Vgl. die Nachweise zum vorigen Beitrag
Berichte
Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum
José María Porras Ramírez: Die Institution der politischen Partei im Königreich Spanien. Vgl. NF 56 (2008), 479: Azpitarte; 57 (2009), 601: Balaguer Callejón
Xabier Arzoz: Verfassungsentwicklung im Baskenland (2000–2009). Vgl. NF 43 (1995), 541: Corcuera Atienza
Osman Can: Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie? Vgl. NF 32 (1983), 507: Hirsch; 36 (1987), 179: Rumpf
Ulrich Karpen: Der Distrikt Brčko – Verfassung und Recht. Vgl. NF 45 (1997), 290: Textanhang (Häberle); 50 (2002), 493: Sarčević
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum
Amerika
Antonio M. Hernández: The Distribution of Competences and the Tendency. Towards Centralization in the Argentine Federation. Vgl. NF 54 (2006), 713: Ferreyra
Sachregister
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Jahrbuch Des Offentlichen Rechts Der Gegenwart. Neue Folge (German Edition)
 3161507568, 9783161507564

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DA S ÖF F EN T LICH E R ECHT DE R GEGEN WA RT

JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 59

HERAUSGEGEBEN VON

PETER HÄBERLE

Mohr Siebeck

Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle Universität Bayreuth Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht 95447 Bayreuth

ISBN 978-3-16-150756-4 / eISBN 978-3-16-159064-1 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua belichtet, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Inhaltsverzeichnis 60 Jahre Deutsches Grundgesetz (Dritte Folge) * Claus Roxin: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Strafrechts . . . . . . . . . . . .

1

Jörg Neuner: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Privatrechts . . . . . . . . . . .

29

Fritz Rittner/Meinrad Dreher: 60 Jahre Grundgesetz und das Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Eberhard Eichenhofer: 60 Jahre Grundgesetz und Sozialrecht . . . . . . . . . . . . .

97

Christian Waldhoff: 60 Jahre Grundgesetz – aus der Sicht des Steuerrechts . . .

119

Vgl. NF 56 (2008), 141: Osterloh

Peter-Christian Müller-Graff: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Vgl. NF 49 (2001), 1: Böttcher/Mahrenholz/Tsatsos/Hirsch

Peter Graf Kielmansegg: 60 Jahre Grundgesetz. Anmerkungen eines Politikwissenschaftlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

Young Huh: 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht Koreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Vgl. NF 35 (1986), 575: Kim; 38 (1989), 565: Huh; 48 (2000), 471: Huh

Abhandlungen Andreas Vosskuhle: Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Vgl. NF 42 (1994), 325: Rinken

Christoph Enders: Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung? . . . . . . . . . . .

245

Vgl. NF 57 (2009), 89: Dederer

Helmuth Schulze-Fielitz: Meinungs- und Religionsfreiheit im verfassungsdogmatischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

*

Zweite Folge in JöR 58 (2010), S. 1–117; Erste Folge in JöR 57 (2009), S. 1–87.

259

IV

Inhaltsverzeichnis

Stefan Martini: Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

Antonio D’Atena: Staatszielbestimmungen und Verfassungswerte als Problem des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Lothar Michael: Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element einer gemischten Bundesstaatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

Waldemar Hummer/Julia Villotti: Korruptionsbekämpfung auf internationaler und nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Markus Kotzur: Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

389

Anne Peters: Das subjektive internationale Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

Antrittsvorlesungen Ulrich Hufeld: Vom Wesen der Verfassung Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

Margarete Schuler-Harms: Sozialstaatlichkeit und europäische Integration: Eine aktuelle Positionsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Andreas von Arnauld: Die Rückkehr des Bürgers: Paradigmenwechsel im Europäischen und Internationalen Verwaltungsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

Richterbilder Bernd Rüthers: Hans Brox – Verfassungsrichter – Hochschullehrer – Autor – Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

521

Vgl. NF 48 (2000), 253: Heyde (Hans Kutscher), m. w. N.; 55 (2007), 509: Benda (Konrad Hesse); 56 (2008), 261: Waldhoff (Erna Scheffler)

Die Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen Karl Doehring: Mein Leben als Jurist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

535

Vgl. NF 58 (2010), 337: Bernhardt, m. w. N.

Herbert Schambeck: Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vgl. die Nachweise zum vorigen Beitrag

545

Inhaltsverzeichnis

V

Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum José María Porras Ramírez: Die Institution der politischen Partei im Königreich Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Vgl. NF 56 (2008), 479: Azpitarte; 57 (2009), 601: Balaguer Callejón

Xabier Arzoz: Verfassungsentwicklung im Baskenland (2000–2009) . . . . . . . . .

603

Vgl. NF 43 (1995), 541: Corcuera Atienza

Osman Can: Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

635

Vgl. NF 32 (1983), 507: Hirsch; 36 (1987), 179: Rumpf

Ulrich Karpen: Der Distrikt Brcˇko – Verfassung und Recht . . . . . . . . . . . . . . .

665

Vgl. NF 45 (1997), 290: Textanhang (Häberle); 50 (2002), 493: Sarc˘ evic´

Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum Amerika Antonio M. Hernández: The Distribution of Competences and the Tendency Towards Centralization in the Argentine Federation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

687

Vgl. NF 54 (2006), 713: Ferreyra

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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60 Jahre deutsches Grundgesetz (Dritte Folge)

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Strafrechts von

Prof. Dr. Claus Roxin, Universität München I. Einführung Das Grundgesetz setzt zwar die Existenz eines Strafrechts voraus (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1), äußert sich aber nicht ausdrücklich zu den Aufgaben und Grenzen des Strafrechts. Das Gebot, die Vorbereitung von Angriffskriegen unter Strafe zu stellen (Art. 26), die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102) und der Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2) sind die einzigen das materielle Strafrecht betreffenden Anordnungen unserer Verfassung. Selbstverständlich ist das Strafrecht aber auch am Maßstab der Menschenwürde (Art. 1 GG) und der nachfolgenden Grundrechte zu messen, die dazu führen können, dass Strafe und Strafvollzug auf bestimmte Weise ausgestaltet oder dass verfassungswidrige Bestimmungen für nichtig erklärt oder auf ein verfassungskonformes Maß zurückgeführt werden müssen. Auch können Grundrechte (wie Art. 4, 5, 8 GG) unter Umständen zu einer Rechtfertigung tatbestandsmäßigen Verhaltens oder doch wenigstens zu einem Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit führen. Schließlich lassen sich auch aus den staatstheoretischen Grundlagen der Demokratie, die unserer Verfassung zugrunde liegen, und aus dem Rechtsstaatsprinzip Einschränkungen der staatlichen Straf befugnis ableiten. Es gibt also vielfältige Möglichkeiten, das Grundgesetz für die Gestaltung des Strafrechts fruchtbar zu machen. Mit bindender Wirkung kann das vor allem unser Bundesverfassungsgericht tun, dessen Rechtsprechung daher im Mittelpunkt der nachfolgenden Darstellung stehen muss. Allerdings ist unser Verfassungsgericht beim Umgang mit dem materiellen Strafrecht in einigen (nicht allen!) Punkten erstaunlich zurückhaltend. Während es bei prozessrechtlichen Eingriffen in die bürgerliche Freiheit dem Gesetzgeber strenge Schranken setzt und Eingriffe in den Kernbereich privater Lebensgestaltung strikt verbietet, hat es nur ganz selten eine Vorschrift des materiellen Strafrechts für nichtig erklärt. Auch über die Grenzen strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse und über den Zweck der staatlichen Strafe (die sog. Straftheorien) hat das Verfassungsgericht sich nicht sehr konkret geäußert. Gleichwohl gibt es zahlreiche richtungweisende Entscheidungen zu strafrechtlichen Fragen im Lichte der Verfassung und auch viel Stoff zu Auseinandersetzungen

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Claus Roxin

mit der verfassungsrechtlichen Judikatur. Wenn die nachstehenden Würdigungen „aus der Sicht des Strafrechts“ erfolgen, so muss man sich freilich darüber klar sein, dass diese Sicht nicht immer einheitlich und durch die Rechtsauffassungen des Autors geprägt ist.1 Dennoch lässt sich sagen, dass die im deutschen Strafrecht deutlich überwiegende Meinung, die auch von mir vertreten wird, ein rechtsstaatlich-liberales Strafrecht befürwortet, wie es in der europäischen Auf klärung begründet und durch die moderne Menschenrechtsbewegung weiterentwickelt worden ist. Da auch unsere Verfassung auf dieser Grundlage beruht, lässt sich also von gemeinsamen Zielvorstellungen aus und damit in besonders fruchtbarer Weise diskutieren. Auch die gesamteuropäische Strafrechtsentwicklung sollte diesen Weg beschreiten. Mit Recht stellt sich daher ein kürzlich veröffentlichtes, von einer Arbeitsgruppe europäischer Strafrechtler verfasstes „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“2 in die „Tradition der europäischen Auf klärung“ und betont, „dass alle strafrechtlichen Regelungen eines Höchstmaßes an demokratischer Legitimation und rechtsstaatlicher Prägung bedürfen, dass auch und gerade in der Kriminalpolitik nur freiheitliche Rechtsprinzipien nachhaltig Sicherheit gewährleisten“. Das bedarf der Betonung, weil gegenläufige, einseitig sicherheitsorientierte Konzepte in Gesetzgebung und Literatur einige Resonanz gefunden haben. Sie haben im öffentlichen Recht einen besonders polemischen Ausdruck etwa bei Depenheuer 3 gefunden und haben ihren strafrechtlich prominentesten Vertreter in Jakobs,4 der neben dem „Bürgerstrafrecht“ für die Bekämpfung nachhaltiger Rechtsbrecher ein „Feindstrafrecht“ etablieren will, das dem Delinquenten die Personqualität abspricht:5 „Wer keine hinreichende kognitive Sicherheit personalen Verhaltens leistet, kann nicht nur nicht erwarten, noch als Person behandelt zu werden, sondern der Staat darf ihn auch nicht mehr als Person behandeln, weil er ansonsten das Recht auf Sicherheit der anderen Personen verletzen würde.“ Das alles verstößt aber, wie ich an anderer Stelle6 gesagt habe, gegen zahlreiche zentrale Verfassungsgrundsätze: „die Menschenwürde, das Schuldprinzip, das Rechtsstaatsprinzip (das die Gleichbehandlung vor dem Gesetz einschließt), das Tatprinzip (denn das Feindstrafrecht wäre ein Täterstrafrecht) und die Unschuldsvermutung“. Derartige Thesen haben daher mit Recht in der Rechtsprechung bisher keinen Widerhall und in der deutschen Wissenschaft zwar einiges Aufsehen, aber

1 Zusammenfassende Darstellungen über den Einfluss des Grundgesetzes auf das Strafrecht sind relativ selten (wohl auch wegen des Umfangs dieses Stoffgebiets). Ich nenne: Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991; Vogel, StV 1996, 110 ff.; Kühl, Festschrift für Stöckel, 2010, S. 117 ff. Auch Tiedemann, aaO., S. 3/4, betont, dass die „Frage, inwieweit das Verfassungsrecht des Grundgesetzes . . . die strafrechtliche Ordnung beeinflusst, ihr also . . . ‚Richtlinien und Impulse‘ gegeben hat, trotz der unmittelbaren Bindungswirkung der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips selten gestellt“ werde. 2 ZIS Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik, 2009, S. 697. 3 Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007. Gegen ihn und die von ihm vertretene Richtung ebenso polemisch Trojanow/Zeh, Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, 2009. 4 Ich nenne hier nur den Aufsatz „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004, 88 ff. 5 Jakobs, wie Fn. 4, 93. 6 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 129.

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Strafrechts

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nahezu einhellige Ablehnung gefunden.7 Sie bleiben daher im Folgenden außer Betracht. In der Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit strafrechtlichen Fragen spielen zwei Kriterien eine überragende Rolle: die Menschenwürde und der Grundsatz „nullum crimen sine lege“. Beide Prinzipien treten aber in vielfältigen Zusammenhängen auf, so dass sie nicht in abstracto, sondern im Kontext der zentralen Sachprobleme behandelt werden sollen.

II. Die staatliche Straf befugnis 1. Was darf der Staat unter Strafe stellen? Es ist unserem Verfassungsgericht bisher nicht gelungen, auf diese für die Verfassungsmäßigkeit der Strafgesetzgebung entscheidende Frage eine schlüssige Antwort zu fi nden. Es arbeitet mit den für die Zulässigkeit gesetzlicher Eingriffe allgemein geltenden Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Es hat sich aber nie in verbindlicher Form dem Problem gestellt, dass auch das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel selbst einer verfassungsrechtlichen Legitimation bedarf. Um es an einem alten Beispiel zu verdeutlichen: Auch wenn die bis 1969 geltende Strafdrohung gegen die Homosexualität unter erwachsenen Männern (§ 175 StGB a. F.) zur Verhinderung dieses Verhaltens ein geeignetes, erforderliches und verhältnismäßiges Mittel gewesen sein sollte, entsprach das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel selbst nicht den Anforderungen der Verfassung. Das dürfte heute anerkannt sein, obwohl damals das BVerfG die Rechtsgültigkeit der Strafvorschrift bestätigt hat.8 Diese Rechtsprechung ist lange Zeit auch von der strafrechtlichen Literatur unterstützt worden, die einer verfassungsrechtlichen Kontrolle der Gesetzgebung ablehnend gegenüberstand.9 Erst in den letzten Jahren macht sich in der strafrechtlichen Literatur eine deutliche Opposition gegen diesen Kurs geltend. Danach werden für das Recht des Staates, ein Verhalten mit Strafe zu bedrohen, zwei Grenzen postuliert: Das inkriminierte Verhalten muss ein fremdes Rechtsgut verletzen oder gefährden, und es darf nicht in den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ eingreifen. Dabei werden unter „Rechtsgütern“ alle Gegebenheiten verstanden, die unter Wahrung der Grundrechte zu den Voraussetzungen eines freien und friedlichen Zusammenlebens im Staatsverband gehören. Was dieses Zusammenleben nicht wesentlich beeinträchtigt, also nicht in signifi kantem Maße sozialschädlich ist, sollte nicht 7

Ich verweise nur auf zwei vor kurzem erschienene Bücher: den Sammelband „Kritik des Feindstrafrechts“, 2009 (hgg. von Vormbaum) und das „Handbuch Terrorismusstrafrecht“ von Zöller, 2009, 272 ff. 8 BverfGE 6, 389 ff. 9 Besonders deutlich in den Monographien von Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, und Appel, Verfassung und Strafe, 1998. Nach Lagodny entzieht sich „das materielle Strafrecht . . . in nahezu genialer Weise einer verfassungsrechtlichen Kontrolle“ (536). Auch Appel will eine Straf bewehrung ausschließlich parlamentarischer Willensbildung überlassen und lehnt „verfassungsrechtliche Deduktionen“ ab (597).

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Claus Roxin

bestraft werden. Verfassungsrechtlich lässt sich das so begründen, dass nach dem gesellschaftsvertraglichen Denkmodell, das den modernen Demokratien und auch dem Grundgesetz zugrunde liegt, der Souverän (das Volk) dem Staat die Strafgewalt nur zum Schutz seiner Freiheiten und Rechte (und nicht zur Durchsetzung von Moralvorstellungen und Ideologien oder zur Durchsetzung paternalistischer Bevormundung) überträgt. Wo der Staat die Strafgewalt zu Zwecken benutzt, die kein Fundament im Rechtsgüterschutz haben, verstößt er gegen das aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzuleitende Übermaßverbot.10 Die zweite vom Gesetzgeber zu respektierende Schranke bildet der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“. Dieser Topos ist vom Verfassungsgericht selbst aus der Menschenwürde abgeleitet worden. Er hat in seiner Rechtsprechung eine lange Tradition11 und ist in der bedeutenden Entscheidung zum „Großen Lauschangriff “12 zum ersten Mal dazu benutzt worden, ein die akustische Wohnraumüberwachung gestattendes strafprozessuales Eingriffsgesetz für teilweise nichtig zu erklären. Im materiellen Strafrecht können die Wirkungen einer Kernbereichsverletzung keine anderen sein. Wenn also ein inkriminiertes Verhalten kein fremdes Rechtsgut verletzt und seine Bestrafung außerdem in den Kernbereich privater Lebensgestaltung des Normadressaten eingreift, ist die Strafdrohung nach dem geschilderten strafrechtlichen Strafrechtsverständnis illegitim. Das hätte die praktische Konsequenz, dass es dem Strafgesetzgeber verfassungsrechtlich verwehrt wäre, ein lediglich moralisch missbilligtes, gesellschaftlich aber unschädliches Privatverhalten mit Strafe zu bedrohen und dass es ebenfalls unzulässig wäre, voll verantwortliche Personen durch Strafdrohungen vor sich selbst zu schützen. Ausschließlich moralistisch oder paternalistisch motivierte Strafvorschriften stoßen deshalb auf verfassungsrechtliche Bedenken, die vom BVerfG noch nicht in ausreichendem Maße gewürdigt worden sind.13 Das sei kurz dargelegt.

a) Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit rein moralistischer Strafvorschriften Eine rein moralistische Strafvorschrift im geschilderten Sinne war z. B. die schon erwähnte Strafdrohung gegen einverständliche homosexuelle Beziehungen unter erwachsenen Männern. Sie schädigen niemanden; außerdem griff die Vorschrift in massiver Weise in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein. Wenn das BVerfG zur Legitimierung der Verfassungsvorschrift damals sagte:14 „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz“, so wird diese Meinung heute 10

Klärend dazu Hassemer, Festschrift für Androulakis, 2003, S. 207 ff. (217): „Das strafrechtliche Rechtsgut ordnet sich in das verfassungsrechtliche Übermaßverbot zwanglos ein.“ Auch Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 163–165, verknüpft die Rechtsgutslehre mit dem Übermaßverbot. 11 Näher Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 24 Rn. 55 ff. 12 BVerfGE 109, 279 ff.; dazu ausführlich Roxin, Festschrift für Böttcher, 2007, S. 159 ff. 13 Näher zum Ganzen Roxin, Zur neueren Entwicklung der Rechtsgutdebatte, Festschrift für Hassemer, 2010, S. 559 ff. 14 BVerfGE 6, 434.

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Strafrechts

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wohl kaum noch vertreten und könnte auch unabhängig davon eine Kriminalisierung nicht rechtfertigen. Freilich liegen die Dinge nicht immer so eindeutig. Man wird dem Gesetzgeber bei Beurteilung der Frage, ob ein Verhalten ein schützenswertes Rechtsgut beeinträchtigt, einen nicht geringen Ermessensspielraum zugestehen müssen, innerhalb dessen das Rechtsgutsdogma nur eine kriminalpolitische Richtlinienfunktion hat. Daher wird man beispielsweise die Verletzung bloßer Gefühle – soweit es nicht um eine Bedrohung der Lebenssicherheit geht – in einer pluralistischen Gesellschaft nicht ohne weiteres als Rechtsgüterverletzung beurteilen und dem Gesetzgeber empfehlen, auf eine Bestrafung etwa der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ (§ 183a StGB) zu verzichten. Aber ungültig ist eine solche Vorschrift wie manche andere Pönalisierung lediglich anstößigen Verhaltens15 deswegen noch nicht. Wo aber überhaupt kein greif bares Schutzgut erkennbar ist und zudem noch in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingegriffen wird, sollte man die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen als überschritten ansehen. Beispiele dafür liefern keineswegs nur die inzwischen obsolete Homosexualitätsstraf barkeit, sondern auch noch die neueste Rechtsprechung und Gesetzgebung. So hat noch im Jahre 2008 das BVerfG in einem ausführlich begründeten Beschluss die Straf barkeit des Inzestes erwachsener Geschwister (§ 173 Abs. 2, S. 2, Abs. 3 StGB) aufrechterhalten.16 Auch dabei handelt es sich um ein Verhalten, das niemanden schädigt und zudem den intimsten Bereich des Privatlebens betrifft. Das Gericht hat in dieser Entscheidung die oben skizzierte moderne Diskussion zum ersten Mal im Ansatz aufgegriffen, ist vor ihren Konsequenzen aber zurückgewichen.17 Der Beschluss will offenlassen18 – und deutet damit immerhin die Möglichkeit einer Anerkennung der geschilderten strafrechtlichen Sicht an –, „ob die Unterscheidung zwischen Strafnormen, die allein in Moralvorstellungen gründen, und solchen, die dem Rechtsgüterschutz dienen, . . . tragfähig ist und ob bejahendenfalls Strafnormen der ersten Art verfassungsrechtlich zu beanstanden wären“. Es wählt auch einen richtigen Ausgangspunkt mit der Aussage:19 „Das Strafrecht wird als ‚ultima ratio‘ des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten . . . in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.“ Anstatt nun zu prüfen, ob die Bestrafung des Geschwisterinzestes aus Gründen des Rechtsgüterschutzes „besonders dringlich“ ist, meint das Gericht dann aber,20 aus der strafrechtlichen Rechtsgüterlehre ließen sich keine Anforderungen hinsichtlich der mit den strafrechtlichen Normen verfolgten Zwecke herleiten. Vielmehr sei es „Sache des Gesetzgebers, den Bereich straf baren Handelns . . . festzulegen“.

15 Wichtige Monographie: Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005. Viele Beispiele auch bei Roxin, wie Fn. 6, § 2 Rn. 13–50. 16 BVerfGE 120, 224 ff. 17 Eine ausführliche Analyse des Beschlusses liefert mein Aufsatz in StV 2009, 544 ff. 18 BVerfGE 120, 248. 19 BVerfGE 120, 239/240. 20 BVerfGE 120, 241.

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Wie sich das mit dem Ausgangspunkt vereinbaren lässt, bleibt unklar. Diese Unklarheit wird weiter dadurch vergrößert, dass der Beschluss dann doch drei Rechtsgüter ausfi ndig macht, deren vermeintliche Beeinträchtigung wenigstens in ihrem Zusammenwirken die Strafdrohung tragen soll: die Familie, die sexuelle Selbstbestimmung und die Erbgesundheit etwaiger Kinder. Doch lässt sich beweiskräftig dartun, dass keines dieser Rechtsgüter der Strafdrohung zugrunde liegt,21 so dass die Vorschrift also überhaupt keinen tragfähigen Schutzzweck hat. Es kommt erschwerend hinzu, dass die Strafdrohung in den intimsten Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreift. Der Beschluss sieht diesen Gesichtspunkt zwar, wehrt ihn aber mit der Bemerkung ab,22 der Beischlaf zwischen Geschwistern betreffe „nicht ausschließlich diese selbst“, sondern könne „in die Familie und die Gesellschaft hineinwirken . . .“. Der Kernbereichsschutz ist aber absolut und als Bestandteil der Menschenwürde unabwägbar. Auch die Einschränkungen der akustischen Wohnraumüberwachung wirken in die Gesellschaft hinein, indem sie die Strafverfolgung erschweren. Trotzdem sind sie verfassungsrechtlich geboten. Es ist nach alledem kein Wunder, dass der einzige Strafrechtsgelehrte im entscheidenden Senat, Hassemer, in einem Sondervotum für die Verfassungswidrigkeit einer Bestrafung des Geschwisterinzests eingetreten ist23 und dass von allen mir bekannt gewordenen strafrechtlichen Kommentaren kein einziger dem Beschluss des BVerfG zugestimmt hat.24 Hier ist also die „Sicht des Strafrechts“ auf das Grundgesetz eine andere als die unseres Verfassungsgerichts. Der Presse ist zu entnehmen,25 dass ein ganz ähnlicher Fall zurzeit beim Schöffengericht Nördlingen anhängig ist. Er wird vielleicht Gelegenheit geben, die Problematik noch einmal zu überdenken. Verfassungsrechtliche Fragen der erörterten Art ergeben sich aber nicht nur aus traditionell überlieferten Strafvorschriften. Noch Ende 2009 hat der Gesetzgeber eine Strafvorschrift gegen den Besitz von jugendpornographischen Schriften und Bildern eingeführt (§ 184c Abs. 4 StGB),26 demzufolge ein 18-Jähriger straf bar ist, wenn er ein sexualbetontes Foto seiner 17-jährigen Freundin besitzt. Da die sexuelle Beziehung als solche erlaubt ist und das inkriminierte Geschehen sich im engsten Privatbereich abspielt, wird sich das BVerfG wohl noch mit der Frage beschäftigen müssen, was hier eigentlich geschützt werden soll. Es wäre wünschenswert, dass es sich dabei der Prinzipien des Rechtsgüter- und des Kernbereichsschutzes erinnerte.

b) Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit paternalistischer Strafvorschriften Aus den Prinzipien des Rechtsgüter- und Kernbereichsschutzes lässt sich auch die Unzulässigkeit hart paternalistischer Strafvorschriften begründen, die frei und verantwortlich handelnde Menschen vor sich selbst schützen sollen. Denn die Aufgabe 21

Ich muss insoweit auf meinen Fn. 17 genannten Aufsatz verweisen. BVerfGE 120, 243. 23 BVerfGE 120, 255 ff. 24 Nachweise bei Roxin, wie Fn. 17, 544, Anm. 4. 25 Süddeutsche Zeitung vom 19. 1. 2010. 26 Näher dazu M. Heinrich, Kieler Antrittsvorlesung vom 27. 1. 2010: Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell?, noch unveröffentlicht. 22

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des Strafrechts besteht nur darin, die Verletzung der Rechtsgüter anderer zu verhindern. Die Möglichkeit selbstgefährdenden oder selbstschädigenden Verhaltens gehört in den Bereich privater Lebensgestaltung. Unabhängig davon lässt sich die Unzulässigkeit hart paternalistischer Strafdrohungen auch unmittelbar aus der Persönlichkeitsautonomie ableiten, die ein Bestandteil der Menschenwürde ist. So sagt denn auch das BVerfG:27 „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift . . . Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann.“ Das entspricht auch der im Strafrecht ganz überwiegenden Meinung. In der bisher gründlichsten Monographie zum Thema kommt Murmann 28 zu einem Ergebnis, das für die vorherrschende „strafrechtliche Sicht“ als repräsentativ gelten kann: „Selbstverfügende Entscheidungen unterfallen . . . dem Selbstbestimmungsrecht der Person, wie es verfassungsrechtlich in der Menschenwürde seinen Ausdruck findet und in seinen äußeren Vollzügen durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt ist. Grenzen dieser Freiheit lassen sich nicht aus dem Schutz der nicht defi zitär entscheidenden Person vor sich selbst, sondern nur dort begründen, wo die Person defizitär entscheidet oder die Rechte anderer verletzt sind.“ Auch Gesetzgebung und Rechtsprechung halten sich weithin an diesen Grundsatz. So ist z. B. der Genuss von Alkohol und Tabak straflos, selbst wenn er in gesundheitsschädlicher Weise erfolgt. Auch der Drogenkonsum als solcher ist nicht mit Strafe bedroht. Dasselbe gilt für die Ausübung riskanter Sportarten oder das Eingehen sonstiger lebensgefährlicher Risiken. Die Verweigerung ärztlicher Behandlung ist auch bei einer nach objektivem Urteil unvernünftigen Entscheidung – etwa der Ablehnung einer lebensrettenden Bluttransfusion – nicht nur erlaubt, sondern auch für Außenstehende verbindlich.29 Diese weitgehende Einigkeit ändert aber nichts daran, dass unser Verfassungsgericht sich im Einzelfall kaum entscheiden kann, eine Strafvorschrift für nichtig zu erklären, die in die Persönlichkeitsautonomie des Rechtsgutsträgers eingreift, ohne der Vermeidung von Fremdschädigungen zu dienen. Das sei nur an zwei Beispielen demonstriert. Ein bekannter Beschluss aus dem Jahr 199430 hat die Strafdrohung gegen den Besitz von Drogen (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) auch für den Fall aufrechterhalten, dass jemand nur geringe Mengen zum Eigenverbrauch in Besitz hat. Das kommt einer Bestrafung des Drogenkonsums und damit eines schlimmstenfalls selbstgefährdenden Verhaltens schon bedenklich nahe. Zwar versucht das Gericht, eine „abstrakte Fremdgefahr“31 zu konstruieren, die in der Möglichkeit einer Weitergabe an Dritte und in der Stützung des illegalen Drogenmarktes bestehen soll. Aber der Eigenverbrauch ist gerade keine Weitergabe (die auch unter Erwachsenen wiederum nur eine Beihilfe zur Selbstgefährdung wäre). Und dass man den internationalen Drogenmarkt nicht 27 28 29 30 31

BVerfGE 49, 286 (298). In entsprechender Weise äußern sich auch andere Entscheidungen. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 535. Vgl. dazu BVerfGE 32, 98 ff. (evangelischer Brüderverein). BVerfGE 90, 145 ff. BVerfGE 90, 187.

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durch die Kriminalisierung von Kleinverbrauchern lahmlegen kann, zeigt jede praktische Erfahrung. Gerade die Straf barkeit stützt den illegalen Markt, indem sie den harmlosen Kleinkonsumenten in die illegale Szene treibt. Das hat der entscheidende Senat schließlich wohl auch selbst gesehen und ein Absehen von Strafe (§ 29 Abs. 5 BtMG) oder von der Strafverfolgung (§§ 153 ff. StPO) empfohlen, wenn es sich um Verhaltensweisen handelt, „die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind“32. Aber das schafft große Rechtsunsicherheit und widerspricht außerdem dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG), demzufolge das Gesetz und nicht ein Organ der Strafjustiz über die Straf barkeit eines Verhaltens entscheiden soll.33 Der Cannabis-Beschluss hat deshalb in der strafrechtlichen Literatur weitgehende Ablehnung gefunden.34 Noch weitergehend hat das BVerfG strafrechtliche Eingriffe in die Persönlichkeitsautonomie im Transplantationsrecht toleriert. Nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG ist eine Organspende unter Lebenden bei Organen, die sich nicht wieder bilden können, nur unter Verwandten ersten und zweiten Grades und unter Personen zulässig, „die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“. Ein Arzt, der entgegen dieser Vorschrift ein Organ entnimmt, wird nach § 19 Abs. 1 TPG mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Wer also aus altruistischen Gründen einem ihm persönlich nicht nahestehenden Empfänger – meist sogar anonym – durch die Spende einer Niere das Leben retten will, wird daran gesetzlich gehindert. Der Arzt, der ihm das ermöglicht, wird sogar bestraft. Da bekanntlich viel zu wenig Spendernieren zur Verfügung stehen, führt diese gesetzliche Regelung zum Tode von Menschen, die durch eine Lebendspende hätten gerettet werden können. Umso verwunderlicher ist es, dass ausgerechnet in einem solchen Fall eine Strafvorschrift den Spender vor seiner eigenen freien Entscheidung schützen soll und dass das BVerfG eine solche Bevormundung auch noch gutheißt.35 Es meint:36 „Zwar bedarf der Schutz des Menschen vor sich selbst . . . in Ansehung der durch Art. 2 I GG verbürgten Handlungsfreiheit . . . einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Das ändert aber nichts daran, dass es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“ Dieses „Gemeinwohlanliegen“ darf aber nicht mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt werden, da die altruistische Organspende fremde Rechtsgüter nicht verletzt, sondern im Gegenteil erhält, da ihre Verhinderung außerdem in den existenziellen Kernbereich privater Lebensgestaltung massiv eingreift und die Persönlichkeitsauto32

BVerfGE 90, 146, Leitsatz 3. So auch das abweichende Votum des Richters Sommer, BVerfGE 90, 224 f. 34 Aus dem umfangreichen Schrifttum – jeweils mit weiteren Nachweisen – Haffke, ZStW 107 (1995), 761 ff.; Nestler, in: Institut für Kriminalwissenschaften, Frankfurt/M., Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 72 ff.; Paeffgen, BGH-Festschrift, 2000, S. 695 ff.; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 187 ff.; Schünemann, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 145 ff. 35 NJW 1999, 3399 ff. 36 NJW 1999, 3401. 33

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nomie des Organspenders nachhaltig beeinträchtigt. Zudem sind die vom Gesetzgeber angeführten und vom Verfassungsgericht aufgenommenen Gründe für das Verbot keineswegs stichhaltig: Die Freiwilligkeit einer Spende kann man nicht durch ein uneingeschränktes Verbot, sondern nur durch ihre sachgerechte Überprüfung sicherstellen. Den Organhandel kann man auch bei Zulassung altruistischer Lebendspenden verbieten. Die Förderung der postmortalen Organentnahme ist kein Grund für eine straf bewehrte Verhinderung von Lebendspenden und kann außerdem durch andere Mittel (etwa die Einführung der Widerspruchslösung) weit wirksamer erfolgen. Eine Lebendspende ist nicht einmal besonders gefährlich. Bei der praktisch im Vordergrund stehenden Nierentransplantation ist die Lebenserwartung von Spendern sogar größer als die von Nichtspendern.37 Die Entscheidung ist daher mit Recht auf weit überwiegende Ablehnung gestoßen.38 Auch das sollte dem BVerfG Anlass geben, noch einmal grundsätzlich über die verfassungsrechtlichen Grenzen strafrechtlicher Eingriffe nachzudenken. Die – freilich umstrittene – Straf barkeit der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und der sittenwidrigen Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten (§ 228 StGB) ist dann kein Verstoß gegen das Autonomieprinzip und lässt sich auch vom hier vertretenen Standpunkt aus rechtfertigen, wenn man davon ausgeht, dass bei existenziellen Entscheidungen solcher Art nur der eigenhändige Vollzug die Freiwilligkeit und Ernsthaftigkeit des Selbstschädigungswillens beweiskräftig dartun kann. Man muss dann freilich die Straf barkeit der Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten auf lebensgefährliche Handlungen und die irreversible Schädigung zentraler Körperfunktionen beschränken, wie es die neuere Rechtsprechung des BGH auch tut.39

2. Gibt es verfassungsrechtliche Bestrafungsgebote? Unser Verfassungsgericht hat zwar aus dem Grundgesetz bisher keine klaren Begrenzungen der staatlichen Strafgewalt ableiten können. Wohl aber hat es – im ersten Abtreibungsurteil40 – die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Verpfl ichtung zum Erlass von Strafvorschriften anerkannt. Die zentralen Sätze lauten:41 „Im äußersten Fall, wenn nämlich der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise zu erreichen ist, kann der Gesetzgeber verpfl ichtet sein, zum Schutz des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen. Die Strafnorm stellt gewissermaßen die ‚ultima ratio‘ des Gesetz37 Schroth, in: Hirsch, A. / Neumann, U. / Seelmann, K. (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 205 ff. (206). 38 Gutmann, in: Schroth/König/Gutmann/Oduncu, Kommentar zum Transplantationsgesetz, 2005, § 8 Rn. 28 m. w. N. Ferner Schroth in demselben Kommentar, § 19 Rn. 174 ff. Außerdem: Gutmann, NJW 1999, 3387 ff.; Schroth, Festschrift für Scholler, 2002, S. 35 ff.; ders., Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 15, 2007, S. 395 ff. 39 Näher zur Tötung auf Verlangen Roxin, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, 86 ff., 111 ff.; zur sittenwidrigen Körperverletzung auf Verlangen ders., wie Fn. 6, § 13 Rn. 38 ff. Zum Ganzen auch Murmann, wie Fn. 28, S. 496, 504. 40 BVerfGE 39, 1 ff. 41 BVerfGE, 46 f.

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gebers dar. Nach . . . dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit darf es von diesem Mittel nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen. Jedoch muss auch dieses letzte Mittel eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist. Dies fordern der Wert und die Bedeutung des zu schützenden Rechtsguts.“ Das ist umstritten geblieben,42 verdient aber aus der Sicht des Strafrechts Zustimmung. Wenn nämlich, wie oben dargelegt, die verfassungsrechtlich fundierte Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz besteht, muss der Staat von Verfassungs wegen eine Strafdrohung einsetzen, wenn es ein anderes und milderes Mittel zur Gewährleistung des Rechtsgüterschutzes nicht gibt.43 Erstaunlich ist nur, dass das Gericht hier das Prinzip des Rechtsgüterschutzes zur selbstverständlichen Voraussetzung einer Bestrafungspfl icht macht, es als Mittel zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt aber nicht gelten lassen will. Wenn aber das Strafrecht, wie das Urteil richtig ausführt, nur als äußerstes Mittel des Rechtsgüterschutzes in Betracht kommt, kann ein Verhalten, das kein Rechtsgut verletzt, sinnvollerweise nicht Gegenstand einer Strafdrohung sein. Beachtung und Zustimmung verdient auch, dass das Verfassungsgericht mildere rechtliche Mittel zum Schutz des werdenden Lebens als vorzugswürdig betrachtet, wenn sie in ihrer Wirkung hinter dem Einsatz des Strafrechts nicht zurückstehen. Es hat auf diese Weise in seiner zweiten Abtreibungsentscheidung44 durch die Tolerierung der heute geltenden Beratungslösung eine politisch heiß umkämpfte Frage sozialer Befriedung zuführen können.

III. Die Straftheorien im Lichte des Grundgesetzes Neben der Aufgabe, die das Strafrecht dem Gesetzgeber stellt, ist auch der Zweck der konkret verhängten oder zu verhängenden Strafe an den Maßstäben der Verfassung zu messen. Bei der Beurteilung der sog. Straftheorien hat sich unser Verfassungsgericht einerseits, wie schon in Fragen der Strafgesetzgebung, große Zurückhaltung auferlegt. Andererseits hat es aber in zentralen Einzelfragen – ohne Festlegung auf eine übergreifende Theorie – der Rechtsprechung richtungweisende Orientierungen gegeben.45 Zu den Straftheorien heißt es: 46 „Das Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt mit Sinn und Zweck staatlichen Strafens befasst, ohne zu den in der Wissenschaft vertretenen Straftheorien grundsätzlich Stellung zu nehmen.“ Es bestehe „kein Grund, sich mit den verschiedenen Straftheorien auseinanderzusetzen, denn es kann nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, den Theorienstreit in der Strafrechtswissenschaft von Verfassungs wegen zu entscheiden“. Es meint dann mit etwas distanzierter Zustimmung: „Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Tä42

Vgl. die Nachweise bei Roxin, wie Fn. 6, § 2 Rn. 95 f. nebst den Literaturangaben in den Fußno-

ten. 43 Auch Hassemer, wie Fn. 9, 222, weist darauf hin, „dass auch ein Untermaßverbot sich ohne die Vorstellung eines Rechtsgutes nicht konstruieren lässt“. 44 BVerfGE 88, 203–366. 45 Näher dazu Roxin, Festschrift für Volk, 2009, S. 601 ff. 46 BVerfGE 45, 253; teilweise wörtlich übereinstimmend noch BVerfG, NJW 2004, 745.

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ters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet . . .“ Das ist zunächst enttäuschend. Denn es leuchtet wenig ein, dass Aufgabe und Grenzen des härtesten Eingriffs in das Leben des Einzelnen, den unsere Rechtsordnung kennt, als verfassungsrechtlich uninteressanter „Theorienstreit in der Strafrechtswissenschaft“ abgetan werden. Auch überrascht die Sorglosigkeit, mit der unterschiedliche Strafzwecke ohne begriffl iche Klärung durcheinandergeworfen werden. Es wird nicht deutlich, ob und wie sich „Schuldausgleich“, „Sühne“ und „Vergeltung“ unterscheiden sollen. Auch wird nicht gesagt, dass Resozialisierung eine Form der (Spezial-)Prävention ist. Es liegt zudem auf der Hand, dass Grundrechtseingriffe, wie sie das Strafrecht ermöglicht, einer verfassungsrechtlichen Legitimierung bedürfen. Eine nähere Beschäftigung mit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung lehrt dann freilich, dass das Gericht für die Begrenzung und die Aufgabe der staatlichen Strafe mit dem Schuldprinzip (1.) und dem Resozialisierungsziel (2.) zwei verfassungsrechtlich verbindliche Postulate aufgestellt hat, aus deren Zusammenwirken sich sogar die Umrisse einer Straftheorie entwickeln lassen (3.).

1. Das Schuldprinzip Das BVerfG hat die verfassungsrechtliche Verankerung des Schuldprinzips zunächst auf Art. 2 I GG und das Rechtsstaatsprinzip gegründet. In BVerfGE 20, 331 heißt es: „Mit der Strafe wird dem Täter ein Rechtsverstoß . . . zum Vorwurf gemacht. Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerf barkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Anderenfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG . . .“ Später kommt dann die Berufung auf die Menschenwürde hinzu:47 „Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege . . . bestimmt Art. 1 Abs. 1 die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. Der Grundsatz ‚nulla poena sine culpa‘ hat den Rang eines Verfassungssatzes . . .“ In neueren Entscheidungen wird noch das Übermaßverbot hervorgezogen:48 Der Schuldgrundsatz decke sich „in seinen die Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbots“. Die zentrale Bedeutung, die das Verfassungsgericht dem Schuldprinzip für Begründung und Begrenzung jeder Strafe beimisst, ergibt sich auch aus der besonderen Hervorhebung, die es im Urteil zum Lissabonner Vertrag erfährt: 49 „Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage in der Menschenwürdega47

BVerfGE 45, 228. BVerfG NJW 2004, 2073. Auf eine Aufzählung der zahlreichen Entscheidungen, die sich sonst noch mit dem Schuldprinzip befassen, wird hier verzichtet. 49 BVerfGE 123, 267 ff. (413). 48

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rantie des Art. 1 Abs. 1 GG. . . . Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“ Dem allen ist zuzustimmen. Das gilt besonders auch für die Verknüpfung des Schuldgrundsatzes mit der Menschenwürde.50 Die in der Sache auf Kant zurückgehende, in der Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit besonders von Dürig wiederbelebte „Objektformel“, wonach es gegen die Menschenwürde verstößt, wenn der Staat den Einzelnen nicht als Person, sondern als bloßes Objekt behandelt, passt auf jede Verletzung des Schuldgrundsatzes. Denn wenn jemand ohne Schuld oder über das Maß seiner Schuld hinaus bestraft wird, wird er nicht mehr nach dem Maß seiner persönlichen Verantwortung behandelt, sondern ist bloßes Objekt staatlichen Zwanges. Das Schuldprinzip wird in dem vom BVerfG entwickelten Verständnis in der deutschen Strafrechtswissenschaft als unverfügbare Straf begrenzung fast einhellig anerkannt.51 Auch das anfangs erwähnte „Manifest zur europäischen Kriminalpolitik“52 betont, der Schuldgrundsatz diene „der umfassenden Gewährleistung der Menschenwürde“. Tendenzen der modernen Hirnforschung, die mit der Willensfreiheit auch das Schuldstrafrecht in Frage stellen, haben diese Anerkennung nicht beeinträchtigt. Denn Schuld setzt nicht mehr voraus, als dass der Täter bei seiner Tat steuerungsfähig und normativ ansprechbar war. Das ist auch in seinen Abstufungen prinzipiell empirisch feststellbar und von der Frage nach dem hirnphysiologischen Zustandekommen der Willensentschlüsse unabhängig.53 Unser Verfassungsgericht verdient also hohe Anerkennung dafür, dass es allen vom Schuldprinzip nicht gedeckten sicherheitsstrafrechtlichen Bestrebungen entgegentritt.

2. Die Resozialisierung als verfassungsrechtlich geforderte Aufgabe des Strafvollzugs Ebenso dankenswert ist die verfassungsrechtliche Fundierung des Resozialisierungsziels im Strafvollzug. Auch hier beruft sich unser Verfassungsgericht auf die Menschenwürde. Im sog. Lebach-Urteil54 heißt es: „Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden . . . Grundrechte muss der verurteilte Täter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 GG.“

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Umfassend Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 815 ff. 51 Eine Ausnahme macht nur Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 17/18 ff., für den Schuld nach den Bedürfnissen der Generalprävention zugeschrieben wird. Dazu kritisch Roxin, wie Fn. 6, § 19 Rn. 33 ff. 52 Wie Fn. 2, 697. 53 Eine nähere Begründung dieser Thesen lässt sich in dem hier gesetzten Rahmen natürlich nicht geben; vgl. aber Roxin, wie Fn. 6, § 19 Rn. 36 ff. 54 BVerfGE 35, 235 f.

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In konsequenter Verfolgung dieses Gedankenganges hat das Gericht55 dann sogar dem zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe Verurteilten einen Anspruch auf Resozialisierung zuerkannt (darüber noch unten IV., 1.). Es hat auch die Arbeit im Strafvollzug dem Resozialisierungsziel unterstellt: 56 „Arbeit im Strafvollzug ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung fi ndet.“ Das Gericht verwendet bei der verfassungsrechtlichen Fundierung des Resozialisierungsziels den Grundsatz der Menschenwürde, wie es das auch schon bei Anerkennung eines unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung getan hat, in einem über die „Objektformel“ hinausgehenden Sinne. Danach verbietet die Menschenwürde nicht nur, dass der Einzelne durch Folterung, Misshandlung, Demütigung oder schuldindifferente Bestrafung zum Objekt gemacht wird, sondern sie gebietet auch, dass ihm die Möglichkeit eines Lebens unter menschenwürdigen Bedingungen gewährleistet wird. Dazu gehört auch eine Wiederaufnahme des Täters in die Rechtsgemeinschaft und eine Ausgestaltung des Vollzuges, die dem Verurteilten ein späteres Leben in Freiheit möglich machen soll. Diese Rechtsprechung verdient umso größere Beachtung, als Gesetzgebung und Politik seit geraumer Zeit geneigt sind, übertriebene Sicherheitsinteressen dem Resozialisierungsziel vorzuordnen. Auch in der Wissenschaft ist der Resozialisierungselan der Sechziger- und Siebzigerjahre kaum noch anzutreffen. Mit Recht ist daher das BVerfG als „Motor der Entwicklung des Resozialisierungsgedankens in Deutschland“57 beurteilt worden.

3. Straftheoretische Konsequenzen Aus der verfassungsrechtlichen Fundierung von Schuldprinzip und Resozialisierungsziel lassen sich entgegen der Zurückhaltung des Gerichts auch einige straftheoretische Folgerungen ableiten. Man könnte den verfassungsrechtlich legitimierten Zweck der im konkreten Fall verhängten Strafe als „schuldbegrenzte Prävention“ bezeichnen. Für den Strafvollzug ist das evident. Denn die Resozialisierung ist eine Erscheinungsform der Spezialprävention, die aber nur im Rahmen des Schuldangemessenen betrieben werden darf. Hinsichtlich der Strafverhängung nennt zwar das Gericht auch „Schuldausgleich“, „Sühne“ und „Vergeltung“ als Strafzwecke. Dass damit aber keine Option für eine „klassische“, präventionsgelöste Vergeltungstheorie gemeint sein kann, ergibt sich aus der wiederholten Betonung des Gerichts,58 „dass Strafe unter der Herrschaft des Grundgesetzes niemals Selbstzweck sein darf “. Es können demnach die erwähnten Begriffe nur in generalpräventivem Sinne verstanden werden; also derart, dass bei der Strafzumessung auch die Wirkung auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung zu berücksichtigen ist. Das versteht sich aber 55 56 57 58

BVerfGE 45, 238 f. NJW 2004, S. 739 ff. (746). Leyendecker, (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht, 2002, S. 32. BVerfGE 72, 114; ebenso vorher schon BVerfGE 39, 46.

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von selbst, da Spezial- und Generalprävention bei jeder Sanktionsbestimmung in Einklang gebracht werden müssen.59 Im Vollzug freilich wirkt generalpräventiv nur die Sanktion als solche (der Freiheitsentzug); ihre Ausgestaltung ist eine Resozialisierungsaufgabe.

IV. Verfassungswidrige Strafsanktionen? 1. Lebenslängliche Freiheitsstrafe Unser Verfassungsgericht hat sich in einer grundlegenden Entscheidung60 mit der Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe unter einem doppelten Aspekt befasst: Es hat erstens ihre grundsätzliche Zulässigkeit geprüft und zweitens auch noch untersucht, ob es dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht, wenn für die Verwirklichung bestimmter Mordmerkmale ausnahmslos eine lebenslängliche Strafe angedroht wird.

a) Ihre prinzipielle Zulässigkeit Das Gericht hat ihre Zulässigkeit bejaht, diese aber an zwei Einschränkungen gebunden. Ihre generelle Zulässigkeit wird aus generalpräventiven Erwägungen hergeleitet. Es liege in Ermangelung gesicherter kriminologischer Erkenntnisse im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, wenn er der Androhung und Verhängung einer lebenslänglichen Strafe Wirkungen auf das allgemeine Rechtsbewusstsein beimesse, „die von der Androhung einer zeitigen Freiheitsstrafe nicht ausgehen würden“61. Freilich sei – und darin liegt die erste Einschränkung – auch die lebenslängliche Freiheitsstrafe resozialisierend auszugestalten: 62 „Die Vollzugsanstalten sind auch bei den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen verpfl ichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken, sie lebenstüchtig zu erhalten und damit auch und vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken. Dabei handelt es sich um verfassungsrechtlich fundierte Vollzugsaufgaben, die sich aus der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde herleiten.“ Auch dem zu lebenslänglicher Strafe Verurteilten müssen die Chance verbleiben, „seine Freiheit wiedererlangen zu können“. Die Lebenslänglichkeit wird also zwar im Ausspruch, nicht aber im Vollzug aufrechterhalten. Die zweite Einschränkung liegt in der Forderung nach einer Verrechtlichung der Entlassungspraxis bei Lebenslänglichen. „Die Möglichkeit der Begnadigung allein ist nicht ausreichend; vielmehr gebietet das Rechtsstaatsprinzip, die Voraussetzungen, 59 Zu den Einzelheiten der verfassungsrechtlichen Judikatur bei divergierenden präventiven Zielen kann in diesem Rahmen nicht mehr Stellung genommen werden. Ich verweise aber auf meine in Fn. 45 genannte Abhandlung. 60 BVerfGE 45, 187 ff. 61 BVerfGE 45, 257. 62 BVerfG 45, 238 f.

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unter denen eine lebenslange Strafe ausgesetzt werden kann, und das dabei anzuwendende Verfahren gesetzlich zu regeln.“63 Ich sehe in dem Urteil eine geglückte Synthese general- und spezialpräventiver Notwendigkeiten. Die rechtsgüterschützende Aufgabe des Strafrechts lässt es als sinnvoll erscheinen, die Verletzung höchstrangiger Rechtsgüter mit lebenslänglicher Strafe zu bedrohen. Es ist nicht auszuschließen, dass anderenfalls die Hemmschwelle gegenüber ihrer Verletzung sinken würde. Die Menschenwürde, die auch einem Mörder zusteht, gebietet es aber, die persönlichkeitszerstörenden Wirkungen zu verhindern, die bei einem realiter lebenslänglichen „Absitzen“ der Strafe ohne resozialisierende Hilfen und die Chance gesellschaftlicher Re-Integration eintreten würden. Auf einem anderen Blatt steht es, dass der vom Gesetzgeber in Befolgung des verfassungsrechtlichen Urteils Ende 1981 eingeführte § 57a StGB, der die Möglichkeit vorsieht, eine lebenslängliche Freiheitsstrafe nach 15 Jahren zur Bewährung auszusetzen, sich in der Praxis nicht bewährt hat.64 Das liegt vor allem daran, dass der Aussetzung nicht nur „Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit“, sondern auch „die besondere Schwere der Schuld des Verurteilen“ (§ 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB) entgegenstehen können. Das führt zu einer rechtsstaatswidrigen Unbestimmtheit der Aussetzungsvoraussetzungen, der durch ihre Verrechtlichung hatte vorgebeugt werden sollen. Es hat außerdem eine zunehmende Ausuferung der Vollstreckungspraxis über die Grenze von 15 Jahren hinaus im Gefolge gehabt. Vielleicht sollte das Verfassungsgericht die Schuldschwereklausel unter dem Gesichtspunkt der von ihm in seinem maßgebenden Urteil verfolgten Intentionen einmal überprüfen.

b) Die Außerverhältnismäßigkeit einzelner Mordmerkmale Unser Verfassungsgericht hat in derselben Entscheidung auch die Frage untersucht, ob es nicht bei einzelnen Mordmerkmalen zu einer die Schwere der Schuld überschreitenden Unverhältnismäßigkeit der Sanktion führen könne, wenn ihre Verwirklichung ausnahmslos mit lebenslänglicher Strafe bedroht werde. Es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die lebenslängliche Strafe bei einer heimtückischen Tötung und bei einer Verdeckungstötung nur dann noch verfassungsgemäß sei, wenn diese Merkmale restriktiv ausgelegt würden.65 Leider ist der BGH bei dem Bemühen, diese verfassungsrechtliche Anweisung in die Praxis umzusetzen, nicht sehr erfolgreich gewesen. Der Große Senat für Strafsachen66 hat für die Heimtücke67 die sog. Rechtsfolgenlösung entwickelt, derzufolge bei „außergewöhnlichen Umständen“ der gemilderte Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB anzuwenden sei. Das ist keine glückliche Lösung, weil es die Kompetenz 63

BVerfGE 45, 187, Leitsatz 3 Satz 2. Vgl. nur den – von mir mitverfassten – „Alternativ-Entwurf Leben“, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 2008, 193 ff., 255 ff. 65 BVerfGE 45, 187, Leitsatz 4. 66 BGHSt 30, 105 ff. 67 Zur Heimtücke und den Bemühungen um ihre Einschränkung näher Roxin, Festschrift für Widmaier, 2008, S. 741 ff. 64

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des Richters übersteigt, eine gesetzliche Strafdrohung durch eine andere zu ersetzen, weil die Brandmarkungswirkung der Mordverurteilung auch in Fällen der Außerverhältnismäßigkeit erhalten bleibt und weil die Praxis von der Möglichkeit der Straf herabsetzung kaum Gebrauch gemacht hat. Bei der Verdeckungsabsicht sind die Einschränkungsbemühungen der Rechtsprechung nach einigen vergeblichen Versuchen ganz wieder eingestellt worden. Das BVerfG hat also keine durchgreifende Remedur bewirkt. Sie wird sich nur durch eine gesetzliche Neuregelung der gesamten Tötungsdelikte erzielen lassen, für die ein ausformulierter und ausführlich begründeter Entwurf von einem Arbeitskreis strafrechtlicher Professoren 2008 vorgelegt worden ist.68 Eine solche Reform sollte auch verfassungsrechtlich gefordert werden, da der geltende § 211 StGB die höchststrafwürdigen Fälle in vielfältiger Weise nur unzureichend erfasst.69

2. Die Vermögensstrafe Die Vermögensstrafe (ehemals § 43a StGB) bildet einen der seltenen Fälle, in denen eine Vorschrift des materiellen Strafrechts vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt worden ist.70 Die Vorschrift sah vor, dass bei bestimmten – zahlreichen – Delikten meist vermögensschädigender Art neben einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren auf Zahlung eines Geldbetrages erkannt werden kann, „dessen Höhe durch den Wert des Vermögens des Täters begrenzt ist“. Das BVerfG hat mit Recht entschieden, dass der Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit auch für die Strafdrohung gilt71 und dass dieser Grundsatz verletzt ist, wenn, wie im vorliegenden Fall, nicht einmal ein Strafrahmen vorgegeben wird:72 „Hinsichtlich des Maßes der in Frage kommenden Strafe hat der Gesetzgeber einen Strafrahmen zu bestimmen, dem sich grundsätzlich das Mindestmaß einer Strafe ebenso wie eine Sanktionsobergrenze entnehmen lassen.“ Durch die in § 43a Abs. 1 S. 3 eröffnete Möglichkeit, den Wert des Vermögens zu schätzen, wird diese Unbestimmtheit noch vergrößert. Auch besteht mangels jeglicher Leitlinie für die richterliche Strafzumessung die Gefahr einer Kollision mit dem Schuldprinzip.73 Die gesetzgeberische Idee, auf diese Weise vermutlich unredlich erworbene Gewinne abschöpfen zu können, lässt sich durch eine Strafvorschrift der geschilderten Art nicht in verfassungsmäßiger Weise verwirklichen. Das ist aus strafrechtlicher Sicht so eindeutig, dass man sich über das abweichende Votum dreier Richter74 wundern muss.

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Wie Fn. 64. Zur Reform der Tötungsdelikte vgl. auch mein Einführungsreferat zum 2. Karlsruher Strafrechtsdialog, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, 2010, S. 21 ff. 70 BVerfGE 105, 135 ff. 71 BVerfGE 105, 135, Leitsatz 1. 72 BVerfGE 105, 135, Leitsatz 3. 73 BVerfGE 105, 165. 74 BVerfGE 105, 172 ff. 69

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V. Verfassungsrechtliche Fragen von Rechtfertigung, Entschuldigung und Strafausschluss Aus diesem Bereich verdienen drei Probleme Hervorhebung, mit denen sich auch das BVerfG beschäftigt hat und von denen die ersten beiden zu den meistdiskutierten strafrechtlichen Streitfragen der letzten Jahre gehören.

1. Rettungsfolter? Die Frage, ob man zur Rettung eines Menschenlebens foltern oder auch nur mit Folter drohen darf, ist durch den sog. Fall Daschner aktuell geworden. Ein Frankfurter Polizei-Vizepräsident des genannten Namens hatte im Herbst 2002 einen Kidnapper durch die Androhung von Folter gezwungen, den Ort zu nennen, wo er seine Geisel versteckt hatte. Er wollte damit das Leben des Opfers retten, was aber nicht gelang, weil es schon vorher getötet worden war. Strittig ist, ob die in der Folterandrohung liegende Nötigung (§ 240 StGB) gerechtfertigt werden kann, sei es durch Nothilfe (§ 32 StGB), sei es durch Notstand (§ 34 StGB). Der hier zur Verfügung stehende Raum gestattet es nicht, den überaus kontroversen Streitstand im Einzelnen nachzuzeichnen.75 Das BVerfG hat sich mit dem Fall nur beiläufig anlässlich einer unzulässigen Verfassungsbeschwerde des folterbedrohten Mörders befasst.76 Es hat eine Verletzung der Art. 1 Abs. 1 und 104 Abs. 1 S. 2 GG bejaht: „Denn die . . . Anwendung von Folter macht die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruchs und zerstört grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen.“ Der Fall hat so großes öffentliches Aufsehen erregt, dass die damals amtierenden Präsidenten des BVerfG sich auch in der Presse dazu geäußert haben. Präsident Papier hat betont:77 „Es gibt Grundprinzipien des Rechtsstaates, die keinesfalls preisgegeben werden dürfen. Dazu gehört der Schutz der Würde des Menschen. Daraus folgt ein absolutes Folterverbot.“ Jede Relativierung oder Abwägung mit anderen Rechtsgütern lehnt Papier ausdrücklich ab. Und auch Vizepräsident Hassemer sagt:78 „. . . Kern des Folterverbots ist . . . der Angriff auf die Würde des Menschen. Der Betroffene darf im Verfahren nicht zum Objekt gemacht werden. Das ist der Fall, wenn er nicht mehr Person, wenn er ein Bündel von Schmerzen ist.“ Dieses Verfassungsverständnis ist uneingeschränkt zu begrüßen. Es entspricht der im Strafrecht überwiegenden Ansicht, die allen in den letzten Jahren auch in Deutschland hervorgetretenen Tendenzen, den Schutz der Menschenwürde zu relativieren, und auch bedenklichen Vorbildern in der Praxis anderer Staaten entgegentritt. Die Menschenwürde muss unverfügbar bleiben (Art. 1; 79 Abs. 3 GG). Fängt man erst 75 Doch kann ich auf zwei eigene Abhandlungen verweisen, in denen die Problematik unter Auseinandersetzung der Literatur ausführlich behandelt wird; in: Festschrift für Eser, 2005, S. 461 ff.; Festschrift für Nehm, 2006, S. 205 ff. 76 BVerfG NJW 2005, 656. 77 Papier, in der „Leipziger Volkszeitung“, die hier nach der FAZ vom 2. 1. 2006, S. 2, zitiert wird. 78 Hassemer, Süddeutsche Zeitung, 27. 2. 2003, S. 7.

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einmal an, Ausnahmen vom Folterverbot zuzulassen, wird man bald immer mehr vermeintlich gute Gründe fi nden, um das Verbot zu suspendieren. Damit wäre ein tragender Pfeiler des Rechtsstaates zum Einsturz gebracht. Eine andere Frage ist es, ob jemand, der um eines rechtlich begrüßenswerten Zweckes willen im konkreten Fall gegen das Folterverbot verstößt, allemal bestraft werden muss.79 Wenn man das vom Täter verfolgte Ziel der Lebensrettung in Rechnung stellt und der Handelnde sich in einer ausweglosen Situation zu befi nden glaubte, kann ein übergesetzlicher Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Erwägung gezogen werden.80 Aber das ist eine Frage der Straf bedürftigkeit, die an der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit eines solchen Vorgehens nichts ändert.

2. Luftsicherheitsgesetz Eine ähnliche und ähnlich umstrittene Konstellation behandelt das 2005 erlassene Luftsicherheitsgesetz, nach dessen § 14 Abs. 3 ein von Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen werden darf, wenn nur auf diese Weise die Gefahr für andere Menschen, gegen die das Flugzeug eingesetzt werden soll, abgewendet werden kann. Nach § 14 Abs. 4 des Gesetzes kann nur der Verteidigungsminister oder ggf. ein vertretungsberechtigter anderer Bundesminister die Maßnahme anordnen. Mit der Vorschrift sollten Fälle erfasst werden, die dem Angriff auf das World Trade Center vom 11. 9. 2001 entsprachen. Der BVerfG81 hat diese Vorschrift für nichtig erklärt und zur Begründung wiederum einen Verstoß gegen die Menschenwürde gerügt, wie er sich bei einer Auslegung dieser Garantie im Sinne der Objektformel ergibt. Die entführten, völlig unschuldigen Passagiere seien nicht nur Objekte der Entführer: 82 „Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer . . . Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfer selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“ Dem ist prinzipiell zuzustimmen, auch wenn in der strafrechtlichen Literatur bejahende und ablehnende Stellungnahmen sich in etwa die Waage halten.83 Der Staat hat kein Recht, unschuldige Verbrechensopfer zu töten, auch wenn dies dem Lebensinteresse anderer dient. Sonst müsste es auch zulässig sein, Todgeweihte zu töten, wenn nur auf diese Weise durch Transplantation ihrer Organe das Leben anderer gerettet werden kann. Das würde den strafrechtlichen Lebensschutz in seinen Grund79

Diese Frage stellt auch Hassemer, wie Fn. 78. Näher dazu Roxin, wie Fn. 6, § 22 Rn 166–169. 81 BVerfGE 115, 118 ff. 82 BVerfGE 115, 154. 83 Zusammenfassende Nachweise nach dem neuesten Stand bietet die Arbeit von Streng, Festschrift für Stöckel, 2010, S. 135 ff. mit Belegen in den Fußnoten 2, 3, 7, 8. 80

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festen erschüttern. Wenn nach der im Strafrecht weitaus herrschenden Meinung sogar der lebensrettende Zwang zu einer Blutspende gegen die Menschenwürde verstoßen und unzulässig sein soll,84 ist nicht plausibel zu machen, dass eine der Lebensrettung dienende Tötung erlaubt sein soll. Die jüngste, alle Argumente noch einmal abwägende Untersuchung von Streng 85 kommt denn auch zu einer deutlichen Ablehnung der Rechtfertigung. Eine Kritik des verfassungsrechtlichen Urteils wie diejenige von Depenheuer,86 der vom Einzelnen die Hinnahme seiner Tötung durch den Staat als „Bürgeropfer“ verlangt, fi ndet sich in der strafrechtlichen Literatur auch sonst nicht. Streng 87 kommentiert die Auffassung Depenheuers mit den Worten: „Die dabei vorausgesetzte Rückkehr zu einem Staatsverständnis, in welchem zuallererst der Bürger für den Staat und nicht der Staat für den Bürger dazusein hat, kann . . . nur erschrecken.“ Eine andere Frage ist auch hier, ob ein Abfangjäger, wenn er zur Rettung von Zivilisten ein Terrorflugzeug abschießt, weil er dies in der konkreten Situation für die gebotene Lösung hält, unbedingt bestraft werden muss. Das BVerfG hat diese Frage gesehen und ausdrücklich offengelassen.88 Es sei „nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären . . .“. Im Strafrecht wird diese Konstellation unter dem Gesichtspunkt der „Gefahrengemeinschaft“ seit der frühen Nachkriegszeit diskutiert.89 Als Beispiel diente der Fall der sog. Euthanasieärzte, die in der Nazizeit eine begrenzte Zahl von Geisteskranken dem Tode ausgeliefert hatten, um die sonst drohende Tötung aller ihnen anvertrauter Patienten zu verhindern. Im Strafrecht wird hier überwiegend ein übergesetzlicher Schuld- oder Verantwortungsausschluss angenommen. Eine solche Lösung käme auch beim Abschuss eines Terrorflugzeugs in Betracht, wenn dadurch die Zahl der Opfer mit Sicherheit wesentlich vermindert wird. Aber das ist eine außerhalb des Verfassungsrechts liegende strafrechtliche Frage. Die Unzulässigkeit einer gesetzlichen Erlaubnis zur Tötung Unschuldiger wird dadurch nicht berührt.

3. Gewissenstaten und ziviler Ungehorsam Die Frage, ob die Verwirklichung strafrechtlicher Tatbestände durch Berufung auf Art. 4 GG als Gewissenstat oder in Anlehnung an Art. 5, 8 GG als ziviler Ungehorsam gerechtfertigt oder entschuldigt werden kann, ist vielfach diskutiert worden und hat auch unser Verfassungsgericht, wenngleich nur relativ selten, beschäftigt.

84 85 86 87 88 89

Näher Roxin, wie Fn. 6, § 16 Rn. 48 ff., wo diese Auffassung kritisiert wird. Streng, wie Fn. 83, S. 155. Depenheuer, wie Fn. 3, S. 75 ff. Streng, wie Fn. 83, S. 154. BVerfGE 115, 157. Ausführlich dazu Roxin, wie Fn. 6, § 22 Rn. 146 ff.

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a) Die Gewissenstat Was die Gewissenstat betrifft,90 so kann sie, obwohl das in der strafrechtlichen Literatur nicht selten vertreten wird, keinen Rechtfertigungsgrund abgeben. Denn das Gewissen des Einzelnen kann nicht das objektiv geltende Recht außer Kraft setzen, zumal da die Gewissensentscheidung keine bestimmte inhaltliche Qualität voraussetzt. Es kommt aber ein Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Betracht, wenn die Gewissensentscheidung weder wesentliche Staatsaufgaben beeinträchtigt noch in individuelle Grundrechte anderer nachhaltig eingreift. Liegt kein solcher Ausnahmefall vor, werden die immanenten Schranken der Gewissensfreiheit überschritten, die nur im Rahmen der geltenden Staatsorganisation und unter Wahrung der Rechte anderer gewährt wird. So bleiben für eine verfassungsrechtlich bedingte Straffreiheit zunächst vor allem Fälle übrig, in denen es eine gewissensneutrale Alternative gibt. Das ist z. B. der Fall, wenn Eltern aus religiös motivierten Gewissensgründen eine notwendige Operation ihres Kindes verweigern. Hier kann ihre Zustimmung durch einen vormundschaftsgerichtlich bestellten Pfleger oder in Eilfällen durch eine ärztliche Notstandshandlung (§ 34 StGB) ersetzt werden. Manche dieser Fälle sind heute gesetzlich geregelt; etwa die gewissensbedingte ärztliche Abtreibungsverweigerung, bei der in der Regel ein anderer Arzt herangezogen werden kann (Art. 2 des 5. StrRG); oder die gewissensbedingte Eidesverweigerung, bei der – im Anschluss an BVerfGE 33, 23 – der Eid durch eine Bekräftigung ersetzt werden kann (§ 65 StPO). Daneben kommt, wie erwähnt, eine verfassungsrechtlich legitimierte Straffreiheit in Betracht, wenn durch die Gewissenstat Staatsaufgaben oder die Rechte anderer nicht oder nicht nennenswert beeinträchtigt werden. Das entspricht auch der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung. In der Entscheidung BVerfGE 32, 98 ff.91 hatte eine Frau bei der Geburt ihres vierten Kindes eine lebensrettende Bluttransfusion aus sektiererischen Gewissensgründen verweigert. Der Ehemann war wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) verurteilt worden, weil er – ebenfalls aus Gewissensgründen – entgegen dem Wunsch der Ärzte der Frau nicht wenigstens geraten hatte, einer Bluttransfusion zuzustimmen. Das Verfassungsgericht hat hier mit Recht eine Straflosigkeit angenommen, weil der Mann zwar nicht auf eine Zustimmung seiner Frau hingewirkt, in ihre Entscheidungsfreiheit aber nicht eingegriffen hatte. Das Gericht urteilt,92 die Entscheidung des Mannes sei zwar „objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wertvorstellungen zu missbilligen“, jedoch „nicht mehr in dem Maße vorwerf bar, dass es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen“. Aus der Wortwahl des Gerichts („nicht mehr in dem Maße vorwerf bar“) darf man schließen, dass es mit der von mir befürworteten Meinung weder eine Rechtfertigung noch eine Entschuldigung, sondern einen aus dem Mangel präventiver Bestrafungsnotwendigkeit gefol90

Dazu Roxin, wie Fn. 6, § 22 Rn. 100–129 mit umfangreichen Literaturnachweisen; ferner ders., Festschrift für Maihofer, 1988, S. 389 ff.; GA 2011, S. 1 ff. 91 Vgl. dazu schon oben II., 1., b) bei Fn. 28. 92 BVerfGE 32, 98 ff. (109).

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gerten Verantwortungsausschluss annimmt. Ein aus Art. 4 GG herzuleitender Strafausschluss ist also zwar selten, aber immerhin möglich.

b) Ziviler Ungehorsam Personen, die im Rahmen politischer Proteste Strafgesetze übertreten, berufen sich nicht selten auf „zivilen Ungehorsam“.93 Das ist nach der Defi nition unseres Verfassungsgerichts94 ein „Widerstehen des Bürgers gegenüber einzelnen wichtigen staatlichen Entscheidungen . . ., um einer für verhängnisvoll und ethisch illegitim gehaltenen Entscheidung durch demonstrativen zeichenhaften Protest bis zu aufsehenerregenden Regelverletzungen zu begegnen“. Eine Rechtfertigung wird vom BVerfG abgelehnt mit der Begründung,95 dass die Regelverletzung „per defi nitionem Illegalität mit dem Risiko entsprechender Sanktionen einschließt“. Insofern sei es „widersinnig, den Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams als Rechtfertigungsgrund für Gesetzesverletzungen geltend zu machen“. Auch in der staats- und strafrechtlichen Literatur wird ein Rechtfertigungsgrund durchweg abgelehnt.96 Dem ist zuzustimmen, weil demokratische Mehrheitsentscheidungen, die sich in Gesetzen niedergeschlagen haben, nicht durch individuelle Protestakte außer Kraft gesetzt werden können. Immerhin ist aber mit Dreier 97 anzuerkennen, dass Akte zivilen Ungehorsams „in den Schutzbereich der Grundrechte der Meinungs- und/oder der Versammlungsfreiheit fallen“. Das kann zwar aus den genannten Gründen nicht, wie Dreier vorschlägt, ggf. im Wege der Abwägung zu einer Rechtfertigung führen. Doch sollte auch insoweit bei geringfügigen und zeitlich begrenzten Behinderungen und Belästigungen ein verfassungsrechtlich fundierter übergesetzlicher Verantwortungsausschluss in Erwägung gezogen werden. In einem Fall, wie ihn das OLG Stuttgart 98 entschieden hat, in dem Nachrüstungsgegner in ein seit Jahren unbenutztes amerikanisches Militärareal eingedrungen waren, um dort zur Unterstreichung ihrer friedlichen Absichten Blumen zu pflanzen und Schafe weiden zu lassen, muss nicht unbedingt eine Bestrafung wegen Hausfriedensbruchs erfolgen.99

4. Meinungs- und Kunstfreiheit Die Überfülle der in das Strafrecht eingreifenden verfassungsrechtlichen Entscheidungen zur Meinungs- und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 1 3 GG)100 lässt sich hier nur in 93 Näher dazu Roxin, Festschrift für Schüler-Springorum, 1993, S. 441 ff. Dort auch (S. 444 ff.) zu vereinzelten Rechtfertigungsbemühungen in der Literatur. 94 BVerfGE 73, 206 ff. (250). 95 BVerfGE 73, 252. 96 Nachweise bei Roxin, wie Fn. 93, S. 443, Fn. 6. 97 Dreier, in: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 54 ff. 98 NStZ 1987, 121. 99 Näher Roxin, wie Fn. 93, S. 451 f. 100 Überblick bei Zaczyk, Nomos-Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2005, § 193 Rn. 4 f. (Meinungsfreiheit), 39 ff. (Kunstfreiheit).

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äußerster Verkürzung würdigen. Diese Grundrechte spielen eine große Rolle bei der Rechtfertigung von Ehrverletzungen, wo sie die ursprüngliche Regelung des § 193 StGB weitgehend überlagern; sie haben aber auch für eine etwaige Rechtfertigung von Delikten nach §§ 130, 130a StGB erhebliche Bedeutung. Das BVerfG sieht auch kränkende und herabsetzende Äußerungen bis zur Grenze der Schmähkritik und einer Verletzung der Menschenwürde noch als durch die Meinungsfreiheit gedeckt an, obwohl Art. 5 II GG dieses Recht in den „allgemeinen Gesetzen“ ihre Schranken fi nden lässt. So darf man behaupten, ein Nachrichtenmagazin sei auf dem Gebiet der Politik, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral sei (BVerfGE 12, 113 ff.), die CSU sei die NPD Europas (BVerfGE 61, 1 ff.), ein Rollstuhlfahrer, der eine Wehrübung absolvieren will, sei ein „geb. Mörder“ (BVerfG NJW 1992, 2073), „Strauß deckt Faschisten“ (BVerfGE 82, 272, 280 ff.) und sei ein „Zwangsdemokrat“ (BVerfGE 86, 1, 8 ff.), „Soldaten sind Mörder“ (NStZ 1994, 580 f.) und ähnliches. Diese Rechtsprechung hat überwiegend Kritik und sogar Empörung hervorgerufen, und zwar sowohl im Strafrecht101 wie im öffentlichen Recht.102 Diese Kritik ist berechtigt. Denn auch wenn man der sog. Wechselwirkungstheorie (BVerfGE 7, 198; 12, 124) folgt und die Schranken der allgemeinen Gesetze im Lichte des Art. 5 I GG deutet, kann das doch nicht eine weitgehende Abschaffung des Ehrenschutzes bedeuten, der immerhin durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch verfassungsrechtlich abgesichert ist. Man kann auch im politischen Meinungskampf seine Ansichten offen äußern, ohne die Ehre anderer anzutasten. Ein solches Verlangen würde nicht etwa die Demokratie gefährden, sondern zur Versachlichung der öffentlichen Auseinandersetzung in wünschenswerter Weise beitragen. Für die Kunstfreiheit gelten die Schranken des Abs. 2 nicht. Sie findet ihre immanenten Schranken nur in den Grundrechten anderer, zu denen aber immerhin auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde gehören. Ein wesentlicher Anhaltspunkt ist dabei, inwieweit konkrete Personen erkennbar geschildert und in ihren Rechten beeinträchtigt werden.

VI. Das Gesetzlichkeitsprinzip Das Gesetzlichkeitsprinzip hat viele Facetten, unter denen vier von besonderer verfassungsrechtlicher Aktualität sind: die Auslegungsgrenze des möglichen Wortsinns (1.), das Bestimmtheitsgebot (2.), das Rückwirkungsverbot (3.) und der selten problematisierte Begriff der „Tat“ in Art. 103 Abs. 2 GG (4.).

1. Der mögliche Wortsinn als Auslegungsgrenze Das BVerfG hat in zahlreichen Entscheidungen ausgesprochen, dass jede Auslegung sich im Rahmen des möglichen Wortsinnes halten muss. Ich zitiere nur aus 101 102

Dazu etwa Krey, JR 1995, 221 ff. (224 ff.) m. w. N. Nachweise bei Zaczyk, wie Fn. 100, Rn. 5, Fn. 18.

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dem bekannten Urteil zur Sitzblockade:103 „Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen.“ Das entspricht der im Strafrecht überwiegenden, allerdings keineswegs unumstrittenen Meinung104 und verdient Beifall. Das gilt nicht nur, weil die Vorhersehbarkeit der Strafdrohung gesichert werden muss, sondern auch, weil die Präventivwirkung der Norm davon abhängt. Bei der Anwendung des Grundsatzes auf den konkreten Fall ist das Verfassungsgericht allerdings nicht immer glücklich verfahren. Dass es sprachlich nicht möglich sein soll, Sitzblockaden wegen des von ihnen ausgehenden körperlichen Zwanges als Nötigung „mit Gewalt“ anzusehen, widerspricht einer jahrzehntelangen gefestigten Rechtsprechung, auf die jeder Demonstrant sich einstellen konnte. Da das Verfassungsgericht zahlreiche mit dem Gesetzeswortlaut kaum noch zu vereinbarende gerichtliche Auslegungen unbeanstandet gelassen hat, ist der erst im dritten Anlauf 105 zustande gekommene Sitzblockaden-Beschluss des BVerfG vielfach als „politische Entscheidung“106 verstanden und überwiegend abgelehnt worden.107 Es wäre wohl besser gewesen, geringfügige Fälle, bei denen Demonstranten sich widerstandslos forttragen lassen, unter dem Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams von Strafe freizustellen (vgl. V., 3., b). Denn in diesen Bereich gehört der Fall auch nach dem Selbstverständnis der Demonstranten. Aber auch eine mit Sicherheit „unpolitische“ Entscheidung wie diejenige, wonach die Bedrohung mit einem Verbrechen gegen eine „nahestehende Person“ (§ 241 StGB) deren Existenz voraussetzt,108 ist Zweifeln ausgesetzt. Denn die Drohung als solche hängt nicht von ihrer Ausführbarkeit ab. Freilich entspricht es einer sinnvollen teleologischen Auslegung, nur die Drohung mit dem Tod existierender Personen dem § 241 StGB zu subsumieren.109 Denn sie allein kann die Beunruhigung auslösen, der die Vorschrift vorbeugen will. Doch ist das kein verfassungsrechtliches Problem. Dagegen war es richtig, dass BVerfGE 87, 209 bei der Straf barkeit von Gewaltdarstellungen in § 131 Abs. 1 StGB es ausgeschlossen hat, lediglich menschenähnliche Wesen als „Menschen“ im Sinne des Gesetzes zu beurteilen. Das wäre der klassische Fall einer verbotenen Analogie. Der Gesetzgeber hat dem im Jahre 2004 durch eine Gesetzesänderung Rechnung getragen.

103 BVerfGE 92, 1 ff. (12). Weitere Rechtsprechungsnachweise bei Roxin, wie Fn. 6, § 5 Rn. 33, Fn. 52. 104 Zu den abweichenden Meinungen in der strafrechtlichen Literatur Roxin, wie Fn. 6, § 5 Rn. 36 ff. 105 Vorhergegangen waren die Entscheidungen BVerfGE 73, 206 ff. (297 ff., 254 ff.) und 76, 211 ff., die keinen Verfassungsverstoß hatten feststellen können. 106 Amelung, NJW 1995, 2580. 107 Vgl. nur Altvater, NStZ 1995, 278 ff.; Amelung, NJW 1995, 2584 ff.; Krey, JR 1995, 265 ff.; Scholz, NStZ 1995, 417 ff.; Schroeder, JuS 1995, 875 ff. 108 BVerfG NJW 1995, 2776. 109 Küper, JuS 1996, S. 783 ff.

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2. Das Bestimmtheitsgebot Das in Art. 103 Abs. 2 enthaltene Bestimmtheitsgebot wird von unserem Verfassungsgesetzgeber so lax gehandhabt, dass fast niemals eine Strafvorschrift wegen Unbestimmtheit für nichtig erklärt worden ist,110 obwohl selbst im Kernstrafrecht die Straf barkeit oft an weitgehend inhaltlose Wertungen geknüpft wird, wie den Verstoß „gegen die guten Sitten“ bei der einverständlichen Körperverletzung (§ 228 StGB), die „Verwerfl ichkeit“ bei der Nötigung (§ 240 StGB) oder die „niedrigen Beweggründe“ beim Mord (§ 211 StGB). In der strafrechtlichen Literatur wird das durchweg mit Recht kritisiert. Schon Welzel111 hatte geurteilt: „Die eigentliche Gefahr droht dem Grundsatz nulla poena sine lege nicht von der Analogie, sondern von unbestimmten Strafgesetzen!“ Schünemann112 sieht beim Gebot der Gesetzesbestimmtheit „den Tiefpunkt des nulla-poenaSatzes“. Unser Verfassungsgericht geht von der Annahme aus, der Gesetzgeber müsse „die Straf barkeitsvoraussetzungen umso präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist“113. Aber Art. 103 Abs. 2 GG weiß nichts von einer Unterscheidung zwischen leichten und schweren Straftaten. Auch handelt es sich bei den von mir aus dem Kernbereich des Strafrechts genannten Vorschriften gewiss nicht um leichte Delikte. Auch soll es genügen, dass eine Vorschrift „durch eine jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden ist“114. Jedoch verlangt Art. 103 Abs. 2 GG eine gesetzliche Bestimmtheit und will die Präzisierung gerade nicht der Rechtsprechung überlassen. Der Bürger soll die Straf barkeit dem Gesetz entnehmen können und nicht erst ein Studium der Rechtsprechung absolvieren müssen (die oft auch vielen Deutungen Raum lässt). Schließlich wird darauf hingewiesen,115 das Bestimmtheitsgebot dürfe „nicht übersteigert werden; das Gesetz würde sonst zu starr und kasuistisch“. Aber es geht nur um das Maß von Bestimmtheit, das nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung die Gerichte herstellen sollen und das sich gesetzlicher Formulierung durchaus nicht entzieht (wie Leitsätze der Rechtsprechung und Gesetzesvorschläge beweisen). Wir hätten heute ein besseres Strafgesetzbuch, wenn unser Verfassungsgericht bei der Auslegung des Bestimmtheitsgebots strenger wäre und den Gesetzgeber zu präzisierenden Reformen nötigte. Der Rechtsprechung würde viel Mühe erspart und unser Wirtschaftsstrafrecht würde transparenter werden, wenn z. B. ein so vager Tatbestand wie derjenige der Untreue (§ 266 StGB) durch eine verfassungsrechtlich geforderte Gesetzesreform klarere Konturen erhalten hätte. 110

Vgl. etwa BVerfGE 14, 245 ff.; 26, 41 ff.; 47, 109 ff.; 75, 329 ff. Die Unbestimmtheit bejaht BVerfG NStZ 1989, 229 für den Fall, dass ein Straftatbestand an den Verstoß gegen Verhaltenspfl ichten anknüpft, die durch einen Verwaltungsakt begründet werden. 111 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl age 1974, § 5 II, 3. 112 Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 6. 113 So ständig seit BVerfGE 14, 251. 114 So seit BVerfGE 26, 41 ff. (43) zum „groben Unfug“; zuletzt noch BVerfG NStZ 2009, 560 zum Tatbestand der Untreue (§ 266 StGB). 115 Auch dies schon seit BVerfGE 14, 251.

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Dass auch die angedrohte Strafe (und nicht nur deren Voraussetzungen) ein gewisses Maß an Bestimmtheit einhalten muss, ist immerhin verfassungsrechtlich anerkannt und schon im Zusammenhang mit der Vermögensstrafe dargestellt worden (oben IV., 2.).

3. Das Rückwirkungsverbot Das Rückwirkungsverbot verbietet eine rückwirkende Begründung und Verschärfung der Straf barkeit. Dass es auch eine nachträgliche Strafverschärfung erfasst, wird in § 2 Abs. 1 StGB ausdrücklich gesagt, nicht aber in Art. 103 Abs. 2 GG. Es ergibt sich jedoch aus einer sinngemäßen Auslegung der Verfassungsvorschrift, die auch vom BVerfG geteilt wird.116 Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion stehen drei Probleme: die Frage der Geltung des Rückwirkungsverbots in Fällen der Systemkriminalität (a), seine Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit auf Rechtsprechungsänderungen (b) und das Problem, ob das Rückwirkungsverbot auch für Sicherungsmaßregeln gilt (c).

a) Gilt das Rückwirkungsverbot auch in Fällen der Systemkriminalität? Das BVerfG117 hat dies verneint und damit einen Weg zur Bestrafung von Delikten eröffnet, die von der Staatsführung der DDR oder in ihrem Auftrag begangen worden sind, auch wenn diese Taten durch die Gesetzgebung der DDR gedeckt gewesen sein sollten (was im Einzelnen sehr umstritten ist). Das Rückwirkungsverbot fi ndet nach dem Verständnis des Verfassungsgerichts „seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden“. „Menschenrechtswidrige Rechtfertigungsgründe“, die „für schwerstes kriminelles Unrecht“ (z. B. die Schüsse an der Mauer) geschaffen wurden, seien durch das Rückwirkungsverbot nicht gedeckt. Ich halte das für überzeugend, obwohl die Frage in der strafrechtlichen Literatur sehr umstritten ist.118 Jede Verfassungsvorschrift muss aus dem Kontext der Gesamtverfassung verstanden werden. Art. 103 Abs. 2 GG gilt also im Rahmen einer rechtsstaatlichen Gesetzgebung, wie sie das Grundgesetz vorschreibt. Er kann nicht den Sinn haben, Staatsverbrechen eines undemokratischen Systems straflos zu stellen. Auch Art. 7 Abs. 2 EMRK deutet in diese Richtung.

116 117 118

BVerfGE 25, 295; 45, 363, 371 ff. BVerfGE 95, 96 ff. (133). Vgl. die Nachweise bei Roxin, wie Fn. 6, § 5 Rn. 54, Fn. 93, 94.

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b) Gilt das Rückwirkungsverbot auch für Rechtsprechungsänderungen? Nach der überwiegenden Meinung ist das nicht der Fall. Denn Art. 103 Abs. 2 GG verbietet nach seinem Wortlaut rückwirkende gesetzliche Belastungen, nicht aber eine Rechtsprechungsänderung, die sich zum Nachteil des Täters auswirkt. Dem wird oft mit dem Argument widersprochen, dass man sich auf die Rechtsprechung wie auf das Gesetz verlasse und davor geschützt werden müsse, wegen eines Verhaltens bestraft zu werden, das bisher nicht für straf bar gehalten worden sei. Das hat manches für sich, ist aber letztlich doch nicht überzeugend, weil es den Unterschied von Gesetzgebung und Rechtsprechung auf hebt, der für das Gesetzlichkeitsprinzip konstituierend ist. Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich ausdrücklich nur auf Gesetze, auf die man sich muss verlassen dürfen, während das Vertrauen auf die jederzeit und viel leichter zu ändernde – und vielfach auch kontroverse – Rechtsprechung keinen verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Der Bürger wird außerdem auf andere Weise hinreichend geschützt. Zunächst können sich Rechtsprechungsänderungen nur im Rahmen des Gesetzeswortlauts vollziehen, sind also bei konkreten Problemlagen weit besser vorhersehbar. Sodann aber wird, wenn das Vertrauen auf eine geänderte Rechtsprechung jemandem nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, die Zubilligung eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 StGB) ihn von Strafe freistellen. Dem BVerfG119 ist also recht zu geben, wenn es die Herabsetzung des Grenzwertes der absoluten Fahruntüchtigkeit durch den BGH und die damit verbundene Erweiterung der Straf barkeit nach § 316 StGB nicht dem Schutz des Art. 103 Abs. 2 GG unterstellt hat.

c) Rückwirkungsverbot im Hinblick auf die Dauer der Sicherungsverwahrung? Der Gesetzgeber hat im Jahr 1998 die bis dahin für die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geltende Höchstfrist von zehn Jahren (§ 67d Abs. 1 a. F. StGB) für weiterhin gefährliche Untergebrachte aufgehoben (§ 67d Abs. 3 (n. F.). Das BVerfG120 hat in einem ausführlich begründeten Urteil festgestellt, dass die Auf hebung der Zehnjahresfrist auch bei bereits Verurteilten weder gegen Art. 103 Abs. 2 GG noch gegen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) verstoße. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte121 im Dezember 2009 geurteilt, dass die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung gegen Art. 5 Abs. 1 und 7 Abs. 1 der EMRK verstoße und dem Beschwerdeführer eine Entschädigung von 50.000 Euro zugesprochen. Beide Urteile widersprechen einander nicht direkt, weil sie sich auf verschiedene Normen beziehen. Denn Verstöße gegen die europäische Menschenrechtskonvention begründen nicht ohne weiteres eine Grundgesetzverletzung. Doch wird die Bundesrepublik sich dem europäischen Rechtsspruch beugen müssen. 119 120 121

BVerfG NStZ 1990, 537. Ablehnende Stimmen bei Roxin, wie Fn. 6, § 5 Rn. 61, Fn. 112. BVerfGE 109, 133 ff. StV 2010, 181 ff.

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Das erscheint mir auch in der Sache als begründet. Das BVerfG stützt sich im Wesentlichen auf den Gedanken, Art. 103 Abs. 2 GG solle „verhindern, dass der Staat nachträglich ein Verhalten hoheitlich missbilligt, indem er es mit einer Sanktion belegt und dem Betroffenen den Vorwurf rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens macht“122. Das passt in der Tat nicht auf die schuldunabhängige Sicherungsverwahrung. Aber in erster Linie soll doch das Rückwirkungsverbot verhindern, dass der Betroffene schweren staatlichen Eingriffen ausgesetzt wird, die zur Zeit der Tatbegehung nicht gesetzlich vorgesehen waren. Dieser Gesichtspunkt trägt schon das Verbot nachträglicher Strafverschärfung und gilt für die Sicherungsverwahrung genauso. Dem hat auch unser Verfassungsgericht sich nicht verschlossen, wenn es betont,123 dass „der Untergebrachte die Sicherungsverwahrung subjektiv vielfach nicht als eine schuldunabhängige Sicherungsmaßnahme, sondern auch im Hinblick auf ihren tatsächlichen Vollzug als der Strafe vergleichbar empfi nden dürfte. Der aus Anlass der Straftat angeordnete Eingriff in das Freiheitsrecht ist in der Sicht des Betroffenen bei Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung vergleichbar. Damit gewinnt die Erwartung des Untergebrachten . . ., die Freiheit zu einem bestimmten Zeitpunkt wiederzuerlangen, besondere Bedeutung.“ Die Umstände hätten es mindestens unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gerechtfertigt, das Rückwirkungsverbot auf die Dauer der Sicherungsverwahrung zu erstrecken. Auch wäre es durchaus möglich gewesen, die Begriffe der „Strafe“ und der „Straf barkeit“ in Art. 103 Abs. 2 GG auf die ihr in entscheidenden Punkten gleichstehende Sicherungsverwahrung zu erstrecken. So hat es auch der Europäische Gerichtshof gemacht, indem er den Begriff der „Strafe“ in Art. 7 Abs. 1 EMRK „in seiner Reichweite autonom“ auf die Sicherungsverwahrung erstreckt hat.124 In der strafrechtlichen Literatur ist das immer schon empfohlen worden.125

d) Der Begriff der „Tat“ in Art. 103 Abs. 2 GG Ein weiteres Thema kann hier nur gestreift werden, weil es die verfassungsrechtliche Diskussion noch kaum erreicht hat: ob nämlich an den Begriff der „Tat“, wie ihn Art. 103 Abs. 2 GG verwendet, bestimmte inhaltliche Anforderungen zu stellen sind. Unser Verfassungsgericht hat sich damit bisher nur beiläufig aus Anlass des Drogenbesitzes befasst, der nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG unter Strafe steht.126 Hier war mit einer Verfassungsbeschwerde gerügt worden, dass der Besitz keine „Tat“ i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG sei. Diese müsse vielmehr eine Handlung sein, die nur in einem Tun oder Unterlassen bestehen könne. Der Besitz aber sei ein bloßer Zustand. Diese Auffassung hat auch in der deutschen Literatur Anhänger.127 122 123 124 125 126 127

BVerfGE 109, 172. BVerfGE 109, 185. Wie Fn. 121, Rn. 120, 126. Vgl. nur Roxin, wie Fn. 6, § 5 Rn. 55/56 m. w. N. BVerfG NJW 1994, 2412 f.; auch BVerfG NJW 1995, 248 ff. Lagodny, wie Fn. 9, S. 325–327; Struensee, Festschrift für Grünwald, 1999, S. 713 ff.

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Das BVerfG hat dieses Vorbringen zurückgewiesen mit der Begründung, aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG verwendeten Begriff der „Tat“ ergebe sich „nicht, dass das straf bare Verhalten einem bestimmten strafrechtlichen Handlungsbegriff entsprechen müsse“. Daran ist richtig, dass „Besitzdelikte“128 nicht schlechthin verfassungswidrig sind. Die bewusste Innehabung gefährlicher Sachen (z. B. von Waffen und Explosivstoffen) kann sehr wohl als „Tat“ im Sinne der Verfassung gedeutet werden. Aber es fragt sich doch, ob nicht die Pönalisierung von Handlungen, die von einer Rechtsgutsverletzung noch weit entfernt sind, sich mit den Grundsätzen eines „Tat“strafrechts noch vereinbaren lässt. So ist nach dem im Sommer 2009 in Kraft getretenen „Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten“ schon straf bar, wer sich zur Vorbereitung solcher Taten im Umgang mit Schusswaffen unterweisen lässt oder andere darin unterweist, wer sich Gegenstände verschafft, die für die Herstellung von Tatbegehungsmitteln wesentlich sind, wer Vermögenswerte für die Begehung derartiger Delikte sammelt oder zur Verfügung stellt (§ 89a StGB). Hier liegt das Schwergewicht der Straf barkeit auf der Bekundung einer staatsgefährdenden Gesinnung. Das überlieferte Tatstrafrecht wird – weitgehend im Anschluss an europäische Vorgaben – in ein präventives Sicherungsstrafrecht umgewandelt. Der Frage, ob derartige Vorschriften mit einem verfassungsmäßigen Begriff der „Tat“ oder auch nur mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar sind, sollte das BVerfG seine Aufmerksamkeit in Zukunft zuwenden, zumal da das Urteil zum Lissabonner Vertrag mit Recht einer Begrenzung der staatlichen Strafgewalt das Wort geredet hat.

VII. Schluss Damit bin ich am Ende meiner notwendigerweise knapp gefassten Übersicht. Sie zeigt, auch wenn ich mich auf zentrale Probleme beschränkt habe, dass das materielle Strafrecht in einer Fülle von Fragen auf verfassungsrechtlichen Grundlagen ruht und dass die strafrechtsgestaltende Macht des Grundgesetzes kaum zu überschätzen ist. Was die verfassungsrechtliche Rechtsprechung zum Strafrecht betrifft, so fällt das Urteil aus der Sicht des Strafrechts – oder, bescheidener ausgedrückt: des Verfassers dieses Beitrages – teils zustimmend, teils kritisch aus, wie es angesichts der Vielgestaltigkeit der behandelten Probleme auch kaum anders sein kann. Wenn man aber eine vereinfachende Zusammenfassung wagt, so möchte ich sagen, dass die bisherige Judikatur des BVerfG zwar das Potential des Grundgesetzes nicht immer ausgeschöpft und in anderen Punkte manchmal auch überstrapaziert hat, dass sie sich alles in allem aber doch als ein Bollwerk des Rechtsstaates erwiesen und durch den vielfältig konkretisierenden Rückgriff auf die Menschenwürde zur Humanisierung unseres Strafrechts wesentlich beigetragen hat.

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Näher Roxin, Festschrift für Struensee, Buenos Aires, 2010 (in spanischer Sprache).

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Privatrechts von

Prof. Dr. Jörg Neuner, Universität Augsburg Die Teilnehmer des Verfassungskonvents wurden zwar nicht, wie eigentlich geplant, mit Salutschüssen auf Herrenchiemsee begrüßt, doch hisste man zumindest die weiß-blaue Flagge und die Tagespresse rief die Geburtsstunde des westdeutschen Staatsgebildes aus.1 Die Privatrechtswissenschaft2 verharrte hingegen im Sommer 1948 noch in Schweigen oder war in Teilen3 schon wieder zur Tagesordnung übergegangen,4 ohne Geburtswehen und getreu dem Motto: „Öffentliches Recht vergeht, Privatrecht besteht.“5 Das Inkrafttreten des Grundgesetzes ein knappes Jahr später brachte für das Privatrecht zunächst auch keine größeren systemrelevanten Veränderungen. Die Ursachen hierfür lagen freilich nicht im vermeintlich apolitischen, beständigen Charakter des Privatrechts, sondern vielmehr in den Vorarbeiten des Alliierten Kontrollrats, der sich sehr zügig um die „Decontamination of German Law“ gekümmert hatte.

I. Zur vor-grundgesetzlichen Entnazifizierung des Privatrechts Bereits kurze Zeit nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. 5. 1945 wurde auf der Potsdamer Konferenz6 vereinbart, dass „alle nazistischen Gesetze, welche die Grundlage für das Hitlerregime geliefert haben oder eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischer Überzeugung errichteten, abgeschafft werden (müssen).“7 Demgemäß wurde binnen weniger Wochen am 20. 9. 1945 das „Kontrollratsgesetz Nr. 1 betreffend die Auf hebung von NS-Recht“ erlassen. 1

Vgl. Bauer-Kirsch, Herrenchiemsee, Diss. Bonn 2005, S. 71 f. m. umf. N. Zur Rechtsprechung s. näher Frenzel, Das Selbstverständnis der Justiz nach 1945, 2003. 3 Ausnahmen bildeten die Frankfurter Rektoratsrede von Hallstein, SJZ 1946, 1 ff. sowie die Göttinger Antrittsvorlesung von Raiser, ZHR 111 (1948), 75 ff. 4 Vgl. nur Schröder, in Diederichsen/Sellert (Hrsg.), Das BGB im Wandel der Epochen, 2002, S. 109 ff. (126) m. w. N. 5 Böhmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, 1. Buch, 1950, S. IX. 6 Vom 17. 7. bis 2. 8. 1945; s. näher Benz, Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik, 1984, S. 27 ff. 7 Punkt 4 der „Politischen Grundsätze“. 2

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Jörg Neuner

Nach Art. 1 dieses Gesetzes wurden zahlreiche NS-Gesetze mit zum Teil stark privatrechtlichen Bezügen aufgehoben. Die Auf hebung betraf beispielsweise aus dem Bereich des Familienrechts das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. 9. 1935,8 das u. a. „Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ untersagte (§ 1 Abs. 1 Satz 1). Aus dem Bereich des Wirtschaftsrechts wurde die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. 11. 19389 aufgehoben, die Juden u. a. den Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften sowie den selbständigen Betrieb eines Handwerks untersagte (§ 1 Abs. 1), ferner das „Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich“ vom 6. 7. 1938,10 das ähnliche Untersagungen enthielt und namentlich den Handel mit Grundstücken unter Strafandrohung stellte (Art. 1). Aufgehoben wurde des Weiteren auf dem Gebiet des Arbeitsrechts die „Verordnung über die Beschäftigung von Juden“ vom 3. 10. 1941,11 die jüdische Arbeitnehmer einem Rechtsverhältnis „eigener Art“ unterstellte und dazu führte, dass „die Sklaverei nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtsförmlich wieder eingeführt (war).“12 Neben diesen ausdrücklichen Auf hebungen war in Art. 2 b des Kontrollratsgesetzes Nr. 1 geregelt, dass „keine deutsche Gesetzesverfügung“ zur Anwendung gebracht werden darf, durch die „irgend jemand auf Grund seiner Rasse, Staatsangehörigkeit, seines Glaubens oder seiner Opposition zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Lehren, Nachteile erleiden würde.“ Weitere Kontrollratsgesetze folgten, die zum Teil ebenfalls das Privatrecht betrafen, wie das Gesetz Nr. 16 zum Eherecht, das Gesetz Nr. 37 zum Erbrecht, das Gesetz Nr. 40 zum Arbeitsrecht sowie die Gesetze 44 und 45 zum Pachtrecht bzw. zum Höferecht.13 Die zahlreichen aufgehobenen NS-Gesetze sowie die methodenkonform zu diesen Gesetzen ergangenen Urteile ändern nichts daran, dass auch und gerade die Rechtsprechung einen großen Anteil zur nationalsozialistischen „Rechtserneuerung“ beisteuerte. Die Instrumentalisierung von Generalklauseln, die primär „objektive“ Auslegung „vorrevolutionärer“ Gesetze sowie schrankenlose Uminterpretationen sorgten vielfach für einen richterrechtlichen Einzug des „Völkischen Rechtsdenkens“.14 Zur Veranschaulichung sei exemplarisch eine Entscheidung des AG Nürnberg vom 26. 11. 193815 aus dem Bereich des Mietrechts erwähnt, die noch vor Erlass des „Gesetz(es) über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. 4. 193916 erging und in der eine fristlose Kündigung wegen der „Rasseneigenschaft“ des jüdischen Mieters für zulässig erachtet wurde. Mit solchen exzessiven Entscheidungen hatte die Justiz, ohne Zutun des Gesetzgebers, eine regelrechte Kündigungswelle ausgelöst, 8

RGBl. 1935 I, 1146 f. RGBl. 1938 I, 1580. 10 RGBl. 1938 I, 823 f. 11 RGBl. 1941 I, 675 (s. auch die Durchführungsverordnung RGBl. 1941 I, 681 f.). 12 Rüthers, NJW 1988, 2825 ff. (2830). 13 S. näher Etzel, Die Auf hebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945–1948), 1992, S. 80 ff. m. w. N. 14 S. ausführlich Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 175 ff.; Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 1985, S. 113 ff. 15 JW 1938, 3243 f.; s. z. B. auch LG Berlin, JW 1938, 3242 f. 16 RGBl. 1939 I, 864 f. 9

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Privatrechts

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die unzähligen jüdischen Mietern ihren räumlichen Lebensmittelpunkt nahm.17 Ganz ähnlich wurde beispielsweise auch auf dem Gebiet des Familienrechts judiziert: „Der Antragsteller ist jüdischen Blutes, die Gerda H. ist Arierin. Zurzeit besteht rein formalgesetzlich ein Verbot der Eheschließung zwischen Ariern und Nichtariern noch nicht. Trotzdem kann ein Standesbeamter nicht gezwungen werden, die Eheschließung (. . .) vorzunehmen, da durch eine solche arisches Blut vermischt und für alle Zukunft (. . .) unbrauchbar gemacht wird. Eine derartige Ehe verstößt gegen die wichtigsten Gesetze des Staates (. . .).“18 Diese systemprägenden richterlichen Exzesse dürfen ihrerseits aber wiederum nicht über die legislativen Einflüsse hinwegtäuschen. Während man in den ersten Jahrzehnten nach 1945 vorwiegend die Rolle der Justiz und der Wissenschaft ausblendete oder marginalisierte, verschwimmen nunmehr häufig die nationalsozialistischen leges corruptae in der zeitlichen Distanz oder werden erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Solche selektiven Geschichtswahrnehmungen tragen der historischen Dimension des NS-Unrechtsstaates nicht hinreichend Rechnung.19 Sie werden insbesondere dem Grundgesetz nicht gerecht, das sich als „Anti-Verfassung“20 und damit partiell auch als „Anti-Privatrecht“ zum vorangegangen NS-System versteht.

II. Zur Auslegung des Grundgesetzes Spricht man dem NS-System die Funktion eines Negativ-Paradigmas zu, so ist dies bereits das Ergebnis einer Auslegung des Grundgesetzes. Die Begriffe der „Auslegung“ oder „Interpretation“ werden allerdings gerade im Verfassungsrecht, in bewusster Abgrenzung zur klassischen zivilrechtlichen Terminologie, angezweifelt.21 „We must never forget that it is a constitution we are expounding“22 lautet der Leitspruch 23 und man versucht eine eigenständige Methodik des Verfassungsrechts vor allem mit materialen und strukturellen Unterschieden zum Zivilrecht zu begründen.

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S. ausführlich Ludyga, JoJZG 2008, 7 ff. (9) m. w. N. AG Bad Sülze, JW 1935, 2309; s. dazu auch Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, 3. Aufl. 2001, S. 871 f. 19 Nimmt man die Strafrechtsgesetzgebung, etwa die „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 4. 12. 1941 (RGBl. 1941 I, 759 ff.), hinzu, wirkt der Vorhalt von Rüthers ( JZ 2008, 446 ff., 450) gegenüber Hirsch ( JZ 2007, 853 ff., 854), dass dessen Behauptung, „der Weg in den NS-Staat war mit Gesetzen und Verordnungen gepfl astert“, auf „einem erwiesenen historischen Irrtum (beruhe)“, erst recht nicht plausibel; vgl. auch Haferkamp, Das Bürgerliche Gesetzbuch während des Nationalsozialismus und in der DDR, in: Schröder, Zivilrechtskultur der DDR, Bd. 2, 2000, S. 13 ff. (16): „Der Einfluss der Gesetzgebung auf die Urteile war zweifelsohne substantiell.“; s. ferner eingehend Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, 1988, S. 242 ff. 20 Vgl. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1960, S. 8 f. (in Anlehnung an Carl Schmitt, der den Begriff seinerseits zur Kennzeichnung der Relation zwischen der Weimarer Reichsverfassung und der Verfassung von 1871 verwandte). 21 S. zu Details der staatsrechtlichen Diskussion etwa Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 13 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1998, S. 13 ff. m. w. N. 22 Chief Justice Marshall, McCulloch v. Maryland, 17 US 316, 407 (1819). 23 S. z. B. Heun, AöR 116 (1991), 185 ff. (187); Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 ff. (66). 18

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1. Der Grundsatz der Einheit der juristischen Methode Eine methodenrelevante Divergenz zwischen der Verfassung und einfachen (Privatrechts-)Gesetzen wird vielfach in den unterschiedlichen materialen Regelungsgegenständen gesehen. Die Verfassung unterscheide sich vom Rest der Rechtsordnung durch ihren „politischen Charakter“,24 weshalb man auch schlagwortartig vom Verfassungsrecht als „‚politischem‘ Recht“ spricht.25 Wenig erhellend ist dabei allerdings der Umgang mit dem „Politik“-Begriff. Wie immer man den „politischen Gehalt“ defi niert,26 ob als Freund-Feind-Unterscheidung, fundamentale Richtlinie, Dezision oder mit Max Weber als Implikation von „Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen“,27 unklar bleibt, was hieran verfassungsspezifisch sein soll. Ist die Regelung des § 903 BGB, wonach der Eigentümer einer Sache mit dieser grundsätzlich nach Belieben verfahren kann, weniger „politisch“ als Art. 14 Abs. 1 GG? Sind die besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 GG „politischer“ als das zivilrechtliche allgemeine Gleichbehandlungsgesetz? Und wie ist ganz generell die Kritik am Sozialmodell des BGB einzuordnen, angefangen mit den Streitschriften von Anton Menger 28 und Otto v. Gierke 29 bis hin zu den heutigen, zum Teil ganz konträren Philippiken? Diese Fragen zu stellen, heißt einen substantiellen, materialen Unterschied zwischen beiden Rechtsmaterien zu verneinen. Sowohl das Grundgesetz als auch das BGB beruhen auf einem Legislativakt, der jeweils politische Entscheidungen umsetzt. In der weiteren Folge birgt die Vorstellung von der Verfassung als „politischem Recht“ die latente Gefahr, dass die normativen Vorgaben des Grundgesetzes unterlaufen werden 30 und zugleich das Privatrecht durch eine entpolitisierende Betrachtungsweise sowohl in Bezug auf das Gesetzesrecht als auch das „Richterrecht“ verklärt wird. Eine unterschiedliche methodische Handhabung von „Gesetz“ und „Verfassung“ wird ferner auf die „strukturelle Offenheit“ zurückgeführt, die das Grundgesetz im Gegensatz zur Prägnanz des Zivilrechts kennzeichne.31 Auch eine solche Gegenüberstellung der jeweiligen Regelungsdichte ist indes fragwürdig. Dies zeigt sich schon daran, dass die Verfassung einige privatrechtsrelevante Bestimmungen enthält, deren Prägnanz geradezu Vorbildcharakter hat. Zu erwähnen ist nur das Benachteiligungsverbot zulasten behinderter Menschen gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.32 Berücksichtigt 24

S. bereits Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 133. Vgl. etwa Karpen, Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes, 1987, S. 42 ff. m. w. N.; Schuppert, AöR 120 (1995), 32 ff. (59 f.); Böckenförde, FS Scupin, 1983, S. 317 ff. (319 ff.); zum Gegenbegriff des Zivilrechts als „unpolitisches Recht“ s. namentlich Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 23 Fn. 58. 26 S. ausführlich Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, 1992, § 162 Rn. 5 ff. m. umf. N. 27 Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1980, S. 822. 28 Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1908. 29 Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889. 30 S. dazu schon Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 120, 127 ff. 31 Vgl. Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 38; Böckenförde, NJW 1976, 2089 ff. (2091); Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 ff. (62); Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 ff. (10) beruft sich auf den „schwierigen und zum Teil diffusen Gegenstand des öffentlichen Rechts“. 32 S. ferner z. B. auch das Gleichbehandlungsgebot unehelicher Kinder gem. Art. 6 Abs. 5 GG sowie hierzu jüngst BVerfGE 118, 45 ff. (Leitsatz): „Es verstößt gegen Art. 6 Abs. 5 GG, die Dauer eines Un25

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man, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber des Jahres 1994 mit der Einfügung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG die Stellung behinderter Menschen nicht nur im Verhältnis Staat-Bürger, sondern ganz generell in Recht und Gesellschaft stärken wollte,33 wird die subsumtionsfähige Regelvorgabe für den Privatrechtsverkehr evident. So darf aufgrund dieses verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots beispielsweise ein Gastwirt oder Reiseveranstalter einen behinderten Vertragsinteressenten nicht ohne sachlichen Grund allein wegen seines Handicaps ablehnen – ein Ergebnis, das aus dem Text und der Entstehungsgeschichte des BGB keineswegs zwingend folgt.34 Zugleich ist für das BGB kennzeichnend, dass es zahlreiche Generalklauseln (§§ 138, 242, 826) und unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, die schon per definitionem keinen höheren Bestimmtheitsgrad aufweisen als viele verfassungsrechtliche Termini. Dieser Befund soll nicht in Abrede stellen, dass das BGB mit seinen über 2300 Paragraphen zum Teil wesentlich ausdifferenziertere Regelungsmaterien enthält als die Verfassung. Methodisch überzeugt indes nicht, der Verfassung a priori eine wesenstypische Offenheit zu unterstellen, ohne im Einzelfall zunächst die konkreten Direktiven zu eruieren. Dies gilt gerade auch für die Menschenwürdegarantie sowie die Einzelgrundrechte, die ungeachtet ihres Prinzipiencharakters regelhafte Elemente aufweisen und dem Privatrecht vor allem die verfassungsrechtlichen Grundkoordinaten aufzeigen. Im Ausgangspunkt ist daher an der Einheit der juristischen Methode festzuhalten. Demgemäß ist die Verfassung grundsätzlich nach denselben, vor allem staatsrechtlich zu begründenden Standards zu interpretieren wie „einfache“ Gesetze.35 Sowohl bei der Auslegung der Verfassung als auch bei der Auslegung einfacher Privatrechtsnormen sind insbesondere die Grundsätze der Gewaltenteilung und Volkssouveränität zu respektieren. Der Aspekt des Vertrauensschutzes ist ebenfalls in beiden Konstellationen zu berücksichtigen, nicht zuletzt, wenn von Präjudizien abgewichen werden soll. Diese gemeinsame rechtstheoretische Basis schließt angesichts der unterschiedlichen Strukturen sektorale Eigenheiten und Wertungsgesichtspunkte nicht aus. Ebenso offenkundig ist, dass Entscheidungen des BVerfG einen gravierenden Einfluss auf die Politik nehmen können und gerade der Verfassungsinterpret mit ständig neuartigen und komplexen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert wird. Ungeachtet dieser tatbestandlichen und rechtsfolgenbezogenen Besonderheiten bleiben die methodischen Leitideen jedoch in nuce dieselben.36

terhaltsanspruchs, den der Gesetzgeber einem Elternteil wegen der Betreuung seines Kindes gegen den anderen Elternteil einräumt, für eheliche und nichteheliche Kinder unterschiedlich zu bestimmen.“ 33 BT-Drucks. 12/8165, S. 29; s. dazu auch Neuner, NJW 2000, 1822 ff. 34 Seit 2006 nunmehr geregelt im AGG. 35 Vgl. auch Starck, FS Isensee, 2007, S. 215 ff. (216); Leisner, DÖV 1961, 641 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 338 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 180 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 204 ff. m. w. N. 36 A. A. Bullinger, JZ 2004, 209 ff. (209): „Eine Verfassung wie das deutsche Grundgesetz (. . .) will zunächst in ihrem Gesamtsinn ‚verstanden‘ und nicht einfach wie ein Gesetz Stück für Stück aus ihrem Wortlaut ‚ausgelegt‘ werden.“ Nach der hier vertretenen Gegenansicht will die Verfassung so konkret als möglich „verstanden“ und nicht a priori durch richterliche Eigenwertungen substituiert werden.

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2. Der Grundsatz der subjektiv-teleologischen Auslegung Die Einheit der juristischen Methode impliziert in erster Linie einen prinzipiellen Vorrang der genetisch-historischen Auslegung, der sich auch und gerade auf der Verfassungsebene aus den Grundsätzen der Demokratie und Gewaltenteilung ergibt. Die besonderen Anforderungen an eine förmliche Verfassungsänderung gem. Art. 79 GG werden ebenfalls nur bei Verfolgung eines subjektiven Interpretationszieles hinreichend respektiert. Darüber hinaus beziehen sich auch die legitimen Kontinuitätserwartungen der Rechtsunterworfenen auf die im Normtext zum Ausdruck gebrachten verfassungsgeberischen Regelungsabsichten. Das Bundesverfassungsgericht vertritt demgegenüber seit Inkrafttreten des Grundgesetzes eine primär objektive Auslegungstheorie. Vereinzelt werden zwar auch entstehungszeitliche Aspekte betont,37 doch ist die Vorstellung eines „objektivierten Willens des Gesetzgebers“ dominierend.38 Die h. L. folgt dieser Einschätzung,39 wenngleich sich in letzter Zeit die Stimmen zugunsten einer subjektiv-teleologischen Interpretation mehren.40 Es liegt auf der Hand, dass gerade im Grundrechtsbereich eine konkrete, einzelfallbezogene Regelungsabsicht oftmals nicht rekonstruierbar ist, weil der Verfassungsgeber die zu entscheidende Konfl iktlage bewusst oder unbewusst nicht in sein Entscheidungsprogramm aufnahm oder noch gar nicht zu antizipieren vermochte. Die Berufung auf die Autorität des pouvoir constituant ist indes auch im Wege eines Analogieschlusses möglich und legitim, bei dem es darum geht, eine spezielle Wertung des Verfassungsgesetzgebers auf ähnlich gelagerte Sachverhalte zu extendieren. So ist es methodisch beispielsweise nur folgerichtig, den Grundrechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 3 GG auf nicht rechtsfähige Personenvereinigungen zu erstrecken.41 Ähnliches gilt für Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG, der normtextuell lediglich die individuelle Koalitionsfreiheit erfasst, jedoch in Übereinstimmung mit Art. 159, 165 Abs. 1 WRV auch den Schutz der Koalition selbst intendiert.42 Darüber hinaus kann es geboten sein, aus mehreren Verfassungsbestimmungen induktiv einen allgemeinen Rechtsgrundsatz abzuleiten, wie etwa aus den Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 23 ff. GG den Grundsatz der „völkerrechtsfreundlichen Auslegung“.43 Zur weiteren Determinierung trägt bei, dass durch die Konstituierung von Verfassungsprinzipien der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Geltung gelangt.44 Dessen Teilgrundsatz der Geeignetheit wäre beispielsweise im Bereich des Zivilrechts ver37

S. z. B. BVerfGE 4, 299 ff. (304 f.). S. z. B. BVerfGE 59, 128 ff. (153); 11, 126 ff. (129 f.); 1, 299 ff. (312); zuletzt BVerfG NJW 2010, 754 ff. (Rz. 18; dort auch zur Wortsinngrenze). 39 Vgl. nur Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, Einl. A Rn. 15; Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Einl. Rn. 5, 10. 40 S. etwa Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 144 ff.; Auer, ZEuP 2008, 517 ff. (528 f.); speziell zur Verfassungsauslegung Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 139 ff. m. w. N. 41 Vgl. nur Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, S. 1134; Jarass/Pieroth, GG (oben Fn. 39), Art. 19 Rn. 19 m. w. N. 42 Vgl. BVerfGE 93, 352 ff. (357); Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Stand 2009, Art. 9 III Rn. 170; Badura, FS Berber, 1973, S. 11 ff. (28 ff.). 43 S. hierzu auch BVerfGE 111, 307 ff. (317 ff.); 31, 58 (75 f.). 44 S. näher Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 100 ff. 38

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letzt, würde man – wie unlängst rechtspolitisch dikutiert – eine notarielle Beurkundungspfl icht für Patientenverfügungen einführen, da Notare nicht über die notwendige medizinische Beratungskompetenz verfügen.45 An der Erforderlichkeit fehlt es etwa, wenn statt der Nichtigkeitsanordnung eines Vertrags mildere Mittel in Form von Auf klärungspfl ichten oder Widerrufsrechten in Betracht kommen. Das Verhältnismäßigkeitsgebot in seinem engeren Sinne verlangt, dass das verfassungsrechtliche Gewicht, d. h. vornehmlich der normative Mindestgehalt eines Prinzips,46 im Rahmen der Abwägung nicht verkannt wird.47 Demgemäß hat das BVerfG die Regelung des § 1626 BGB insoweit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt, als Eltern ihre Kinder kraft elterlicher Vertretungsmacht bei Fortführung eines ererbten Handelsgeschäfts in ungeteilter Erbengemeinschaft fi nanziell unbegrenzt verpfl ichten können.48 Nach der subjektiven Auslegungstheorie sind verfassungsimmanente Prinzipien zwar nur relativ vage gesetzgeberische Anordnungen, doch enthalten sie zumindest in Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen regelhaften Kern, der eine negative Evidenzkontrolle erlaubt. Entgegen weit verbreiteter Bedenken49 führt der grundsätzliche Primat des „original intent“ auch zu keiner sachwidrigen Versteinerung der Verfassung.50 Die Bezugnahme auf die historische Regelungsabsicht begründet lediglich eine Argumentationslastregel, die dem Verfassungsinterpreten aufgibt, Abweichungen von der lex lata hinreichend zu rechtfertigen. Die Begründungsanforderungen sind allerdings hoch, da es vor allem die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Demokratie und des Vertrauensschutzes argumentativ zu überwinden gilt.51 Ein Beispiel einer zulässigen Verfassungsderogation bildet eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zu Art. 111 a Abs. 2 Satz 1 BV, der verlangt, dass „Rundfunk in öffentlicher Verantwortung und in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft betrieben (wird).“ Der Verfassungsgerichtshof hielt es aufgrund der modernen Sendemöglichkeiten mit erheblich größeren Übertragungskapazitäten zu Recht für nicht ausgeschlossen, „daß bei einem weiteren Fortschreiten der technischen Entwicklung der Vorbehalt für öffentlichrechtliche Rundfunkträger zum Schutz des Gemeinschaftsguts Rundfunkfreiheit nicht mehr aufrechterhalten werden darf.“52 Neben der Anwendung des hier maßgeblichen Grundsatzes „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ kommt eine Normderogation insbesondere bei schweren Normwidersprüchen in Betracht. Diese exzeptionellen Voraussetzungen sind aber beispielsweise nicht in Bezug auf die verfassungsrechtliche Differenzierung zwischen nicht eingetragenen Lebenspartnerschaften und traditionellen Ehen gegeben. Nicht eingetragene Lebenspartnerschaften sind zwar grundrechtlich und einfachgesetzlich auf vielfältige Weise geschützt, und es mag 45

Vgl. auch Verrel, Verhandlungen des 66. DJT, 2006, Bd. I, C 40 ff. (83 f.). Vgl. Lerche, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 1992, § 122 Rn. 24; Bydlinski, Recht, Methode und Jurisprudenz, 1988, S. 30 f. 47 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, § 84 II 4 f. m. w. N. 48 BVerfGE 72, 155 ff. (Leitsatz). 49 S. etwa Heun, AöR 116 (1991), 185 ff. (193 f., 206); Rupp, AöR 101 (1976), 161 ff. (163 f.). 50 Vgl. auch Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 56; ders., DVBl. 1987, 809 ff. (812 f.). 51 S. näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (oben Fn. 21), S. 57 ff. 52 BayVerfGH 39, 96 ff. (140 f.) m. w. N.; s. dazu auch Löwer, Cessante ratione legis cessat ipsa lex, 1989, S. 29 f. 46

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gute Gründe geben, sie zusätzlich dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu unterwerfen, doch ist eine Ehe nach dem herkömmlichen Verständnis der Verfassungsautoren eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft von Frau und Mann.53 Deshalb ist es grundsätzlich Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers und nicht des BVerfG, die Privilegierungen des Art. 6 Abs. 1 GG und hierauf gestützte einfachgesetzliche Besserstellungen aufzuheben.54 Anders gewendet: Die Forderung nach einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“55 hat ihre Berechtigung im Bereich des „offenen“, lückenhaften Verfassungsrechts, bei hinreichend präzisen Regelvorgaben ist die ebenso „offene Gesellschaft der Verfassungskritiker“ gefordert.

3. Die Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts Aus privatrechtlicher Sicht konzentrieren sich die Kontrollbefugnisse des BVerfG auf die Überprüfung von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen.56

a) Die Überprüfung privatrechtlicher Gesetze Die Kontrolle von privatrechtlichen Gesetzen wirft insofern keine besonderen demokratie- und kompetenzrechtlichen Konfl ikte auf, als eine hinreichende Berufung auf die Autorität des pouvoir constituant möglich ist. Daneben kommen als Überprüfungsmaßstab die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ gem. Art. 1 Abs. 2 GG in Betracht. Zu denken ist etwa an die Gewährleistung arbeitsrechtlicher Mindeststandards, so wie sie in zahlreichen internationalen Verträgen und Beschlüssen festgelegt sind.57 Eine Missachtung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben würde zu einer richterlichen Kompetenzunterschreitung führen, so dass Forderungen nach einem „judicial self-restraint“58 insoweit als inadäquat erscheinen. Aber auch umgekehrt, wenn eine legitimatorische Rückbindung an den Verfassungsgeber ausscheidet, handelt es sich um kein Problem richterlicher Selbstbeschränkung, vielmehr muss die Judikative zur Vermeidung einer Kompetenzüberschreitung erst den Nachweis einer entsprechenden Legitimation zur Rechtsfortbildung führen.59 Das BVerfG verwendet den Begriff des „judicial self-restraint“ daher auch nur in dem abgeschwächten Sinn eines Verzichts „‚Politik zu treiben‘, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen.“60 53 Vgl. Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 38; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik (oben Fn. 40), S. 153 m. w. N. 54 A. A. BVerfG NJW 2010, 1439 ff. (Rz. 99 ff.); BVerfGE 105, 313 ff. (348). 55 Häberle, JZ 1975, 297 ff. 56 Rechtsvergleichend zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit Nußberger, JZ 2010, 533 ff. 57 S. näher Körner, Das internationale Menschenrecht auf Arbeit, 2004; Däubler/Kittner/Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, 2. Aufl. 1994, S. 117 ff. m. w. N. 58 S. etwa v. Danwitz, JZ 1996, 481 ff. (483 ff.). 59 Vgl. auch Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 4 III 8 c, d; s. ferner kritisch Schuppert, DVBl. 1988, 1191 f. (1191); Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 64. 60 BVerfGE 36, 1 ff. (14).

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b) Die Überprüfung privatrechtlicher Gerichtsentscheidungen Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Kontrolle von zivilgerichtlichen Entscheidungen sind im Wesentlichen drei Fallgruppen zu unterscheiden: 61 Das BVerfG hat zunächst in seiner Funktion als „Hüter der Verfassung“ fachgerichtliche Urteile im Hinblick auf ihre Gesetzeskonformität gem. Art. 20 Abs. 3 GG zu überprüfen. Der Sinn und Zweck dieser Kontrolle liegt primär in der Wahrung der Gewaltenteilung und des Rechtsetzungsprimats des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. So hat das BVerfG beispielsweise die Einordnung von Sozialplanabfi ndungen als Konkursforderungen im Range von § 61 I Nr. 1 KO a. F. durch das BAG zu Recht für verfassungswidrig erachtet, „weil eine gesetzliche Regelungslücke, die es dem Richter erlaubte, für bestimmte Forderungen eine Privilegierung außerhalb des geschlossenen Systems der Konkursforderungen vor der Rangstelle des § 61 I Nr. 1 KO zu begründen, nicht (besteht).“62 Die entscheidende methodologische Frage lautet dabei, wann das Fachgericht seine Kompetenzen offenkundig überschreitet und eine unzulässige Normderogation vornimmt. Das BVerfG betont zutreffend den Fall der unzulässigen Rechtsfortbildung,63 doch gilt es diese Feststellung wiederum im Sinne der subjektiv-teleologischen Auslegung zu präzisieren. Dem BVerfG fällt hierbei nicht die Rolle einer Art „Superrevisionsinstanz“ zu,64 sondern es ist lediglich zu prüfen, ob das Gewicht der die Gesetzesbindung tragenden Prinzipien verkannt wird. Den zweiten Kontrollmaßstab bildet das Gebot der Rechtmäßigkeit. Die Bindung des Zivilrichters an das „Recht“ gem. Art. 20 Abs. 3 GG verpfl ichtet diesen zu einer hinreichenden Begründung des Urteils. Hiergegen wird grundsätzlich verstoßen, wenn ein Urteil überhaupt keine Begründung enthält,65 diese in sich widersprüchlich ist66 oder als schlechthin abwegig und nicht mehr nachvollziehbar erscheint.67 Darüber hinaus sind in einem Urteil auch Präjudizien zu berücksichtigen. Diese begründen zwar keine Bindung im Sinne der „stare decisis“-Doktrin,68 doch trägt derjenige die Argumentationslast, der von einem Präjudiz abweichen will.69 Hierbei gilt es insbesondere, die objektive Verfestigung des Vertrauenstatbestandes (Länge der Präjudizienkette, Einstimmigkeit von Entscheidungen etc.) sowie die subjektive Schutzwürdigkeit des Rechtsunterworfenen zu berücksichtigen.70 Da das Präjudiz als sol61

S. auch näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (oben Fn. 21), S. 48 ff. BVerfGE 65, 182 ff. (2. Leitsatz). 63 BVerfGE 87, 273 ff. (280) m. w. N.; s. auch BVerfGE 113, 88 ff. (103): „Setzt sich die Auslegung in krassen Widerspruch zu allen zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit Ansprüche begründet, die keinerlei Grundlage im geltenden Recht fi nden, so beanspruchen die Gerichte Befugnisse, die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen sind.“ 64 Vgl. zuletzt BVerfG NJW 2007, 499 ff. (Rz. 75). 65 Vgl. BVerfGE 71, 122 ff. (136). 66 Vgl. BVerfGE 71, 202 ff. (205). 67 Vgl. BVerfGE 62, 189 ff. (192 ff.). 68 S. hierzu aus neuerer Zeit Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, S. 57 ff.; Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, 2008, S. 53 ff. 69 Vgl. BVerfGE 87, 273 ff. (278). 70 S. auch BVerfGE 78, 123 ff. (126 f.); Langenbucher, JZ 2003, 1132 ff. (1134 ff.); Krebs, AcP 195 (1995), 171 ff. (198 ff.). 62

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ches nicht bindet, ist Maßstab der Plausibilitätsprüfung jeweils Art. 20 Abs. 3 GG und nicht Art. 3 Abs. 1 GG.71 Dem BVerfG obliegt schließlich auch, die generelle Verfassungskonformität von zivilrechtlichen Entscheidungen zu kontrollieren. Ein Urteil ist dabei aufzuheben, wenn der Entscheidung eine verfassungswidrige Norm zugrunde liegt (also ein konkretes Normenkontrollverfahren gem. Art. 100 Abs. 1 GG nicht eingeleitet wurde). Das Gleiche gilt, wenn der Richter im „gesetzesfreien“ Bereich eine Norm heranzieht, die der Gesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfte.72 So ist beispielsweise ein zivilrechtliches Urteil zum Persönlichkeitsschutz aufzuheben, falls Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG ein anderes Ergebnis gebieten. Darüber hinaus liegt ein Verfassungsverstoß auch dann vor, wenn das Fachgericht das Gebot verfassungskonformer Auslegung insofern verletzt, als eine Grundrechtsrelevanz von vornherein verkannt oder ein an sich maßgebliches Grundrecht infolge unzureichender Verfassungsinterpretation im Rahmen des Entscheidungsprozesses nicht berücksichtigt wird.73 Das BVerfG ist hingegen nicht zu einer generellen Richtigkeitskontrolle von praeterlegal ergangenen Entscheidungen befugt. Zur Beurteilung privatrechtlicher Konfl ikte sind die Zivilgerichte in der Regel wesentlich besser geeignet als das BVerfG, da sie über eine ungleich größere Sachkenntnis und einen deutlich engeren Problembezug verfügen.74 Lediglich bei dem Schutz personaler Rechte mit starkem Bezug zur Menschenwürde sowie aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung kann ausnahmsweise dem BVerfG die Rolle als Rechtsfortbildungsinstanz zufallen.

III. Die menschenrechtliche Dimension Wechselt man den Blick von den rechtstheoretischen Grundlagen zu den materialen zivilrechtlichen Vorgaben der Verfassung, stehen zunächst die Menschenrechte im Vordergrund.

1. Die Inkorporation der Menschenrechte Im Anschluss und als Folge der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG bekennt sich das Deutsche Volk in Art. 1 Abs. 2 GG „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“. Diese Norm befi ndet sich im 1. Abschnitt des Grundgesetzes über „Die Grundrechte“ und lässt sich demnach schon systematisch nicht zu einer bloßen Präambel herabstufen.75 Die Formulierung des Art. 1 Abs. 2 GG bringt zum Ausdruck, dass die Menschen71 S. näher Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 106 ff.; a. A. Gusy, DÖV 1992, 461 ff. (467 ff.). 72 Vgl. BVerfGE 73, 261 ff. (269); Jarass/Pieroth, GG (oben Fn. 39), Vorb. vor Art. 1 Rn. 14. 73 Vgl. BVerfGE 43, 130 ff. (137 f.); ähnlich BVerfGE 85, 248 ff. (258) m. w. N.; s. auch Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn. 286 ff. 74 Vgl. auch Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 ff. (196); Oeter, AöR 119 (1994), 529 ff. (557). 75 A. A. Dreier/Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 2 Rn. 11; Isensee, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 81.

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rechte die verbindliche Basis des Bonner Grundgesetzes verkörpern und den in Abs. 1 normierten Schutz der Menschenwürde ausbuchstabieren. Dieser normtextuelle Befund wird durch die ebenso klare verfassungsgeberische Regelungsabsicht bestätigt. Die Bestimmung des Art. 1 Abs. 2 GG ist, auch wenn es sich hierbei um einen Gemeinplatz handeln mag, eine gesetzgeberische Reaktion auf den Holocaust. Wie die Verfassungsprotokolle allenthalben belegen und wie sich aus dem historischen Gesamtkontext erschließen lässt,76 sollen durch Art. 1 Abs. 2 GG die universellen Menschenrechte in das Grundgesetz integriert werden. Systematisch folgerichtig werden die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ daher zusätzlich noch durch die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG abgesichert. Gegen die Inkorporation der Menschenrechte durch Art. 1 Abs. 2 GG sprechen auch nicht die völkerrechtlichen Spezialbestimmungen gem. Art. 25, 59 Abs. 2 GG.77 Diese Vorschriften erfassen nur die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ sowie völkerrechtliche Verträge, nicht aber die speziellen menschenrechtlichen Standards und Minimalia.78 Letztere sind konsequenterweise bereits am Anfang des Grundrechtsabschnitts verankert – eine Rezeptionstechnik, die zahlreiche internationale Parallelen findet und zurück reicht bis zum IX. Amendment zur US-amerikanischen Verfassung aus dem Jahr 1791.79 Mit der Regelung des Art. 1 Abs. 2 GG korrespondiert die Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gem. Art 20 Abs. 3 GG. Diese Formel, die ebenfalls zahlreiche internationale Parallelen wie etwa in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV fi ndet, geht zurück auf einen Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses,80 der es mit den Worten von Thomas Dehler „zur besseren Kennzeichnung der Rechtsstaatlichkeit als der Grundlage des Grundgesetzes“81 für notwendig erachtete, die Judikative zusätzlich an das „Recht“ zu binden.82 Demgemäß erklärte das BVerfG wiederholt Gesetze aus der NS-Zeit für ex tunc nichtig83 und hebt in seiner ständigen Rechtsprechung hervor, dass „Recht und Gerechtigkeit nicht zur Disposition des Gesetzgebers (stehen)“, weil „gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland gelehrt (hat), daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann“84. Die verfassungsgeberische Differenzierung zwischen „Gesetz und Recht“ gem. Art. 20 Abs. 3 GG lässt sich auch nicht mit dem Hinweis auf Art. 97 Abs. 1 GG nivellieren, wonach die Richter „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen (sind)“.85 Diese Regelung ist eine Konsequenz aus den berüchtigten Richterbriefen und ande-

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S. nur die Präambel zur Bayerischen Verfassung: „Angesichts des Trümmerfeldes . . .“. A. A. Heinig, Der Sozialstaat der Freiheit, 2008, S. 414 ff. m. w. N. 78 S. für den unverzichtbaren Kernbereich auch Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand 2009, Art. 1 Abs. 2 Rn. 39; ferner v. Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Abs. 2 Rn. 44 („dynamische Verweisung“). 79 S. eingehend Häberle, Rechtstheorie 24 (1993), 397 ff. (401 f., 419 f.) m. w. N. 80 JöR 1 (1951), 199. 81 JöR 1 (1951), 200. 82 S. zur Entstehungsgeschichte des Art. 20 Abs. 3 GG auch näher Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 51 ff. 83 BVerfGE 54, 53 ff. (68 f.); 23, 98 ff. (105 ff.). 84 BVerfGE 23, 98 ff. (106) m. w. N.; s. ferner auch BVerfGE 95, 96 ff. (134 f.). 85 A. A. Jarass/Pieroth, GG (oben Fn. 39), Art. 20 Rn. 38; Merten, DVBl. 1975, 677 ff. (678, 680). 77

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ren Lenkungsmaßnahmen während der NS-Zeit86 und will demgemäß allein die sachliche Unabhängigkeit der Richter garantieren.87 Auch normhierarchisch geht Art. 20 Abs. 3 GG aufgrund der Einbindung in die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG der „einfachen“ Verfassungsnorm des Art. 97 Abs. 1 GG vor.88 Die notwendige Differenzierung zwischen „Gesetz und Recht“ gem. Art. 20 Abs. 3 GG wird überdies durch die Verfassungsprotokolle zur analogen Regelung des Art. 1 Abs. 2 GG bestätigt. Exemplarischen Charakter haben die Darlegungen des Abgeordneten Ludwig Bergsträßer, man habe „sagen wollen, daß die Grundrechte auf vorstaatlichen, von Natur gegebenen Rechten beruhen, zu denen als der Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft – nach Abs. 2 – das deutsche Volk sich ‚erneut‘ nach den bitteren Erfahrungen der Nazizeit bekenne.“89 Wie immer man zu den rechtsphilosophischen Annahmen dieses Satzes stehen mag – de constitutione lata gilt: Gesetze mit typisch nationalsozialistischem oder ähnlichem Inhalt sind kein „Recht“ im Sinne des Grundgesetzes. In der weiteren Folge bedarf es lediglich eines induktiven Rückschlusses auf jene generellen Grundsätze, die vor und nach der NS-Zeit Gültigkeit besaßen und sich in Form der allgemeinen Menschenrechte etablierten.90 Bezeichnenderweise diente auch den Verfassungsautoren vor allem die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte vom 10. 12. 1948 als Leitbild.91 Zusätzliche Konkretisierungshilfen92 bilden etwa die Internationalen Pakte über „bürgerliche und politische Rechte“93 sowie über „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“,94 die Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 95 und Diskriminierung der Frau,96 die Übereinkommen über die Rechte des Kindes97 und von Menschen mit Behinderungen,98 die Europäische Grundrechtecharta, die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten99 oder die Europäische Sozialcharta.100 Ein Vergleich mit ausländischen Verfassungen, der Weimarer Reichsverfassung oder Landesverfassungen kann ebenfalls weiterführend sein. Ferner kann sich die Essenz der Menschenrechte vor allem auch teleologisch im Hinblick auf das Ziel der Frei86

S. zu diesen näher Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940 (oben Fn. 18), S. 1091 ff. Vgl. auch R. Schmidt, FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 1353 ff. (1360); Maihofer, Annales Universitatis Saraviensis VIII (1960), 5 ff. (6 ff.). 88 Vgl. nur H. Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 35; Hirsch, JZ 2007, 853 ff. (854) m. w. N. 89 JöR 1 (1951), 48; ähnlich Adolf Süsterhenn, JöR 1 (1951), 52. 90 S. näher Neuner, Die Rechtsfi ndung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 16 ff.; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht (oben Fn. 82), S. 163 ff.; vgl. ferner auch Riedel, Menschenrechte als Gruppenrechte auf der Grundlage kollektiver Unrechtserfahrungen, in: ders., Die Universalität der Menschenrechte, 2003, S. 363 ff. (374 ff.). 91 S. nur JöR 1 (1951), 50, 58; vgl. zudem auch v. Mangoldt, DÖV 1949, 261 ff. (261). 92 S. zum universellen sowie regionalen Menschenrechtsschutz auch Buergenthal/Thürer, Menschenrechte, 2010, S. 23 ff., 187 ff. m. w. N. 93 BGBl. 1973 II, S. 1533 ff. 94 BGBl. 1973 II, S. 1569 ff. 95 BGBl. 1969 II, S. 961 ff. 96 BGBl. 1985 II, S. 647 ff. 97 BGBl. 1992 II, S. 121 ff. 98 BGBl. 2008 II, S. 1419 ff. 99 BGBl. 1952 II, S. 685 ff. 100 BGBl. 2001 II, S. 970 f.; 1964 II, S. 1261 ff. 87

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heitssicherung und des Menschenwürdeschutzes näher erschließen.101 Von einem „diffusen Bild“102 kann deshalb schwerlich gesprochen werden, zumindest nicht in Abgrenzung zu den Grundrechten.

2. Die Funktionen der Menschenrechte Die Menschenrechte entfalten lediglich in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen eine Korrektivfunktion. Sie stellen die Gesetzesbindung im Grundsatz nicht in Frage, sondern fordern sie prinzipiell ein. Die Verfassungsgeber haben sich durch die Abkehr von einem positivistischen Rechtsverständnis auch lediglich versprochen, „einer Revolution die Maske der Legalität zu nehmen“.103 Und dennoch gilt, was das BVerfG noch über 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zutreffend betont: „Über Art. 1 Abs. 2 (. . .) rezipiert das Grundgesetz auch die graduelle Anerkennung der Existenz zwingender, also der Disposition der Staaten im Einzelfall entzogener Normen (ius cogens). (. . .). Dies betrifft insbesondere Normen über (. . .) grundlegende Menschenrechte.“104 Die Menschenrechte erfüllen darüber hinaus eine komplementäre Funktion. Sie haben die Aufgabe, Regelungsdefizite des nationalen Normsetzers zu kompensieren. Eine menschenrechtskonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung ist dabei nicht auf das Verfassungsrecht begrenzt, sondern kann auch auf der subkonstitutionellen Ebene des Privatrechts geboten sein.105 So war beispielsweise schon vor Erlass des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006 ein zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz vor allem in Bezug auf die international besonders verpönten Merkmale der „Rasse“ und des Geschlechts indiziert.106 Auch die Komplementärfunktion legitimiert allerdings zu keiner freirechtlichen Handhabung der Grundrechte oder Privatrechtsnormen, sondern setzt Regelungslücken und eine entsprechend differenzierte Begründung voraus. Vor diesem methodologischen und verfassungsrechtlichen Hintergrund überzeugt es nicht, wenn den Menschenrechten von Teilen der staatsrechtlichen Literatur nur eine „moralische Bindungskraft“ attestiert wird.107 Das damit einhergehende Bedenken, dass sich die „‚Menschenrechtsrechtsphilosophie des Art. 1 Abs. 2 GG‘ nicht zur Lösung grundrechtsdogmatischer Probleme (eigne)“108, bringt das entsprechende Vorverständnis zum Ausdruck: Die Verfassung muss sich in die Grundrechtsdogmatik ihres jeweiligen „Interpreten“ einfügen. Übernimmt man stattdessen das Popper’sche Falsifi kationsmodell und spricht Aussagen über gesetzliche Normen die 101 S. zur Interpretation der Menschenrechte auch Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 6 ff. m. w. N. 102 Isensee, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II (oben Fn. 75), § 26 Rn. 87. 103 JöR 1 (1951), 586. 104 BVerfGE 112, 1 ff. (27 f.). 105 S. dazu auch Courtis, Die Wirkung der Menschenrechte auf Privatrechtsverhältnisse, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, S. 57 ff.; Clapham, Human Rights in the Privat Sphere, 1993. 106 S. näher Neuner, JZ 2003, 57 ff. (59 f.). 107 S. etwa Merten, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 73 Rn. 34. 108 Merten, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte (oben Fn. 107), § 73 Rn. 34.

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Funktion von „Basissätzen“ zu, gilt umgekehrt: Eine Grundrechtstheorie ist dann falsifiziert, wenn sie mit einer Vorschrift der Verfassung unvereinbar ist.109

IV. Zum Vorrang der Grundrechte Das Verhältnis der Verfassung zum Privatrecht wird zu einem Konkurrenz- und Vorrangproblem, weil und sofern beide Rechtsmaterien eine Schnittmenge aufweisen. Ein gemeinsamer Regelungsgegenstand wird zwar vereinzelt verneint,110 doch regelt die Verfassung partiell und parallel zu den einfachgesetzlichen Zivilrechtsnormen auch die Beziehungen der Privatrechtsakteure untereinander. Eine solche Wirkkraft entfaltet vor allem die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG. Darüber hinaus ist der Status des Einzelnen als Privatrechtsakteur nicht voraussetzungslos, sondern von staatlichen Gewährleistungen abhängig. Selbst wenn man der Privatautonomie einen apriorischen, dem positiven Recht vorausgehenden Charakter zuspricht, wird sie erst effektiv durch die Anerkennung und Ausgestaltung der Rechtsordnung.111 Diese Interdependenz stellt die prinzipielle Eigenständigkeit des Privatrechts nicht in Frage, doch zeigt sie auf, dass die Verfassung und das Privatrecht keine völlig autarken Systeme bilden. Eine Vorrangbestimmung ist daher unausweichlich.112

1. Die umfassende Wirkkraft der Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG besagt, dass die Menschenwürde „unantastbar“ ist, also von niemandem, auch nicht von Privatrechtsakteuren, verletzt werden darf. Peter Häberle spricht deshalb zutreffend von einer „‚Strukturnorm‘ für Staat und Gesellschaft“113.

a) Die Bindung der Staatsgewalten Nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG haben die staatlichen Gewalten die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen. Eine solche Schutzpfl icht besteht beispielsweise im Privatrecht zugunsten von Kindern, die prinzipiell ein Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung haben. Das BVerfG spricht den Gerichten bei der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte des Kindes und der Mutter im Rahmen 109

S. näher Canaris, JZ 1993, 377 ff. (385 ff.). S. dazu auch Isensee, FS Großfeld, 1999, S. 485 ff. (492) m. w. N. 111 Vgl. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 165 ff.; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 6 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 39 f. 112 S. auch Neuner, in: ders., Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 159 ff. (164 ff.). 113 Häberle, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 22 Rn. 59; zustimmend H. Hofmann, AöR 118 (1993), 353 ff. (370 f. mit Fn. 88). 110

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der Generalklausel des § 1618 a BGB einen weiten Spielraum zu.114 Der gebotene Mindestschutz zugunsten des Kindes wäre jedoch unterschritten, sofern der Gesetzgeber oder die Gerichte es als rechtmäßig erachten würden, dass eine Abwägung a priori verhindert wird, indem etwa bei einer heterologen Insemination die Person des Samenspenders undokumentiert bleibt.115 Dieses Ergebnis findet zudem in Art. 7 Abs. 1 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes eine Bestätigung, der besagt, dass ein Kind „soweit möglich das Recht (hat), seine Eltern zu kennen“.116

b) Die Bindung der Privatrechtsakteure Sämtliche traditionellen Auslegungscanones belegen, dass neben den Staatsgewalten auch die Privatrechtsakteure an Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG gebunden sind:117 Die Kennzeichnung der Menschenwürde als „unantastbar“, der Umkehrschluss zu Art. 1 Abs. 3 GG (lediglich die „nachfolgenden Grundrechte“ binden allein die Staatsgewalten) sowie die Unabänderbarkeit gem. Art. 79 Abs. 3 GG sind erste Belege. Entstehungsgeschichtlich kommt hinzu, dass Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur eine Antwort auf den NS-Staatsterror geben will, sondern auch auf die Exzesse einer ungebändigten „Privatrechtsgesellschaft“. Exemplarisch in Erinnerung zu rufen sind nur die judenfeindlichen Boykotte der Wirtschaft sowie die sanktionslosen118 Verwüstungen in der Reichspogromnacht. Bereits im „Darstellenden Teil“ des „Herrenchiemsee-Berichts“ heißt es deshalb expressis verbis: „Art. 1 soll auch Privatpersonen verpfl ichten.“119 Zur Verdeutlichung wird im nächsten Satz sogleich das Beispiel der „Arbeiterversklavung“ durch einen privaten Unternehmer angeführt. Objektiv macht es für die betroffenen Arbeitnehmer ebenfalls keinen Unterschied, ob ihre fundamentalen Schutzrechte von staatlichen oder privaten Unternehmen missachtet werden. Insgesamt kann somit auch in Bezug auf die unmittelbare Drittwirkung von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG von keiner „Offenheit“ des Grundgesetzes die Rede sein.

c) Die Bindung des Grundrechtsträgers Zum Kernbestand der Menschenwürde gehört das Recht auf Selbstbestimmung, das zivilrechtlich in Form der Privatautonomie zur Geltung gelangt. Man versteht darunter die Freiheit, Privatrechtsverhältnisse nach eigenem Willen begründen und ausgestalten zu können, ohne Präferenzen rechtfertigen zu müssen.119a Wie andere 114

BVerfGE 96, 56 ff. (2. Leitsatz); zustimmend Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 63. Vgl. Starck, JZ 1989, 338 f. (338 f.); Zimmermann, FamRZ 1981, 929 ff. (932 ff.). 116 BGBl. 1992 II, S. 121 ff. (125). 117 S. auch näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (oben Fn. 21), S. 150 ff. 118 Verpfl ichtet wurden stattdessen die Geschädigten durch die „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben“ v. 12. 11. 1938, RGBl. 1938 I, S. 1581. 119 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, S. 21; vgl. auch JöR 1 (1951), 51. 119a Vgl. auch BVerfGE 72, 155 ff. (170); Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, § 1,1; zur grundrechtlichen Verankerung s. näher Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 11 ff.; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 18 ff. 115

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Fundamentalgrundsätze ist aber auch die Privatautonomie kein Absolutum, sondern ein Rechtsprinzip, das seinen Sinn erst aus dem Zusammenspiel mit konkurrierenden Prinzipien voll entfaltet. Zu diesen gegenläufigen Grundsätzen zählen seit dem Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 soziale Mindeststandards, die auch einen paternalistischen Schutz mit umfassen.120 Systemkonform zu diesen einfachgesetzlichen Einschränkungen erklärt Art. 1 Abs. 2 GG die Menschenrechte für „unveräußerlich“ und setzt damit dem Rechtsträger ebenfalls äußerste Grenzen. Eine erste unverfügbare Grenze besteht darin, dass die Perspektive auf eine Veränderung der Lebensbedingungen121 nicht gänzlich verloren gehen darf.122 So kann sich der Einzelne zwar durch Dauerschuldverhältnisse selbstbestimmt in starke und lang andauernde Abhängigkeiten begeben, doch müssen diese irgendwann auch wieder auf hebbar sein. Zeitlich übermäßige, im Laufe der Zeit unverhältnismäßig belastende oder sogar ewige Bindungen sind daher unwirksam.123 Auch eine Generaloder Vorsorgevollmacht kann nicht unwiderrufl ich erteilt werden.124 Ein weiteres gesetzliches Beispiel bildet § 311 b Abs. 2 BGB: „Ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpfl ichtet, sein künftiges Vermögen (. . .) zu übertragen (. . .), ist nichtig.“ Während diese Schranke den Faktor Zeit berücksichtigt und vor allem die Reversibilität von Abhängigkeitsverhältnissen offen halten will, gibt es bestimmte Rechtsgüter, die von vornherein jeder rechtsgeschäftlichen Disposition entzogen sind. Dies gilt etwa für das Verbot der Veräußerung von Körperorganen gem. § 17 TPG i. V. m. § 134 BGB sowie nach h. M. für die Leihmutterschaft,125 deren Vermittlung gem. § 13 c Adoptionsvermittlungsgesetz untersagt ist. Die eigene Rechtsfähigkeit kann man ebenfalls nicht aufgeben, und zwar weder im Rahmen eines „Armutsgelübdes“126 noch im Wege eines freiwilligen „Versklavungsvertrags“.127 Auch beispielsweise einer Totalüberwachung am Arbeitsplatz kann man nicht wirksam zustimmen.128

2. Die Bindungswirkung der Grundrechte gem. Art. 2 ff. GG Normhierarchisch steht die Verfassung, insbesondere der Grundrechtskatalog, über den einfachen privatrechtlichen Gesetzen. Diese Vorrangstellung folgt direkt oder zumindest indirekt aus Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3, Art. 79, Art. 100 Abs. 1

120

S. näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (oben Fn. 21), S. 286 f. m. umf. N. S. hierzu auch Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (oben Fn. 21), S. 104 ff. 122 Vgl. auch BVerfGE 64, 261 ff. (272); 45, 187 ff. (245) jeweils zur lebenslangen Freiheitsstrafe. 123 Vgl. nur Flume, Allgemeiner Teil (oben Fn. 119a), § 18, 2, b, dd; Friedmann, Recht und sozialer Wandel, 1969, S. 102 f. 124 Vgl. nur Flume, Allgemeiner Teil (oben Fn. 119a), § 53,3; Berger, JZ 2000, 797 ff. (803). 125 Vgl. Armbrüster, in: Münchener Kommentar BGB, 5. Aufl. 2006, § 138 Rn. 66 m. w. N. 126 Vgl. Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2. Aufl. 2006, Rn. 154 m. Fn. 3. 127 Vgl. Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 364 m. w. N. 128 Vgl. nur BAG NZA 2008, 1187 ff. (1189 ff.); BAGE 111, 173 ff. (175 ff.); Singer, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 245 ff. (261). 121

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GG.129 Sie ergibt sich zudem aus dem Sinn und Zweck der Verfassung als einem Akt fundamental-demokratischer Selbstbindung.

a) Die Bindung der Staatsgewalten Entsprechend ihrem normhierarchischen Vorrang entfalten die Grundrechte gem. Art. 2 ff. GG eine Bindungswirkung gegenüber sämtlichen Staatsgewalten. Bereits die Verfassungsautoren hatten die Absicht, „die Grundrechte so zu formulieren, daß sie, wie Abs. 3 des Artikels 1 dann auch zum Ausdruck gebracht hat, als unmittelbar geltendes Recht angesehen werden können, das sowohl die Gesetzgebung wie Verwaltung und Rechtsprechung, und zwar sowohl des Bundes als auch der Länder in gleicher Weise bindet.“130 Diese Bindungswirkung erfasst nach ganz herrschender und zutreffender Ansicht den Privatrechtsgesetzgeber und damit a fortiori auch die Privatrechtsjudikatur.131 Für eine teleologische Reduktion von Art. 1 Abs. 3 GG besteht kein Raum, zumal es wertungsmäßig keinen entscheidenden Unterschied macht, ob in Grundrechtspositionen durch öffentlichrechtliche Normen (z. B. nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz) oder durch privatrechtliche Normen (z. B. nach den nachbarrechtlichen Bestimmungen gem. §§ 906 ff. BGB) eingegriffen wird.132

b) Die Ungebundenheit der Privatrechtsakteure Wie sich bereits e contrario zu Art. 1 Abs. 3 GG sowie aus einem weiteren Umkehrschluss zur drittwirkenden Regelung des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt, sind die Akteure des Privatrechts in der Regel nicht an die Grundrechte gebunden. Die Verfassungsautoren intendierten lediglich eine Bindung der Privatrechtssubjekte an den Kern der Menschenrechte, nicht aber an die Grundrechte im Allgemeinen. Eine umfassende Bindung wäre auch unverhältnismäßig und würde die Privatautonomie massiv einschränken. Allein schon eine Bindung der Privatrechtsakteure an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG hätte gravierende Auswirkungen auf die negative Abschlussfreiheit und die Pluralität des Marktes. Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte wird deshalb von der ganz überwiegenden Meinung

129

Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 203 ff.; Wahl, Der Staat 20 (1981), 319 ff. (333 ff.); Isensee, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte (oben Fn. 75), § 26 Rn. 42 m. w. N. 130 v. Mangoldt, Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 5. 131 Vgl. BVerfGE 81, 242 ff. (253); 63, 181 ff. (195); Schwabe, AöR 100 (1975), 442 ff. (442 ff.); Hesse, Verfassungsrecht, 20. Aufl. 1999, Rn. 355; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 (oben Fn. 41), § 76 IV 3 m. w. N.; a. A. Zöllner, AcP 196 (1996), 1 ff. (7 ff.); Herzog, JR 1969, 441 ff. (443). 132 Vgl. auch Canaris, JZ 1987, 993 ff. (993); Pietzcker, FS Dürig, 1990, S. 345 ff. (350); Dreier, Jura, 1994, 505 ff. (510).

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abgelehnt.133 Nur vereinzelt wurde vom BAG134 sowie von einigen Autoren135 (in zumeist abgeschwächter Form136) eine gegenteilige Ansicht vertreten. Auch die sog. etatistische Konvergenztheorie, die privates Handeln im Rahmen der Rechtsordnung dem Staat zurechnet137 und deshalb die potentielle Drittwirkung der Grundrechte zum Scheinproblem erklärt,138 konnte sich nicht durchsetzen.139 Sie nivelliert die Unterscheidung zwischen staatlicher und privater Verantwortung und ist vor allem mit der Idee der Privatautonomie als einer originären Kompetenz zur Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse nicht vereinbar.

V. Zur Einwirkung der Grundrechte140 Untersucht man in der weiteren Folge die konkreten Einwirkungen der Grundrechte auf das Privatrecht bieten sich zwei Darstellungsformen an: Zunächst eine primär deskriptive Rekonstruktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung und sodann eine knappe dogmatische Analyse der strukturprägenden grundgesetzlichen Vorgaben.

133 Vgl. nur Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 176 ff.; Guckelberger, JuS 2003, 1151 ff. (1153); Rüfner, GS Martens, 1987, S. 215 ff. (219); Canaris, Grundrechte und Privatrecht (oben Fn. 114), S. 11 ff. m. w. N. 134 BAGE 1, 185 ff. (191 ff.); 4, 274 ff. (276 ff.). 135 Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 356 ff.; Nipperdey, FS Molitor, 1962, S. 17 ff.; Lücke, JZ 1999, 377 ff. (378 f. unter Berufung auf Art. 19 Abs. 3 GG). 136 Differenzierende und abgeschwächte Lösungen werden naheliegenderweise auch in Ländern vertreten, deren Verfassungswortlaut eine „unmittelbare Drittwirkung“ impliziert; vgl. etwa Sarlet, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 81 ff. (91 ff.) zu Art. 5 § 1 der brasilianischen Verfassung, der lautet: „Die defi nitorischen Grundrechtsnormen und -garantien werden unmittelbar angewandt.“; Mota Pinto, in: Neuner, a. a. O., S. 105 ff. (107 ff.) zu Art. 18 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung: „Die Verfassungsbestimmungen über die Rechte, Freiheiten und Garantien fi nden unmittelbare Anwendung und sind für öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Einrichtungen verbindlich.“ 137 Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 14 ff., 26 ff., 62 ff.; ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213 ff. 138 Schwabe, AöR 100 (1975), 442 ff. (470). 139 Vgl. nur Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff. (217 ff., 218: „Der Satz ‚ita ius esto‘ wird von den Parteien des Rechtsgeschäfts ausgesprochen“); ders., AcP 185 (1985), 9 ff. (Erwiderung auf Schwabe, AcP 185 (1985), 1 ff.); Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 (oben Fn. 41), § 76 III 1; Pietzcker, FS Dürig, 1990, S. 345 ff. (347 ff.); Guckelberger, JuS 2003, 1151 ff. (1152). 140 Die Problematik ist mittlerweile auch international ein Schwerpunktthema: s. etwa zum japanischen Recht Yamamoto, FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 897 ff.; zum griechischen Recht Doris, FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 535 ff.; zum schweizerischen Recht Egli, Drittwirkung von Grundrechten, 2002; Seedorf, Die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht in Südafrika, 2005; zum brasilianischen Recht Sarlet, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 81 ff.; zum portugiesischen Recht Mota Pinto, in: Neuner, a. a. O., S. 105 ff.; zum spanischen Recht Ubillos, in: Neuner, a. a. O., S. 119 ff.; zum ungarischen Recht Halmai, in: Sajó/Uitz, The Constitution in Private Relations: Expanding Constitutionalism, 2005, S. 99 ff.; zum französischen Recht Troper, in: Sajó/Uitz, a. a. O., S. 115 ff.; zur US-amerikanischen state-action-doctrine Giegerich, Privatwirkung der Grundrechte in den USA, 1992; zur Drittwirkung der Grundfreiheiten im Gemeinschaftsrecht Herresthal, in: Neuner, a. a. O., S. 177 ff.

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1. Entwicklungslinien Bereits im 1. Band der amtlichen Sammlung141 erläutert das BVerfG die Eigentumsgarantie sowie die Wechselwirkungen zwischen der Verfassung und dem einfachen Gesetz: „Art. 14 GG schützt das Rechtsinstitut des Eigentums, so wie es das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt haben.“142 Demnach wird von Art. 14 GG insbesondere nicht das Vermögen als solches erfasst.143 Weitere Entscheidungen befassen sich vor allem mit den Gleichheitssätzen des Art. 3 GG144 sowie mit Art. 6 GG.145 Zu Art. 6 Abs. 1 GG hebt das BVerfG hervor, dass es „nicht nur ein ‚klassisches Grundrecht‘ zum Schutze der spezifischen Privatsphäre von Ehe und Familie sowie Institutsgarantie (ist), sondern darüber hinaus zugleich eine Grundsatznorm, das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.“146

a) Die Ära nach dem „Lüth-Urteil“ im Jahr 1958 Die erste strukturprägende Entscheidung für das gesamte Privatrecht bildet das im Jahr 1958 ergangene „Lüth-Urteil“147. Gegenstand der Entscheidung war ein Aufruf des Vorsitzenden des Hamburger Presseklubs Erich Lüth zum Boykott des Films „Unsterbliche Geliebte“ des Regisseurs Veit Harlan, der während der NS-Zeit unter anderem den Film „Jud Süß“ gedreht hatte. Das Zivilgericht wertete diesen Boykottaufruf als sittenwidrige Schädigung gem. § 826 BGB. Das BVerfG hob das Urteil wegen Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers Lüth auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auf. Bereits in den ersten Leitsätzen wird ausgeführt, dass die Grundrechte zwar in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind, doch verkörpern sie „auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. (. . .) Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt.“148 Das BVerfG folgte damit grundrechtsdogmatisch der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung, zu deren Hauptrepräsentanten Günter Dürig zählte.149 141 Die folgende Darstellung beschränkt sich vorwiegend auf exemplarische Urteile, die in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckt sind; s. ergänzend auch den Überblick bei Krause JZ 1984, 656 ff., 711 ff., 828 ff. 142 BVerfGE 1, 264 ff. (4. Leitsatz). 143 BVerfGE 4, 7 ff. (4. Leitsatz). 144 S. z. B. BVerfGE 4, 7 ff. (19 ff.); 5, 9 ff. (21 f.). 145 Zu Art. 9 GG (Schutz der Koalition als solcher) s. bereits oben Fn. 42. 146 BVerfGE 6, 55 ff. (5. Leitsatz). 147 BVerfGE 7, 198 ff. 148 BVerfGE 7, 198 ff. (Leitsätze 1 bis 3). 149 S. vor allem Dürig, FS Nawiasky, 1956, 157 ff. (176 ff.).

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Die Lehre von der sog. Ausstrahlungs- oder mittelbaren Drittwirkung verfestigte sich fortan in der Rechtsprechung des BVerfG150 und wurde ähnlich wie im LüthUrteil immer wieder zur Bestimmung der Reichweite und Wirkkraft des Art. 5 GG herangezogen. Beispielhaft hervorzuheben sind die „Blinkfüer-Entscheidung“ (Aufruf zum Boykott eines Presseunternehmens),151 die „Mephisto-Entscheidung“ (Verbot der Veröffentlichung des Buchs von Klaus Mann „Mephisto – Roman einer Karriere“)152 sowie das „Lebach-Urteil“ (Untersagung der Ausstrahlung des Dokumentarfi lms „Der Soldatenmord von Lebach“).153 Die Grenzen der Meinungsfreiheit wurden ferner in Bezug auf Wahlwerbung in Betrieben,154 politische Auseinandersetzungen,155 unrichtige Zitate („Heinrich Böll“),156 herabsetzende Kritik,157 Undercover-Journalismus („Günther Wallraff “)158 sowie beleidigende Karikaturen („Franz Josef Strauß“)159 bestimmt. Mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit ist regelmäßig der Persönlichkeitsschutz nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abzuwägen, der deliktsrechtlich primär durch die §§ 823, 1004 BGB gewährleistet wird. Das BVerfG entschied in dem „Soraya-Beschluss“, dass die zivilgerichtliche Rechtsprechung, nach der bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Anspruch auf immateriellen Schadensersatz besteht, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.160 In einer weiteren deliktsrechtlichen Entscheidung stellte das BVerfG fest, dass die Haftung eines Sachverständigen durch die Gerichte nicht dahingehend eingeschränkt werden darf, dass dieser selbst für die Folgen einer grob fahrlässigen Falschbegutachtung nicht einzustehen hat (vgl. jetzt § 839 a BGB).161 Ferner wurde judiziert, dass bei einem ärztlichen Kunstfehler eine Beweislastumkehr zulasten des Arztes nicht von der Verfassung gefordert wird.162 Der Schutz des Eigentums gem. Art. 14 Abs. 1 GG wurde zunächst in der „Feldmühle-Entscheidung“ (betreffend die Umwandlung von Kapitalgesellschaften) näher bestimmt.163 Weitere Entscheidungen betrafen § 9 GrdstVG (zur ungesunden Bodenverteilung).164 Ferner wurde das Urheberrecht als Nutzungsrecht unter die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG subsumiert.165 Eine Zwangsversteigerung zum Schleuderpreis wurde als Verletzung der Eigentumsgarantie erachtet.166 Auch der weitgehende Ausschluss der Kündigungsbefugnis privater Verpächter von Klein150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166

Vgl. nur BVerfGE 73, 261 ff. (269); 42, 143 ff. (148). BVerfGE 25, 256 ff. BVerfGE 30, 173 ff. BVerfGE 35, 202 ff. BVerfGE 42, 133 ff. BVerfGE 42, 163 ff.; s. auch BVerfGE 61, 1 ff. BVerfGE 54, 208 ff.; s. auch BVerfGE 54, 148 ff. BVerfGE 60, 234 ff. BVerfGE 66, 116 ff. BVerfGE 75, 369 ff. BVerfGE 34, 269 ff. (mit grundlegenden Ausführungen zur Rechtsfortbildung). BVerfGE 49, 304 ff. BVerfGE 52, 131 ff. BVerfGE 14, 263 ff. BVerfGE 21, 73 ff.; 21, 92 ff.; 21, 99 ff.; 21, 306 ff. BVerfGE 31, 229 ff.; s. auch BVerfGE 31, 275 ff. BVerfGE 46, 325 ff.

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gartenland wurde als verfassungswidrig angesehen.167 Im Einklang mit dem Grundgesetz steht hingegen nach Ansicht des BVerfG, dass das Wasserhaushaltsgesetz das unterirdische Wasser zur Sicherung einer funktionsfähigen Wasserbewirtschaftung einer vom Grundstückseigentum getrennten öffentlich-rechtlichen Benutzungsordnung unterstellt.168 Die Eigentumsgarantie wurde ferner in mehreren Entscheidungen speziell unter dem Aspekt des Mieterschutzes näher bestimmt. So kann der Hauseigentümer eine Wahlwerbung des Mieters an der Außenwand der Mietwohnung mit einer Unterlassungsklage gem. § 1004 BGB abwehren.169 Mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist andererseits vereinbar, dass der Gesetzgeber das Kündigungsrecht des Vermieters von Wohnraum von einem berechtigten Interesse abhängig macht170 und Erhöhungen des Mietzinses nur um höchstens 30% zulässt.171 Die wohl größte Zahl der Entscheidungen erging zum Familienrecht. Das BVerfG erklärte verschiedene Vorschriften zur elterlichen Sorge,172 zur Vaterschaft,173 zu den Rechten unehelicher Kinder,174 zum Adoptionsrecht,175 zum Ehe- und Familiennamen,176 zur Schlüsselgewalt,177 zum Unterhaltsrecht178 sowie zum Scheidungsrecht179 für verfassungskonform. Teilweise wurden Vorschriften zum Ehe- und Familiennamen,180 zur Benachteiligung der Ehe im Konkurs,181 zu Eheverboten,182 zum Scheidungsrecht,183 zu den Rechten unehelicher Kinder184 sowie zur elterlichen Sorge185 aber auch für verfassungswidrig erklärt. Auch in zahlreichen weiteren Entscheidungen, wie etwa zur Eheschließungsfreiheit,186 zur Pflegschaftsbestellung187 oder zur Witwenrente,188 stand die Auslegung von Art. 6 GG im Vordergrund.189 167 168 169 170 171

BVerfGE 52, 1 ff. BVerfGE 58, 300 ff. BVerfGE 7, 230 ff. BVerfGE 68, 361 ff.; s. zur Wohnraumkündigung ferner BVerfGE 79, 283 ff.; 79, 292 ff.; 81, 29 ff. BVerfGE 71, 230 ff.; s. zu den Anforderungen an ein Mieterhöhungsverlangen auch BVerfGE 79,

80 ff. 172 BVerfGE 31, 194 ff.; 55, 171 ff.; 56, 363 ff.; 64, 180 ff.; 68, 176 ff.; 75, 201 ff. und 79, 51 ff. ( jeweils zur verfassungskonformen Auslegung von § 1632 Abs. 4 BGB). 173 BVerfGE 38, 241 ff. 174 BVerfGE 8, 210 ff.; 17, 280 ff.; 26, 44 ff.; 26, 206 ff. und 26, 265 ff. ( jeweils zur verfassungskonformen Auslegung von mittlerweile aufgehobenen Vorschriften); 44, 1 ff.; 58, 377 ff. 175 BVerfGE 24, 119 ff. 176 BVerfGE 17, 168 ff.; 19, 177 ff.; 78, 38 ff. 177 BVerfGE 81, 1 ff. 178 BVerfGE 22, 93 ff.; 57, 361 ff.; 66, 84 ff.; 68, 256 ff. 179 BVerfGE 53, 224 ff.; 53, 257 ff.; 60, 329 ff. 180 BVerfGE 19, 177 ff.; 48, 327 ff. 181 BVerfGE 24, 104 ff. 182 BVerfGE 36, 146 ff. (zum Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft). 183 BVerfGE 55, 134 ff.; 57, 361 ff. ( jeweils zur Berücksichtigung außergewöhnlicher Härten); 63, 88 ff., 71, 354 ff. ( jeweils zur ausnahmslosen Anordnung des Versorgungsausgleichs). 184 BVerfGE 25, 167 ff. (zur Anrechnung einer Waisenrente). 185 BVerfGE 61, 358 ff. (zur zwingenden Übertragung auf ein Elternteil). 186 BVerfGE 31, 58 ff. 187 BVerfGE 33, 236 ff. 188 BVerfGE 62, 323 ff. 189 Vgl. ferner BVerfGE 11, 64 ff.; 34, 165 ff.; zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung s. bereits oben bei Fn. 114 ff.

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Speziell der Mutterschutz in Arbeitsverhältnissen gem. Art. 6 Abs. 4 GG wurde unter den Aspekten der Mitteilungspfl icht190 sowie der Lohnfortzahlung191 thematisiert. Generell zum Arbeitsrecht ergingen Entscheidungen namentlich zu den Voraussetzungen von unbefristeten Arbeitsverhältnissen,192 zur verfassungswidrigen Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten193 sowie zur Auslegung von Sozialplänen.194 Schließlich gab es unter anderem Entscheidungen zur Verfassungskonformität einzelner zivilrechtlicher Normen (§ 656 BGB Ausschluss der Klagbarkeit des Ehemäklerlohns,195 § 1357 Abs. 1 BGB „Schlüsselgewalt“,196 §§ 12, 13 Höfeordnung197), zur Auslegung des Gleichheitssatzes,198 zur Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts,199 zur Rückwirkung von Gesetzen 200 sowie zum rechtlichen Gehör.201

b) Die Ära nach der „Handelsvertreter-Entscheidung“ im Jahr 1990 Die zweite strukturprägende Entscheidung für das Privatrecht verkörpert der „Handelsvertreter-Beschluss“202 aus dem Jahr 1990. In diesem leading case zur Karenzentschädigung von Handelsvertretern wurde jene Schutzpfl ichtenlehre dem Grunde nach übernommen, die für das Privatrecht vor allem Claus-Wilhelm Canaris entwickelt hatte.203 Zugleich hob das BVerfG hervor, dass „der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung“ sich auch auf „Fälle gestörter Vertragsparität“ bezieht.204 Damit war eine „neue“ Grundrechtsfunktion für das Privatrecht höchstrichterlich aktiviert, die zugleich dem Schutz des „Schwächeren“ im Vertragsrecht diente. Die Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Schutzpfl ichten wurde im „Bürgschafts-Beschluss“ fortgeführt.205 Das BVerfG betonte in dieser Entscheidung, dass den Zivilgerichten ganz generell die Pfl icht zur Inhaltskontrolle von Verträgen obliegt, „die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind.“206 In der weiteren Folge wurden 190

BVerfGE 32, 273 ff.; 52, 357 ff.; 55, 154 ff. BVerfGE 37, 121 ff. 192 BVerfGE 59, 231 ff. (Rundfunkanstalten). 193 BVerfGE 62, 256 ff. (Kündigungsfristen). 194 BVerfGE 73, 261 ff. 195 BVerfGE 20, 31 ff. 196 BVerfGE 81, 1 ff. 197 BVerfGE 67, 329 ff. 198 BVerfGE 9, 201 ff.; 56, 139 ff.; 58, 163 ff. 199 BVerfGE 7, 342 ff. (Urlaubsgesetz); 45, 297 ff. (Enteignung); s. auch Krause, JZ 1984, 656 ff. (661 ff.) m. w. N. 200 BVerfGE 25, 371 ff.; 31, 222 ff.; 45, 142 ff.; 77, 370 ff. 201 BVerfGE 60, 7 ff.; 60, 305 ff.; 63, 177 ff. 202 BVerfGE 81, 242 ff. 203 Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff. 204 BVerfGE 81, 242 ff. (256). 205 S. zur Entwicklung der Rechtsprechung auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 146 ff.; ders., JZ 2009, 389 ff. m. w. N. 206 BVerfGE 89, 214 ff. (Leitsatz). 191

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neben Bürgschaftsverträgen namentlich auch Ehe-207 und Versicherungsverträge208 einer Inhaltskontrolle unterzogen. Neben dem „neuen“ Erklärungsmodell der Grundrechte als Schutzpfl ichten ist dogmatisch kennzeichnend, dass die Rechtsprechung die Art. 2 ff. GG nicht allein in einem liberal-abwehrrechtlichen Sinn versteht. Bereits im „Handelsvertreter-Beschluss“ wurden die grundrechtlichen Schutzpfl ichten über das Recht der unerlaubten Handlungen hinaus auf das Vertragsrecht erstreckt. Demgemäß interpretiert das BVerfG zahlreiche Grundrechte auch als soziale Rechte im Sinne der iustitia distributiva und entnimmt beispielsweise der Berufsfreiheit des Art. 12 GG einen kompletten Kanon an arbeitsrechtlichen Schutzrechten.209 Der Wirkkreis des Art. 12 GG erfasst mittlerweile alle zentralen Bereiche des Arbeitsrechts,210 beginnend mit der Abschlussfreiheit über die vertragliche Inhaltskontrolle, den Arbeitsplatzschutz, die Mitbestimmung bis hin zum Tarifvertragsrecht.211 Des Weiteren folgerte das BVerfG aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ein Besitzrecht des Mieters an der Wohnung.212 Dieses Besitzrecht des Mieters erstreckt sich auf die Mitbenutzung des Treppenhauses, so dass einem behinderten Mieter ein Anspruch auf Einbau eines (selbstfi nanzierten) Treppenlifts zustehen kann 213 (nunmehr geregelt in § 554 a BGB). Ähnlich hat das BVerfG in Bezug auf die Anbringung einer Fernsehantenne ausgeführt, dass „das von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG geschützte Interesse ausländischer Mieter am Empfang von Rundfunkprogrammen ihres Heimatlandes bei der Abwägung mit den Eigentumsinteressen des Vermieters zu berücksichtigen (ist).“214 Zugunsten einer suizidgefährdeten und chronisch kranken Mieterin entschied das BVerfG, dass in besonders gelagerten Einzelfällen „die Räumungsvollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist.“215 Im Übrigen beschäftigte sich das BVerfG schwerpunktmäßig mit dem Kündigungsschutz, insbesondere unter dem Aspekt der Eigenbedarfskündigung.216 Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Meinungs- und Pressefreiheit.217 Nach Ansicht des BVerfG tritt der Schutz von Meinungsäußerungen, die eine Schmähung darstellen, regelmäßig hinter den Persönlichkeitsschutz zurück; 218 auch bei der Veröffentlichung von Fotos Prominenter mit ihren Kindern kommt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG in Betracht (Caroline von Monaco).219 Bei sati207

BVerfGE 103, 89 ff. BVerfGE 114, 1 ff. 209 Vgl. BVerfGE 84, 133 ff. (146 ff.); 97, 169 ff. (175 ff.). 210 Mehrere Entscheidungen ergingen im Übrigen zu arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Einigungsvertrags; vgl. BVerfGE 84, 133 ff.; 85, 360 ff.; 92, 140 ff.; 96, 152 ff.; 96, 189 ff.; 96, 205 ff. 211 S. ausführlich Dieterich, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 10. Aufl. 2010, Art. 12 GG Rn. 4, 30 ff. m. umf. N. 212 BVerfGE 89, 1 ff. 213 BVerfG, NJW 2000, 2658 ff. 214 BVerfGE 90, 27 ff. (36). 215 BVerfG, NZM 2005, 657 ff. (1. Leitsatz). 216 BVerfGE 83, 82 ff.; 84, 197 ff. (gewerblicher Zwischenvermieter); 84, 366 ff.; 84, 382 ff. 217 Vgl. BVerfGE 85, 1 ff.; 86, 122 ff. (im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses); 99, 185 ff.; 102, 347 ff.; 114, 339 ff. (Bezeichnung als „Stasi-Mitarbeiter“). 218 BVerfGE 82, 272 ff. 219 BVerfGE 101, 361 ff. 208

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rischen Meinungsäußerungen („geb. Mörder“) zog das BVerfG besondere Prüfungsmaßstäbe heran 220 und beurteilte auch ein literarisches Werk, das Wirklichkeitsbezüge unter Vermengung tatsächlicher und fi ktiver Schilderungen aufwies, differenziert im Hinblick auf Verletzungen der Intimsphäre („Maxim Biller“).221 Eine Schockwerbung mit dem Foto eines nackten menschlichen Gesäßes, auf das die Worte „H. I. V. POSITIVE“ aufgestempelt waren, befand das BVerfG entgegen der Ansicht des BGH als rechtmäßig.222 Im Familienrecht erachtete das BVerfG das Lebenspartnerschaftsgesetz,223 den Ausschluss von Kindesdoppelnamen,224 die grundsätzliche Zuweisung des Sorgerechts an die Mutter eines nichtehelichen Kindes225 sowie die Ablehnung der Verwertung heimlich eingeholter genetischer Abstammungsgutachten 226 für verfassungskonform. Für verfassungswidrig wurde hingegen der zwingende Sorgerechtswechsel bei Ehelicherklärung des nichtehelichen Kindes,227 die Stellung des nichtehelichen Vaters im Adoptionsverfahren,228 der ausnahmslose Ausschluss des leiblichen Vaters eines Kindes von dem Anfechtungsrecht und dem Umgangsrecht in Fällen sozial-familiärer Beziehung sowie der Ausschluss eines durch frühere Eheschließung erworbenen und geführten Familiennamens bei der Bestimmung des Ehenamens in einer neuen Ehe erklärt.229 Ferner wurden in einem Nichtannahmebeschluss keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Beurteilung der vorkonstitutionellen „Kranzgeld-Regelung“ gem. § 1300 a. F. als verfassungswidrig erhoben.230 Im Erbrecht wurden die Normen über das Pfl ichtteilsrecht der Kinder (§ 2303 Abs. 1 BGB), über die Pfl ichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB a. F. sowie über den Pfl ichtteilsunwürdigkeitsgrund der §§ 2345 Abs. 2, 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB für grundgesetzkonform erachtet.231 Der generelle Ausschluss schreibund sprechunfähiger Personen von der Testiermöglichkeit wurde hingegen als Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gewertet.232 Fachgerichtliche Entscheidungen zu einer „Ebenbürtigkeitsklausel“ in einem Erbvertrag wurden aufgehoben, weil insbesondere zu prüfen gewesen wäre, ob eine Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit des Erben vorliegt („Hohenzollern-Beschluss“).233

220

BVerfGE 86, 1 ff. BVerfGE 119, 1 ff. 222 BVerfGE 102, 347 ff. 223 BVerfGE 105, 313 ff. 224 BVerfGE 104, 373 ff. 225 BVerfGE 107, 150 ff.; s. jetzt aber auch BVerfG, Beschluss vom 21. 07. 2010 – 1 BvR 420/09 (wonach es das Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes verletzt, dass er ohne Zustimmung der Mutter generell von der Sorgetragung für sein Kind ausgeschlossen ist). 226 BVerfGE 117, 202 ff. (verbunden mit der Pfl icht des Gesetzgebers, ein rechtsförmiges Verfahren bereitzustellen). 227 BVerfGE 84, 168 ff. 228 BVerfGE 92, 158 ff. 229 BVerfGE 109, 256 ff. 230 BVerfG FamRZ 1993, 662. 231 BVerfG NJW 2005, 1561 ff. (2. Leitsatz). 232 BVerfGE 99, 341 ff. 233 BVerfG NJW 2004, 2008 ff. 221

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2. Streitpunkte Die moderne Schutzpfl ichten-Lehre des BVerfG überzeugt konstruktiv, die Umdeutung der Art. 2 ff. GG in soziale Rechte erscheint indes fragwürdig.

a) Zur Schutzpflichtenlehre 234 Sowohl der Wortlaut zahlreicher Grundrechte („zu schützen“, „gewährleisten“, „Rechte anderer“) als auch die tradierte Staatsfunktion der umfassenden Friedenssicherung sprechen für die Annahme von Schutzpfl ichten.235 Ohne Schutzpfl ichten käme es gerade auch im Privatrecht zu unbilligen Asymmetrien, wenn ein Angreifer oder Emittent jene Regelungen, die seine Handlungsfreiheit einschränken, verfassungsrechtlich überprüfen lassen könnte, während dem Beeinträchtigten keine entsprechenden Optionen zum Schutz seines Integritätsinteresses offen stünden.236 Die Schutzpfl ichten-Lehre vermag zudem die Schwächen der herkömmlichen Theorie der mittelbaren Drittwirkung zu kompensieren. Sie setzt insbesondere keine Generalklauseln oder unbestimmten Rechtsbegriffe als Einwirkungstore des Verfassungsrechts voraus, sondern die Grundrechte können sich auch im Wege einer den Normtext überschreitenden Rechtsfi ndung Geltung verschaffen.237 Methodologisch wird damit neben einer verfassungskonformen Auslegung die Möglichkeit einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung geschaffen. Um eine bloße verfassungskonforme Auslegung handelt es sich beispielsweise bei der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB, wohingegen die Gewährung von Schmerzensgeld nach Maßgabe der Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG238 sich nicht mehr auf den Wortlaut des § 253 Abs. 2 BGB (bzw. § 847 BGB a. F.) stützen lässt. Schutzpfl ichten haben nicht nur eine liberal-abwehrrechtliche, sondern auch eine sozial-teilhaberechtliche Dimension.239 Dies folgt bereits aus Art. 1 Abs. 1 GG. Das BVerfG betont zu Recht, dass der Staat die Menschenwürde auch positiv schützen 234 Zum Untermaßverbot, d. h. wie der Schutz mindestens auszugestalten ist, s. unten im Text bei Fn. 253 ff. 235 S. näher Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 ff.; Klein, JuS 2006, 960 ff. (960); ausführlich zu den verschiedenen Herleitungsthesen von Schutzpfl ichten Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 29 ff.; Calliess, JZ 2006, 321 ff. (322 ff.). 236 S. auch Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 96 ff. 237 Vgl. auch Mota Pinto, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 105 ff. (113 f.). 238 S. nur BGH NJW 2005, 215 ff. (216) m. w. N.; anfangs wurde der Anspruch noch auf eine Analogie zu § 847 BGB a. F. gestützt; vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Aufl. 2010, § 253 Rn. 10 m. w. N.; s. ferner zum „Soraya-Beschluss“ des BVerfG auch schon oben bei Fn. 160. 239 A. A. Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 239 ff. (266 ff.), der der Rechtsprechung des BVerfG „geradezu groteske Züge“ vorhält (a. a. O., Fn. 65) und sich auch kritisch zu Eichenhofer äußert (a. a. O., S. 273 „bizarre Logik“), der als „ein eindrucksvolles Bild von der Alltäglichkeit rassistischer Ausgrenzung schon in den ersten Monaten der NS-Diktatur“ auf den Roman „Die Geschwister Oppermann“ aus der „Wartesaal-Trilogie“ von Lion Feuchtwanger verwies (DVBl. 2004, 1078 ff., 1081).

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muss:240 „Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, (. . .) ist der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpfl ichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpfl ichtung aus Art. 1 I GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers (. . .).“241

b) Zur sozialen Dimension der Grundrechte Das BVerfG interpretiert neben Art. 1 Abs. 1 GG auch einzelne Grundrechte gem. Art. 2 ff. GG als soziale Rechte mit entsprechenden (Um-)Verteilungseffekten.242 Darüber hinausgehend plädiert Peter Häberle ganz generell für einen entsprechenden Ausbau der grundrechtlichen Statuslehre und sieht die Grundrechte unter einem „sozialen Vorbehalt“, der durch das Sozialstaatsprinzip i. V. m. Art. 3 GG vermittelt wird.243 Bezeichnenderweise fi ndet man ein vergleichbares „realistisches“ Rechtsverständnis auch im Privatrecht, wonach zu den Gültigkeitsvoraussetzungen einer Willenserklärung neben formalen Kriterien die faktisch-wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten gehören.244 Die These von der Sozialgebundenheit der Grundrechte trägt dem Umstand Rechnung, dass das Soziale eine Vorbedingung für die Wahrnehmung individueller und kollektiver Freiheit ist, eine faktische Gleichbehandlung der Rechtsunterworfenen gewährleistet und letztlich im Konzept der Menschenwürde wurzelt. Die Gegenthese von der „Verfassung ohne soziale Grundrechte“245 überzeugt schon methodologisch nicht, weil das Grundgesetz an verschiedenen Stellen für soziale Menschenrechte offen ist und die abwehrrechtlichen Bestimmungen gem. Art. 2 ff. GG keine enumerative Regelung bilden. Nach den Worten des Berichterstatters im Parlamentarischen Rat, Carlo Schmid, hat man sich „mit einigen wenigen Ausnahmen (. . .) auf die sogenannten klassischen Grundrechte beschränkt und bewußt darauf verzichtet, die sogenannten Lebensordnungen zu regeln. Hätte man dies hier versucht, so wäre man, wenigstens nach Auffassung der Mehrheit dieses Hauses, über die durch den Auftrag, nur ein Provisorium zu schaffen, gezogenen Grenzen hinausgegangen.“246 Methodologisch ist allerdings auch die Annahme einer Sozialgebundenheit der Art. 2 ff. GG wenig überzeugend, da die Verfassungsgeber sich bewusst auf die Nor240

BVerfGE 109, 279 ff. (310); 107, 275 ff. (284). NJW 2010, 505 ff. (Rz. 134). 242 Vgl. oben bei Fn. 204 ff. 243 VVDStRL 30 (1972), 43 ff. (69 ff.); s. auch Grimm, in: Koslowski et al., Chancen und Grenzen des Sozialstaats, 1983, S. 41 ff. (55 f.). 244 S. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, 1970, S. 123 ff. 245 So bereits der Titel des Beitrags von Isensee, Der Staat 19 (1980), 367 ff.; aus neuerer Zeit s. namentlich Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 43 ff. 246 Parlamentarischer Rat. Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, 1948/49, S. 172; ähnlich v. Mangoldt, DÖV 1949, 261 ff. (261). 241

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mierung der „klassischen Grundrechte“ im abwehrrechtlichen Sinn beschränkten. Soziale Rechte lassen sich daher im Wesentlichen nur im Wege der Rechtsfortbildung als ungeschriebene Grundrechte gewinnen.247 Damit verbunden ist eine entsprechende Argumentationslast, doch bietet vor allem die menschenrechtliche Generalklausel des Art. 1 Abs. 2 GG eine entsprechende Begründungsbasis. Durch diese Trennung von liberalen und sozialen Grundrechten wird ein hohes Maß an Transparenz geschaffen, indem gegenläufige Prinzipien nicht synkretistisch zusammengeführt werden, sondern Einschränkungen der Freiheit, Umverteilungsprozesse und soziale Bedürfnisse klar benannt werden. Zudem wird dem Umstand Rechnung getragen, dass liberale und soziale Rechte aufgrund ihrer unterschiedlichen Zweckrichtungen eigenständige dogmatische Strukturen aufweisen.

c) Zu den Spezifika sozialer Grundrechte Soziale Rechte sind ebenso wie liberale Rechte ein unverzichtbarer Bestandteil der Menschen- und Grundrechtsidee mit jeweils analoger Wirkkraft und Legitimation. Beide Grundrechtsarten sind gleichermaßen „justitiabel“ und gelten als Rechtsprinzipien unmittelbar, nicht nur „gesetzesmediatisiert“.248 Was für die freiheitlichen Arbeitgebergrundrechte gilt, gilt ebenso für die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmerschaft. Beide Grundrechtsarten unterscheiden sich auch unter haushaltsrechtlichen Gesichtspunkten nicht wesentlich. Gerade im Privatrecht führen soziale Schutzmechanismen in der Regel zu keinem Eingriff in die Haushaltskompetenz des Parlaments, sondern bewirken eine direkte Umverteilung zulasten einzelner Privatrechtsakteure. Davon abgesehen ist der Schutz des status positivus libertatis ebenso mit potentiellen Kosten verbunden wie die Gewährleistung sozialer Standards.249 Die sozialen Grundrechte sind also keine Grundrechte „2. Klasse“, doch folgen sie eigenen dogmatischen Gesetzlichkeiten. Ein erster grundlegender Unterschied zwischen liberalen und sozialen Rechten besteht in deren Wahrnehmung und Ausübung. Liberale Rechte sind dadurch gekennzeichnet, dass der Rechtsträger den jeweiligen Begriff der Freiheit für sich defi nieren und über ihren Gebrauch selbstbestimmt entscheiden kann. Demgemäß ist die Disposition über grundrechtlich geschützte Freiheiten, insbesondere im Rahmen vertraglicher Verpfl ichtungen, weder ein Grundrechtseingriff noch ein Grundrechtsverzicht.250 Soziale Rechte schränken hingegen die Privatautonomie ein (z. B. Arbeitnehmerschutzrechte) oder begründen Leistungsrechte (z. B. Unterhaltsansprüche). Ein Verzicht kommt lediglich bei diesen Rechten und auch nur partiell in Be247

S. zu ungeschriebenen Grundrechten im Allgemeinen auch Rupp, JZ 2005, 157 ff. Vgl. nur Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, 2001, S. 101 ff.; Scheinin, Economic and Social Rights as Legal Rights, in: Eide/Krause/Rosas, Economic, Social and Cultural Rights, 2. Aufl. 2001, S. 29 ff.; Eichenhofer, Sozialer Schutz unter den Bedingungen der Globalisierung, 2009, S. 42 ff. 249 Vgl. nur Holmes/Sunstein, The Costs of Rights. Why Liberty Depends On Taxes, 1999; Sarlet, in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 81 ff. (86); Hunt, Reclaiming Social Rights: International and Comparative Perspectives, 1996, S. 54 ff. 250 Vgl. auch Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, 2004, S. 42 ff.; a. A. Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 362 ff.; Oldiges, FS Friauf, 1996, S. 281 ff. (291). 248

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tracht (z. B. nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder für bereits entstandene Unterhaltsansprüche). Die sozialen Rechte werden ferner durch das Subsidiaritätsprinzip begrenzt. Das Subsidiaritätsprinzip impliziert eine „vertikale Gewaltenteilung“, indem der Staat die Eigenständigkeit der unteren Sozialeinheiten zu achten hat und deren originäre Kompetenzen nicht absorbieren darf.251 Als Korrelat dieser Freiheitssicherung gilt für den Einzelnen, die Familie oder sonstige Gruppen ein „Primat der Selbstverantwortung“.252 Ebenso wie § 2 Abs. 1 BSHG festschreibt, dass „Sozialhilfe (nicht) erhält, wer sich selbst helfen kann“, ist auch im Zivilrecht gem. § 1602 BGB nur unterhaltsberechtigt, „wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.“ In der weiteren Folge unterscheiden sich liberale und soziale Grundrechte auch grundlegend im Hinblick auf das Untermaßverbot.253 Bei liberalen Grundrechten ist charakteristisch, dass jenseits des breiten gesetzgeberischen „Korridors“254 das Überund Untermaßverbot in gleicher Weise durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip bestimmt werden. Dieser symmetrische Rechtsschutz wird zwar vor allem mit dem „Prinzip vom Vorrang der Gesellschaft gegenüber dem Staat“ zu widerlegen versucht,255 doch ist ein solcher Vorrang weder demokratietheoretisch noch grundrechtlich vorgezeichnet. Nach der verfassungsrechtlichen Ordnung genießt jeder Bürger (abgesehen von Nicht-Deutschen) den gleichen freiheitsrechtlichen Status.256 Zur Abgrenzung der konkurrierenden Freiheitssphären bedarf der Staat auch keiner besonderen Rechtfertigung, sondern muss lediglich die legitimen Ziele seines Handelns benennen und das Verhältnismäßigkeitsgebot sowie die Wesensgehaltsgarantie beachten. Selbst der sozialgestaltende Privatrechtsgesetzgeber wird durch eine vermeintliche Präponderanz der Freiheitsrechte nicht eingeschränkt.257 Reflektiert man die Interessen der Akteure, besteht für eine Privilegierung ebenfalls kein Anlass: Dem Angegriffenen sind infolge des staatlichen Gewaltmonopols die Möglichkeiten eines Selbstschutzes weitestgehend genommen, während dem Störer allenfalls das „Recht des Stärkeren“ zur Apologie eines asymmetrischen Schutzes zur Seite steht.258 Auch unter Gemeinwohlaspekten gibt es keine hinreichenden Gründe, den Raucher gegenüber dem Nicht-Raucher, den Boykottaufrufer gegenüber dem Boykottierten

251 Eine Kompetenzvermutung zugunsten des homo singularis ist damit nicht verbunden; s. näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (oben Fn. 21), S. 141 m. w. N. 252 Vgl. Zacher, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rn. 27 ff., 33; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 191 ff., 268 ff. 253 S. auch schon Neuner, in: ders., Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (oben Fn. 105), S. 159 ff. (173); einen ausführlichen Überblick zur Kontroverse über die Symmetrie von Unter- und Übermaßverbot bietet Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion (oben Fn. 235), S. 142 ff. 254 Calliess, JZ 2006, 321 ff. (329); ders., FS Starck, 2007, S. 201 ff. (213). 255 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (oben Fn. 114), S. 47. 256 Vgl. auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (oben Fn. 129), S. 90 ff. 257 Vgl. auch v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 130. 258 Pointiert Suhr, JZ 1980, 166 ff. (167): „Dann scheint es, als stünde der Passivraucher zum Raucher nicht wie ein Privater zum gleichberechtigten anderen Privaten, sondern wie ein fürsorgebedürftiger Habenichts zu einem Privatherrn von Freiheit und Eigentum, so daß ihm scheinbar nichts Gleiches zusteht wie dem anderen, sondern nur das (mikro-ökologische) Existenzminimum.“

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Privatrechts

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oder den Trompetenspieler gegenüber dem Schlaf suchenden Nachbarn zu begünstigen. Beide genießen prinzipiell einen egalitären Rechtsschutz.259 Anders strukturiert ist der Schutz sozialer Grundrechte,260 bei denen das Untermaßverbot durch das Subsidiaritätsprinzip deutlich abgesenkt wird. Staatliche Interventionen sind hiernach in der Regel erst geboten, sofern der Einzelne sich nicht aus eigener Kraft zu helfen vermag. Auch wenn man soziale Grundrechte defi nitorisch weit fasst,261 hängt der grundrechtlich gebotene Mindestschutz davon ab, was der Einzelne selbst zu leisten und zu organisieren im Stande ist. So besteht ein privatrechtlicher Kontrahierungszwang zum Zwecke der Daseinsvorsorge nur bei lebensnotwendigen Gütern und fehlenden Ausweichmöglichkeiten (z. B. im Hinblick auf ein Girokonto ohne Kreditfunktion).262 Soziale Auskunftsansprüche oder Auf klärungspfl ichten setzen voraus, dass dem Begünstigten die Informationsbeschaffung nicht selbst möglich oder zumutbar ist und auch ein Eingriff in Verträge erscheint nicht schon bei „strukturell ungleicher Verhandlungsstärke“263 geboten, sondern erst bei konkreten Beeinträchtigungen des Willensbildungsprozesses nach Maßgabe der Wertungen des § 138 BGB. Diese grundlegenden Unterschiede sprechen dafür, die nationale Grundrechtsdogmatik an den internationalen Standards auszurichten und das Soziale vom Liberalen zu trennen, wie es beispielhaft in den beiden Pakten 264 über „bürgerliche und politische Rechte“ sowie „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ erfolgt.265 Nichts anderes gilt für die Zivilrechtsdogmatik.266

VI. Conclusio Während die Grundrechte im 19. Jahrhundert lediglich privatrechtsakzessorisch wirkten,267 geriet dieses Vorrangverhältnis bereits unter der Weimarer Reichsverfassung ins Wanken.268 Seit nunmehr 60 Jahren gilt ein Primat der Verfassung, der sich 259

Vgl. auch Hager, JZ 1994, 373 ff. (381); Vosgerau, AöR 133 (2008), 346 ff. (350, 352). Ausgenommen soziale Grundrechte mit abwehrrechtlichem Charakter (z. B. das Recht auf Koalitionsfreiheit). 261 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, (oben Fn. 44), S. 467 ff. 262 Vgl. Palandt/Ellenberger, 69. Aufl. 2010, Einf. v. § 145 Rn. 10 m. w. N. 263 Vgl. oben Fn. 202 ff. 264 S. für Europa auch die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (BGBl. 1952 II, S. 685 ff.) sowie die „europäische Sozialcharta“ (BGBl. 1964 II, S. 1261 ff.). 265 Vgl. auch Riedel, Die Grundrechtssaat ist aufgegangen, in: ders., Die Universalität der Menschenrechte (oben Fn. 90), S. 259 ff. (267 ff.); kritisch Häberle, VVDStRL 30 (1072), 43 ff. (90): „Bereits der besondere Begriff ‚soziale Grundrechte‘ ist ein Offenbarungseid ‚bürgerlichen‘ Grundrechtsverständnisses.“ 266 S. auch schon Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl. 1989, S. 52: „Zu den genannten Prinzipien der Privatautonomie, des Vertrauensschutzes und der ausgleichenden Vertragsgerechtigkeit ist ein weiteres hinzugetreten, das man als das ,Sozialprinzip‘, im engeren Sinn bezeichnen kann.“ 267 S. näher Wahl, Der Staat 18 (1979), 321 ff. (328 ff.); Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 8 ff. 268 S. näher Nörr, Zwischen den Mühlsteinen (oben Fn. 19), S. 9 ff.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht (oben Fn. 135), S. 292 ff. 260

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bei näherer Betrachtung allerdings als hochkomplexes Verhältnis darstellt: Es konkurrieren verschiedene Akteure (Verfassungsgeber, Privatrechtsgesetzgeber, Privatrechtssubjekte), verschiedene Gerichte (Bundesverfassungsgericht, Zivilgerichte) und verschiedene Fundamentalnormen (Grund- und Menschenrechte). Diese Konkurrenzverhältnisse können die Eigenständigkeit des Privatrechts gefährden, sie können das Privatrecht aber auch zukünftig bereichern und in sachgerechte Bahnen lenken.

60 Jahre Grundgesetz und das Wirtschaftsrecht von

Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz Rittner †, Freiburg, und Prof. Dr. Meinrad Dreher, LL.M., Mainz Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Text des Grundgesetzes und spätere Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Grundgesetz von 1949. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einordnung wirtschaftsbezogener Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Sozialisierungsklausel des Art. 15 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die späteren Änderungen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Änderungen bis zu den Einigungsverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einigungsverträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Streit um die Wirtschaftsverfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der wissenschaftliche Streit in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Einfluss des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einordnung der Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Sozialstaatsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der gesetzgeberische Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Privatisierungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Idee einer Wirtschaftsdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Wirtschaftspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Spielraum des Gesetzgebers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die begrifflichen Aspekte der Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Unzulässigkeit einer Zentralverwaltungswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Landesverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Unternehmensrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Unternehmerfreiheit als Ausgangspunkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Unternehmensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fritz Rittner und Meinrad Dreher

c) Die Abgrenzung zu den Freien Berufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unternehmensträger des privaten Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nach europäischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Unternehmen der öffentlichen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Unternehmensträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Grenzen der unternehmerischen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Mitbestimmung in den Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ursprung der Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Lösung des Gesetzgebers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Reaktion auf das Mitbestimmungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die europäische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Auswirkungen auf die soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Vertrags-, Tarif- und Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum historischen Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Tarifvertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Schutz des Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bürgerlich-rechtliche Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundlage der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bedeutung des Vertrags. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Ordnungsfunktion des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Tarifvertragsfreiheit und das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Grundgesetz und das Wettbewerbsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das europäische Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das allgemeine Lenkungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die verfassungsrechtliche Gebotenheit und die Grenzen der Wirtschaftslenkung . . . . . . . . . . . . 3. Die systematische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Preisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Allgemeine Preisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das sektorale Preisrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Subventionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Arten und die Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die verfassungsrechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Im Subventionsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Im Verhältnis zu Dritten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Das Besondere Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundfragen der Wirtschaftsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Besondere Wirtschaftsrecht als Ausnahmeregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu den Ausnahmegründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Einführung eines Basistarifs in der Privaten Krankenversicherung als Beispiel für den Konflikt zwischen Besonderem Wirtschaftsrecht und Sozialstaatsprinzip. . . . . . . . . . . . VIII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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60 Jahre Grundgesetz und das Wirtschaftsrecht

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I. Einleitung Das Wirtschaftsrecht, um das es in diesem Beitrag geht, gehört inzwischen zu den klassischen, wenn auch noch immer etwas umstrittenen Kategorien des Rechtssystems.1 Es fasst diejenigen Rechtsnormen und -institute zusammen, welche die gesamtwirtschaftliche Ordnung verwirklichen sollen. Dies setzt eine mehrdimensionale Systemvorstellung voraus, wie sie jedoch allein dem modernen Rechtssystem mit seinen vielfältigen Grundwerten entspricht, die mit dem früheren „Wandtafelsystem“ nicht zu erfassen sind.2 Sein Grundgedanke fi ndet sich bereits in Art. 151 WRV: „Die Ordnung der Wirtschaft muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“

In diesem Verständnis verdrängt das Wirtschaftsrecht keineswegs andere Rechtsgebiete, wie etwa das Bürgerliche Recht oder das Handelsrecht oder auch das Wirtschaftsverwaltungsrecht, es überwindet aber die – aus dem 19. Jahrhundert stammende – Trennung des Rechtssystems in Privatrecht und öffentliches Recht. Es lässt zugleich das wirtschaftspolitische Denken und seine Programme unberührt und sorgt dafür, dass diese sich, sofern sie geltendes Recht werden, zwanglos in die Rechtsordnung einfügen. Vor diesem Hintergrund sind nachfolgend die historische Entwicklung der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Regelungen (unten II.), die Frage nach dem Zusammenspiel der deutschen Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes mit den europäischen Regelungen (unten III.) und das Unternehmensrecht einschließlich des Rechts der unternehmerischen Mitbestimmung (unten IV.) Gegenstand der Darstellung. Ergänzt werden diese Ausführungen um die wirtschaftsverfassungsrechtlich relevanten Bereiche des Vertrags-, Tarif- und Wettbewerbsrechts (unten V.), des Allgemeinen Lenkungsrechts (unten VI.) sowie des Besonderen Wirtschaftsrechts und der Wirtschaftsaufsicht (unten VII.).

1

Vgl. hierzu und zum Folgenden des Näheren Rittner/Dreher, Europäisches und Deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, § 1 Rn. 51 ff. und dazu zust. Badura, AöR 134 (2009), 128, sowie zahlreiche Werke zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht, die das private Wirtschaftsrecht als Teil eines disziplinenübergreifenden Rechtsgebiets anerkennen, vgl. z. B. Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 28 ff., die die Trennung von privatem und öffentlichem Wirtschaftsrecht für betont bedeutsam halten, dennoch aber einräumen, dass die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Wirtschaftsrecht zuweilen verwischen (Rn. 29) und teilweise eine enge Verzahnung zwischen beiden Bereichen besteht (Rn. 30); Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2007, § 3 Rn. 4; anders aber noch Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, S. 2, im Anschluss an Kübler, Das Wirtschaftsrecht in der Bundesrepublik, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft der Bonner Republik, 1994, S. 364. 2 Vgl. dazu Rittner, Über die Notwendigkeit des rechtssystematischen Denkens, in: FS K. W. Nörr, 2002, S. 805, 816 ff., anders aber z. B. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 677 ff., insbes. S. 694 ff., 699 ff., der sich noch nicht vom Wandtafelsystem löst und daher das Wirtschaftsrecht für ein ungeeignetes System hält (S. 699).

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Fritz Rittner und Meinrad Dreher

II. Der Text des Grundgesetzes und spätere Änderungen 1. Das Grundgesetz von 1949 a) Die wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes Das Grundgesetz von 1949 verzichtete in seiner nüchternen Sachlichkeit auf eine wirtschaftsrechtliche Konzeption, wie sie Art. 151 WRV versucht hatte. Es ließ folglich dem Gesetzgeber die Möglichkeit, „die ihm jeweils sachgerecht erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet“ (sog. „wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes“).3 Der programmatische Art. 151 WRV in dem Abschnitt „Wirtschaftsleben“ hatte freilich dem Staat bereits eine „umfassende Verantwortung für die richtige Ordnung des Wirtschaftslebens“ übertragen.4 Dass das Grundgesetz dies gewiss nicht in Frage stellen wollte, zeigt das Zusammenspiel der Freiheitsrechte im Grundrechtsteil mit dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG.

b) Die Einordnung wirtschaftsbezogener Kompetenzen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (konkurrierende Gesetzgebung) spricht allerdings vom „Recht der Wirtschaft“ und nennt dazu in einer Klammerdefi nition „Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank- und Börsenwesen, privatrechtliches Versicherungswesen“. Damit meint er aber nicht etwa eine wirtschaftsrechtliche Konzeption, wie sie Art. 151 WRV formuliert hatte, sondern regelt nur die gesetzgeberische Zuständigkeit. Dies bestätigen andere Teile des Art. 74 Abs. 1 GG, wie Nr. 16: „Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“, Nr. 17: „Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung . . .“, Nr. 21: „Hochsee- und Küstenschifffahrt . . .“, Nr. 23: „Die Schienenbahnen . . .“, ebenso einige Nummern des Art. 73 Abs. 1 GG (ausschließliche Gesetzgebung), wie Nr. 4: „Währungs-, Geld-, und Münzwesen“, Nr. 6: „Luftverkehr“ und Nr. 7: „Postwesen und Telekommunikation“. 3 BVerfGE 4, 7, 17 f. – „Investitionshilfe“; BVerfGE 7, 377, 400 – „Apotheken-Entscheidung“; BVerfGE 14, 19, 23 – „Ladenschluss/Warenautomaten“; BVerfGE 30, 292, 315 – „Mineralölbevorratungspfl icht“; BVerfGE 50, 290, 336 f. – „Mitbestimmungsentscheidung“; vgl. auch Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Gundgesetz-Kommentar, 5. neubearbeitete Aufl. 2000, Band 1, Art. 12 Rn. 3; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 12 Rn. 2; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. vollständig neubearbeitete Aufl. 2005, Band 1, Art. 12 Rn. 32; Scholz, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, 2. Band, Art. 12 Rn. 85; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 3. Aufl. 2008, S. 10 f.; Ziekow (Fn. 1), § 3 Rn. 7; kritisch zum Begriff der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 35 Rn. 1, die Neutralität nicht im Sinne rechtlichen Leerraums verstanden wissen wollen, sowie Mann, in: Sachs, GG-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 12 Rn. 22, der von einer „verfehlten Akzentuierung“ spricht und stattdessen die auch ohne begriffl iche Institutionalisierung gegebene Sicherung einer wettbewerblich organisierten, marktorientierten Wirtschaftsordnung durch die wirtschaftlich relevanten Grundrechte hervorhebt. 4 So Rittner/Dreher (Fn. 1), § 1 Rn. 11.

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Allerdings kommt den grundgesetzlichen Kompetenztiteln noch eine Bedeutung zu, die über die schlichte Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern hinausgeht: So lassen sie mittelbar den Schluss zu, dass Regelungen in den aufgezählten Bereichen im Grundsatz legitim sind und damit auch notwendig materielle Einschränkungen für betroffene Grundrechte möglich sind. Das verfassungsrechtlich zulässige Maß des Grundrechtseingriffs ergibt sich jedoch aus dem Schrankenvorbehalt des einzelnen Grundrechts unter Beachtung des stets zu berücksichtigenden Übermaßverbots.5

c) Die Sozialisierungsklausel des Art. 15 GG Die Sozialisierungsklausel des Art. 15 GG formuliert weder ein Grundrecht noch einen Verfassungsauftrag, sondern ermächtigt nur den Gesetzgeber zu einer „Vergesellschaftung“ gewisser Objekte, freilich gegen Entschädigung. Die Vorschrift, die auf ältere Ideen der „Gemeinwirtschaft“ (so auch im Text) zurückgeht,6 blieb bisher bedeutungslos. Die rechtliche Bedeutung in keiner Weise erhöht, aber die Norm wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht, hat die von den Banken ausgehende Finanz- und sodann auch (Real-) Wirtschaftskrise. Als Härtetest für die wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes dürften sich in diesem Zusammenhang die aus der Not geborenen Maßnahmen des Gesetzgebers in Gestalt des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes7 (FMStG) vom 17. 10. 2008 und des Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetzes8 (FMStErgG) vom 07. 04. 2009 erweisen.9 Problematisch stellt sich in erster Linie die im Zuge des Art. 3 FMStErgG mit dem Rettungsübernahmegesetz (RettungsG) neu geschaffene Enteignungsmöglichkeit dar, die infolge der zeitlichen Begrenzung bis zum 30. 06. 2009 nur die Hypo Real Estate betraf, allerdings nicht angewendet wurde. Bemerkenswert bleibt, dass die in Rede stehende „Enteignungsoption“ an Art. 14 Abs. 3 GG und nicht an den grundsätzlich ebenfalls in Betracht kommenden Art. 15 GG anknüpft. Unabhängig davon ist die Aktie als gesellschaftsrechtliches Anteilseigentum grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 14 GG erfasst.10

5

Vgl. Mann (Fn. 3), Art. 12 Rn. 204 m. w. Nachw. Vgl. dazu Ritschl, Gemeinwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, IV. Bd., 1965, S. 331 ff.; krit. Mises, Die Gemeinwirtschaft, 1922, insbes. S. 199 ff., 209 f.; vgl. ausführlich zur Entstehungsgeschichte der Norm: Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2004, Bd. 1, Art. 15 Rn. 1 ff. 7 BGBl. I, S. 1982. 8 BGBl. I, S. 725. 9 Das BVerfG hat mit Beschluss vom 26. 03. 2009 NJW 2009, 1331 ff. = WM 2009, 786 ff. = ZIP 2009, 753 ff. eine Verfassungsbeschwerde gegen § 3 FMStBG (gesetzlich genehmigtes Kapital ohne HV-Beschluss) mit Verweis auf die Subsidiarität gegenüber fachgerichtlichem Rechtsschutz („Aktionärsklage“) nicht zur Entscheidung angenommen; zust. Mock, EWiR 2009, 383 f. 10 BVerfGE 14, 263, 276 f. – „Feldmühle“; BVerfGE 25, 371, 407 – „Rheinstahl“; BVerfGE 35, 377, 378 – „VW“; BVerfGE 50, 290; 341 f. – „Mitbestimmung“; BVerfGE 100, 289; 301 f. – „DAT/Altana“, vgl. auch Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. vollständig neubearbeitete Aufl. 2005, Band 1, Art. 14 Rn. 142; Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2008, S. 144 ff. 6

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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)11 läge eine Enteignung in dem fraglichen Fall vor.12 Während dafür zum einen ein Gemeinwohlbelang vorliegen muss, gilt zum anderen auch hier das Übermaßverbot.13 Als verfassungsrechtliche Kernfrage dürfte sich daher die Erforderlichkeit einer solchen Enteignung herauskristallisieren.14 So bot auch schon der bestehende Rechtsrahmen des Aktien- und Übernahmerechts Instrumente, die eine Kontrollerlangung ermöglichten. Sie wurden durch das FMStG und das FMStErgG noch erheblich zugunsten der öffentlichen Hand effektuiert: Dies betrifft zum einen die Kapitalmaßnahmen – beispielhaft zu nennen sind die Instrumente einer vereinfachten Schaffung genehmigten Kapitals, was die erforderliche Stimmmehrheit und den (unbegrenzten) Umfang der Kapitalerhöhung anbelangt (§ 7b Abs. 1 FMStBG15), einer beschleunigten (konstituiven) Eintragung von Hauptversammlungsbeschlüssen (§ 7c FMStBG), sowie die Schaffung gesetzlich genehmigten Kapitals ohne Hauptversammlungsbeschluss mit Bezugsrechtsausschluss (Art. 3 FMStBG).16 Zum anderen wurde durch die Herabsetzung des Schwellenwerts für einen (übernahmerechtlichen) Squeeze-Out auf 90% (§ 12 Abs. 3 Nr. 1 FMStBG) der Ausschluss von Minderheitsaktionären erleichtert. In der Zusammenschau dieser Maßnahmen stellt sich die Frage, ob es tatsächlich noch einer Enteignungsoption mit dem RettungsG bedurfte. Dabei ist auch die Sachlage zum Zeitpunkt der Gesetzesentstehung zu berücksichtigen. So war der Interbankenverkehr nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers schwer gestört, der Abschreibungsbedarf der Kreditinstitute, insbesondere der Hypo Real Estate, schien sich in einem Maße zu steigern, der keine realitätsnahe Schätzung des Gesamtfi nanzbedarfs zuließ und schließlich war seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ebenso klar, dass keine systemrelevante Bank mehr in die Insolvenz gehen durfte. Hinzu kam die besondere Bedeutung der Hypo Real Estate auf dem – auch für die Versicherer relevanten – Pfandbriefmarkt. Deswegen war die Situation von dem Wissen um die zentrale Bedeutung der Kreditinstitute für die Realwirtschaft und der Sorge der Bevölkerung um ihre Spareinlagen geprägt. In dieser Situation schien es zwingend, Möglichkeiten zu schaffen, um im Ernstfall schnell und rechtssicher eingreifen zu können. Gerade diesbezüglich bestanden jedoch erhebliche Bedenken, ob die durch das FMStG geschaffenen Instrumente dafür ausreichen würden.17 Dem ist zuzugeben, dass die Schaffung gesetzlich genehmigten Kapitals durch den Vorstand ohne Zustimmung der Hauptversammlung (HV) nach § 3 Abs. 1 bis 3 FMStBG nur in Höhe von bis zu 50% des Grundkapitals möglich ist. Demgegenüber ist die Schaffung unbegrenzten (genehmigten) Kapitals, die in kombinierter Anwendung mit einem Squeeze-Out zur erforderlichen Erlangung von 100% -Beteiligungen führt, nach § 7 Abs. 1 FMStBG nur mit Zustimmung der HV möglich. Deren Einberufung muss jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FMStBG spätestens 21 Tage vor der HV erfolgen.18 Zudem erfordert der notwendige Bezugs11 Nach BVerfGE 70, 191, 199 f.; BVerfGE 72, 66, 76; BVerfGE 104, 1, 9 ist eine Enteignung „auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet“ – womit sich das BVerfG gegen die sog. „Sonderopfertheorie“ des BGH und die „Schweretheorie“ des BVerwG durchgesetzt hat. 12 So auch Brück/Schalast/Schanz, BB 2009, 1306, 1308. 13 BVerfGE 45, 297, 335; Jarass (Fn. 3), Art. 14 Rn. 82. 14 Vgl. Brück/Schalast/Schanz (Fn. 12), 1310. 15 Beim FMStBG („Finanzmarktstabilisierungsbeschleunigungsgesetz“) handelt es sich um das ursprünglich durch Art. 2 FMStG eingeführte „Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung des Erwerbs von Anteilen an sowie Risikopositionen von Unternehmen des Finanzsektors – Finanzmarktstabilisierungsfonds – FMS“, das durch Art. 2 FMStErgG umbenannt und ergänzt wurde. 16 Vgl. hierzu ausführlich Hopt/Fleckner/Kumpan/Steffek, WM 2009, 821 f. 17 RegBegr. zum FMStErgG, S. 19. 18 Die Einberufungsfrist wurde entgegen der ursprünglichen Fassung des FMS richtlinienkonform

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rechtsausschluss für Altaktionäre nach § 7 Abs. 3 Satz 1 FMStBG eine qualifi zierte Mehrheit. Diese kann nach § 7 Abs. 3 Satz 2 FMStBG nur umgangen werden, indem das gesetzlich genehmigte Kapital nach § 3 FMStBG und eine reguläre (§ 7 Abs. 3 Satz 2 FMStBG) bzw. genehmigte (§ 7b Abs. 2 i. V. m. § 7 Abs. 3 Satz 2 FMStBG) Kapitalerhöhung miteinander kombiniert werden. Schon hieraus werden die enormen zeitlichen und verfahrenstechnischen Anstrengungen deutlich, die sich aus der kombinierten Anwendung der durch das FMStG und das FMStErgG modifi zierten allgemeinen aktien- und übernahmerechtlichen Instrumente ergibt – umgekehrt wird der Vorteil einer Enteignung nach dem RettungsG deutlich. Diese Aspekte greift auch § 1 Abs. 2 a) bis c) RettungsG auf, welcher einfachgesetzlich versucht, die Anforderungen an die Erforderlichkeit für eine Enteignung zu normieren – und dürfte damit zugleich in etwa die zentralen, zu fordernden verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfassen. So spricht neben dem Verzögerungsaspekt auch der enorme fi nanzielle Aufwand, der zur Erlangung von 100% des Kapitals im Wege von Kapitalerhöhungen und Squeeze-Out nötig ist, für eine Erforderlichkeit der Regelung. Obgleich nach der Rechtsprechung des BVerfG19 Enteignungen aus fiskalischen Gründen problematisch sind, würde eine solche im vorliegenden Zusammenhang nicht erfolgen, um das Staatsvermögen zu vermehren – im Gegenteil hat der Staat zuvor schon ungeheure Mittel investiert, deren Werthaltigkeit in einer im Grunde insolventen Bank kaum mehr gegeben sein dürfte. Somit stellt sich das fi skalische Interesse des Staats in dieser Sondersituation ausnahmsweise als beachtliches Moment zur Bejahung der Erforderlichkeit einer Enteignung dar – sowohl, was die Zumutbarkeit alternativer Verfahren als auch die Sicherung der bereits investierten Mittel anbelangt. Die Verfassungskonformität der Entschädigung dürfte durch § 4 Abs. 4 Nr. 3 RettungsG gewährleistet sein. Insgesamt gesehen hat sich so selbst mit der im Zuge des RettungsG geschaffenen Enteignungsmöglichkeit keine späte Aktualisierung des Art. 15 GG durch die Finanzmarktkrise der Jahre 2008 ff. ergeben.

2. Die späteren Änderungen des Grundgesetzes a) Die Änderungen bis zu den Einigungsverträgen An dem Ausgangsbefund eines wirtschaftspolitisch offenen GG haben die bisherigen Änderungen des Grundgesetzes festgehalten. Diese betreffen nämlich nur Randfragen wie z. B. die Ergänzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG durch die Wendung „ohne das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte“.20 Selbst die großen Reformen früherer Regierungen, vor allem des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller, berührten lediglich die Finanzverfassung des Grundgesetzes, vor allem Art. 109 GG.21 Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom 8. Juni 1967,22 das sog. „Stabilitätsgesetz“, richtete an die Vorgaben der sog. Aktionärsrichtlinie (Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 07. 2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. EU Nr. L 184 vom 14. 07. 2007, S. 17) ab dem 02. 08. 2009 angepasst. 19 BVerfGE 38, 175, 180; vgl. dazu auch Brück/Schalast/Schanz (Fn. 12), 1309. 20 Gültig seit 01. 09. 2006. 21 Gültig seit 14. 06. 1967. 22 BGBl. I, S. 581.

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zwar die „konzertierte Aktion“ nach seinem § 3 ein, aber eben durch ein einfaches Gesetz, das zudem durch die weitere Entwicklung überholt wurde.23 Auch die Änderungen des Unternehmensrechts durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976 hielten sich im Rahmen der einfachen Gesetzgebung. Die (teilweise) Europäisierung des Wirtschaftsrechts durch die EG bzw. die EU beruht zwar auf Art. 23 und 24 GG, änderte jedoch aus spezifisch wirtschaftsrechtlicher Sicht am Text der Verfassung nichts.

b) Die Einigungsverträge Erst die Einigungsverträge von 1990 brachten ein Bekenntnis zur „Sozialen Marktwirtschaft“ als wirtschaftspolitischem Prinzip,24 freilich ohne die Verfassung zu ändern.25 Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 199026 legt in Art. 1 Abs. 3 – entsprechend seiner Präambel 3. Beistrich – als „Grundlage der Wirtschaftsunion (. . .) die Soziale Marktwirtschaft“ fest und zwar mit den Elementen „Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Kapitalgütern und Dienstleistung“. Er bemerkt aber zutreffend in der Überschrift seines Art. 11, dass es sich dabei um „Wirtschaftspolitische Grundlagen“ handelt und nicht etwa um eine irgendwo fi xierte (Wirtschafts-)Ordnung. Der Einigungsvertrag vom 11. Aug. 199027 folgert daraus sodann in seiner Anlage I, Kap. V, Sachgebiet A, die Einzelheiten für „Allgemeines Wirtschaftsrecht, Wirtschaftspolitik, Wettbewerbs- und Privatrecht“.28 Seitdem mag die Wirtschaftspolitik der „Sozialen Marktwirtschaft“ einen verfassungsrechtlichen Rang genießen.29 Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen des Wirtschaftsrechts ergeben sich indes aus dem Grundgesetz selbst, wie sogleich zu zeigen sein wird.

23

Vgl. dazu Rittner/Dreher (Fn. 1), § 6 Rn. 40. Vgl. dazu zuletzt Rittner, Die Marktwirtschaft und das Soziale, WuW 2009, 715. 25 Dass der Einigungsvertrag „seiner Grundkonzeption nach ein Verfassungsvertrag“ ist, betont zu Recht Badura, Staatsziele und Garantien der Wirtschaftsverfassung in Deutschland und Europa, in: FS Stern, 1997, 409, 420; vgl. auch Rittner/Dreher (Fn. 1) § 2 Rn. 47 ff. m.zahl.w.Nachw.; anders z. B. Hauptkorn, Preisrecht, 2000, S. 83; Ruthig/Storr (Fn. 1), Rn. 677; Schliesky, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, S. 20 f.; Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 238, 247. 26 BGBl II, S. 518. 27 BGBl II, S. 889. 28 So die Formulierung in der Überschrift. 29 Zurückhaltend aber z. B. Zippelius/Würtenberger, (Fn. 3) § 35 Rn. 3; abermals ablehnend: Schliesky (Fn. 25), S. 21, der dem Staatsvertrag vom 18. 05. 1990 und damit dem in Art. 1 Abs. 3 Satz 1 enthaltenen Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft nur einfachen Gesetzesrang zubilligt. 24

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III. Die Wirtschaftsverfassung30 1. Begriffliche Grundlagen Die Begriffe Wirtschaftsverfassung oder Wirtschaftsordnung schillern in verschiedenen Farben. In ihrem Ursprung bei den Wirtschaftswissenschaften meinen sie sowohl die idealtypischen Vorstellungen wie „Marktwirtschaft“ oder „Zentralverwaltungswirtschaft“ als auch die historisch gewachsenen konkreten Verhältnisse einer (nationalen) Volkswirtschaft.31 Aber auch die Juristen unterscheiden zwischen dem formalen Begriff im Sinn der wirtschaftsrechtlichen Ordnung der Staatsverfassung und dem materiellen Begriff im Sinn aller fundamentalen Normen des Wirtschaftsrechts. Der Aufgabe entsprechend verwenden wir den Begriff Wirtschaftsverfassung an dieser Stelle aber nur in jenem Sinn.

2. Der Streit um die Wirtschaftsverfassung a) Der wissenschaftliche Streit in der Nachkriegszeit Der wissenschaftliche Streit um die Wirtschaftsverfassung, der in den ersten Jahren nach 1949 die Gemüter bewegte, hat sich inzwischen – auch dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Festlegungen in den Einigungsverträgen32 – praktisch erledigt. Er litt von vornherein daran, dass er teils von wirtschaftspolitischen Wünschen – so die „Soziale Marktwirtschaft“ bei H. C. Nipperdey, aber auch bei W. Abendroth: „Neutralität des GG selbst für den Sozialismus“ – getragen wurde. Auch ließ er sich überhaupt zu sehr von der Ökonomie beeinflussen, wie Warnungen vor vorzeitiger Übernahme ökonomischer Vorstellungen oder die Anlehnung an diese (E. R. Huber: „Gemischte Wirtschaftsverfassung“; H. Krüger: „Neutralität des GG gegenüber wirtschaftswissenschaftlichen Modellen“) zeigen.

b) Der Einfluss des Europarechts Zudem hat die europäische Entwicklung mittlerweile wirtschaftsrechtliche Grundlagen geschaffen, die eindeutig der offenen Marktwirtschaft und dem Wettbe30

Vgl. hierzu und zum Folgenden ausf. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 2. Vgl. zum Ganzen: Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961; Häberle, ZRP 1993, 383, sowie nunmehr Hauptkorn (Fn. 25) S. 79 f. Danach bezeichnet im Rahmen einer genaueren Differenzierung der Begriff der „Wirtschaftsordnung das tatsächliche Wirtschaftsleben, dessen maßgebliche Ziele, Rechtsvorschriften und Instrumentarien“, also eine „Seinsordnung“. Demgegenüber beschreibt der Begriff der „Wirtschaftsverfassung eine Sollensordnung in Gestalt des Teils des Verfassungsrechts, in dem die ordnungsbildenden Entscheidungen über die Wirtschaft normativ getroffen werden“. Daneben tritt schließlich der Begriff des „Wirtschaftssystems“, der ein idealtypisches Zusammenspiel verschiedener Koordinationsmechanismen bezeichnet, deren Kombination im modelltheoretischen Bereich zwischen Plan- und Marktwirtschaft liegt“; mit ähnlicher, wenngleich auch im Hinblick auf die Begriffe des Wirtschaftssystems und der Wirtschaftsordnung abweichender Differenzierung Schliesky (Fn. 25), S. 17 f. 32 Siehe oben II. 2. b). 31

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werb den Vorrang – auch für die Mitgliedstaaten – geben.33 So verpfl ichtete der frühere Art. 4 Abs. 1 EG (Maastricht-Fassung) am Ende „die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft“ zu einer Wirtschaftspolitik nach dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Der EuGH hat sich dem angeschlossen, auch was die Konsequenzen für die Mitgliedstaaten angeht.34 Mittlerweile fi ndet sich eine gleichlautende Festlegung vor allem in Art. 119 Abs. 1 AEUV, wenn auch die Europäische Union als Ganzes in der grundlegenden Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV nach dem Vertrag von Lissabon nunmehr auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ festgelegt ist.

c) Der Vertrag von Lissabon Der Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, verändert die rechtliche Struktur und die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union umfassend. Existierten bisher in Gestalt von EG und EAG zwei Gemeinschaften mit Rechtspersönlichkeit und die EU als Dachorganisation ohne Rechtspersönlichkeit, so besteht fortan nur noch „eine neue“ Europäische Union, die mit Rechtspersönlichkeit versehen ist. Die neuen primärrechtlichen Rechtsquellen bilden der „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) und der Vertrag über die „Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV). Die im Zuge dessen vorgenommenen Änderungen sind auch für die europäische Wirtschaftsverfassung von besonderem Interesse. Mit dem Vertrag von Lissabon findet sich die grundlegende Bestimmung des bisherigen Art. 4 Abs. 1 EG, der das Ziel einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ vorsah, jedenfalls in den neuen primärrechtlichen Zielbestimmungen des EUV so nicht wieder. Stattdessen ist in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV lediglich eine Festlegung der Europäischen Union auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ vorgesehen. Daneben wird der Schutz des Wettbewerbs – ehemals Art. 3 Abs. 1 lit. g EG – in ein Protokoll35 verlagert. Demgegenüber werden jedoch die Grundfreiheiten durch die Vorschriften der Art. 28 ff. AEUV inhaltlich unverändert gewährleistet und darüber hinaus über das Binnenmarktziel (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 EUV i. V. m. mit den Vorschriften über den Binnenmarkt in Art. 26 ff. AEUV) mit den Primärzielen verknüpft. Auch bleiben die bisherigen Gewährleistungen des Wettbewerbs(Art. 101 ff. AEUV) und des Beihilferechts (Art. 107 AEUV) erhalten. Zusammenschauend betrachtet ergibt sich damit das Bild, dass die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon nur formeller Natur sind, jedoch keine qualitativen Veränderungen der europäischen Wirtschaftsverfassung in rechtlicher Hinsicht zu erwarten sind.36 33

Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 2 Rn. 23 ff.; Dreher, WuW 1998, 656 ff. Vgl. nur EuGH Slg. 2000, I-8207 ff., Tz. 25 – „Nationale Buchpreisbindung“; Slg. 2003, I-8055 ff. – „CIF“. 35 Protokoll Nr. 27 zu dem Vertrag der Europäischen Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl.EU Nr. C 115 v. 09. 05. 2008, S. 309. 36 Vgl. ausf. Dreher/Lange, Die europäische Wirtschaftsverfassung nach dem Vertrag von Lissabon, in: FS 50 Jahre FIW, 2010, S. 151; in diesem Sinn auch Basedow, EuZW 2008, 225; Behrens, EuZW 34

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3. Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes a) Die Bedeutung der Grundrechte Das Grundgesetz enthält im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung keinen besonderen Abschnitt über das „Wirtschaftsleben“. Die Wirtschaftsverfassung des GG wird demnach in erster Linie durch die Grundrechte bestimmt: Die freie menschliche Persönlichkeit als oberster Wert der Verfassung37 bedingt nicht nur eine umfassende Handlungsfreiheit für den Einzelnen, sondern auch die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und die daraus folgende Unternehmerfreiheit, d. h. die grundsätzliche Freiheit der Einzelnen, selbständig Unternehmen zu gründen und zu führen.38

b) Die Einordnung der Wirtschaftsverfassung Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung entspricht in jeder Hinsicht der Rechtslage moderner Demokratien: Da diese die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Menschen oder jedenfalls ihrer Bürger zugrunde legen,39 bleiben ihnen nur zwei Wege zur Gestaltung ihrer (Rechts-)Verhältnisse: 40 Zum einen die hoheitliche Ordnung, die auf dem freien und gleichen Wahlrecht aller wahlberechtigten Bürger beruht (vgl. Art. 38 i. V. m. Art. 33 GG) und die auf diese Weise die Staatsgewalt i. S. d. Art. 20 Abs. 2 GG verwirklicht. Zum anderen die privatautonome Ordnung aufgrund der Vertragsfreiheit, die es den Einzelnen ermöglicht, ihre Verhältnisse unmittelbar durch Verträge zu gestalten, diese freilich kontrolliert von der staatlich gesetzten Rechtsordnung.41 Eine derart komplizierte Ordnung, wie die moderne Demokratie und Gesellschaft sie mit sich bringen, lässt sich allein durch eine Kombination beider Gestaltungsmöglichkeiten verwirklichen. Andere Wege hat das Bundesverfassungsgericht mit Recht ausgeschlossen, indem es sowohl eine „ständisch2008, 193; Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 433, 448 f., anders hingegen Selmayr, in: Mestmäcker/ Möschel/Nettesheim (Hrsg.), Verfassung und Politik im Prozess der europäischen Integration, 2008, S. 77 – bedenklich scheint allerdings die politische Wirkung, die von den abwertenden Äußerungen des französischen Staatspräsidenten Sarkozy und des Kommissionspräsidenten Barroso zur Bedeutung des Wettbewerbs für die europäische Integration ausgeht, mag sie auch dem Zeitgeist geschuldet sein, vgl. hierzu nur Behrens, ebenda Müller-Graff, ebenda, 445 f. 37 Den starken Persönlichkeitsbezug betonend: BVerfGE 7, 377, 397 – „Apotheken-Entscheidung“; BVerfGE 50, 290, 362 – „Mitbestimmungsentscheidung“. 38 BVerfGE 50, 290, 363; vgl. weiter Rittner, Unternehmerfreiheit und Unternehmensrecht zwischen Kapitalismus, Sozialismus und Laborismus, 1998, S. 17 ff.; ders., Rechtsperson und Rechtsfähigkeit im europäischen Privatrecht, in: FS Hüffer, 2009, S. 841; vgl. auch Badura (Fn. 3), S. 23. 39 Zur Gleichheit als Fundament der Demokratie vgl. noch immer C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 226 ff. 40 Vgl. dazu Rittner/Dreher (Fn. 1), § 4 Rn. 4 ff. und dazu Badura (Fn. 1), S. 129, den aber offenbar die Vorstellung einer „privatautonomen Kompetenzordnung“ stört; anders schon Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 43, zur Fähigkeit und Bereitschaft des Bürgers, „über seine eigenen Angelegenheiten zu bestimmen“. 41 Vgl. hierzu Rittner, Die wirtschaftsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, S. 137, 144, in: 40 Jahre Grundgesetz (Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br.), 1990, sowie Rittner (Fn. 38), S. 25 ff.

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korporative Ordnung“ als auch die „planmäßige Formung und Organisation (der Wirtschaft) durch den Staat“ als nicht der Verfassung entsprechend ablehnt.42

4. Das Sozialstaatsgebot a) Der gesetzgeberische Spielraum Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG kann sich auch in diesem Rahmen voll entfalten, wie die Praxis unseres sehr großzügigen Sozialstaats zeigt. Denn dem Gesetzgeber bleiben weite Felder, die auch das Bundesverfassungsgericht keineswegs eingeengt hat.43 Der Sozialstaat darf freilich die Freiheitsverbürgungen der Grundrechte nicht gefährden; ein Übergang zu einem „Wohlfahrts- und Versorgungsstaat“ wäre daher unzulässig.44

b) Die Privatisierungsgrenzen Angesichts der in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmenden Verlagerung von klassischen Bereichen der Daseinsvorsoge auf Private stellt sich jedoch die Frage nach den Grenzen der Privatisierung.45 Dabei lässt sich jedenfalls aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG keine Pfl icht des Staats herleiten, soziale Mindeststandards durch Eigentätigkeit zu sichern – vielmehr kann er dieser Pfl icht auch mittels Regulierung der privaten Märkte nachkommen.46 So hat auch das BVerfG ausdrücklich klargestellt, dass die wesentlichen Bestandteile der „Daseinsvorsorge“ nicht zwangsläufig von öffentlich-rechtlich organisierter Verwaltung wahrgenommen werden müssen.47 Auch lässt sich nicht aus dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG eine derartige Pfl icht des Staats herleiten, gewichtige Aufgaben unmittelbar durch staatliche Behörden wahrzunehmen. Denn das Demokratieprinzip verlangt nur, dass derartige Aufgaben in einem von der Volksvertretung beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt und ihre Wahrnehmung der Aufsicht demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt.48 Grenzen ergeben sich aber jedenfalls aus dem staatlichen Gewalt42

BVerfGE 50, 290, 353 – „Mitbestimmungsentscheidung“. Vgl. zuletzt BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2009 NJW 2009, 2033 ff. = VersR 2009, 957 ff. = NZS 2009, 436 ff. – „Gesundheitsreform“, das sub specie der „sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes“ den „Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung“ als eine „Kernaufgabe des Staates“ sieht (Tz. 171), die sowohl durch die gesetzliche Krankenversicherung als auch durch eine private Versicherung erfüllt werden kann (Tz. 175: eine „Volksversicherung aus zwei Säulen“). 44 Vgl. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1999, Rn. 215; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 918 ff., bes. 921 ff. 45 Vgl. zum Ganzen auch ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1), § 7 Rn. 105 ff. 46 Vgl. Bree, Die Privatisierung der Abfallentsorgung nach dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, 1998, S. 204 ff., 208. 47 BVerfGE 107, 59, 93 f. = NVwZ 2003, 974 – „Lippeverband“. 48 Rittner/Dreher (Fn. 1), § 7 Rn. 107. 43

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monopol.49 Denn Privaten ist es nur in dem tatbestandlich eng begrenzten Bereich von Notwehr- und Notstandsrechten ausnahmsweise gestattet, selbst Gewalt anzuwenden. In der Zusammenschau kommt dem Gesetzgeber damit auch in der Wahl der Wahrnehmung seiner sozialstaatlichen Aufgaben ein verfassungsrechtlich weiter Spielraum zu.

c) Die Idee einer Wirtschaftsdemokratie Die Idee einer „Wirtschaftsdemokratie“, wie sie namentlich Naphtali (1928) im Auftrag des ADGB entwickelt hat, lässt sich mit dem Grundgesetz nicht vereinbaren. Sie zieht eine dezentralisiert-planwirtschaftliche Ordnung der Wirtschaft vor, die von Selbstverwaltungskörperschaften bestimmt wird und so dem Staat, der demokratischen Willensbildung wesentliche Kompetenzen nehmen würde. Deswegen sind auch die früheren gewerkschaftlichen Forderungen nach einem Bundeswirtschafts- und Sozialrat bisher wirkungslos verhallt.

5. Die Wirtschaftspolitik a) Der Spielraum des Gesetzgebers Der Wirtschaftspolitik lässt das Grundgesetz danach weite Spielräume, wie sich auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre gezeigt hat: Bei allen, zum Teil tief reichenden Eingriffen in das „freie Spiel der Kräfte“ hat der Staat doch niemals die äußersten verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten. Die „Soziale Marktwirtschaft“, wie sie Alfred Müller-Armack der jungen Bundesrepublik als Wirtschaftspolitik empfohlen hatte50 und wie sie auch die Einigungsverträge formuliert haben,51 blieb so im Wesentlichen erhalten, von der Fixierung der Marktwirtschaft im Europäischen Recht ganz abgesehen.52 Damit ist übrigens nicht eine – womöglich je nach Lage – „mixed economy“ gemeint. Die „Soziale Marktwirtschaft“ darf nämlich „niemals die Schwelle überschreiten, an der die Störung des Marktes beginnt.“53

49 Die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols – allerdings in überhöhter Weise – wurde vor allem von Thomas Hobbes im 17. Jh. in seinem Werk „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staats“ (1691) herausgearbeitet. 50 Vgl. nur Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, IX. Bd., 1956, S. 390 ff. 51 Vgl. oben II. 2. b). 52 Vgl. oben III. 2. b). 53 So zutr. Müller-Armack, (Fn. 50), S. 391.

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b) Die begrifflichen Aspekte der Einordnung Ob man die Wirtschaftsordnung des Grundgesetzes als eine „kapitalistische“ bezeichnen darf, ist eine durchaus nebensächliche Frage, die freilich die tagespolitische Polemik54 immer wieder beschäftigt, aber aus glücklicherweise längst überwundenen Gedankengebäuden stammt: Der „Kapitalismus“, den die Marxisten durch den „Sozialismus“ ablösen wollten, um am Ende zum „Kommunismus“ zu gelangen, war ursprünglich ein politisches Schlagwort, das erst durch Werner Sombart und Max Weber zu wissenschaftlichen Ehren gelangte.55 Wer heute noch vom „Kapitalismus“ spricht, sieht deswegen lediglich einen „sozial bebändigten Kapitalismus“, der jedoch „auf eine freie Wirtschaft nicht verzichten kann“.56

c) Die Unzulässigkeit einer Zentralverwaltungswirtschaft Eine Zentralverwaltungswirtschaft verbietet sich jedenfalls nach dem Grundgesetz.57 Abgesehen davon, dass der Begriff lediglich ein idealtypisches Modell und nicht etwa eine wirtschaftspolitische Möglichkeit meint,58 scheitert sie auch in der Praxis, wie sich spätestens bei den kläglichen Versuchen der Staaten des ehemaligen Ostblocks gezeigt hat, die Wirtschaft zentral zu organisieren.

6. Die Landesverfassungen Die Landesverfassungen gehen zum Teil weiter als das Grundgesetz, indem sie profunde wirtschaftsrechtliche Sätze wagen, freilich mit sehr unterschiedlichem Inhalt. Während z. B. die Verfassung für Rheinland-Pfalz seit 2000 in ihrem Art. 51 „die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschaftsordnung“ bezeichnet – ähnlich übrigens die Verfassungen von Brandenburg und Thüringen – folgen ältere Verfassungen noch dem Beispiel der WRV, so etwa Bayern, Bremen und Hessen. Angesichts der umfassenden bundesrechtlichen Regelung des Wirtschaftsrechts spielen diese Normen jedoch eine sehr bescheidene Rolle.59

54 Bauer, Kapitalismus, Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. IV, 1959, Sp. 814: „Politisch-agitatorisches Bedürfnis“. 55 Sombart, Der moderne Kapitalismus, 1902/1916–27; Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904; vgl. auch vom Brocke, Sombarts „Moderner Kapitalismus“, 1987, bes. S. 42 f. m. Fn. 60. 56 So Koslowski, Kapitalismus, Staatslexikon, 7. Aufl., III. Bd., 1987, Sp. 307. 57 So auch Papier, WM 2009, 1869. 58 Vgl. hierzu und zum Folgenden Rittner, (Fn. 24) 715. 59 Vgl. des Näheren Rittner/Dreher (Fn. 1), § 2 Rn. 53, § 8 Rn. 24 ff.; Breuer, in: Handbuch des Staatsrechts, Band VI, § 147 Rn. 61 ff.

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IV. Das Unternehmensrecht 1. Begriff und Grundlagen 60 a) Die Unternehmerfreiheit als Ausgangspunkt Aus der grundrechtlich verbürgten Unternehmerfreiheit, der Freiheit jeder Person, ein Unternehmen allein oder gemeinsam mit anderen zu gründen und zu betreiben, folgt das Unternehmensrecht als Teil der wirtschaftsrechtlichen Ordnung. Es bestimmt im Einzelnen, wer ein Unternehmen, zumal in den verschiedenen Wirtschaftszweigen, betreiben darf und regelt auch allfällige hoheitliche Kontrollen und sonstige Voraussetzungen.

b) Der Unternehmensbegriff Das Unternehmen stellt sich für das Wirtschaftsrecht als eine selbständige Produktionseinheit dar, die wirtschaftliche Güter, Waren oder Dienstleistungen auf den Markt bringt, und zwar im Wettbewerb mit anderen Unternehmen. Sein Träger ist entweder eine natürliche oder juristische Person oder eine Gesellschaft – der Unternehmensträger. Die Selbstständigkeit des Unternehmens, übrigens auch seiner Gründung, wird primär durch das Privatrecht gewährleistet: Eine oder mehrere Einzelpersonen gründen ein Unternehmen, indem sie sich durch privatrechtliche Verträge Geschäftsräume zu Eigentum oder Miete beschaffen, Kredite besorgen, Beschäftigte einstellen sowie erste Verträge mit Lieferanten und Abnehmern schließen und sich so dem Wettbewerb stellen. Die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) gibt dazu allen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der EU im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats das Recht, Unternehmen und Zweigniederlassungen zu gründen. Diese Freiheiten gehören zu den Merkmalen freiheitlicher Ordnungen, mit denen sie sich von den staatswirtschaftlichen Ordnungen, namentlich des früheren Ostblocks, unterscheiden. Sie lassen nicht nur den Einzelnen seine Begabungen und Initiativen entfalten, sondern entfesseln so auch die Produktivkräfte derart, dass sich ein gesellschaftlicher Wohlstand leicht verbreitet. Wieweit die öffentliche Hand Unternehmen gründen und betreiben darf, ist eine – insbesondere rechtspolitisch – schwierig zu beantwortende Frage. Auf sie gibt das Grundgesetz keine Antwort, auch nicht in Art. 19 Abs. 3 GG. Da der Bund ebenso wie die Länder und die Gemeinden juristische Personen sind, scheint jedenfalls das Privatrecht ihnen die Möglichkeiten zu geben.61

60 61

Vgl. hierzu und zum Folgenden Rittner (Fn. 38). Vgl. des Näheren unten bei IV. 3.

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c) Die Abgrenzung zu den Freien Berufen Dem Unternehmen ähnlich, aber doch von ihm zu unterscheiden sind die Freien Berufe.62 Anders als das Unternehmen, das grundsätzlich endlos wachsen kann und so den Unternehmer, namentlich den Gründer als Einzelperson, mehr und mehr zurücktreten lässt, setzt der Freie Beruf voraus, dass der Berufsträger seine Leistungen persönlich und eigenverantwortlich erfüllt, wie es der Klient von seinem Rechtsanwalt, Arzt oder Architekten erwartet. Freilich haben Rechtswissenschaft und Rechtspraxis lange Zeit gebraucht, um den Freien Beruf als eigenständiges Phänomen anzuerkennen. Dazu war es einerseits nötig, die Freien Berufe aus dem Staatsdienst zu lösen, in dem sie noch während des 19. Jahrhunderts gefangen waren,63 und sie andererseits von den Unternehmen abzugrenzen, mit denen sie die berufl iche Freiheit und Selbständigkeit gemeinsam haben, aber doch einer anderen Wettbewerbsordnung unterworfen sind als jene. Dies alles ist mittlerweile außer Streit, auch wenn sich die Grenze zwischen den Unternehmen und den Freiberuflern nicht überall exakt ziehen lässt. So erließ der deutsche Gesetzgeber 1994 das „Gesetz über Partnerschaftsgesellschaften Angehöriger Freier Berufe“, und hob das Bundesverfassungsgericht 2008 in einer Grundsatzentscheidung zum Gewerbesteuerrecht die Eigenarten der Freien Berufe sehr deutlich hervor.64 Sogar die Monopolkommission widmete in ihrem XVI. Hauptgutachten 2004/05 ein ganzes Kapitel den Freien Berufen.65 Schließlich hat sich auch das Europäische Parlament in letzter Zeit mehrfach mit dem Thema befasst.66

2. Die Unternehmensträger des privaten Rechts Unternehmensträger des privaten Rechts kann jeder Einzelne sein, so vor allem Handwerker, Einzelkaufleute und Landwirte. Daneben kommen, namentlich für größere Unternehmen, spezielle juristische Personen sowie Gesellschaften in Betracht, die das Gesellschaftsrecht – dieses durch Art. 9 Abs. 1 GG gesichert – und das Stiftungsrecht im Laufe der Zeit herausgebildet haben, z. T. freilich nur für bestimmte Branchen. Inzwischen hat das europäische Recht einige eigene Unternehmensträger dazugesellt.

a) Nach deutschem Recht Danach gibt es zurzeit nach deutschem Recht folgende Unternehmensträger privaten Rechts: – den Einzelunternehmer, 62 Vgl. dazu Rittner, Unternehmen und Freier Beruf als Rechtsbegriffe, 1962; ders., Die Freien Berufe und der Wettbewerb, WuW 2008, 1151 ff. 63 Vgl. dazu Triepel, Staatsdienst und staatlich gebundene Berufe, in: FS Binding, 1911, S. 1 ff. 64 BVerfGE 120, 1 ff. = JZ 2008, 998 m. Anm. Rittner. 65 BTDrucks. 16/2460, VI. Kapitel, S. 373–427. 66 Vgl. nur die Entschließungen B5-0247/2001 und A6-0272/2006.

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– die Personalgesellschaften: BGB-Gesellschaft, OHG und KG, – die Kapitalgesellschaften: Aktiengesellschaft, die Kommanditgesellschaft auf Aktien, GmbH, – die Genossenschaften. Als branchenspezifische Unternehmensträger kommen hinzu: – der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, – die Partnerschaftsgesellschaft für Freie Berufe. Während alle diese Unternehmensträger frei gegründet werden können, bedürfen die beiden „subsidiären“ Unternehmensträger des deutschen Privatrechts einer behördlichen Konzession: – der wirtschaftliche Verein (§ 22 BGB), – die Stiftung (§ 80 BGB).

b) Nach europäischem Recht Nach europäischem Recht gibt es zurzeit vier Unternehmensträger: – die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) nach der VONr. 2137/85 des Rates, die die grenzüberschreitende Kooperation von Unternehmen oder Freiberuflern erleichtern soll, – die Europäische Aktiengesellschaft (SE) nach der VO-Nr. 2157/2001 des Rates, deren Organisation sich freilich weitgehend nach dem Aktienrecht des Sitzstaates richtet, – die Europäische Genossenschaft nach der VO-Nr. 1435/2003 des Rates und – das Gemeinsame Unternehmen im Sinn von Art. 187 f. AEUV und Art. 45 ff. EAGV.

3. Die Unternehmen der öffentlichen Hand a) Die Unternehmensträger Als Unternehmensträger kommen grundsätzlich auch die öffentlich-rechtlichen Körperschaften in Betracht, vor allem der Bund, die Länder und die Gemeinden, zumal sie juristische Personen sind. Ob und wieweit diesen Körperschaften die Unternehmerfreiheit zusteht, lässt das Grundgesetz offen. Lediglich § 130 GWB erwähnt die „Unternehmen der öffentlichen Hand“, die danach grundsätzlich dem Kartellrecht unterstellt sind. Daher kann sich die öffentliche Hand jedenfalls der wichtigsten Unternehmensträger des privaten Rechts bedienen, so namentlich der Aktiengesellschaft und der GmbH. Das Haushaltsrecht sorgt freilich dafür, dass sie nur unter gewissen Voraussetzungen – hinreichende Kontrolle, beschränkte Haftung usw. – davon Gebrauch machen.67 Diese Unternehmen sind jedoch ebenso wie die öffentliche Verwaltung an 67 Vgl. § 65 Bundeshaushaltsordnung und die entsprechenden Regelungen für die Länder und Gemeinden.

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die Grundrechte gebunden und den sonstigen öffentlich-rechtlichen Bindungen unterworfen,68 was einer „Flucht in das Privatrecht“ vorbeugt. Daneben gibt es spezielle Rechtsformen des öffentlichen Rechts: Zum einen die Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, beide mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet, so z. B. die Rundfunkanstalten, die öffentlich-rechtlichen Sparkassen und Versicherungen sowie die Sozialversicherungsträger, zum anderen die Eigenbetriebe und Regiebetriebe der öffentlichen Hand.69

b) Die Grenzen der unternehmerischen Tätigkeit Ob und welche Grenzen der unternehmerischen Tätigkeit der öffentlichen Hand gesetzt sind, sagt das Grundgesetz nicht. Es überlässt diese wichtige Frage damit praktisch dem einfachen Recht, z. B. dem Haushaltsrecht. Dasselbe gilt für das europäische Recht.70 Lediglich Art. 106 Abs. 2 AEUV gibt eine – wenn auch ziemlich unbestimmte – kartellrechtliche Sonderregel für „Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben“. Sie wird ergänzt durch den gleichfalls wenig präzisen Art. 14 AEUV, der „die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ schützen soll. Hierbei treffen sehr unterschiedliche nationale Traditionen aufeinander, so insbesondere die deutschen Vorstellungen einer „Daseinsvorsorge“ der öffentlichen Hand und die wohl noch ältere französische Idee des „service public“.71 Obwohl nach beiden Traditionen gewisse Wirtschaftsbereiche wie Post, Energie, Verkehr und Telekommunikation der Privatwirtschaft entzogen werden sollten, hat die Kommission eine Liberalisierungspolitik durchgesetzt, die mittlerweile auch jene Bestimmungen europäischen Rechts relativiert. Die danach verbleibenden Unternehmen der öffentlichen Hand sollen zwar im Sinne einer öffentlichen Aufgabe gegründet und im Allgemeininteresse geführt werden. Dies lässt sich freilich in concreto nicht immer gewährleisten.72 Daher kommt es in der Praxis häufig zu einer Konkurrenz von öffentlichen Unternehmen mit Privatunternehmen, was diese jedenfalls nach der Rechtsprechung der Verwaltungs- und der ordentlichen Gerichte nahezu rechtsschutzlos hinzunehmen haben.73

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Vgl. z. B. BGHZ 154, 146, 149; BGHZ 91, 84, 97. Vgl. dazu des Näheren Rittner/Dreher (Fn. 1), § 11 Rn. 28 ff. 70 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1997 I, 5689, Tz. 37 Kommission/Niederlande. 71 Vgl. dazu Hrbek/Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und die mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002. 72 Vgl. dazu Rittner/Dreher (Fn. 1), § 11 Rn. 49 ff. 73 Vgl. z. B. BVerwG NJW 1995, 2938, 2939 – „Wirtschaftsförderung“, OVG Münster NVwZ 2008, 1031; OVG Lüneburg NVwZ 2009, 258 und BGHZ 150, 343 – „Elektroarbeiten“ = ZIP 2002, 1645 ff. m. abl. Anm. Dreher; kritisch dagegen z. B. Dreher, in: FG 50 Jahre BGH, Band II, 2000, S. 713, 721 ff.; Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 183 ff.; Ehlen, 64. DJT, Band I, 2002, E 85 ff.; Löwer, VVDStRL 60 (2001), 417, 444 ff.; Schmidt-Aßmann, in: FS Ulmer, 2003, S. 1015 ff.; Ipsen, ZHR 170 (2006), 422, 450 ff. 69

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4. Die Mitbestimmung in den Gesellschaften a) Der Ursprung der Mitbestimmung Die Mitbestimmung von Belegschafts- und Gewerkschaftsvertretern in den Organen bestimmter Gesellschaften, nämlich von Unternehmensträgern des privaten Rechts, geht auf eine deutsche Entwicklung zurück, die spätestens mit der WRV beginnt, vgl. etwa Art. 156 Abs. 1, 165 Abs. 1 WRV. Diese sog. unternehmerische Mitbestimmung, welche die Willensbildung der Unternehmensleitung direkt beeinflussen soll, unterscheidet sich von der betrieblichen Mitbestimmung durch die Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 (BetrVG 1952). Obwohl das Grundgesetz jene mit keinem Wort erwähnt,74 gehörte sie lange Zeit zu den wichtigsten und umstrittensten rechtspolitischen Themen der Bundesrepublik. Erst das Mitbestimmungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 197975 hat die Gemüter im Wesentlichen beruhigt. Während die Drittelbeteiligung von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten von Kapitalgesellschaften mit über 500 Arbeitnehmern nach den damaligen §§ 76 ff. BetrVG 1952, d. h. heute nach dem DrittelbG von 2004, so gut wie außer Streit war, hatte das Verlangen der Gewerkschaften nach paritätischer Mitbestimmung zu einem vielbeachteten Verfassungsstreit geführt. Die Gewerkschaften hatten nämlich – sogar mittels Streikdrohungen – 1951 eine paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten des Bergbaus und der Eisen- sowie der Stahlindustrie erreicht76 und wollten diese Regelung auf alle großen Unternehmen ausdehnen. Zudem schlugen ihnen nahestehende Wissenschaftler eine ganz neuartige „Unternehmensverfassung“ für Großunternehmen vor, die das bisherige Gesellschaftsrecht insoweit hätte ablösen sollen.77

b) Die Lösung des Gesetzgebers Der Gesetzgeber löste das Problem, vorbereitet durch die sog. Biedenkopf-Kommission,78 durch das Mitbestimmungsgesetz vom 4. Mai 1976 (MitbestG).79 Dieses Gesetz, vom Bundestag mit überwältigender Mehrheit angenommen, führte eine fast paritätische Mitbestimmung für alle Kapitalgesellschaften und Genossenschaften mit mehr als 2.000 Arbeitnehmer ein, ohne jedoch das Gesellschaftsrecht und das Montan-Mitbestimmungsrecht anzutasten. Die Parität der Montan-Mitbestimmung 74 Vgl. etwa Krieger, Unternehmensverfassung, Mitbestimmung und Grundgesetz, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 697, 698. 75 BVerfGE 50, 290 ff.; davor bes. VVStRL 35 (1977): „Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft“ mit Referaten von Saladin (S. 7 ff.) und Papier (S. 55 ff.). 76 Montan-Mitbestimmungsgesetz vom 21. 05. 1951. 77 Boettcher/Hax/Kunze/v.Nell-Breuning/Ortlieb/Preller, Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung, 1968, sog. Sechserbericht. 78 Bericht der Sachverständigenkommission zur Auswertung der bisherigen Erfahrungen bei der Mitbestimmung in Unternehmen (Mitbestimmungskommission), BTDrucks. VI/334 (1970). 79 BGBl I, S. 1153.

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übernahm es freilich nicht ganz, indem es dem – grundsätzlich immer von der Anteilseignerseite gestellten – Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 27 Abs. 2 MitbestG) bei Stimmengleichheit im Aufsichtsrat ein Zweitstimmrecht gab (§ 29 Abs. 2 MitbestG). Dies ist vor allem für die Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern, also der Leitung der Gesellschaft, bedeutsam; vgl. § 31 MitbestG, § 84 AktG. Zwar kennt auch das MitbestG einen „Arbeitsdirektor“ als „gleichberechtigtes Mitglied“ des Vorstandes (§ 33 MitbestG), dessen Bestellung und Abberufung jedoch – anders als in der Montanmitbestimmung (§ 13 MontanMitbestG) – nicht von den Arbeitnehmervertretern abhängt.

c) Die Reaktion auf das Mitbestimmungsgesetz Das MitbestG 1976 griff so tief in die Ordnung der betroffenen Gesellschaften ein, dass sich einige Unternehmen und Verbände gezwungen sahen, es mit einer Verfassungsbeschwerde anzugreifen.80 In seinem Urteil vom 1. März 197981 kam es dem I. Senat des Bundesverfassungsgerichts vor allem darauf an, zunächst die Konzeption des MitbestG und die wichtigsten Einzelheiten – die beide z. T. politische Formkompromisse waren – inhaltlich zu klären. So arbeitete es das „leichte Übergewicht“ der Anteilseignerseite scharf heraus, um die von vielen geforderte exakte Parität auszuschließen, erklärte auch, dass die Mitbestimmung gegenüber der Drittelbeteiligung von 1952 lediglich „erweitert“ sei und vor allem die betroffenen Gesellschaften weiterhin privatautonome Vereinigungen i. S. d. Art. 9 Abs. 1 GG geblieben seien, auch die Tariffreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht in Frage gestellt sei. Zugleich wies es darauf hin, dass das Gesetz in vielen Punkten auf Prognosen beruhe und der Gesetzgeber zu einer Korrektur verpfl ichtet sei, falls sich diese nicht erfüllten. Das Urteil, das am Ende das MitbestG unter diesen Voraussetzungen für verfassungsmäßig erklärte, zeigt in seiner ungewöhnlich ausführlichen Begründung auch die verfassungsrechtlichen Grenzen jeder Mitbestimmungsregelung auf, und zwar vor allem markiert durch Art. 9 Abs. 1 und 3, 12 und 14 GG; danach wäre eine exakt paritätische Mitbestimmung nicht mit der Verfassung vereinbar. Das Urteil hat aber auch den Sturm, den die damalige Mitbestimmungsdebatte ausgelöst hatte, weitgehend beruhigt und vor allem die viel weitergreifenden Pläne einer neuen „Unternehmensverfassung“ verschwinden lassen.82

80

Vgl. dazu bes. Badura/Rittner/Rüthers, Mitbestimmung und das Grundgesetz, Kölner Gutachten,

1977. 81

BVerfGE 50, 290 ff. – „Mitbestimmungsentscheidung“. Dies auch dank der Rechtsprechung des gesellschaftrechtlichen (II.) Zivilsenats des BGH, der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts konsequent umsetzte: BGHZ 83, 106 – „Siemens“; BGHZ 83, 144 – „Dynamit-Nobel“; BGHZ 83, 151 – „Bilfi nger + Berger“; BGHZ 89, 48 – „Reemtsma“; BGHZ 122, 342 – „Hamburg-Mannheimer“. 82

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d) Die europäische Entwicklung Die europäische Rechtsentwicklung kam dem entgegen, zumal sowohl die paritätische Mitbestimmung als auch der Ruf nach einer gänzlich neuen „Unternehmensverfassung“ deutsche Sonderwege waren. Die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) 83 wurde lange Zeit durch die deutsche Mitbestimmungsdiskussion blockiert. Das Statut der SE sieht – auf bauend auf dem Gedanken der verhandelten Mitbestimmung – 84 ein milderes und flexibleres Mitbestimmungsregime vor als das deutsche Recht. Deswegen ziehen vor allem deutsche Großunternehmen die SE als Rechtsform neuerdings auch vor.

e) Die Auswirkungen auf die soziale Marktwirtschaft Auch wenn, wie das Bundesverfassungsgericht betont, die paritätische Mitbestimmung keineswegs durch das Grundgesetz gefordert wird,85 tragen die Mitbestimmungsgesetze jedenfalls dazu bei, die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften in die soziale und politische Ordnung noch besser zu integrieren, so Frieden zu stiften und die soziale Marktwirtschaft zu sichern. In Zukunft wird die Zahl der qualifiziert mitbestimmten Gesellschaften überdies zurückgehen: Die Montanmitbestimmung läuft in absehbarer Zeit mit dem Verschwinden des Bergbaus sowie dem dramatischen Rückgang der Eisen- und Stahlindustrie aus und die Mitbestimmung nach dem MitbestG geht aufgrund neuer europarechtlicher Mitbestimmungsfreiheiten86 quantitativ zurück.

V. Das Vertrags-, Tarif- und Wettbewerbsrecht 1. Zum historischen Hintergrund Der moderne demokratische Staat ist bereits durch seine Kernaufgaben derart belastet, dass er große Teile notwendiger rechtlicher Regelungen nicht selbst leisten kann,87 sondern sie anderen überlassen muss. Deswegen, aber auch den Grundwertungen der Verfassung entsprechend, greifen die Freiheitsrechte weit in das Wirtschaftsleben hinein und bestimmen so fundamental das geltende Wirtschaftsrecht.

83

Vgl. oben IV. 2. b). Vgl. dazu z. B. Henssler, in: FS H. P. Westermann, 2008, S. 1019 ff.; Raiser, in: FS H. P. Westermann, 2008, S. 1295 ff.; Hommelhoff, ZGR 2010, 48 ff. 85 BVerfGE 50, 290, bei C.II. a. E. 86 Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 10 Rn. 56 m.w.Nachw. 87 Die Zentralverwaltungswirtschaft war übrigens stets nur als ökonomisches Modell gedacht und nicht als wirtschaftspolitische Alternative, vgl. nur Rittner, (Fn. 24), 715. 84

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a) Die Freiheitsrechte Diese Freiheitsrechte haben sich die Bürger erst im Lauf der letzten rund 250 Jahre von dem anfangs fast allmächtigen Staat erkämpft: Das Naturrecht der Auf klärung führte zu den ersten zivilrechtlichen Kodifi kationen – an der Spitze dem Code Civil –, die die Vertragsfreiheit den Rechtspersonen zuerkannten.88 Demgemäß begann das Vertragsrecht des BGB von 1896 auch mit dem programmatischen § 305, der die Vertragsfreiheit für alle statuiert, freilich mit einem etwas verklausulierten Text, wie ihn die Verfasser des BGB liebten. Der Bundesgesetzgeber hat diese Zentralnorm des Vertragsrechts in dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz von 2001 leider zu einer Eingangsnorm zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen pervertiert.

b) Die Tarifvertragsfreiheit Die Tarifvertragsfreiheit entstand zunächst aufgrund der bürgerlich-rechtlichen Vertragsfreiheit, deswegen anfangs noch ohne normative Wirkungen. Erst die Tarifvertragsverordnung vom 23. Dez. 1918 erklärte die Vorschriften über den Inhalt der Arbeitsbedingungen zu Rechtsnormen, was Art. 165 Abs. 1 Satz 2 WRV bekräftigte. Daran knüpft das geltende Tarifvertragsgesetz von 1949 an.

c) Der Schutz des Wettbewerbs Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Vertragsfreiheit auf sehr unterschiedliche Weise zu Wettbewerbsbeschränkungen führen kann, bemühte sich der Gesetzgeber darum, diesen Gefahren zu begegnen. Dem unzureichenden Versuch der Kartellverordnung von 1923 folgte das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957, das jedoch inzwischen sachlich durch das europäische Recht – insbesondere Art. 101 ff. AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003 des Rates – fast verdrängt wurde.89 Das Grundgesetz nennt zwar diese Freiheiten nicht ausdrücklich, erkennt sie jedoch der Sache nach an, wie sich sogleich zeigen wird.

2. Die bürgerlich-rechtliche Vertragsfreiheit a) Die Grundlage der Vertragsfreiheit Obwohl das Grundgesetz, wie gesagt, dazu schweigt, gilt die Vertragsfreiheit aufgrund der Art. 2, 12 und 14 GG als gewährleistet,90 gerade auch auf „vermögens88

Vgl. nur Schmoeckel (Fn. 1), Rn. 234. Vgl. dazu des Näheren Rittner/Dreher (Fn. 1), § 14 Rn. 24 ff.; Kling/Thomas, Kartellrecht, 2007, § 1 Rdnr. 6 ff. 90 Die verfassungsrechtliche Verortung der Vertragsfreiheit ist umstritten; teilweise wird sie als unbenanntes Freiheitsgrundrecht, welches dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG zuzuordnen ist, verstanden, vgl. nur Manssen (Fn. 3), Art. 12 Rn. 69. Das BVerfG verortet die Vertragsfreiheit in Art. 2 89

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rechtlichem Gebiet“.91 Insofern ersetzt nunmehr die Verfassung den § 305 BGB, der vor über 100 Jahren als reichsrechtliche Norm die Vertragsfreiheit gewährleisten sollte.

b) Die Bedeutung des Vertrags Dabei kommt es wesentlich auf den Vertrag an und weniger auf die Privatautonomie. Dass beides voneinander zu unterscheiden ist, übersehen freilich viele.92 Denn der Vertrag, das Austauschgeschäft, beherrscht nicht nur die privatrechtliche Praxis, sondern gewährleistet auch in besonderem Maß die Richtigkeit seiner Ergebnisse im typischen Einzelfall. Die unzähligen, täglich vereinbarten Kauf-, Miet-, Pacht-, Werk- und Dienstleistungsverträge, um nur einige zu nennen, ermöglichen überhaupt erst die arbeitsteilige Gesellschaft. Sie setzen ihrerseits den Markt voraus und verwirklichen ihn zugleich als „spontane Ordnung“.93 In dieser Ordnung regiert übrigens keineswegs die Willkür. Sie ist vielmehr vom staatlich gesetzten und kontrollierten Privatrecht im Sinn eines Rahmens vorgeformt.94 Vor allem aber führt der Vertrag selbst in der Regel schon zu einem richtigen Ergebnis, jedenfalls aus der Sicht der Vertragspartner. Denn jeder von ihnen opfert seine Leistung, um die Gegenleistung zu erhalten, vorausgesetzt selbstverständlich, dass jeder von ihnen die nötige Wahlfreiheit hat, auch eine andere Leistung für seine eigene Leistung zu fordern.95 Die Privatautonomie greift begriffl ich weiter, indem sie auch die einseitigen Rechtsgeschäfte erfasst.96 Das einseitige Rechtsgeschäft ist aber nicht nur statistisch ein Ausnahmefall, der fast nur beim Testament praktisch wird, dessen Wirkung überdies den Tod des Erblassers voraussetzt. Es kam zudem erst ins Spiel der zivilrechtlichen Dogmatik, als die spätere Pandektistik den höchst abstrakten Begriff des Rechtsgeschäfts entwickelte.97

Abs. 1 GG, soweit nicht besondere Freiheitsgrundrechte, insbesondere die Berufsfreiheit, einschlägig sind, vgl. BVerfGE 12, 341, 347; BVerfGE 70, 115, 123 sowie jüngst BVerfG VersR 2009, 957, 966 (Tz. 219 c)), vgl. dazu ausführlich unten VII. 4a; teilweise wird eine Zuordnung zu Art. 12 Abs. 1 GG vorgeschlagen, sofern ein berufl icher Kontext gegeben ist, vgl. Breuer (Fn. 59), § 147 Rn. 63; Degenhart, JuS 1990, 161, 165; Scholz (Fn. 3), Art 12 Rn. 58, 123, 132 ff. 91 So z. B. Papier (Fn. 75), S. 83; Zippelius/Würtenberger (Fn. 3), § 35 Rn. 2; Hesse (Fn. 40), S. 40 ff.; BVerfGE 4, 7, 15 f. 92 So z. B. auch Hesse (Fn. 40); zutr. dagegen z. B. Isensee, Privatautonomie, in: HStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 150 Rdnr. 1 ff., Rittner, Der privatautonome Vertrag als rechtliche Regelung, JZ 2010 (im Druck). 93 So von Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968), in: ders., Rechtsordnung und Handelnsordnung, 2003, S. 132, 137 f. 94 Die Tätigkeit des (auch) wirtschaftsrechtlichen Gesetzgebers legitimiert sich insoweit „aus der Freiheit als vorstaatlicher Idee“ und ist zugleich „die Verwirklichung der Freiheit“, vgl. Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rdnr. 173. 95 Vgl. Rittner, Über das Verhältnis von Vertrag und Wettbewerb, AcP 188 (1988), 101, 120 ff. 96 Die Privatautonomie war der Ansatz von von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936; dazu Rittner, JZ 2007, 1043. 97 Vgl. dazu zuletzt Stahgl, ZEuP 2007, 37 f.

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c) Die Ordnungsfunktion des Vertrags Die Ordnungsfunktion des Vertrags wird leider noch immer nicht überall richtig gesehen: Der Gesetzgeber versucht, vor allem durch das Verbraucherschutzrecht die Vertragsergebnisse zu korrigieren und engt damit regelmäßig die Vertragsfreiheit unnötig ein. Leider geht dabei das europäische Recht auf diesem Wege voran.98 Aber auch das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt für einzelne Verträge eine Störung der „Vertragsparität“ angenommen und sie deswegen nachträglich korrigiert.99 Dabei handelte es sich freilich um extrem gelagerte Fälle, in denen eigentlich schon die Zivilgerichte nach § 138 BGB hätten eingreifen sollen.100 Dennoch bleibt die Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts von dem „Machtungleichgewicht“ in den Begründungen zu kritisieren: Sie arbeitet mit einem bildhaften Ausdruck von so erheblicher Unschärfe, dass eine Subsumption nicht möglich ist.101 Sie wird überdies durch manche irreführenden Bemerkungen in der zivilrechtlichen Literatur genährt, die eben die Ordnungsfunktion des Vertrages verkennen.102 Denn auch jeder schlichte Kaufvertrag, den ein armer Verbraucher etwa mit einem Kauf haus schließt, leidet regelmäßig keineswegs an dem „Machtungleichgewicht“ der Vertragspartner. Nur in seltenen Fällen kann ein Vertragspartner den Vertragsinhalt wirklich „faktisch einseitig bestimmen (. . .), [so dass] dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung [bewirkt]“.103

3. Das Tarifvertragsrecht a) Die Tarifvertragsfreiheit und das Grundgesetz Das Grundgesetz gewährleistete in Art. 9 Abs. 3 ursprünglich zwar die Koalitionsfreiheit, aber nicht ausdrücklich die Tarifautonomie. Erst Satz 3 der Norm, eingeführt durch das 17. Änderungsgesetz im Jahr 1968, erwähnt die „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“.

98 Vgl. nur die zahlreichen Richtlinien zum Verbraucherschutz in Winkel/Haug-Adrion/Klocker, Europäisches Wirtschaftsrecht (Losebl.), Ziff. 110 ff. sowie Dreher, JZ 1997, 167 ff. 99 Vgl. z. B. BVerfGE 81, 242; BVerfGE 89, 214, und dazu Rittner, Die gestörte Vertragsparität und das Bundesverfassungsgericht, NJW 1994, 3330 f.; Bullinger, Die funktionelle Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 239, 246 f. Nunmehr auch Bullinger, Regulierung von Wirtschaft und Medien, 2008, S. 36, 43 f. 100 So aber neuerdings auch BGH, Urteil v. 16. 06. 2009, Az. XI ZR 539/07 = NJW 2009, 2671 ff. 101 So z. B. schon Ackermann, in: Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 524. 102 So bes. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, II. Bd.: Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, S. 10 f.; früher schon Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 105 f.; zu beiden schon Rittner (Fn. 95), S. 108 f. 103 So BVerfGE 89, 214, 232.

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b) Das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat dennoch von Anfang an und zu Recht die Tarifautonomie anerkannt, weil die Koalitionen nur mit deren Hilfe ihre Zwecke erfüllen können.104 Allerdings soll lediglich der „Kernbereich“ der Koalitionsfreiheit unter der Tarifautonomie geschützt sein.105 Deswegen ist die Tarifautonomie nur „ganz allgemein“ gewährleistet, jedoch nicht „die besondere Ausprägung durch das geltende Tarifvertragsgesetz“, so dass der Gesetzgeber „an einer sachgemäßen Fortbildung des Tarifvertragsrechts nicht gehindert (ist)“.106

4. Das Wettbewerbsrecht a) Das Grundgesetz und das Wettbewerbsrecht Das Grundgesetz erwähnt die Wettbewerbsbeschränkungen nur in dem Gesetzgebungskatalog des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16: „die Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“. Damit nahm es den Gedanken wieder auf, den die Kartellverordnung 1923 wenig effektiv verarbeitet hatte, indem diese nur ein Eingreifen des Staats bei „Missbrauch“ vorsah.

b) Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Als sodann der Bundesgesetzgeber im Jahr 1951 das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ plante, stand jedoch das Kartellverbot, zumal es durch den Überleitungsvertrag, II. Teil, Art. 1, besatzungsrechtlich gefordert war, im Mittelpunkt eines Streits, der auch die Verfassung berührte. Denn einige Verfassungsrechtler meinten, das Kartellverbot verletze die Freiheitsrechte, vor allem Art. 9 Abs. 1 GG,107 während andere das Kartellverbot als durch die Verfassung geboten ansahen.108 Der Gesetzgeber hat sich durch den Streit mit Recht nicht beeinflussen lassen und das Kartellverbot am Ende so verabschiedet, wie es geplant war.109 Die Verwaltungspraxis und die Gerichte sind dem dann gefolgt, so dass es nicht einmal einer Grundsatzentscheidung des BVerfG bedurfte.

104

Vgl. BVerfGE 4, 96, 106 ff.; BVerfGE 20, 312, 317. BVerfGE 19, 303, 321 f.; BVerfGE 28, 295, 304; BVerfGE 38, 281, 305 f. 106 So BVerfGE 50, 290, 361 f. 107 Vgl. z.B. Giese, Die grundrechtliche Freiheit zum Abschluss wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, 1950; E. R. Huber, Die Verfassungsproblematik eines Kartellverbots, 1955. 108 So z. B. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1952; ders., WuW 1956, 173, 187; Nipperdey, Die soziale Marktwirtschaft in der Verfassung der Bundesrepublik, WuW 1954, 211, 215 f. 109 Vgl. nur Rittner/Dreher (Fn. 1), § 14 Rn. 20. 105

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c) Das europäische Kartellrecht Dazu trug gewiss bei, dass das europäische Kartellrecht von Anfang an (1957) in Art. 85 EWGV ein weit gefasstes Kartellverbot enthielt. Dieses Verbot – nunmehr materiell in Art. 101 AEUV enthalten und hinsichtlich seiner Anwendung verfahrensrechtlich in der Verordnung Nr. 1/2003 des Rates näher bestimmt – bedarf freilich einer gewissen Restriktion, insbesondere um die kartellfreien Nebenabreden in Schuldverträgen zu schützen.110

VI. Das allgemeine Lenkungsrecht 1. Begriff und Grundlagen111 Das Lenkungsrecht i. w. S. bildet den Oberbegriff für das Gewährleistungsrecht und das Lenkungsrecht i.e.S und umfasst alle Rechtsnormen und -institute, durch die der Staat auf hoheitlichem Weg unmittelbar oder mittelbar auf die Unternehmen einwirkt, um deren privatautonomes Verhalten im Sinn bestimmter gesamtwirtschaftlicher Zielvorstellungen zu beeinflussen.112 Mit dieser weiten Defi nition des Lenkungsrechts werden notwendig auch solche Rechtsnormen wie z. B. das Kartellgesetz erfasst, deren ausschließliches Ziel darin besteht, die durch das Grundgesetz geschützten Voraussetzungen für das Funktionieren und – soweit möglich – die Richtigkeit der privatautonomen Ordnung zu erhalten. Insoweit handelt es sich nicht um Lenkungsrecht im eigentlichen Sinn; vielmehr lässt sich besser von Gewährleistungsrecht sprechen. Soweit die verfolgten Zielvorstellungen sich nicht in der Erhaltung der privatautonomen Wirtschaftsordnung erschöpfen, handelt es sich um Lenkungsrecht i. e. S. Dennoch rechtfertigt sich eine Zusammenfassung beider Regelungskomplexe, da die Instrumente beider Bereiche zum Teil übereinstimmen. Denn die hoheitliche Lenkung kann auf zwei Arten erfolgen: entweder unmittelbar, etwa in Form hoheitlichen Befehls oder zwingenden Rechts, oder mittelbar, etwa in Gestalt von Voroder Nachteilen, die Unternehmen bei einem bestimmten Verhalten in Aussicht gestellt werden.

2. Die verfassungsrechtliche Gebotenheit und die Grenzen der Wirtschaftslenkung Das Verhältnis des Lenkungsrechts zum Grundgesetz stellt sich als ambivalent dar. Zum einen kann man davon sprechen, dass eine über die Regelungen des Kartellrechts hinausgehende Wirtschaftslenkung i. e. S. unumgänglich scheint, da der deut110 Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 16 Rn. 69 ff.; Rittner, Das Kartellverbot des Art. 81 EGV in teleologischer Reduktion, in: FS U. Huber, 2006, S. 1095 ff. 111 Vgl. dazu ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1), § 24 Rn. 1 ff. 112 Rittner/Dreher (Fn. 1), § 1 Rn. 63, § 4 Rn. 71 f., § 24 Rn. 1; ähnlich Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 16. Aufl. 2008, § 30 I, S. 223.

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sche Gesetzgeber durch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG in besonderem Maß weitere, über den Erhalt einer privatautonomen, von Rechtssubjekten organisierten Wirtschaft hinausgehende Ziele zu verfolgen gehalten ist.113 Obwohl sich das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG dabei zunächst nur als objektiver Handlungsauftrag für den einfachen Gesetzgeber darstellt, erreicht es – wie zuletzt die Überprüfung der sog. „Hartz IV“-Regelsätze für Kinder gezeigt hat –114 spätestens dann subjektiv-rechtlichen Charakter, wenn die Menschenwürde berührt ist. In diesem Fall wird die selten einschlägige Eigenschaft der Grundrechte nicht als Abwehrrechte, sondern als Leistungsrechte deutlich. Daneben ist zu berücksichtigen, dass sich hoheitliches Handeln im Bereich des Wirtschaftsrechts historisch-tatsächlich noch nie auf eine Kodifizierung des Kartellrechts zu beschränken vermochte. Weiter darf nicht verkannt werden, dass das Lenkungsrecht im Grundgesetz zugleich seine Grenzen findet. Da das Grundgesetz – wie bereits dargelegt –115 keine ausdrückliche Festlegung auf eine wirtschaftsrechtliche Konzeption vorsieht, endet der gesetzgeberische Spielraum dort, wo ein nicht mehr zu rechtfertigender, weil dann in der Regel unverhältnismäßiger Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts als subjektives Abwehrrecht des Einzelnen vorliegt. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Lenkungsrechts stellt sich somit als einzelfallbezogene Grenzziehung zwischen den Grundrechten des Einzelnen, insbesondere aus Artt. 2, 3, 12 und 14 GG unter jeweiliger Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der einen Seite und dem in Ansehung des Gewaltenteilungsgrundsatzes des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu unterschätzenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auf der anderen Seite dar.116

3. Die systematische Einordnung117 Das Allgemeine Lenkungsrecht bildet zusammen mit dem Unternehmensrecht, dem Kartellrecht und weiteren spezifischen hoheitlichen Funktionen im Wirtschaftsrecht das Allgemeine Wirtschaftsrecht. Dieses umfasst sowohl das Wirtschaftsrecht der zahllosen Branchen, die keine Sonderregelungen kennen, als auch das nach dem Ausklammerungsprinzip miterfasste, allgemein geltende Recht der besonderen Regelungen unterworfenen Branchen. Im Besonderen Wirtschaftsrecht als der Rechtsmaterie, deren Regelungen nicht für die gesamte Wirtschaft, sondern nur für einzelne Wirtschaftszweige Geltung beanspruchen, entfaltet das Allgemeine Lenkungsrecht zwar in erster Linie praktische Wirkung, da dieses hauptsächlich mit dem lenkungsrechtlichen Instrumentarium arbeitet, unterscheidet sich jedoch von diesem, da das Besondere Wirtschafts113 114 115 116 117

Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 4 Rn. 70 m. w. Nachw. BVerfG, Urteil v. 09. 02. 2010, Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – „Hartz IV“. Vgl. II. 1. a). Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 4 Rn. 78. Vgl. hierzu ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1), § 1 Rn. 59 ff.

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recht nur einzelnen Wirtschaftszweigen bestimmte lenkende Vorschriften gibt.118 Stattdessen fasst das Allgemeine Lenkungsrecht jene sektoralen Sonderregelungen jenseits des regulären wettbewerbsrechtlichen Lenkungsinstrumentariums zusammen, die auf mehrere Branchen Anwendung finden, so etwa im Preisrecht, Subventionsrecht, Aufsichtsrecht und im Notstandsrecht.119

4. Das Preisrecht120 a) Ausgangspunkt Die als Element der Privatautonomie vom GG geschützte und für die Wirtschaftsordnung prägende Vertragsfreiheit121 überlässt die Preisbildung grundsätzlich den Vertragsparteien.122 Dem liegt nicht zuletzt die Erkenntnis zugrunde, dass es keinen objektiven Maßstab für die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung, m.a.W. keinen gerechten Preis – kein iustum pretium – gibt, sondern sich der durch Angebot und Nachfrage gebildete Marktpreis als grundsätzlich richtiger Preis darstellt.123 Die Suche nach dem richtigen Preis in diesem Sinn gestaltet sich von der maßgeblichen Bedarfsseite her damit als das dem Wettbewerb eigene „Entdeckungsverfahren“.124 Auch die Folgen eines Fehlers bei der für die Preisbildung maßgeblichen Abwägung von Leistung und Gegenleistung durch eine Vertragspartei stehen zunächst im Ermessen der Handelnden. Hierfür stellt ihnen das Bürgerliche Recht in Gestalt der §§ 104 ff., 119, 123, 142, 145 ff. BGB ein ausdifferenziertes Instrumentarium zur Verfügung, welches einen interessengerechten Ausgleich gewährleistet. Diesem System aus Vertragsfreiheit und feinsinnigem, privatautonom ausgerichtetem Handlungsregime sind direkte staatliche Eingriffe in den Mechanismus der Preisbildung grundsätzlich fremd. Aufgabe des Staates ist es insofern, durch indirekt wirkende allgemeine Regelungen des Wettbewerbs- und Kartellrechts das Funktionieren des Marktpreisprinzips sicherzustellen und nur in Fällen des Marktversagens direkt einzugreifen.

118

Rittner/Dreher (Fn. 1), § 1 Rn. 63; § 24 Rn. 13. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 1 Rn. 63. 120 Vgl. hierzu auch Hauptkorn (Fn. 25), insbes. S. 78 ff.; Ipsen, Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage, 1976, insbes. S. 76 ff.; Rittner/Dreher (Fn. 1), § 25; Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, inbes. S. 79 ff. 121 Vgl. oben V. 2. a). 122 Vgl. dazu ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1) § 24 Rn. 1 ff.; so auch ausdrücklich BVerfG VersR 2006, 961, 963; Hauptkorn (Fn. 25), S. 191. 123 Rittner/Dreher (Fn. 1), § 25 Rn. 2. 124 Der Begriff geht auf von Hayek (Fn. 93) zurück und wird auch in BGH NJW 2006, 2618, 2621 verwendet. 119

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b) Das Allgemeine Preisrecht Das Allgemeine Preisrecht selbst kann wiederum in formelles und materielles Preisrecht unterteilt werden.125 Ersteres enthält dabei Regelungen, welche die Preiswahrheit und Preistransparenz sicherstellen sollen und sind damit zugleich final dem Preisangabenrecht zuzuordnen. Hingegen betrifft das materielle Preisrecht die Festlegung des Preises selbst und ist insoweit dem Bereich des Preislenkungsrechts zuzuordnen. Die Grundlage des deutschen allgemeinen Preislenkungsrecht bildet das Preisgesetz126, welches in § 2 eine generalklauselartige Ermächtigung zugunsten des Bundesministers für Wirtschaft und der Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen zur staatlichen Preisbestimmung und -überwachung enthält. Nach einer geltungserhaltenden Reduktion durch das BVerfG127 ist der Anwendungsbereich des Preisgesetzes jedoch heute eng begrenzt.

c) Das sektorale Preisrecht Von besonderer Bedeutung stellt sich jedoch das sektorale Preisrecht dar. Der überwiegende Teil des sektoralen Preisrechts fi ndet seine Grundlage in speziellen Gesetzen, die dem Besonderen Wirtschaftsrecht zuzuordnen sind. Wiederum gilt die getroffene Unterscheidung zwischen (sektoralem) Preisangaben- und Preislenkungsrecht. Die Mehrheit der sektoralen preislenkungsrechtlichen Vorschriften sieht nur Genehmigungsvorbehalte vor, die als Kontrollinstrumente wirken und auch die behördliche Mitgestaltung von Verträgen ermöglichen. Eine unmittelbare staatliche Preisfestsetzung ist hingegen nur ausnahmsweise möglich, so dass die Entgelte grundsätzlich Gegenstand privatrechtlicher Verträge bleiben. Dabei fi nden sich in vielfältigen Zweigen des Besonderen Wirtschaftsrechts Preiskontrollregelungen, so etwa im Energiewirtschaftsrecht, Verkehrswirtschaftsrecht, im Versicherungswirtschaftsrecht, im Apotheken- und Arzneimittelrecht, im Recht der Freien Berufe, im Verlagsrecht sowie im Kapitalmarkt- und Telekommunikationsrecht.

5. Das Subventionsrecht a) Begriff und Grundlagen Subventionen sind Instrumente zur Lenkung und Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch Gewährung von Leistungen seitens des Staates; sie dienen der Förderung von einzelnen Wirtschaftsunternehmen oder von ganzen Wirtschaftszwei125

Vgl. Hauptkorn (Fn. 25), S. 238. Übergangsgesetz über Preisbildung und Preisüberwachung vom 10. 04. 1948 (WiGBl. 1948, S. 27), geändert durch Art. 22 Gesetz v. 18. 02. 1986 (BGBl. 1986 I, S. 265). 127 Vgl. BVerfGE 8, 274, 311, 324. 126

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gen.128 Ein allgemein gültiger Subventionsbegriff existiert freilich nicht. Das liegt daran, dass kein einheitlicher Ordnungsrahmen besteht, sondern etliche Einzelgesetze einen auf den jeweiligen Gesetzeszweck bezogenen Subventionsbegriff aufweisen. Gleichwohl umfassen die einzelnen Regelungen übereinstimmende Elemente, welche es ermöglichen, die wesentlichen Merkmale des Subventionsbegriffs greif bar zu machen. Danach zeichnen sich Subventionen im weit verstandenen Sinn dadurch aus, dass der Staat als Geber auftritt, eine vom Staat zu trennende Wirtschaftseinheit Empfänger ist und diese einen speziellen, nicht marktgerechten Vorteil erlangt.129 Im Unterschied zu diesem weiten Subventionsbegriff, der sowohl direkte als auch indirekte Subventionen zu erfassen vermag, lässt sich auch ein enger – auf direkte staatliche Leistungen beschränkter – Subventionsbegriff fassen, der angesichts seiner gesteigerten verfassungsrechtlichen Relevanz von besonderem Interesse im vorliegenden Zusammenhang ist. Europarechtlich sind die Mitgliedstaaten der EU an das Beihilferecht der Art. 107 ff. AEUV gebunden. Danach sind Begünstigungen von Unternehmen durch die Mitgliedstaaten verboten. Auch wenn dies hier nicht zu vertiefen ist,130 hat das europäische Beihilferecht für die nationale Subventionsvergabe eine rechtlich unmittelbare und praktisch sehr große Bedeutung.

b) Die Arten und die Ziele Regelungstechnisch ist zwischen indirekten und direkten Subventionen zu unterscheiden. Die einen gestalten sich als Steuer- und Abgabenvergünstigungen (sog. „Verschonungssubventionen“) und unterliegen somit einem Gesetzesvorbehalt, was deren verfassungsrechtliche Relevanz mindert. Die anderen erscheinen in verschiedenen Grundformen als („verlorene“) Zuschüsse, Darlehen, Bürgschaften und Realförderung.131 Der uneinheitlichen Rechtslage entsprechend, gestalten sich auch die mit den einzelnen Subventionen verfolgten Ziele sehr unterschiedlich. So kann es auf nationaler Ebene um die Förderung einzelner Wirtschaftszweige132 oder der Exportwirtschaft gehen. Häufig – wenn auch wenig wünschenswert – sind Subventionen, die einzelnen Unternehmen gewährt werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das mit ihnen verfolgte Ziel nicht bloß in der Erleichterung eines zu bewältigenden Strukturwandels oder in der Hilfe zugunsten einer strukturschwachen Region liegt – zumal, 128

Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 4. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 2; teilweise wird als zusätzliches Element des rein nationalen Subventionsbegriffs ein öffentlicher Zweck der Subvention verlangt, so etwa Ruthig/Storr (Fn. 1), Rn. 746, 756 ff.; so wohl auch Manssen (Fn. 3), Rn. 96, da dieser bei der Frage der Eingriffsqualität scheinbar selbstverständlich davon ausgeht, dass Subventionen einen öffentlichen Zweck verfolgen und damit automatisch in Gegensatz zu den (rein) wirtschaftlichen Interessen des Subventionsempfängers geraten können; Ziekow (Fn. 1), § 6 Rn. 5, 11. 130 Vgl. ausf. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rdnr. 12 ff. 131 Vgl. dazu ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 75 ff.; ähnlich Ziekow (Fn. 1), § 6 Rn. 9. 132 Vgl. nur unlängst die der Automobilindustrie im Rahmen des „Konjunkturpakets II“ im Jahr 2009 gewährte sog. „Umweltprämie“. 129

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wenn die betreffende Leistung nicht nur übergangsweise, sondern langfristig gewährt wird. Die hiervon ausgehenden Wettbewerbsverzerrungen haben sich in zahlreichen Fällen dennoch nicht gegen die Marktkräfte durchzusetzen vermocht133 und gewinnen im Hinblick auf Wettbewerber des begünstigten Unternehmens besondere verfassungsrechtliche Bedeutung.

c) Die verfassungsrechtliche Bedeutung Verfassungsrechtlich gesehen stellen die direkten Subventionen die Frage, inwieweit für diese eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Ihre Lösung hängt von der Reichweite des Gesetzesvorbehalts ab. Subventionen sind dem Bereich der Leistungsverwaltung zuzuordnen, für den gerade die Reichweite des Gesetzesvorbehalts umstritten ist. Zur Zeit der Weimarer Republik erfasste der Gesetzesvorbehalt – auf bauend auf den klassischen Vorstellungen John Lockes im 17. Jh.134, wie sie vom wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertum schon früh übernommen wurden – nur Eingriffe in Freiheit und Eigentum. Damit war die Leistungsverwaltung zunächst ausgenommen.135 Die in der Nachkriegszeit einsetzende, stark anziehende wirtschaftliche Entwicklung trug maßgeblich zu einer stetigen Zunahme der vom Staat übernommen Aufgaben im Bereich der Leistungsverwaltung bei, die mit der in der Literatur entwickelten Idee eines Totalvorbehalts136 nicht in Einklang zu bringen war. Das BVerfG hat sonach auch die Lehre vom Totalvorbehalt abgelehnt, so dass nunmehr bereits eine parlamentarische Willensäußerung in Form der Bereitstellung von Haushaltsmitteln genügt.137 Dies mag insoweit begrüßenswert erscheinen, als mit dem Haushaltsgesetz zumindest eine Entscheidung des Gesetzgebers vorliegt. Doch darf dabei nicht vergessen werden, dass gegen ein solches formelles Gesetz mangels Außenwirkung keine Rechtsschutzmöglichkeit besteht. Rechtsgrundlage der Subventionsvergabe ist folglich in der Regel das entsprechende Haushaltsgesetz des Bundes oder eines Landes i. V. m. einem bestimmten Titel im Haushaltsplan, wobei die Maßstäbe und die Verfahren für die Verteilung der Mittel im Einzelnen durch Subventionsrichtlinien festgelegt werden.138 Diese stellen ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften dar, welchen im Unterschied zu den sog. normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften keine unmittelbare Außenwirkung gegenüber dem Bürger zukommt und die keiner Veröffentlichung bedür133

Vgl. hierzu ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 4. In der zweiten Abhandlung der „Two treatises of government“ (1690; dt. „Über die Regierung“) erklärt Locke Gleichheit, Freiheit und Recht auf Unverletzlichkeit der Person und Eigentum zu obersten Rechtsgütern. 135 Vgl. etwa Ruthig/Storr (Fn. 1), Rn. 780. 136 Vgl. dazu Bauer, DÖV 1983, 53, 75; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, S. 175 ff.; Schmidt, Wirtschaftspolitik durch Subventionen, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., 2010, S. 75. 137 Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 71 m. w. Nachw.; Stober (Fn. 112), S. 302 f. 138 Vgl. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 72 m. w. Nachw.; Ziekow (Fn. 1), § 6 Rn. 14; BVerwG NVwZ 2008, 1355. 134

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fen.139 Begrenzt wird die Subventionsvergabe indes durch die unmittelbare Grundrechtsbindung des Staates,140 so dass nach der Wesentlichkeitstheorie das Parlament selbst tätig werden muss, wenn eine Entscheidung als wesentlich für die Grundrechtsverwirklichung anzusehen ist. Dabei besteht eine potentielle grundrechtliche Relevanz von Subventionen in zwei Beziehungen. Dies folgt aus der Eigenart der Subvention als potentiell wettbewerbsgefährdende Vorteilsgewährung seitens des Staates an (zumindest) einen Wettbewerber bei Außerachtlassung eines oder mehrerer anderer Konkurrenten. Als Schranke bieten sich daher Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 12 Abs. 1 GG an.141 Für die weitere Betrachtung ist daher zwischen der Rechtsbeziehung von Subventionsgeber und Subventionsempfänger, die man auch als Subventionsverhältnis bezeichnet142, und dem Verhältnis zu Dritten zu differenzieren.

aa) Im Subventionsverhältnis Im Subventionsverhältnis kommt ein Grundrechtseingriff grundsätzlich nicht in Betracht. Im Gegenteil wird der Handlungsspielraum des Subventionsempfängers durch die Leistung erweitert.143 Hierbei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass Subventionen Instrumente der Lenkung, also der Herbeiführung eines bestimmten, vom Gesetzgeber in der Regel beabsichtigten144 Verhaltens, sind.145 Daher fehlt es an der grundsätzlich festgestellten fehlenden Eingriffsqualität nur so lange, wie die Leistung ex-post, also für ein bestimmtes vom Subventionsempfänger bereits erbrachtes Verhalten gewährt wird.146 Hingegen kann bei ex-ante gewährten Leistungen zu differenzieren sein: Wird durch die Subvention lediglich eine Obliegenheit begründet, liegt kein Grundrechtseingriff vor, da die betroffene Wirtschaftseinheit nicht gezwungen werden kann, ein bestimmtes, mit der Subvention verfolgtes Verhalten auch tatsächlich zu vollziehen. Damit beschränkt sich das Risiko des Subventionsempfängers auf die Rückgewähr des erlangten Vorteils. Anders soll zu verfahren sein, wenn mit der Leistung eine echte Verhaltenspfl icht verbunden ist, da diese den Subventionsempfänger auch dann zur Verfolgung öffentlicher Zwecke zwingt, wenn diese nicht mehr in seinem wirtschaftlichen Interesse liegen.147

139

Ziekow (Fn. 1), § 6 Rn. 14. BVerfGE 49, 89, 126. 141 Vgl. hierzu Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 70 m. w. Nachw. 142 Vgl. etwa Schmidt, Wirtschaftspolitik durch Subventionen (Fn. 136), S. 77; Stober, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht, 14. Aufl. 2007, S. 307; Ziekow (Fn. 1), § 6 Rn. 6. 143 Manssen (Fn. 3), Rn. 95; Ruthig/Storr (Fn. 1), Rn. 781; Ziekow (Fn. 1), § 6 Rn. 15. 144 Zu dem Zusammenhang von Lenkungsmaßnahmen und ausbleibendem oder sogar gegenteiligem Lenkungseffekt vgl. ausführlich Rittner/Dreher (Fn. 1), § 24 Rn. 8. 145 Vgl. dazu schon oben VI. 5. a), sowie Manssen (Fn. 3), Rn. 96. 146 Manssen (Fn. 3), Rn. 95. 147 Manssen (Fn. 3), Rn. 96. 140

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bb) Im Verhältnis zu Dritten Das besondere Gefahrenpotential bei der Vergabe von Subventionen als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung liegt in der Verschlechterung der Wettbewerbsstellung betroffener Konkurrenten. Die formelle Wettbewerbsgleichheit ist dann nicht mehr gewährleistet.148 Diese Gefahr muss jedoch nicht bei jeder Subvention gegeben sein. Sie kann etwa dann zu verneinen sein, wenn die Mittel nach dem „Gießkannenprinzip“ ausgeschüttet werden und somit jedem Unternehmen des betreffenden Wirtschaftszweiges gleichermaßen zugute kommen. Daraus folgt, dass sich auch im Verhältnis zu Dritten eine schematische Betrachtungsweise verbietet. Das führt zu der Frage, welcher Maßstab an die Beeinträchtigung der Wettbewerbsposition der Konkurrenten anzulegen ist, um einen Grundrechtseingriff bejahen zu können. Stellt man hierbei auf die allgemeinen Regeln ab, liegt ein Grundrechtseingriff nur dann vor, wenn es zu einer einigermaßen erheblichen Beeinträchtigung der Position des Mitbewerbers durch die Subvention kommt.149 Teilweise wird diese dahingehend konkretisiert, dass eine erhebliche „Lenkungsintensität“ von der Maßnahme ausgehen müsse.150

VII. Das Besondere Wirtschaftsrecht 1. Die Grundfragen der Wirtschaftsaufsicht Das geltende Recht kennt keine allgemeine Wirtschaftsaufsicht im Sinn einer ständigen, auf das unternehmerische Handeln gerichteten Oberaufsicht.151 Eine solche wäre angesichts der umfassenden grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen in Gestalt von Privatautonomie, Vertragsfreiheit und Unternehmerfreiheit verfassungswidrig.152 Demgegenüber gilt aber auch, dass die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Gesetzgebers grundsätzlich offen gegenüber steht.153 Aufgabe der Wirtschaftsaufsicht ist es dabei, die Freiheit der privatwirtschaftlich handelnden Rechtssubjekte im Hinblick auf deren Verantwortung für bestimmte Schutzgüter im Einzelfall zu begrenzen.154 Nicht selten ist mithin ein gefahrenabwehrrechtlicher Bezug für wirtschaftsaufsichtsrechtliche Maßnahmen kennzeichnend.155 Neben der Wirtschaftsaufsicht gibt es weitere – bereits angesprochene – Formen staatlicher Einwirkung auf das wirtschaftliche Handeln, insbesondere die Wirtschaftslenkung. Daneben tritt der Bereich der Wirtschaftsförderung.156 Wirtschafts148 149 150 151 152 153 154 155 156

Vgl. Manssen (Fn. 3), Rn. 99; Rittner/Dreher (Fn. 1), § 26 Rn. 93. BVerwGE 65, 167, 174. Wieland (Fn. 6), Art. 12 Rn. 88; Jarass (Fn. 3), Art. 12 Rn. 15. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 6 Rn. 61. Rittner/Dreher (Fn. 1), § 4 Rn. 70 ff. Scholz (Fn. 3), Art. 12 Rn. 394; vgl. dazu auch oben III. 5. a). Vgl. Ziekow (Fn. 1), § 5 Rn. 6. Vgl. Ziekow (Fn. 1) Rn. 7; Scholz (Fn. 3), Art. 12 Rn. 395. Vgl. zu dieser Unterteilung Ziekow (Fn. 1), § 5 Rn. 1, der überdies die Wirtschaftsaufsicht in

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aufsicht und Wirtschaftslenkung können anhand der den Verwaltungsbehörden übertragenen Kompetenzen unterschieden werden. Während die Wirtschaftsaufsicht gefahrenabwehrrechtlich-defensiv ausgerichtet ist, sind mit dem Begriff der Wirtschaftslenkung eher offensive Maßnahmen verbunden.157 Dies spiegelt sich auch in der Tätigkeit der handelnden Behörden wider: Soweit das Verhalten der Unternehmen im Gesetz selbst vorgeschrieben ist, genügt es, dass eine staatliche Stelle die Einhaltung der Vorschriften überwacht. Je mehr diese Überwachungsaufgabe jedoch mit zusätzlichen administrativen Kompetenzen verbunden ist, etwa Erlaubnisvorbehalten, Befreiungsmöglichkeiten sowie Ermittlungsbefugnissen und Strafsanktionen, desto mehr nähert sich die hoheitliche Wirtschaftsaufsicht einer unmittelbaren Wirtschaftslenkung.158 Daraus folgt, dass Wirtschaftslenkung und Wirtschaftsaufsicht keinen abgrenzbaren Gegensatz bilden, sondern je nach Intensität der Lenkungsmaßnahme in einem Stufenverhältnis zueinander stehen.159 Begrenzt werden einzelne, die Berufsfreiheit tangierende Aufsichts- und Lenkungsmaßnahmen aber durch die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung im Rahmen der Drei-Stufen-Theorie.160

2. Das Besondere Wirtschaftsrecht als Ausnahmeregelung Welche Wirtschaftszweige speziell, also z. T. abweichend vom Allgemeinen Wirtschaftsrecht geregelt werden sollen, entscheidet der Gesetzgeber. Das deutsche Recht beginnt bereit vor dem 1. Weltkrieg damit, indem es eine Versicherungsaufsicht (des Reiches) schuf (Versicherungsaufsichtsgesetz von 1901). Später folgten die Kreditaufsicht (Kreditwesengesetz von 1931) sowie die (Reichs-)Aufsicht nach dem Personenbeförderungsgesetz (1943), dem Energiewirtschaftsgesetz (1935) und dem Luftverkehrsgesetz (1936).161 Unter dem Grundgesetz kamen weitere Zweige sowie etliche Änderungen jener Aufsichten hinzu, so vor allem für die Medienwirtschaft und die Telekommunikationswirtschaft. Diese Regelungen gehen zum Teil auf europäische Richtlinien zurück. Dennoch hat die EU selbst bisher, von der Landwirtschaft abgesehen, darauf verzichtet, eigene Marktordnungen einzurichten.

3. Zu den Ausnahmegründen In einem auf dem Gleichheitsgrundsatz fußenden Rechtssystem bedarf jede Ausnahmeregelung besonderer Gründe. Deswegen geht der Gesetzgeber auf diesen FeldWirtschaftsüberwachung und Regulierungsüberwachung einteilt. Mit diesen Begriffen ist jedoch angesichts der unterschiedlichen Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung und der Vielfalt der verwendeten Begriffe vorsichtig zu verfahren, vgl. dazu Rittner/Dreher (Fn. 1), § 6 Rn. 61 m. w. Nachw. 157 Vgl. Scholz (Fn. 153), Rn. 395. 158 Rittner/Dreher (Fn. 1), § 4 Rn. 72. 159 Rittner/Dreher (Fn. 1), § 24 Rn. 13. 160 Dazu sogleich unter VII. 4a. 161 Vgl. des Näheren Rittner/Dreher (Fn. 1), § 20 Rn. 4, 22 ff.

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ern mit Recht eher zögernd vor. Es sind vor allem drei Gründe, die eine Ausnahmeregelung erlauben oder sogar erfordern162 : – Schutz der Abnehmer, – Schutz der Gesamtwirtschaft, namentlich vor Gefahren von Unternehmens-Zusammenbrüchen, – Schutz bestimmter wirtschafts-sozialer Strukturen wie die bäuerliche Landwirtschaft oder eine optimale Infrastruktur in der Verkehrs- oder Energiewirtschaft.

4. Die Einführung eines Basistarifs in der Privaten Krankenversicherung als Beispiel für den Konflikt zwischen Besonderem Wirtschaftsrecht und Sozialstaatsprinzip a) Die Einführung eines Basistarifs und einer teilweisen Portabilität von Altersrückstellungen im Bereich der Privaten Krankenversicherung (PKV) durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWSG) vom 26. 03. 2007163 hat jüngst zu zwei Entscheidungen164 des Bundesverfassungsgerichts geführt, die wie im Brennglas bereits aufgeworfene wirtschaftsrechtliche Fragen von verfassungsrechtlicher Bedeutung zum Gegenstand haben. An dieser Stelle zu erörtern sind ausschließlich die verfassungsrechtlichen Probleme um den Kontrahierungszwang im Basistarif und die Begrenzung des Beitrags in selbigem.165 In Betracht kommt hierbei ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Versicherungsunternehmen, die von Art. 12 Abs. 1 GG erfasst ist.166 Der seit der Apotheken-Entscheidung herrschenden Drei-Stufen-Theorie folgend, qualifiziert das BVerfG den sich aus dem Kontrahierungszwang ergebenden Eingriff sorgfältig als Berufsausübungsregel, da hierdurch nicht der Zugang zum Beruf des Versicherers verhindert, sondern nur die Art und Weise, wie die Tätigkeit auszuüben ist, um die Pfl icht ergänzt werde, einen Basistarif anzubieten.167 Eine divergierende Einordnung soll auch unter Berücksichtigung der faktischen Auswirkungen nicht erforderlich sein.168 Mithin stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Als legitimer Zweck der Regelung genügt unter Beachtung der Drei-Stufen-Theorie bei Berufsausübungsregeln jede vernünftige Erwägung des Gemeinwohls. Unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ist der legitime Zweck eines solchen Kontrahierungszwangs in einer „Kernaufgabe des Staates“ zu sehen, welcher im „Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung“ besteht.169 Die Erforderlichkeit des Kontrahierungszwangs wird damit begründet, dass 162

Vgl. des Näheren Rittner/Dreher (Fn. 1), § 20 Rn. 5 ff. BGBl. I, S. 378. 164 BVerfG VersR 2009, 957 ff. = NJW 2009, 2033 ff. sowie BVerfG VersR 2009, 1057 ff. 165 Darüber hinaus stellten sich u. a. verfassungsrechtliche Fragen nach der Tarifautonomie beim VVaG (vgl. BVerfG Tz. 189, sowie insbes. BVerfG VersR 2009, 1057 ff.), der Gesetzgebungskompetenz des Bundes (vgl. Tz. 155), einer verfassungsrechtlichen Pfl icht des Gesetzgebers, nicht über eine Minimalsicherung hinauszugehen (vgl. Tz. 186), dem Rückwirkungsverbot (Tz. 212 f.) sowie der Verlängerung der Versicherungsdauer auf (vorübergehend) drei Jahre (Tz. 230 ff.). 166 Vgl. dazu schon oben Fn. 38 m. w. Nachw. 167 Vgl. BVerfG Tz. 164, 166. 168 Vgl. BVerfG Tz. 167 ff., 169. 169 Vgl. BVerfG Tz. 171. 163

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die betreffenden Personen kaum eine Möglichkeit hätten, in die PKV zu gelangen, legte man die üblichen, risikobezogenen Versicherungsvoraussetzungen zugrunde.170 Dabei soll sich die Zuordnung dieser Personengruppe zur PKV als zulässige Lastenverteilung innerhalb des Systems einer Volksversicherung aus zwei Säulen darstellen.171 b) Die Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts vermag vor allem in ihrer Ausführlichkeit zu überzeugen, bedarf im Einzelnen aber kritischer Reflexion. Obzwar teilweise172 kritisiert wird, dass im Basistarif in systemfremder Art und Weise keine risikoadäquaten Beiträge erhoben werden dürfen, ist doch darauf zu verweisen, dass insbesondere mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V Risiken auch der Säule des dualen Versicherungssystems zugewiesen werden sollen, der sie eigentlich zuzuordnen sind.173 Dies stellt sich als grundsätzlich richtige Weichenstellung dar; denn es ist entgegen der früheren Rechtslage im Ergebnis nicht einsichtig, weshalb schlechte Risiken einseitig der GKV – und damit letzten Endes der Allgemeinheit – zugewiesen werden sollen?174 Allerdings kann diese richtige Grundentscheidung nicht über erhebliche Bedenken hinwegtäuschen, was die konkrete Ausgestaltung des zu gewährenden Versicherungsschutzes anbelangt. So hat der Gesetzgeber den Basistarif auch mit einer Prämienhalbierung bei Hilfebedürftigkeit sowie nur unzureichenden Sanktionsmechanismen bei Obliegenheitsverletzungen und ohne Kündigungsmöglichkeit versehen, von denen nicht zum Nachteil des Versicherten abgewichen werden darf. Dieses Bündel gesetzgeberischer Entscheidungen führt absehbar dazu, dass die zu erwartenden schlechten Risiken die Versicherer dazu zwingen werden, auch andere Tarife über § 8 KalkV zur Kostendeckung heranzuziehen. Dabei stellt sich dieser – vom Bundesverfassungsgericht als „Indienstnahme Privater“ bezeichnete – Eingriff in die Berufs- und Vertragsfreiheit der Versicherer und die grundrechtlich geschützten Positionen der Versicherungsnehmer und Versicherten als besonders bedenklich dar, tangiert er doch mit dem Äquivalenzprinzip einen Grundpfeiler der PKV und des Allgemeinen Wirtschaftsrechts. Unter diesen Aspekten ist die Einführung des Basistarifs in der Gesamtschau als wohl noch verhältnismäßig anzusehen. Der Gratwanderung ist sich auch das Bundesverfassungsgericht bewusst, wenn es feststellt, dass „keine aktuelle, ernsthafte Bedrohung des Geschäftsmodells privater Krankenversicherer (. . .) festgestellt werden (kann)“, aber „der Gesetzgeber zu beobachten (hat), ob die angegriffenen Vorschriften zu erheblichen Wechselbewegungen in den Basistarif und zu einer Belastung der in Normaltarifen Versicherten führen“175 (Klammerzusätze durch Verfasser). Damit ist die Entscheidung gerade nicht als „Freibrief “176 zu weiteren Eingriffen in Strukturprinzipien der PKV zu verstehen. Denn Ziel einer systemgerechten Risiko170

Vgl. BVerfG (Fn. 164) Tz. 173. Vgl. BVerfG (Fn. 164) Tz. 175. 172 Boetius, Private Krankenversicherung nach der Gesundheitsreform und vor der VVG-Reform, 2008, S. 14; ders., VersR 2007, 431, 433 f. 173 So auch Marlow/Spuhl, VersR 2009, 593 f., 605. 174 Die Folgen der früheren Rechtslage beschreibend Marlow/Spuhl (Fn. 173), 605. 175 BVerfG (Fn. 164) Tz. 241. 176 In diesem Sinn auch Hufen, NZS 2009, 649 ff., 652. 171

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zuordnung darf es somit nicht sein, die PKV faktisch zu einer „zweiten GKV“ umzubauen.

VIII. Schluss Der Gesetzgeber hat in den vergangenen sechzig Jahren den ihm vor allem aufgrund der wirtschaftspolitischen Offenheit des Grundgesetzes zukommenden, weiten Spielraum des Grundgesetzes genutzt und in umfangreicher Weise wirtschaftsrechtliche Regelungen getroffen. Dementsprechend weit ist die Spanne des heutigen Wirtschaftsrechts: Es reicht vom Kartellrecht über Regelungen der Wirtschaftsaufsicht und -lenkung bis hin zum Bereich der unternehmerischen Mitbestimmung. Das geltende Wirtschaftsrecht enthält also sowohl solche Regelungen, die die marktwirtschaftliche Ordnung zu gewährleisten vermögen, als auch andere, die einen sozialen Ausgleich sicherstellen. Dem Gesetzgeber ist es damit vor dem Hintergrund des insoweit offenen Grundgesetzes gelungen, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, welche die wesentlichen Elemente der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie auch in den Einigungsverträgen zum Ausdruck kommen, umfasst und damit zugleich den Gedanken einer gerechten Wirtschaftsordnung i. S. d. Art. 151 WRV verwirklicht. Obwohl sich die Bemühungen des Gesetzgebers zur Umsetzung des Sozialstaatsgebots des Art. 20 Abs. 1 GG dabei oft als verfassungsmäßige Gratwanderungen erwiesen haben – wie beispielhaft anhand des Mitbestimmungsgesetzes und des Basistarifs in der Privaten Krankenversicherung deutlich wird –, bilden gerade die marktwirtschaftlichen Elemente die Grundlage für den Erfolg der Wirtschaftsordnung. Der Gesetzgeber ist daher auch in Zukunft gut beraten, bei seinen wirtschaftsrechtlichen Bemühungen nicht nur den Ausgleich zwischen marktwirtschaftlichen und sozialen Elementen beizubehalten, sondern auch niemals die Schwelle zu überschreiten, an der „die Störung des Marktes beginnt“.177

177

So Müller-Armack (Fn. 50), 391.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Universität Jena I. Einleitung Das Sozialrecht kommt im Grundgesetz (GG) nur vereinzelt vor. Es wurde aber im Verlauf seiner 60jährigen Geschichte dennoch umfassend zu dessen Gegenstand wie von dessen Maßstäben geprägt und durchdrungen. Das GG hat damit trotz sozialpolitisch kärglicher Ausformungen dem gesamten Sozialrecht markante Konturen gegeben und ihm so auch die Richtung gewiesen. Das GG benennt als sein Fundament den Sozialstaat, anerkennt, allerdings nur punktuell, soziale Grundrechte und trägt der bis in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Sozialgesetzgebung in seinen Normen über die konkurrierende Gesetzgebung Rechnung, entwirft aber im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung (WRV) keine verbindliche soziale Ordnung. Dies erklärt sich aus seiner Entstehung als Provisorium statt einer Vollverfassung; als es vor 20 Jahren dazu wurde, perpetuierte es seine sozialpolitische Kärglichkeit der frühen Jahre. Dieser Weg erwies sich für das Sozialrecht als folgenreich. Mit dem Bekenntnis zum sozialen Rechtsstaat wurde die Sozialpolitik umfassend verrechtlicht; der Gesetzgeber behielt in der sozialpolitischen Gestaltung aber prinzipiell freie Hand (II). Allerdings erwiesen sich die hergebrachten liberalen Grundrechte und Gleichheitsverbürgungen auch als Stützen für soziale Rechte (III). Die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit stärkte die Bundeskompetenz und beförderte damit die unitarisierende Wirkung der Sozialpolitik (IV). Das GG erwies sich schließlich auch für die in den vergangenen Jahrzehnten fortschreitende Europäisierung und Internationalisierung von Sozialrecht als offen (V).

II. Gewährleistungsgehalt des Sozialstaats 1. Anfang Das GG beschritt einen originellen, weltweit eigenen, indes inzwischen von den Verfassungen Spaniens und Portugals übernommenen Weg, um das Sozialrecht als

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ein bestimmendes Element von Staat und Recht der Gegenwart zu kennzeichnen. Statt in der Nachfolge der WRV soziale Grundrechte1 zu formulieren, bekennt es sich zum „sozialen Rechtsstaat“ (Art. 28 GG) oder „sozialen Bundesstaat“ (Art. 20 GG) – kürzer: Sozialstaat! Was sich hinter diesem Begriff verbirgt, wurde anlässlich der Beratungen zum GG aber nicht eingehend erörtert.2 Als Alternative wurde erwogen, Deutschland als „soziale Republik“3 zu kennzeichnen; der Vorschlag fand aber nicht die nötige Mehrheit. In den ersten Jahren nach Inkrafttreten des GG nahm sich vor allem die Doktrin des Begriffs Sozialstaat an. Sie sah darin zunächst eine „nur rechtsgrundsätzliche Zielbestimmung“4 als Ausdruck der Vorläufigkeit des GG angesichts der „außerordentlichen sozialen Realität“ seiner Entstehung. Erst ganz allmählich und unter manchem Vorbehalt reifte die Erkenntnis, dass die Sozialstaatlichkeit im demokratischen Rechtsstaat bedeute, „daß bei Beachtung (. . .) des Eigenrechts des Menschen die Sozial- und Wirtschaftsordnung zur Disposition der Gesellschaft gestellt ist, die sich im demokratischen Staat selbst bestimmt“.5 Sozialstaatlichkeit beruht auf der tradierten Trennung von Staat und Gesellschaft. Sie hebt diese zwar nicht auf, legitimiert aber staatliche Interventionen in die privatrechtlich verfasste gesellschaftliche Ordnung. Sie befördert ferner die Gleichheit, verweist auf Demokratie. Darin entscheidet nicht nur die Mehrheit im Staat, sondern das demokratische Prinzip wird von der Staatsorganisation auch auf die gesellschaftliche Sphäre erstreckt und damit erweitert.6 Ob sich Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit zu einer Einheit finden, blieb lange zweifelhaft, erschien doch diese dem die wohl erworbenen Rechte gewährleistenden Staatseinfluss und jene dagegen dem gestaltend – eingreifenden Staatshandelnden zugeordnet.7 Auch die Sozialstaatsmodelle unterschieden sich – je danach, ob sie die überkommenen Besitz- und Vermögensverhältnisse hinnahmen und Sozialstaatlichkeit primär im Dienste von Erhalt und Verbreitung des Privateigentums stehend sahen oder als die Maxime eines auf Planung und Lenkung setzenden demokratischen Sozialismus verstanden.8

1 Zu deren Problematik: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: SPD-Rechtspolitischer Kongreß, 1981, 7; Brunner, Die Problematik sozialer Grundrechte, 1971; Lücke, AöR 104 (1982), 15; Müller, Soziale Grundrechte, 1981 (2. Aufl.), Van der Veen, Soziale Grundrechte, 1968; Graf Vitzthum, ZfA 1991, 695. 2 Vgl. JöR Band 1 n. F. (1951), 195 ff. 3 Ebd., 199. 4 Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz (1949), in: Ernst Forsthoff (Hg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, 16 ff., 23 und passim. 5 Wolfgang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Forsthoff, 114, 121. 6 Ebd. 7 Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: ders., ebd., 165 ff. 8 H. H. Hartwig, Sozialstaatpostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln/Opladen, 1970, 54–60.

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2. Gehalt des Sozialstaats Das Sozialstaatsprinzip (Artt. 20, 28 GG) hat letztlich durch Wissenschaft9 und Rechtsprechung10 seine heutige Kontur erlangt. Es beruht auf der gedanklichen Trennung zwischen Staat und Gesellschaft11 – der Annahme, der Staat sei in seinen Aufgaben und Befugnissen nicht allzuständig (totalitär); ihm komme vielmehr ein durch die Grundrechte be- und abgegrenztes Feld von Kompetenzen zu. Die Gesellschaft entfalte sich also primär selbst und innerhalb des dem Staat gesetzten und vorgegebenen Rahmens in grundrechtlich geschützter Freiheit und Rechtsgleichheit. Dieser Prozess verbürgt die höchste individuelle wie allgemeine Wohlfahrt; diese wird allerdings durch die sie hervorgebrachte extreme soziale Ungleichheit bedroht.12 Auf dieser Grundlage besagt das Sozialstaatsprinzip: Staatliche Maßnahmen zur Förderung des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit sind über die Maßnahmen zur Herstellung äußerer und innerer Sicherheit hinaus fundamentale Staatsaufgaben.13 Das Sozialstaatsprinzip berechtigt und verpfl ichtet deswegen den Gesetzgeber zur Sozialpolitik und damit zur umfassenden rechtlichen Gestaltung der Gesellschaft.14 Sozialpolitik ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit (§ 1 SGB I).15 Diese Forderung leitet sich aus der Menschenwürde, den Freiheitsrechten und dem Gleichheitssatz ab. Die Menschenwürde wäre verletzt, würde in einer staatlich verfassten Gesellschaft dem Einzelnen nicht das Existenzminimum gewährleistet.16 Freiheitsrechte liefen leer, so die als gegeben unterstellten Voraussetzungen zu freier Persönlichkeitsentfaltung faktisch nicht erfüllt sind. So setzt das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes die individuelle Erwerbsfähigkeit voraus; Arbeitsunfähige können diese Freiheit nicht wahrnehmen. Deshalb ist es ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, dass die Rechtsgemeinschaft dem Erwerbsunfähigen einen Ausgleich gewährt. Das Postulat der Gleichheit meint wesentlich Rechtsgleichheit, erschöpft sich darin aber nicht. Es enthält eine Absage an jegliches im Status eines Menschen begründete Vorrecht und postuliert damit Chancengleichheit als soziales Menschenrecht. Die Rechtsgleichheit nimmt soziale Ungleichheit aber nicht nur hin, sondern bringt diese gera9 Vgl. Forsthoff (Hg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968; Kötter, Mathias, Verantwortungsverteilung im Spiegel sozialverfassungsrechtlicher Debatten seit den fünfziger Jahren, in: von Arnauld/Musil (Hg.), Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, 85 ff.; skeptisch: Schnapp, JuS 1998, 873 ff. 10 BVerfGE 1, 97 (105); 5, 85 (198); 18, 257 (267); 44, 70 (89); 65, 182 (193); 70, 278 (288); 82, 60 (80); vgl. eingehender Jörn Ipsen, Staatsrecht I, 2006 (18. Aufl.), Rn. 981 ff. 11 Gröschner, in: Dreier (Hg.), GG, 2006 (2. Aufl.), Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 21 ff., 25 ff.; Papier, in: SRH, Tz. 3–8 ff.; Schlenker, Soziales Rücktrittsverbot und Grundgesetz, 1986, 71; Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 2004 (3. Aufl.), § 28–25 ff. 12 Axer, Davy, VVDStRL 68 (2009), 122 ff., 178 ff. 13 Herzog, Demokratie und Sozialstaat, in: Kannengießer/von Maydell, Handbuch Sozialpolitik, 1988, 79. 14 Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: Forsthoff (Hg.), 201, 204; Schlencker, 71 ff.; Gröschner, in: Dreier (Hg.), GG, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 15 ff. 15 Bachof, 205; Herzog, 80; Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaats im Bonner Grundgesetz, in: Forsthoff, 42, 70. 16 Bachof, 207.

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de hervor. Denn sie ist um der Chancengleichheit willen gewährleistet. Das Gebot der sozialen Gerechtigkeit tritt deshalb ergänzend auf den Plan, um die Chancengleichheit effektiv zu machen. Deshalb ist die soziale Hilfe möglichst als Hilfe zur Selbsthilfe auszugestalten. Rechtsgleichheit verlangt deshalb auch danach, extreme Auswirkungen sozialer Ungleichheit zu lindern, ist also auch auf tatsächliche Gleichstellung gerichtet. Die wichtigsten Ziele des Sozialstaatsprinzips sind die Hilfe gegen Not und Armut – Sicherung eines die Menschenwürde wahrenden Existenzminimums, mehr Gleichheit durch Abbau gesellschaftlicher Abhängigkeit, Sicherung des Einzelnen gegen die Wechselfälle des Lebens (= soziale Risiken) und Hebung und Verbreitung des Wohlstandes.17

3. Sozialstaat und andere Staatsziele Das Sozialstaatsprinzip harmoniert nicht mit anderen Staatszielen. Es bestehen Spannungen zwischen Sozialstaat und Bundesstaatlichkeit, Demokratie wie Rechtsstaatlichkeit. Zwischen dem Sozial- und Bundesstaat besteht eine Spannung, weil die soziale Gerechtigkeit die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse fordert und deswegen zentralistische Tendenzen befördert. Zwischen Demokratie und Sozialstaat18 besteht ein Spannungsverhältnis, weil die Demokratie die Mehrheitsbelange wirkmächtig werden lässt,19 soziale Gerechtigkeit aber auch und gerade den Schutz von Minderheiten fordert. Zwischen dem Rechts- und Sozialstaat besteht eine Spannung.20 Denn dieser erstrebt das konkret Gerechte, wogegen jener nur das Verallgemeinerbare als gerecht anerkennen kann. Aber dieser Gegensatz kann überbrückt werden: „Der soziale Rechtsstaat ist ein Sozialstaat, der sich in den Verfahren, Formen und Grenzen des Rechtsstaats verwirklicht, und ein Rechtsstaat, der nicht nur offen ist dafür, vom sozialen Zweck erfüllt und in Dienst genommen zu sein, sondern seinen sozialen Auftrag positiv annimmt und ausführt.“21 Rechts- und Sozialstaat werden so „versöhnt“.22

17 Vgl. Hans-Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, in: Forsthoff (Hg.), 16 ff.; Gröschner, in: Dreier (Hg.), GG, 2006 (2. Aufl.), Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 15 ff., 36 ff.; Zacher, Das soziale Staatsziel; Papier, in: SRH, Tz. 3–8 ff.; Reiter, Bedeutung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland für das Sozialversicherungsrecht, in: Tomandl (Hg.), Verfassungsrechtliche Probleme des Sozialversicherungsrechts, 1989, 34 ff.; skeptisch: Schnapp, JuS 1998, 873. 18 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, 277 ff. 19 So Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: ders., 145, 154. 20 Vgl. dazu Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: Forsthoff, 165 ff.; MüllerVolbehr, JZ 1984, 6 ff. 21 Zacher, 63; ähnlich Ipsen, Rn. 987. 22 Häberle, Peter, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), 44, 98 f.

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III. Sozialrechtliche Tragweite der Grundrechte 1. Menschenwürde a) Ausgangspunkt Das BVerwG23 stellte den Zusammenhang zwischen der Sozialhilfe und der für die Grundrechte elementaren Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) unmittelbar nach Aufnahme seiner Spruchpraxis her. Es folgerte aus der Menschenwürde – ganz und gar im kantischem Sinn –,24 dass der Mensch im Recht stets als ein Subjekt zu denken wie zu stellen sei. Daher dürften auch die Bezieher sozialer Leistungen von der Verwaltung nicht zum Objekt staatlicher Fürsorglichkeit gemacht werden. Den Menschen als Subjekt denken, heißt zunächst ihn als Rechts- und Wirtschaftssubjekt verstehen. Hieraus leitet sich das Recht auf Anerkennung jedes Menschen als Person mit eigener Würde ab. Aus der Verknüpfung von Menschenwürde und Sozialhilfe folgt also ein subjektives Recht auf Sozialhilfe. Auch wer kein Wirtschaftssubjekt sein kann, hat als Mensch dennoch ein Recht auf Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse, notfalls auch gegenüber und mit Hilfe der rechtlich verfassten Gesellschaft. Das BVerwG zielte mit seiner Entscheidung auf die gerichtliche Überprüf barkeit der von der Fürsorgeverwaltung getroffenen Entscheidungen. Es erkannte daher jedem Adressaten eines die Pfl ichtleistung versagenden Bescheides der Verwaltung die Klagebefugnis zu. Somit wurde die Rechtsstaatlichkeit auch in der Sozialverwaltung begründet und gewährleistet: „Der Einzelne ist zwar der öffentlichen Gewalt unterworfen, aber nicht Untertan, sondern Bürger. Darum darf er in der Regel nicht lediglich Gegenstand staatlichen Handels sein. Es wird vielmehr als selbständige, rechtlich verantwortliche Persönlichkeit und deshalb als Träger von Rechten und Pfl ichten anerkannt“.25

b) Befähigung des Einzelnen zum Gebrauch seiner Freiheiten In den weiteren Verwendungszusammenhängen erfüllt das Postulat der Menschenwürde eine dreifache Aufgabe: Es wird zum Grundprinzip der Sozialhilfe, zur Richtgröße für das Maß öffentlicher Hilfe und bestimmt schließlich dessen Erbringungsmodus. Schon frühzeitig sprach das BVerfG unter Berufung auf Art. 1 I GG aus, der Staat müsse „jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwür-

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BVerwGE 1, 159. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (1775) II. Abschnitt: „Handle so, daß Du die Menschheit in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kants Gesammelte Schriften, Abt. 1: Werke, Akademie Ausgabe 1973, Band IV, S. 385, 429). 25 BVerwGE 1, 159, 161. 24

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diges Dasein sichern“.26 Damit formuliert Art. 1 I GG jedenfalls dem Grunde nach ein Grundrecht auf Existenzsicherung.27 In ihm wird die Aufgabe der Existenzsicherung eines jeden als letztlich staatliche Aufgabe formuliert. Dass der Sozialstaat als ein Fundament des Gemeinwesens ist, erklärt sich deshalb auch aus dieser Deutung der Menschenwürde.28 Das Maß der zu gewährenden Hilfe folgt aus der Menschenwürde-Garantie. Sie verlangt, dass dem Bedürftigen mehr als das physische, nämlich das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten.29 „Der Begriff des menschenwürdigen Lebens lässt sich nicht allein als eine Formel für das physiologisch Notwendige umschreiben. Zugleich wird auf die jeweils herrschenden Lebensgewohnheiten und -erfahrungen verwiesen.“30 Menschenwürdig ist demnach ein dem einzelnen Menschen gemäßes Leben.31 Das Existenzminimum hat dabei den „tatsächlichen Bedarf “ zu sichern, der „verbrauchsbezogen“ zu ermitteln ist.32 Dieses abstrakte Maß ist auf gesetzgeberische Konkretisierung angelegt und angewiesen. Deshalb komme dem Gesetzgeber auch eine eigene Einschätzungsprärogative über das Maß der zu gewährenden Hilfe zu.33

c) Menschenbild des GG Diese sozialstaatliche Deutung der staatlichen Befugnisse folgt aus dem „Menschenbild“ des Grundgesetzes.34 Der Menschenwürde liegt danach „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums“.35 Das GG hat „die Spannung Individiuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden; der Einzelne muss sich daher diejenigen Schranken der Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenhalts in den Grenzen

26 BVerfGE 1, 97, 104; 40, 121, 133; 45, 187, 228; 48, 346, 361; 82, 60, 85; vgl. Ralf Rothkegel, Menschenwürde und Sozialhilfe, in: ders., Sozialhilferecht, 2005, III, 125 ff. 27 Vgl. BVerfG – 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09; 3/09; 4/09 – dazu auch Walter Georg Leisner, Existenzsicherung im öffentlichen Recht, Tübingen 2007, 98 ff., 112 ff. 28 Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997, 90, spricht im Blick auf die Menschenwürde-Garantie als Garantie des Existenzminimums von der „subjektiv-rechtlichen Konkretisierung des Sozialstaatsgrundsatzes auf Verfassungsebene“; für Adalbert Podlech, AKGG, 1989 (2. Aufl.), Rn. 63 zu Art. 1 GG wird durch den Sozialstaat das Menschenwürde-Prinzip konkretisiert. 29 BSGE 97, 265, 278; BVerwGE 94, 326; 87, 212; Hessisches LSG – 29. 10. 2008 – L 6 AS 336/07. 30 BVerwGE 35, 178, 181. 31 Renate Bieritz-Harder, Menschenwürdig leben, Berlin 2001, 262 ff. 32 BVerfGE 99, 246, 260; 99, 216, 231; Hessisches LSG – 29. 10. 2008 – L 6 As 336/07. 33 BSGE 97, 265, 277; BVerwGE 36, 258. 34 BVerwGE 5, 85, 204; 7, 198, 205; 33, 303, 334; 45, 187. 35 BVerwGE 45, 187, 227; 4, 7, 15; vgl. dazu Ulrich Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1996.

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des allgemeinen Zumutbarem vorsieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“36 Das aus Art. 1 I GG abzuleitende Recht zielt also auf Teilnahme jedes Einzelnen an der Gesellschaft. Dem sozial verpfl ichteten Staat ist deshalb notfalls auch aufgegeben, den Bedürftigen zum Gebrauch seiner grundrechtlich garantierten Freiheiten zu befähigen:37 „Das Gebot des sozialen Rechtsstaates ist in besonderem Maße auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten zwischen den Menschen ausgerichtet und dient zuförderst der Erhaltung und Sicherheit der menschlichen Würde, dem obersten Grundsatz der Verfassung. Es ist ein vom Staat zu verwirklichendes Gebot sozialer Solidarität, helfend einzugreifen, wenn sich der Mensch bemüht, zu seinem Recht zu kommen“.38 Aus der Pfl icht zur Entfaltung der Menschenwürde durch Akte sozialer Solidarität folgt aber nicht nur, dem Einzelnen die „Sphäre privater Lebensgestaltung als unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit“ zu erhalten.39 „Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, dass er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt“.40 Aus dieser Bestimmung des Menschen zur Freiheit folgt aber zugleich auch der prinzipielle Nachrang aller öffentlichen Hilfe vor der Selbsthilfe. Dieser verwirklicht „allein die der Personenwürde des Menschen innewohnende Tendenz zur Entfaltung der eigenen Kräfte und zur Assoziation mit anderen“.41 „Deshalb enthält das Verlangen an den Einzelnen, zunächst seine eigenen Kräfte anzuspannen, nicht einen Abstand vom Sozialstaatsgedanken, sondern dessen Verdeutlichung und entspricht damit zugleich der Menschenwürde“.42 Eine unmittelbar verfassungsrechtliche Bedeutung erlangt das sozialhilferechtliche Existenzminimum ferner als absolute Grenze der Besteuerung des Einkommens.43

2. Grundrechte mit unmittelbar sozialrechtlichem Gehalt Grundrechte mit unmittelbar sozialrechtlichem Gehalt sind im GG nur ausnahmsweise zu fi nden. Der Schutz der Familie (Art. 6 II, IV, V GG), das Diskriminierungsverbot gegenüber behinderten Menschen44 (Art. 3 III 2 GG) sowie das Förderungsgebot gegenüber Frauen (Art. 3 II 2 GG) enthalten zwar jene vereinzelt auszumachenden grundrechtlichen Garantien spezieller sozialrechtlicher Belange. Art. 6 II 2 GG weist dem Staat ein Wächteramt über die elterliche Erziehung zu und legitimiert 36

BVerfGE 33, 303, 330. Bieritz-Harder, 268 ff. 38 BVerfGE 35, 348, 355 f.; zum Anspruch auf „Armenrecht“ als Akt staatlicher Daseinsfürsorge, besondere Erscheinungsform der „Sozialhilfe im Bereich der Rechtspflege“ (355). 39 BVerfGE 6, 32, 41. 40 BVerfGE 45, 187, 228. 41 BVerwGE 23, 149, 153. 42 Ebd. 43 BVerfGE 82, 66; 87, 153; 89, 346; 99, 216; vgl. dazu Moris Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Tübingen 1993. 44 Frowein, Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, 157; Herdegen, VSSR 1992, 245; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 256 ff.; Davy, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hg.), Die Behinderten in der sozialen Sicherung, 2002, 7 ff. 37

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so die Jugendhilfe.45 Nach Art. 6 IV GG hat jede Mutter Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft.46 Dies rechtfertigt den sozialrechtlichen Mutterschutz. Art. 6 V GG fordert, durch Gesetzgebung gleiche Bedingungen für die Entwicklung ehelicher und nichtehelicher Kinder zu schaffen.47 Dieser Auftrag verpfl ichtete den Gesetzgeber die bei Schaffung des GG fortbestehenden privatrechtlichen Rechtsnachteile nichtehelicher gegenüber ehelichen Kindern zu überwinden. Die Bestimmung enthält auch den Auftrag zu sozialrechtlicher Förderung – nämlich die Herstellung von Chancengleichheit zwischen ehelichen und nicht ehelichen Kindern – eine dringende und drängende Aufgabe auch und gerade zeitgenössischer Sozialpolitik. Es fehlt dem GG aber der sozialpolitisch wirklich große Wurf. Wie steht es um die international anerkannten Rechte auf soziale Sicherheit48, Gesundheit, Fürsorge, Arbeit, Wohnung oder Bildung?

3. Bedeutung der Grundrechte nicht sozialrechtlichen Gehalts für das Sozialrecht a) Bedeutung der Grundrechte nichtsozialrechtlichen Gehalts für das Sozialrecht Obgleich das GG mangels einer umfassenden Normierung sozialer Grundrechte auf alle diese Fragen eine Antwort schuldig bleibt, weil es nur vereinzelt sozialrechtlich gehaltvolle Regelungen trifft, erlangten die zivilen Grundrechte für das Sozialrecht erhebliche Bedeutung. Sie wiesen dem Gesetzgeber Richtung und Grenzen sozialrechtlicher Gestaltung und sicherten der Sozialgesetzgebung zugleich die Wahrung nicht-sozialrechtlicher Anliegen zu. Dies ergab sich aus der verfassungsgerichtlichen Kasuistik; denn sozialrechtliche Fragen waren häufig Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen.49 Darüber hinaus trat der Sozialleistungen gewährende Staat in seiner die Grundrechte entfaltenden Stellung zunehmend in das Blickfeld der Staatsrechtslehre.50 Die Einsicht wuchs: der Sozialleistungsstaat mache „Grundrechte . . . über das Sozialstaatsprinzip effektiv“; 51 ihnen eigne ein „personales Schutzdenken“,52 sie zielten auf die Schaffung eines „freiheitlichen Gesamtzustandes“,53 in dem die „soziale Freiheit . . . auch Sache staatlicher Sozialpolitik geworden“54 sei. Dem materiell verstandenen

45

Zacher, Elternrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 6 (2. Aufl.), § 134, Rn. 75 ff. 46 Dazu Coester-Waltjen, Mutterschutz in Europa, 1986. 47 Zum Inhalt dieses Auftrages vgl. BVerfGE 25, 167, 190; 74, 33, 38; 84, 168, 184. 48 Jef van Langendonck, The Right to Social Security, in: Eibe Riedel (Hg.), Social Security as a Human Right, 2007; Eichenhofer, Menschenrecht auf soziale Sicherheit, VSSR 2007, 87. 49 Vgl. Katzenstein, SGb 1988, 177; ders., VSSR 1982, 167; Rüfner, VSSR 1974, 68; Umbach/Clemens, VSSR 1992, 265; Wand, VSSR 1974, 52; Butzer, Fremdlasten, 2000; Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000. 50 Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), 44 ff. 51 Ebd., 67. 52 Ebd., 74. 53 Ebd., 76. 54 Ebd., 81.

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Gleichheitssatz komme dabei eine „Hebelwirkung“55 zugunsten der sozialen Freiheit zu, dessen Ziel das Optimum realer Freiheit sei; Grundrechte hätten einen „Doppelcharakter“ aus individuellen Rechten und institutionellen Gewährleistungen56 und letztere forderten und förderten deren leistungsrechtliche Ausgestaltung und Flankierung. Für das Sozialleistungsrecht schälten sich im Kern drei verfassungsrechtliche Grundfragen heraus: Sind Einführung oder Ausweitung von Einrichtungen des Sozialrechts (insbesondere Vorsorgeeinrichtungen) verfassungsgemäß (b)? Welche Anforderungen sind an die Ausgestaltung von Sozialleistungssystemen zu stellen (c)? Welche Grenzen setzt das GG der Einschränkung sozialrechtlicher Rechte (d)?

b) Einführung und Ausweitung sozialer Sicherheit Die verfassungsrechtlichen Grenzen für Einführung oder Ausweitung von Einrichtungen des Sozialrechts hatte das BVerfG erstmals zu bestimmen, als über die Einführung einer Pfl ichtmitgliedschaft der freiberufl ichen Ärzte zur Ärzteversorgung sowie der selbständigen Künstler zu einer Künstlersozialversicherung durch autonome Satzungen der Berufskammern der Ärzte sowie später der selbständigen Künstler zu entscheiden war.57 Das BVerfG erkannte in beiden Fällen keinen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung (Art. 12 I GG), weil die Versicherungspfl icht nicht die Berufsausübung der erfassten Personen betrifft. Versicherungs- und Beitragspfl icht berührten jedoch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und somit den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Ein solcher Eingriff sei statthaft, falls er selbst verhältnismäßig sei, also die Versicherungspfl icht geeignet und erforderlich sei und der Gesetzgeber mit ihr keine übermäßige Sicherung bezwecke. Zugunsten der Geeignetheit spreche, dass die Sozialversicherung im Gegensatz zur privaten Ersparnisbildung unabhängig von Inflation, Vermögensverfall oder wirtschaftlicher Stellung des Vorsorgeträgers Sicherheit gewähre. Würden die in die Versicherungspfl icht einbezogenen Personen durch die Sozialversicherung nicht gesichert, hätten sie selbst vorzusorgen. Die Versicherungspfl icht liege deshalb im Eigeninteresse der Gesicherten, ermögliche den Selbständigen ein Ausscheiden aus dem Berufsleben und sichere damit zugleich Belange des Berufsstandes. Die Einführung einer Versicherungspfl icht für Selbständige sei nicht unverhältnismäßig, ganz ebenso wie die Einbeziehung aller freiwillig in der privaten Krankenversicherung Versicherter in die private Pflegeversicherung.58

55

Ebd., 96. Ebd., 112. 57 BVerfGE 10, 354; 12, 319; 44, 70; 75, 108; vgl. ferner BVerwGE 87, 324; auch ein Eingriff in Art. 9 I GG kommt nicht in Betracht, Kaltenborn, NZS 2001, 300. 58 BVerfGE 103, 197, 216 ff.; vgl. auch 109, 96 (Einbeziehung der Nebenerwerbslandwirte in die landwirtschaftliche Sozialversicherung); 107, 205 (Nichteinbeziehung in Familienversicherung). 56

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c) Ausgestaltung von Leistungen sozialer Sicherheit In der Ausgestaltung des Sozialrechts ergeben sich verfassungsrechtliche Fragen namentlich hinsichtlich der geschützten Personen und Bedingungen einzelner Sozialleistungen. Die erstgenannte Problematik erklärt sich aus der typisierenden Anlage des Sozialrechts und seiner hochgradigen Differenziertheit. Beide begünstigen Regelungen, die Gleiches ungleich und Ungleiches gleich behandeln. Es stellen sich deshalb oftmals Probleme der Vereinbarkeit einzelner Sozialleistungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG). Die Probleme erscheinen von höchst technischer Natur und verlangen deshalb auch bei der verfassungsrechtlichen Würdigung sozialrechtlichen Sachverstand. Außerdem wandelte sich das Verständnis von Gleichheit seit Einführung des GG tiefgreifend: Es nahm zwar seinen Ausgang in der Rechts- und damit der formalen Gleichheit als der Folgerung aus der nicht hintergehbaren Forderung der gleichen Würde jedes Menschen.59 Aber Gleichheit hat keinen „intrinsischen moralischen Wert“.60 „Das Übel, dass manche Menschen ein schlechtes Leben führen, entsteht nicht dadurch, dass andere Menschen ein besseres Leben führen. Das Übel liegt einfach in der unverkennbaren Tatsache, dass schlechte Leben schlecht sind“.61 Gleichheit soll also nicht die tatsächlichen Unterschiede unter den Menschen leugnen, einebnen und überwinden, sondern gerade umgehend zur Geltung bringen. Gleichheit bedeutet daher zunächst ein Wegsehen von Verschiedenheiten – mündend in die Abstraktion vom Einzelnen. Gleichheitsgebote erschöpfen sich darin jedoch nicht. Vielmehr sind auch Ungleichbehandlungen nötig, um die Gleichheit zu sichern – namentlich wenn nur durch die gezielte Förderung vormals benachteiligter Gruppen eine tatsächliche Gleichstellung und damit die Chancengleichheit gewährleistet ist.62 Das BVerfG ließ sich in den ihm unterbreiteten Fällen von folgenden Grundsatzund Einzelerwägungen leiten: Soweit die Regelungen auf Typisierungen beruhen, sind Härten im Einzelfall hinzunehmen, wenn für die regelmäßigen Fälle ein vernünftiges Ergebnis eintritt.63 Deshalb ist der Versorgungsausgleich auch verfassungsgemäß, wenn er einzelne Frauen schlechter stellt als die frühere Lage.64 Deshalb ist eine rentenrechtliche Bewertungsregel mit Art. 3 I GG vereinbar, weil sie in der großen Mehrzahl der Fälle eine einkommensproportionale Bemessung der Rente zur Folge hat.65 Im übrigen billigt das BVerfG jede Differenzierung, die auf einem einleuchtenden Grund beruht. Dabei kommt dem Gesetzgeber ein weiter sozialpolitischer Gestaltungsspielraum zu. Das BVerfG versagt sich insbesondere die Prüfung,

59

Joe Feinberg, Social Philosophy, Englewood Clifts, N. J., 1973, 93. Harry Frankfurt, Gleichheit und Achtung, in: Angelika Krebs (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit, 2000, 38; Craig L. Carr, The Concept of Formal Justice, 39 (1981) Philosophical Studies, 211. 61 Frankfurt, Anm. 60, 41. 62 Heide Pfarr, Quoten und Grundgesetz, 1981; Ute Sacksofsky, Das Grundrecht und Gleichberechtigung, 1996, 2. Aufl. 63 BVerfGE 63, 119; 66, 66, 78; 67, 231. 64 BVerfGE 72, 141. 65 BVerfGE 66, 234, 242 ff. 60

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ob die angefochtene Regelung die vernünftigste oder gerechteste ist.66 Zeigten sich Ungleichheiten, habe der Gesetzgeber einen Anpassungsspielraum.67 Weil die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einerseits Maß für die Beitragsheranziehung und andererseits deren Einbuße Maß für die Höhe von Lohnersatzleistungen sind, sei Art. 3 I GG verletzt, wenn Einmalzahlungen zuvor mit Beiträgen belegt würden, aber bei der Leistungsbemessung unberücksichtigt blieben.68 Rentenversicherungsrechtliche Abgeltungen von Kindererziehung können auch sozialversicherungsrechtlich unterschiedlich behandelt werden, wenn die Kindererziehung zu unterschiedlichen Zeitund Lebensumständen geleistet wurde.69 Hingegen sind Unterschiede bei Gewährung von BAföG für Erst- und Zweitausbildungen bei Ausfall des Elternunterhalts70 ebenso wenig wie bei der Vermögensbewertung in der Ausbildungsförderung zu rechtfertigen.71 Es sei mit dem Gebot der Gleichbehandlung unvereinbar, wenn der Zugang zur Krankenversicherung der Rentner von der vorherigen Pfl icht- oder freiwilligen Versicherung72 oder zur Grundrente vom Wohnort abhängen73 oder Elternund Kindergeld vom aufenthaltsrechtlichen Status der Eltern abhängen.74 Der Gleichheitssatz und die Pfl icht zur staatlichen Förderung von Ehe und Familie geböten ferner eine Differenzierung bei der Beitragsgestaltung zur sozialen Pflegeversicherung, weil diese auf dem Generationenvertrag beruhe und deshalb neben dem monetären in Gestalt der Kindererziehung auf einen generativen Beitrag von den Versicherten angewiesen sei.75

d) Einschränkungen sozialer Rechte Von zentraler verfassungsrechtlicher Relevanz ist schließlich auch, ob gesetzliche Einschränkungen von Sozialleistungsrechten verfassungsrechtlich statthaft sind. Gegenstand der Prüfung wurde etwa die Neuregelung der rentenrechtlichen Anerkennung von Ausbildungszeiten,76 die Rentenanpassung,77 Krankenversicherung der Rentner78 oder Leistungsvoraussetzungen für eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.79 Stets war fraglich, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber Ansprüche oder Anwartschaften auf Sozialleistungen zu beschränken vermag.

66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

BVerfGE 3, 162, 182; 51, 295, 300 f.; 59, 287, 300; 68, 193. BVerfGE 89, 365, 380. BVerfGE 92, 53; 102, 127. BVerfGE 97, 103. BVerfGE 99, 165. BVerfGE 100, 195 ff. BVerfGE 102, 68. BVerfGE 102, 41; vgl. zur Problematik Rentenangleichung Ruland, NZS 2009, 121. BVerfGE 111, 176, 160. BVerfGE 103, 242. BVerfGE 71, 1. BVerfGE 64, 87. BVerfGE 69, 272. BVerfGE 75, 78.

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In dieser Frage sind Prüfungsmaßstab und Schranken problematisch. Bis 1980 war Art. 2 I GG, seither ist Art. 14 GG Prüfungsmaßstab.80 Dieser Wandel wurde vom BVerfG erstmals in seiner Entscheidung über die Zulässigkeit des Versorgungsausgleichs81 vertreten, nachdem sie zuvor schon vom BSG82 sowie in einem Minderheitenvotum83 verfochten wurde. Das BVerfG hat demgemäß die Eigentumsgarantie auf die sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaften erstreckt, weil diese wie klassisches Eigentum die freie Lebensführung des Leistungsempfängers sicherten. Dies gelte auch für Leistungen für Arbeitslose.84 Sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften seien Vermögenswerte und daher als Eigentum zu schützen. Dem Schutz der Eigentumsgarantie unterfallen auch die Überleitung der in der DDR erworbenen Anrechte der Sonder- oder Zusatzversorgung in die gesetzliche Rentenversicherung,85 dagegen mangels personaler Beziehung zwischen Beitrag und Leistungsanspruch nicht die Anrechte aus der Hinterbliebenenversorgung.86 Denn durch den korrigierenden Eingriff in sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften würde Vertrauen enttäuscht; Art. 14 GG solle das Vertrauen auf den Fortbestand von Aussichten mit Vermögenswert schützen. Desgleichen sind Anwartschaften und Ansprüche auf Arbeitslosengeld (I – nicht II! 87) durch Art. 14 GG geschützt.88 Einschränkungen seien zulässig, wenn das Gesetz Inhalt und Schranken des Eigentums verfassungsgemäß bestimme und das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahre. Auch Maßnahmen zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung berechtigen den Gesetzgeber zur Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Art. 14 I 2 GG). Außerdem gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber auch bei Beschränkung von Sozialleistungsansprüchen einen weiten Gestaltungsspielraum zu, namentlich die Konzentration der Leistungen auf die sozial Schwächeren89 oder deren Zurückführung auf ihre eigentliche Funktion.90 Nicht einmal eine Bestandsgarantie für die Sozialversicherung sei im GG enthalten.91 Dagegen dürfe der Gesetzgeber nicht Leistungen pauschalisierend an abstrakten, von der Person des Versicherten unabhängigen Kriterien bestimmen.92 Ferner wird zum verfassungsrechtlichen Problem, 80

BVerfGE 32, 111; 36, 73; vgl. zur Problematik: Boecken, Der verfassungsrechtliche Schutz von Altersrentenansprüchen und -anwartschaften in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland, 1987; Jährling-Rahnefeld, Verfassungsgemäßheit der Grundrente, 2002; Krause, Eigentum an subjektiv-öffentlichen Rechten, 1982; Papier, in: SRH, Tz. 3–41 ff.; Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005; Preis/Kellermann, SGb 1999, 329; Reiter, SGb 1996, 246 ff.; Stober (Hg.), Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen, 1986. 81 BVerfGE 53, 257. 82 BSGE 9, 127. 83 Richterin Rupp-von Brünneck, BVerfGE 32, 111. 84 BVerfGE 87, 234. 85 BVerfGE 101, 59 ff., 104 ff.; BSGE 84, 156 ff.; 180 ff. 86 BVerfGE 97, 271. 87 BSGE 97, 265. 88 BVerfGE 72, 9; BSG NZS 1996, 579 (581). 89 BVerfGE 97, 271; OGH in: Pieters/Zaglmayer, p. 257. 90 BVerfGE 97, 378. 91 BVerfGE 39, 302, 314 f. 92 BVerfG 100; 1 ff.; 59 ff.; 104 ff.; 138 ff.; wie die Zugehörigkeit zum Staatssicherheitsdienst oder Staatsapparat der DDR.

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inwieweit die Sozialversicherung allgemeine Staatsaufgaben wahrzunehmen hat – namentlich ob angesichts des Versicherungsprinzips ein Solidarausgleich statthaft und die Übertragung von Fremdlasten zulässig ist.93 Danach ist die Sozialversicherung zwar primär Versicherung; ihr ist der Solidarausgleich jedoch eigen. Sie ist gerade darin verfassungsrechtlich legitimiert. Fremdlasten dürfen der Sozialversicherung indes prinzipiell nicht auferlegt werden. Die Abgrenzung zwischen legitimem Solidarausgleich und illegitimer Fremdlast gestaltet sich jedoch wegen der weitgehenden Identität zwischen Sozialversicherten und der Allgemeinheit im Einzelfall als schwierig.94

IV. Unitarischer Sozialstaat im Bundesstaat 1. Festigung des Zentralstaates Sozialrecht regelt öffentlich-rechtliches Geben und Nehmen. Im sozialen Rechtsstaat, der vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht bindet (Art. 20 III GG), ist Sozialrecht auf die Gesetzgebung notwendig angewiesen. Da Deutschland ein Bundesstaat ist, kommen Bund und Ländern je eigene, voneinander unabhängige Gesetzgebungszuständigkeiten zu. Die Zuständigkeit in der Sozialgesetzgebung wird in Art. 74 GG normiert. Im Gegensatz zu anderen föderal gegliederten Staaten95 ist die sozialrechtliche Gesetzgebung in Deutschland beim Bund konzentriert; den Ländern ist eine nur schmale Zuständigkeit verblieben. Dies hat zunächst historische Gründe. Sozialversicherung – Herzstück moderner Sozialgesetzgebung – sollte die Industriearbeiterschaft an das Reich binden, um so den 1871 gegründeten Zentralstaat zu festigen. Außerdem sichert diese Zuständigkeitsverteilung, dass die für die Lebensgestaltung vieler Menschen wesentlichen Sozial leistungen einheitlich bemessen werden. Damit werden die Lebensverhältnisse in Deutschland vereinheitlicht – dessen Wirkungen namentlich bei der Wiedervereinigung sichtbar wurden. Durch die Föderalismusreform (2005)96 wurde die bisherige Aufteilung der Zuständigkeit von Bund und Ländern verändert, sie berührt entfernt auch das Sozialrecht.

2. Zuständigkeitsvermutungen für den Bund Zwar besteht eine allgemeine Vermutung für die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder (Art. 70 GG); diese wird jedoch durch die dem Bund in Artt. 71–75 GG eingeräumte ausschließliche (Artt. 71, 73 GG), konkurrierende (Artt. 72, 74 GG) und 93 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001; Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000. 94 Becker, Transfergerechtigkeit, 2001. 95 Namentlich die USA, Kanada, Schweiz und Österreich; vgl. Steven Vansteenkiste, Sociale zekerheid, federalisme en de Europese Gemeenschap, 1995; Kessler, Le fédéralisme social, 56 (2006) Lien social et politique. 96 BT-Drs. 16/813, 814; dazu Häde, JZ 2006, 930; Burgi, DVBl. 2007, 70.

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Rahmengesetzgebungskompetenz (Art. 75 GG) verändert. Artt. 73, 74 GG benennen jeweils Materien, für die eine ausschließliche oder konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit besteht. Durch die Föderalismusreform wurde die Aufgabenverteiligung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand verändert. In die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes fällt die Versorgung von Kriegsgeschädigten und Hinterbliebenen und die Fürsorge für ehemalige Kriegsgefangene (Art. 73 I Nr. 13 GG). Gegenstände konkurrierender Gesetzgebung 97 sind die öffentliche Fürsorge98 (Art. 74 I Nr. 7 GG), Kriegsschäden und Wiedergutmachung (Art. 74 I Nr. 9 GG), Arbeitsvermittlung, Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung (Art. 74 I Nr. 12 GG), Ausbildungsbeihilfen (Art. 74 I Nr. 13 GG) und wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Krankenhauspflegesätze (Art. 74 I Nr. 19a GG). Die Gesetzgebungszuständigkeit für die „öffentliche Fürsorge“ betrifft die soziale Hilfe. Die Gesetzgebungszuständigkeit für die Sozialversicherung,99 die wirtschaftliche Sicherung von Krankenhäusern und die Regelung der Krankenhauspflegesätze ermöglicht die soziale Vorsorge. Die Zuständigkeit für die Schaffung von Arbeitslosenversicherung und Ausbildungsbeihilfen ist schließlich Grundlage für die soziale Vorsorge und Förderung. Der Bund hat diese Gesetzgebungszuständigkeit durch umfassende Bundesgesetze nahezu erschöpft.

3. Was bleibt den Ländern? Zuständigkeiten der Landesgesetzgebung bestehen nach dem GG für die Landesbeamten (Art. 70 I GG) – namentlich deren Besoldung und Versorgung. Art. 84 I 7 GG untersagt dem Bund die unmittelbare Aufgabenübertragung auf die Gemeinden; diese ist nun den Ländern vorbehalten. Dies erklärt die Unzulänglichkeit der Arbeitsgemeinschaften nach § 44 b SGB II.100 Im Übrigen bestehen Zuständigkeiten der Landesgesetzgebung nur soweit der Bundesgesetzgeber diese dem Landesgesetzgeber eigens eröffnet hat. Bundesrecht überantwortet den Ländern die Zuständigkeit für die Pflegeinfrastruktur (§ 9 SGB XI),101 die Organisation von Sozial- (vgl. § 101 SGB XII) und Jugendhilfe (§ 15 SGB VIII) sowie des Rechtsschutzes gegen Akte der Sozialverwaltung (vgl. §§ 7, 28 SGG, 2 VwGO). Die Länder haben insbesondere die Verwaltungsstrukturen und die Kostenverteilung innerhalb eines Landes zwischen den verschiedenen Trägern der Sozial- und Jugendhilfe selbständig zu regeln. Die 97 Konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit bedeutet, dass Bund und Länder zur Gesetzgebung befugt sind. Hat der Bund allerdings von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, ist die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder verbraucht. Der Bund darf von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nur Gebrauch machen, wenn ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht. Dieses besteht, falls die Angelegenheit durch Landesgesetzgebung nicht wirksam geregelt werden kann, die Regelung durch ein Land den Interessen anderer Länder zuwiderliefe oder zur Wahrung der Rechtsund Wirtschaftseinheit oder zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse eine über das Gebiet eines Landes hinaus geltende Regelung erforderlich ist (Art. 72 GG). 98 Einschließlich der Jugendhilfe (BVerfGE 22, 180, 212 f.). 99 Axer, in Bonner Kommentar zu Art. 74 Nr. 12 GG, Anm. 2 ff. 100 BVerfGE 119, 331. 101 Klie, VSSR 1999, 327.

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bundesrechtlichen Regelungen zur Jugendhilfe legen nur Leitlinien für die damit zusammenhängenden Aufgaben und Leistungen fest. Die konkrete Ausgestaltung der Jugendarbeit und -sozialarbeit wird dagegen landesrechtlich bestimmt (§ 15 SGB VIII). In der Sozialhilfe legt der Bund als örtliche Träger die kreisfreien Städte oder Landkreise fest (§§ 97, 98 I SGB XII). Die Bestimmung der überörtlichen Träger – die Länder selbst, „Landeswohlfahrtsverbände“ oder „Bezirke“ – obliegt hingegen den Ländern (§ 97 II SGB XII). Die Länder bestimmen darüber hinaus, wie sich die Aufgaben zwischen örtlichen und überörtlichen Trägern der Sozialhilfe verteilen (§ 99 SGB XII). Schließlich gestaltet die Landesgesetzgebung für die Angehörigen der freien Berufe Versorgungswerke, Ausbildungsbeihilfen für Schüler, sozialer Wohnungsbau und das Blindengeld. Der deutsche Sozialstaat zeichnet sich damit durch ein auch im internationalen Vergleich der Bundesstaaten hohes Maß an Zentralisierung auf. Der Länder-Einfluss auf die Sozialgesetzgebung ist also gering – die Gesetzgebungskompetenz ist beim Bund konzentriert (und nur in diesem Rahmen über den Bundesrat dem LänderEinfluss zugänglich). Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht nur wesentlich ein Sozialstaat, sondern obendrein auch ein einheitlich durch den Bund geregelter Sozialstaat.

V. Sozialrechtliche Rückwirkungen der Europafreundlichkeit und Weltoffenheit des GG Das GG versteht die Bundesrepublik Deutschland als einen Teil der Weltgesellschaft und des vereinten Europas. Hieraus erklärt sich seine Hinwendung zu den allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechten, seiner Unterwerfung unter das Völkerrecht und seine Hinwendung zu und Ausrichtung nach Europa. Gerade im Rahmen der europäischen Integration vollzieht sich gegenwärtig ein, auch die sozialstaatliche Ordnung verändernder Prozess einer fortschreitenden Europäisierung.

1. Aufgaben und Zielbestimmungen der EU Art. 2, 3 EUV führen die der EU übertragenen Aufgaben auf. Diese Umschreibungen bemühen sich um eigene Begriffe. Nach Art. 2 EUV gründet sich die EU auf die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Weiter heißt es: „Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“. Diese Prinzipien und Grundsätze sind von erheblicher sozialrechtlicher Substanz.102 Denn sie schützen den Menschen in seiner körperlichen Existenz, woraus Rechte auf Sozial- und Krankenhilfe folgen. Das Postulat der

102

Vgl. auch Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2008, 64.

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Gleichheit103 bedeutet die Absage an jegliches Privileg – nicht nur rechtlich, sondern auch sozial und begründet den Anspruch auf soziale Teilhabe. Gerechtigkeit und Solidarität bedeuten das Füreinander-Einstehen der Menschen. Eine, sich auf diese Werte gründende Ordnung setzt eine ausgebaute sozialstaatliche Ordnung voraus, die dem Einzelnen die Entfaltung der Freiheiten ermöglicht. Die Wirtschafts- und Sozialordnung der EU wird in Art. 3 III EUV umschrieben: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, . . . hin. . . . Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes“. Diese Aussage klärt, dass der auf Wachstum, Preisstabilität, Wettbewerb und Nachhaltigkeit beruhende Binnenmarkt nicht um seiner selbst willen errichtet wurde und besteht, sondern letztlich auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt zielt und damit den arbeitenden Menschen und der Gesellschaft als Ganzer zugute kommen soll. Vollbeschäftigung und ein fairer Anteil der arbeitenden Bevölkerung am Erwirtschafteten sind Voraussetzungen wie Ziele erfolgreicher Sozialpolitik. In der Verknüpfung von Prosperität durch Wettbewerb und dessen sozialstaatliche Flankierung liegt das Europäische Sozialmodell.104 Darüber hinaus weist die Bestimmung der EU originäre Aufgaben auf sozialpolitischem Gebiet zu, nämlich die soziale Ausgrenzung und Diskriminierung zu „bekämpfen“ und die soziale Gerechtigkeit und den sozialen Schutz zu fördern. Diese Aufgaben stehen selbständig und gleichrangig neben der ökonomischen Aufgabe der EU.105

2. Einzelermächtigung, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Art. 4, 5 EUV bekräftigt die überkommene Zuständigkeitsabgrenzung zwischen EU und Mitgliedstaaten, namentlich die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Die Zuständigkeit der EU wird danach auf die Vertragsziele beschränkt und kann nur gebraucht werden, wenn dessen Ziele von den Mitgliedstaaten nicht selbst besser verwirklicht werden können; ihr Gebrauch soll sich auf das zur Zielerreichung Notwendige beschränken. Nach Art. 2 III AEUV koordinieren die Mitgliedstaaten „ihre Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik im Rahmen von Regelungen nach Maßgabe dieses Vertrages, für deren Feststellung die Union zuständig ist“. Damit wird eine Kooperationspfl icht für die Mitgliedstaaten in allen Fragen der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik 103 Nußberger, DVBl. 2008, 1081 ff.; Piazolo, Solidarität. Deutungen zu einem Leitprinzip der Europäischen Union, 2004. 104 Jepsen/Pascual, Unwrapping the European Social Model, 2006; Zweynert, Europa als Wirtschaftsund Soziamodell?, in: Kadelbach (Hg.), Europäische Identität, 2008, S. 25. 105 Pechstein, in: Streinz, EGV/EUV, 2003, Art. 2 EUV Rn. 8.

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begründet. Sie soll für die Mitgliedstaaten den Rahmen abstecken. Darin wird für die EU eine das mitgliedstaatliche Handeln koordinierende, ergänzende und unterstützende Zuständigkeit begründet, welche jenes überformt, allerdings nicht die EUKompetenz ausweitet (Art. 2 V AEUV). Art. 3 I b AEUV weist der EU die ausschließliche Zuständigkeit für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“ zu. Dadurch wird der EU-weite Wettbewerb auch für daran beteiligte Sozialleistungsträger durch die im EU-Kartell-, Vergabe- und Beihilferecht niedergelegten Regeln bestimmt. Art. 6 AEUV sieht eine ergänzende, unterstützende, koordinierende Rolle zum Schutz und der Verbesserung der Gesundheit, bei der allgemeinen und berufl ichen Bildung und für die Verwaltungszusammenarbeit vor. Eine zwischen EU und Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit weist Art. 4 II AEUV im Hinblick auf den Binnenmarkt, die „Sozialpolitik einschließlich der in diesem Vertrag genannten Aspekte“, den „wirtschaftlichen, sozialen und territorialem Zusammenhalt“ sowie den Verbraucherschutz auf. Schließlich bestimmt Art. 5 AEUV: „(1) Die Mitgliedstaaten koordinieren ihre Wirtschaftspolitik innerhalb der Union. Zu diesem Zweck erlässt der Rat Maßnahmen; insbesondere beschließt er die Grundzüge dieser Politik . . . (2) Die Union trifft Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten, insbesondere durch die Festlegung von Leitlinien für diese Punkte. (3) Die Union kann die Initiativen zur Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen“. Entsprechend der originär sozialpolitischen Grundausrichtung der EU (vgl. Art. 3 III EUV) kommt ihr auf dem Gebiet der Sozialpolitik eine Vielzahl geteilter Zuständigkeiten zu. Dementsprechend führen Art. 151, 153 AEUV eine Fülle sozialpolitischer Einzelmaterien auf, in denen die EU die Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben unterstützt und ergänzt (vgl. Art. 153 I AEUV): Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer, Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung mit Ausnahme von Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht, Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen, berufl iche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt Ausgegrenzten, die neben der Zuständigkeit für die berufl iche Bildung tritt, Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung, Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes.106 Der Gestaltungsspielraum der EU wird durch unterschiedliche Anforderungen an die für EUHandeln notwendigen Mehrheiten konkretisiert. Durch die Neuregelung der angestammten Aufgaben der zwischenstaatlichen Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit ist die Änderung von Koordinationsrecht im einfachen Gesetzgebungsverfahren erlaubt. Jeder Mitgliedstaat erhält ein das Gesetzgebungsverfahren für 4 Monaten anhaltendes Vetorecht (Art. 48 AEUV), falls „wichtige Aspekte seines Systems der sozialen Sicherheit, insbesondere dessen Gel106 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 1093; Eichenhofer, in: Streinz, EUV/EGV, 2010, Art. 153 AEUV Rn. 4 ff.

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tungsbereich, Kosten oder Finanzstruktur verletzen oder dessen fi nanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen würde.“

3. Mitgliedstaatliche Vorbehalte und EU-Vorränge Die „anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherung festzulegen“, ist nicht berührt (Art. 153 IV AEUV). Ferner darf das EU-Recht weder das fi nanzielle Gleichgewicht der Systeme sozialer Sicherheit beeinträchtigen, noch die Mitgliedstaaten hindern, ein höheres Maß an Schutz zu verwirklichen. Dies ist für die Rollenverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten folgenreich.107 Zwar kommt der EU auch künftig kein umfassendes sozialpolitisches Mandat zu. Aber genauso wenig kann behauptet werden, die Mitgliedstaaten wären in ihrer sozialpolitischen Gestaltungsmacht durch das EU-Recht unbegrenzt. Denn einerlei, ob in ergänzender, unterstützender oder koordinierender Weise – die EU kann auf sämtlichen Gebieten der Sozialpolitik aktiv werden, mögen dafür auch die Mehrheitsanforderungen und Eingriffsmodalitäten variieren. Angesichts dieser primärrechtlichen Lage wird verständlich, dass die EU seit 2000 im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung Berichte und sozialpolitische Leitlinien formuliert, die thematisch denkbar weit sind; ihre Wirkung wird lediglich durch einen verminderten Anspruch auf Verbindlichkeit beschränkt.108 So nimmt die EU mit der allergrößten Selbstverständlichkeit in ihrem „Joint Report on Social Protection and Social Inclusion 2008. Social inclusion, pensions, health care and long-term care“109 zu allen sozialpolitisch wesentlichen Themen eingehend wie richtungsweisend Stellung – von der Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut über die Finanzierung öffentlicher und privater Alterssicherung wie den Schutz privater Vorsorgerechte bis hin zur Sicherung einer angemessenen Pflege. Dies kann und darf nicht als Usurpation oder Erschleichung von EU-Zuständigkeiten kritisiert werden. Denn jede Regelung auf dem Gebiet des sozialen Schutzes umschreibt zugleich Bedingungen des wirtschaftlichen Handelns. Soll aber die EU ein einheitlicher Binnenmarkt mit einer einheitlichen Wettbewerbsordnung sein, so müssen auch die sozialen Bedingungen im Binnenmarkt, wenn nicht einheitlich gestaltet, zumindest einander angeglichen sein. Ein Binnenmarkt verlangt nach dem europäischen Sozialraum; dieser kommt nur mittels EU-Normsetzung zustande.110 Eine Deutung, welche den Mitgliedstaaten – jedenfalls „grundsätzlich“ – die umfassende sozialpolitische Kompetenz zuerkennen und die EU auf eine randständige Rolle zu beschränken würde, verfehlte auch die Mehr-Ebenen-Struktur der EU.111 Sie steht jeder gedanklichen Bezugnahme auf den Staat als Körperschaft und Ord107

BVerfG, Urt. v. 30.1.09, Az. 2 BvE 2/08 u. a. (Lissabon-Vertrag), Rn. 394. Goltschy, Taking Stock of Social Europe: is there such a thing as a community social model?, in: Jepsen/Serrano, Unwrapping the European Social Model, 2006, 47, 70. 109 KOM (2008) 42 fi nal. 110 Jepsen/Pascual, The Concept of the ESM – and supranational legitimacy building, in: dies., Unwrapping the European Social Model, 2006, p. 25 et sequ. 111 Leibfried/Pierson (Ed.), European Social Policy, 1995. 108

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nungsmodell entgegen.112 Diese Sicht verfehlte zum einen, dass die Mitgliedstaaten die EU als deren Mitglieder formen und prägen, weshalb auch das höchst populäre Bild von der EU als einer den Mitgliedstaaten als fremd und feindselig gegenüber tretende Macht schief ist. Denn sollte zum anderen auch das Wirken eines Mitgliedstaates in den supranationalen Strukturen der EU als eine Erscheinungsform mitgliedstaatlichen Handelns in transnationaler Bündelung gedacht und verstanden werden. Die eigentliche Stärke erwächst der EU aus ihrer institutionellen Schwäche, zur Gestaltung einer eigenständigen Sozialpolitik mangels eigener Administration nicht befähigt zu sein.113 Das vorherrschende Instrument der EU-Sozialpolitik ist vor diesem Hintergrund die Reflexion auf sozialpolitische Grundfragen, verbunden mit dem Bemühen um eine möglichst einvernehmliche Überzeugungsbildung unter den Mitgliedstaaten.114 Die Entlastung von der Last des administrativen Vollzugs befreit, weil sie zur Konzentration auf das Konzeptionelle von Sozialpolitik zwingt und diese auch befördert.

4. Sozialpolitisch erhebliche EU-Grundrechte a) Verbindliche Grundrechte Ausweislich von Art. 6 EUV anerkennt die EU die in der seit 2000 geltenden, bisher unverbindlichen Charta der Grundrechte niedergelegten Rechte, Institutionen und Grundsätze als den Verträgen im Range gleichstehendes Recht an. Diese Charta sollte die gerade vom BVerfG einst115 beanstandete menschenrechtliche Lücke in der EU-Rechtsetzung schließen helfen. Sie soll also die EU-Rechtsetzung an den von den Mitgliedstaaten wie weltweit anerkannten Menschenrechten ausrichten und in ihrem eigenen Handeln leiten. Zugleich soll gesichert werden, dass EU-Recht mit dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten im Einklang steht und Kollisionen vermieden werden.

b) Sozialpolitisch gehaltvolle Grundrechte Gemessen an dem auf den Kern bürgerlicher und politischer Grundrechte beschränkten Grundrechte-Katalog des GG sind die Charta-Grundrechte weiter und in seiner Ausrichtung an modernen Gleichheitspostulaten auch sozialpolitisch gehaltvoller als das GG. Deswegen könnten die mit der Schaffung eines EU-Grundrechtekatalogs gerichteten Bestrebungen, dadurch wegen nicht gewährleisteter Menschenrechte Lücken im EU-Recht zu schließen, angesichts der Zeitgemäßheit, Breite und Tiefe der EU-Menschenrechte in das Gegenteil des ursprünglich Beabsichtigten ver112

Bach, Kollektive Identität in Europa, in Kadelbach (Hrsg.), Europäische Identität, 2008, S. 17 ff. Kohler-Koch, The Strength of Weakness. The Transformation of Governance in the EU, in Gustavsson/Lewin (Ed.), The Future of the Nation State. Essays on Cultural Pluralism and Political Integration, 1996, p. 169 et sequ. 114 Teague, EU Journal of Industrial Relations 7 (2001), p. 7 et sequ. 115 BVerfGE 22, 293; 31, 145; 37, 271; 52, 187; 73, 389; 89, 155; 102, 147; 113, 237. 113

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kehren. Statt die EU an den Menschenrechtsstandard der Mitgliedstaaten zu binden, wird dieser durch die EU-Menschenrechte fortentwickelt!

c) Gehalte Aus dem Katalog der EU-Menschenrechte ergeben sich außerdem mögliche Neuausrichtungen der Sozialpolitik, die auch Rückwirkungen auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten haben. So ist mit der Garantie der Rechtsgleichheit ein weit gefasstes Diskriminierungsverbot verbunden, das über den Katalog der in Art. 19 AEUV genannten Merkmale hinausgeht (Art. 21), weil es etwa auch Diskriminierungen wegen der sozialen Herkunft, genetischer Merkmale, politischer Anschauungen, des Vermögens oder der Lebensart untersagt. Einen speziellen Nachdruck mit der Forderung der Gleichheitsrechte wird auf die Rechte von Kindern und älteren Menschen (Art. 24 f.) und auf berufl iche Eingliederung der behinderten Menschen (Art. 26) gelegt. Auf diese starke Betonung der sozialen Gleichheit wird die europäische Sozialpolitik zu reagieren haben. Anders als das GG kennt die Grundrechte-Charta in deren Kapitel IV über die Solidarität eigenständige soziale Grundrechte (Art. 27–38) in der französischen Tradition des „droit social“. Sie umfassen also Garantien des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit (= des „Sozialrechts“). Die in der Charta enthaltenen Gewährleistungen setzen den Hauptakzent auf das Arbeitsrecht, namentlich die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer(innen), Kollektivverhandlungen und -maßnahmen, den Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, das Verbot der Kinderarbeit und den Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz sowie die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit. Daneben stehen ferner Grundrechte sozialrechtlichen Gehalts, so die Rechte auf Zugang zu einem unentgeltlichem Arbeitsvermittlungsdienst und Leistungen sozialer Sicherheit116 und sozialer Dienste auf Gesundheitsschutz wie Dienstleistungen von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse, worunter vor allem die Einrichtungen öffentlicher Daseinsvorsorge fallen, ferner auf Umwelt- und Verbraucherschutz. Zu den Bürgerrechten gehören die Rechte auf gute Verwaltung (Art. 41) und Zugang zu Dokumenten (Art. 42). Die in der Grundrechte-Charta formulierten Rechte auf Zugang zu den Einrichtungen der Sozialversicherung und den sozialen wie medizinischen Diensten als allgemeine Menschenrechte sind ohne Ansehen von sozialem Rang und sozialer Stellung der Menschen gewährleistet. Daraus folgt für das gegliederte System sozialer Sicherheit in Deutschland ein Anpassungsbedarf. Der gesamte Regelungskomplex richtet menschenrechtlich fundierte Anforderungen an die europäische Sozialpolitik.

116 Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 34, Rn. 8, 10, 52, 64 ff.

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5. Sozialpolitische Reichweite des EU-Rechts Obwohl Art. 153 IV AEUV „die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit fortzuführen“ bekräftigt, weisen viele Bestimmungen im Lissabonner Vertrag der EU in der Sozialpolitik eine wachsende Rolle zu. Schon die wirtschaftliche Integration durch den Binnenmarkt verfolgte die sozialen Ziele Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt, d. h. mehr Teilhabe der abhängig Beschäftigten am wirtschaftlichen Ertrag und Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen. Inzwischen sind der soziale Schutz die und soziale Gerechtigkeit – verstanden als Teilhabegerechtigkeit – als eigenständige Ziele hinzugetreten, die in den sozialen Grundrechten und Gerechtigkeitspostulaten programmatisch durchaus anspruchsvoll übersetzt wurden. Am klarsten, elementarsten folgt der sozialpolitische Auftrag und Anspruch aus Art. 3 III EUV. Darin ist der EU global aufgetragen, soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen zu bekämpfen wie soziale Gerechtigkeit und den sozialen Schutz zu fördern. Diese Kompetenz ist thematisch breit ausgelegt und der EU als Ziel gleichrangig neben der EU-weit entfalteten sozialen Marktwirtschaft aufgetragen. Die EU wurde darüber zumindest in dem Maß wie es als wirtschaftliches Projekt angelegt war, auch zu einem sozialrechtlichen Projekt. Der Sozialstaat wird darüber vom nationalen zum europäisch angeleiteten und verflochtenen Sozialstaat.117

VI. Fazit 60 Jahre GG haben im deutschen Sozialrecht tiefe Spuren hinterlassen. Obgleich es sich gerade des sozialen Themas nicht umfassend annimmt, hat es für die Entfaltung des deutschen Sozialstaats eine weitreichende Bedeutung. Eine sozialstaatlich fundierte Deutung der Menschenwürde verknüpft diese mit dem Sozialstaatsgrundsatz. Daraus folgt nicht nur der herausgehobene institutionelle Rang des Sozialrechts, sondern – und nicht minder – sein unverzichtbarer individualrechtlicher Gehalt. Das GG enthält in seinen Einzelgewährleistungen einen nur punktuellen und deshalb eingeschränkten sozialrechtlichen Gehalt. Auf elementare Fragen nach den inzwischen welt- und europaweit anerkannten sozialen Grundrechten bleibt das GG eine zureichende Antwort schuldig: Punktuelle Garantien einzelner sozialrechtlicher Gewährleistungen – über die Gleichstellung, Schutz der behinderten Menschen, nichtehelichen Kinder und Mütter – gelangte das GG nicht zu einer konzisen Antwort auf die Grundsatzfrage des Sozialstaats – nämlich nach Funktion und Aufgabe von Sozialversicherung oder Sozialhilfe oder dem Recht auf Gesundheit, Arbeit, Wohnung und Bildung. Aber die Rechtsprechung des BVerfG zu den „bürgerlichen Grundrechten“ – namentlich zu Handlungsfreiheit, Gleichheit und Eigentumsgarantie – förderte sozialrechtlich Gehaltvolles und Belastbares zutage. Zentralstaatliche Traditionen der 117 Schulte, Europäische Integration und sozialer Schutz, in: Kraus/Leisen (Hrsg.), Sozialstaat in Europa. Geschichte, Entwicklung, Perspektiven, 2001, S. 285, 294 ff.; Barnard, EC Employment Law, 3. ed. 2006.

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deutschen Sozialpolitik befördernd, legt das GG seinen Akzent auf die zentralstaatliche Zuständigkeit. Die Vereinigung Deutschlands nach vier Jahrzehnten der Trennung bedeutete daher vor allem ein gesamtstaatliches Gesetzgebungsvorhaben. Das GG steht auch der europäischen Integration offen gegenüber; auch der seit zwei Jahrzehnten steigende Einfluss Europas auf die Sozialpolitik rührte auch nicht an die Grundfesten des deutschen Sozialstaates, weil die europäischen Impulse dem deutschen Gesetzgeber nicht aufgezwungen, sondern als Teil einer selbst verantworteten Modernisierung und Umgestaltung des Sozialstaats wirksam wurden.

60 Jahre Grundgesetz – aus der Sicht des Steuerrechts von

Prof. Dr. Christian Waldhoff, Universität Bonn Wenn Geschichte und Entwicklung des Grundgesetzes aus der Perspektive des Steuerrechts analysiert werden sollen, geht es vorrangig um das Verhältnis von Verfassungs- und Steuerrecht. Dieser Bereich wird mit dem Terminus Steuerverfassungsrecht beschrieben. Die hier eingenommene Perspektive mag in der Gegenwart ungewöhnlich erscheinen – im größeren verfassungsgeschichtlichen Kontext sind Fragen der Staatsfi nanzierung freilich stets erstklassige Indikatoren, um etwas über den Zustand und die Gestaltung der jeweiligen Verfassungsordnung zu erfahren, stellt sich doch die Herausbildung des modernen Staates als sich wechselseitig bedingende Prozesse zwischen Rüstung, Finanzierung und Administrierung dar1. Unter Steuerverfassungsrecht wird üblicherweise die Anwendung verfassungsrechtlicher, zumeist allgemein formulierter Maßstäbe auf Besteuerungsvorgänge verstanden 2. Fragen um die Besteuerungsgleichheit sowie die verfassungsrechtliche Einhegung staatlicher Finanzmacht durch die Freiheitsrechte und – damit zusammenhängend – das Problem der verfassungsgerichtlichen Prüfungsdichte bestimmen die Judikatur und die sich daran anschließende Diskussion3. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer einführender Überblick über die Entwicklung des Steuerrechts gegeben 1 Grundlegend Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 15 ff., 125 ff., 141 ff., 306 ff. und passim; ders., Das Wachstum der Staatsgewalt, Der Staat 31 (1992), S. 59 ff.; Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat, Geschichte der öffentlichen Finanzen, 2005, S. 13 ff. 2 Näher Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 116 Rdnr. 98. 3 Vgl. als diskutierende ausführlichere Rechtsprechungsüberblicke nur Hans-Wolfgang Arndt/Andreas Schumacher, Einkommensbesteuerung und Grundrechte, AöR 118 (1993), 513; Klaus Vogel/Christian Waldhoff, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 145. Lieferung April 2010, Vorb. z. Art. 104a-115, Rdnr. 471 ff.; Dieter Birk/Rainer Barth, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung. Finanzgerichtsordnung. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 206. Lieferung April 2010, § 4 AO (Vorbearbeitung) Rdnr. 370 ff., 525 ff.; Dieter Birk, Rechtsprechungsanalyse Steuerrecht und Verfassungsrecht, Die Verwaltung 35 (2002), 91; Klaus Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, 1999; Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpfl ichtigen, AöR 128 (2003), 1; Hans-Jürgen Papier, Steuerrecht im Wandel – Verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973; Johanna Hey, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuerrecht im Wandel?, StbJb. 2007/2008, 2008,

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(unter 1.), um darauf auf bauend die Situation des Faches und des Steuerrechts zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes zu beleuchten (unter 2.). Anschließend gilt es die Hauptströmungen der Steuerrechtswissenschaft seit 1949, d. h. unter der Geltung des Grundgesetzes zu beschreiben (unter 3.), um zum Kern des Beitrags, der Analyse des Steuerverfassungsrechts unter 60 Jahren Grundgesetz (unter 4.) zu kommen. Der Schluss (unter 5.) versucht eine Würdigung unserer Verfassung aus steuerrechtlicher Perspektive, indem Chancen und Gefahren der unter dem Grundgesetz eingetretenen Konstitutionalisierung des Steuerrechts erörtert werden.

1. Steuerrecht als junge Teildisziplin der Rechtswissenschaft Die Steuerrechtswissenschaft ist eine verhältnismäßig junge Disziplin innerhalb der Rechtswissenschaft4. Steuerrecht wurde zunächst – systematisch richtig – als Teil des Verwaltungsrechts gesehen und erfuhr durch Otto Mayer sowie die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts5 eine erste, bis heute fortwirkende Dogmatisierung aus verwaltungsrechtlicher Perspektive6. Im akademischen Unterricht konnte – von Frühformen abgesehen – das Steuerrecht erst zu Beginn der Weimarer Zeit seinen Platz an den Universitäten und in den wissenschaftlichen Vereinigungen erobern. Zuvor wurden steuerrechtliche Fragen von den volkswirtschaftlichen Finanzwissenschaften und vom Verwaltungsrecht (mit-)behandelt. Mehrere Ursachen begünstigten diesen Prozess: Gegen die zuvor zu beobachtenden partikularen Rechtsbildungen brachte die Erzbergersche Finanzreform eine entscheidende reichsrechtliche Vereinheitlichung. Damit zusammen hing die enorme Steigerung staatlicher Steuerfi nanzierung angesichts der fi nanziellen Kriegsfolgelasten nach dem Ersten Weltkrieg7. War die Steuerfi nanzierung noch im 19. Jahrhundert lediglich ein Teil der Staatsfi nanzierung gewesen, schob sie sich nun ganz in den Vordergrund8. Die Schaffung der Reichsabgabenordnung diente vorrangig der Durchsetzung der neu entstandenen Steuerlasten. Durch ihre kodifi katorische Leistung stimulierte sie zugleich die wissenschaftliche Arbeit am Steuerrecht. Die „Blüte des jungen Faches“, 20; Christian Waldhoff, Rechtsprechungsanalyse Steuerrecht und Verfassungsrecht, Die Verwaltung 41 (2008), 259. 4 Zur Geschichte des Steuerrechts allgemein Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 126, 203 f. und v. a. 220 ff.; für die Zeit davor Andreas Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, 1996; für die Zeit seit dem 19. Jh. Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 1. Aufl. 1993, S. 26 ff.; Nachtrag in der 2. Aufl. 2000, S. 24 ff.; Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 375 f.; Ekkehart Reimer / Christian Waldhoff, Steuerrechtliche Systembildung und Steuerverfassungsrecht in der Entstehungszeit des modernen Steuerrechts in Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Albert Hensel. System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, 2000, S. 1 (26 ff.); Christian Waldhoff / Rainer Hüttemann, Steuerrecht in Forschung und akademischem Unterricht an der Universität Bonn, 2008, S. 1 ff. 5 Vgl. als zeitgenössische Rechtsprechungsanalyse etwa Fritz Haußmann, Der Rechtsgrundsatz der Gleichmäßigkeit im Preußischen Kommunalabgabenrecht, 1917. 6 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1. Aufl. 1895, S. 378–482 unter der Kapitelüberschrift „Die Finanzgewalt“. 7 Zu den Erzbergerschen Reformen sowie den damit einhergehenden Belastungszuwächsen näher Franz Menges, Reichsreform und Finanzpolitik, 1971; Vogel/Waldhoff (Fn. 3), Rdnr. 143 ff., 152. 8 Vgl. auch Hans-Peter Ullmann, Steuerstaat (Fn. 1), S. 97 ff.

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die „besonders interessante und literarisch fruchtbare Zeit“ (Michael Stolleis9 ) fällt mit den Jahren nach 1918 zusammen10. Als Namen seien nur der Schöpfer der Reichsabgabenordnung Enno Becker (1869–1940)11, die frühen Steuerrechtler Ludwig Waldecker (1881–1946)12 und Ottmar Bühler (1884–1965)13 sowie aus der Praxis Kurt Ball (1891– 1976)14 und Johannes Popitz (1884–1945)15 erwähnt.

2. Die Situation des Steuerrechts 1949 Als eigenständiges Rechtsgebiet wurde das Steuerrecht durch Arbeiten und Lehrbuchdarstellungen von Albert Hensel und Ottmar Bühler in der Zwischenkriegszeit entwickelt16. Für unsere Fragestellung ist dabei etwa wichtig, dass Hensel von vornherein parallel die Dogmatik des einfachgesetzlichen Steuerrechts wie des Steuerverfassungsrecht – man könnte zeigen: mit Wechselwirkungen – vorantrieb17. Im Grunde brach 1933 eine frühe Blüte der Diskussion (und auch Judikatur) der grundrechtlichen Einbindung des Steuerrechts ab, die in den Weimarer Diskussionen um die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte der Verfassung ihren Sitz hatte18. Nach dem Ende der Gewaltherrschaft sah sich das Steuerrecht in Deutschland auf den Stand des Jahres 1933 zurückgeworfen, freilich mit dem Unterschied, dass an diese Blütezeit der Steuerrechtswissenschaft wegen der Zeitumstände, vor allem jedoch wegen des irreparablen Aderlasses der Vertreibung jüdischer oder politisch unerwünschter Gelehrter19, kaum auf gleichem Niveau angeknüpft werden konnte. Auf unteren staatlichen Ebenen arbeiteten die Finanzämter mehr oder weniger kontinuierlich weiter, mit dem Reichsfinanzministerium war freilich ihr „Kopf “ weggefal-

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Geschichte (Fn. 4), S. 225. Zur Situation 1928 vgl. als zeitgenössische Bewertung Johannes Popitz, Finanzrecht und Finanzwissenschaft, in: Teschemacher (Hrsg.), Beiträge zur Finanzwissenschaft. Festgabe für Georg von Schanz zum 75. Geburtstag, 1928, Bd. 1, S. 39 (40 ff.). 11 Walter Ordemann, Alles was Recht war, 1987; Manuel René Theisen (Hrsg.), Gedenkschrift zum 50. Todestag von Dr. h.c. Enno Becker, 1990; Alfons Pausch, Enno Becker. Schöpfer der Reichsabgabenordnung, in: ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 44 ff. 12 Reimer/Waldhoff, Systembildung (Fn. 4), S. 32. 13 Albert J. Rädler, Ottmar Bühler zum 100. Geburtstag, FR 1984, S. 573; ders., Ottmar Bühler, in: Juristen im Portrait, 1988, S. 195; Alfons Pausch, Ottmar Bühler. Hauptwegbereiter der akademischen Steuerrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 120 ff. 14 Alfons Pausch, Im Gedenken an Kurt Ball, StuW 1976, S. 387; ders., Kurt Ball. Verfechter der Selbständigkeit des Steuerrechts, in: ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 76 ff. 15 Hans Herzfeld, Johannes Popitz, in: FG für Fritz Hartung, 1958, S. 345 ff.; Lutz-Arwed Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt, 1971; Gerhard Schulz, Über Johannes Popitz (1884–1945), Der Staat 24 (1985), S. 237 ff. 16 Dazu näher Reimer/Waldhoff, Systembildung (Fn. 4), S. 30 ff., 45 ff. 17 Näher Reimer/Waldhoff, Systembildung (Fn. 4), S. 45 ff. 18 Christian Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997, S. 238 ff. 19 Vgl. insgesamt Reimer Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995; Ullmann, Steuerstaat (Fn. 1), S. 141 ff.; als bedeutende Steuerrechtler jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Herkunft seien hervorgehoben Albert Hensel, Ludwig Waldecker und Rolf Grabower. 10

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len 20. Fragen der Verfassungsbindung des Steuerrechts lagen sämtlichen Beteiligten in Wissenschaft und Praxis fern – an die Judikatur und die wissenschaftliche Diskussion vor 1933 wurde kaum unmittelbar angeknüpft. Hier bedurfte es erst der Initialzündung(en) durch das Bundesverfassungsgericht. Diese Isolierung des Faches und der steuerrechtlichen Diskussion hatte zugleich zur Folge, dass sich die frühen (verfassungs-)rechtlichen Diskurse der Nachkriegszeit kaum im Steuerrecht niederschlugen. Das Steuerrecht wurde als technische Materie eher aus betriebswirtschaftlicher und steuerpraktischer, denn aus wissenschaftlicher und systematischer Sicht betrieben.

3. Entwicklungslinien der Steuerrechtswissenschaft unter dem Grundgesetz Nach dem Zweiten Weltkrieg sind es vor allem drei Namen, die mit ihren „Schulen“21 die Steuerrechtswissenschaft geprägt und vorangebracht haben: Werner Flume, Klaus Tipke und Klaus Vogel. Flume (1908–2009) hat zunächst die öffentlich-rechtliche Verankerung durch biographisch und programmatisch bedingte Umstände aufgeweicht und die – für die Praxis ohnehin näher liegenden – Verbindungslinien mit dem Zivilrecht, insbesondere mit dem Gesellschafts- und Bilanzrecht deutlich betont. Wissenschaftsorganisatorisch stellte das einen Paradigmenwechsel dar22, inhaltlich war es eine Bereicherung. Seine programmatischen Ausführungen in dem Beitrag zur Festschrift seines damaligen Göttinger Fakultäts-Kollegen Rudolf Smend „Steuerwesen und Rechtsordnung“ von 1952 verdeutlichen sein von positivistisch-dezisionistischen und damit letztlich realistischen Positionen ausgehendes Programm. Die zentralen Ausführungen, die um die Begriffe „Kongruenz“ und „Inkongruenz“, jeweils der Steuerrechtsnormen zu sonstigen Rechtsnormen kreisen, verdienen zitiert zu werden: „Wenn die Steuergesetze ‚Recht‘ sein sollen, müssen sie aber auch materiell Rechtsgehalt haben. . . . Als ‚Recht‘ sind die Steuergesetze Teil der Rechtsordnung und unterliegen damit dem Gesetz der Einheit der Rechtsordnung, dem Gesetz der Kongruenz. Wird das Gesetz der Kongruenz nicht gewahrt, so ergibt sich statt Ordnung Unordnung. Mit der Frage der Kongruenz ist die Frage des Rangverhältnisses zwischen Steuerrecht und sonstiger Rechtsordnung gestellt. Die Erhebung von Abgaben dient nun zweifellos nicht unmittelbar der Ver20 Eberhard Schweigert, Die Finanzverwaltung Westdeutschlands in der Zeit vom Ende des 2. Weltkriegs bis zu ihrer Neuordnung durch das Grundgesetz, 1970, S. 30 ff.; Ulrike Metzger/Joe Weingarten, Einkommensteuer und Einkommensteuerverwaltung in Deutschland, 1989, S. 220; Vogel/Waldhoff (Fn. 3), Rdnr. 175 ff. 21 Mit allen Vorbehalten und Differenzierungen wird man zur steuerrechtlichen „Flume-Schule“ die allzu früh verstorbene Brigitte Knobbe-Keuk (Bonn), Wolfgang Schön (München) und Rainer Hüttemann (Bonn) rechnen; zur „Tipke-Schule“ zählen demnach etwa Joachim Lang (Köln), Roman Seer (Bochum), Johanna Hey (Köln), Klaus-Dieter Drüen (Düsseldorf ) und Joachim Englisch (Münster); zur „Vogel-Schule“ wären etwa Paul Kirchhof (Heidelberg), Dieter Birk (Münster), Moris Lehner (München), Michael Rodi (Greifswald), Rainer Prokisch (Maastricht), Anna Leisner-Egensperger ( Jena), Christian Waldhoff (Bonn), Hanno Kube (Mainz), Christian Seiler (Tübingen), Rainer Wernsmann (Passau), Ekkehart Reimer (Heidelberg), Roland Ismer (Erlangen-Nürnberg) und Alexander Rust (Luxemburg) zu rechnen. 22 Vgl. jetzt etwa Waldhoff/Hüttemann, Steuerrecht (Fn. 4), S. 13 ff.

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wirklichung eines Rechtswerts. Eine Rechtswertverwirklichung kommt nur für die Art der Gestaltung der Abgaben in Frage. Hierfür können sich die rechtlichen Gesichtspunkte aber nur aus der allgemeinen Rechtsordnung ergeben. Entsprechend der allgemeinen rechtlichen Ordnung müssen die Umlagen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit erfolgen, wie diese sich in der bestehenden allgemeinen Rechtsordnung manifestieren. . . . Sieht der Steuergesetzgeber diese Problematik nicht, so entstehen aus dem steuerlichen Eingriff Inkongruenzen, durch welche die Rechtsordnung als solche in Frage gestellt wird.“23

Aus heutiger Sicht bemerkenswert erscheint die Betonung der Notwendigkeit der Einbettung des Steuerrechts in die Gesamtrechtsordnung, ohne die Stufung dieser Rechtsordnung, d. h. das Verfassungsrecht zu thematisieren. Das schien 1952, ein Jahr nach Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts zumindest für einen aus dem römischen Recht und dem Zivilrecht kommenden Steuerrechtler noch weitgehend fern liegend zu sein. Tipke (* 1925) stellt demgegenüber sein gesamtes steuerrechtliches Denken unter den Begriff des (inneren sowie äußeren) Systems und der Gerechtigkeit24. Diese Kategorien werden nicht aus der Verfassung hergeleitet, wohl aber mit ihr in Beziehung gesetzt. Dabei kann man sich nicht stets des Eindrucks erwehren, dass nach den Entsprechungen im Verfassungstext für anderweitig eingeführte Kategorien gesucht wird. Das ist im Einzelfall legitim, sind manche steuerrechtliche Institute doch älter als die Verfassung; insgesamt wird man allerdings aus der Verfassung kein Steuersystem deduzieren können. Der unmittelbare Rekurs auf die Gerechtigkeit als juristischer Kategorie ist – hier wie stets – Einwänden ausgesetzt. In der Sache hat dieser Ansatz allerdings die Steuerrechtswissenschaft sehr vorangebracht, im Grunde nach Hensel und Bühler auf eine neue – die heutige – Stufe gehoben. Vogel (1930–2008) wiederum geht von der Verfassung und – mit der Finanzverfassung 25 – durchaus auch deutlich von ihren organisationsrechtlichen Teilen aus. Zudem hat er von vornherein durch sein Habilitationsthema 26 bedingt die grenzüberschreitende Dimension von Besteuerung im Blick (ohne dies zunächst jedoch mit dem Finanz- und Steuerverfassungsrecht zu verbinden). Die strikte Verfassungsbindung des Steuerrechts ist so von Anfang an ein zentrales Postulat27 – manchmal stellt sich allerdings die Frage, ob der Gestaltungsspielraum des unmittelbar demokratisch legitimierten Steuergesetzgebers, ob die Eigenrationalität einfachen Rechts nicht vernachlässigt wird; zudem leidet dieser spezifisch öffentlich-rechtliche Zugang zum 23 FS für R. Smend, 1952, S. 59, hier zitiert nach Knobbe-Keuk (Hrsg.), Steuerwesen und Rechtsordnung, 1986, S. 9 (10, 12). 24 Statt vieler Schriften neben dem bahnbrechenden Lehrbuch zum Steuerrecht sei hier verwiesen auf: Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, sowie: Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 1. Aufl. 1993, S. 12 ff., 105 ff. und öfter. 25 Finanzverfassung und politisches Ermessen, 1972; Zweitkommentierungen im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 1971 ff.; dazu die Analyse Christian Waldhoff, Begriff und Funktion der Finanzverfassung im Werk Klaus Vogels, in: Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 43 ff. 26 Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965. 27 Programmatisch insofern: Steuergesetzgebung und Verfassungsrecht, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1972/73, 115; Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZ/A 1975, 409; Die Besonderheit des Steuerrechts, DStZ/A 1977, 5; Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung für das Verfassungsrecht, in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, DStjG 12, 1989, 123.

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Fach unter einer gewissen Vernachlässigung des Bilanz- und Unternehmenssteuerrechts. Alle drei Protagonisten haben programmatisch notwendig ihren Ansatz – bei Flume die Verbindung des Steuerrechts mit dem Zivilrecht; bei Tipke die Systembildung und bei Vogel die verfassungsrechtliche Verankerung – bis zu einem gewissen Punkt wahrscheinlich überpointiert. Praxis und Lehre haben alle drei Ansätze aufgegriffen und in unterschiedlicher Weise zu einem Ausgleich gebracht. Vor diesem Hintergrund soll noch einmal grundsätzlich nach dem Verhältnis von Steuerrecht und Verfassung unter dem Grundgesetz gefragt werden.

4. Steuerverfassungsrecht als neue Richtung des Steuerrechts? a) Steuerrecht und Verfassungsrecht vor Inkrafttreten des Grundgesetzes Im Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie bildete die ausdrückliche Verankerung der Steuergleichheit in den Verfassungsurkunden neben der Wehrgleichheit eine Vorstufe zum allgemeinen Gleichheitssatz28. Das Steuerrecht sollte in Abkehr von vorausgegangenen Erfahrungen – man denke nur an die Steuervorrechte des Adels – privilegienfeindlich ausgestaltet werden. Freilich konnte von einem Vorrang der Verfassung, von einer Bindung des Steuergesetzgebers an inhaltliche Direktiven in der Verfassung oder schlicht an Grundrechte nicht gesprochen werden29. Steuergerechtigkeit und d. h. Steuergleichheit wurde durch die Beteiligung der das Bürgertum repräsentierenden frühen Volksvertretungen gewährleistet. Durch das weit verbreitete Zensuswahlrecht wurde dieser Effekt noch verstärkt: Wer viel Steuern zahlte, hatte entsprechend erhöhte Mitwirkungsmöglichkeiten30. Die Höhe der Steuerbelastung stellte bei Spitzensteuersätzen etwa von 4% in Preußen ohnehin noch kein wirkliches Problem dar. Mit dem grundlegenden legitimatorischen Umbruch durch die Revolution und die Verfassunggebung 1918/19 stellten sich die Probleme freilich neu. Zudem war nun, nach den Finanzlasten des verlorenen Ersten Weltkriegs, auch die Steuerbelastung ein erstrangiges politisches und ökonomisches Problem 31. Das Parlament fungierte jetzt als zentrales Staatsorgan, es erfuhr gegenüber 28 Eingehend Oechsle, Die steuerlichen Grundrechte in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte, 1993, S. 51 ff., 110 ff.; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben (Fn. 18), S. 216 ff. 29 Zur Bindungswirkung der Grundrechte im konstitutionellen Staatsrecht vgl. Wolfgang von Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, 1973; Ulrich Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: FS für ErnstRudolf Huber, 1973, S. 139 ff.; Gerhard Kleinheyer, Grundrechte, Menschen- und Bürgerrechte, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, S. 1047 ff.; Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18 (1979), S. 321 ff.; Dieter Grimm, Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 67 ff.; Klaus Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, 1998, S. 12 ff.; Thomas Würtenberger, Von der Auf klärung zum Vormärz, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 2 Rdnr. 26 ff. 30 Vgl. etwa Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz, 1979, S. 495 ff., 674 ff., 688 ff. 31 Ullmann, Steuerstaat (Fn. 1), S. 97 ff.

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den konstitutionellen Volksvertretungen einen entscheidenden Bedeutungswandel, der sich auch auf seine Funktion bei der Steuergesetzgebung auswirken musste. Das Zensuswahlrecht war dem Gedanken der formalisierten demokratischen Gleichheit gewichen. Die zentrale verfassungsrechtliche Vorgabe stellte nun Art. 134 WRV dar: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei.“ Wenn auch dieser Vorschrift keine größere praktische Bedeutung zwischen 1919 und 1933 zukam, erwachte doch – nach anfänglicher Ignorierung – zumindest in der Spätphase der Weimarer Republik das wissenschaftliche Interesse an der Norm32. Von einigen wohl über wiegend weltanschaulich motivierten Schmähkritiken an der Vorschrift 33 einmal abgesehen, erscheint Art. 134 WRV in klarer Abgrenzung zum konstitutionellen Verfassungszustand, indem materielle Schranken für die Abgabenerhebung aufgestellt werden, da der formellen Schutzfunktion des Parlamentsbeschlusses in der parlamentarischen Demokratie nur mehr eingeschränkt vertraut wurde. So betont Albert Hensel, dass gerade die Entscheidung durch Mehrheitsbeschluss als das grundlegende Formalprinzip der demokratischen Gesetzgebung für das materielle Steuerrecht verhängnisvolle Wirkungen zeitigen könne, da gerade die Parlamentsmehrheit bestrebt sein könne, „das gesamte Steuersystem wie das einzelne Steuergesetz so auszugestalten, wie es von dem staatssubjektiven Nützlichkeitsstandpunkt der Mehrheitspartei aus gesehen richtig erscheint“34. Das „extrem demokratische Wahlrecht“ ohne jede Verbindung zwischen Stimmgewicht und Steuerleistung bedürfe daher des materiellen Gegengewichts der in Art. 134 WRV niedergelegten Gerechtigkeitsgrundsätze. Üblicherweise wurden drei zentrale Inhalte der Verfassungsnorm unterschieden: – der Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung, – der Grundsatz der Besteuerung im Verhältnis der Mittel (Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) und – der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung35. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung besage nicht, dass alle Staatsbürger zu allen öffentlichen Lasten beitragen sollen, jeder einzelne müsse also nicht zu jeder Abgabe herangezogen werden36. Gemeint sei auch nicht, dass jeder Bürger in irgendeiner Weise, sei es direkt oder indirekt, einen Mindestobulus für das Gesamtabgabensystem erbringen müsse37. 32 Drei größere Arbeiten verdienen eine Hervorhebung: Ottmar Bühler, Artikel 134. Gleichheit der Lastenverteilung, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpfl ichten der Reichsverfassung, Bd. 2, 1930, S. 313 ff.; Albert Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht 4 (1930), S. 441 ff.; Alfred Huttel, Gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Diss. iur. Frankfurt 1934. 33 Vgl. etwa Axel von Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, S. 329 f. 34 Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 444. 35 Heinz Paulick, Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung – sein Inhalt und seine Grenzen, in: FS für Ottmar Bühler, 1954, S. 121 (142); Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 313; vgl. auch Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 443. 36 Heinrich Aldag, Die Gleichheit vor dem Gesetz in der Reichsverfassung, 1925, S. 123; Huttel, Gleichmäßige Besteuerung (Fn. 32), S. 46. 37 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 458 f.; die „Allgemeinheit“ der Besteuerung könne hier nur im Zusammenhang mit der „Besteuerung im Verhältnis der Mittel“ gesehen werden, d. h., wenn in bestimmten Bevölkerungsgruppen die Mittel, die eine geringste Besteuerung nach den

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Die Vorschrift wende sich somit gegen Steuerprivilegien38, d. h. dass „steuerliche Bevorzugungen einzelner Personen, Stände oder Gesellschaftsklassen nicht weiter bestehen oder neu eingeführt werden dürfen“39 und schließe sich damit an ähnliche Bestimmungen in früheren deutschen Verfassungen an40. Gedacht gewesen sei in erster Linie an die früheren Steuerprivilegien der Landesherren sowie die frühere preußische Steuerbefreiung der Beamten41. Hensel betont in diesem Zusammenhang, dass dabei die unbeabsichtigte Privilegierung Einzelner durch mangelhafte technische Umformung des gesetzgeberischen Besteuerungsmotivs in den Gesetzeswortlaut gegenüber der bewussten Abweichung zugunsten gewisser Kreise die weitaus größere Gefahr darstelle42. Der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit komme in den Wörtern „im Verhältnis ihrer Mittel“ zum Ausdruck43, der allerdings immer nur im engen Verhältnis zum Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung gesehen werden könne44. Mit diesem Grundsatz werde vor allem an finanzwissenschaftliche Erkenntnisse angeknüpft45. Nicht zuletzt daher wird auch im zeitgenössischen Schrifttum eine gewisse Unsicherheit bei der Bestimmung des Inhalts der Norm festgestellt46. Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn Bühler47 feststellt: „Art. 134 ist zu unbestimmt gehalten, als dass man in ihm geradezu eine Festlegung dieses unseres jetzigen Steuersystems sehen könnte.“ Als Mindestforderung könne man jedoch zunächst festhalten, dass ein Steuersystem geschaffen werden müsse, in dem die proportionale Gesamtbelastung gleichmäßig anwachse48. „Ein Steuersystem, in welchem der ‚Reiche‘ einen geringeren Bruchteil seines Einkommens dem Staate zur Verfügung stellt als der ‚Arme‘, wäre verfassungswidrig.“49 Darüber hinaus war in der Weimarer Staatsrechtslehre – anders als heute – ganz h. M., dass der Rechtsgrundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Progressivsteuersystem erfordere50, wobei die genaue Ausgestaltung der Progression der Verfassung nicht entnommen werden konnte51. Zudem lägen Bestimmungen über ein steuerfreies Existenzminimum „recht eigentlich in seinem [des

vom Gesetzgeber befolgten Gerechtigkeitsgrundsätzen nicht mehr rechtfertigen, nicht mehr vorhanden sind, jeder Anlass entfiele, hier zugunsten eines Formalprinzips aus Art. 134 Besteuerungsaufl agen aufzustellen, ebd., S. 459. 38 Ottmar Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. 1, 1927, S. 28. 39 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Anm. 1 zu Art. 134. 40 Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 313. 41 Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 315. 42 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 460 f. 43 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 463. 44 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 459. 45 Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 316. 46 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 471. 47 Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 316. 48 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 469. 49 Ders., ebd. 50 Huttel, Gleichmäßige Besteuerung (Fn. 32), S. 2 ff., mit ausführlicher Argumentation Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 469; Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 316; Paulick, Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Fn. 32), S. 151. 51 Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 470.

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Art. 134 WRV] Sinne“52. Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung wird oft nicht vom Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung unterschieden53. Neben diesen inhaltlichen Maßstäben für die Ausgestaltung der einzelnen Steuergesetze wurde in der zeitgenössischen Interpretation der Vorschrift noch eine zweite Geltungsebene im Hinblick auf das Gesamtsteuersystem hervorgehoben. Gerade diese müsse noch vor den Einzelsteuergesetzen an den aufgestellten inhaltlichen Maßstäben ausgerichtet werden54. Insbesondere ein Übergewicht der indirekten Steuern sei damit nicht vereinbar55. Unabhängig von der Bedeutung der Worte „nach Maßgabe der Gesetze“ für die Frage der verfassungsrechtlichen Bindung des Steuergesetzgebers handelt es sich um die ausdrückliche Normierung des steuerlichen Gesetzesvorbehaltes. Die Verbindung dieses Regelungsinhalts mit inhaltlichen Maßstäben in einer Norm entspricht durchaus der deutschen Regelungstradition. Entsprechendes gilt für den Bedeutungsinhalt des Art. 134 WRV als Grundpfl icht56. Nach diesem Überblick über die mit Art. 134 WRV verbundenen Regelungsinhalte ist die rechtliche Funktion dieser Verfassungsnorm für unsere Fragestellung von entscheidender Bedeutung, wie sie zum einen in der zeitgenössischen Staatspraxis, zum anderen in der Lehre gesehen wurde. Die Grundrechte allgemein befanden sich in der Zeit zwischen 1919 und 1933 in einer Umbruchphase zwischen dem konstitutionellen System und dem grundgesetzlichen Rechtszustand mit der unbestrittenen Grundrechtsbindung des Gesetzgebers gem. Art. 1 Abs. 3 GG57. Der Streit um die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung entzündete sich in der rechtswissenschaftlichen Diskussion am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 109 Abs. 1 WRV58. Das Reichsgericht hatte bis 1933, trotz Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechts, die Frage letztlich immer offen gelassen59. Art. 134 WRV hat in der Rechtsprechung nur eine marginale Rolle gespielt. In den wenigen höchstrichterlichen Entscheidungen zur Verfassungskonformität von Steuergesetzen stand er nie im Zentrum60. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Urteil des OVG Hamburg 52

Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 315. So vor allem von Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 458. 54 Besonders deutlich: Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 453 f. 55 Bühler, Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 316. 56 Vgl. dazu Huttel, Gleichmäßige Besteuerung (Fn. 32), S. 15 und 73; Hasso Hofmann, Grundpfl ichten und Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.); Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 1. Aufl. 1992, § 114, Rdnr. 15 f. A. A. wohl Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 462. 57 Rainer Wahl/Frank Rottmann, Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, in: Conze/Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 339 (356), sprechen plastisch von einer „Inkubationszeit“; vgl. auch Klaus Kröger, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses in der Weimarer Republik, in: Freundesgabe für Alfred Söllner zum 60. Geb., 1990, S. 299 (303); ders., Grundrechtsentwicklung (Fn. 29), S. 46 ff.; Horst Dreier, Die Zwischenkriegszeit, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 4 Rdnr. 38 ff. 58 Vgl. dazu zusammenfassend Kröger, Wandel (Fn. 57), S. 304 ff. 59 So vor allem in der bekannten „Aufwertungsentscheidung“ RGZ 111, 320 (v. a. S. 328 ff.); Oechsle, steuerliche Grundrechte (Fn. 28), S. 168 f., weist darauf hin, dass der RFH schon früher ein Prüfungs- und Verwerfungsrecht in Anspruch genommen habe. 60 Ähnlicher Befund bei Albert Hensel, Grundrechte und Rechtsprechung, in: Schreiber (Hrsg.), Die 53

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vom 18. März 1925, das mit dem Hamburger Gehaltsummensteuergesetz – soweit ersichtlich – zum ersten und einzigen Mal ein Steuergesetz wegen Verstoßes gegen Art. 134 WRV für nichtig erklärte61. Die zeitgenössischen literarischen Äußerungen zu Art. 134 WRV erkannten die Frage der verfassungsrechtlichen Bindung des Steuergesetzgebers als „das eigentliche Kernproblem für die Auslegung des Art. 134“62. Hensel63 differenziert dabei klar zwischen der Frage des Adressaten der Norm und der

Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. FG der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929), Bd. 1, 1929, S. 1 (26 f.). Folgende Entscheidungen sind zu erwähnen: RGZ 107, 370 (376 f.), Entscheidung des V. Zivilsenats, Urt. v. 1. März 1924 – V 129/23, zur Frage der Rechtsgültigkeit der Regelung der Hypothekenaufwertung durch die 3. Steuernotverordnung vom 14. Februar 1924. Dort wird ein Teil der angegriffenen Regelung an Art. 134 WRV gemessen und mit diesem für vereinbar erklärt, so dass auf das Problem der Bindungswirkung selbst nicht mehr ausdrücklich eingegangen werden musste. RGZ 134, 26* (46* f.), Urteil des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich am 5. Dezember 1931 in der verfassungsrechtlichen Streitsache der Fraktion in der Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) im Sächsischen Landtag gegen den Sächsischen Staat über die Frage der Verfassungswürdigkeit der Sächsischen Gemeindesteuernotverordnung vom 24. September 1930 u. a. Das Urteil erklärt Art. 134 WRV in dem behandelten Fall nicht für einschlägig und erklärt beiläufig (S. 47*): „Im übrigen hat Art. 134 kaum eine weitere Bedeutung als die einer allgemeinen Richtlinie für Gesetzgebung und Verwaltung . . .“ RFH, Urteil vom 9. Mai 1924 – II A 45/24, in: StuW, Bd. III, Sp. 717 (719): „programmatische Anweisung an den Gesetzgeber“. Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 492 f., weist darauf hin, dass dieses Urteil noch vor Beginn der eigentlichen Kontroverse über die Verfassungsbindung des Gesetzgebers ergangen sei und daher nicht als Stellungsnahme des Gerichts zu dieser Frage angesehen werden könne. RFHE 29, 110 (111), Urteil des IV. Senats vom 22. April 1930 – IV A 101/31, betrifft die Frage der Heranziehung von Rechtsanwälten zur Mecklenburg-Strelitzer Gewerbesteuer; die Frage der rechtlichen Bindung ist auch hier letztlich offengelassen, da – eine Bindung unterstellt – keine Verletzung festgestellt wurde. „Auch wenn man in ihm [Art. 134 WRV] insoweit unmittelbar anzuwendendes Recht erblicken will, als danach offenbare Verletzungen des in dem Artikel aufgestellten Grundsatzes ausgeschlossen sind und man den Steuergerichten die Befugnis zuspricht, Steuern, die nach willkürlichen, dem Wesen der Besteuerung fremden Maßstäben auf die Staatsbürger verteilt werden, als verfassungswidrig und infolgedessen die Heranziehung zu solchen Steuern als unzulässig zu erklären . . ., so kann keinesfalls darin, dass ganzen Berufsständen (freien Berufen) eine Steuer (Gewerbesteuer) auferlegt wird, eine offenbare Verletzung des Grundsatzes des Art. 134 der Reichsverfassung erblickt werden.“ Am weitesten wagt sich der Beschluss des RFH vom 15. Januar 1931 – VI A 2253/30 S, in: JW 1931, S. 1728 f. (=RFHE 27, 321; bestätigt durch das Urteil vom 25. März 1931 – VI A 2253/30 –, RFHE 28, 208, dem als Sachverhalt das Verlangen eines Beamten auf Erstattung der auf Grund einer Notverordnung des Reichspräsidenten einbehaltenen „Reichshilfe“ zugrunde lag), vor: „Art. 134 RVerf. enthält im wesentlichen nur eine Richtlinie, jedoch insoweit auch unmittelbar anzuwendendes Recht, als offenbare Verletzungen des in dem Artikel aufgestellten Grundsatzes ausgeschlossen sind. . . . Die Steuergerichte würden daher Steuern, die nach willkürlichen, dem Wesen der Besteuerung fremden Maßstäben auf die Staatsbürger verteilt werden, als verfassungswidrig und infolgedessen die Heranziehung zu solchen Steuern als unzulässig zu erklären haben.“ Die Auffassung von Anschütz, Verfassung des deutschen Reichs (Fn. 39), Art. 134 Anm. 4: „Richterliche Nachprüfungen von Steuergesetzen unter Anlegung der Maßstäbe des Art. 134 sind bisher [1933], soweit bekannt, nicht vorgekommen“ war somit schon zu ihrer Entstehungszeit ungenau. 61 StuW 1925, Sp. 1469 ff.; zum Fall eingehender Oechsle, steuerliche Grundrechte (Fn. 28), S. 144 f. 62 Huttel, Gleichmäßige Besteuerung (Fn. 32), S. 17. 63 Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 442.

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eigentlichen Bindungsproblematik64 : dass sich der Verfassungsgeber vor allem an den Steuergesetzgeber wenden wollte, sei völlig unstrittig und unproblematisch; entscheidend und problematisch sei jedoch der Grad der Bindung desselben. Die Bindung wird dabei von allen drei größeren Studien zu Art. 134 WRV bejaht, auch wenn zum Teil gleichzeitig dieselbe bei Art. 109 Abs. 1 WRV, dem allgemeinen Gleichheitssatz, verneint wird. Ottmar Bühler begründet dies überwiegend historisch65. Alfred Huttel argumentiert in seiner Dissertation einerseits mit dem Wortlaut der Norm im Vergleich zu anderen Bestimmungen66, andererseits konstatiert er eine Vermutung für die bindende Kraft bei vom Verfassunggeber gebilligten Wertungen im Verfassungstext67. Nach Albert Hensel68 lassen die grammatikalische und die systematische Auslegung des in Art. 134 WRV enthaltenen Gesetzesvorbehalts letztlich kein eindeutiges Ergebnis hinsichtlich einer verfassungsrechtlichen Bindung des Steuergesetzgebers erkennen. Daher sei auf Zweckmäßigkeitserwägungen abzustellen. In diesem Zusammenhang wird dann zunächst auf die „besondere Empfi ndlichkeit des Steuerrechts im Rahmen einer rechtsstaatlichen Verfassungsordnung“ hingewiesen. „Gerade wenn man einen ausgedehnten Steuerschuldnerschutz für notwendig hält, erscheint es besser, eine gerichtliche Überprüfung der Steuergesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zuzulassen, als diese zu versagen.“ Schließlich wird noch darauf hingewiesen, dass das Hauptbedenken gegen die Bindungswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes, die völlige Unbestimmtheit des Maßstabes, hier nicht gegeben sei. Das überzeugendste Argument ist m. E., dass nach dem Fortfall des dualistischen konstitutionellen staatsrechtlichen Systems die formale Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens keine effektive Garantie für eine gerechte Ausgestaltung der Steuergesetze mehr bieten könne und dies durch von der Verfassung aufgestellte Maßstäbe für die Besteuerung kompensiert werden könne69. Selbst Gerhard Anschütz, der in dem Streit um die Bindungswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes zu den entschiedensten Gegnern der eine Bindung bejahenden sog. antipositivistischen Leh-

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Vgl. auch Oechsle, steuerliche Grundrechte (Fn. 28), S. 166. Gleichheit der Lastenverteilung (Fn. 32), S. 314: „Das Gleichheitsgebot des Art. 134 richtet sich aber auch an den (Reichs- und Landes-)Gesetzgeber. Es will ausschließen, dass Ungleichheiten anderer Art als solche, die sich aus der Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit ergeben, in Gesetzen angeordnet werden. Dass Art. 134 ein Gebot dieser Art auch an den Gesetzgeber sein will, kann weniger bezweifelt werden als bei Art. 109. Denn die steuerlichen Privilegien, die für die Zukunft ausgeschlossen sein sollten, sind früher manchmal durch regelrechte gesetzliche Bestimmungen geschaffen oder doch aufrechterhalten gewesen, . . . Da es sicher Aufgabe des Art. 134 ist, solche Bestimmungen für künftig unmöglich zu machen, ist der Schluss unabweislich, dass er den Charakter einer Bindung nicht nur der vollziehenden, sondern auch der gesetzgebenden Gewalt haben soll.“ 66 Gleichmäßige Besteuerung (Fn. 32), S. 34. 67 Gleichmäßige Besteuerung (Fn. 32), S. 35. Beide Argumentationen können aus heutiger Sicht nicht mehr überzeugen. Zum einen wird die begriffl iche Durchdringung der Verfassungstexte überschätzt; zum anderen geht die Vermutung fehl, denn eine solche Bindungswirkung wäre ja gerade eine verfassungsrechtliche Neuerung gewesen. 68 Verfassungsrechtliche Bindungen (Fn. 32), S. 488 ff. 69 Ebd., S. 445. 65

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re gehörte, geht offensichtlich fast selbstverständlich von einer Bindungswirkung aus70. Die ablehnenden Stimmen blieben demgegenüber in der Minderzahl71.

b) Entwicklungsphasen steuerverfassungsrechtlicher Rechtsprechung unter dem Grundgesetz Das Steuerverfassungsrecht dirigiert die Steuergesetzgebung, die Steuererhebung und damit auch die Steuerrechtsprechung72 ; auch Nebenaspekte wie die Indienstnahme Privater, etwa des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren müssen sich insofern rechtfertigen73. Das Grundgesetz kennt – im Gegensatz zur überkommenen deutschen Verfassungstradition74 – kein ausdrückliches Steuerverfassungsrecht. Im Zuge der Rationalisierung der Verfassungstexte sind die expliziten steuerspezifischen Besonderheiten, die noch bis in die Weimarer Reichsverfassung mit ihrem Art. 134 Verfassungstexte prägten, eliminiert. Geradezu gegenläufig kann bei der Anwendung der Maßstäbe eine kontinuierliche Effektuierung feststellt werden75. Die Maßstäbe dieses „ungeschriebenen Finanzrechts des Grundgesetzes“76 sind einmal die 70 Verfassung des deutschen Reichs (Fn. 39), Art. 134 Anm. 4: „Wie schon in den vorstehenden Bemerkungen . . . zum Ausdruck gebracht ist, bindet Art. 134 nicht nur die Verwaltung, insbes. die Steuerverwaltung an das Gesetz, er bindet auch, reichsverfassungskäftig, den Gesetzgeber selbst.“ Ferner bejahend: Lassar, Anmerkung zum Urteil des PrOVG vom 8. April 1930 II C 135/29, JW 1931, S. 2328; Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. 1959, S. 99, 110; A. Zeiler, Verletzung des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit durch die hamburgische Gehaltsummensteuer vom 4. April 1923, Hamburger Rechtsfragen 2, 1924, S. 17 (19 f.); offen lassend Enno Becker, Schutz gegen landesrechtliche Verletzung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, Hamburger Rechtsfragen 2, 1924, S. 10 (13 f.). 71 Hans Nawiasky, Die Grundgedanken der Reichsverfassung, 1920, S. 14 und S. 138; Adolf Velden, Die Rechtsgültigkeit des hamburgischen Grundsteuergesetzes, Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift 12 (1929), Sp. 273 (276); Fritz Morstein-Marx, Freihafensteuer und Grundsatz der Besteuerungsgleichmäßigkeit, Hanseatische Rechts-Zeitschrift 9 (1926), Sp. 207 (213 f.); Wilhelm Hofacker, Grundrechte und Grundpfl ichten der Deutschen, 1926, S. 63 und besonders polemisch ders., Die Auslegung der Grundrechte, 1931, S. 20 f. Aus heutiger Sicht wenig verständlich ist die Argumentation von Kurt Struve, Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung als Rechtssatz, Diss. iur. (maschinenschriftlich) Hamburg 1926. Dieser kommt auf S. 114 zu dem Ergebnis, dass der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ein den Steuergesetzgeber bindender Rechtssatz sei. Dies folge jedoch nicht aus Art. 134 WRV, der wegen seines Mischcharakters (auch als Grundpfl icht) nur „Richtschnur und Schranke für den Gesetzgeber“ sein könne, sondern aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 109 Abs. 1 WRV. Dieser wird dabei bereichsspezifi sch ausgelegt. Zumindest auf dem Gebiet des Steuerrechts soll er verfassungskräftige Bindungswirkung für den Steuergesetzgeber entfalten. Für andere Sachbereiche wird dies ausdrücklich offengelassen. 72 Zu dem Zusammenhang und zu den Wechselwirkungen zwischen Steuererhebung und Steuergesetz BVerfGE 84, 239 – Zinsbesteuerung, und BVerfGE 110, 94 – Spekulationssteuer. 73 Oliver Geißler, Der Unternehmer im Dienste des Steuerstaates, 2001; Gregor Kirchhof, Die Erfüllungspfl ichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005; Klaus-Dieter Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habilitationsschrift Bochum 2005 (Manuskript). 74 Oechsle, steuerliche Grundrechte (Fn. 28), S. 46 ff.; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben (Fn. 18), S. 211 ff. 75 Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben (Fn. 18), S. 260 ff. 76 Klaus Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: GS für W. Martens, 1987, S. 265.

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Grundrechte, zum anderen rechts- und sozialstaatliche Postulate77. Bei den grundrechtlichen Maßstäben können gleichheits- und freiheitsrechtliche Anforderungen an die Steuererhebung unterschieden werden. Sowohl in historischer wie auch in aktueller Perspektive ist die steuerliche Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes der zentrale Prüfungsmaßstab. Wie inzwischen erkannt wurde, können gleichheits- und freiheitsrechtliche Anforderungen jedoch nicht mehr strikt getrennt werden, sie überlagern und beeinflussen sich speziell im Steuerverfassungsrecht gegenseitig78. Die verfassungsrechtliche Ausrichtung der Steuer erweist sich dann als zentrales Element der Steuerrechtfertigung79. Bevor diese Maßstäbe skizziert werden, sollen verschiedene Phasen der steuerverfassungsrechtlichen Judikatur unter dem Grundgesetz unterschieden werden.

aa) Phasen steuerverfassungsrechtlicher Judikatur Betrachtet man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Steuersachen seit seiner Gründung über alle Prüfungsmaßstäbe hinweg, so können – bei etwas vergröbernder Betrachtungsweise – verschiedene Phasen der Judikatur unterschieden werden. Das Gericht leitete seine steuerverfassungsrechtliche Rechtsprechung mit der vorbildlosen, die Steuergesetzgebung stark einbindenden frühen Entscheidung zum Ehegatten-Splitting im Jahr 1957 („einem Paukenschlag“) und einigen nachfolgenden Entscheidungen ein. Die durch die Berichterstatterin Erna Scheffler 80 und ihren Mitarbeiter Wolfgang Zeidler geprägte Entscheidung leitete den unter der Weimarer Reichsverfassung in Art. 134 normierten Grundsatz der Steuergerechtigkeit aus dem allgemeinen Gleichheitssatz her und grenzt diesen zu Art. 6 GG ab; der Grundsatz der „Individualbesteuerung“ und das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit klangen bereits an: „Das Grundgesetz enthält – anders als die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 134 – keine ausdrückliche Bestimmung darüber, nach welchem Grundsatz die Staatsbürger an den öffentlichen Lasten zu beteiligen sind. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Gesetzgeber an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit gebunden ist, der sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt der Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG ‚zu einem wesentlichen Teil darin, dass nicht alle tatsächlichen Verschiedenheiten zu unterschiedlicher Behandlung im Recht führen dürfen, sondern nur solche tatsächlichen Ungleichheiten, denen aus Erwägungen der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit auch für das Recht unterscheidende Bedeutung zukommt. Dies zu entscheiden ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers‘ . . . Das Ermessen des Gesetzgebers fi ndet jedoch seine Grenze nicht nur im Willkürverbot und in den ‚Konkretisierungen‘ des allgemeinen Gleichheitssatzes (insbesondere Art. 3 Abs. 2 und 3 GG), sondern auch in sonstigen Grundsatznormen, in denen für bestimmte Bereiche der Rechts- und Sozialordnung Wertentscheidungen des Verfassungsge77 Hinsichtlich der rechtsstaatlichen Anforderungen vgl. Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 118 Rdnr. 80 ff.; Vogel/Waldhoff (Fn. 3), Rdnr. 472 ff. 78 Christian Seiler, Besteuerung von Einkommen, in: DJT 2006, S. F 7 (F 10 ff.). 79 Michael Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, 1994, S. 64 ff. 80 Zu ihr m. w. N. Christian Waldhoff, Erna Scheffler – erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts, JöR 56 (2008), S. 261 ff.

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bers ausgedrückt sind. Kommen solche Grundsatznormen in Betracht, so ist eine Bestimmung zunächst darauf zu prüfen, ob sie mit ihnen vereinbar ist; wird das verneint, dann ist für eine Prüfung am allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kein Raum mehr. Daher hat das Finanzgericht München zutreffend Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 GG als besondere Prüfungsmaßstäbe bezeichnet. . . .“81

In der folgenden mittleren Phase wechselnder Prüfungsintensität wurde zunehmend der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers betont82, bevor seit Ende der 1970er Jahre der Erste Senat mit seiner Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen im Gegensatz zur früheren Judikatur83 und seit Ende der 1980er Jahre vor allem der Zweite Senat mit den Entscheidungen über die Zinsbesteuerung84, zum steuerlichen Existenzminimum85 und zu den Einheitswerten86 eine Phase neuer Qualität und Intensität in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Steuergesetzgebung einleiteten. Neben dem Gleichheitssatz wurden nun zunehmend mehr auch die Freiheitsrechte als Grenzen staatlicher Besteuerungsgewalt anerkannt. In der Gegenwart wurde diese letzte Phase weitergeführt und die dort entwickelten Maßstäbe wurden überwiegend verfeinert; neben die sachbereichsspezifische Konkretisierung von Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit traten zunehmend auch Anforderungen an Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit87.

bb) Gleichheitsrechtliche Maßstäbe für die Besteuerung Das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist nicht nur ein finanzwissenschaftliches Postulat, sondern als Ausprägung der Steuergleichheit und damit als Konkretisierung geltenden Verfassungsrechts für den Steuergesetzgeber unmittelbar bindend. Es handelt sich um ein Rechtsprinzip, um die Konkretisierung von Rechtssätzen und damit um mehr als eine bloße Direktive, eine bloße Gerechtigkeitserwägung88. Durchbrechungen89 bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Regelmäßig verfälschen steuerliche Lenkungszwecke die Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wenn sie wirksam einen Verhaltensbefehl oder eine Verhaltensempfehlung überbringen wollen. Auch die im (Einkommen-)Steuerrecht häufig anzutreffenden Pauscha-

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BVerfGE 6, 55 (70 f.). Vgl. etwa als späte Entscheidung dieser Phase BVerfGE 43, 108 (118 ff.). 83 Vgl. v. a. BVerfGE 61, 319 (342 ff.); 66, 214 (222 ff.); 82, 60 (83 ff.); 89, 346 (352 ff.); 91, 93. 84 BVerfGE 84, 239. 85 BVerfGE 87, 153; 82, 60; 99, 246. 86 BVerfGE 93, 121; 93, 165. 87 Vgl. zuletzt BVerfGE 122, 210 (230 f.) – Pendlerpauschale. 88 A. A. Heinrich Wilhelm Kruse, Über Gleichmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1991, S. 322 (327 f.); ders., Die Einkommensteuer und die Leistungsfähigkeit des Steuerpfl ichtigen, in: FS für K. H. Friauf, 1996, S. 793; Hans-Wolfgang Arndt, Steuerliche Leistungsfähigkeit und Verfassungsrecht, in: FS für O. Mühl, 1981, S. 12; dagegen bereits eingehend Vogel/Waldhoff (Fn. 3), Rdnr. 524 m. w. N.; Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 122 ff. 89 Zur lückenhaften Umsetzung vgl. Kruse, FS Friauf (Fn. 88), S. 798 ff. 82

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lierungen und Typisierungen können als „Vereinfachungsnormen“ einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung im Einzelfall zuwiderlaufen. Wie viele Besteuerungsprinzipien wurde das Leistungsfähigkeitsprinzip zunächst durch die Finanzwissenschaften entwickelt und diskutiert, bevor es in Gesetzestexten oder durch die Rechtsdogmatik rezipiert wurde90. Mögen sich die Finanzwissenschaften zwischenzeitlich von der Forderung nach leistungsfähigkeitsgerechter Besteuerung abgewendet haben und die Diskussion in der Ökonomie teilweise andere Wege gegangen sein, so kann dies die (verfassungs-)rechtliche Betrachtung wegen ihrer grundsätzlich autonomen Begriffs- und Prinzipienbildung nicht unmittelbar beeinflussen91. Das Leistungsfähigkeitsprinzip besagt zunächst, dass die Steuerlast eines jeden nach seiner Fähigkeit zu bemessen ist, Steuerleistungen aus seinem Einkommen zu erbringen92. Leistungsfähigkeit meint dabei tatsächliche (effektive, in Geldwert vorhandene) Ist-Zahlungsfähigkeit93. Das Einkommen (die Einkünfte) ist der Indikator, den der Gesetzgeber zur Bestimmung dieser Größe ausgewählt hat 94. Damit gibt das Prinzip eine Antwort auf die Frage, nach welchem Maßstab die Bürger zu den öffentlichen Lasten beitragen sollen95. Das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat zwei Seiten: Infolge seiner Herleitung (auch) aus Grundrechten (vorrangig Art. 3 Abs. 1 GG) hat es eine begrenzende, den Bürger schützende Funktion; als Zugriffsprinzip (Lastenausteilungsmaßstab) hat es darüber hinaus jedoch auch eine fordernde, u. U. eine Besteuerung gebietende Funktion96. Auch eine (relative, d. h. im Verhältnis zu anderen Steuerpfl ichtigen bestehende) „Unter-“ oder „Minderbesteuerung“ kann gegen das Prinzip verstoßen. Das Prinzip wirkt nicht nur innerstaatlich, sondern nach richtiger Ansicht hat es der deutsche Steuergesetzgeber auch bei grenzüberschreitenden Besteuerungsvorgängen zu beachten. Die Prinzipien der Allgemeinheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung erweisen sich als Unterfälle des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dies folgt daraus, dass „Gleichmäßigkeit“, als steuerliche Gleichheit, immer verhältnismäßige Gleichheit sein muss97; auch eine Steuer, die nicht „allgemein“ ist, sondern nach unsachgemäßen Differenzierungen unterscheidet, kann nicht an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet sein. Die 90 Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 6 ff.; in historischer Perspektive Oechsle (Fn. 28). 91 Monika Jachmann, Leistungsfähigkeit und Umverteilung, StuW 1998, S. 293. Allgemein zu dem Verhältnis von (öffentlichem) Recht und Ökonomie mit deutlicher Betonung der Autonomie der Rechtswissenschaften Christian Waldhoff, Rezension, Der Staat 38 (1999), S. 625. Daher ist der Rückgriff auf Relativierungen der Finanzwissenschaften in BVerfGE 43, 108 (120) methodologisch verfehlt. 92 Lang (Fn. 88), S. 97. 93 Vgl. etwa Birk/Barth (Fn. 3), Rdnr. 457. 94 Aus ökonomischer Sicht Stefan Bach, Die Perspektive des Leistungsfähigkeitsprinzips im gegenwärtigen Steuerrecht, StuW 1991, S. 116 (120 ff.). 95 Birk/Barth (Fn. 3), Rdnr. 451 f. 96 Birk/Barth (Fn. 3), Rdnr. 461. 97 Joachim Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, S. 77 ff., spricht anschaulich von „normativer Gleichheit im Abgabenrecht“.

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ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leitet aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein „grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit“ her, das sich als Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erweist98. Im Laufe dieser Rechtsprechungslinie trat dabei die Argumentation aus der „Steuergerechtigkeit“ zugunsten einer Entfaltung des Leistungsfähigkeitsgebots zurück, gleichzeitig wurde – zumindest seit den achtziger Jahren – die verfassungsrechtliche Bindung des Steuergesetzgebers verstärkt99. Im Schrifttum sind diese Herleitungsansätze des Bundesverfassungsgerichts ergänzt worden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird nicht allein aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in seiner steuerspezifischen Konkretisierung hergeleitet, sondern auf weitere Normen des Grundgesetzes gestützt und so in seiner Ableitung aus der Verfassung erweitert. Neben den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG können spezielle Gleichheitssätze mit strengeren Anforderungen an Differenzierungen treten, beispielsweise der entsprechende Teilgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG. Hinzu kommen Freiheitsgrundrechte – insbesondere die für die Besteuerung relevante Eigentumsgarantie des Art. 14 GG sowie die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG – , das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) und die Zentralnorm der bundesstaatlichen Finanzverfassung (Art. 106 GG), die traditionelle Steuertypen des deutschen Rechts aufnimmt, die in ihrem kondensierten Kern ebenfalls Hinweise auf der Besteuerung offen stehende Quellen steuerlich abzuschöpfender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bieten100.

cc) Freiheitsrechtliche Maßstäbe für die Besteuerung Steuergerechtigkeit wird üblicherweise als Verteilungsgerechtigkeit und damit als Gleichheitsproblem verstanden101. Dabei wird jedoch übersehen, dass auch die Höhe der Belastung als vertikale Dimension der Steuergerechtigkeit i. w. S. relevant ist. Im steuerverfassungsrechtlichen Bereich verschärft sich das Problem noch dadurch, dass regelmäßig nur einzelne Steuern betrachtet werden, die kumulative Steuerbelastung im Vielsteuersystem der deutschen Rechtsordnung unterbelichtet bleibt102. Bis in die Gegenwart fortwirkend hat hier die These Ernst Forsthoffs – da der Steuerstaat den Rechts- mit dem Sozialstaat verbinde, sei eine verfassungsrechtliche Überprüfung

98 BVerfGE 6, 55 (70 f.); 9, 237 (243 ff.); 43, 108 (118 ff.); 61, 319 (342 ff.); 66, 214 (222 ff.); 82, 60 (83 ff.); 91, 93 (108 f.). 99 Zur Entwicklung dieser Rechtsprechungslinie und zu deren Bewertung Moris Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, S. 304 ff.; Vogel/Waldhoff (Fn. 3), Rdnr. 495 ff., 592 ff. 100 Vogel/Waldhoff, (Fn. 3), Rdnr. 519 ff. 101 Kritisch Jörn Ipsen, Besteuerung und Eigentum, in: FS für P. Badura, 2004, S. 201 (209). 102 Obgleich die beiden zentralen Entscheidung zur Vermögensbesteuerung nach Einheitswerten (BVerfGE 93, 121) und zur Geltung des Halbteilungsgrundsatzes (BVerfGE 115, 97) gerade das Zusammenwirken von zwei Steuerarten (Einkommen- und Vermögen- bzw. Einkommen- und Gewerbesteuer) betrafen; vgl. zuvor bereits Karl-Heinrich Friauf, Substanzeingriff durch Steuer-Kumulation und Eigentumsgarantie, StuW 1977, S. 59. Zu diesem verfassungsrechtlichen Problem allgemein m. w. N. Gregor Kirchhof, Kumulative Belastungen durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, S. 732.

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der Höhe der Steuerbelastung nicht möglich103 – eine dogmatische Auseinandersetzung jenseits politischer Vorverständnisse behindert und eine „Immunisierung“104 der Eigentumsgarantie gegenüber Besteuerungsvorgängen befördert, obgleich historisch kein Zweifel daran bestand, dass die Besteuerung einen Eigentumseingriff darstellt105. Nicht erklärt werden konnte mit diesem Postulat, warum in dem qualitativ wie quantitativ neben dem Polizeirecht wichtigsten Bereich der Eingriffsverwaltung der Grundrechtsschutz wenn nicht ausgeschlossen, so doch entscheidend eingeschränkt sein solle. Entgegen den Annahmen von Forsthoff stellt dies nicht die Verwirklichung, sondern eine kaum zu begründende Ausnahme von Rechtsstaatlichkeit, nämlich von Rechtsbindung dar106. Nachdem bereits früh in Abgrenzung zu einem weiteren einflussreichen Missverständnis Forsthoffs107 geklärt werden konnte, dass Besteuerung verfassungsrechtlich niemals Enteignung sein kann108, war die Rechtsprechung des Gerichts – und ist diejenige des Ersten Senats bis in die Gegenwart109 – geprägt durch die logisch nur schwer nachzuvollziehende Feststellung, dass die Auferlegung öffentlicher Abgaben grundsätzlich die Eigentumsgarantie schon tatbestandlich nicht berühre110, dieses Grundrecht aber verletzt sei, wenn der Pfl ichtige übermäßig belastet und dadurch seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigt werden, die Abgabe erdrosselnde Wirkung besitze111. Außerhalb konsistenter Grundrechtsdogmatik112 wurde 103 Eigentumsschutz öffentlich-rechtlicher Rechtsstellungen, NJW 1955, S. 1249 (1250); Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), S. 8 (32); ferner Karl Maria Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, VVDStRL 14 (1956), S. 2 (4 f.); Peter Badura, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), S. 396 f.; ders., Eigentum, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 10 Rdnr. 42; Ulrich K. Preuß, Rechtsstaat – Steuerstaat – Sozialstaat, in: Deiseroth/Hase/Ladeur (Hrsg.), Ordnungsmacht, 1981, S. 54 f.; Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rdnr. 48; Brun-Otto Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in: FS für F. von Zezschwitz, 2005, S. 321; richtige Rekonstruktion des Zusammenhangs demgegenüber bei Hanno Kube, Staatsaufgaben und Solidargemeinschaften, in: Mellinghoff (Hg.), Steuern im Sozialstaat, 2006, S. 11 (16 ff.): Vorrang der Steuerfi nanzierung zur Erzielung politisch „ungebundener“ Finanzmittel zu sozialstaatlicher Gestaltung. 104 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen, in: FS für W. Zeidler, 1987, S. 691. 105 Die überkommene, den Vorbehalt des Gesetzes auslösende konstitutionelle Formel von den „Eingriffen in Freiheit und Eigentum“ meinte zuallererst den Steuereingriff. 106 Ipsen (Fn. 101), 205 f.: „Nicht einleuchtend ist freilich, warum die unabweisbare sozialstaatliche Notwendigkeit der Mittelbeschaffung zu rechtsstaatlichen ‚Lockerungen‘ sollte führen können.“; so jetzt auch explizit BVerfGE 115, 97 (111 f.); der im Haupttext dargelegten Fehlvorstellung unterliegen auch Teile des Sondervotums Böckenförde zum Vermögensteuerbeschluss, BVerfGE 93, 149 (163 f.): Sozialstaatlichkeit als „letzter Grund“ für die Exemtion der Abgabenerhebung aus dem Schutzbereich von Art. 14 GG; besonders deutlich bei Bryde (Fn. 103), S. 327 ff. 107 Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: VVDStRL 12 (1954), S. 8 (32). 108 BVerfGE 2, 237 (258 f.); nach der Rückschneidung und Formalisierung des Enteignungstatbestands auf einen zwangsweisen hoheitlichen (Sach-)Güterbeschaffungsvorgang, insbesondere durch die Nassauskiesungsentscheidung BVerfGE 58, 300, wird dies noch deutlicher; explizit wiederum BVerfGE 115, 97 (112); anders gelagert ist der argumentative Rückgriff von Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht (Fn. 3), S. 20. 109 BVerfGE 95, 267 (300). 110 BVerfGE 4, 7 (17); 75, 108 (154); 78, 249 (277); 81, 108 (122). 111 BVerfGE 19, 119 (128 f.); 23, 12 (30); 30, 250 (271 f.); 63, 312 (327); 68, 287 (310 f.) 112 Peter Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 255; Karl-Heinrich Friauf, Steuergesetzgebung und Eigentumsgarantie, JurA 1970, 299 (302 f.); Jürgen Eschenbach, Der verfassungs-

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und wird so die Berührung des Schutzbereichs an die Verletzung des Grundrechts gekoppelt, die Frage der tatbestandlichen Einschlägigkeit mit der Frage der Rechtfertigung eines Eingriffs vermengt. Diese Konsequenz vermied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zur Vermögensbesteuerung nach Einheitswerten113. Diese knüpft an ein Vorverständnis der Eigentumsgarantie an, welches jenseits substanzhafter Eigentumsvorstellungen und damit auch der Umgehung der Frage nach dem eigentumsrechtlichen Schutz des „Vermögens als solchem“ Eigentum im Sinne eines Handlungsspielraums aus den dem Eigentümer zustehenden Vermögenswerten auffasst114. Angesichts des Versagens der überkommenen grundrechtlichen SchrankenSchranken wird im Wege einer quantifi zierten verfassungsrechtlichen Grenze judiziert, dass die Gesamtsteuerbelastung – im konkreten Fall bezogen auf die kumulativen Wirkungen von Vermögen- und Einkommensteuer – „bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe der hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“ verbleiben solle. Dieser sog. steuerrechtliche Halbteilungsgrundsatz115, der vom Ersten Senat niemals akzeptiert wurde, ist inzwischen auch vom Zweiten Senat aufgegeben worden116. An seine Stelle soll der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit treten; eine abwägend-dynamische Schranken-Schranke der Eigentumsgarantie soll den strikten Zahlenwert ersetzen und damit zugleich den politischen Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers hinsichtlich der Höhe der Steuerbelastung vergrößern. Es gehörte bis dahin zu den gesicherten Erkenntnissen der Grundrechtsdogmatik, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinsichtlich des Fiskalzwecks von Steuergesetzen nicht möglich sei. Der Zweck-Mittel-Relation des Übermaßverbots fehle das abwägungstaugliche Ziel, da der Fiskalzweck als solcher „maßlos“ sei117. Zu Recht wurde ganz überwiegend118 der Versuchung widerstanden, die konkret zu fi nanzierenden Staatsaufgaben für diese Abwägung heranzuziehen. Dies würde nicht nur der fi nanzverfassungsrechtlichen Grundentscheidung der Trennung von Einnahmen und Ausgaben widersprechen, sondern stellte letztlich wohl einen weit stärkeren Übergriff in den Politikbereich der Legislative dar, als eine Quantifizierung der Steuerhöchstbelastung oder eine wertende Beurteilung von Belastungsgrenzen allein aus der Belastungswirkung heraus. Die Allgemeinheit dieser Feststellung ist allerdings inzwischen für steuerrechtliche Ausnahmetatbestände, die etwa die Umgehung berechtliche Schutz des Eigentums, 1996, S. 231 ff.; Vogel/Waldhoff (Rdnr. 3), Rdnr. 540 ff.; Ipsen (Fn. 101), S. 208 ff. 113 BVerfGE 93, 121 (135 ff.). 114 Paul Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, in: VVDStRL 39 (1981), S. 213; abweichend Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip (Fn. 90), S. 204 ff. 115 Zu dem überkommenen kirchensteuerrechtlichen Halbteilungsgrundsatz bei konfessions-, nicht hingegen bei glaubensverschiedenen Ehen BVerfGE 19, 226; 19, 242; 19, 268. 116 BVerfGE 115, 97. 117 Hans-Jürgen Papier, Die fi nanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 76 ff.; ders., Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, S. 787 (793); Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip (Fn. 90), S. 189. 118 A. A. insbesondere Hans Herbert von Arnim, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), S. 286; Michael Elicker, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Besteuerung, DVBl. 2006, S. 480; Walter Frenz, Die Verhältnismäßigkeit von Steuern, GewArch. 2006, S. 282 (285 ff.).

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stimmter steuerlicher Regelungen verhindern sollen und damit einen abwägungsfähigen Zweck umzusetzen suchen, relativiert worden119 ; für Lenkungszwecke von Steuern galt er nie, da der Sachzweck – ganz ähnlich wie etwa im Recht der Gefahrenabwehr – ein abwägungstaugliches Ziel darstellt120. Ist der Schutzbereich der Eigentumsfreiheitsgarantie des Art. 14 GG thematisch einschlägig und vermag der sog. Halbteilungsgrundsatz allenfalls in Sondersituationen als effektive Schranken-Schranke zu wirken, stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines durch die Auferlegung einer Steuer oder sonstigen Abgabe bewirkten Eingriffs neu: Sofern und soweit der Weg der Quantifizierung versperrt ist, bleibt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als relevantes verfassungsrechtliches Widerlager121. Die Formulierung der Sozialpfl ichtigkeit des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 GG deutet auf eine wertend-abwägende Bestimmung der Grenze hin122 ; andere Textstellen des Grundgesetzes wie Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 Alt. 2 GG123 verdeutlichen, dass eine übermäßige Steuerbelastung einen Verfassungsverstoß darstellte. In seinem Beschluss vom 18. Januar 2006 hat der Zweite Senat nunmehr eine Art abgeschwächte oder eingeschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung kreiert124 : Der Fiskalzweck sei hinsichtlich der Geeignetheit und der Erforderlichkeit kein tauglicher Abwägungsgesichtspunkt, wohl aber die Verhältnismäßigkeit i. e. S., d. h. die Angemessenheit des Steuereingriffs125. Wie dies geschehen soll und ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in dieser Weise aufspaltbar ist, harrt der Konkretisierung126. Zur Identifizierung einer besonders hohen und damit besonders rechtfertigungsbedürftigen Steuerbelastung soll (auch) der internationale Belastungsvergleich dienen. Vor dem Verdikt der Übermäßigkeit und damit Verfassungswidrigkeit steht noch eine Darlegungspfl icht des Gesetzgebers zur Rechtfertigung dieser Last. Auch hier zeigt sich – wie so oft in neueren Judikaten127 – die Tendenz, durch Darlegungspfl ichten des Gesetzgebers entweder die bei isolierter Prüfung des Gesetzes womöglich drohende Verfassungswidrigkeit abzuwehren bzw. durch die vom Gesetzgeber dargelegten Begründungen Argumente und Ansatzpunkte für eine Abwägung zu erhalten. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit dieser neue Ansatz tragfähig ist. Eine positive Deutung birgt die Hoffnung, dass mit dieser Entscheidung die allgemein-politische Frage der Höhe der Steuerbelastung generell-abstrakt dem poli119 Markus Heintzen, Die unterschiedliche Behandlung von Gewinnen und Verlusten, in: von Groll (Hrsg.), Verluste im Steuerrecht, 2005, S. 163 (179 ff.). 120 Rainer Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 203 ff., 237 ff.; Tina Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, 2004, S. 162 f., 164 ff. 121 Vgl. insgesamt – wenn auch nicht stets überzeugend -Beyer (Fn. 120), insbes. S. 142 ff. 122 Ipsen (Fn. 101), S. 213 f. 123 Zu dieser Bestimmung Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben (Fn. 18), S. 254 ff. 124 BVerfGE 115, 97 (113 ff.). 125 Vgl. bereits Ipsen (Fn. 101), S. 214. 126 Frenz, Verhältnismäßigkeit (Fn. 118), S. 283; insofern zu Recht auch Ute Sacksofsky, Halbteilungsgrundsatz ade – Scheiden tut nicht weh, NVwZ 2006, S. 661 (662) mit dem Hinweis, dass auch hier der problematische Rückgriff auf eine verfassungsgerichtliche Ausgaben- und damit Aufgabenbeschränkung offen bleibt. 127 Überblick und Analyse bei Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: FS für J. Isensee, 2007, S. 325 ff.

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tischen Prozess überlassen bleibt, dass aber die Möglichkeit besteht, im besten grundrechtlichen Minderheitenschutz „Ausreißer“ erfassen zu können.

5. Schluss: Chancen und Gefahren der Konstitutionalisierung des Steuerrechts unter dem Grundgesetz Die Analyse einer Verfassungsordnung angesichts eines Jubiläums aus der Perspektive der Finanzierung dieser Ordnung, d. h. aus steuerrechtlicher Sicht, stellte nur auf den ersten Blick etwas Ungewöhnliches dar. Für eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung über einen längeren Zeitraum als 60 Jahre läge sie geradezu nahe, ja wäre letztlich zwingend. Aber auch für das Grundgesetz hat sich das Verhältnis von Verfassungsordnung und Besteuerung sowohl hinsichtlich der Einbettung in die Vorgeschichte unserer Verfassung, als auch als Analyseraster, um das Spezifische der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit besser verstehen zu können, als hilfreich erwiesen. Für die Gegenwart – und damit gleichsam als Ausblick – stellt sich auch in diesem Sachbereich die Frage nach den Chancen und Gefahren einer Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung. Der ebenso „attraktive wie rätselhafte“ Begriff der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung im innerstaatlichen Bereich meint die Beeinflussung des einfachen Rechts durch Verfassungsrecht, die verfassungsrechtliche Überformung jedes Teilrechtsgebiets128. Dafür sind drei Voraussetzungen erforderlich129 : Der Grundsatz des Vorrangs der Verfassung muss strikt durchgeführt sein130, das Verfassungsrecht muss neben organisationsrechtlichen Regelungen materielle Vorgaben für die Rechtsordnung enthalten und eine Gerichtsbarkeit muss Willens und in der Lage sein, die Konstitutionalisierung durchzusetzen. Konstitutionalisierung macht die Verfassung zum „Supra-“ oder „Megarecht“, führt zum „Verfassungsexpansionismus“131. „Stellt man sich das Recht eines Staates als eine hierarchisch gestufte Ordnung vor und geht man vom Vorrang der Verfassung aus . . . dann erscheint die Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung als ebenso zwingend wie selbstverständlich. Damit jedoch das Phänomen der Konstitutionalisierung erklären zu wollen, griffe viel zu kurz. . . . Was die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung eigentlich zum untersuchungsbedürftigen Phänomen macht, sind die zahlreichen, manchmal durchaus verschlungenen Wege, auf denen sich die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung vollzieht.“132 Dieses Zitat aus einer der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Phänomen der Konstitutionalisierung der einfachgesetzlichen Rechtsordnung bedient sich vorrangig an Beispielen aus dem Zivilrecht. Hier stellt sich die Frage, ob 128

Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff ? in: FS für W. Brohm, 2002, S. 191 (192); Hans Paul Prümm, Trends im Deutschen Recht, JA 2005, S. 310 (311); Matthias Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht, ZaöRV68 (2008), S. 453 (454 ff.). 129 In Anlehnung an Knauff (Fn. 128), S. 477 f. 130 Grundlegend Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 481; hier zitiert nach: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 121. 131 Michael Kloepfer, Vom Zustand des Verfassungsrechts, JZ 2003, S. 481. 132 Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 9.

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das Steuerrecht als staatliches Eingriffsrecht dieselbe Eigenrationalität besitzt oder besitzen kann wie die auf zwei Jahrtausenden Rechtstradition basierende Zivilrechtsordnung133. Außerdem ist diese Form der Konstitutionalisierung nicht auf den „Umweg“ mittelbarer Drittwirkung oder von Schutzpfl ichten angewiesen134. Die Konstitutionalisierung von öffentlichem Recht als Eingriffsrecht ist zunächst eine verfassungsrechtlich notwendige und in einem schmerzvollen Prozess erkämpfte Errungenschaft, die im geltenden Recht der Grundrechtsbindung sämtlicher Staatsgewalt geschuldet ist (vgl. die „Brückennormen“135 der Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG)136. Nicht von ungefähr wird das Verwaltungsrecht nach 1949 als „konkretisiertes Verfassungsrecht“ beschrieben137. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Aufgabe der präziseren Abschichtung eines legitimen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums im Steuerrecht von notwendiger verfassungsrechtlicher Einhegung anders als in der eingehenden Kritik der Grundrechte als objektiver Wertordnung138. Die Verfassung gibt und kann auch das Maß der Einwirkung nicht angeben. Die neuere Wendung in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den eigentumsrechtlichen Grenzen der Besteuerung scheint für unsere Fragestellung den Weg zu weisen: Die – wenn auch freiheitsrechtlich angereicherte – Gleichheitsprüfung kann und sollte gerade im Steuerrecht streng erfolgen, da dieses Rechtsgebiet rechtlich wie im Bereich der politischen und gesellschaftlichen Akzeptanz durch seine Pfl ichtenbasiertheit in besonderem Maße auf gleichheitsrechtliche Legitimität, man könnte auch sagen: Gerechtigkeit angewiesen ist139. Manche der oben erwähnten Kongruenzanforderungen Flumes stellen sich als Gleichheits- oder Systemgerechtigkeitsproblem dar. Die genuin politische Frage, welche politischen Ziele verwirklicht und damit auch fi nanziert werden, hängt primär nicht von einer gleichheitsgerechten Lastenverteilung, sondern von der Höhe der Steuerbelastung, d. h. vom Gesamtsteueraufkommen ab. Die Abschichtung zwischen der der mitgliedstaatlichen politischen Entscheidung überlassenen Bestimmung der Steuerhöhe über den Steuersatz und einer rechtskonformen Bemessungsgrundlage scheint auch im europäischen Steuerrecht das Mittel der Wahl zu sein140. Hier steht die Feinarbeit der Analyse noch aus.

133 Vgl. insgesamt auch Wolfgang Schön, Die zivilrechtlichen Voraussetzungen steuerlicher Leistungsfähigkeit, StuW 2005, S. 247 (248 f.). 134 Seit BVerfGE 7, 198 – Lüth; aus der Literatur vgl. nur Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999 sowie Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001. 135 Knauff (Fn. 128), S. 477. 136 Näher Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401; hier zitiert nach: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 161 (167 ff.). 137 Fritz Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl. 1959, S. 527; differenziert Wahl, Vorrang (Fn. 136), S. 162 f. 138 Vgl. statt vieler Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989; Wahl, Vorrang (Fn. 136), 163 ff.; zu den gewaltenteiligen Problemen von Verfassungsgerichtsbarkeiten Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 135 ff. 139 Vgl. Moris Lehner/Christian Waldhoff, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), Einkommensteuergesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 206. Lieferung März 2010, § 1 Rdnr. A 156. 140 Durchgeführte (Verbrauch- und Umsatzsteuern) wie geplante Harmonisierungen (gemeinsame

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Ferner: Konstitutionalisierung ist ein komplexer Prozess, keine Einbahnstraße und an ihr wirken zahlreiche Akteure mit (die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Fachgerichtsbarkeit, der Gesetzgeber, der politische Prozess im Übrigen usw.)141. Vor diesem Hintergrund ist in Bezug auf die gescheiterten Steuerreformen zu fragen, was die Bedingungen solcher Reformen sind. Nicht neue, ohnehin unrealistische Großentwürfe, sondern eine präzise Analyse des politischen Prozesses des Scheiterns von Steuerreformen tut not, um das Spannungsverhältnis zwischen Konstitutionalisierung und Reform zu erfassen142. Schließlich: Wie können die spezifisch juristischen Argumente in Bezug auf Zukunftsfragen der Besteuerung von den immer mehr dominierenden ökonomischen Diskursen getrennt und geschärft werden? Enthielt das Steuerverfassungsrecht im deutschen Konstitutionalismus noch Programme und Verheißungen „neuer“ Steuerordnungen, hat die Rationalisierung der Verfassungstexte in Richtung auf volle Justiziabilität die letzten expliziten Steuermaßstäbe zugunsten des oben beschriebenen „ungeschriebenen Finanzrechts“ verdrängt143. Die Verfassungsjudikatur als solche ist ebenfalls kaum in der Lage, zukunftsweisende Impulse zu geben144. Ein Methodensynkretismus wäre sicherlich der falsche Weg, denn rechtliche Maßstäbe sind von ökonomischen grundsätzlich zu unterscheiden, „Gerechtigkeit“ ist im rechtlichen Sinne etwas anderes als im ökonomischen (und im politischen Kontext, in dem vielfältige Teilrationalitäten verarbeitet werden müssen, vielleicht wiederum anders aufzufassen). Die Berücksichtigung „beider Seiten“ des Steuerverfassungsrechts145 – neben inhaltlichen Maßstäben auch die organisatorische Einbindung der Steuerrechtsetzung und Steuererhebung – ist bei dieser Aufgabe unverzichtbar.

Bemessungsgrundlage der Unternehmenssteuern) überlassen die Bestimmung der Höhe des Steuersatzes – und sei es in einem Rahmen – stets der politischen Entscheidung der Mitgliedstaaten. 141 Schuppert/Bumke (Fn. 132), S. 45 ff. 142 Vgl. Wolfgang Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusion? DStR, Beihefter zu Heft 17, 2008, S. 11 ff. 143 Eingehend Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben (Fn. 18), S. 211 ff. 144 Schön, Steuerpolitik 2008 (Fn. 142), S. 13. 145 Christian Waldhoff, Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in: Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2008, S. 125 ff.

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Europarechts von

Professor Dr. Dres. h. c. Peter-Christian Müller-Graff, Universität Heidelberg Sechzig Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Europarechts zu reflektieren, nimmt eine andere Ausgangsperspektive ein als die Betrachtung von sechzig Jahren Europarecht aus der Sicht des Grundgesetzes. Letztere ist die Domäne staatsrechtlicher Erörterungen1. Mit der Sicht des Europarechts auf das Grundgesetz geht es um eine sich damit zwar sachgegenständlich überschneidende, aber doch unterscheidbare, miteinander verschränkte Doppelfrage: zum einen, in welchem Maße die Entfaltung der zweiten republikanischen Verfassung Deutschlands vom Schutz des stabilen Entwicklungsgangs der rechtlich gegründeten europäischen Integration seit 1952 begünstigt wurde und auch unter dem Gesichtspunkt einer wechselseitigen Stabilisierung von unionalem Primärrecht und nationalen Verfassungsrechten 2 im Sinne eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts (Häberle) 3 künftig wird; zum anderen, inwieweit das Grundgesetz dazu beitrug und beiträgt, das historisch innovative Phänomen des für Deutschland relevanten supranationalen4 Europarechts (ursprünglich Gemeinschaftsrecht, seit 1. Dezember 2009 Unionsrecht) zu ermöglichen, zu rezipieren, zu fördern, zu gestalten und zu begrenzen. Während die Beantwortung des ersten Teils der ersten Frage ebenso wie derjenigen nach der Förderung der Wiedervereini1

Vgl. dazu nur die Beiträge von Peter M. Huber und Getrude Lübbe-Wolf zum Thema „Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Heft 60, 2001, S. 194 ff., 247 ff., jeweils m. w. N. 2 Vgl. dazu und zum Europäischen Verfassungsverbund den Beitrag von Ingolf Pernice, ebda., S. 148 ff., 165 ff., 186 ff., 192 f. (IV 5). 3 Grundlegend Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 261 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, 1994; vgl. auch Peter-Christian Müller-Graff / Eibe Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998; Albrecht Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010. 4 Ausgeklammert bleibt im folgenden das nicht supranationale Europarecht, namentlich die EMRK; vgl. dazu den Beitrag von Christoph Grabenwarter zum Thema „Europäisches und nationales Verfassungsrecht“, a.a.O. (Fn. 1), S. 90 ff.; speziell zur EMRK ders., Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009; zum – subverfassungsrechtlichen – Rang der EMRK in der deutschen Rechtsordung jüngst BVerfG, Beschluß v. 4. 2. 2010 Tz. 21 – 2 BvR 2307/06 –.

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gung Deutschlands 1990 durch dessen Einbettung in den Europäischen Gemeinschaften zuvörderst, wenn auch nicht ausschließlich, Aufgabe der Geschichts- und Sozialwissenschaften ist und hier nicht weiterverfolgt werden kann5, und während der zweite Teil der ersten Frage spekulativ ist, läßt die zweite Frage zuallererst Antworten der mit dem positivierten Recht befaßten Rechtswissenschaft zu. Um dies zu bewerkstelligen, sind zunächst die Eigenheiten der Supranationalität im Europarecht zu kennzeichnen (A), sodann der textlich-konzeptionelle Ausgangspunkt des Grundgesetzes im Hinblick auf diese zu umreißen (B), danach die etappenweise Auslegung des grundgesetzlichen Textes durch das Bundesverfassungsgericht im hermeneutischen Dialog zum Entwicklungsgang des Europarechts zu befragen (C) und schließlich die Zwischenbilanz der historischen Gegenwartslage des Grundgesetzes für die zukünftige Rezeption und Orientierung des Europarechts zu ziehen (D).

A. Supranationales Europarecht als neues Rechtsphänomen und rechtliches Profi l eines transnationalen Gemeinwesens Verbindliche Normen auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge sind kein historisches Novum des 20. Jahrhunderts. Das supranationale Europarecht jedoch, wie es seit 1952, beginnend mit der Montanunion (EGKS) in Gestalt des Europäischen Gemeinschaftsrechts die Bühne der Rechtswelt betrat und sich allmählich tastend als das rechtliche Profi l eines von herkömmlichen völkerrechtlichen Organisationen unterscheidbaren transnationalen Gemeinwesens konturierte6, ist ein geschichtlich innovatives Phänomen. Offen bleiben muß in diesem Beitrag die Frage, ob oder inwieweit der mit einem spezifischen Sanktionsmechanismus verbundene Rechtsbegriff (im Unterschied zu anderen Normkategorien) kategorial in gleicher Weise paßfähig zu internationalen, europäischen und staatlichen Normordnungen ist, die das Attribut „Recht“ nutzen7. Der Begriff der Supranationalität fi ndet sich nirgendwo verbindlich positiviert noch konsentiert8. Er ist vielmehr ein synthetisiertes Konzept aus verschiedenen Ele5 Vgl. zur Verzahnung von Wiedervereinigungspolitik und Europapolitik Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955–1959, 1967, S. 252 ff.; Carl-Otto Lenz, Westintegration und Wiedervereinigung, EGM Nr. 3/1990, S. 8; s. auch Peter-Christian Müller-Graff, Deutsche Einheit und Europäische Integration, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Die Osterweiterung der EG, 1991, S. 23, 41 ff., 43 ff. 6 Vgl. zu diesen Entwicklungsschritten Peter-Christian Müller-Graff, Primärrechtliche Entwicklungsschritte der Gemeinschaftsintegration zu einem transnationalen Gemeinwesen, integration 2007, 407 ff. 7 Die Durchsetzungsschwäche des herkömmlichen Völkerrechts ist bekannt und hat in diesem Bereich auch breitfl ächig das Auf kommen nicht verbindlicher Normen und Selbst„verpfl ichtungen“ („soft law“) gefördert; so Boyle, The Making of International Law, p. 210, 215. 8 Vgl. schon Hans-Peter Ipsen, Über Supranationalität, in: Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 97 ff.; Hans Lecheler, „Supranationalität“ der Europäischen Gemeinschaften – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel?, JuS 1974, 7 ff.; Manfred Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, integration 1988, 103 ff.; Gert Nicolaysen, Europarecht I, 1991, S. 28 ff.; Rudolf Streinz, Europarecht, 4. Aufl., 1999, S. 41; Peter-Christian Müller-Graff, The Concepts of Supranationality and National Legal Autonomy, in: Hans Petter Graver (ed.), National Judicial Reaction to Supranationality in the EC and the EEA, 2004, p. 35 et seq.; Thomas Oppermann / Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, S. 60 f. (§ 5 Rdz. 9 ff.) mit Klassifi-

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menten, die sich auf dem Pionierpfad des Gemeinschaftsrechts aus vertrags- und rechtspolitischen Entscheidungen sowie aus deren judikativen Konkretisierungen bildeten. Betrachtet man diese nahezu 60jährige Entwicklung rückblickend, so zeigen sich kennzeichnende Merkmale in mehreren Charakteristika der transnationalen Rechtsetzung (I), Rechtswirkung (II) und Rechtsprechung (III). Man mag für einzelne Elemente Parallelen in anderen internationalen Kontexten fi nden. Ihre einzigartige Kombination erzeugt indes ein besonderes Gepräge. Im schillernden Wortteil „Supra“ leuchtet in seiner rechtlichen Dimension der Gedanke von Durchsetzungsund Verwirklichungsgewicht von Normen, die nicht der alleinigen Disposition des einzelnen betroffenen Staates unterliegen.

I. Transnationale Rechtsetzung Transnationale Rechtsetzung allein konstituiert noch nicht notwendig Supranationalität, wie etwa die bis zum 30. November 2009 möglichen Rahmenbeschlüsse in der polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit der Europäischen Union belegen9. Ein erstes supranationales Rechtselement kommt indes ins Spiel, wenn von dem Grundsatz abgewichen wird, daß es zu einer verbindlichen Regel nur kommen kann, wenn der betroffene Staat zustimmt.

1. Mehrheitsentscheidungen der Regierungsvertreter Die genannte Schwelle wird daher überquert, wenn Mehrheitsentscheidungen der Staatenvertreter getroffen werden können10. In der Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts wurde dieser Pionierschritt bereits vom EGKS-Vertrag vollzogen, der zugleich eine Stimmengewichtung in Abbildung der mitgliedstaatlichen Kohle- und Stahlproduktion schuf 11. EWG-Vertrag und EAG-Vertrag zogen nach12. Im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte wurde das Beschlußverfahren der qualifi zierten Mehrheitsentscheidung auf die binnenmarktförderliche Rechtsangleichung erstreckt13. Hierbei richtet sich die (von der Novellierung durch den Vertrag von Lissabon14 ab 1. 11. 2014 abgelöste) differenzierte Stimmponderierung der Mitzierung der Überstaatlichkeit der Europäischen Union insgesamt (also nicht speziell des Europarechts) durch: Breite der Aufgabenbereiche, Verpfl ichtung auf gemeinsame politische Grundwerte, autonome und intensive Rechtsetzungsgewalt der EU, Selbständigkeit der EU-Organe, fi nanzielle Selbständigkeit der Union, umfänglicher Rechtsschutz, Unvollendetheit und Dauerhaftigkeit der Union. 9 Vgl. Art. 34 Abs. 2 lit. b ex-EUV; vgl. zum Umsetzungsgesetz zum Rahmenbeschluß über den Europäischen Haftbefehl Urteil des BVerfG v. 18. 7. 2005 – 2 BvR 2236/04 –. 10 Vgl. Rudolf Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 127. 11 Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 496. 12 Vgl. für die EWG Art. 148 EWGV; dazu im einzelnen Heinz Haedrich, in: Hans von der Groeben / Hans von Boeckh / Jochen Thiesing, Kommentar zum EWG-Vertrag, 2. Aufl., 1974, Art. 148, S. 90 ff. 13 Ursprünglich: Art. 100a EWGV (dazu: Peter-Christian Müller-Graff, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, EuR 1989, 107, 141 f.); seit der Vertragsreform von Lissabon Art. 114 AEUV i. V. m. Artt. 289, 294 AEUV (ordentliches Gesetzgebungsverfahren). 14 Art. 16 Abs. 4 enthält eine ab dem 1. 11. 2014 geltende Neudefi nition der qualifi zierten Mehrheit

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gliedstaaten nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität, das Unterschiede der Mitgliedstaaten unter den Gesichtspunkten von Bevölkerungsgröße und Wirtschaftspotenzial abflachend berücksichtigt15.

2. Rechtlich gesicherter Steuerungseinfluß eines transnationalen Parlaments Ein weiteres Element der Supranationalität in der Rechtsetzung wird hinzugefügt, wenn auf sie Entscheidungen eines transnationalen Parlaments verfahrensrechtlich gesichert steuernden Einfluß nehmen können. War die in den Anfangsjahren der Europäischen Gemeinschaften so genannte Versammlung aus delegierten16 Mitgliedern in ihren Befugnissen zunächst sehr begrenzt (Beratung und Kontrolle, nicht Legislation)17, so konnte sich prozedural gesicherter Einfluß des Europäischen Parlaments auf die Rechtsetzung der EWG, namentlich beginnend mit den Haushaltsnovellen (1970/71; 1975/77) und der Einheitlichen Europäischen Akte (1986/1987)18, inhalts- und textstufenförmig über die Reformverträge von Maastricht19 und Amsterdam 20 bis hin zum nunmehr so genannten, aus dem Verfassungsvertrag rezipierten 21, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren im Lissabonner Vertrag22 zunehmend stärker und sachgegenständlich breiter entfalten. In diesem Rahmen wird den Staatenvertretern die alleinige Befugnis und Verantwortlichkeit für transnationale Rechtsetzung entzogen. Dem gouvernemental-exekutiven Einfluß auf Gestaltung und Verabschiedung eines konkreten Rechtsakts wird der davon unabhängige Einfluß der Vertreter der Völker beigesellt. Zwar vermag auch im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren das Europäische Parlament einen Rechtsakt nicht gegen die Entscheidung des Rates durchzusetzen, doch umgekehrt auch der Rat nicht gegen die Entscheidung des Europäischen Parlaments. Dies zwingt zu Verhandlungen.

II. Supranationale Rechtswirkung Die supranationalen Elemente der Rechtsetzung allein schöpfen allerdings den supranationalen Rechtscharakter des Gemeinschaftsrechts nicht aus und sind letztlich auch nur bedingt kennzeichnend. Denn dieser kann sich auch ohne Mehrheitsentals doppelte Mehrheit (55 % -Mehrheit der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von disen vertretenen Mitgliedstaaten mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen). 15 Vgl. Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 495 f.; Heinz Haedrich, a.a.O., S. 91. 16 Artt. 138 Abs. 1 EWGV, Art. 108 Abs. 1 EAGV, Art. 21 Abs. 1 EGKSV. 17 Vgl. Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 329 ff. 18 Marcel Haag / Roland Bieber, in: Hans von der Groeben / Jochen Thiesing / Claus-Dieter Ehlermann (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 5. Aufl. 1997, Art. 137 Rn. 30. 19 Einführung des Mitentscheidungsverfahrens; vgl. Marcel Haag/Roland Bieber, in: Hans von der Groeben / Jürgen Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV. Kommentar, 6. Aufl. 2004, Art. 189 Rdz. 30. 20 Ebda. 21 Dort Art. III-396 VVE. 22 Artt. 289, 294 AEUV.

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scheidung und ohne rechtlich gesicherten Steuerungseinfluß eines transnationalen Parlaments allein aus der Rechtswirkung in den und für die Mitgliedstaaten ergeben. Bahnbrechend für diese Einsicht wurde bekanntlich die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in seinen Leitentscheidungen „van Gend & Loos“23 und „Costa/ENEL“24, in denen aus dem Gedanken des Gemeinschaftsrechts als einer eigenen Rechtsordnung einerseits das Verhältnis zum herkömmlichen Völkerrecht mit der unmittelbaren Anwendbarkeit und andererseits das Verhältnis zum nationalen Recht mit der Qualität des Anwendungsvorrangs grundsätzlich bestimmt und damit das Europarecht in seiner supranationalen Eigenheit dauerhaft markiert wurde.

1. Unmittelbare Anwendbarkeit Ein wesentliches Merkmal der unionalen Supranationalität ist die unmittelbare Anwendbarkeit einer dazu geeigneten, wiewohl auf völkervertraglicher Grundlage beruhenden Bestimmung, mithin die Verpfl ichtung jeder mitgliedstaatlichen Einrichtung (Behörde, Gericht) zu deren Anwendung ex officio. Diese Möglichkeit wurde von der Handlungsform der allgemeinen Entscheidung in der EGKS eröffnet25 und sodann auch von derjenigen der Verordnung im EWG-Vertrag und EAG-Vertrag. Deren Rechtswirkung wird seit Anbeginn vertragspositiv mit allgemeiner Geltung, Verbindlichkeit in allen ihren Teilen und unmittelbarer Geltung in jedem Mitgliedstaat gekennzeichnet26. Eben diese Wirkung übertrug der EuGH, beginnend mit „van Gend & Loos“, auf dazu geeignete (hinreichend bestimmte und unbedingte) Vorschriften des EWG-Vertrages und überwand dabei den Einwand der nur völkervertraglichen Grundlage mit der überzeugenden fundamentalen Überlegung, daß Zweck der Gemeinschaft die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes sei, dessen Funktionieren den Einzelnen unmittelbar betreffe27 und der sich daher auf eine einschlägige marktintegrative Freiverkehrsbestimmung berufen können müsse28. Einleuchtend erweiterte der EuGH diesen Gedanken auch gegenüber transnationalen Freiverkehrsbeeinträchtigungen durch private Kollektivorganisationen29 und vorhersehbar, weil folgerichtig, in jüngerer Zeit auch gegenüber einem Boykottaufruf durch einen internationalen Gewerkschaftsverband 30 und sogar gegenüber den Bedingungen eines Arbeitgebers für den Zugang zu einem Auswahlverfahren zur Personaleinstellung31. Auch erstreckte er die unmittelbare Anwendbarkeit zugunsten Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat auf Richtlinienbestimmungen, die entgegen der 23

EuGH, Slg. 1963, 1. EuGH, Slg. 1964, 1141. 25 Artt. 14 Abs. 2, 15 Abs. 3 EGKSV; dazu Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 447. 26 Heute in der EU: Art. 288 Abs. 2 AEUV. 27 EuGH, Slg. 1963, 1. 28 Ebda. 29 EuGH, Slg. 1974, 1405 (Walrave und Koch); Slg. 1995, I-4921 (Bosman). 30 EuGH, Rs. C-341/05, Urteil v. 18. 12. 2007 (Laval). 31 EuGH, Slg. 2000, I-4139 (Angonese). 24

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staatlichen Zielverwirklichungspfl icht 32 (heute Art. 288 Abs. 3 AEUV) von diesem nicht fristgemäß in geltendes nationales Recht umgesetzt werden33.

2. Anwendungsvorrang Zum zweiten Merkmal der supranationalen Rechtswirkung einer Gemeinschaftsnorm erwuchs der schon in „van Gend & Loos“ angelegte, grundlegend aber mit der Entscheidung „Costa/ENEL“ begründete Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor abweichendem mitgliedstaatlichem Recht mit der Konsequenz, dass mitgliedstaatliche Gerichte und Behörden eine konfl igierende Bestimmung des innerstaatlichen Rechts unangewendet zu lassen haben. Wegen der folgerichtigen Ableitung des Anwendungsvorrangs aus dem Gedanken der vertraglich – synallagmatisch – mit wechselseitigen Verpfl ichtungen konstituierten Rechtsgemeinschaft 34 erübrigt sich zwar eine ausdrückliche vertragspositive Festlegung, wie sie der Verfassungsvertrag vorsah35. Dies wäre aber um der transparenten Klarheit wegen wünschenswert.

3. Rechtliche Durchsetzungsmechanismen gegen Widerstrebende Als drittes Merkmal supranationaler Rechtswirkung figuriert die Verfügbarkeit rechtlicher Durchsetzungsmechanismen gegen Normadressaten. Soweit die Mitgliedstaaten verpfl ichtet sind, beauftragt das Primärrecht im Falle pfl ichtwidrigen Verhaltens eines Staates die Kommission mit der Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH36, das gegebenenfalls in die Verhängung eines zu zahlenden Pauschalbetrags oder Zwangsgeldes münden kann37. Hierbei geht es nicht nur um tätige Verletzungen38, sondern auch um die Verletzung von Schutzpfl ichten zugunsten binnenmarktlich freiverkehrsberechtigter Einzelner gegen deren Behinderung durch andere Private39. Die Rechtsprechung des EuGH ermöglicht seit der Entscheidung „Francovich“ auch Einzelnen, die durch qualifizierte Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats zu Schaden gekommen sind, dessen Kompensation40 und entscheidet da32

Heute: Art. 288 Abs. 3 AEUV. Z.B: EuGH, Slg. 1970, 825 (Grad); Slg. 1979, 1629 (Ratti); Slg. 1982, 53 (Becker); Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen); Slg. 1984, 1075 (Kloppenburg); Slg.1988, 4689 (Moormann). 34 EuGH, Slg. 1964, 1141 (Costa/ENEL). 35 Art. I-6 VVE: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ 36 Art. 258 AEUV. 37 Art. 260 Abs. 2 und 3 AEUV. 38 Namentlich durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Verwaltungspraxis. 39 EuGH, Slg. 1997, I-6959 (Agrarblockaden). 40 EuGH, Slg. 1991, I-5357 (Francovich); EuGH, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du Pêcheur / Factortame); EuGH, Slg. 1996, I-1631 (British Telecommunications); EuGH, Slg. 1996, I-2604 (Hedley Lomas); EuGH, Slg. 1996, I-4845 (Dillenkofer); EuGH, Slg. 1996, I-5085 (Denkavit); EuGH, Slg. 2003, I-10239 (Köbler); vgl. Sofi a Moreira de Sousa / Wolfgang Heusel (Hrsg.), Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts von Francovich zu Köbler, 2004. 33

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durch im Spannungsfeld zwischen europarechtlich gebotenem Rechtsschutz des Einzelnen und staatlicher Souveränität41 zugunsten des Bürgers. Folgerichtig können nach jüngerer Rechtsprechung auch Private, deren Verhalten gegen gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsregeln verstößt, von geschädigten Marktteilnehmern kraft Unionsrechts (im Grundsatz unabhängig von nationalen Durchsetzungsnormen wie § 33 GWB) in Anspruch genommen werden42. Der darin aufscheinende allgemeine Rechtsgedanke ließe sich künftig auch auf Schäden Einzelner infolge des Verstosses Privater gegen die binnenmarktlichen Freiverkehrsvorschriften als transnational wettbewerbseröffnenden Normen43 erstrecken. Zudem zählen zum Durchsetzungsinstrumentarium des europäischen Wettbewerbsrechts seit Anbeginn Untersagungsverfügungen und die Verhängung von Geldbußen44. Schließlich hält das Unionsrecht Durchsetzungsmechanismen auch gegen Unionsorgane bereit, die Unionsrecht verletzen: für andere Organe und jeden Mitgliedstaat sowie – unter eingegrenzten Voraussetzungen – für natürliche und juristische Personen die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklage45 sowie für Einzelne die Klage auf Ersatz des Schadens, der durch Organe oder Bedienstete in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht wurde46.

III. Rechtsgemeinschaft durch Gemeinschaftsrechtsprechung Ein drittes Element der Supranationalität läßt sich in der Zuweisung der letztverbindlichen Auslegung des Unionsrechts an ein gemeinsames Gericht sehen. Vertragstextlich ausdrücklich ist der EuGH befugt, bei der Auslegung und Anwendung das Recht zu wahren47. Schon die grammatikalische Wendung dieser Aufgabe signalisiert, daß „Recht“ mehr umschließt als das positivierte Primär- und Sekundärrecht. Umfaßt ist auch der Gedanke der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die im Unionskontext zu formulieren und zu artikulieren dem EuGH aufgetragen ist (z. B. des Grundrechtsschutzes, der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes u. a. m.). Auch in der Einrichtung eines derart befugten Gerichts unterscheidet sich das Unionsrecht vom Muster herkömmlicher völkervertraglicher Vereinbarungen, die in der Regel nicht einen Mechanismus zur verbindlichen Interpretation durch einen unabhängigen Spruchkörper vorsehen. Das WTO-Streitbeilegungsverfahren hat noch nicht eine vergleichbare Ausgestaltung erreicht48. Supranational sind zugleich die Schaffung ei41

Zum triangulären Spannungsverhältnis Peter-Christian Müller-Graff, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, EuR 1898, 107, 119 ff. 42 EuGH, Rs. C-453/99, Urteil v. 20. 9. 2001 (Courage); Rs. C-295/04 u. a., Urteil v. 13. 7. 2006 (Manfredi). 43 Vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Marktfreiheiten als Herzstück der europäischen Wettbewerbsidee: Funktion und Wirkungen, in: Hermann-Josef Blanke / Arno Scherzberg / Gerhard Wegner (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs. Europäische Integration zwischen Eigendynamik und Gestaltung, 2010, S. 329 ff. 44 Ursprünglich: Kartellverordnung Nr. 17; jetzt VO (EG) 1/2003. 45 Artt. 263, 265 AEUV. 46 Art. 268 AEUV i. V. m. Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV. 47 Art. 19 Abs. 1 EUV. 48 Vgl. dazu die detaillierte Vergleichanalyse von Olaf Weber, WTO-Streitbeilegung und EuGH im Vergleich, 2007 (Heidelberger Schriften zum Wirtschaftsrecht und Europarecht Band 38).

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ner judikativen Kompetenz zur Verwerfung legislativer und administrativer Maßnahmen und zugleich deren Monopolisierung bei einem gemeinsamen Gericht49 (Artt. 263, 267, 264 AEUV).

B. Textlich-konzeptionelle Ausgangspunkte der europäischen Offenheit des Grundgesetzes Die ausdrücklichen textlich-konzeptionellen Ausgangspunkte der supranationalen Offenheit des Grundgesetzes zur europäischen Integration in der heute geltenden Fassung beinhalten abstrakte Grundsätze (I), konkrete Botschaften (II) und auslegungsoffene Konditionen (III).

I. Abstrakte Grundsätze Die abstrakten Grundsätze fi nden sich als textliches Urgestein des Grundgesetzes in dessen Präambel und Artikel 24 sowie als spezielle Neuschöpfung für die Europäische Union nach der großen Epochenzäsur vor zwanzig Jahren (1989/1990) im neu gefaßten Artikel 23. Das textliche Urgestein erklärt bündig, daß der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Demgegenüber präzisiert der jüngere Artikel 23 diese Befugnis zur Verwirklichung eines vereinten Europas für die Mitwirkung der Bundesrepublik bei der Entwicklung der Europäischen Union durch Strukturgrundsätze und bindet die (auch hier terminologisch mißverstehbar so bezeichnete50 ) „Übertragung“ ausdrücklich an die Zustimmung des Bundesrates. Die Präambel bekundet überwölbend, daß das Deutsche Volk von dem Willen beseelt ist, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Diese drei Textstücke formen zum einen eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Öffnung des deutschen Hoheitsraums derart, daß der Ausschließlichkeitsanspruch deutscher Hoheitsträger zur Hoheitsübung in Deutschland zurückgenommen werden kann. Und zugleich ist Artikel 23 GG eine Staatszielbestimmung der Bundesrepublik, an der Entwicklung der Europäischen Union konstruktiv mitzuwirken51.

II. Konkrete Botschaften Das knappe einschlägige Textgerüst beinhaltet mehrere Botschaften, die aus tiefer Einsicht in die unheilvolle Grammatik bitterster Leidenszeiten der europäischen Geschichte gesprochen sind. Die Normen bekennen zuallererst die Einsicht in das Scheitern des blinden Egoismus von Staaten und Nationen in Europa. Deshalb er49

Artt. 263, 267, 264 AEUV. Zur Mißverständlichkeit vgl. schon BVerfGE 37, 271, 279 (Begriff darf „nicht wörtlich genommen werden“). Rudolf Streinz, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 23 Rdz. 57. 51 Vgl. z. B. Rudolf Streinz, a.a.O., Art. 23 Rdz. 10. 50

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hofft die konditionierte Relativierung der staatlichen Alleinhoheit im eigenen Staatsgebiet zuallererst die allgemeine Chance zur konstruktiven Überwindung schadensstiftender Auswirkungen ungezähmt rivalisierender Staatlichkeiten. Diese Möglichkeit wurde vom Grundgesetz pionierhaft zu einem Zeitpunkt proklamiert, als es noch keine supranationale europäische Organisation gab. Das „Lissabon“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt ausdrücklich diese grundgesetzliche Botschaft, den staatlichen Alleinherrschaftsanspruch auf dem eigenen Gebiet zu Gunsten des friedlichen Zusammenwirkens der Nationen und der europäischen Integration zu modifizieren. Es bekräftigt explizit die Loslösung „von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit“52. Zugleich beinhaltet der jüngere Artikel auch die Hoffnung auf die Selbstbehauptung der Bundesrepublik mittels der Europäischen Union in den globalen Herausforderungen. Die Europäische Union wird durch diese Hervorhebung gerade nicht als eine völkerrechtliche Organisation wie jede andere gesehen (wie aber einzelne Aussagen des „Lissabon“Urteils anzudeuten scheinen53 ), sondern als die Konkretisierung eines Staatsziels. Darin schwingt die Einsicht in die Paradoxie mit, die eigene Souveränität einschränken zu müssen, um sie in veränderten Herausforderungen zu behaupten.

III. Auslegungsoffene Konditionen Die textlichen Ausgangspunkte der Offenheit zur supranationalen europäischen Integration sind allerdings nicht ohne Konditionen. Der vergleichsweise junge Art. 23 GG konkretisiert sie dahin, daß die Staatszielbestimmung der Mitwirkung nur für eine Europäische Union gilt, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpfl ichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährt“. Der Sinn dieser Maßstäbe liegt auf der Hand. Wenn Akte eines außerstaatlichen Hoheitsträgers in Deutschland grundgesetzlich generell anerkannt werden sollen, dann darf dieser außerstaatliche Hoheitsträger in seiner Wesensart nicht gänzlich fremdartig zu den Grundsätzen sein, die die Verfassungsordnung des Grundgesetzes kennzeichnen. Das Grundgesetz fordert jedoch andererseits mit seinen Strukturanforderungen an die Europäische Union nicht eine punktgenaue Identität der europäischen Ordnung zu derjenigen des Grundgesetzes, sondern konzeptionell sinnfällig und realitätsnah lediglich eine der Union „strukturangepasste Grundsatzkongruenz“54. Denn die Legitimation eines in seinen Hoheitsrechten von den Staaten55 – und über diese media52

Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 30. 6. 2009 (2 BvE 2/08 u. a.), BVerfGE 123, 267 Tz.

223. 53 So BVerfGE 123, 267 namentlich in Tz. 229, 233, 237, 264, 340 des Urteils; vgl. zum Aufwuchs allgemeiner völkerrechtlicher Topoi in der Argumentation des „Lissabon“-Urteils Peter-Christian Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, integration 2009, 354 f. 54 So Rudolf Streinz, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 23 Rdz. 22. So in der Sache zum Demokratieprinzip BVerfG 89, 155, 182. 55 Vgl. Peter M. Huber, a.a.O., S. 243, IV 8. Dies beinhaltet in den Mitgliedstaaten der EU zugleich

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tisiert den Völkern- abgeleiteten transnationalen Gemeinwesens erfordert spezifische Legitimationsverfahren. Die Schaffung einer europäischen Hoheitsordnung wäre zudem unmöglich, wollte jeder Mitgliedstaat auf die minutiöse Abbildung seiner nationalen Legitimationsverfahren auf europäischer Ebene bestehen. Einsichtig akzeptieren Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht daher einen teilweisen Wandel der Ordnung der Legitimationsverfahren und damit der Hoheitsordnung, die für die Bundesrepublik maßgeblich ist56. Gleichwohl beinhaltet Art. 23 GG auch einen Gestaltungsauftrag für die europäische Ebene. Soweit sich die Bundesrepublik in eine europäische Hoheitsordnung eingliedert, soll diese jedenfalls abstrakt Maßstäben entsprechen, die denen des Grundgesetzes wesensähnlich sind. Tatsächlich bekennt sich der Unionsvertrag in seinem Art. 2 S. 1 EUV seinerseits nahezu im Gleichklang zum Grundgesetz zur Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte als Werte der Europäischen Union, in Art. 3 Abs. 3 S. 1 zur „Sozialen Marktwirtschaft“ und in Art. 4 Abs. 2 zur Achtung der jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten, „die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“

C. Etappenweise Konturierung der (konditionierten) Offenheit des Grundgesetzes im hermeneutischen Dialog mit der Entwicklung des Europarechts Die an konstruktiven Konfl iktlösungen für das deutsche Gemeinwesen reiche sechzigjährige Geschichte des Grundgesetzes, seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und seiner breitflächigen Akzeptanz ist auch eine Geschichte der etappenweisen Konturierung der Offenheit der staatlichen Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht im hermeneutischen Dialog mit der Entwicklung des Europarechts. Naturgemäß vollzog sich diese inhaltliche Konkretisierung der grundgesetzlichen Maßstäbe anfänglich reaktiv zu der von Regierung und Parlament eingeschlagenen Integrationspolitik. Seit der Neuformulierung des Art. 23 GG im Umkreis des Vertrages von Maastricht und dem „Maastricht“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts57 sind jedoch auch präzeptorisch-gestalterische Elemente des Grundgesetzes für die europäische Integration und deren stärkere verfassungsgerichtliche Betonung für die Entwicklung des Europarechts erkennbar. Grob geschichtet läßt sich die verfassungsrechtliche Antwort auf die europarechtliche Entwicklung in Verbindung zu verschiedenen Integrationsschüben setzen: der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften (I), der ersten räumlichen Ausweitungsphase (II), der Verfeinerung der Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH bis zur Einheitlichen Europäischen eine über die jeweiligen Regierungen vermittelte demokratische Legitimation durch das jeweilige Volk; vgl. als weit gespannten Ansatz auf die Völker und Bürger Ingolf Pernice, a.a.O., S. 190: III 8–10. 56 Vgl. auch BVerfGE 123, 267 Tz. 219. 57 BVerfGE 89, 155 ff.

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Akte (III), der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht (IV) und der Verschmelzung von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Union durch den Vertrag von Lissabon (V).

I. Die grundgesetzliche Öffnung zur unmittelbaren und vorrangigen Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften bis 1972 Die Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG, EAG), die sich für den zwanzigjährigen Zeitraum des ursprünglichen Sechserbündnisses aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten zwischen 1951/52 und 1972, beginnend mit der Gründung der Montanunion (EGKS), ansetzen läßt, gab der verfassungsgerichtlichen Rechtspraxis nur wenig Anlaß, zu Fragen der grundgesetzlichen Integrationsoffenheit Stellung zu nehmen. Diese Phase war gemeinschaftsrechtlich in der EWG vor allem von der politischen Verwirklichung der Zollunion als Grundlage von Gemeinsamem Markt und Gemeinschaft sowie, wie gezeigt, den grundlegenden Urteilen des EuGH zum Verständnis des Gemeinschaftsrechts als eigener Rechtsordnung und, damit verbunden, dessen unmittelbarer und vorrangiger Anwendbarkeit geprägt58. Die wenigen einschlägigen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen aus jener Zeit zeigen eine sehr konstruktiv-offene Grundhaltung. So übernahm insbesondere im Jahre 1967 der Beschluß über die Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Verordnung des Rates und der Kommission der EWG59 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH60 dessen Grundaussagen zum Charakter des Gemeinschaftsrechts, um zu begründen, daß es sich bei einer Gemeinschaftsverordnung nicht um Akte der deutschen öffentlichen Gewalt im Sinne von § 90 BVGG handele. Das Gericht kennzeichnete derartige Verordnungen als „Akte einer besonderen, durch den Vertrag geschaffenen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten deutlich geschiedenen „supranationalen“ öffentlichen Gewalt“61. Es mag dahinstehen, ob der Begriff der öffentlichen „Gewalt“ zur Bezeichnung der spezifischen Hoheitsrechte der Gemeinschaften in diesem Kontext glücklich gewählt war62. Jedenfalls konturierte das Gericht das sekundäre Gemeinschaftsrecht im Einklang mit dem EuGH als eigene Rechtsordnung, die aus einer „autonomen Rechtsquelle“ fl ieße, das weder Völkerrecht noch nationales Recht sei63. Auch bringt bereits diese erste einschlägige Entscheidung die funktional-konstitutionelle Dimension des Primärrechts mit dem Satz zum Ausdruck: „Der EWGVertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar“64, der als Kon58

S. oben A II. Beschluss v. 18.10. 1967, BVerfGE 22, 293 ff. 60 Ebda., S. 296: EuGH, Slg. VIII, 97; Slg. X, 1251, 1270. 61 Ebda., 295 f., 297. 62 Weder standen der EWG noch stehen der Union Befugnisse zur physischen Durchsetzung gegen Widerstrebende zu. 63 BVerfGE 22, 296. 64 Ebda., 296. 59

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tinuum auch im „Lissabon“-Urteil von 2009 in der Bezeichnung des Völkervertrags- oder Primärrechts als „Verfassung Europas“ im Sinne einer „abgeleiteten Grundordnung“ und dem Topos der „Verfassung im funktionellen Sinne“ widerhallt65. Eher beiläufig wirkt dabei der abschließende Hinweis, daß mit dem Beschluß nicht entschieden sei, ob im Falle eines zulässigen Verfahrens Gemeinschaftsrecht an der Grundrechtsordnung der Bundesrepublik zu messen sei66. Vier Jahre später, 1971, wurde der Gedanke der autonomen Gemeinschaftsrechtsordnung vom Bundesverfassungsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH nachdrücklich bekräftigt. Im Beschluß über eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundesfi nanzhofs67 bestätigte es dessen auf ein EuGH-Urteil bezogene68 Entscheidung (unter mehrfacher eigener Bezugnahme auf die Judikatur des EuGH), den seinerzeitigen Art. 95 EWGV (Verbot diskriminierender oder protektiver indirekter Steuern) unmittelbar und vorrangig vor entgegenstehendem nationalen Umsatzsteuerrecht anzuwenden69. Einen Verstoß des Bundesfi nanzhofes gegen das Gewaltenteilungsprinzip (Kompetenz des nationalen Steuergesetzgebers) wies es mit klarer Begründung aus der Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts zurück70. Der Bundesfi nanzhof habe sich im Rahmen seiner Kompetenzen bewegt, da die Frage, ob eine innerstaatliche Vorschrift des einfachen Rechts mit einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unvereinbar und deshalb nicht anwendbar sei, in die Prüfungsund Verwerfungskompetenz der zuständigen Fachgerichte, nicht aber des Bundesverfassungsgerichtes, falle. Denn durch die Ratifizierung des EWG-Vertrages in Übereinstimmung mit Art. 24 Abs. 1 GG sei eine „eigenständige“ Gemeinschaftsrechtsordnung entstanden und daher sei der Bundesfi nanzhof auch an die Auslegung von Gemeinschaftsrecht durch den EuGH gebunden gewesen. Folgerichtig erkennt es, daß Art. 24 Abs. 1 GG nicht nur besage, „daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, daß die Hoheitsakte ihrer Organe, wie hier das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind.“71 Der Beschluss rezipiert mithin über die Öffnungsvorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG die vom EuGH ausgesprochene unmittelbare und vorrangige Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Raum als verfassungsrechtliches Gebot. Dieser Grundsatz erwuchs zur ständigen Rechtsprechung72. Sechzehn Jahre später akzep65 BVerfGE 123, 267 Tz. 231 des Urteils; das „Maastricht“-Urteil sprach von „Gemeinschaftsverfassung“; vgl. BVerfGE 89, 155, 212; zum funktionalen Verfassungsbegriff vgl. Ingolf Pernice, a.a.O., S. 189, II 3; Peter M. Huber, a.a.O., S. 196 ff., 199 ff. Peter-Christian Müller-Graff, Europäische verfassungsordnung, in: Dieter H. Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, 2003, S. 11, 15; ders., Verfassungsziele der EU/EG, in: Manfred A. Dauses (Hrsg.), Handbuch zum EU-Wirtschaftsrecht, 2000, A I Rdz. 67 ff. 66 BVerfGE 22, 298 f. 67 Beschluss v. 9. 6. 1971, BVerfGE 31, 145 ff., 151 ff. (Lütticke); belobigend Hans Peter Ipsen, Anmerkung, EuR 1972, 57 ff. 68 Ebda., 151: EuGH, Slg. XIV, 215. 69 Ebda., 151 ff., 169 ff., 173 ff. (Lütticke). 70 Ebda., 173 ff. 71 Ebda., 174. 72 Z. B. BVerfG, Beschluss v. 14. 2. 1983, NJW 1983, 1258 ff.; BVerfG, Urteil v. 28. 1. 1992, EuR 1993, 183 ff. (Nachtarbeitsverbot).

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tierte der Beschluss vom 8. 4. 1987 (Kloppenburg) diese Wirkung auch für nicht fristgemäß umgesetzte Richtlinien unter den vom EuGH entwickelten Voraussetzungen als eine vom Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag gedeckte Rechtsfortbildung73.

II. Errichtung der grundgesetzlichen Grenzlinie des Grundrechtsschutzes gegenüber sekundärem Gemeinschaftsrecht in der ersten räumlichen Ausweitungsphase des Gemeinschaftsrechts Die im Jahre 1973 vollzogene Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften durch den Beitritt von Britannien, Dänemark und Irland beinhaltete eine erste Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs des supranationalen Europarechts. Dies dämpfte zwar teilweise die (erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 machtvoll neu angeschobene) Legislativtätigkeit der EWG, nicht aber deren Administrativ- und Judikativtätigkeit. In die Anfangsphase dieser integrationsperspektivisch ambivalenten Zeit fällt die Errichtung einer ersten grundgesetzlichen Grenzlinie in Art. 24 GG durch das Bundesverfassungsgericht gegenüber den Anforderungen der unmittelbaren und vorrangigen Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht: aus dem Gedanken des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes gegenüber abgeleitetem (sekundärem) Gemeinschaftsrecht. In seinem berühmt gewordenen Beschluß vom 29. 5. 1974 („Solange I“)74, dem eine Vorlage des VG Frankfurt zur Vereinbarkeit von Regelungen der Gemeinsamen Marktordnung für Getreide mit dem Grundgesetz zugrundelag, bestätigte das Gericht zwar, daß Art. 24 GG die nationale Rechtsordnung für die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts öffne, stellte diese Öffnung aber in die Grenzen der Grundstruktur der Verfassung, zu der es (in sich stimmig) auch den Grundrechtsschutz zählt75. Gleichzeitig bestätigte es zwar eine Aufgabenteilung, nach der das Gemeinschaftsrecht eine autonome Rechtsordnung bilde, deren Akte nicht der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen76, unterstellte aufspaltend dieser Kontrolle aber die Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Behörden unter dem Gesichtspunkt eines umfassenden Grundrechtsschutzes77 (scil.: im Sinne des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes). Damit bejahte das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis die Zulässigkeit und Gebotenheit des konkreten Normenkontrollverfahrens und eine Prüfungskompetenz mit der berühmt gewordenen, aber von Anfang an umstrittenen Formel „solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen . . . Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist.“78 73

BVerfG, Beschluss v. 8. 4. 1987, BVerfGE 75, 223 ff. Beschluss v. 29. 5. 1974, BVerfGE 37, 271; kritisch dazu statt aller Hans Peter Ipsen, BVerfG versus EuGH – Grundrechte, EuR 1975, 1 ff. 75 BVerfGE 37, 280. 76 Ebda., 277 f., 281 f. 77 Ebda., 282. 78 Ebda., 271, 285. 74

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III. Die Anpassung der ersten grundgesetzlichen Grenzlinie durch Anerkennung der Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH bis zur Einheitlichen Europäischen Akte Angesichts der massiven Kritik des europarechtlichen Schrifttums an dieser Überlagerung statt Anerkennung der Aufgabe des EuGH zum Grundrechtsschutz gegenüber abgeleitetem Gemeinschaftsrecht79 und angesichts der sich entwickelnden, schon fünf Jahre vor dem Solange-I-Beschluss einsetzenden80 Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH81 begann das Bundesverfassungsgericht seine erste Grenzlinie bereits seit 1979 in kleinen Trippelschritten zu relativieren. So ließ es in seinem Beschluss vom 25. 7. 1979 („Vielleicht“), in dem es für primäres Gemeinschaftsrecht nur das Zustimmungsgesetz, nicht aber das Gemeinschaftsrecht selbst einer unmittelbaren grundgesetzlichen Prüfung für zugänglich erklärte und seine Bindung an die Auslegung primären Gemeinschaftsrechts durch den EuGH unterstrich82, offen, inwieweit der Prüfungsvorbehalt „angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich“ für künftige Vorlagen von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht „weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen könne“83. In der Entscheidung vom 23.6. 1981 („Eurocontrol I“84 ; inhaltlich bestätigt in „Eurocontrol II“85), die sich zwar nicht auf Gemeinschaftsrecht, sondern das Internationale Übereinkommen über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt von 1960 bezog, fi ndet sich die generalisierende Überlegung zu dem von Art. 24 Abs. 1 GG unaufgebbaren Grundgefüge der Verfassung zum Grundrechtsschutz, es sei nicht ein „in Umfang und Wirksamkeit in jeder Hinsicht“ dem gegenüber Akten der deutschen öffentlichen Gewalt gleichkommendes Rechtsschutzsystem erforderlich, doch müsse dieses den „Anforderungen an einen umfassenden und wirksamen Rechtsschutz“ genügen86. Schließlich bestätigte das Bundesverfassungsgericht in einem Nichtannahmebeschluß vom 14. 2. 1983 die innerstaatliche Verbindlichkeit von EWG-Verordnungen mit „Eingriffscharakter“ auf Grund des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag und ließ nunmehr schon akzentuierter dahinstehen, ob es von seinem Prüfungsvorbehalt solange nicht mehr Gebrauch mache, wie gemeinschaftsrechtlich „. . . gemessen am Grundgesetz, ausreichender Grundrechtsschutz . . . generell gewährleistet erscheint.“87 Der damit von langer Hand vorbereitete Wandel der Bewertung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes vollzog sich schließlich ausdrücklich in der gleichermaßen bekannten „Solange II“-Entscheidung vom 22. 10. 1986, mit dem das Bundesverfassungsgericht seinen Prüfungsvorbehalt in Umkehr der Solange-Formel zurückstellte, „solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grund79

Vgl. statt aller Hans Peter Ipsen, BVerfG versus EuGH – Grundrechte, EuR 1975, 1 ff. EuGH, Slg. 1969, 419 (Stauder/Ulm). 81 Vgl. namentlich EuGH, Slg. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft); Slg. 1974, 491 (Nold); Slg. 1979, 3727 (Hauer). 82 Beschluss v. 25. 7. 1979, BVerfGE 52, 187 ff., 199 ff. 83 Ebda., 202 f. 84 Beschluss v. 23. 6. 1981, BVerfGE 58, 1 ff. 85 Beschluss v. 10. 11. 1981, BVerfGE 59, 63 ff. 86 BVerfGE 58, 41. 87 Beschluss v. 14. 2. 1983, NJW 1983, 1258, 1259. 80

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rechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, . . .“88 Dieser Linie folgten mehrere nachfolgende Entscheidungen89. Keineswegs zog das Gericht damit allerdings die Konsequenz, den Kontrollmaßstab des Grundgesetzes und seine Kontrollzuständigkeit bei Anwendung des sekundären Gemeinschaftsrechts gänzlich aufzugeben, was angesichts des Zustimmungsgesetzes zur jurisdiktionellen Kontrollaufgabe des EuGH gegenüber Maßnahmen der Gemeinschaft geboten gewesen wäre. Tatsächlich wurde der Prüfungsvorbehalt in nachfolgenden Entscheidungen wiederholt betont: so namentlich bei der Zurückweisung eines Antrags auf einstweilige Verfügung gegen die Mitwirkung der Bundesregierung bei der Tabak-Etikettierungsrichtlinie90, im „Maastricht“-Urteil91, im Bananenmarktbeschluss92 und im „Lissabon“-Urteil93, ohne daß jedoch seitens des Bundesverfassungsgerichts je ein Gemeinschaftsakt wegen Verletzung des grundgesetzlich gebotenen Grundrechtsschutzes für unanwendbar in der Bundesrepublik erklärt worden wäre.

IV. Die textlichen und interpretatorischen Neuerungen des Grundgesetzes bei und nach Gründung der Europäischen Union, insbesondere die Grenzlinie des Demokratieprinzips Die Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht von 1992 mit dem darin enthaltenen neuen Ziel der Währungsunion und der Zuordnung neuer Kompetenzen an den nunmehr in Europäische Gemeinschaft umbenannten Rechtsträger im Gefolge der großen europäischen Epochenzäsur von 1989/1990 hatte grundgesetzlich sowohl textliche als auch interpretatorische Folgen für die Entwicklung des Europarechts. Textlich schuf das Gesetz vom 21. 12. 1992 die beschriebene neue grundgesetzliche Grundlage des Art. 23 GG mit seiner Öffnung und strukturellen Konditionierung für die Mitwirkung der Bundesrepublik an der Europäischen Union. Wenig später substantiierte das „Maastricht“-Urteil vom 12. 10. 199394 eine neue grundgesetzliche Grenzlinie, zu der es erstmals den neu gefaßten 88 Beschluss v. 22. 10. 1986, BVerfGE 73, 339, 340, 387; dazu statt aller Hans Peter Ipsen, Das Bundesverfassungsgericht löst die Grundrechtsproblematik, EuR 1987, 1 ff.; s. auch Meinhard Hilf, Solange II: Wie lange noch Solange?, EuGRZ 1987, 1 ff.; Christoph Vedder, Ein neuer gesetzlicher Richter?, NJW 1987, 526 ff. 89 Vgl. nachfolgende Fundstellen. 90 Beschluss v. 12. 5. 1989, NJW 1990, 974; dazu einerseits Gert Nicolaysen, Tabakrauch, Gemeinschaftsrecht und Grundgesetz, EuR 1989, 215 ff.; Ulrich Everling, Brauchen wir Solange III?, EuR 1990, 185 ff.; andererseits Rupert Scholz, Wie lange noch bis Solange III?, NJW 1990, 941 ff.; Urteil v. 12. 10. 1993, BVerfGE 89, 155 ff. (Vertrag von Maastricht). 91 BVerfGE 89, 155 ff. 92 Beschluss v. 7. 7. 2002, BVerfGE 102, 147 (Bananen-Marktordnung). 93 BVerfGE 123, 268. 94 BVerfGE 89, 155 ff.; zustimmend z. B.: Volkmar Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1993, 1081 ff.; kritisch z. B.: Dieter H. Scheuing, Bericht in: 17. FIDE-Kongreß 1996, Band I, S. 70 ff., 97 ff.; Christian Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, 489 ff.; Jürgen Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungs-

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Art. 23 GG heranzog: die Grenze des Demokratieprinzips sowohl gegenüber primärrechtlichen Entwicklungen als auch gegenüber Sekundärrecht unter dem Gesichtspunkt des Integrationsprogramms („ausbrechender Rechtsakt“; im „Lissabon“-Urteil: „ultra vires“95). Zugleich nutzt es diesen archimedischen Punkt des grundgesetzlichen Demokratieprinzips, um das Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde mittels des Gedankens der Beeinträchtigung des Wahlrechts zum Bundestag (Art. 38 GG) als des demokratischen Teilhaberechts gegen europarechtliche Entwicklungen zu aktivieren, die die Befugnisse des Bundestags aushöhlen oder aus dem ratifizierten Integrationsprogramm ausbrechen. Und unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung erstreckte es die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Grundrechtsschutzes gegenüber deutschen Staatsorganen nunmehr auf „den Grundrechtsschutz in Deutschland“, mithin auch auf Akte „einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation“, versicherte aber ohne nähere Konkretisierung, es übe seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem „Kooperationsverhältnis“ zum EuGH aus.96 Die inhaltlichen Grenzen der verfassungsändernden Integrationsgewalt werden unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips als Schranken der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG bestimmt. Danach hindert das Demokratieprinzip Deutschland zwar nicht an der Mitgliedschaft in einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft97, doch müssen dem Bundestag Aufgaben von substantiellem Gewicht verbleiben98. Der Ausdehnung der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften setzt es daher vom einzelstaatlich radizierten demokratischen Prinzip her Grenzen99. Auf dieser konzeptionellen Spur bewegen sich auch die Überlegungen im „Lissabon“-Urteil, in dem das Bundesverfassungsgericht die Zustimmung zur Verleihung von Kompetenzen in der Strafrechtspflege nur im Licht der „gebotenen“ und vom ihm erläuterten engen Auslegung dieser Befugnisse für grundgesetzkonform hält100. Die Anforderungen des Demokratieprinzips setzen sich im „Maastricht“-Urteil auch im Gedanken der Grenzlinie des ratifizierten Integrationsprogramms für Gemeinschaftsakte und der daraus abgeleiteten Konsequenzen des „ausbrechenden“ Rechtsaktes“ und der fehlenden Bindungswirkung einer vertragserweiternden Auslegung von Befugnisnormen in Deutschland fort101. Daran ist europarechtlich selbstverständlich, dass ein Sekundärrechtsakt, der ohne primärrechtliche Kompetenznorm erlassen wurde (also aus dem ratifizierten Integrationsprogramm „ausbricht“), über ein entsprechendes Verfahren vor dem EuGH als nichtig (bzw. je nach Verfahrichtervorbehalt, NJ 1994, 1 ff.; Meinhard Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates in der europäischen Integration, DVBl. 1004, 316 ff. 95 BVerfGE 123, 267 Tz. 240. 96 BVerfGE 89, 156 Leitsatz 7. 97 Ebda., 184. 98 Ebda., 186; in Anwendung auf den Vertrag von Maastricht, 207. 99 Ebda., 186. 100 BVerfGE 123, 267 Tz. 355 ff. 101 BVerGE 89, 156: Leitsätze 5 und 6; 210.

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ren als ungültig oder unwirksam) erkannt werden kann102 (z. B. so z. B. die Tabakwerberichtlinie 98/43/EG103 ). Erstaunlich ist jedoch, wenn das Bundesverfassungsgericht für die Prüfung einen zum Europarecht selbständigen Prüfungsmaßstab und für sich eine eigenständige Kriterienformulierungs- und Verwerfungskompetenz reklamiert104. Dieser Ansatz fand und fi ndet Kritik105, die wegen der im Einklang mit Art. 24 Abs. 1 GG ratifizierten Aufgabenzuweisung an den EuGH auch eine verfassungsrechtliche Grundlage hat. Der Fall einer vom Bundesverfassungsgericht eigenständig erklärten Unanwendbarkeit eines „ausbrechendenden“ Sekundärrechts blieb auch bis heute aus. Eine derartige Konsequenz wurde auch nicht im Verfahren um die Quotenregelung der Fernseh-Richtlinie 89/552/EWG in der allerdings anders gelagerten Frage einer Verletzung der Rechte der Länder durch die Bundesregierung gezogen, die vom Bundesverfassungsgericht bejaht wurde106. Bemerkenswert und zutreffend daran ist, daß das Urteil die interne Verletzung des grundgesetzlichen Bund-LänderVerhältnisses nicht auf die Wirksamkeit eines Gemeinschaftaktes durchschlagen läßt. Es verpfl ichtet aber sowohl aus dem Prinzip der Bundestreue als auch der Gemeinschaftstreue einleuchtend die Bundesregierung, im Rat bei einem Beschlußgegenstand, der innerstaatlich in die Länderkompetenz fällt, im Falle eines Beschlußverfahrens mit Mehrheitsentscheidung das aus der Gemeinschaftstreue folgende Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme zur Geltung zu bringen. Konsequenterweise liegt darin eine bundesverfassungsrechtliche Verpfl ichtung der Bundesorgane, „einer langfristigen Entwicklung entgegenzuwirken, bei der durch eine schrittweise ausdehnende Inanspruchnahme der Gemeinschaftskompetenzen, vor allem der Querschnittskompetenzen, verbliebene Sachkompetenzen der Mitgliedstaaten und damit auch Länderrechte beeinträchtigt werden.“107 Die bundesstaatlichen Erfordernisse im Innenverhältnis für Angelegenheiten der europäischen Integration sind in mehreren Reformschüben des Grundgesetzes (zuletzt durch die Föderalismusreform) auf den derzeitigen Stand des Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG gebracht und verleihen Bundesrat und Ländern ein hinreichendes Einflußpotential, das das innerstaatliche Kompetenzverhältnis im Grundsatz kompromißartig abbildet. Sie nehmen die Länder damit zugleich in eine bundesstaatliche Integrationsverantwortung nach innen und außen108. 102

Artt. 263, 267, 277 AEUV. EuGH, Slg. 2000, I-8419. 104 So läßt sich in BVerfGE 89, 156 die Kombination der Leitsätze 5 und 6 sowie S. 188 und 201 durchaus verstehen, weil unter der „Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften“ (210) auch diejenige des EuGH gefaßt werden kann; bestätigt durch BVerfGE 123, 267 Tz. 238, 240, 333, 338. 105 Vgl. dazu statt aller die umsichtige Kritik von Herbert Steinberger, Anmerkungen zum MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Peter Hommelhoff/Paul Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 25, 31 ff. 106 Urteil v. 22. 3. 1995, BVerfGE 92, 203 ff.; vgl. dazu Peter-Christian Müller-Graff/Anja Reichel, Die Europäische Integration aus der Sicht der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte, in: Mathias Jopp / Andreas Maurer / Heinrich Schneider (Hrsg.), Europapolitische Grundverständnisse im Wandel, 1998, 365, 375 ff. 107 BVerfGE 92, 203. 108 Vgl. dazu Peter-Christian Müller-Graff, Die Europatauglichkeit der grundgesetzlichen Föderalismusreform, in: Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz (hrsg. von Rainer Pitschas und Arnd Uhle), 2007, S. 705 ff.; s. auch ders., The German Länder: Involvement in 103

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V. Die Entwicklung der Verfassungsidentität und der Integrationsverantwortung anläßlich der Lissabonner Verschmelzung von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Union Der jüngste Schritt in der Konkretisierung grundgesetzlicher Grenzlinien durch das Bundesverfassungsgericht erfolgte aus Anlaß der Verschmelzung von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Union durch den Vertrag von Lissabon und dem damit verbundenen Aufwuchs supranationaler Befugnisse109 im „Lissabon“-Urteil vom 30. 6. 2009110. Seine Begründung nimmt die Neuerungen der Vertragsreform umfänglich als Sachverhalt der verfassungsrechtlichen Bewertung auf. Zum einen werden die schon zuvor herausgestellten grundgesetzlichen Grenzlinien und Kontrollansprüche supranationaler Integration bestätigt und terminologisch teils schärfer akzentuiert (Demokratieprinzip111, „ultra vires“-Kontrolle112 ). Insbesondere entfaltet das Urteil verfassungsrechtlich das Demokratieprinzip mit potentieller „Außenwirkung“ als Gegenspieler weitreichender Integration (gegenüber Vertragsänderungen und Sekundärrecht) und mit „Innenwirkung“ für Bundestag und Bundesrat als Integrationsverantwortung in Fällen der „dynamischen Vertragsentwicklung“113. Zum anderen setzt das Urteil mit dem Gedanken des grundgesetzlichen Gebots der Erhaltung der Verfassungsidentität114 einen vorläufigen summarischen Schlußstein aus Artt. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. 79 Abs. 3 GG. Dadurch werden die von Art. 23 Abs. 1 S. 3 ausdrücklich in Bezug genommenen unveräußerlichen Verfassungsgrundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG umfaßt und der Norm in Verbindung mit dem Demokratieprinzip zugleich die Garantie der souveränen Staatlichkeit entnommen115, eine Kategorie, die in Frankreich seit jeher den -insgesamt für die Entwicklung des Europarechts aber folgenlosen- Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen des Conseil Constitutionnel zur europäischen Integration bildet.116 Daraus zieht das Urteil den Schluß, die Eingliederung der Bundesrepublik in einen europäischen Bundesstaat als EC/EU Law and Policy Making, in: Stephen Weatherill / Ulf Bernitz (eds.), The Role of Regions and Sub-National Actors in Europe, 3005, p. 103 et seq.; ders., La Fonction Représentative d’un Etat fédéral dans l’Union Européenne, in: Die Herausforderung von Grenzen. Festschrift für Roland Bieber (hrsg. von Astrid Epiney / Marcel Haag / Andreas Heinemann), 2007, S. 387 ff. 109 Vgl. zu dessen Grundlinien z. B. Peter-Christian Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Europäischen Primärrechts, integration 2008, 123 ff. 110 Vgl. dazu z. B. Peter Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht IIEntscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 ff.; Peter-Christian Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, interation 2009, 331 ff. m. w. N.; ders., Das Lissabon-Urteil: Implikationen für die Europapolitik, APuZ Nr. 18/2010, S. 22 ff.; Christian Tomuschat, The Ruling of the German Constitutional Court on the Treaty of Lisbon, in: German Law Journal 8/2009, S. 1260ff. 111 BVerfGE 123, 267 Tz. 207 ff., 274. 112 BVerfGE 123, 267 Tz. 240; s. auch Tz. 333; modifi ziert durch BVerfG, Beschluß v. 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06. 113 BVerfGE 123, 267 Tz. 411 ff. 114 BVerfGE 123, 267 Tz. 219. 115 BVerfGE 123, 267 Tz. 216. 116 Vgl. als Analyse der französischen Judikatur im einzelnen bis 1993 Peter-Christian Müller-Graff / Anja Reichel, a.a.O., S. 378 ff., 397; zur Handhabung des Konzepts der nationalen Souveränität durch die Corte Costituzionale bis 1995, ebda. S. 398 ff., 409 f.

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unvereinbar mit dem GG zu erklären und ein solches Vorhaben auf den Weg einer neuen Verfassung nach Art. 146 GG zu verweisen117. Abgesehen von der fehlenden Aktualität dieser Frage und den im Schrifftum aus der Entstehung des Grundgesetzes und seiner Präambel geäußerten Zweifel an dieser Schlußfolgerung118 bleibt naturgemäß unklar, welche Beschaffenheit im Verhältnis von Kern und Gliedern ein derartiger „europäischer Bundesstaat“ aufweisen müßte, um mit Art. 79 Abs. 3 GG zu kollidieren. Das Grundmuster der Europäischen Union ist davon jedenfalls auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts („Staatenverbund“) nicht erfaßt119.

D. Die Zwischenbilanz 2010 als Orientierung für die Zukunft des supranationalen Europarechts und des Grundgesetzes in Europa Vor dem Hintergrund der bis zum Jahre 2010 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgewachsenen konditionierten Offenheit des Grundgesetzes läßt sich eine Zwischenbilanz als Orientierung für die wechselseitige Verbindung der Zukunft des supranationalen Europarechts in Deutschland (I) und derjenigen des Grundgesetzes in Europa (II) versuchen.

I. Die grundgesetzliche Zukunft des supranationalen Europarechts in Deutschland Aussagen zur grundgesetzlichen Zukunft des supranationalen Europarechts in Deutschland lassen sich für dessen Wirkung, Rechtsprechung und Rechtsetzung treffen.

1. Die Zukunft der supranationalen Wirkung des Europarechts Hinsichtlich der Wirkung werden kategorial weder die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung ausgesprochene unmittelbare Anwendbarkeit noch der Anwendungsvorrang des supranationalen Unionsrechts vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich in Frage gestellt. Anderes stünde auch im Widerspruch zur Integrationsoffenheit des Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon, in dessen Folge Art. 19 EUV (als Nachfolgenorm zu Art. 220 EGV) den EuGH mit der Wahrung des Rechts beauftragt, wozu auch die Klarstellung der rechtlichen Eigenheiten des Unionsrechts zählt. Allerdings relativiert das „Lissabon“-Urteil beide Eigenschaften für den Fall des „ersichtlich“ fehlenden „konstitutiven Rechtsanwendungsbefehls durch das Zustimmungsgesetz.120 Dies betrifft in seinem Ansatz Fälle, in denen entweder ein „UltraVires“-Handeln vorliegt oder in den vom ratifizierten Integrationsprogramm abgesi117

BVerfGE 123, 267 Tz. 228. So namentlich Carl Otto Lenz, Ausbrechender Rechtsakt, F. A. Z. v. 8. 8. 2009, S. 8. 119 BverfGE 123, 267 Tz. 276 ff.; Dies ergibt sich auch im Gegenschluss aus den Ausführungen zum Erhalt der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik. 120 So BVerfGE 123, 267 Tz. 339, 342 f. 118

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cherten Kernbereich der substantiellen demokratischen Selbstgestaltung des Bundestags eingegriffen wird oder der Grundrechtsschutz durch den EuGH generell nicht hinreichend gewährleistet wird. Die Nichtanwendbarkeit eines „ultra-vires“-Aktes ist eine selbstverständliche Folge in Fällen, in denen der EuGH eine unionale Maßnahme erga omnes für nichtig (Art. 263 AEUV) oder inter partes für ungültig oder unwirksam (Artt. 267, 277 AEUV) erklärt. Weder verfassungs- noch europarechtlich überzeugend wäre hingegen ein derartiger, vom „Lissabon“-Urteil für möglich gehaltener Wirkungsausschluß in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht im Sinne einer „äußeren Kontrolle“ ohne die Grundlage einer entsprechenden Entscheidung durch den EuGH“121. Denn wird die Ungültigkeit einer unionalen Maßnahme vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht und kommt es auf eine Entscheidung dieser Frage in dem anhängigen Verfahren an, ist das Bundesverfassungsgericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpfl ichtet, diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen, und ist an dessen Entscheidung gebunden. Im Interesse der Rechtseinheit der unionalen Rechtsgemeinschaft und des horizontalen wie vertikalen Gewaltenteilungsprinzips der Union ist die Verwerfung eines unionalen Rechtsaktes dem EuGH vorzubehalten.

2. Die Zukunft der supranationalen Rechtsprechung Die aus dem Grundgesetz abgeleitete Inanspruchnahme eines autonomen Rechts des Bundesverfassungsgerichts, unionale Maßnahmen in der Bundesrepublik für unanwendbar zu erklären, umfaßt nach dem „Lissabon“-Urteil gegebenenfalls auch Entscheidungen des EuGH122. In diesem Anspruch liegt eine weitere Gefährdung der europäischen Rechtsgemeinschaft. Er basiert auf einer Auslegung des Art. 23 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zur Aufgabeneinsetzung des EuGH123, die – anders als die frühere Rechtsprechung und das „Maastricht“-Urteil schärfend – diesem seine ausschließliche Letztentscheidungsbefugnis („Endgültigkeit des Richterspruchs“) in der Auslegung unionaler Kompetenz- und Sachnormen mit Wirkung für alle Mitgliedstaaten abspricht124. Damit wird aber die vielleicht größte rechtliche Errungenschaft der supranationalen europäischen Integration in Frage gestellt, ein gemeinsames Gericht bei Auslegungsdivergenzen verbindlich für alle beteiligten Staaten entscheiden zu lassen. Die verbale Einschränkung derartiger Kontrolle durch das „Lissabon“-Urteil auf Ausnahmefälle ändert nichts daran, daß allein der Anspruch den Grundsatz der Rechtsgemeinschaft zu relativieren geeignet ist. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß die Position des Bundesverfassungsgerichts von Gerichten in anderen Mitgliedstaaten als argumentativer Rückhalt für die Verwerfung der Anwendbarkeit eines unionalen Rechtsakts in ihrem Jurisdiktionsbereich genutzt wird125. Das Ideal der judikativen europäischen Rechtsgemeinschaft kann daher mit dem „Lissabon“-Urteil nur dann leben, wenn das Bundesverfassungsgericht in ein121 122 123 124 125

So aber BVerfGE 123, 267 Tz. 238. BVerfGE 123, 267 Tz. 240, 333 f. Art. 19 Abs. 1 EUV. BVerfGE 123, 267 Tz. 338. Dieses Problem betonte schon Herbert Steinberger in seiner Kritik am „Maastricht“-Urteil (a.a.O.).

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schlägigen Fällen, in denen es auf die Auslegung von Unionsrecht oder die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht ankommt, diese Fragen mit Darlegung seiner eigenen Einschätzung dem EuGH vorlegt und sodann dessen Spruch folgt. Erstmals deutet das Bundesverfassungsgericht eine derartige Vorlagebereitschaft im Beschluss v. 6. 7. 2010 (2 BvR 2661/06) als Ausdruck des Prinzips der europafreundlichen Ausübung der „ultra-vires“-Kontrolle an. Aus Art. 23 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zu Art. 19 EUV, Artt. 251 ff. AEUV folgt aber auch, dass zum Zweck der Rechtseinheit der unionalen Rechtsgemeinschaft und des doppelten Gewaltenteilungsprinzips ( Judikative/Legislative/Administration; Union/Mitgliedstaaten) die Verwerfung eines unionalen Rechtsaktes dem EuGH vorzubehalten ist. Nicht dem Prinzip nach, wohl aber in der Tendenz wirkt in diese Richtung die Erhöhung der Voraussetzungen für die beanspruchte autonome Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts durch den Beschluss v. 6. 7. 2010. Denn danach bedarf es nunmehr eines „hinreichend qualifizierten“ Kompetenzverstoßes der europäischen Organe und Einrichtungen, der wiederum voraussetzt „dass das Handeln der Unionsgewalt offensichtlich kompetenzwidrig ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.“

3. Die Zukunft der supranationalen Rechtsetzung Im Hinblick auf die künftige unionale Rechtsetzung auf der Grundlage des bestehenden (also vereinbarten und ratifizierten) primären Unionsrechts entzieht sich diese als Unionsagenda im Grundsatz naturgemäß jeglicher Überlagerung durch Maßstäbe des Grundgesetzes mit rechtlicher Wirkung für die gesamte Union.

a. Die Maßgeblichkeit des primären Unionsrechts Maßgeblich ist insoweit allein das primäre Unionsrecht. Dies wird insbesondere für die Dauerfrage der hinreichenden demokratischen Legitimation unionaler Rechtsetzung vom „Lissabon“-Urteil erneut bestätigt. Die vorgetragene Kritik an einem unzureichenden Legitimationsstand wird vom Bundesverfassungsgericht im Ergebnis zurückgewiesen. Zu Recht wird erneut erkannt, daß die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich ausgesprochene Bindung der Unionsentwicklung an demokratische Grundsätze nicht einen Gleichlauf des unionalen Legitimationsverfahrens mit den Legitimationsverfahren innerstaatlicher Rechtsetzung beinhaltet126, weil die Union nicht die drei kategorialen Elemente der Staatseigenschaft erfüllt, insbesonders normativ nicht über ein Unionsvolk verfügt, und deshalb als organisationelles Aliud ein anderes Legitimationsverfahren ermöglicht. Das im Hinblick auf diese Besonderheiten primärrechtlich ausgestaltete Legitimationsniveau wird vom „Lissabon“-Urteil als „noch“ hinreichend bewertet127. 126 127

BVerfGE 123, 267 Tz. 219, 227, 252 ff. BVerfGE 123, 267 Tz. 275.

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Richtigerweise erfordert die ratifi zierte Konzeption der Union als eines transnationalen Gemeinwesens128 mit Legislativrechten auf vertraglicher Grundlage129 auch ein anderes, nämlich ein ihr gemäßes Legitimationsverfahren, das sich binär aus zwei Wurzeln speist: aus der staatlichen Repräsentanz und aus der demokratischen Repräsentanz. Diesem Petitum trägt das durch die Lissabonner Reform novellierte Primärrecht des nunmehr so genannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens im Dreieck von Kommission, Europäischem Parlament und Rat130 in signifi kant verbesserter Weise Rechnung. Die wichtigste Neuerung betrifft den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit im Rat, die ab 1.November 2014 als doppelte Mehrheit defi niert wird131. Die staatlich repräsentierte Legitimation basierte zwar bereits vor der Reform auf dem Gleichheitsgrundsatz. Denn die Beschlußfassung des Rates setzte auch in der Variante der qualifizierten Mehrheit die völkerrechtliche Staatengleichheit insoweit voraus, als sie zusätzlich zu der ponderierten Stimmenzahl der qualifizierten Mehrheit die Zustimmung der (einfachen oder zweidrittigen) Mehrheit der Mitglieder des Rates erforderte (Art. 205 Abs. 2 EGV). Durch die Lissabonner Reform wird jedoch auch der demokratischen Repräsentanz über den Rat zusätzliches Gewicht verschafft. Wiewohl die Legitimationsquelle des jeweiligen Ratsmitglieds der jeweils staatliche Demos ist, ist der Übergang vom bisherigen politischen Kompromißmodell der proportional degressiven Stimmenponderierung der Mitglieder des Rats hin zum Modell der demographisch streng proportionalen Repräsentanz (Art. 16 Abs. 4 EUV) grundsätzlich ein Gewinn an Bürgergleichheit in der Union. Zwar denkt dieses Modell weder in der Kategorie eines europäischen Demos noch in der strikten Kategorie der Unionsbürgerschaft, sondern in derjenigen der – nach Mitgliedstaaten gegliederten – Gesamtbevölkerung der Union. Indes spiegelt sich darin doch der demokratische Grundgedanke der Mehrheitsentscheidung wider. Damit bestimmt das demographische Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und dessen Entwicklung deren jeweiliges Einflußgewicht in der Union.132 Hinzu kommen insbesondere die Stärkung der demokratischen Legitimation vermittels des (freilich unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der Repräsentanz der Unionsbürger weiterhin nicht hinreichend zusammengesetzten133 ) Europäischen Parlaments mittels der sachgebietlichen Ausweitung des bisherigen Mitentscheidungsverfahrens sowie die behutsame Einbeziehung der nationalen Parlamente über das Subsidiaritätsprotokoll im allgemeinen134 und im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren der Entscheidungsregeln im besonderen135. 128 Zu dieser Kategorisierung der Europäischen Gemeinschaft vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Europäische Verfassungsordnung – Notwendigkeit, Gestalt und Fortentwicklung – in: Dieter H. Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, 2003, S. 11 ff., 20 f. 129 Artt. 289, 294 AEUV i. V. m. der jeweiligen Einzelermächtigung, z. B. Art. 114 AEUV. 130 Art. 294 AEUV. 131 Art. 16 Abs. 4 EUV. 132 Vgl. dazu Josef Schmid, Das demographische Profi l Deutschlands und seine Stellung innerhalb der Europäischen Union, in: Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Deutschlands Rolle in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2009, S. 31 ff. 133 Dies wird vom „Lissabon“-Urteil zutreffend vermerkt: BVerfGE 123, 267 Tz. 287. 134 Artt. 6 und 7 des Protokolls (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. 135 Art. 48 Abs. 7 EUV.

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b. Der Einfluss des Grundgesetzes Trotz der Maßgeblichkeit des primären Unionsrechts hat die Auslegung des Grundgesetzes durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Mitwirkung der Bundesrepublik an der Entwicklung der Europäischen Union für die unionale Legislation inhaltsbeeinflußendes und prozedurales Potential. Inhaltsbeeinflußend wirkt – jenseits der allgemeinen Einwirkungsmöglichkeiten nationaler Rechtsordnungen auf die Schaffung von Europarecht136 – insbesondere der (wenn auch weder unionsrechtlich noch verfassungsrechtlich stichfeste) Warnhinweis auf eine autonome Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Verwerfung der Anwendbarkeit eines unionalen Rechtsaktes in oder für die Bundesrepublik. Denn dieser Hinweis ist mit zwei möglichen Anwendungskonstellationen verbunden, deren zweite infolge der Grundgesetzkonformität aller bisherigen Zustimmungsgesetze allerdings nur eine Variante der ersten ist: zum einen die Überschreitung einer begrenzten Einzelermächtigung („ultra vires“), die vom „Lissabon“-Urteil nunmehr, rezeptiv zum Europarecht, auch zu einem verfassungsrechtlichen Prinzip der Kompetenzzuordnung an die Union erklärt wird137; zum anderen der Eingriff in den Kernbereich substantieller, dem nationalen Gesetzgeber verfassungsrechtlich vorbehaltener Gestaltungsspielräume, die vom „Lissabon“-Urteil im Hinblick auf die neuen Unionskompetenzen mittels eines grundgesetzlichen engen Auslegungsverständnisses (namentlich im Bereich der Strafrechtspflege138 und der Gemeinsamen Handelspolitik139 ) und damit der Errichtung von „intra vires“-Grenzschildern markiert werden. Auch wenn es sich dabei lediglich um Auslegungsdirektiven aus der speziellen Sicht der grundgesetzlich noch zulässigen Souveränitätsöffnung (mittels Kompetenzeinräumung) handelt, wird der unionale Gesetzgeber, will er das Risiko der Nichtanwendbarkeit einer grenzwertigen Bestimmung in der Bundesrepublik vermeiden, die Auslegungsbegrenzung des Lissabon-Urteils in seine Gestaltungsüberlegungen vernünftigerweise jedenfalls miteinbeziehen. Prozedurales Gewicht für unionale Rechtsetzung entfalten demgegenüber die vom „Lissabon“-Urteil verfassungsrechtlich als „dynamische Vertragsentwicklung“ profilierten Fälle des nationalen Gesetzeserfordernisses als Voraussetzung für das Abstimmungsverhalten des deutschen Ratsmitglieds140. Dieses steigert gewiß die nationale demokratische Legitimation des Vertreters, der befugt ist, für die Regierung verbindlich zu handeln. Es wird aber auch Initiativen und Inhalt der unionalen Rechtsetzung in den betroffenen Entscheidungsfällen, die Einstimmigkeit erfordern, nicht unberührt lassen, sondern den unionalen Gesetzgeber vernünftigerweise dazu bewegen, die Positionen der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gleichermaßen prophylaktisch zu berücksichtigen oder eine in Deutschland unter Gesetzesvorbehalt stehende Ermächtigungsgrundlage des Primärrechts zu vermeiden. Dies mag im 136 Vgl. dazu Peter-Christian Müller-Graff, Die Einwirkung nationalen Rechts auf das Europäische Gemeinschaftsrecht, in: Festschrift für Horst Konzen (hrsg. von Barbara Dauner-Lieb / Peter Hommelhoff / Matthias Jacobs / Dagmar Kaiser / Christoph Weber), 2006, S. 583 ff. 137 BVerfGE 123, 267 Tz. 234, 298. 138 BVerfGE 123, 267 Tz. 355 ff. 139 BVerfGE 123, 267 Tz. 375 ff. 140 BVerfGE 123, 267 Tz. 411 ff.

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Frühjahr 2010 bereits eine Rolle dafür gespielt haben, dass die Verordnung zur Errichtung eines Europäischen Finanzmarktstabilisierungsmechanismus nicht auf die Abrundungskompetenz des Art. 352 AEUV, sondern – nicht problemfrei – auf die Notfallklausel des Art. 122 Abs. 2 AEUV gestützt wurde.141

4. Die Zukunft der Primärrechtsetzung Schließlich ist die Zukunft der Primärrechtsetzung unverändert an die Vereinbarkeit mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben aller Mitgliedstaaten gebunden. Unionsrechtlich wiederholt Art. 48 EUV insoweit nur die bisherige Rechtslage. Dass das „Lissabon“-Urteil insoweit aus Art. 79 Abs. 3 GG die Schranken des Erhalts substantieller Gestaltungsspielräume des Bundestags142, der Verfassungsidentität143 und der souveränen Staatlichkeit144 ableitet, scheint künftige primärrechtliche Kompetenzerweiterungen der Union auf den ersten Blick zu erschweren. Indes sind die Schranken mit hoch abstrakten und auslegungsbedürftigen Begriffen umschrieben. Sie bringen Primärrechtsnovellen vor ihrer Ratifi kation in den Kreis judikativer Überprüf barkeit, werden sinnfälligen Neuerungen letztlich aber nicht im Wege stehen und können deren Akzeptanz innerstaatlich argumentativ sogar erhöhen. Gegen eine derartige Überprüfung ist nichts einzuwenden, solange sich das Bundesverfassungsgericht im Blick auf die Folgen seiner Entscheidungen gerade auch im transnationalen Verhältnis seiner spezifischen Rolle im System der grundgesetzlichen Gewaltenteilung wie bisher bewußt bleibt. Hierbei wird es auch zu beachten haben, dass Auftrag und konditionierte Offenheit des Grundgesetzes zur Mitwirkung an der supranationalen europäischen Integration das Verständnis staatlicher Souveränität verändert. Es stellt neben die Dimension der Binnengestaltung die Außendimension der Mitwirkung in einem supranationalen Hoheitsträger145 und führt auf die Frage, inwieweit die Bereitschaft zu Einschränkungen autonomer Binnengestaltung durch Gewinne bei der Mitwirkung an der Gestaltungspolitik des supranationalen Hoheitsträgers für die gesamte Union kompensiert wird. Eine bloße Defensivhaltung schöpfte diese Dimension nicht aus.

II. Die Zukunft des Grundgesetzes in Europa Wendet man sich mit den Erfahrungen der Zwischenbilanz der Zukunft des Grundgesetzes in der Entwicklung der Europäischen Union zu, so liegt auf der Hand, daß das hermeneutische Wechselspiel des Dialogs zwischen europäischer Integration und Normentwicklung einerseits und grundgesetzlichem Normverständnis andererseits nicht abgeschlossen ist, sondern sich auch weiterhin im großen historischen Entwicklungsgang zwischen den nationalen Gemeinwesen (als „demokratischen Pri141 142 143 144 145

VO (EU) Nr. 407/2010 des Rates v. 11. 5. 2010, ABl. 2010 L 11 S. 1. BVerfGE 123, 267 Tz. 168, 246. BVerfGE 123, 267 Tz. 218. BVerfGE 123, 267 Tz. 216. Vgl. dazu Peter-Christian Müller-Graff, a.a.O., integration 2009, 331, 360.

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märräumen“146), dem transnationalem Gemeinwesen und dem Rechtsschutz der Einzelnen in einem triangulären Spannungsfeld vollziehen wird. Die hierbei die Richtung bestimmenden Kraftvektoren des Verhältnisses beider Typen von Gemeinwesen haben, wie die bisherige Integrationsgeschichte zeigt, zahlreiche Quellen: so insbesondere die großen Krisenanstöße (namentlich die Erfahrung des kriegszerstörten Europas von 1945), die großen Gestaltungskonzepte (so namentlich die vordenkenden Entwürfe von Coudenhove-Kalergi, das Briand-Memorandum, der Schuman-Plan, der Spaak-Bericht, das Konzept der Währungsunion, das Konzept des Verfassungsvertrages) und die großen politischen Rahmenänderungen (so namentlich der Untergang der Sowjetunion und das Ende der west-östlichen Bipolarität im Gefolge der Epochenzäsur von 1989, die Abschwächung der amerikanischen Dominanz und der Aufstieg Chinas im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts). Hinzu kommen wirkungsmächtig die graduellen pfadabhängigen Ausreifungen des positivierten Rechts: zum einen in rechtspolitischen Entscheidungen wie z. B. in der Entwicklung des so genannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts147, zum anderen gerade auch aus Anstößen privater Rechtsschutzbegehren sowohl in der transnationalen Integration (so namentlich die judikative neofunktionale Entfaltung der Systemrationalität der vereinbarten Grundnormen der Binnenmarktintegration aus transnationalen Marktgrundfreiheiten148 und Wettbewerbsregeln) als auch in der staatlichen Selbststeuerung (so namentlich die grundgesetzliche und demokratische Entfaltung eines staatlichen Verfassungsprogramms). Dieses Quartett aus großen Krisen, Gestaltungskonzepten, Rahmenänderungen und pfadabhängiger Normentfaltung wird auch künftig den Entwicklungsgang prägen. Er ist nicht determiniert, weil das Kräftespiel offen ist. Im „Lissabon“-Urteil des Jahres 2009 beschreibt das Bundesverfassungsgericht dieses Verhältnis von Staatlichkeit und organisierter europäischer Transnationalität aus der Sicht des Grundgesetzes mit dem Gedanken des „demokratischen Primärraums“149 des Staates, der in Deutschland im Demokratieprinzip des deutschen Volkes wurzelt, und erkennt auf dieser Grundlage in der Europäischen Union einen politischen Sekundärraum. Vieles spricht dafür, daß dieses Verständnis einerseits auf absehbare Zeit die wirkungsmächtige Wirklichkeit widerspiegelt, andererseits aber immer wieder in neue Herausforderungen geraten wird. Schon ist eine derartige Spannungslage im Sommer 2010 durch die Großkrise der Europäischen Währungsunion auf einem neuen Feld aktuell geworden. Denn ein Konzept, das zum Zweck der dauerhaften Stabilisierung der Währungsunion ohne zwischenstaatliche Transferlösungen eine supranationale Aufsicht über einzelstaatliche Haushalte befürwortet, gerät in Konfl ikt zum Gedanken des primären demokratischen Selbstbestimmungsraums staatlicher Budgetgestaltung150. Das im Gang politischer Gestaltungskonzepte 146

BVerfGE 123, 267 Tz. 360, 399. Zu dieser neofunktionalen Ausreifung durch die Verträge von Amsterdam und Lissabon vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, in: EuR Beiheft 1/2009, S. 105, 109 f., 125 f. 148 Vgl. z. B. oben unter A II zur Ausweitung des Adressatenkreises der Marktgrundfreiheiten. 149 BVerfGE 123, 267 Tz. 360, 399. 150 BVerfGE 123, 267 Tz. 256; vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Einander ausgeliefert, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20. 5. 2010, S. 8. 147

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stetig sachbezogen erneut in angemessener Begriffl ichkeit zu artikulierende Verständnis des Grundgesetzes wird sich in derartigen Spannungslagen umso besser gegenüber dem Erfordernis einer neuen Verfassungsgebung (Art. 146 GG) behaupten, je geschmeidiger es den sinnfälligen Aktionsraum der Bundesrepublik für und in der Europäischen Union zu bestimmen vermag.

E. Fazit Insgesamt zeigt sich im nahezu sechzigjährigen Wechselspiel von Grundgesetz und supranationalem Europarecht damit zum einen das Verdienst des Grundgesetzes und des dieses entfaltenden Bundesverfassungsgerichtes um die Verwirklichung des supranationalen Europarechts in Deutschland und zum anderen eine graduell sich konkretisierende Konditionierung der europäischen Offenheit des Grundgesetzes und darin dessen demokratisches Stabilisierungspotential für die Gestaltung des Europarechts und der Europäischen Union. Der Beitrag zur Verwirklichung des supranationalen Europarechts in Deutschland zeigt sich insbesondere in der grundsätzlichen Anerkennung dessen unmittelbarer und vorrangiger Anwendbarkeit (auch im Falle nicht umgesetzter Richtlinien), der Bindung der Fachgerichte an Entscheidungen des EuGH, der Anerkennung des EuGH als gesetzlichen Richters151 (mit der damit verbundenen Verfassungsbeschwerdefähigkeit der willkürlichen Nichtvorlage eines vorlagepfl ichten Gerichts) sowie neuerdings in der Andeutung der Vorlagebereitschaft des Bundesverfassungsgerichts in „ultra vires“-Fragen (Gebot der Europafreundlichkeit). Das Grundgesetz enthält zudem in Verbindung mit den verfassungsrelevanten Zustimmungsgesetzen das Potential zur osmotischen Rezeption von materiellen Grundprinzipien und Grundwertungen des supranationalen Primärrechts152, so insbesondere des Prinzips der wettbewerbsverfaßten Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 EUV, Protokoll Nr. 27, Art. 119 Abs. 1 AEUV) als eines wirtschaftsverfassungsrechtlich relevanten Argumentationstopos und Grundmusters für die Prüfung hoheitlicher Wirtschaftsintervention153 (und als einer Grundlage einer europäischen Privatrechtsgesellschaft154). Allerdings ist andererseits der Anspruch einer Verwerfungskompetenz unionaler Rechtsakte durch das Bundesverfassungsgericht geeignet, die europäische Rechtsgemeinschaft zu gefährden. Zudem läßt das „Lissabon“-Urteil auch Gefahren engmaschiger judikativer Vorweg-Festlegungen für die Europapolitik (einschließlich der europäischen Rechtspolitik) ahnen. Je kleinteiliger und starrer dem Grundgesetz über die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG Integrationsgrenzen zugeschrieben würden, desto eher könnten unvorhersehbare Integrationserfordernisse die robuste Dauerhaftigkeit des Grundgesetzes gefährden. Das in seinem 151

Zuletzt BVerfG, Beschluss v. 30. 8. 2010 – 1 BvR 1631/08. Dazu bereits Peter-Christian Müller-Graff, Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht 1984, S. 320 ff. 153 Ebda., S. 320 ff., 324 f.; s. auch S. 250 ff., 265 f. Helge Sodan, JZ 1998, 421; 425; ders., DÖV 2000, 361, 367; dies verkennt David Jungbluth, EUR 2010, 471 ff. 154 Zu deren Grundlagen Peter-Christian Müller-Graff, Die Europäische Privatrechtsgesellschaft in der Verfassung der Europäischen Union, in: Peter-Christian Müller-Graff / Herbert Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, 2000, S. 271 ff. 152

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Text integrationsoffene und aus tiefer historischer Einsicht konstruktiv geprägte Grundgesetz einschließlich seiner verfassungsgerichtlich aktualisierenden Auslegung ist aber fähig und wert, im Gang der europäischen Integration auch weiterhin ein dauerhaft ausstrahlendes und rezipierendes grundlegendes Normwerk mit (mindestens) Jahrhundertperspektive auch im Dialog mit dem supranationalen Europarecht zu sein.

60 Jahre Grundgesetz. Anmerkungen eines Politikwissenschaftlers* von

Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg, Universität Mannheim Für die Rechtswissenschaften versteht sich das Interesse an der Verfassung von selbst. Sie sehen den Staat zuerst und vor allem als ein Gebilde des Rechts und die Verfassung als das Fundament dieses Rechtsgebäudes. Wer sich mit der Verfassung beschäftigt, so stellt es sich für die Rechtswissenschaften dar, hat den Kern der Staatlichkeit im Visier. Bei der Politikwissenschaft liegen die Dinge ganz anders. Sie spricht lieber vom politischen System als vom Staat. Für sie ist die Bedeutung der Verfassung kein gegebenes Ausgangsdatum. Ganz im Gegenteil: Es ist eine ihrer wesentlichen Aufgaben, die Frage zu stellen und zu beantworten, welche Rolle das dem politischen Prozess zugrunde liegende Regelwerk tatsächlich spielt.1 Selbst wenn wir die Scheinverfassungen beiseite lassen, die nur auf dem Papier stehen und keinerlei aktuelle Wirkung entfalten (dass in ihnen ein Wirkungspotential bereitliegt, bleibt freilich immer zu bedenken), fallen die Antworten der Politikwissenschaft auf diese Frage von Fall zu Fall durchaus unterschiedlich aus. Denn wenn auch alle modernen Demokratien Verfassungsstaaten sind, sein müssen, weil Freiheit nur in der Symbiose von Demokratieprinzip und Verfassungsprinzip bewahrt werden kann, sind sie es doch auf je eigene Weise. * In der freundlichen Einladung des Herausgebers hieß es, er wünsche sich einen Beitrag zum Thema „60 Jahre Grundgesetz“ aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers. Ich habe das nicht als Aufforderung verstanden, einen beschreibenden Überblick darüber zu geben, wie die Politikwissenschaft im allgemeinen in ihrer Beschäftigung mit dem politischen System der Bundesrepublik das Grundgesetz behandelt, sondern als Anregung an einen Politikwissenschaftler, mit der Perspektive seines Faches und dem Mut zur Subjektivität über 60 Jahre Grundgesetz nachzudenken. 1 Die zahllosen Darstellungen des politischen Systems der Bundesrepublik folgen keinem einheitlichen Muster. Manche Autoren widmen der Verfassung ein eigenes Kapitel, die Mehrzahl fügt, was über das Grundgesetz aus ihrer Sicht zu sagen ist, in eine vorgeordnete politikwissenschaftliche Systematik ein. – Einige Bilanzen, die zum 50. Geburtstag der Bundesrepublik erschienen sind, geben einen breiten Überblick darüber, wie die Politikwissenschaft das politische System der Bundesrepublik und damit auch das Grundgesetz wahrnimmt: Thomas Ellwein / Everhard Holtmann (Hrg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Sonderheft 30 der Politischen Vierteljahresschrift, Opladen 1999; Max Kaase / Günter Schmid (Hrg.), Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999; Eckhard Jesse / Konrad Löw (Hrg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999.

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Die Bundesrepublik Deutschland ist gerade unter dem Verfassungsgesichtspunkt ein ganz besonderer Fall. Sie ist das, was man einen emphatischen Verfassungsstaat nennen könnte. Damit meine ich einen Verfassungsstaat, der die Verfassung mit demonstrativer Entschiedenheit ins Zentrum seiner politischen Kultur rückt, bis hin zu einer Art von Verfassungskult. Es liegt auf der Hand, dass die Politikwissenschaft in einem solchen Fall gute Gründe hat, besonders sorgfältig zwischen der symbolischen und der instrumentellen Dimension der Bedeutung der Verfassung zu unterscheiden. Und sich mit ihrer Frage nach der Geltungskraft, mit der die Verfassung in den politischen Prozess hineinwirkt, an dieser Unterscheidung zu orientieren. Die Wirkung des Grundgesetzes jedenfalls lässt sich ohne sie nicht angemessen erfassen. Sie wird deshalb in den folgenden Überlegungen eine wichtige Rolle spielen.

I Dass die zweite Demokratiegründung in Deutschland, die von 1949, erfolgreich war, erstaunlich erfolgreich, wie man konstatierte, solange das Scheitern des ersten deutschen Demokratieversuchs noch lebhaft in Erinnerung war, stellt nach 60 Jahren kaum noch jemand in Zweifel. Die Bundesrepublik wird als „geglückte Demokratie“ (Edgar Wolfrum) beschrieben. In den regelmäßigen Demokratiebewertungen von Freedom House erreicht sie verlässlich eine Position in der Spitzengruppe.2 In der vergleichenden Demokratieforschung, etwa bei Arend Lijphart, wird sie zur Kerngruppe der Demokratien gezählt, die über einen längeren Zeitraum ihre Stabilität und Funktionsfähigkeit unter Beweis gestellt haben, zu einer Gruppe also, der weltweit noch immer nicht mehr als 30–40 Staaten zugerechnet werden.3 Für eine politikwissenschaftliche Betrachtung liegt die Frage nahe – und von ihr will ich denn auch ausgehen –, ob die Verfassung, das Grundgesetz an dieser Erfolgsgeschichte wesentlichen Anteil hat. Der bundesrepublikanische Verfassungskult setzt das ganz selbstverständlich voraus. Dass das Grundgesetz zur Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie einen entscheidenden Beitrag geleistet habe, ist communis opinio. Soviel Evidenz diese Antwort auch für sich hat – gerade im Umgang mit dem, was sich als evident aufdrängt, ist für die Wissenschaft Sorgfalt geboten. Eine pointierte Gegenthese könnte lauten: Die Bundesrepublik wäre auch mit der Weimarer Verfassung erfolgreich gewesen. Und die Weimarer Republik auch mit dem Grundgesetz gescheitert. Denn Erfolg im einen und Scheitern im anderen Fall seien nicht der Verfassung zuzurechnen, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern ganz 2 Freedom House ist eine private, in New York ansässige Organisation, die seit 1971 jährliche Berichte über die Demokratieentwicklung weltweit veröffentlicht. Sie arbeitet mit zwei Messskalen („civil rights“ und „political liberties“) und stuft die Staaten der Welt auf diesen Skalen ein. Die Bundesrepublik gehört danach konstant zu einer Spitzengruppe von etwa 30 Staaten. Freedom House, Freedom in the World. The Annual Survey of Political Rights and Civil Liberties, New York 1971 ff. Eine tabellarische Übersicht über verschiedene Demokratieskalen fi ndet sich bei Manfred Schmidt, Demokratietheorien, Wiesbaden 42008, S. 392 ff. 3 Arend Lijphart, Patterns of Democracy, New Haven/London 1999. Lijphart berücksichtigt in seinen typologischen Untersuchungen 36 Demokratien. Ein Hauptkriterium seiner Auswahl: Die Demokratien müssen zum Zeitpunkt der Untersuchung als Demokratien seit mindestens zwei Jahrzehnten stabil gewesen sein.

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anderen Faktoren. Natürlich ist diese Gegenthese nicht einmal eine Hypothese; sie ist eine Behauptung, die sich weder beweisen noch widerlegen lässt. Aber zum Nachdenken kann sie anregen und darauf kommt es hier an. Versuchen wir es zunächst mit dem Nein – nein, das Grundgesetz ist für den Erfolg des zweiten Demokratieexperimentes in Deutschland nicht entscheidend gewesen. Auch mit einer anderen (demokratischen) Verfassung wäre dieses Experiment vermutlich gelungen. Entscheidend dafür, dass die Bundesrepublik sich zu einer stabilen, funktionsfähigen Demokratie entwickelte, war – so wäre diese These zu entfalten – die Hochkonjunktur der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte, die Westdeutschland half, sich sehr schnell aus dem materiellen Elend der Nachkriegsjahre herauszuarbeiten; war die internationale Konstellation, der Kalte Krieg, um es genauer zu sagen, der dem westdeutschen Staat den raschen politischen Wiederaufstieg ermöglichte; war schließlich die Schockerfahrung des totalen Zusammenbruchs, die, wenn auch nicht von heute auf morgen, die politische Kultur in Deutschland von Grund auf umprägte.4 Die besonderen Verfassungsvorkehrungen hingegen, die der Parlamentarische Rat ersonnen hatte, um der Bonner Republik das Schicksal der Weimarer zu ersparen,5 erwiesen sich als überflüssig, eben weil die angedeuteten Umstände der Bundesrepublik jene Belastungen ersparten, unter denen die Demokratie von Weimar schließlich zusammengebrochen war. Das gilt insbesondere für den Komplex von Verfassungsregeln, der die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Regierungsweise auch unter widrigen Umständen zu sichern bestimmt war, und für das Konglomerat von Bestimmungen, die die Bonner Demokratie „wehrhaft“ machen sollten. Nicht die Regelung des Art. 67 GG (das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum) hat bewirkt, dass die Bundesrepublik (fast) jederzeit über handlungsfähige parlamentarische Regierungen verfügte, und dies bei relativ hoher Regierungsstabilität, sondern das Parteiensystem, das durchgehend die Bildung ziemlich stabiler Mehrheitskoalitionen im Parlament möglich gemacht hat. Selbst wenn man die im Wahlgesetz verankerte 5% -Klausel dem materiellen Verfassungsrecht zurechnet, war es nicht die Verfassung, die die Struktur des westdeutschen Parteiensystems bestimmt hat. Die komplizierten Vorschriften zum Gesetzgebungsnotstand (Art. 81), auch sie der Sorge vor Weimarer Krisen entsprungen, haben nie eine Rolle gespielt. Die Vorschriften zur Vertrauensfrage und zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages (Art. 68) – insgesamt dreimal ist das Parlament bekanntlich nach dem Verfahren des Art. 68 aufgelöst worden – haben es durchaus, aber eine glückliche Rolle war es nicht. Was die „wehrhafte Demokratie“ angeht, so haben die einschlägigen Verfassungsvorkehrungen einfach deshalb keine große Bedeutung erlangt, weil der zweiten deutschen Demokratie eine ernsthafte Herausforderung durch innere Feinde erspart 4 Zur Frage, wie sich der Erfolg der zweiten Demokratiegründung in Deutschland erklärt, Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe, Berlin 2000 (als Paperback 2007 unter dem geänderten Titel „Das geteilte Land“ veröffentlicht) und Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie, Stuttgart 2006. 5 Zu diesem Thema noch immer grundlegend Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, Tübingen 1962.

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geblieben ist.6 Von den beiden Bestimmungen, durch die vor allem der Parlamentarische Rat die Bonner Republik wehrhafter machen wollte, als es die Weimarer Republik gewesen war, ist die eine, der Art. 18, der dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit eröffnet, Grundrechte abzuerkennen, die zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht werden, nie angewendet worden, während die andere, die verfassungsfeindliche Parteien für verfassungswidrig erklärt (Art. 21 Abs. 2), nach dem ersten Jahrzehnt stillschweigend „suspendiert“ wurde. Die beiden frühen Verfahren, die zu Verboten der neonationalsozialistischen SRP (1952) und der KPD (1956) führten, hatten eher symbolische Bedeutung. Und das späte, ergebnislose Verbotsverfahren gegen die NPD, zu dem es fast ein halbes Jahrhundert danach noch einmal kam, spiegelt vor allem Unsicherheit im Umgang mit einer Verfassungsbestimmung wider, von deren Opportunität wie Legitimität die Öffentlichkeit weithin nicht mehr überzeugt war. In einem Wort: Die bundesrepublikanische Demokratie verdankt ihr Überleben, ihr Wachsen und Gedeihen nicht den verfassungsrechtlichen Waffen der Wehrhaftigkeit. Deren bedufte sie nicht wirklich. Soviel zum Nein – zum Zweifel daran, um es vorsichtiger auszudrücken, dass das Grundgesetz der entscheidende oder auch nur ein mitentscheidender Faktor der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik war. Und was lässt sich für die entgegengesetzte These anführen, für das Ja – ja, ohne gerade diese Verfassung ist diese Erfolgsgeschichte nicht denkbar; das Grundgesetz ist sozusagen ihr Kernkapitel? Die These würde jeder Plausibilität entbehren, wenn sie auf die Leugnung der Schlüsselbedeutung jener anderen gerade genannten Faktoren hinausliefe – der Gunst einer fast 20 Jahre anhaltenden Hochkonjunktur; der Gunst einer internationalen Konstellation, die Sieger und Besiegte jedenfalls auf der westlichen Seite binnen kürzester Zeit zu Partnern machte; der Gunst einer durch eine einzigartige Katastrophe hervorgerufenen exzeptionellen Bereitschaft, politisch zu lernen. Bei der Bestimmung der Bedeutung, die dem Grundgesetz in der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zukommt, muss dieser Kontext immer mitgedacht werden. Wahrscheinlich muss schon die Frage anders gestellt werden. Stellt man sie anders, so wird sofort deutlich: Dass die Vorkehrungen, die der Parlamentarische Rat ersann, um der zweiten Republik das Schicksal der ersten zu ersparen, überwiegend nicht gebraucht wurden, ist eine Sache. Dass die Verfassung, die er schuf, die zweite deutsche Demokratie durch und durch geprägt hat; dass sie tatsächlich in einem ganz buchstäblichen Sinn ihr „Grundgesetz“ wurde, eine andere. Ob die Bonner Republik auch mit einer anderen Verfassung ihren Weg erfolgreich gegangen wäre, ist eine nicht nur unbeantwortbare, sondern letztlich auch irrelevante Frage. Für die politikwissenschaftliche Würdigung des Grundgesetzes ist entscheidend, dass es zum rechtlichen Fundament einer dauerhaft stabilen und funktionsfähigen Demokratie geworden ist. Als solches ist es unzweifelhaft Teil der Erfolgsgeschichte. Näherhin: In dem, was eine Verfassung zu leisten hat, hat das Grundgesetz sich bewährt. Auf der instrumentellen Seite gilt, dass das vom Grundgesetz geschaffene Institutionensystem sich als, alles in allem – von den Einschränkungen wird noch die 6 Eine Bilanz auf halbem Wege: Eckhard Jesse, Streitbare Demokratie. Theorie, Praxis und Herausforderungen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980.

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Rede sein müssen, funktionstüchtig erwiesen hat. Was den Beitrag des Grundgesetzes zur politischen Kultur der Republik angeht: Es ist in erstaunlich kurzer Zeit zum Kristallisationskern eines für die Bundesrepublik konstitutiven, stabilen normativen Konsenses geworden – eine für ein unter durchaus prekären Umständen entstandenes Verfassungsdokument erstaunliche Karriere. Beide Feststellungen bedürfen der Erläuterung. Von der instrumentellen Verfassung, der Konfiguration der Institutionen, dem Flussbett, wenn man es in einer Metapher sagen will, des politischen Prozesses, soll zuerst gesprochen werden.

II Vier Strukturentscheidungen des Grundgesetzes haben das politische System wesentlich geprägt: die Entscheidung für eine konsequent repräsentativ verfasste Demokratie; die Entscheidung für die parlamentarische Variante der repräsentativen Demokratie in einer ganz bestimmten Ausgestaltung; die Entscheidung für einen Föderalismus, der die beiden Ebenen der Staatlichkeit, die zentrale und die regionale, nicht voneinander trennt, sondern ineinander verzahnt; und die Entscheidung für den Primat des Rechts. Zwei weitere Grundentscheidungen des Verfassungsgebers müssen gesondert, aber doch auch in diesem Zusammenhang genannt werden, weil sie zwar von anderer Art sind als die ersten vier, aber wie sie verfassungsrechtliche Weichen für die zweite deutsche Demokratie gestellt haben: die Entscheidung, die Bundesrepublik von Verfassungs wegen auf die Zusammenarbeit mit anderen Staaten, auf die Mitarbeit in größeren Staatenverbünden auszurichten; und, wenn man denn hier von einer Entscheidung sprechen will, der Entschluss zu einer gewissen Zurückhaltung, was inhaltliche Vorgaben für den politischen Prozess angeht. Von den vier zunächst genannten Strukturentscheidungen sind die ersten beiden als eher konventionell zu qualifizieren, die Bundesrepublik ist insoweit eine Demokratie unter vielen; während die dritte und die vierte Weichenstellung eine Demokratie ganz besonderer Ausprägung hervorgebracht haben. Sie sind wesentlich – natürlich nicht allein – dafür verantwortlich, dass die bundesrepublikanische Demokratie sich im Kreis der stabilen verfassungsstaatlichen Demokratien zu einem politischen System sui generis entwickelt hat. Die Bundesrepublik – eine Demokratie unter vielen: Alle modernen Demokratien sind, das braucht kaum gesagt zu werden, repräsentativ verfasst. Zwar kennen die meisten von ihnen Verfahren direkt-demokratischer Intervention in den politischen Prozess, das Grundgesetz gehört mit seinem strikten Ausschluss solcher Möglichkeiten (die einzige Ausnahme ist der Art. 29), so gesehen, zu einer kleinen Minderheit von Verfassungen.7 Aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass in der überwie7 Ein – freilich nicht mehr ganz neuer – Überblick über die Verbreitung direkt-demokratischer Verfahren in den Demokratien der Welt: David Butler / Austin Ranney (Hrg.), Referendums Around the World, Washington 1994. Eine Übersicht, die nicht deskriptiv angelegt ist, sondern analytischen Zwecken dient, bei Sabine Jung, Die Logik direkter Demokratie, Wiesbaden 2001, S. 240 ff. Zum Status der Bundesrepublik im weltweiten Vergleich Peter Graf Kielmansegg, Über direkte Demokratie – sechs Anmerkungen zu einer unbefriedigenden Debatte, in: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hrg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 18. Jahrgang, Baden-Baden 2006, S. 57–80.

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genden Mehrzahl der Fälle die direkt-demokratischen Interventionsverfahren der Kontrolle durch repräsentativ-demokratische Verfassungsorgane unterliegen – das macht Deutschland, das auf den ersten Blick als Ausnahme da steht, doch wieder eher zu einem Normalfall, zumal wenn man die in den Länderverfassungen stark ausgebauten Rechte direkt-demokratischer Partizipation in eine deutsche Gesamtbilanz einbezieht.8 Auch für die parlamentarische Form der repräsentativen Demokratie gilt, dass sie unter den Demokratien der Gegenwart viel weiter verbreitet ist als etwa, um nur die Hauptalternative zu nennen, die amerikanische Präsidialverfassung.9 Europa, nach wie vor der Kontinent mit der weitaus größten Dichte stabiler verfassungsstaatlicher Demokratien, hat die amerikanische Demokratievariante in keinem einzigen Fall übernommen. Sieht man in der ( nicht glücklich so genannten ) semi-präsidentiellen Demokratie französischen Musters,10 wofür verfassungssystematisch gute Gründe sprechen, unbeeindruckt vom Etikett eher eine Sonderform der parlamentarischen Demokratie, so sind alle europäischen Demokratien, die schweizerische ausgenommen, parlamentarisch verfasst. Auch die besondere verfassungsrechtliche Ausprägung, die der Parlamentarische Rat dem parlamentarischen System gegeben hat, seine Bemühung, einerseits dem Parlament eindeutig die Verantwortung für die Existenz und Handlungsfähigkeit einer mehrheitsgestützten Regierung zuzuweisen (Art. 63, 67 und 68), andererseits die Regierung dem Parlament gegenüber stark zu machen (Art. 64, 65, 67, 81), macht Deutschland nicht zu einem Sonderfall. Es sind, um es noch einmal zu sagen, nicht diese Verfassungsbestimmungen, es ist das Parteiensystem in seiner spezifischen Struktur, das die Funktionsweise des parlamentarischen Systems in Deutschland bestimmt und für das, was allenfalls als Besonderheit gelten kann, verantwortlich ist: für die relative Leichtigkeit und Verlässlichkeit, mit der stabile Mehrheitskoalitionen sich bildeten; für die Schwierigkeiten des Alternierens; für die prekäre Balance zwischen der vom Grundgesetz vorgesehenen Richtlinienkompetenz des Kanzlers/der Kanzlerin (Art. 65) und der Praxis, dass alle wichtigen Entscheidungen zwischen den jeweiligen Koalitionspartnern ausgehandelt werden. Ganz folgerichtig ändert sich denn auch die Praxis parlamentarischen Regierens mit dem Parteiensystems, obwohl das einschlägige Regelwerk seit 1949 unverändert geblieben ist. Die Verfassungsentscheidungen für die repräsentative Form der Demokratie und für die parlamentarische Variante der Repräsentativdemokratie also Entscheidungen, die bei all ihrer Bedeutung zum charakteristischen Profi l der bundesrepublikanischen Demokratie nur wenig beigetragen haben. Ganz anders die beiden anderen Weichenstellungen. Es sind die besondere Ausprägung der bundesstaatlichen Ordnung und der die gesamte öffentliche Ordnung durch und durch prägende Primat des

8 Näheres bei Andreas Kost (Hrg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2005. 9 Umfassend zum parlamentarischen System Klaus von Beyme, Die parlamentarische Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 1799–1999, Opladen/Wiesbaden 1999. 10 Zum Semipräsidentialismus Winfried Steffani, Semi-Präsidentialismus: Ein eigener Systemtyp? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 26 (1995) S. 621–641; Robert Elgie (Hrg.), Semi-Presidentialism in Europe, Oxford/New York 1999.

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Rechts, die die Bundesrepublik Deutschland zu einer verfassungsstaatlichen Demokratie ganz eigener Art machen. Die besondere Ausprägung der bundesstaatlichen Ordnung – das ist jenes eigentümliche, nicht nur faktische sondern von der Verfassung so verordnete IneinanderVerflochten-Sein von Bund und Ländern, das dem Sinn des Föderalismus geradewegs zu widersprechen scheint und doch zu seiner Bestandsbedingung in Deutschland geworden ist. Wenn man Typenbegriffe bemühen will: Die Bundesrepublik hat sich von Anfang an für den „Verbundföderalismus“ und gegen den „dualistischen Föderalismus“ entschieden. Und sie hat diese Entscheidung bis heute durchgehalten.11 Zwar ist die bundesstaatliche Ordnung ständigem Wandel unterworfen gewesen. Schon ein flüchtiger Blick auf das lange Verzeichnis der Verfassungsänderungen zeigt: Die weitaus meisten von ihnen betreffen in irgendeiner Weise die Beziehungen zwischen Bund und Ländern. Der Verfassungsartikel, der am häufigsten geändert wurde, dürfe im Abschnitt X des Grundgesetzes „Das Finanzwesen“ zu fi nden sein; und in diesem Abschnitt geht es, nicht ausschließlich aber doch ganz überwiegend, um die bundesstaatliche Finanzverfassung. Aber die Haupttendenz des Wandels ist eindeutig die Intensivierung, die Verfestigung der Verflechtung gewesen. Ohne die Gegenbemühung des letzten Jahrzehnts zu ignorieren: Das Verflechtungsniveau liegt nach 60 Jahren Verfassungsentwicklung weit über dem des Beginns. Ineinander verschränkt sind die beiden Ebenen der Staatlichkeit im deutschen Bundesstaat zuerst und vor allem durch die Institution des Bundesrates einerseits und die Finanzverfassung andererseits. Der Bundesrat hat weltweit nicht seinesgleichen. Zwar haben alle föderalistisch verfassten Demokratien zwei Repräsentativkörperschaften, zwei Kammern, von denen die eine die Teilhabe der Gliedstaaten an der Bundespolitik gewährleisten soll. Aber nur in Deutschland, wirklich nur in Deutschland, sind es die Regierungen der Gliedstaaten, die in der föderalistischen Kammer vertreten sind. Das ist eine deutsche Sondertradition, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, genauer: in den Umständen der Gründung zunächst des Norddeutschen Bundes, dann des Deutschen Reiches hat.12 Die Regel ist eine zweite Kammer, die von den Bürgern der Gliedstaaten direkt gewählt wird. Bundesstaaten, heißt das, sind im Regelfall dadurch charakterisiert, dass ihre Bürger in der einen Kammer als Bürger des Gesamtstaates, in der anderen als Bürger eines Gliedstaates repräsentiert werden, wobei die zweite Kammer üblicherweise dem Prinzip der Gleichheit aller Glieder eines Bundesstaates folgt. In beiden Kammern aber handelt es sich um Repräsentation kraft direkter Wahl. Die deutsche Bundesratslösung bedeutet, dass diejenigen die Länder in der Bundespolitik vertreten, die kraft Amtes für die spezifischen Interessen der Länder zuständig sind; diejenigen, wenn man es feierlich formulieren will, die für die Staatsraison der Gliedsstaaten einzustehen haben. Es liegt auf der Hand, dass dieser Repräsentations11 Zur bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland Heinz Laufer / Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1998; Ute Wachendorfer-Schmidt, Politikverflechtung im vereinigten Deutschland, Wiesbaden 2003. Den Begriff Politikverflechtung hat Fritz Scharpf in den siebziger Jahren in die Debatte über den bundesrepublikanischen Föderalismus eingeführt. Er ist längst Allgemeingut geworden. 12 Zu dieser deutschen Sondertradition Peter Graf Kielmansegg, Vom Bundestag zum Bundesrat, in: Bundesrat (Hrg.), Vierzig Jahre Bundesrat, Baden-Baden 1989, S. 43–61.

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modus viel unmittelbarer als der gemeinhin Übliche die Länder als Länder in die Bundespolitik, vor allem die Gesetzgebung des Bundes hineinbringt; dass er viel unmittelbarer Bundes- und Länderinteressen aufeinandertreffen lässt. Der Bundesrat ist, noch einmal, in der Weise, in der er Bund und Gliedstaaten aneinander bindet, eine singuläre Institution. Die Finanzverfassung ist in gewissem Sinne das Herzstück jeder bundesstaatlichen Ordnung.13 Wie schwer sich der Parlamentarische Rat gerade mit der Finanzverfassung tat, zeigt ein Blick in die Urfassung des Grundgesetzes. Manche Entscheidungen wurden einfach vertagt, andere kamen nur als mühsam ausgehandelte Kompromisse zustande, die in der Formulierung der einschlägigen Artikel als solche deutlich in Erscheinung treten. Inzwischen sind die grundgesetzlichen Regelungen zur Finanzverfassung um ein mehrfaches komplexer geworden, in immer neuen Anläufen, immer neuen Versuchen, befriedigende Lösungen zu fi nden – darauf wird noch einmal zurückzukommen zu sein. Der längste Artikel des Grundgesetzes (Art. 106 – Verteilung der Steuern) fi ndet sich bezeichnenderweise im Kapitel X „Das Finanzwesen“, das insgesamt auf mehr als das Doppelte seines ursprünglichen Umfangs angewachsen ist. Dabei hat sich der Charakter der bundesrepublikanischen Finanzverfassung als Verbundverfassung immer detaillierter ausgeprägt. Um nur die Hauptmerkmale dieser Verbundverfassung in Erinnerung zu rufen: Für die Einnahmen gilt, dass der Bund ein Beinahe-Monopol in der Steuergesetzgebung hat, aber als Gesetzgeber bei den wichtigsten Steuern nur im Verein mit den Ländern handlungsfähig ist, insofern der Bundesrat mitentscheidet. Es gilt ferner, dass die Einnahmen aus den Hauptsteuern zwischen Bund und Ländern geteilt werden, teils nach einem durch die Verfassung festgelegten, teils nach einem ausgehandelten Schlüssel. Der vertikale Finanzausgleich verdichtet die Verflechtung weiter (dass es auch einen horizontalen Finanzausgleich gibt, schafft eine zweite Dimension der Verflechtung). Für die Ausgaben gilt, dass die Verpfl ichtungen sich nicht einfach aus der in der Verfassung festgeschriebenen Zuständigkeitsverteilung ergeben, sondern dass auch hier die Länder einerseits durch den Bundesgesetzgeber in die Pfl icht genommen werden können, andererseits aber über den Bundesrat selbst an der diesbezüglichen Gesetzgebungsgewalt des Bundes Anteil haben. Bund und Länder sind, um es kurz zu sagen, in Finanzdingen aneinander gekettet. Das Stichwort Verbundverfassung, bezogen auf die föderalistische Ordnung Deutschlands, ist mit dem Hinweis auf den Bundesrat und die Finanzverfassung bei weitem nicht ausbuchstabiert. An die Gemeinschaftsaufgaben, Aufgaben, für die Bund wie Länder zuständig sind, wäre zu erinnern; an die sich aus den Gemeinschaftsaufgaben ergebenden Finanzierungsverbünde; an das dichte Netz von Kooperationsgremien aller Art; an die Abhängigkeit des Bundes von den Ländern in Verwaltungsangelegenheiten; selbst die konkurrierende Gesetzgebung könnte genannt werden. Aber hier soll ja nur deutlich gemacht werden, dass, wenn von der Prägung des politischen Systems der Bundesrepublik durch die Verfassung die Rede ist, die

13 Wolfgang Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich. Die Auseinandersetzung um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deutscher Vereinigung (1948 bis 1990), Bonn 1991.

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föderalistische Ordnung in ihrem besonderen und, wie der internationale Vergleich zeigt, ungewöhnlichen Zuschnitt mit an erster Stelle genannt werden muss. Die zweite Strukturentscheidung, die zweite Weichenstellung, der in der Einleitung dieses Argumentationsgangs eine ähnlich fundamentale Prägekraft zugeschrieben wurde, ist die für den Primat des Rechtes. Ihr kommt in gewissem Sinn noch elementarere Bedeutung zu. Jeder Verfassungsstaat gründet seine politische Ordnung auf den Primat des Rechtes.14 Was ist besonders an der verfassungsstaatlichen Demokratie Bundesrepublik Deutschland? Besonders ist, dass das Recht, von dem hier die Rede ist, nicht nur ein Verfahrensrecht ist, auch nicht nur das Verfahrensrecht der Demokratie, sondern zuerst und vor allem das Recht einer Grundrechtstafel, die aus der Anerkennung der Würde eines jeden Menschen als der eigentlichen Fundamentalentscheidung der Verfassung, will sagen: des sich in dieser Verfassung konstituierenden Gemeinwesen abgeleitet ist. Besonders ist die Konsequenz und Klarheit, mit der die Verfassung die Verbindlichkeit ihrer Wertentscheidungen für alle – in klassischer Begriffl ichkeit – „verfassten Gewalten“ proklamiert, in Art. 1 Abs. 3 und anderswo. Besonders ist schließlich die Entschiedenheit, mit der die Verfassung den Primat des Rechts durch eine starke Gerichtsbarkeit zu sichern sucht, eine starke, sozusagen allzuständige Gerichtsbarkeit im Allgemeinen (Art. 19 Abs. 3) und eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit im Besonderen, die die Geltung der Verfassung gegenüber allen (um noch einmal auf die klassische Begriffl ichkeit zurückzugreifen) „verfassten Gewalten“ gewährleisten soll. Die Begründung einer machtvollen Verfassungsgerichtsbarkeit ist vermutlich die prägendste, folgenreichste Entscheidung des Verfassungsgebers überhaupt gewesen.15 Das Bundesverfassungsgericht ist im politischen System der Bundesrepublik zur „Instanz des letzten Wortes“ ( Josef Isensee) geworden, weil die Verfassung der letzte, unbedingt verbindliche Maßstab allen politischen Handelns ist. Wer sie auslegt, entscheidet, was sie gebietet und was sie verbietet. „The constitution is, what the judges say it is“, wie es ein Chief Justice der Vereinigten Staaten einmal formuliert hat.16 Unterscheidet man, wie es in der Politikwissenschaft gelegentlich vorgeschlagen worden ist, im Blick auf die letzte Instanz demokratischer Entscheidungsprozesse zwischen Volkssouveränität, Parlamentssouveränität und Verfassungssouveränität, so stellt sich die Demokratie des Grundgesetzes unzweifelhaft als eine Demokratie mit Verfassungssouveränität dar.17 Und es ist die Auslegungskompetenz, die, um das Mindeste zu sagen, wie keine andere Teilhabe an dieser Souveränität gewährt. Natürlich ist der Verfassungstext dem Gericht vorgegeben, aber gerade die wesentlichen Partien, der Grundrechtskatalog etwa, werden erst zu anwendbaren Normen durch Auslegung. Und auch die Tatsache, dass das Gericht nicht von sich aus in 14 Umfassend zur Herkunft und Geschichte des Verfassungsstaates Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2001. 15 Das Bundesverfassungsgericht ist lange ein Thema fast ausschließlich für Rechtswissenschaftler gewesen. Allmählich entdecken es aber auch die Politikwissenschaftler. Ein Beispiel: Robert van Ooyen / Martin Möllers (Hrg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006. 16 Zitiert nach Peter Irons, A People’s History of the Supreme Court, New York 1999, S. 266. 17 Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995) S. 49– 66.

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den politischen Prozess eingreifen kann, sondern, wie jedes Gericht, nur auf Anrufung tätig wird, nimmt dem Bundesverfassungsgericht nichts von seiner überragenden Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass in einem politischen System mit einer starken, kompetenzreichen Verfassungsgerichtsbarkeit die meisten politischen Streitfragen von Gewicht über kurz oder lang als verfassungsrechtliche Streitfragen vor das Verfassungsgericht getragen werden, auch wenn sie nicht von Anfang an als solche diskutiert wurden. Tocqueville hat das in den frühen Vereinigten Staaten beobachtet;18 für die Bundesrepublik gilt es nicht weniger, von den Ostverträgen bis zum Lissaboner Vertrag, von der Mitbestimmung bis zur Abtreibung. Weit über 100 Bände füllen die Urteile des Verfassungsgerichts mit ihren Begründungen inzwischen, weit über 100 Bände, in denen das Grundgesetz in stetiger Auslegungsarbeit konkretisiert wird, der Grundrechtsteil zumal, der durch die Rechtssprechung des Verfassungsgerichts eine das ganze Gemeinwesen durchdringende Wirkung entfaltet hat, aber auch die Staatsorganisationsnormen, im besonderen die das Bund-Länder-Verhältnis betreffenden. Mit dem Hinweis auf die Schlüsselrolle, die das Grundgesetz dem Verfassungsgericht zuweist und die dieses Gericht, wahrscheinlich über die Erwartung des Parlamentarischen Rates hinaus, in den 60 Jahren seit 1951 auch wirklich gespielt hat, sind jene beiden anderen Weichenstellungen der Verfassung, von denen einleitend die Rede war, der Sache nach bereits angesprochen. Die Artikel 24–26 des Grundgesetzes – später kam Art. 87a hinzu – sind ein besonders deutlicher Ausdruck des Willens des Verfassungsgebers, ein ganz anderes Deutschland zu schaffen, als es der deutsche Nationalstaat von 1871 zumal in seiner letzten Schreckensphase gewesen war, ein der Welt freundlich zugewandtes Deutschland, soweit so etwas mit den Mitteln des Verfassungsrechts möglich ist. Die Präambel mit der Formel, das deutsche Volk wolle als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen, gab gleichsam die Melodie vor. Die Artikel 24–26 verpfl ichten die Bundesrepublik auf den Frieden im Allgemeinen und auf das Völkerrecht, auf Zusammenarbeit in der Völkergemeinschaft und auf die Bereitschaft, Souveränitätsverzichte zu Gunsten des Friedens und der Zusammenarbeit zu leisten, in Europa und weltweit. Nicht dass es der Verfassung bedurft hätte, um der Außenpolitik der jungen Bundesrepublik diese Richtung zu geben. Sie hätte sie auch ohne Verfassungsvorgaben eingeschlagen. Aber es war vorhersehbar, dass sich irgendwann Verfassungsfragen stellen würden. Sie haben sich ja auch gestellt, zwei vor allem. Eben diese Fragen brachten dann notwendig das Verfassungsgericht ins Spiel – es konnte in den deutschen Verhältnissen nicht anders sein. Inzwischen ist es zur letzten Instanz insbesondere auch der deutschen Europapolitik geworden. Und wird es bleiben, weil Europa kein Konsensthema mehr ist, sein kann, seit – ein halbes Jahrhundert nach Beginn der europäischen Einigung – die Existenzfrage sich stellt, ob das Grundgesetz die Bundesrepublik ermächtige, sich im Zuge des Integrationsprozesses als Staat selbst aufzugeben. Die andere Frage betraf den Einsatz der Bundeswehr zu anderen Zwecken als denen der Verteidigung des eigenen Landes und der Erfüllung der Bündnispfl ichten in der NATO. Das Verfassungsgericht hat in dieser Frage keine Neigung gezeigt, die Rolle eines Daueraufsehers über die Bundesregierung und ihre 18

Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. I, Teil I, Kapitel 6.

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Sicherheitspolitik zu übernehmen. Es hat die verfassungsrechtlichen Handlungsspielräume für die Regierung eher weit defi niert und die Aufsichtspfl icht nachdrücklich dem Parlament zugewiesen. Schließlich die sechste unserer Weichenstellungen, die freilich nicht eigentlich als strategische Entscheidung des Verfassungsgebers greif bar ist, sondern eher die sehr besondere Gründungskonstellation der Jahre 1948/49 widerspiegelt: die Selbstbeschränkung der Verfassung, was inhaltliche Vorgaben für die Politik angeht. Nicht dass das Grundgesetz konsequent darauf verzichtet hätte, dem Gemeinwesen Staatsziele mit auf den Weg zu geben und der Politik bestimmte Aufgaben zuzuweisen. Von den Staatszielen Frieden und europäische Einigung war eben schon die Rede. Auch das Staatsziel Wiedervereinigung ist natürlich zu nennen. Für die Deutschlandpolitik der 40 Teilungsjahre wie für die Ereignisse von 1989/90 hat es eine überragende Bedeutung gehabt, dass die Wiedervereinigung als Staatsziel in der Verfassung, genauer: in ihrer Präambel festgeschrieben war. Es gab Phasen in der Geschichte der Bundesrepublik, in denen die Politik ohne diese verfassungsrechtliche Bindung, ohne die auf sie gestützte, sie aktivierende Rechtssprechung des Verfassungsgerichts vermutlich andere Wege eingeschlagen hätte. Auch ein paar sehr konkrete Aufgaben schrieb der Verfassungsgeber in die Verfassung hinein, die Gleichstellung der unehelichen Kinder etwa (Art. 6 Abs. 5), ebenso die von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 117). Aber insgesamt ist das Grundgesetz als eine eher zurückhaltende Verfassung zu charakterisieren. Eine Verfassung, die es als ihre Aufgabe ansieht, den politischen Prozess zu organisieren, ihn in Schranken zu weisen, nicht aber seine Ergebnisse vorwegzunehmen. So schreibt das Grundgesetz, anders als die Verfassung der europäischen Union, nicht eine bestimmte Wirtschaftsverfassung fest, auch wenn die Grundrechte faktisch eine staatskontrollierte Planwirtschaft ausschließen. Es überlässt die Beantwortung der Frage, was einen Sozialstaat ausmache, fast vollständig dem Gesetzgeber.19 Es verzichtet weitgehend auf Grundrechte, aus denen materielle Ansprüche von Bürgern an das Gemeinwesen (was der Sache nach ja immer heißt: an die übrigen Bürger) direkt ableitbar sind. Diese Zurückhaltung – sie wird nicht zuletzt im Vergleich des Grundgesetzes mit der wort- und versprechensreichen Weimarer Verfassung, aber auch mit anderen europäischen, ihrer Herkunft nach verwandten Verfassungen wie etwa der italienischen deutlich – ist keineswegs nur eine Sache der Verfassungsästhetik. In einem politischen System mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit stehen hier Machtfragen zur Debatte. Jede Staatszielbestimmung, jeder als Grundrecht formulierte Anspruch auf materielle Leistungen des Staates erweitert folgenreich den Zuständigkeitsraum des Verfassungsgerichtes zu Lasten des Gesetzgebers und der Regierung. Übrigens ist – das wird noch zur Sprache kommen müssen – in den 60 Jahren, die das Grundgesetz inzwischen alt ist, die Neigung, die Verfassung inhaltlich aufzuladen, deutlich gewachsen.

19 Dass diese Zurückhaltung auch auf eine Ermächtigung des Bundesverfassungsgerichtes hinausläuft, wie sich in dessen Hartz IV-Urteil gezeigt hat, liegt in der Logik des Grundgesetzes.

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III Verfassungstypologien und Demokratietypologien sind natürlich nicht das Gleiche. Aber bei politischen Systemen, die wie das deutsche stark von der Verfassung geprägt sind, lohnt es sich, verfassungstypologische und demokratietypologische Überlegungen zueinander in Beziehung zu setzen. Konkret heißt das: zu fragen, welche Verfassungsmerkmale auf die demokratietypologische Einordnung des politischen Systems wirklich durchschlagen. Oder auch die Gegenfrage zu stellen: Können demokratietypologische Kategorisierungen zusätzliche Anregungen für die Charakterisierung von Verfassungsregeln geben? Einfach ist es mit der geläufigsten demokratietypologischen Unterscheidung, der zwischen parlamentarisch und präsidentiell verfassten Demokratien; zwischen Demokratien, in denen die Regierung vom Parlament gestürzt werden kann (dass das Parlament den Regierungschef/die Regierung auch wählt, kann hinzukommen, ist für den Typus aber nicht konstitutiv), und denen, für die das nicht gilt, sondern Regierung und Legislative unabhängig voneinander vom Wähler bestellt werden.20 Diese Unterscheidung ist unmittelbar auf Verfassungsregeln gegründet, deren Auswirkungen auf den politischen Prozess allerdings nicht einfach zu Tage liegen. Deutschland ist bekanntlich eine parlamentarische Demokratie. Die Funktionsweise dieser wie aller parlamentarisch verfasster Demokratien wird, daran ist hier noch einmal zu erinnern, allerdings nicht primär von der Verfassung sondern vom Parteiensystem bestimmt. Man kann das gerade jetzt, in einer Phase, in der ein seiner Struktur nach neues Parteiensystem dem politischen System seinen Stempel aufzudrücken beginnt, gut beobachten.21 Die bundesrepublikanische Demokratie hatte es lange mit einem stabilen zweigipfl igen, zur Mitte hin zentrierten Dreiparteiensystem zu tun, in dem die beiden Hauptparteien bis zu 90% der Wähler an sich binden konnten. Das hat den Funktionsmodus ihres parlamentarischen Systems entscheidend geprägt. In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten hat sich schrittweise ein Fünfparteiensystem herausgebildet, das stärker polarisiert ist und in dem die beiden stärksten Parteien nur noch etwa 60% der Wähler für sich gewinnen können. Das hat weitreichende Folgen für die Funktionsweise des parlamentarischen Systems: Die Regierungsbildung wird schwieriger, Regierungswechsel werden häufiger, von der Richtlinienkompetenz des Kanzlers/der Kanzlerin bleibt, nicht nur in Großen Koalitionen, immer weniger übrig. Andere Demokratietypologien sind, auf den ersten Blick, weniger verfassungsnah. Den derzeit weitaus einflussreichsten Entwurf hat der niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftler Arend Lijphart vorgelegt.22 Die endgültige Fassung seines Vorschlages ist erst ein gutes Jahrzehnt alt. Lijphart unterscheidet Mehrheitsdemokratien und Konsensdemokratien; Demokratien, in denen konsequent nach der Mehrheitsregel regiert wird, und solche, deren Regeln darauf abzielen, dass politische Entscheidungen mit dem erreichbaren Maximum an Zustimmung (Konsens ist das, genau 20

Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, Opladen 1979. Zur Entwicklung des westdeutschen Parteiensystems Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 32003. 22 Vgl. Anm. 3. 21

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genommen, nicht) getroffen werden. Das klingt einfach und ist in gewissem Sinne auch einfach. Die Standardbeispiele – hier Großbritannien, dort die Schweiz – scheinen die Augenfälligkeit der Unterscheidung zu unterstreichen. Lijphart lässt es aber nicht bei dieser einfachen Zweiteilung. Er listet zehn Merkmale des politischen Systems auf, an denen er seine Unterscheidung zunächst einmal fest macht, Merkmale teils institutioneller Natur (etwa: Gibt es Verfassungsgerichtsbarkeit oder gibt es sie nicht?), teils an Akteurskonstellationen anknüpfend (etwa: Haben wir es mit einem Zwei- oder einem Vielparteiensystem zu tun?). Diese zehn Merkmale werden dann wieder zu zwei Fünfer-Gruppen gebündelt, in denen jeweils engere systemische Beziehungen der Merkmale zueinander gegeben sind. Lijphart spricht von zwei Dimensionen, in denen die Unterscheidung zwischen Mehrheitsdemokratie und Konsensdemokratie verortet werden kann. In der einen Dimension geht es wesentlich um Gewaltenteilungsstrukturen verschiedener Art, in der anderen um Merkmale, die überwiegend mit dem Parteiensystem in Verbindung stehen. Diese Unterscheidungen werden in einer, wie Lijphart es nennt, „two-dimensional conceptual map of democracy“ niedergelegt, einer Vier-Felder-Matrix, in der die quantitativ sorgfältig vermessene Ausprägung der 36 untersuchten stabilen Demokratien verortet wird, so dass jede Demokratie ihre genaue Position auf der Karte hat.23 Deutschlands Ort ist auffallend, zumindest in einer Dimension: der Gewaltenteilungsdimension. Deutschland und die Vereinigten Staaten sind in dieser Dimension die Demokratien, bei denen der Konsenscharakter weitaus am stärksten ausgeprägt ist. In der anderen Dimension hat Deutschland eher einen Mittelplatz, noch im Konsensquadranten, aber dem Majoritätsquadranten doch schon ziemlich nahe. Ausschlaggebend für die erste Einordnung sind, etwas verkürzt, der Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht. Die Verfassung schlägt also voll auf die demokratietypologische Charakterisierung durch. In der anderen Dimension ist das kaum der Fall, kann es auch nicht sein, weil hier die Ausprägung des Parteiensystems der Schlüsselfaktor ist. Der Ort der deutschen Demokratie auf Lijpharts Landkarte, beide Dimensionen zusammengenommen, spiegelt wider, dass diese Demokratie in vieler Hinsicht durch konsensdemokratische Zwänge und Schranken geprägt ist; dass sie aber doch auch einige bedeutsame mehrheitsdemokratische Züge aufweist. Das macht übrigens dem Wähler die richtige Einschätzung des politischen Prozesses in Deutschland schwer. Bundestagswahlkämpfe können durchaus den Eindruck erwecken, Deutschland sei eine Mehrheitsdemokratie, werde von der Bundestagsmehrheit allein regiert. Die dominant konsensdemokratischen Züge des Systems geraten dem Wähler aus dem Blick. Das führt zu ganz falschen, für die Politik problematischen Erwartungen. Die Stärken und die Schwächen der Lijphart’schen Konzeption zu erörtern, ist hier nicht notwendig. Für unsere Überlegungen qualifiziert sie sich allein dadurch, dass sie sich weithin durchgesetzt hat. Es sei aber doch vermerkt, dass die Unterscheidung zweier Dimensionen, die, wie die empirische Untersuchung zeigt, keineswegs eng miteinander verbunden sind, auf einer Demokratieskala, die sich zwischen den Endpunkten Mehrheitsentscheidung und Konsens erstreckt, Fragen aufwirft. Wenn man mit einer Dimension nicht auszukommen meint, ist es vermutlich schlüssiger und 23

A. Lijphart (Anm. 3) S. 243 ff.; insbesondere S. 248.

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jedenfalls klarer (Klarheit ist für Typologien ein wichtiges Kriterium), defi nitiv und eindeutig zwei Dimensionen zu unterscheiden. Beispielsweise, so lautet ein jüngst von der Politikwissenschaftlerin Sabine Jung vorgelegter Vorschlag,24 die Dimension Mehrheitsentscheidung – Konkordanz (der Begriff trifft die Sache besser als der von Lijphart bevorzugte Begriff Konsens), die den Entscheidungsmodus im Blick hat, und die Dimension Populismus – Konstitutionalismus, die den Entscheidungsraum betrachtet, das Maß an Handlungsfreiheit für die politischen Akteure bzw. an institutioneller, vor allem durch die Verfassung vorgegebener Beschränkung des Handlungsspielsraumes. Durch die Kombination der beiden Dimensionen ergeben sich vier Grundtypen von Demokratien. Deutschland ist klar ein Musterfall einer konstitutionellen Demokratie mit, weniger eindeutig, schwach majoritärem (oder, je nach den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat, gemäßigt konkordantem) Entscheidungsmodus. Einen anderen Weg, nämlich den einer konsequenten Vereinfachung, einer Reduzierung der Kriterien, hat George Tsebelis mit seiner Figur des „Vetospielers“ eingeschlagen,25 die in den letzten Jahren in der politikwissenschaftlichen Diskussion zunehmend populär geworden ist. Als Vetospieler bezeichnet er Akteure bzw. Institutionen in einem politischen System, ohne deren Zustimmung politische Entscheidungen nicht getroffen werden können. Demokratien lassen sich dann typologisch nach der Zahl und der Position der Vetospieler sortieren. Deutschland ist eine Demokratie mit einer vergleichsweise hohen Zahl von institutionellen Vetospielern, Bundesverfassungsgericht und Bundesrat an erster Stelle. Der Prozess einer gemäßigten Auffächerung des Parteiensystems, der seit den 80er Jahren in Gang ist, hat die Zahl der zudem nicht-institutionellen Vetospieler erhöht. Auch diese Betrachtung führt also zu dem Befund: Die Verfassung bestimmt im deutschen Fall in hohem Maße den Demokratietypus, aber sie bestimmt ihn nicht allein.

IV Es wird Zeit, sich an das Stichwort Verfassungsemphase zu erinnern. Gewiss lässt sich etwas von der Verfassungsemphase der zweiten deutschen Demokratie auch dadurch schon sichtbar machen, dass man, wie es in den vorangegangenen Abschnitten geschehen ist, die überragende Bedeutung der Verfassung für die Strukturierung des politischen Prozesses nachzeichnet. Allein schon die Verfassungsgerichtsbarkeit, so wie sie sich in der Bundesrepublik entwickelt hat, macht diesen Staat zu einem Verfassungsstaat im emphatischen Sinn. Aber eigentlich geht es bei diesem Stichwort nicht um die instrumentelle sondern um die politisch-kulturelle, die symbolische Bedeutung der Verfassung. Das Wort Verfassungskult mag kritisch klingen. Man kommt zur Charakterisierung des Umgangs der Bundesrepublik mit dem Grundgesetz aber kaum ohne es aus. Es wird im Folgenden in rein deskriptiver Absicht verwendet, ohne jeden Beiklang sozusagen. Das ist umso leichter möglich, als es sich um einen sehr nüchternen Kult handelt, keine Verfassungsfeiern (außer dem Fahnen24 25

S. Jung (Anm. 7) S. 51 ff. George Tsebelis, Veto Players. How Political Institutions Work, Princeton NJ 2002.

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schmuck am 23. Mai), keine Verfassungsreliquien, wie das in den National Archives in Washington ausgestellte Original der amerikanischen Verfassungsurkunde eine Reliquie ist, keine Denkmäler für Verfassungsväter und Verfassungsmütter. Und dennoch ist es ein Kult in dem Sinn, dass in den 60 Jahren seiner Geltung unauf hörlich die Botschaft verkündet worden ist: Das Grundgesetz ist nicht nur das rechtliche Fundament des Staates Bundesrepublik Deutschland, es ist der Kern des normativen Konsenses, der dieses Gemeinwesen zusammenhält und ihm seine Identität gibt. Ziemlich spät erst, nach 20 Jahren, ist das Wort Verfassungspatriotismus aufgetaucht. Dolf Sternberger hat es bekanntlich, in einem Leitartikel zum Verfassungstag, zum 23. Mai 1979, in die Debatte eingeführt.26 Von da an war es der Leitbegriff des bundesrepublikanischen Verfassungskultes. Sternberger selbst hatte den Verfassungspatriotismus noch nicht in scharfen Gegensatz zu einem auf die Nation gegründeten Patriotismus gesetzt. „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat und das ist selbst eine Art von Vaterland“, schrieb er in jenem Leitartikel. Aber kurz davor liest man – die Rede ist von der „Zertrennung der Nation“: „Noch immer trauern wir, noch immer hoffen wir.“ Erst Jürgen Habermas hat dem Begriff, als er ihn aufnahm, eine entschieden antinationale Bedeutung gegeben.27 Für Habermas hat die Idee der Nation sich selbst zerstört. Die Verfassung soll an ihre Stelle treten. Sie soll die Identität der Bürgergemeinschaft stiften, das Bewusstsein der Bürgergemeinschaft von sich selbst bestimmen. Verfassungspatriotismus nicht als Notlösung sondern als Bekenntnis zu einer postnationalen Zukunft. Deutschland, das ist die Implikation dieser Sicht, ist durch sein selbstverschuldetes einzigartiges historisches Schicksal gewissermaßen aufgefordert, mit diesem Bekenntnis der übrigen Welt voranzugehen. So oder so spiegelt der Gedanke des Verfassungspatriotismus die historischen Erfahrungen wider, in denen der bundesrepublikanische Verfassungskult wurzelt: die Erfahrung einer totalitären Diktatur, deren verbrecherische Willkürherrschaft mit größter Deutlichkeit vor Augen geführt hat, was es bedeutet, in einem auf das Recht gegründeten Verfassungsstaat, einem Rechtsstaat zu leben; und die Realität der Teilung, die es unmöglich machte, die Bundesrepublik als den Staat einer – der deutschen – Nation zu begreifen. Man kann es auch so sagen: Die Idee des Verfassungspatriotismus war der Versuch einer Nation, mit einer doppelten Verwundung umzugehen. Der Verwundung, die sie sich selbst zugefügt hat, indem sie sich, durch pathologischen Nationalismus geblendet, zum Instrument ungeheuerlicher Verbrechen hatte machen lassen. Und der Verwundung, mit der die Sieger sie durch die Teilung – dauerhaft, wie es schien – bestraft hatten. 26

Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus. Schriften X, Frankfurt a. M. 1990, S. 13 ff. Die beiden folgenden Zitate fi nden sich auf Seite 13. 27 Habermas’ Schlüsselbegriff ist eher der der postnationalen Demokratie als der des Verfassungspatriotismus. Aber auch diesen nimmt er explizit auf. Essays, die die Thematik in verschiedenen Fassungen behandeln, fi nden sich in den Bänden Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt a. M. 1990; Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998; Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt a. M. 2004. Siehe außerdem Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, S. 632–660. Zur Diskussion insgesamt Florian Roth, Die Idee der Nation im politischen Diskurs, Baden-Baden 1995, Kapitel 3.7.

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Insofern war (und ist) der Verfassungspatriotismus ein sehr deutsches Projekt, was für den Verfassungskult als solchen, davon wird gleich noch zu reden sein, nicht in der gleichen Weise gilt; ein Projekt, das das Grundgesetz überfordert.28 Das, was der Begriff Verfassung in der Wortverbindung Verfassungspatriotismus meint, sind ja nicht die Besonderheiten gerade des Grundgesetzes, sondern die Universalien, zu denen das Grundgesetz sich bekennt: Menschenrechte und Demokratie. Patriotismus aber kann sich nicht allein auf Universalien gründen, so elementar bedeutsam sie als Fundament des Gemeinwesens sind. Denn Patriotismus ist die Bejahung der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gemeinwesen, Teilhabe an einer bestimmten kollektiven Identität. Identität, individuelle wie kollektive, ist Besonderheit. Sie allein über Universalien defi nieren zu wollen, ist ein Widerspruch in sich selbst. An den USA, die so oft als Beispiel für lebendigen Verfassungspatriotismus angeführt werden, lässt sich das studieren. Es ist wahr – eine Art von Verfassungskult gibt es auch in den USA. Die Verfassung steht im Zentrum des Gründungsmythos. Und im Gründungsmythos hat die politische Identität der Vereinigten Staaten ihre Wurzeln. Aber es sind eben nicht nur einfach die – in der Unabhängigkeitserklärung deutlicher als in der Verfassung proklamierten – politischen Universalien, an denen sich das amerikanische Nationalbewusstsein festmacht. Es ist die Idee, dass gerade dieses Gemeinwesen, gerade diese Nation eine Menschheitsmission im Dienst universaler Prinzipien zu erfüllen habe.29 Es ist die Idee, etwas Besonderes zu sein. So konnten die Deutschen ihre späte Hinwendung zur verfassungsstaatlich-demokratischen Tradition natürlich nicht verstehen. Und so war Verfassungspatriotismus denn auch mehr ein intellektueller Wunschtraum als ein weitverbreitetes Lebensgefühl in Deutschland. Das heißt nicht, dass die bundesrepublikanische Verfassungsemphase, hinter der viel pädagogischer Eifer steckte, eine Angelegenheit allein der politisch-publizistischen Eliten gewesen sei. Die Frage, ob man stolz sei auf die eigene Verfassung, hat im ersten Jahrzehnt der Republik nicht gerade eindrucksvolle Ergebnisse gebracht. Aber 20 Jahre später sah das schon ganz anders aus.30 Was es wirklich bedeutet, wenn jemand auf die standardisierte Frage einer demoskopischen Erhebung antwortet, er sei stolz auf die Verfassung seines Landes, steht natürlich dahin. Aber dass sich darin ein langsam gereiftes Gefühl für Rang und Qualität des Grundgesetzes spiegelt, ein Gefühl dafür, dass das Grundgesetz eine gelungene, eine gute Verfassung sei, das wird man aus den Zahlen herauslesen dürfen. Die Wahrnehmung, dass das Grundgesetz im Ausland Respekt genießt, gelobt wird, da und dort auch nachgeahmt, hat den Respekt der Deutschen vor ihrer eigenen Verfassung vermutlich befördert. Alles spricht dafür, dass die Verfassung tatsächlich die Kraft entwickelt hat, als Medium der Integration zu wirken. Und dass es der Verfassungskult, die durch die Rechtssprechung des Verfassungsgerichtes kontinuierlich gewährleistete, gesteigerte, 28 Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: Armin Mohler (Hrg.), Wirklichkeit als Tabu, München 1986, S. 11–25. 29 Die Nr. 1 der sogenannten „Federalist Papers“, verfasst von Alexander Hamilton, sind ein klassischer Text dieses Selbstverständnisses: die Vereinigten Staaten – ein Gemeinwesen mit einer besonderen historischen Mission im Dienst universaler Prinzipien. 30 Dazu David Conradt, Changing German Political Culture, in: Gabriel Almond / Sidney Verba (Hrg.), The Civic Culture Revisited, Boston/Toronto 1980, S. 212–272.

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ins Bewusstsein gehobene Geltungskraft des Grundgesetzes und seine verlässliche Funktionstüchtigkeit gemeinsam waren, die ihr diese Kraft gegeben haben. Der Konsens, der das politische System der Bundesrepublik trägt, ist – das ist das Fazit – im Kern ein Verfassungskonsens. Wesentliche Voraussetzungen für die Bildung und die Stabilität dieses Konsenses waren die Vorgeschichte, gegen die die Bundesrepublik konzipiert und der Kalte Krieg, in den hinein sie gegründet wurde. Man hat das gelegentlich in die Formel vom antitotalitären Konsens gefasst, der für die Bundesrepublik konstitutiv gewesen sei. Das meint: der die Bundesrepublik tragende Verfassungskonsens sei in gewissem Sinn ein Konsens des Nein gewesen, des unbedingten Nein zum nationalsozialistischen Totalitarismus und des nicht ganz so geschlossenen Nein zum kommunistischen Totalitarismus. So war es wohl auch. Damit ist zugleich Wesentliches über den normativen Gehalt dieses Konsenses gesagt.

V Das Grundgesetz hat, instrumentell wie symbolisch, das politische System der Bundesrepublik mit einer ganz erstaunlichen Kraft geprägt – das ist die eine Seite der Bilanz. Aber es gibt auch eine andere. Das hohe Lied vom „bewährten Grundgesetz“, das ja ganz zu Recht immer wieder angestimmt wird, darf das nicht vergessen machen. Es gibt Schwächen dieser Verfassung, die Kehrseiten ihrer Stärken sind. Und es gibt Schwächen des Grundgesetzes, die einfach nur Schwächen sind; in der Verfassung festgeschriebene Strukturschwächen des politischen Systems, um es genauer zu sagen, die durch Verfassungsänderung oder gar Verfassungsreform zu beheben, die politischen Akteure nicht willens oder nicht in der Lage sind. Zu beiden Arten von Schwächen ist einiges zu sagen. Was die Kehrseite der Stärken angeht: Es ist gewiss keine polemische Überspitzung, von einer Übersteigerung des Gedankens, dass das Recht den Primat haben müsse, zu sprechen. Das Bundesverfassungsgericht hat das Netz der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch „Auslegung“ des Grundgesetzes in sechs Jahrzehnten intensiver Rechtssprechungstätigkeit immer dichter geflochten, es hat Verfassungsrecht für ganze Regelungsbereiche der Sache nach neu geschaffen; hat, um ein besonders eklatantes Beispiel zu nennen, auf dem schmalen Fundament eines Satzes des Art. 5 („Die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk ist gewährleistet“) ein mehrstöckiges Verfassungsrechtsgebäude errichtet. Es disponiert faktisch über Milliardenbeträge im Budget, etwa indem es ziemlich detailliert über Pfl ichten und Rechte von Bund und Ländern im horizontalen wie im vertikalen Finanzausgleich entscheidet. Es ist in den meisten Gesetzgebungsprozessen, und nicht nur dort, präsent, weil Regierung und Gesetzgeber es ständig vorsorglich ins Kalkül ziehen, darauf bedacht, Entscheidungen zu vermeiden, die das Gericht als verfassungswidrig verwerfen könnte. Selbst in einem Bereich, in dem das Gericht sich bewusst Zurückhaltung auferlegt, dem der Außenpolitik, ist es ein höchst einflussreicher Mitspieler. Seine Entscheidung, Auslandseinsätze der Bundeswehr von der Zustimmung des Bundestages abhängig zu machen, ist folgenreich. In der deutschen Europapolitik wird das Gericht immer mehr zu einem, wenn nicht dem Schlüsselakteur. Man mag die dominante Position, die das Verfassungsgericht im politischen System der Bundesrepublik innehat, im Grundgesetz zwingend angelegt finden. Man

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mag sie aus anderen Gründen begrüßen, das Grundgesetz mit seiner starken Verfassungsgerichtsbarkeit etwa als moderne Form einer „gemischten Verfassung“ begreifen und bejahen.31 Man kann auch auf den ziemlich unerschütterlichen Rückhalt verweisen, den das Verfassungsgericht in der Öffentlichkeit genießt.32 Aber Klarheit über die bemerkenswerte Relation zwischen der dritten und den beiden anderen Gewalten im Verfassungssystem der Bundesrepublik muss bestehen. Dafür, dass das Grundgesetz der dritten Gewalt eine herausragende Rolle zuweist, steht natürlich auch der Art. 19 Ab. 4. Er trägt den Primat des Rechts sozusagen in den Alltag. Auch hier mag man, ähnlich wie bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, argumentieren, dass das Grundgesetz, indem es sich mit bedingungsloser Konsequenz für den Primat des Rechts entscheidet, unausweichlich die Dominanz der dritten Gewalt herbeiführt und legitimiert. Aber ob nun eine zwingende oder nur eine mögliche Folge der Verfassungsvorgaben, die Problematik liegt auf der Hand: Wenn von der Benotung von Klassenarbeiten bis zur Festsetzung der Ausbildungskapazität medizinischer Fakultäten prinzipiell alles Handeln der öffentlichen Gewalt gerichtlicher Nachprüfung unterliegt, dann müssen Richter ein sehr sensibles Sensorium für die Grenzen ihrer Zuständigkeiten entwickeln, damit die Balance zwischen den Gewalten, zwischen den Expertisen, die jeweils den Ausschlag geben, nicht verloren geht. Bei aller Entschiedenheit, mit der das Grundgesetz die dritte Gewalt in den Vordergrund schiebt, ist es klugerweise nicht so weit gegangen, sie konsequent zu verselbständigen.33 Der elementare Verfassungssatz, dass alle Gewalt vom Volk ausgehe (Art. 20, Abs. 2), gilt, wie vermittelt auch immer, auch für die Gerichtsbarkeit. Für den begrenzten Zuständigkeitsbereich des Bundes legt das Grundgesetz bekanntlich fest: Die Verfassungsrichter werden von Bundestag und Bundesrat gewählt, die Bundesrichter durch Richterwahlausschüsse, in denen der jeweils zuständige Bundesminister mit den Landesministern und Bundestagsabgeordneten zusammenwirkt (Art. 96 Abs. 2). Es ist inzwischen Erfahrungswissen, dass die völlige Verselbständigung der dritten Gewalt die Richterschaft überfordert. Vor allem aber: Sie lässt sich nicht rechtfertigen, weil im demokratischen Verfassungsstaat das machtbegrenzende Gewaltenteilungsprinzip und das machtbegründende Demokratieprinzip im Gleichgewicht gehalten werden müssen. Dass Regelungen, die den konkurrierenden politischen Parteien maßgeblichen Einfluss auf die Besetzung von Gerichten geben, ihrerseits Gefahren bergen, ist unbestreitbar. Auch die bundesrepublikanische Praxis belegt das. Aber man muss diese Gefahren nicht ganz hilflos in Kauf nehmen. Die Vorschrift, dass Bundesverfassungsrichter nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden können, hat sich – in Grenzen – bewährt. Und einer aufmerksamen Öffentlichkeit bedarf die Demokratie ohnehin, damit ihr Regelwerk leistet, was es leisten soll. 31 Auf diese Deutungsmöglichkeit weist Peter Graf Kielmansegg, Die Instanz des letzten Wortes, Stuttgart 2005, Abschnitt V hin. 32 Dazu Oskar Gabriel / Everhard Holtmann (Hrg.), Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, München/Wien 32005, S. 501. 33 Ein Beispiel für die weitreichende Verselbständigung der dritten Gewalt und die Probleme, die daraus resultieren, bietet Italien; zu dieser Verselbständigung siehe Art. 104, 105 und 135 der italienischen Verfassung.

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Als Kehrseite einer Stärke wurde lange Zeit auch, jedenfalls von Kritikern der Bundesrepublik, wahrgenommen, was sie die Hyperstabilität der zweiten deutschen Demokratie nannten; Stabilität über die verlässliche Stabilität der parlamentarischen Mehrheitskoalitionen und die daraus resultierende Stabilität und Handlungsfähigkeit der Regierung hinaus, eine Erstarrung, so war es gemeint, des Parteiensystems und der Mehrheitsverhältnisse, das Ausbleiben des Mehrheitswechsels. In der Tat hat es 20 Jahre gedauert, bis die Union ihre dominierende Stellung, konkret: die Kanzlerschaft verlor. Das ist natürlich nicht dem Grundgesetz zuzuschreiben. Die Verfassung im weiteren Sinne aber geriet durchaus in die Diskussion: Die 5% -Klausel wurde für die vermeintliche Erstarrung des Parteiensystems verantwortlich gemacht. Sie mache das Auf kommen neuer Parteien praktisch unmöglich, wurde bis in die 70er Jahre behauptet. Inzwischen wissen wir, dass das eine voreilige Einschätzung war. Das Parteiensystem hat sich grundlegend verändert: Die Grünen haben die 5% -Hürde schon in den 80er Jahren überwunden, der PDS musste anfangs das Verfassungsgericht dabei helfen,34 dann der Umweg über die Direktmandate. Aber inzwischen hat auch die Linke die 5% -Hürde sicher hinter sich gelassen. Und die Frequenz des Regierungswechsels, wie immer man sie misst, hat seit 1998 deutlich zugenommen. Von politischer Hyperstabilität kann für die Bundesrepublik sicher nicht mehr gesprochen werden. Zu den Schwächen, die ihre in der Verfassung wurzelnden Stärken der Bundesrepublik in den 60 Jahren ihrer Geschichte beschert haben, mag man schließlich auch zählen, dass die Verfassungsemphase mit einer Neigung zur Exklusion verbunden war oder doch sein konnte. Die starke Betonung des Verfassungskonsenses als des normativen Fundamentes des Gemeinwesens hat die Figur des Verfassungsfeindes mit einer gewissen Logik hervorgebracht. Wenn man so will, hat das Grundgesetz selbst sie mit seinem Verdikt gegen verfassungswidrige Parteien, auch mit Art. 18 geschaffen. Verstärkt wurde diese im Grundgesetz angelegte Tendenz natürlich durch den Kalten Krieg, den Systemkonfl ikt zwischen West- und Ostdeutschland. Die Abgrenzung vom Systemgegner und die Abgrenzung vom Verfassungsfeind fielen gleichsam in eins. Eine praktische Bedeutung hat das vor allem in den 70er Jahren gehabt, als darum gestritten wurde, wer Zugang zum öffentlichen Dienst habe dürfe.35 Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, jene Formel, mit der das Grundgesetz selbst seinen normativen Kern zu umschreiben versucht (Art. 18 und 21), wurde in der Polemik als FDGO verächtlich gemacht; und es war nicht immer leicht zu entscheiden, ob die Verachtung dem Grundgesetz oder denen, die es gegen „Verfassungsfeinde“ verteidigen wollten, galt. Was die zweite Kategorie von Schwächen der Verfassung angeht, so erscheint als die eigentliche Problemzone in der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung ihre föderalistische Komponente. Eine wirklich funktionsfähige, allgemein akzeptierte bundesstaatliche Ordnung hat sich in den sechs Jahrzehnten bundesrepublikanischer Verfassungsgeschichte nicht entwickelt. Das Grundgesetz ist in seinen ein34

Für die Bundestagswahl 1990 hatte das Verfassungsgericht festgelegt, dass die PDS die 5% -Hürde nur im „Beitrittsgebiet“, nicht im gesamten Wahlgebiet überspringen müsse. 35 Ein Zeitdokument der siebziger Jahre Wulf Schönbohm (Hrg.), Verfassungsfeinde als Beamte? München 1979. Siehe auch Anm. 6.

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schlägigen Partien so etwas wie ein Spiegel dieser Schwäche. Das Urteil mag als allzu scharf erscheinen. Der Föderalismus wird ja nicht nur in der politischen Rhetorik als ein Grundpfeiler unserer politischen Ordnung gerühmt. Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik in ihrer besonderen Ausprägung ist auch von anderen Bundesstaaten, die in Schwierigkeiten gerieten, Kanada etwa, als ein Modell wahrgenommen worden, von dem man etwas lernen könne. Das mag in mancher Hinsicht durchaus so sein, wenn auch die Tatsache, dass es in Deutschland keinen Separatismus gibt, mit der Qualität der bundesstaatlichen Ordnung nur sehr wenig zu tun hat. Aber dieser aus der Ferne kommende Beifall ändert doch nichts daran, dass aus der Binnensicht an kein Bauelement der Verfassungsordnung so viele wohlbegründete kritische Fragen zu stellen sind wie eben an das föderalistische.36 Ein Blick in jede Textausgabe des Grundgesetzes zeigt: Die weitaus meisten Verfassungsänderungen betreffen die bundesstaatliche Ordnung, und zwar durchgehend. Darunter sind große Reformunternehmungen wie die von 1969 und 2006 (beide wurden bezeichnenderweise von Großen Koalitionen durchgebracht) ebenso wie viele kleine. Aber diese lange Sequenz von Verfassungsänderungen kann eben nicht als Prozess, in dem sich allmählich eine „endgültige“ Ordnung herausbildete, gelesen werden, sondern nur als unruhige, wieder und wieder neu ansetzende Suche nach einer Lösung, die nicht gefunden wird, wahrscheinlich unter den Bedingungen, unter denen die Suche stattfindet, nicht gefunden werden kann. Worin besteht das ungelöste Schlüsselproblem der deutschen bundesstaatlichen Ordnung? Es besteht in einer Überkomplexität der Handlungs-, Finanzierungs- und Verantwortungsstrukturen im bundesstaatlichen Zwei-Ebenen-System. Etwas klarer formuliert: Es besteht darin, dass es nicht gelingt, die Aufgaben einerseits und die Mittel andererseits – genauer: die Zugriffsrechte auf die Mittel – so zu verteilen, dass Bund und Länder in einem klar umgrenzten Raum von Zuständigkeiten eigenverantwortlich tätig werden können, dabei aber gleichzeitig das erwünschte hohe Niveau an innerer Homogenität gewahrt bleibt. Man mag fragen: Gibt es überhaupt eine bundesstaatliche Ordnung, die diese Anforderungen erfüllt? Geben sich die Deutschen nicht die Quadratur des Zirkels auf, wenn sie zwar Föderalismus haben wollen, aber mit dem Bestehen auf „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ (Art. 72, Abs. 2; früher sprach das Grundgesetz von „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“) ablehnen, was daraus folgt? Es mag in der Tat sein, dass ein Gutteil der „Überkomplexität“ einer politischen Kultur zuzuschreiben ist, die, anders als es etwa für die Schweiz und die USA gilt, kein eindeutiges Verhältnis zum Föderalismus hat. Aber wer von politischer Kultur spricht, ist meistens in einem Erklärungsnotstand. Es gibt zu der Frage, warum die zweite deutsche Demokratie seit 60 Jahren immer wieder von neuem erfolglos auf die Suche nach einem befriedigenden Regelwerk für ihre bundesstaatliche Ordnung geht, mehr zu sagen als nur dies.

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Zu den Problemen, die Deutschland mit seiner bundesstaatlichen Ordnung hat: Fritz Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. / New York 1994; Arthur Benz, Der deutsche Föderalismus, in: O. Gabriel / E.Holtmann (Anm. 32) S. 135–153; Arthur Benz, Kein Ausweg aus der Politikverflechtung? In: Politische Vierteljahresschrift 46 (2005) S. 204–214.

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Die knappste Diagnose, mit der man auf diese Frage antworten kann, lautet: Die Notwendigkeit der Reform des deutschen Föderalismus und die Unmöglichkeit einer Reform des deutschen Föderalismus haben die gleichen strukturellen Gründe. Zur Reformnotwendigkeit ist das Wesentliche bereits gesagt: Eine Struktur, die wenig Raum lässt für eigenständiges Handeln, die jeden von jedem abhängig macht und Verantwortung nicht klar zuordnet, muss problematische Effekte haben. Und wie erklärt sich die Reformresistenz? Weder Bund noch Länder können allein die Spielregeln ändern, sie können es nur gemeinsam – das gehört zu den Selbstverständlichkeiten jeder bundesstaalichen Ordnung. Das Ungewöhnliche des deutschen Falles ist allerdings, dass hier Regierungen auf Regierungen treffen. Das kann den Interessengegensätzen eine spezifische Prägnanz geben. Was den Bundesrat im besonderen angeht, so fällt ins Gewicht, dass die Interessen der Länder in Fragen der Finanzverfassung, die, man muss es immer wieder neu sagen, den Kern jeder bundesstaatlichen Verfassung bildet, höchst unterschiedlich sind. Es gibt, um nur zwei Kategorien zu nennen, reiche und arme Länder, ausgleichsverpfl ichtete und ausgleichsberechtigte. Zwei-Drittel-Mehrheiten, die man ja auch im Bundesrat für Verfassungsänderungen braucht, zusammenzubringen, ist folglich in Sachen Finanzverfassung mehr als schwierig. Und seit die Zahl der armen Länder, der Länder, die aus eigener Kraft gar nicht überleben können, durch die Wiedervereinigung stark gestiegen ist, ist es noch schwieriger geworden, als es immer schon war. Es ist bezeichnend, dass das Reformprojekt von 2006 die Finanzverfassung von vorneherein ausgeklammert hat. Immobilität heißt natürlich nicht, dass sich im Lauf von sechs Jahrzehnten nichts verändert hätte. Es gibt ein wenn auch ziemlich eng begrenztes Möglichkeitsfeld für Veränderungen der bundesstaalichen Ordnung. Auf die Vielzahl der Verfassungsänderungen, mit denen an ihr herumgedoktert wurde, ist ja schon hingewiesen worden. Aber diese Änderungen haben in der Tendenz die strukturelle Immobilität eher verschärft. Gesetzgebungskompetenzen sind zum Bund gewandert, aber gleichzeitig wuchs der Einfluss der Länder auf die Gesetzgebung des Bundes, ausgeübt durch den Bundesrat. Parallel dazu wurde die Finanzverfassung immer stärker zu einer Verbundverfassung ausgebaut, in der die wechselseitigen Abhängigkeiten größer und größer wurden. Bewegung, das ist die Lektion der Geschichte des bundesrepublikanischen Föderalismus, ist, soweit es um die Finanzverfassung geht, offenbar nur in Richtung immer dichterer Verflechtung möglich. Allen anderen Optionen stehen Interessen entgegen, die über Vetomacht verfügen. Auch der Umweg über eine Neugliederung ist offensichtlich nicht gangbar. Seit der Bildung des „Südweststaates“ im Jahr 1951, für die das Grundgesetz besondere Konditionen bereitstellte (Art. 118), hat sich nichts mehr getan. Dass jeder Landespolitiker „sein“ Land mit Zähnen und Klauen verteidigt, jeder Bundespolitiker die Folgen durchkalkuliert, die eine Neugliederung für den Bundesrat haben könnte und sich auf Ungewissheiten nicht einlassen mag, kann niemanden überraschen. Eher schon überrascht, dass auch die Bevölkerung, die nach Art. 29 zustimmen muss, zum Status Quo zu neigen scheint, wie sich 1996 in Brandenburg gezeigt hat. Es gibt also mächtige Beharrungskoalitionen. Mit dem Instrumentarium des Art. 29, der das Verfahren der Neugliederung regelt, lassen sich diese Koalitionen offensichtlich nicht überwinden.

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In den fast unüberwindbar hohen Hürden, die einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung in ihren wesentlichen Elementen entgegenstehen, tritt besonders markant ein Grundzug des politischen Systems der Bundesrepublik hervor, den die Politikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten nachdrücklich herausgestellt hat.37 Der Konsensbedarf für politische Entscheidungen ist generell – keineswegs nur für Verfassungsänderungen – sehr hoch und föderalistische Politikverflechtung hat daran einen wesentlichen Anteil. Der Bundesrat ist, was diesen Grundzug des bundesrepublikanischen politischen Systems angeht, die Schlüsselinstitution. Und er ist es nicht nur, weil in ihm Bundesregierung und Landesregierungen aufeinandertreffen. Im Bundesrat begegnen sich auch, in anderer Weise als im Bundestag, Regierung und Opposition als gegnerische Parteien oder Parteibündnisse. In der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie hat das nicht selten dazu geführt, dass die Opposition, wenn sie über eine Mehrheit in der Länderkammer verfügte, die Vetomacht des Bundesrates für ihre Zwecke eingesetzt hat. Und man hat aus dieser Beobachtung den verallgemeinernden Schluss gezogen, in der vom Parteienwettbewerb beherrschten bundesrepublikanischen Demokratie könne der Bundesrat die ihm von der Verfassung zugedachte Funktion, Länderinteressen in der Bundespolitik zur Geltung zu bringen, allenfalls sekundär spielen, weil er notwendig in den Sog des Parteienwettbewerbs gerate. Der Parteienwettbewerb und die bundesstaatliche Ordnung stünden in einem Spannungsverhältnis zueinander, das die Funktionsfähigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik belaste.38 Das ist eine wichtige Einsicht. Aber sie darf nicht vergessen machen, dass es Länderinteressen gibt, die ihren Vorrang vor den taktischen Interessen des Parteienwettbewerbs im Bundesrat immer behaupten, die fi nanziellen vor allem. Insofern unterstreicht dies Argument nur, dass es zwei ganz unterschiedliche Interessenlagen gibt, aus denen heraus die Vetomacht des Bundesrates genutzt werden kann; die von Ländern, Ländergruppen, die dem Bund gegenüberstehen, und, entsprechende Mehrheitsverhältnisse vorausgesetzt, die der Opposition, die der Bundesregierung im Bundestag gegenübersteht. Das steigert das Gewicht des Vetopotentials des Bundesrates in der Bundespolitik. Eben weil dieses Vetopotential ein solches Gewicht hat, ist die erste Frage, die an Landtagswahlen gestellt wird, die nach den Auswirkungen dieses oder jenes Wahlausgangs auf die Zusammensetzung des Bundesrates. 16 Landtagswahlen in einem Wahlzyklus von vier bis fünf Jahren, das bedeutet: zusätzlich zur Bundestagswahl bis zu 16 Wahlen von potentiell bundespolitischer Bedeutung in einer Legislaturperiode. Die besondere Konstruktion der Länderkammer, heißt das, bringt bestimmte gravierende Schwächen des demokratischen Politikzyklus fast ununterbrochen zur Geltung: die Tendenz der regierenden Mehrheit, mindestens im Vorfeld von Wahlen alles zu vermeiden, was den Wählern missfallen könnte, auf der einen Seite; und die Tendenz der Opposition, die politische Auseinandersetzung zu heftigster Polemik zu übersteigern, auf der anderen. Überlegungen, wie diesem allgemein als Missstand 37

Manfred Schmidt hat eine Analyse des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt, die diesen Gesichtspunkt konsequent in den Mittelpunkt rückt: Manfred Schmidt, Das politische System Deutschlands, München 2007. 38 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, Wiesbaden 32000.

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empfundenen Effekt der Bundesratskonstruktion begegnet werden könnte, sind immer wieder angestellt worden.39 Vor allem der Vorschlag, alle Landtagswahlen mit der Bundestagswahl zusammenzulegen oder wenigstens in zwei Terminen zusammenzufassen, taucht regelmäßig auf. Aber es ist nicht zu sehen, wie er sich ohne Entmündigung der Länder verwirklichen ließe. Die andere Option – die Abhängigkeit der Bundesregierung vom Bundesrat drastisch zu reduzieren – fi ndet, so wie der deutsche Föderalismus nun einmal konstruiert ist, erst recht nicht die Zustimmung der Länder. Reformen wie die von 2006 zeigen, obwohl sie keineswegs bedeutungslos sind, dass die Länder in den für sie wirklich wichtigen Fragen auf ihren Rechten zur Mitwirkung an der Bundespolitik beharren, ja diese Rechte- wie in der Europapolitik – da und dort noch auszuweiten suchen. Vielleicht sollten die kritischen Anmerkungen zum bundesrepublikanischen Föderalismus als der Schwachstelle des Verfassungsbauwerkes aber doch nicht das letzte Wort in dieser Sache sein. Der hohe Zustimmungsbedarf für politische Entscheidungen, der hier – wohlgemerkt nur als ein Argument unter anderen – gegen die besondere Ausprägung der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland ins Feld geführt wurde, kann ja auch anders bewertet werden. Lijphart kommt in seinen Studien zu dem Ergebnis, dass die Konsensdemokratie der Mehrheitsdemokratie unter dem Strich überlegen sei. Auch wenn man diese Frage für offen hält: Aus der Geschichte der Bundesrepublik lassen sich durchaus Beispiele dafür anführen, dass der Zwang zur Suche nach einem breiten Konsens zwar verzögernd gewirkt hat, aber der Qualität der gesetzgeberischen Entscheidung im Ergebnis durchaus zugute gekommen ist.

VI Spielregeln können ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie von den Spielern nicht beliebig und schon gar nicht einseitig verändert werden können. Verfassungen legen die „Spielregeln“ für die Politik fest. Es ist also folgerichtig, wenn der moderne Verfassungsstaat für Änderungen der Verfassung ein besonderes Verfahren vorsieht, dessen Hürden höher sind als die des einfachen Gesetzgebungsverfahrens. Das Regelwerk der Verfassung darf aber auch nicht starr sein. Verfassungen sind auf Dauer angelegt und müssen auf Dauer angelegt sein. Aber gerade deshalb dürfen sie nicht unabänderlich sein. Es muss die Möglichkeit geben, mit einer Veränderung der Regeln auf den Wandel der Zeiten, auch auf Erfahrungen zu reagieren. Moderne Verfassungsstaaten balancieren diese einander entgegengesetzten Notwendigkeiten durchaus unterschiedlich aus. Die erste französische Revolutionsverfassung machte die Hürden fast unüberwindlich hoch (Titel 7 der Verfassung vom 3.September 1791). Auch die wenige Jahre ältere Verfassung der Vereinigten Staaten hat – aus ganz anderen Gründen – für Verfassungsänderungen ein außerordentlich anspruchsvolles Verfahren vorgeschrieben. In neueren Verfassungen ist oft ein großer Schritt 39 Ein Beispiel für politikwissenschaftliche Überlegungen zur Reform des Bundesrates: Roland Sturm, Vorbilder für eine Bundesratsreform? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 33 (2002) S. 166– 179.

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in die Gegenrichtung getan worden. Das Grundgesetz nimmt eine mittlere Position ein. Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat – das bedeutet: Von 1957 bis 2009 konnten immer nur die beiden großen Parteien gemeinsam die Verfassung ändern, weil jede von ihnen im Bundestag über eine Sperrminorität verfügte.40 Und wenn es um die bundesstaatliche Ordnung geht, davon war schon die Rede, müssen sich Bund und Länder einigen. Es hängt in beiden Hinsichten von der konkreten Thematik ab, ob das hohe oder gar unüberwindlich hohe Hürden sind. Das Grundgesetz ist im ersten halben Jahrhundert seiner Geltung nicht weniger als 46 Mal geändert worden.41 Das erweckt den Eindruck, als seien die notwendigen Übereinstimmungen ziemlich leicht zustandezubringen. Aber die Zahl täuscht. Es gibt Änderungen, meist solche von sekundärer Bedeutung, die in der Tat ohne große Schwierigkeiten das vorgeschriebene Verfahren durchliefen. Es gibt andere, die sehr mühsam ausgehandelt werden mussten. Und es gibt natürlich auch Verfassungsbestimmungen, bei denen eine Änderung, mag sie auch da und dort für wünschbar gehalten werden, nicht denkbar ist, weil keinerlei Aussicht besteht, den breiten Änderungskonsens, den man braucht, herbeizuführen. Aufs Ganze gesehen liegt das Problem nicht darin, dass es entweder zu leicht oder zu schwierig wäre, das Grundgesetz zu ändern. Das Problem liegt darin, dass sich in den letzten Jahrzehnten die politische Gewohnheit entwickelt hat, immer dann, wenn eine Verfassungsänderung nur als zäh erarbeiteter Kompromiss zustande gekommen ist, eben diesen Kompromiss in all seinen Einzelheiten in die Verfassung hineinzuschreiben.42 Das bringt Ungetüme von Verfassungsartikeln hervor und gibt der Verfassung Schritt für Schritt eine Detailrigidität, die ihrem Wesen eigentlich ganz fremd ist. Beispiele fi nden sich im Grundrechtsteil (Art. 13, Art. 16a), ebenso bei den Regeln, die die bundesstaatliche Finanzverfassung betreffen. Auch der in den 90er Jahren in die Verfassung eingefügte Europaartikel (Art. 23), eine der wichtigsten Ergänzungen des Grundgesetzes überhaupt, ließe sich hier nennen. Immer spiegelt diese Art von Bestimmung, die das Ausführungsgesetz gleich mit in die Verfassung hinein nimmt, das Misstrauen wider, das die Kontrahenten gegeneinander hegen. Nur was in der Verfassung steht, ist sicher. Und ohne ein Maximum an Sicherheit gibt es keine Bereitschaft zum Kompromiss. Nicht nur am Rande kommen dabei übrigens auch Gesichtspunkte der Verfassungsästhetik ins Spiel. Das hässliche Wörtchen „auch“ in der 1994 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatszielbestimmung des Art. 20a (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, welchen zunächst ästhetischen, potentiell aber durchaus weiter reichenden Schaden das Bemühen, einen politischen Kompromiss um jeden Preis ganz exakt in der Verfassung festzuschreiben, anrichten kann. Wer mit dem Grundgesetz hantiert, sollte sich immer daran 40 In den ersten beiden Legislaturperioden hatte die SPD im Bundestag die Vetostärke noch nicht erreicht, 2009 hat sie sie nach mehr als einem halben Jahrhundert wieder verloren. Die CDU/CSU hat von der zweiten Legislaturperiode an durchgehend über mehr als ein Drittel der Bundestagsmandate verfügt, 2009 allerdings die Schwelle nur noch gerade eben überschritten. 41 Zur Praxis der Verfassungsänderungen im politischen System der Bundesrepublik aus politikwissenschaftlicher Sicht M. G. Schmidt (Anm. 37) Kapitel 13. 42 Art. 7 zeigt allerdings, dass auch der Parlamentarische Rat in Einzelfällen bereits mühsam ausgehandelte Kompromisslösungen sehr detailliert ins Grundgesetz hineinschrieb.

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erinnern, dass die außerordentliche Wertschätzung des Grundgesetzes als einer gelungenen, einer identitätsstiftenden Verfassung Voraussetzungen hat, die nicht einfach ein für allemal gegeben sind. Verfassungswandel vollzieht sich nicht allein durch Änderung des Verfassungstextes. In einem politischen System wie dem Deutschlands, in dem die verbindliche Auslegung der Verfassung einer gerichtlichen Instanz von unbestrittener Autorität anvertraut ist, einer Instanz, der auf einer Vielzahl von Zugangswegen ununterbrochen Streitfragen vorgelegt werden, die ihr auch tatsächlich Gelegenheit geben, von ihrer Auslegungsmacht Gebrauch zu machen – in einem solchen politischen System ist das Verfassungsrecht in ständiger Entwicklung begriffen. Durch verbindliche Auslegung wird die Verfassung konkretisiert und das heißt: in den Fällen, in denen die Norm der Konkretisierung zwingend bedarf, recht eigentlich erst geschaffen. Von der überragenden Bedeutung des stetigen Stroms von Auslegungsentscheidungen für die Geltung, für die Wirkkraft der Verfassung gerade im deutschen Fall war schon die Rede. Diesen Strom kann man als ein ständiges „Werden“ von Verfassung verstehen. Technischer gesprochen handelt es sich um die ununterbrochene Ausübung von „sekundärer“ verfassungsgebender Gewalt im Wege verbindlicher Auslegung.43 Sekundär deshalb, weil der Text selbst nicht zur Disposition steht. Ob bei einer Verfassung, die, pointiert formuliert, durch Auslegung eines Basistextes sozusagen täglich geschaffen wird, Verfassungswandel überhaupt ein adäquater Begriff ist, kann man fragen. Wie immer die Antwort ausfällt, man muss klar vor Augen haben, dass die Macht der Auslegung selbst da überragend ist, wo der Text sehr detaillierte Vorgaben macht oder zu machen scheint. In all seiner Ausführlichkeit lässt etwa der Europa-Artikel (Art. 23) die Frage, auf welches Ziel er die Bundesrepublik mit dem Satz „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der europäischen Union mit“ ausrichtet, letztlich offen. Auf einen europäischen Bundesstaat? Und wenn man sich zu dieser Auslegung entschließt, bleibt in der Systematik des Grundgesetzes, die bekanntlich zwischen unabänderlichem und veränderbarem Verfassungsrecht unterscheidet, immer noch die Frage offen, ob der Verfassungsgesetzgeber, der Art. 23 in das Grundgesetz eingefügt hat, den Staat Bundesrepublik Deutschland überhaupt zur Selbstaufgabe verpfl ichten oder auch nur ermächtigen kann. Die auslegende Instanz ist gefragt. Schließlich: Es gibt auch Verfassungswandel durch politisches Verhalten, gleichsam stillschweigenden Verfassungswandel, den die politische Praxis herbeiführt. Zwei Beispiele müssen genügen, um auf diese Dimension bundesrepublikanischer Verfassungsgeschichte wenigstens zu verweisen. Das Stichwort „wehrhafte Demokratie“ hat uns schon beschäftigt. So wichtig das Verfassungsprinzip der Wehrhaftigkeit für das Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik war und bis in die 70er Jahre blieb, die einschlägigen Vorkehrungen des Grundgesetzes sind seitdem durch bewussten Nichtgebrauch in eine Art von Ruhestand versetzt worden, der eine Reaktivierung nicht ausschließt, aber doch sehr unwahrscheinlich macht.44 Das hat 43

P. Graf Kielmansegg (Anm. 31) S. 20. Siehe Anm. 6. Die Entwicklung der „wehrhaften Demokratie“ seit den neunziger Jahren verfolgt das von Uwe Backes und Eckhard Jesse herausgegebene Jahrbuch „Extremismus und Demokratie“. 44

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nicht nur, aber doch auch mit dem Ende des Ost-West-Konfl iktes zu tun, wie denn überhaupt das Ende des Ost-West-Konfl iktes ein Epochendatum auch in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik ist, nicht nur wegen der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz im Kontext des Ost-West-Konfl iktes war in mancher Hinsicht eine andere Verfassung als das Grundgesetz danach. Ein ganz anderer Fall von Verfassungsgestaltung (wie man hier eher wird sagen müssen) durch politische Praxis ist die auf Art. 21 Abs. 1 Satz 1 fußende Entwicklung. Es gehört zu den Wesenszügen der zweiten deutschen Demokratie, dass sie Parteiendemokratie par excellence geworden ist.45 Sie wäre es wohl auch ohne den ersten Satz des Art. 21 geworden. Aber dieser Satz hat den Parteien eben doch, seiner vorsichtigen Formulierung ungeachtet, zur verfassungsrechtlichen Legitimation ihres umfassenden Zugriffs auf den gesamten politischen Raum dienen können. Ihren Anspruch auf eine Art von Alleinzuständigkeit für Politik haben sie nie ganz durchsetzen können. Er stößt heute auf mehr Widerspruch als früher. Aber die deutschen Parteien sind diesem Ziel näher gekommen als die Parteien in vielen anderen Demokratien. Man kann das – und nur insoweit ist die Entwicklung hier von Interesse – als die Ausbildung einer vom Grundgesetz noch gedeckten, aber in seinem Demokratieverständnis keineswegs zwingend angelegten Verfassungspraxis beschreiben. Etwas anders formuliert: Es lässt sich mit dem Grundgesetz kaum gegen die konsequente Parteiendemokratie argumentieren; aber dass die Demokratie des Grundgesetzes mit der Vorbehaltlosigkeit Parteiendemokratie sein müsse, mit der sie es geworden ist, folgt aus Art. 21 nicht. Das Bundesverfassungsgericht als Auslegungsinstanz hat übrigens einen merkwürdig ambivalenten Anteil an der Ausbildung der parteiendemokratischen Verfassungspraxis. Es hat den Prozess einerseits gefördert und verfassungsrechtlich abgesichert. Es hat aber andererseits auch immer wieder Versuche unternommen, besonders in seiner nicht eben gradlinigen Rechtsprechung zur Parteienfi nanzierung, der Parteiendemokratie gewisse Schranken zu setzen. Verfassungswandel kann sich natürlich auch im Zusammenspiel zwischen Auslegung und einer bestimmtem politischen Praxis vollziehen. Das wichtigste Beispiel dafür bietet Art. 68 (Vertrauensfrage – Bundestagsauflösung). Dreimal ist der Bundestag nach dieser Verfassungsregel aufgelöst worden (1972, 1983 und 2005). Die politischen Konstellationen waren jeweils andere, aber in allen drei Fällen handelte es sich um einen manipulativen Gebrauch der Verfassungsvorschriften. Die Kontrollinstanzen Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht haben diesen Gebrauch dreimal sanktioniert. Nach den Vorgängen des Jahres 2005 wird man sagen müssen, dass der Auflösung des Bundestages durch den Bundeskanzler aus Gründen der politischen Opportunität, wenn er denn seine parlamentarische Mehrheit für diesen Schritt gewinnen kann, nicht mehr viel im Wege steht. Das verkehrt die Intention der Verfassung in ihr Gegenteil. Die Folgen dieses „Verfassungswandels“ sind noch nicht absehbar. Man kann das Thema Verfassungswandel nicht diskutieren, ohne ziemlich rasch auf die Frage zu stoßen, wie sich Verfassungswandel und gesellschaftlicher Wandel 45 Oscar W. Gabriel / Oskar Niedermayer / Richard Stöss (Hrg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 22001. Manche Parteienkritiker mögen nicht mehr von Parteien-„demokratie“ sprechen, so etwa Hans Herbert v. Arnim. Dessen jüngstes einschlägiges Buch heißt „Das System“ (München 2001).

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zueinander verhalten und verhalten sollten. Die Frage liegt umso näher, als die 60 Lebensjahre des Grundgesetzes insgesamt gesehen eine Epoche dramatischen, ja revolutionären gesellschaftlichen Wandels gewesen sind: Emanzipation der Frau, Geburtenrückgang, Alterung – um nur drei Hauptstichworte zu nennen. Wertewandel lautet ein anderes. Diese Stichworte bezeichnen, wie man weiß, nicht das Sonderschicksal eines Landes, sie bezeichnen eine Entwicklungsdynamik, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Zivilisation von Grund auf veränderte. Deutschland, bis 1990 das westliche Deutschland war betroffen, weil es Teil einer Welt im Wandel war. Das Grundgesetz hatte damit zunächst einmal gar nichts zu tun. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite aber stellt sich natürlich die Frage, welche Möglichkeiten politischen Umgangs mit, politischer Bearbeitung von raschem, tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel ein politisches System bietet. Hier kommt die Verfassung ins Spiel. Wir haben das Grundgesetz in der Begriffl ichkeit von George Tsebelis als eine Verfassung mit relativ vielen Vetopunkten oder auch, in den Kategorien von Arend Lijphart, als eine Demokratie mit stark konsensdemokratischen Zügen beschrieben.46 Eine solche Verfassung macht es schwierig, auf stürmischen sozialen Wandel angemessen zu reagieren; auf den demografischen Wandel etwa, der lange absehbar war und einen frühzeitigen gründlichen Umbau des Systems sozialer Sicherung notwendig gemacht hätte. Deutschland hat das versäumt. Ein Blick in die Runde zeigt allerdings, dass praktisch alle Demokratien der Herausforderung lange ausgewichen sind. Man wird die Bedeutung der Besonderheiten des jeweiligen politischen Systems also nicht zu hoch veranschlagen dürfen. Aber dass das Handeln auch dann noch schwer fällt, wenn die Notwendigkeit des Handelns schlechterdings nicht mehr ignoriert werden kann – das hat etwas mit diesen Besonderheiten zu tun. Pointiert und zugleich sehr abstrakt formuliert: Der Handlungsbedarf, den ein säkularer sozialer Wandel erzeugte, überforderte phasenweise das im Grundgesetz in bestimmter Weise institutionalisierte Handlungspotential des politischen Systems. Es geht aber bei der Thematik „Verfassung und gesellschaftlicher Wandel“ nicht nur um die Verfahrensregeln, die Regeln, die festlegen, wie verbindliche Entscheidungen zustande kommen. Es geht auch um inhaltliche Festlegungen, mit denen die Verfassung das Gemeinwesen normativ ausrichtet. Das Grundgesetz hält sich, das ist schon gesagt worden, mit solchen Festlegungen zurück. Es hat der Bundesrepublik kein politisches Programm mit Verfassungsrang verordnet. Gesellschaftlichen Wandel hat es von Verfassungs wegen nur mit wenigen, eher konkreten Zielvorgaben gefördert (Art. 3 Abs. 2, Art. 6 Abs. 5). Es hat sich andererseits mit einem Grundrechtskatalog, an dessen Spitze die Menschwürde (Art. 1), die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2) und die Gleichheit (Art. 3) stehen, als durchaus offen für die das letzte halbe Jahrhundert bestimmenden mächtigen Tendenzen des Wertewandels erwiesen – für Individualisierung, Emanzipation, Abbau von Ungleichheiten, um nur drei Hauptimpulse dieser Bewegung zu nennen. Das heißt nicht, dass es im Grundgesetz keine inhaltlichen Festschreibungen gäbe, von denen retardierende Wirkungen ausgehen. Wie könnte es auch anders sein? Festgeschrieben werden im Allgemeinen fundamentale normative Überzeugungen 46

Siehe Anmerkungen 3 und 25.

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des Verfassungsgebers. Je konkreter das geschieht, desto wahrscheinlich wird es in modernen Gesellschaften, dass gesellschaftlicher Wandel wegführt von den Fixierungen, die eine bestimmte Generation hinterlässt. Auf den Wandel selbst hat die Verfassung kaum Einfluss. Aber dem Prozess der Umsetzung neuer Anschauungen in Recht wirkt die Festschreibung in der Verfassung, manchmal kürzer manchmal länger, entgegen. Was das Grundgesetz angeht, so lässt sich das an Art. 6, der Ehe und Familie dem besonderen Schutz des Staates unterstellt, studieren. Die Institutionen Ehe und Familie, so wie der Verfassungsgeber sie 1949 vor Augen hatte, haben im letzten halben Jahrhundert dramatisch an Geltung und Selbstverständlichkeit verloren. Die Arrangements des Zusammenlebens sind individueller, unverbindlicher, lockerer geworden. Und es scheint, als sei diese Entwicklung noch keineswegs abgeschlossen. Art. 6 hat das nicht verhindern können, natürlich nicht. Art. 6 hat aber tatsächlich eine gewisse retardierende Wirkung gehabt, insofern er der raschen und vollständigen rechtlichen Anerkennung der neuen Beliebigkeit entgegengewirkt hat. Wiederum spielt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Auslegungsmacht eine Schlüsselrolle. Es könnte die Begriffe Ehe und Familie, nicht von heute auf morgen, aber in wenigen Schritten, soweit öffnen, dass (fast) jedes vereinbarte Arrangement befristeten Miteinanders zur Ehe oder Familie wird. Das liefe dann allerdings der Sache nach auf eine Auf hebung des Art. 6 Abs. 1 hinaus. Und so hat das Gericht denn auch bisher nur den Weg einer behutsamen Öffnung eingeschlagen. Aber der Druck weiter zu gehen, wird wachsen. Natürlich wirft gerade dieses Beispiel die Frage auf, wie die retardierende Wirkung normativer Festschreibungen durch die Verfassung zu bewerten sei. Wer meint, der Fortschritt, so wie er ihn defi niert, habe Anspruch auf freie Bahn, wird sie kritisch sehen. Man kann die Verzögerung aber auch als Zeitgewinn verstehen. Zeit wird gebraucht, um Erfahrungen zu sammeln. Zeit wird gebraucht, um Moden von unwiderstehlichen historischen Trends unterscheiden zu können. Zeit wird gebraucht, um einen neuen Konsens aufzubauen. Zeit wird gebraucht, auch das kommt vor, um Irrtümer als solche zu erkennen. Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes erschien spätestens in den 80er Jahren vielen Zeitgenossen als obsolet, störend, entspannungsfeindlich. Es überlebte, gestützt vom Verfassungsgericht, nur deshalb, weil nur eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Häusern des Parlamentes es aus der Verfassung hätte hinauswerfen können. Dass es überlebt hat, erwies sich, als die Geschichte 1989 eine revolutionäre Wendung nahm, als überaus hilfreich.

VII Dass das Grundgesetz des westdeutschen Staates von 1949 die Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands wurde, war keineswegs eine zwingende Entwicklung. Und es hat ja, als es geschah, auch eine lebhafte Diskussion darüber gegeben, ob das vereinigte Deutschland nicht seine eigene neue Verfassung brauche.47 Diese Diskus47 Wichtige Beiträge zu dieser Diskussion fi nden sich in Bernd Guggenberger / Tine Stein (Hrg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991.

60 Jahre Grundgesetz. Anmerkungen eines Politikwissenschaftlers

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sion hat keine große Resonanz gefunden. Verfassungsfragen waren der breiten Öffentlichkeit ziemlich gleichgültig. Aber sie hatten in den Zirkeln, in denen sie geführt wurden, ein Gewicht, das sich aus der Sache, um die es ging, ergab. So ist es denn auch nicht unangemessen, eine letzte Überlegung an die Frage zu knüpfen, ob das Grundgesetz seinen gesamtdeutschen Weg mit einer Legitimitätsschwäche angetreten habe.48 Wäre es geboten gewesen, dem vereinigten Deutschland eine neue Verfassung zu geben? Oder hätte ihm das zumindest gut getan? Dass die Ausarbeitung einer neuen Verfassung dem Vollzug der Vereinigung nicht hätte vorausgehen können, wird niemand bestreiten, der sich mit den internationalen Konditionierungen des Geschehens, aber auch den innerdeutschen Verhältnissen in der kritischen Phase vertraut gemacht hat. Es stand nicht beliebig viel Zeit zur Verfügung. Aber hätten Beratungen über eine neue Verfassung dem nach Art. 23 a. F. vollzogenen Beitritt der Länder der DDR nicht folgen können? Natürlich wäre das möglich gewesen. Die zuständigen Verfassungsorgane haben es anders beschlossen und ein Verfahren festgelegt, bei dem absehbar war, dass es nur zu marginalen Änderungen des Grundgesetzes kommen würde. Und so war es dann auch. Der Jurist braucht, wenn er nicht will, die Diskussion nicht über diesen Punkt hinaus zu führen. Für den Politikwissenschaftler aber ist die Frage, ob daraus nicht eine Legitimitätsschwäche des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung resultiere, noch nicht beantwortet. Wird sie als empirische Frage gestellt, so lautet die Antwort: Indizien für eine solche Schwäche gibt es nicht. Zur Vermutung, die Deutschen im Osten des wiedervereinigten Landes würden eine neue Verfassung in höherem Maße als die ihre betrachten können, ist zu sagen: Das hinge vermutlich vor allem vom Inhalt dieser Verfassung ab, den wir nicht kennen. Von einer starken Identifizierung mit den selbst erarbeiteten Landesverfassungen ist im Übrigen nichts bekannt.49 Und in die Rechnung einzustellen wären ja auch die Reaktionen der Westdeutschen auf den Abschied vom Grundgesetz. Das demokratietheoretische Argument für einen neuen Konstitutionsakt mag einiges für sich haben, wenn man prinzipiell und abstrakt denkt. Die Argumente der praktischen Vernunft aber wiesen 1990 eindeutig in die andere Richtung. Die Diskussion hat seinerzeit mindestens andeutungsweise sichtbar gemacht und in den Verfassungsentwürfen des runden Tisches wie des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder kann man es nachlesen: 50 Es wäre ein elementarer Verfassungsdissens in wesentlichen Fragen aufgebrochen – direkte Demokratie, soziale Grundrechte, Staatsziele sind einige der einschlägigen Stichworte. Dieser Dissens aber hätte durch ein Mehrheitsvotum entschieden werden müssen, durch das Votum 48

Dazu Peter Graf Kielmansegg, Vereinigung ohne Legitimität? In: Merkur 532 ( Juli 1993) S. 561–

575. 49

Unabhängig von der Antwort auf die Frage, was die neuen Landesverfassungen den Ostdeutschen bedeuten, gilt: Es war für die Vereinigung von großer Bedeutung, dass die Bundesrepublik ein Bundesstaat ist, dem die DDR also auch nur gegliedert in Länder beitreten konnte. So haben die Deutschen des „Beitrittsgebietes“ ein Stück verfassungsrechtlich gesicherter Selbstbestimmung und damit auch ein Element eigener, institutionalisierter politischer Identität mit in das vereinigte Deutschland hineinnehmen können. 50 Die beiden Texte fi nden sich in Uwe Thaysen (Hrg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR, Wiesbaden 2000, Bd. V: Dokumente bzw. Bernd Guggenberger / Ulrich Preuß / Wolfgang Ullmann (Hrg.), Eine Verfassung für Deutschland, München/Wien 1991.

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einer einfachen Mehrheit wohlgemerkt, denn mit qualifizierten Mehrheiten kann im Verfahren der Verfassungsgebung, das ja zu einem Ergebnis führen muss, in letzter Instanz nicht gearbeitet werden. Man hätte also eine Verfassung, der in einer 60jährigen Geschichte Zustimmung und Loyalität in außerordentlichem Maße zugewachsen waren, eine Verfassung, die ihre Tauglichkeit alles in allem überzeugend unter Beweis gestellt hatte, eine Verfassung schließlich, die ja im anderen Teil Deutschlands nirgends auf wirklichen Widerspruch stieß, gegen ein unerprobtes Dokument eingetauscht, an dem sich scharfer Dissens so oder so notwendig entzündet hätte. Und dies in einer Situation, in der es alle Kräfte auf das wirklich Dringliche zu konzentrieren galt. Auch wenn man denen, die für eine neue Verfassung stritten, den reinen guten Willen, vor allem eine Art von demokratischer Prinzipientreue zugesteht – der Vorschlag eines solchen Tausches bleibt doch naiv und ohne jeden Sinn für die politischen Risiken des Unternehmens. Wenn denn andere Motive im Spiel waren, ließe sich auch härter urteilen. Es ist richtig: Der Beifall, der dem Grundgesetz damals von allen Seiten gezollt wurde, kann, wenn man die alternativen Verfassungsentwürfe ernst nimmt, kein ganz ehrlicher gewesen sein. Vielleicht ist der Verfassungskonsens, der das Grundgesetz trug und trägt, tatsächlich nicht ganz so intakt, wie die Verfassungsrhetorik glauben macht. Aber wenn das so wäre, gälte erst recht: Eine Verfassung, die selbst latenten Dissens in einen höheren Konsens einzubinden vermag, ist ein hohes Gut. Sie zu ersetzen durch eine Verfassung, die schon im Prozess ihrer Entstehung Verfassungsdissens zum offenen Ausbruch gebracht hätte, wäre schiere Unvernunft gewesen. Ein Rest dieser Unvernunft hat in den Art. 146 n. F. Eingang gefunden.51 Es ist eine gedanklich und sprachlich missratene Bestimmung, Produkt eines politischen Kompromisses, der notwendig war, um die erforderliche Mehrheit für die mit dem Einigungsvertrag verbundenen Verfassungsänderungen zusammenzubringen. Dass das deutsche Volk sich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt, wann immer es will, vom Grundgesetz verabschieden und eine neue Verfassung geben kann – aus dieser abstrakten demokratietheoretischen Binsenwahrheit eine Verfassungsnorm zu machen, war gänzlich überflüssig. In der sprachlichen Fassung, in der man es getan hat, wirft diese Binsenwahrheit ganz unnötig einen Verdachtsschatten auf das Grundgesetz, den Schatten des Verdachts, es sei um seine demokratische Legitimität nicht ganz gut bestellt. Es ist, nach allen Kriterien, ein abwegiger Verdacht.

51 Zu Art. 146 n. F. Martin Heckel, Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Philosophisch-historische Klasse) Jahrgang 1995/3, Heidelberg 1995; Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? München 2009.

60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht Koreas von

Emeritus Prof. Dr. Dr. h.c. Young Huh Yonsei Law School, Seoul/Korea

1. Verfassungsrechtliches Novum im Grundgesetz Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Kein anderer Satz des Grundgesetzes hat sich sowohl den Deutschen als auch Ausländern so eingeprägt. Von ihm her läßt sich das Verständnis des Grundgesetzes erschliessen. Die Würdegarantie, mit der das Grundgesetz anhebt, ist ein verfassungsrechtliches Novum. Die geltende koreanische Verfassung (Art. 10 im folgenden KV abgekürzt)1 hat wie viele andere ausländische Verfassungen ihn übernommen. Die Verbreitung der Menschenwürdegarantie in anderen Staaten stand stark unter dem Einfluss des Grundgesetzes, dem im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine Art Leitfunktion zuwuchs. Besonders Länder, die sich in dieser Zeit von diktatorischen Regimen aller Art befreien konnten, orientierten sich am Grundgesetz, wenn sie in ihren Verfassungen die Grundprinzipien der neuen Ordnung festlegen. Ein exemplarisches Beispiel fi ndet man in der Republik Korea, das nach langer militärischer Diktaturherrschaft erst 1987 eine neue freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung geschaffen hat. Die Menschenwürde ist im Grundgesetz oberstes Konstitutionsprinzip. Sie ist die Fundamentalnorm, auf der alles auf baut. Die nachfolgenden Grundrechte sind sämtlich Konkretisierungen dieser Fundamentalnorm: „Menschenwürde“. Auch die Strukturprinzipien der Staatsorganisation müssen mit ihren Grundlagen Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung so gestaltet werden, dass sie der Menschenwürde am besten Rechnung tragen 2. Es ist kein Wunder, dass das Grundgesetz in Deutschland von der breiten Bevölkerung als ihre Verfassung angenommen worden ist. 1

Vgl. Young Huh, Die Grundzüge der neuen koreanischen Verfassung von 1987, JöR Bd. 38, 1989, S. 566 ff. 2 Vgl. das noch nicht publizierte Vortragsmanuskript von Dieter Grimm, der es im Juni 2010 an der Yonsei Law School, Seoul/Korea gehalten hat, S. 2.

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2. 60 Jahre Grundgesetz – große Akzeptanz und normative Kraft Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird so nach 60 Jahren vielerorts als beste und am längsten gültige Verfassung Deutschlands gefeiert. Anlässlich des 60. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes ist 2009 das Verhältnis zwischen den Deutschen und ihrer Verfassung mittels einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung analysiert worden3. Dabei sollen drei Forschungsinteressen verfolgt haben: Erstens wurde ein Einstellungsprofi l der Deutschen zum Grundgesetz erstellt. Dabei zeigte sich, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen stolz auf das Grundgesetz (74 Prozent) und die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik (85 Prozent) ist. Trotzdem wünschen sich 83 Prozent der Bürger eine Überarbeitung der Verfassung. Die Ostdeutschen haben insgesamt eine schwächere emotionale Bindung an das Grundgesetz als die Westdeutschen. Während 77 Prozent der Westdeutschen angeben, stolz auf das Grundgesetz zu sein, sagen dies in Ostdeutschland nur 65 Prozent. Zweitens wurde ein theoretisches Erkenntnisinteresse verfolgt, das nach dem Patriotismus der Deutschen fragt. Der Publizist Dolf Sternberger hatte nach dem Zweiten Weltkrieg empfohlen, die Deutschen sollten „Verfassungspatrioten“ werden. Verfassungspatriotismus ist eine Art des Patriotismus, der nicht in erster Linie emotional ist und sich nicht auf die Nation und ihre Geschichte bezieht, sondern der auf einer Bindung der Bürger an die Verfassung und ihre grundlegenden Prinzipien beruht. Eine Faktorenanalyse konnte zeigen, dass tatsächlich zwei unterschiedliche Formen des Patriotismus in Deutschland existieren: ein eher rationaler Verfassungspatriotismus und eine eher emotionale Vaterlandsliebe. Das dritte Ziel der Studie war es, die Wechselwirkung zwischen der identitätsstiftenden Kraft einer zukünftigen EU-Verfassung, dem Grundgesetz und den Verfassungen der Bundesländer zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass Verfassungen wichtige identitätsstiftende Ressourcen sind, wobei sich die Deutschen stärker mit der Bundesrepublik (79 Prozent) verbunden fühlen als mit der EU (56 Prozent)4. Diese Analysen zeigen deutlich, wie starke Gefühlsbindung die Deutschen zu dem Grundgesetz haben. Daraus erwächst die starke normative Kraft des Grundgesetzes und die gegenwärtige politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Symptom ist aus der Sicht Koreas erstaunlich und sehr beneidenswert, denn von jeher in der Bevölkerung Koreas besteht eine geringe Akzeptanz für die Verfassung und die Verfassung hat in Korea nur sehr schwache normative Kraft. Die Verfassung Koreas hatte seit der Gründung der Republik Korea 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg niemals eine identitätsstiftende normative Kraft entfaltet, sondern nur als Mittel des Herrschens jeweiliger Machthaber gedient. Die neunmalige Verfassungsreform war dessen Folge. Die geltende Verfassung, die infolge einer Demokratisie3 Vgl. G. S. Schaal / H. Vorländer / C. Ritzi, 60 Jahre Grundgesetz, Deutsche Idendität im Spannungsfeld von Europäisierung und Regionalisierung, Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, 2009, 25 S. 4 Vgl. H. Vorländer, Die Deutschen und ihre Verfassung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 18–19, 2009, S. 8–18.

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rungsbewegung der Bürger 1987 zustande kam, wird als am längstens gültige und beste Verfassung in der koreanischen Verfassungsgeschichte bewertet. Dennoch entfaltet diese Verfassung ebenfalls keine große normative Kraft. Es besteht eine tiefe Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit. Wie alle Verfassungen im kulturellen Humus einer Nation wurzeln, ist das Grundgesetz auch aus einer völlig anormalen Nachkriegszeit 1948/1949 in Bonn entstanden. Der Boden des Grundgesetzes war jedoch bereits in Frankfurt 1848/1849 und in Weimar 1919 gelegt worden. Man kann sogar sagen, dass das Bonner Grundgesetz der demokratischen Revolution von 1848 mehr zu verdanken hat als jener von 19185. Wichtige Errungenschaft der Weimarer Nationalversammlung 1919 war demgegenüber in Zeiten der Niederlage und des Bürgerkrieges der Übergang von der konstitutionellen Monarchie der Bismarckverfassung 1871 zur rechtsstaatlichen Demokratie. Diese Weimarer Verfassung 1919, die von den Nazis 1933 beseitigt wurde, war im Übrigen besser als ihr späterer Ruf. Die erste deutsche Demokratie ging 1933 nicht an ihrer Verfassung zugrunde, sondern an Versailles und der Weltwirtschaftskrise seit 1929, welche die Deutschen für den Dämon Adolf Hitler anfällig machten. Der verfassunggebende Parlamentarische Rat 1948/49 lebte gleichwohl in der Furcht, dass „Bonn Weimar werden könnte“.6 Entscheidungen des Grundgesetzes zugunsten eines rein repräsentativen Bundespräsidenten, der starke Stellung des Bundeskanzlers einschließlich konstruktiven Misstrauensvotums und erschwerter Auflösung des Bundestages sowie manches Andere zeugen davon. Ferner sind als entscheidende Merkmale des Grundgesetzes zu nennen: Parlamentarische Demokratie, ein ernst gemeinter Grundrechtekatalog, das Bekenntnis zum Föderalismus als dauernder Verfassungswert – und nicht nur Übergangsform zum Einheitsstaat – und auch ein Bundesverfassungsgericht mit umfassenden verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten. Aus heutiger Sicht ist dem Wirken des Bonner Verfassunggebers zu bescheinigen, dass es ihm in einer Zeit der Not und des Niederganges und unter der argwöhnischen Kontrolle alliierter Gouverneure und Verbindungsoffiziere gelang, eine Verfassung deutschen Geistes und deutscher Tradition zu schaffen. Kaum jemals ist eine Verfassung unter so widrigen Umständen entstanden und hat sich in folgenden Jahrzehnten eine solche Popularität erworben wie das Grundgesetz. Es hat sich bereits 61 Jahre – länger als jede Vorgängerin in Deutschland – bewährt und ist, wie schon erwähnt, von der breiten Bevölkerung als ihre politische Lebensform angenommen worden.

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So Th. Oppermann, Deutschland in guter Verfassung? – 60 Jahre Grundgesetz, JZ 2009, S. 481. Vgl. K. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 1209 ff.

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3. Zukunftsorientierte Regelungen und Ausstrahlung des Grundgesetzes Als Außenstehender bewundert man die weite Sicht des Grundgesetzgebers und auch wohl durchdachte, zukunftsorientierte Regelungen im Grundgesetz. Insbesondere aus der Sicht Koreas, das ebenfalls wie Deutschland eine Teilung des Landes nach dem letzten Weltkrieg hinzunehmen hatte und als einziges Land auf der Erde noch keine Einheit errungen hat, erscheinen die Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes (Art. 23 und 146 vor der Einheit) als eine sehr kluge Entscheidung des Verfassunggebers. Die effektiven Auswirkungen dieser Regelungen hat man bei der Wende Deutschlands 1989/1990 mit Leib und Seele erlebt. Die Wiedervereinigung Deutschlands vollzog sich in Gestalt des Beitrittes der damaligen DDR gemäß Art. 23 GG ohne besondere verfassungsrechtliche Probleme7. Die koreanische Verfassung enthält leider keine derartige zukunftsorientierte Regelungen, und sie hat statt dessen durchaus kontradiktorische Bestimmungen hinsichtlich der Wiedervereinigung des Landes: Sie bestimmt einerseits das Territorium des Landes, das die ganze Halbinsel einschließlich des Nordkoreas umschließt (Art. 3 KV) und regelt andererseits eine verfassungsrechtliche Verpfl ichtung des Staates eine friedliche Wiedervereinigung des Landes herbeizuführen ( Art. 4 KV). Wenn man die vielen Rezeptionsprozesse von Verfassungen in der Welt und insbesondere seit 1989 nach Osteuropa hin und die fast weltweite Ausstrahlung des Grundgesetzes in seinen Texten, seiner Judikatur und seinen Theorien in Betracht zieht, dürfte das Grundgesetz in vieler Hinsicht als eine am meistens rezipierte Verfassung gelten. Zuerst kann die Ausstrahlung des Grundgesetzes in seinen Texten erwähnt werden. An erster Stelle ist man die starke Ausstrahlungskraft der Verfassungsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes zu nennen. Die geltende Verfassung Koreas hat ebenfalls wie viele andere Verfassungen nach dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichtes ein Verfassungsgericht eingeführt. Die entschlossene Haltung und grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in diversen Verfassungsfragen bildete den sichtbaren Höhepunkt einer verfassungsrechtlichen Entwicklung, in deren Verlauf es dem Bundesverfassungsgericht gelungen ist, sich als machtvoller Verfassungshüter gegenüber der Exekutive und der Legislative zu positionieren. Schon in den Anfangsjahren der Tätigkeit hat das Bundesverfassungsgericht es verstanden, seine institutionelle Autonomie gegenüber Regierung und Gesetzgeber zu bewahren und an die Tradition eines selbstbewußten und aktiv prüfenden Reichsgerichts der vorkonstitutionellen Zeit anzuknüpfen. Gestärkt wurde die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichtes durch das Selbstverständnis seiner Mitglieder als unparteiische Wächter von Verfassung und Demokratie. Trotz der teilweise berechtigten Kritik an überlangen Verfahrenszeiten, Kompetenzüberschreitungen und inkonsistenten Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland frei von politischer Kontrolle ist. 7 Vgl. K. Stern (Hg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit, 4 Bde., 1991–1993; B. Guggenberger / T. Stein (Hg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahre der deutschen Einheit, 1991.

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Die Situation in Korea ist dagegen weniger eindeutig. Gemessen an der Zahl der verhandelten Fälle, der vom Verfassungsgericht gegen den Gesetzgeber oder staatliche Behörden ergangenen Entscheidungen und der Beachtung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zum Nominierungsverfahren der Verfassungsrichter erscheint das Verfassungsgericht jedoch als unabhängige, mit zunehmender Tätigkeitsdauer aktiver auftretende und von allen politisch relevanten Akteuren akzeptierte Kontroll- und Prüfungsinstanz8.

4. Abwendung von der Grundrechtsauffassung der Weimarer Zeit Bei Grundgesetz fällt auf, dass es die Grundrechtsordnung anders als die Weimarer Verfassung geschaffen hat. Das kann hier nur kurz umrissen werden. Vor allem ist anzumerken, dass die ältere Problematik der Grundrechte aus der Weimarer Zeit vom bloßen „Programmsatz“ durch Art. 1. Abs. 3 GG überholt ist9. Allgemeine Übereinstimmung herrscht heute darin, dass die Festlegungen der Grundrechte nach Möglichkeit als aktuelle verbindliche Normierungen aufzufassen sind. Im Einklang mit Art. 1 Abs. 3 GG erkennt man an, dass die Grundrechte auch den Gesetzgeber binden, dass sie in ihrer Gesamtheit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers einen Rahmen setzen, an den er nicht nur als Schranke, sondern auch als Ziel und Auftrag verbindlich gebunden ist. Damit werden die Grundrechte zur bindenden Leitlinie für das Verhältnis von Staat und Bürger, aber darüber hinaus auch für die ganze Rechtsordnung. Diese Erhebung der Grundrechte zu einem Bestand höherer, alle Gebiete des Rechts durchdringender Normen scheint einer der markantesten Züge der Entwicklung der letzten 61 Jahre des Grundgesetzes zu sein. Das wirft dann freilich die Frage der Wirkung dieser Grundrechtsnormen außerhalb des Staat-Bürger-Verhältnisses auf, der sog. Drittwirkung. Diese Frage führt dahin, die in den Grundrechten enthaltenen objektiven Prinzipien und Festsetzungen in ihrem institutionell-funktionalen Gehalt auch für andere Rechtsgebiete und Rechtsbeziehungen jenseits des Staat-Bürger-Verhältnisses fruchtbar zu machen10. Die Rechtsprechung spricht hier von den in den Grundrechten ausgedrückten „Wertentscheidungen“ der Verfassung; sie hat namentlich Grundsätze, die den Schutz von Ehe und Familie11, die Meinungs- und Pressefreiheit12 oder die persönliche Freiheit13 betreffen, in dieser Weise als objektive Wertentscheidungen gekennzeichnet. 8 Vgl. Über die Verfassungsgerichtsbarkeit in Korea Y. Huh, Sechs Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in der Republik Korea, JöR Bd. 45, 1996, S. 535 ff.; derselbe, Entwicklung und Stand der Verfassungsgerichtsbarkeit in Korea, in: Ch. Starck (Hg.), Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt, Teil 1, 2004, S. 85 ff. 9 Zu diesem Problem vgl. A. Buschke, Die Grundrechte der Weimarer Verfassung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, 1930, S. 42 ff. 10 Zu dieser institutionellen Sicht der Drittwirkung siehe K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl., 1984, Rn. 351 ff. 11 Vgl. BVerfGE 13, S. 318; 19, S. 193, 198 (Aufenthalt für Ausländer und Art. 6 Abs. 1 GG). 12 Vgl. BVerfGE 7, S. 198 ff. (Lüth); BVerfGE 25, S. 256 ff. (Blinkfuer) und BVerfGE 30, S. 173 ff. (Mephisto). 13 Vgl. BVerfGE 10, S. 302, 322 (Unterbringung durch Vormund).

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Ferner hatte Carl Schmitt in der Weimarer Zeit den Unterschied zwischen Freiheitsrechten und institutionellen Garantien scharf herausgearbeitet, sie aber zugleich auch damit als Typen streng getrennt14. Es ist jedoch unter der Geltung des Grundgesetzes anerkannt, dass in vielen Grundrechtsvorschriften beide Bestandteile, sowohl subjektive Berechtigungen wie objektive rechtliche Aussagen, enthalten sind. Es genügt, auf die Bedeutung des Schutzes der Institution des Eigentums in Art. 14, der Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 zu verweisen. Für die Grundrechtsauffassung der Weimarer Verfassung liegt es nahe, an eine Ergänzung der Freiheitsrechte durch die Einführung sozialer Grundrechte, d. h. grundrechtlicher Zusagen und Verheißungen, zu denken. In erster Linie kämen hier ein Recht auf Arbeit, auf Bildung oder auf soziale Sicherung (Lebensstandard) in Betracht. Ihre Einführung würde indes notwendig ein Umdenken in der rechtlichen Deutung grundrechtlicher Normen fordern. Soziale Rechte können nicht in negativer Form gegen den Staat ausgedrückt werden, sie sind in ganz besonderem Maße staatliche Zielbestimmungen. Sie können auch nicht mit dem Anspruchs- und Schrankendenken der herkömmlichen Interpretation bewältigt werden. Soziale Grundrechte stellen vielmehr Zielvorstellungen dar, denen der Staat im Rahmen seiner Möglichkeit nachstreben sollen. Das Grundgesetz statuiert anstelle sozialer Grundrechte der Weimarer Verfassung die Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1). Legt man diese Einsicht in die Struktur sozialer Grundrechte zugrunde, so zeigt sich, dass diese Rechte – von denen im Grundgesetz nur Spuren in Art. 6 Abs. 1, 4 und 5 sich fi nden – in der Richtung auf eine objektive Deutung als Zielbindung, als Gezetzgebungsaufträge aufzufassen sind. Ihr Anliegen wird daher im Grunde schon dort aufgenommen, wo institutionelle Anwendungen anderer Grundrechte stattfi nden, bei denen notwendig Gedanken des Ausgleichs der Interessen und des staatlichen Schutzes für die vorgestellte soziale Ordnung auftreten15. Es wäre daher falsch, bei der Situation der Grundrechte im Sozialstaat auf soziale Rechte zu großes Gewicht zu legen. Die Einwirkung sozialstaatlicher Verhältnisse auf die Grundrechte geht daher nicht im Sinne äußerer Begrenzungen und Einbindungen vor sich. Sie wird vor allem sichtbar in der veränderten Rolle des Gemeinwesens, seinem Eingreifen zur Erhaltung und Förderung der Freiheiten16. Das weist ebenfalls in die Richtung der Verstärkung der objektiven Elemente der Grundrechtsnormen. Ihre Funktionen als Zielsetzungen, als Richtlinien für den Gesetzgeber bei dessen Gestaltungsaufgabe zur Ausführung der Grundrechte tritt hervor17. In diesem Zusammenhang bekommt die Einsicht, die das Gesetz nur als Begrenzung der Grundrechte zu würdigen weiß, das weitere und vielseitigere Problem der Einfügung der Grundrechte in die allgemeine Rechtsordnung nicht zu Gesicht. Peter Häberle hat richtig auf diese Funktion des Gesetzes als Weg der Ausgestaltung der Grundrechte hingewiesen, die sich von der Bedeutung des Gesetzesvorbehaltes klar unterscheidet18. Gewiß darf man diese Seite der gesetzlichen Ergänzung und Ausfor14 15 16 17 18

C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 164 ff. Siehe hierzu R. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 188 ff. Siehe hierzu z. B. BVerwGE 27, S. 364 (Privatschule). Vgl hierzu auch P. Saladin, Grundrechte im Wandel, 1970, S. 459 f. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962, S. 140 ff., 193 ff.

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mung grundrechtlicher Normen nicht überbetonen, aber sie ist gerade für die Sozialgesetzgebung, die egalitäre Maßstäbe zu verwirklichen hat und sozialstaatliche Aufträge ausführt, von erheblicher Bedeutung. Die koreanische Verfassung enthält im Gegensatz zu dem Grundgesetz viele soziale Grundrechte nach dem Vorbild der Weimarer Verfassung. Zu nennen sind etwa Recht auf Bildung( Art. 31 KV), Recht auf Arbeit (Art. 32 KV), Recht auf soziale Sicherung (Existenzsicherung) (Art. 34 KV) und sogar Recht auf saubere Umwelt (Art. 35 KV) usw. Sie treten mit ihren Forderungen nach sozialer Einschränkung und sozialem Ausgleich zugleich auch in einen gewissen Gegensatz zu den Freiheitsrechten. Diese Rechte können jedoch allein vom Sozialstaatsprinzip her erfaßt und erhellt und nur in der Richtung auf eine objektive Deutung als Zielbindung, als Gesetzgebungsaufträge verstanden werden. Von diesem Standpunkt aus dürfte das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes v. 9. 2. 2010 wohl für die Auslegung der sozialen Grundrechte in der koreanichen Verfassung nicht ohne von Bedeutung sein, wenn es in seinem Urteil ausführt: „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebietet jedoch, auch einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf zu decken, wenn dies im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist“19. Die Achtung der Menschenwürde und Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt werden in der koreanischen Verfassung (Art. 10) ebenso wie das Grundgesetzt geregelt.

5. Judikative und theoretische Ausstrahlung des Grundgesetzes Das Grundgesetz strahlt nicht nur in seinen Texten sondern gleichfalls auch in seiner Judikatur und in seinen Theorien aus. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten und die dogmatischen Auseinandersetzungen der Verfassungsfragen in der Bundesrepublik Deutschland werden in Korea mit großen Interessen verfolgt. Darüber können hier nur einige auffallende Punkte kurz umrissen werden. Zunächst kommt die Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes über die Berufsfreiheit als markantes Beispiel in Betracht. Die Stufentheorie, die das Bundesverfassungsgerichtes in seinem Apotheken-Urteil 20 aufgestellt hat, hat das koreanische Verfassungsgericht seit Anfang seiner Tätigkeit bei der Prüfung über den Inhalt und Umfang der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers über die Berufsfreiheit nach Art. 15 und Art. 37 Abs. 2 KV substanziell aufgenommen, obwohl der Wortlaut der Gewährleistung der Berufsfreiheit in beiden Verfassungen nicht übereinstimmt. Die koreanische Verfassung regelt die Berufsfreiheit nur mit einem einzigen Satz wie folgt: „Alle Koreaner haben das Recht, Beruf frei zu wählen“. Aber Text und Auslegung des Art. 12 GG und Art. 15 KV bewirken in beiden Ländern, dass die eigentlichen Fragen der heutigen Wirtschaftsordnung sich außerhalb der Reichweite des Art. 12 GG und Art. 15 KV befinden. Das Problem der 19 20

BVerfGE v. 9. 2. 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 u. 1 BvL 4/09. BVerfGE 7, S. 377 ff.

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Mitbestimmung, der breiten Vermögensbildung, die Sorge für die Vollbeschäftigung, diese Kernfragen des Sozialstaates liegen nicht im Bereich des Art. 12 GG und Art. 15 KV. Die verfassungsrechtliche Garantie des Eigentums in der koreanischen Verfassung (Art. 23) ähnelt der im Grundgesetz (Art. 14). Es ist allerdings zu betonen, dass anders als bei anderen Grundrechten, die einen festeren Bestand und eine stetigere Entwicklung aufweisen, der Schutz des Eigentums und seine verfassungsrechtliche Ausprägung von Veränderungen der sozialen Verhältnisse, aber auch von der Wandlung der Vorstellungen über eine gerechte soziale Ordnung in stärkerem Maße abhängig bleibt. Aber die Fortentwicklung des Eigentumsschutzes in Lehre und Rechtsprechung, die in der Anwendung der Eigentumsregelung vorgenommenen inhaltlichen Erweiterung und Verstärkung der Sicherung des Eigentums im Sinne einer Einbeziehung aller Vermögensrechte in einen wirksamen Schutz und in der erweiternden Auslegung des Enteignungsbegriffes, hat offensichtlich eine gleiche Tendenz in beiden Ländern. Legt man die entscheidende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und koreanischen Verfassungsgerichtes zugrunde, die diese erweiterte Eigentumslehre ausarbeitete, so sind ihre gemeinsame Grundzüge eindeutig erkennbar. So wird man zu dem Urteil gelangen können, dass die Rechtsprechung der Eigentumsgarantie unter der Geltung der koreanischen Verfassung in wesentlichen Teilen nur den Anschluß der koreanischen Lehre an eine in Deutschland längst vollzogene erweiterte Sicht des Eigentumsschutzes vollzog und dass sie hierin im Einklang mit der modernen Entwicklung blieb, die einerseits unzweifelhaft die soziale Verpfl ichtung des Eigentümers verstärkt und die staatliche Lenkung und Beeinflussung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ständing steigert, darum aber auf der anderen Seite auch einer erneuerten und erweiterten Interpretation der Eigentumsgarantie bedarf. An dieser Stelle muß auch erwähnt werden, dass die Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes bezüglich des Rechtsstaatsprinzips in Korea hoch beachtet wird und die koreanische Lehre und Rechtsprechung sie weitgehend zu übernehmen pflegen. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich das Rechtsstaatsprinzip ständing fortentwickelt und nach zahlreichen Richtungen konkret entfaltet. Von wesentlicher Bedeutung sind in diesem Zusammenhang namentlich das Gebot des Vertrauensschutzes21, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit22, und das Recht auf ein faires Verfahren 23, die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werden und damit Verfassungsrang gewinnen. Der Gesetzgeber handelt ebenfalls in Bindung an diesen rechtsstaatlichen Prinzipien, aber innerhalb dieser Rahmen hat er eine volle Freiheit und Sozialgestaltung und Verantwortung. In einem weiteren Sinne ist daher die Gesetzgebung Verfassungsauslegung, allerdings mit dem Risiko behaftet, dass eine Auslegung nicht die 21

Vgl. z. B. BVerfGE 30, 392 (403); 43, 242 (286); 49, 168 (185). Vgl. z. B. BVerfGE 19, 342 (348 f.); 35, 382 (400 f.); 61, 126 (134). 23 Vgl. z. B. BVerfGE 26, 66 (71); 38, 105 (111); 46, 202 (210); 49, 24 (55); 57, 250 (274 f.); 63, 45 (60 f.). 22

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Anerkennung des Bundesverfassungsgerichtes fi ndet. Aus diesem Zusammenhang taucht daher die schwierige Frage der Wechselwirkung des Gesetzgebers und des Verfassungsgerichtes auf, über die sowohl in der Bundesrepublik Deutschland und als auch in Korea noch nicht zur Eindeutigkeit gelangt sein dürfte24. Die dogmatische und praktische Entwicklung der Verfassungsauslegung unter der Geltung des Grundgesetzes scheint mir auch zu einer optimalen Wirksamkeit erreicht zu haben. Das Prinzip der Harmonisierung gilt dabei als eines der grundlegenden Gebote der Verfassungsauslegung in Deutschland. Da eine moderne Verfassung ein einheitliches Ganzes ist und als solches interpretiert werden muß, sollen Widersprüche und Gegensätze innerhalb des Textes von der Auslegung ausgeglichen, d. h. „harmonisiert“ werden. Dabei kommt sowohl das Moment der Anerkennung gewisser leitender Grundprinzipien zur Geltung, in deren Licht Einzelheiten verstanden, begrenzt oder vertieft werden müssen, wie der Gedanke gegenseitiger Abwägung verschiedener Grundgedanken und auch der der Beachtung des gegenseitigen inneren Zusammenhangs zwischen Grundrechten und institutionellen Ordnungen der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Zusammenhänge deutlich erkannt und in der Judikatur ausgeführt, dass in einer Demokratie nicht möglich ist, die Einzelperson des Grundrechtsteils rein als eigennütziges und isoliertes Individium, als antistaatlich ausgerichteten Träger von Rechten zu verstehen, ohne damit die politische Ordnung, die auf dem Gedanken eines am Staat mitwirkenden, verantwortlich zum Ganzen orientierten Bürgers beruht, tatsächlich zu unterhöhlen. Die hier liegende Begrenzung rein individueller Zwecksetzung im Grundrechtsteil scheint mir freilich bei deutscher herrschenden Auslegung genügend beachtet zu werden. Diese Zuordnung von Grundrechten und anderen Rechtsgütern nimmt das Grundgesetz nur zu einem geringen Teil selbst vor. Wenn es in der abgestuften Bindung der Gesetzesvorbehalte – statt eines allgemeinen Gesetzesvorbehaltes wie die koreanische Verfassung (Art. 37 Abs. 2 KV) – die Zuordnung dem Gesetzgeber anvertraut, so ändern doch die unterschiedlichen Formen der Begrenzungsmöglichkeit nichts daran, dass es sich um ein und dieselbe Sache handelt, nämlich die Herrstellung und Erhaltung eines Ordnungszusammenhangs, in dem sowohl die grundrechtlichen Freiheiten als auch jene anderen Rechtsgüter Wirklichkeit gewinnen. Soweit die Bestimmungen, die beide schützen, in ihrer sachlichen Reichweite einander überschneiden oder miteinander kollidieren, ist Grundrechtsbegrenzung nach Konrad Hesse „Herstellung praktischer Konkordanz“25. Die Aufgabe praktischer Konkordanz erfordert die „verhältnismäßige“ Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern: bei der Interpretation verfassungsmäßiger Begrenzungen oder der Begrenzung auf Grund eines 24 Vgl. etwa P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht als Ordnungsmacht – ein Legitimationsproblem, in: FS H. J. Kiefer, 1996; derselbe, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber – ausgewählte Grundfragen, Public Law Vol. 25–1, Korean Public Law Association, 1997, S. 177; Y. Huh, Das Verfassungsgericht und die Gesetzgebung, Constitutional Law Review of the Constitutional Court of Korea, Vol. 19, 2008, pp. 9. 25 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Auf., 1984, Rn. 317.

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Gesetzesvorbehalts geht es darum, beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen zu lassen 26. Das Bundesverfassungsgericht hat dafür vier Grundsätze aufgestellt, die bei der Grundrechtsbegrenzung zu beachten sind, nämlich die Erforderlichkeit, die Geeignetheit, das Gebot des milderen Mittels und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, d. h. Wahrung eines angemessenen Verhältnisses zwischen der Grundrechtsbegrenzung und dem Gewicht bzw. der Bedeutung des Grundrechts27. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt als einer der großen Fortschritte beim Freiheitsschutz. Es hat, wie ausgeführt, seinen Ursprung in Deutschland, ist vom Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsebene gehoben worden und hat sich mittlerweile als Maßstab für Freiheitsbeschränkungen in aller Welt verbreitet. Das koreanische Verfassungsgericht hat in der Judikatur diesen bundesverfassungsgerichtlichen Duktus übernommen und pflegt bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Grundrechtsbegrenzung ihn als ein wichtiges Maßstab zu verwenden. Es gebraucht nur eine andere Terminologie als das Bundesverfassungsgericht wie „Zweckgerechtigkeit“, „Geeignetheit des Mittels“, „Erforderlichkeit des mildesten Mittels“ und „Güterbalancierung“. Die Theorie und Judikatur im Bezug auf Verfassungsauslegung und Grundrechtsbegrenzungen, die in Deutschland breitere Zustimmungen bekommen und ständing praktiziert werden, dürften nicht nur in Korea sondern auch in vielen Ländern, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit institutionalisiert haben, einen starken Einfluß haben. Deutschland hat nach 61 Jahren Grundgesetzgeltung zweifellos eine mustergültige Verfassungsgerichtsbarkeit zustande gebracht und gezeigt, dass die Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit nur auf diese Weise zu einer optimalen Übereinstimmung gelangt werden können.

6. Staatsorganisation und Regierungsform im Grundgesetz Das Grundgesetz hat sehr wirkungsvolle Regelungen für eine freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung geschaffen. Die Dimension der vertikalen und horizontalen Legitimation der Herrschaft und Kontrolle demokratischer Herrschaft kommt im Grundgesetz klar zum Ausdruck. Im Grundgesetz ist der Herrschaftszugang prinzipiell offen und durch die effektive Gewährleistung des allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlrechts institutionalisiert (Art. 38 GG). Damit das Wahlrecht tatsächlich effektiv ist, müssen, erstens, Wahlen korrekt durchgeführt werden und die Vergabe politische Mandate entsprechend dem Ergebnis dieser Wahlen erfolgen. Zweitens müssen politische Mitwirkungsrechte im Sinne freier Meinungs- und Willensbildung zur Beeinflussung politischer Prozesse gegeben sein. 26

K. Hesse, aaO., Rn. 318. Vgl. etwa BVerfGE 7, 377 (405 ff.); 11, 30 (42 f.); 13, 97 (104 f.); 14, 19 (24); 17, 269 (274 ff.); 19, 330 (337); 23, 127 (133); 25, 1 (17 f., 22); 30, 292 (315 f.); 35, 382 (400, 401); 38, 281 (302); 38, 348 (368); 43, 242 (288); E. Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des BVerfG, AÖR 98, 1973, S. 568 ff.; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; R. Wendt, der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, AÖR 104, 1979, S. 414 ff. 27

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Diese beide Voraussetzungen sind nach meiner Beobachtung in Deutschland weitgehend erfüllt. Insbesondere haben dazu die seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland etablierten politischen Parteien großen Beitrag geleistet. Die politischen Pareteien sind im Grundgesetz (Art. 21) erstmals als legitime Mitgestalter der politischen Willensbildung verfassungsrechtlich anerkannt und sie stellen die entscheidenden Akteure der demokratischen Ordnung dar. Nur wird man allerdings ab und zu stutzig, wenn sich politische Parteien bei Koalitionsverhandlungen nach einer Bundes- oder Landtagswahlen nicht unbedingt dem Willen der Wähler getreu verhalten und eher parteipolitische Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen versuchen. Es mag in einer parlamentarischen Demokratie deutscher Prägung, die durch Mehrparteiensystem 28 und duales Wahlsystem, d. h. relatives Mehrheits- und personalisiertes Verhältniswahlsystem, gekennzeichnet ist, eine Koalitionsregierung unabdingbar erscheinen, weil es nicht häufig vorkommt, eine Partei die absolute Mehrheit im Parlament zu erringen. Dennoch sollten politische Parteien vor der Wahl nicht nur politische Programme verkünden sondern auch ggf. gewünschten Koalitionspartner deutlich zum Ausdruck bringen und nach der Wahl unbedingt daran halten 29. Die abwegige Koalitionspraxis in Deutschland dürfte ferner in Hinsicht auf die politische Agendakontrolle zu einem negativen Ergebnis führen. Denn in einer Demokratie liegt das Monopol auf die Setzung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen allein bei demokratisch direkt oder indirekt legitimierten, in ihren Herrschaftshandeln konstitutionell gebändigten politischen Autoritäten. Sie üben die Verfügungsgewalt über den ihnen zugewiesenen Kompetenzbereich aus. Jedoch ist zweifelhaft, ob die gängige Koalitionsbildung eine entscheidungskompetente Regierung in die Wege leiten kann, weil man zu beobachten ist, dass es bei der gegenwärtigen CDU/CSU und FDP – Koalitionsregierung Deutschlands in vielen Bereichen hapert. Die 5-Parteien-Konstellation stellt mit den suboptimalen Aussichten auf häufige Dreiparteien- oder Große Koalitionen eine Minderung der gouvernementalen Handlungsfähigkeit ebenso dar wie damit verbunden den Übergang von der Kanzlerdemokratie zur ständigen Kompromissuche zwischen fremdelnden Regierungsparteien30. Was die Dimension der horizontalen Legitimation und Kontrolle demokratischer Herrschaft betrifft, scheint mir das Grundgesetz sehr effektive Regelungen getroffen zu haben. In liberalen Demokratien ist die Staatsgewalt zwischen mehreren sich gegenseitig kontrollierenden Gewalten so getrennt, dass diese sich wechselseitig kontrollieren können. Es besteht eine verfassungstheoretische und legale Grenze zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre. Die Herrschaftsweise folgt verfas28 Deutschland hatte ursprünglich Zweiparteiensystem, aber die deutsche Parteiengeschichte kannte seit dem 19. Jahrhundert den Liberalismus als dritte politische Kraft. Und die Erfahrung seit den achtziger Jahren hat gezeigt, dass das personalisierte Verhältniswahlrecht des Bundeswahlgesetzes einer allmählichen Zerfaserung der deutschen Parteienlandschaft nicht entgegensteht. Mag auch die FünfProzent-Klausel das Auf kommen von extremen Splitterparteien verhindern, ist heute mit der Etablierung der Grünenpartei (Bündnis 90 / Die Grünen) und neuerdings der Linken mit Wurzeln in der alten DDR die Diversifi zierung vom Drei- zum Fünfparteiensystem vollzogen worden. 29 Die politischen Gegebenheiten in Nordrhein-Westfalen nach der Landtagswahl im Mai 2010 scheinen mir aus diesem Gesichtspunkt sehr bedenklich zu sein. 30 So Th. Oppermann, JZ 2009, S. 488.

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sungsrechtlich legitimierten Prinzipien und Beschränkungen. Dies betrifft das Verhältnis der Staatsgewalten zueinander, die Rechtmäßigkeit des Regierungshandeln und dessen Überprüfung mittels horizontaler Kontrollinstrumente d. h. checks and balances sowie judicial review. Dies bezieht sich natürlich auch auf den Bereich der bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte, worauf aber hier im einzelnen nicht weiter eingegangen sein wird. Das Grundgesetz sichert dem Bundeskanzler eine herausragende Stellung innerhalb der Bundesregierung und gegenüber dem Parlament (Art. 63–65 und 68 GG). Eine Ergänzung stellt das „konstruktive“ Misstrauensvotum des Art. 67 GG dar, welches eine Mißtrauenserklärung des Bundestages an den Kanzler mit der Wahl eines Nachfolgers koppelt. Die Absicht der Verfassungsväter, mit dem Grundgesetz in Deutschland anders als zu Weimarer Zeiten, in denen nicht weniger als 20 Regierungen wechselten, eine stabile und handlungsfähige Demokratie zu errichten, kommt hier besonders deutlich zum Ausdruck. Das konstruktive Misstrauensvotum hat 1972 und 1982 in Scheitern und Gelingen zweimal seine Sinnhaftigkeit bewiesen. In den 61 Jahren des Grundgesetzes haben bislang lediglich 8 Bundeskanzler amtiert, davon zwei für 14 bzw. 16 Jahre. Damit hat sich die Absicht des Grundgesetzgebers verwirklicht. Nur ein einziger Punkt sollte an dieser Stelle angemerkt werden, ob es nicht besser gewesen wäre, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages im Grundgesetz einzuführen, damit nicht mehr Systemverbiegungen des Art. 68 GG wie in den Jahren 1983 und 2005 vorkommen31. Die bundesstaatliche Struktur und die Institution des Bundesrates des Grundgesetzes dürften als einen sehr wirkungsvoll funktionierenden Mechanismus der Gewaltenteilung bezeichnet werden, der ein typisch deutsches Phänomen sein könnte. Es mag dahingestellt bleiben, ob man die bundesstaatliche Struktur nach Konrad Hesse32 als vertikale Gewaltenteilung kennzeichnet, scheint mir jedenfalls nicht verkennen zu können, dass die Struktur des Bundesstaates und des Bundesrates des Grundgesetzes in vielen Punkten von föderativen Bundesorganen anderer Bundesstaaten, etwa der USA, der Schweiz oder Österreichs, abweicht. Und die eigenartigen Strukturmerkmale des Bundesrates, zu denen das föderative, parteipolitische und administrative Element gemischt gehören, dürften durchaus sinnvolle Wirkung entfalten. Das Grundgesetz hat in der Regelung der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten von Weimarer Reichsverfassung abgekommmen und einem parlamentarischen Regierungssystem gerecht geregelt. Vor allem stimmt die indirekte Wahlmodalität des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung mit der Kompetenzregelung des Bundespräsidenten überein. Aus diesem Grund erscheint die gelegentliche Diskussion über die Einführung eines plebiszitären Wahlsystems Weimarer Prägung des Bundespräsidenten verfassungstheoretisch nicht systemgerecht. Denn verfassungstheoretisch müssen die Wahl- und Kompetenzregelung miteinander in einer harmonischen Relation stehen. Eine direkte Wahl bedeutet noch größere Le31

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorfälle nur mit Bedenken durchgehen lassen. Vgl. BVerfGE 62, 1 ff.; 114, 121 ff. 32 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 1984, Rn. 231.

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gitimität des Gewählten und ferner größere Legitimität verlangt mehr Kompetenzen in seinem Amt. In einer Kanzlerdemokratie grundgesetzlicher Prägung kann jedoch das Amt des Bundespräsidenten nicht mit größeren Kompetenzen ausgestattet werden. Dennoch dürfte es nicht ganz abweg erscheinen, sorgfältig abzuwägen, ob die Kandidatenaufstellung bei der Bundespräsidentenwahl einer ungebrochenen Tradition folgend völlig dem parteipolitischen Kalkül überlassen oder der Wille der Bürger darauf mehr Einfluss nehmen lassen soll33. Ferner sollte man darüber tief nachdenken, ob es unabdingbar wäre, die Wahlmänner der Bundesversammlung bei Stimmabgabe mit Parteizwang an die Parteidirektive zu binden. Das Amt des Bundespräsidenten hat ja ohnehin parteiunabhängigen Symbolcharakter nationaler Einheit und Integration34. Ferner sieht das Grundgesetz zu Recht keine Volksabstimmung vor. In einer repräsentativen Demokratie nimmt heutzutage allgemein eine Politikverdrossenheit zu, die sich in abnehmender Wahlbeteiligung und Befürwortung der Möglichkeiten direkter Demokratie äußert 35. Insbesondere werden solche Stimmen im Laufe der technischen Entwicklung der digitalen Kommunikation und des Internets immer lauter. Die unhaltsame medialtechnische Entwicklung im Wege der „Digitalisierung“ in Medienbereichen führt zu Veränderungen in der Massenkommunikation. Und die technische Durchsetzung des Internets eröffnet immer neue Möglichkeiten und Anwendungsbereiche. Es gibt heutzutage kaum noch Lebensbereiche, in die das Internet nicht vorgedrungen ist. So glaubt man etwa, dass auch politische Entscheidungen per Internet direkt herbeigeführt werden könnten. Das Internet ist dennoch keine politische Agora, wo verantwortliche politische Entscheidungen getroffen werden können. Denn die Internet-Kommunikation enthält beachtliche Risiken in sich, wie etwa die zügellose Verbreitung von Gemeinwohl gefährdender politischer Propaganda im Internet. Bei Befürworten direkter Demokratie handelt es sich wahrlich um die Suche nach vermeintlich besserer Demokratie und nicht um prinzipielle Ablehnung der repräsentativen Demokratie. Eine bessere Herrschaftsform als eine repräsentative Demokratie dürfte in heutiger pluralistischer Massengesellschaft kaum vorstellbar sein, auch wenn die jetzige Form der Demokratie oft schwerwiegende Mängel aufweisen sollte. Vor allem lässt der wachsende Verdruss über die direktgewählten Repräsentanten die repräsentative Demokratie in Verruf geraten36. 33 Die Wahl des zehnten Bundespräsidenten am 30. Juni 2010 hat deutlich gezeigt, dass der Volkssouverän in Deutschland nicht abgedankt sondern wochenlang in den Bundespräsidentenwahlkämpfen Position bezogen hat. 34 Der zehnte Bundespräsident Christian Wulff wurde erst in 3. Wahlgang mühsam gewählt, weil es in ersten und zweiten Wahlgang sehr viele Abweichler aus dem Koalitionslager gab. 35 Vgl. z. B. C. Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008. 36 Ein naheliegendes Beispiel wäre die hinkende Nichtraucherschutzpolitik Bayerns. Nach dem positiven Entscheid des Bundesverfassungsgerichtes über ein striktes Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317 ff.) 2008 hat der Landesgesetzgeber von Bayern wohl aus wahltaktischen Gründen mangelnde Konsequenz bei der Durchsetzung ihrer Konzepte gezeigt. Dass in Bayern das Volk selbst im Juli 2010 über diese Frage als Gesetzgeber ein striktes Rauchverbot in Gaststätten gesprochen hat( Art. 74 BayVerf.), sollte als eine dringende Mahnung an den Gesetzgeber verstehen. Die koreanische Verfassung kennt kein Volksbegehren, sie sieht aber eine Volksabstimmung in Ausnahmefällen vor (Art. 72 KV). Nämlich kann der Staatspräsident eine Volksabstimmung herbeiführen, falls er es für erforderlich hält, Fragen der Außenpolitik, nationaler Verteidigung, der Wiedervereinigung des Landes und sonsti-

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Das grundgesetzliche Instrumentarium der „abwehrbereiten“ Demokratie in Gestalt von Parteienverbot (Art. 21 GG), Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) und Widerstandsrecht (Art. 20 GG), das in Erinnerung an Weimarer Zeit im Grundgesetz seinen Niederschlag gefunden hat, dürfte für Abwendung des verfassungsfeindlichen Extremismuses von Bedeutung sein. Es ist kein Zufall, dass die koreanische Verfassung ebenfalls Parteienverbot als Verfassungsschutzmittel geregelt hat (Art. 8 Abs. 4 KV).

7. Schlussbemerkungen Die „Anti-Weimarer-Haltung“ des Grundgesetzes ist verständlich und hat sich gewiss in politischer Realität der Bundesrepublik Deutschland bewährt. Es verwundert daher nicht, dass sich die im Grundgesetz getroffenen politischen Grundentscheidungen im Wesentlichen durch die Jahrzehnte hindurch bewährt haben und keiner allzu großen Korrektur bedürfen. Einzelne Verbesserungen der Staatsorganisation aufgrund erkannter Defizienzien und fortschreitender Entwicklung der Europäischen Union sind immer denkbar und wurden bereits in 52 Fällen mit den verfassungsändernden Mehrheiten im Sinne des Art. 79 Abs. 2 GG verwirklicht. Das Grundgesetz hat auf diese Weise die „fl ießende Geltungsfortbildung“ im Sinne von Rudolf Smend vollzogen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes, in der sich Elemente der repräsentativen, parlamentarischen und Parteiendemokratie mit solchen des Rechtsstaates, insbesondere in Gestalt der Grundrechte verbinden, steht unangefochten in Geltung. Das Grundgesetz hat eine langfristig gefestigte, handlungsfähige Demokratie ermöglicht, deren Funktionieren den Vergleich nicht nur zur Weimarer Republik, sondern auch mit anderen europäischen und außereuropäischen Verfassungsstaaten nicht zu scheuen braucht. Denn man findet im Grundgesetz eine mustergültige Verfassung des parlamentarischen Regierungssystems, während die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gerade den Ursprung des Präsidialsystems darstellt. Dennoch darf man nicht leugnen, dass es in Deutschland noch unbewältigte gesellschaftliche Probleme gibt. Dabei geht es vor allem um die Integrationswirkung des Grundgesetzes. Nach einer fundierten soziologischen Untersuchung haben sich die Deutschen in Ost und West in den 40 Jahren der Trennung gesellschaftlich und emotional tiefer auseinander gelebt, als man Anfang der Einheit zu glauben vermochte37. Es scheint mir daher als eine primäre Zukunftsaufgabe des Grundgesetzes zu sein, einen Weg zu fi nden, um die innere Wiedervereinigung zu beschleunigen. Es gibt allerdings hoffnungsvolle Vorzeichen. Auch wenn viele Ostdeutschen die „Ost-Nostalgie“ nicht ganz aufgegeben haben und die Ostdeutschen eine schwächere emotionale Bindung an das Grundgesetz als die Westdeutschen haben, dennoch sagen immerhin 65 Prozent der Ostdeutschen auf das Grundgesetz stolz zu sein, ge wichtige Politik, die nationale Sicherheit betrifft, einer Volksabstimmung zu unterwerfen. Bisher hat kein Staatspräsident von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. 37 Vgl. K. Schröder, Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, 2006.

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wie bereits in der Einführung erwähnt wurde. Ferner kommt der Umstand dazu, dass die große Mehrheit der Deutschen darin übereinstimmt, dass sie in der Zeiten sozialer und kultureller Trennungen und wirtschaftlicher Schwierigkeiten das Grundgesetz im Großen und Ganzen gut fi ndet. Auch wenn die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes sich nach der Einheit nicht in gleicher Weise fortgesetzt haben dürfte, scheinen die Deutschen weiterhin in ihrem Grundgesetz die beste Garantie zur Bewältigung der kommenden politishen Herausforderungen zu sehen, was für ausländische Beobachter beinahe als ein Traum erscheint. Offen bleibt nur zur Stunde, wie der Gesetzgeber seiner Verpfl ichtung, die ihm das Bundesverfassungsgericht 2008 auferlegt hat, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsmäßige Wahlregelung zu treffen, im Geist des Grundgesetzes nachkommt und das repräsentativ-demokratische Element des Grundgesetzes noch wirkungsvoller entfalten läßt. Es hat bekanntlich 2008 Regelungen des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt, weil aus diesen sich Effekt des negativen Stimmgewichts ergebe und dieser Effekt die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletze38. Ferner dürfte es in einem globalen Zeitalter auch als geboten gelten, die Bundesrepublik Deutschland mit der Festigung freiheitlich-demokratischer Grundordnung dem Frieden und Integrationsprozess der Völker zu dienen. Die Friedensgebot der Präambel, die grundlegende Völkerrechtsfreundlichkeit und der neue Europaartikel 23 GG – dazu kommt noch Art. 24 Abs. 1 GG – u. a. m. bekräftigen den Willen der Bundesrepublik Deutschland, den internationalen Integrationsprozess zu fördern. Internationale Beziehungen aller Länder müssen heutzutage noch stärker betont werden, um so mehr, als die Welt heute in vielen Bereichen miteinander eng vernetzt agiert, wie wir alle seit der neuesten Weltfi nanz- und Wirtschaftskrise erleben, die zuerst in den Vereinigten Staaten von Amerika angefangen hat und dann auch aus Griechenland verbreitet. (Abgeschlossen am 17. Juli 2010).

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BVerfGE 121, 266.

Abhandlungen

Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund Am Beispiel des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen* von

Prof. Dr. Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe

I. Verbund der Verfassungsgerichte – Verfassungsgerichtsverbund Das 60-jährige Jubiläum des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen bietet einen hervorragenden Anlaß, um über die Stellung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderal-bundesstaatlichen1 und im europäischen Verbund der Verfassungsgerichte nachzudenken. In Bremen ist das Bewusstsein um die Einbettung in einen größeren Zusammenhang seit jeher präsent und vielleicht stärker als anderswo – als Hansestadt war Bremen eine der größten nördlichen Handels- und Wirtschaftsmetropolen; 2 die stadtstaatliche Kooperation über die Stadtgrenzen hinaus und die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle „Verflochtenheit mit der internationalen Entwicklung“3 hat hier Tradition. Folgerichtig und prägnant heißt es daher * Bei dem Beitrag handelt es sich um eine mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrags, den ich am 4. November 2009 im Rahmen eines Festaktes zum 60jährigen Bestehen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen in der Bremischen Bürgerschaft gehalten habe. Für die wertvolle Unterstützung bei seiner Erarbeitung danke ich meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin am BVerfG Frau RiVG Dr. Sigrid Emmenegger. 1 „Föderal“ wird hier und im Folgenden als Bezeichnung für das bundesstaatliche System der Bundesrepublik verwendet, vgl. aber zur begriffl ichen Problematik m. w. N. Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR II, 3. Aufl., § 29 Rn. 9: Der Bundesstaat baue gleichermaßen auf föderativen wie unitarischen Elementen auf. 2 Vgl. Löhr, „Stadtluft macht frei!“ Entwicklung und Erhalt der bremischen Stadtstaatlichkeit, in: Fisahn (Hrsg.), Bremer Recht. Einführung in das Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Hansestadt Bremen, 2002, 7 (8). 3 Vgl. Beutler, Die Verfassungsentwicklung in Bremen, JöR 52 (2004), 299 (304): „Verflochtenheit mit der internationalen Entwicklung, von der Hanse bis in den Seehandel der Neuzeit, allerdings nicht nur wirtschaftlich, sondern kulturell vom ‚Rom des Nordens‘ zu Zeiten Ansgars bis zur kulturpolitischen Diskussion der Gegenwart“.

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heute4 in der Landesverfassung Bremens: „Der bremische Staat führt den Namen ‚Freie Hansestadt Bremen‘ und ist ein Glied der deutschen Republik und Europas.“5 Was bedeutet das aus der Perspektive der Verfassungsgerichtsbarkeit? Konkreter formuliert: Wie funktioniert der Verbund der Verfassungsgerichte, von Bremen über Karlsruhe bis nach Luxemburg und Straßburg?

1. Akteure a) Die Landesverfassungsgerichte – „Hüter“ der Landesverfassung: Das Beispiel des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen Ausgangspunkt für die Bestimmung der Stellung der Landesverfassungsgerichte sind die Eigenstaatlichkeit6 und die Verfassungsautonomie7 der Länder: 8 In der Einrichtung von Landesverfassungsgerichten fi ndet sie einen wichtigen Ausdruck, vielleicht sogar ihre eigentliche Pointe.9 Die Landesverfassungsgerichte sind es, die der Landesverfassung ein eigenes Profi l verleihen können und dies in vielfacher Hinsicht in den letzten Jahrzehnten getan haben.10 Gerade der Bremische Staatsgerichtshof hat gezeigt, dass auch bei einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Entscheidungen grundlegende Fragen des demokratischen Verfassungsstaates behandelt werden können.11 Die Landesverfassungsgerichte sind aber auch Teil des europäischen Verfas4

Seit einer Verfassungsänderung 1994, vgl. dazu Beutler, Die Verfassungsentwicklung in Bremen, JöR 52 (2004), 299 (308 f.). 5 Art. 64 LVerf. Vgl. auch Art. 65 Abs. 2 LVerf: „Sie [die Freie Hansestadt] fördert die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit, die auf den Auf bau nachbarschaftlicher Beziehungen, auf das Zusammenwachsen Europas und auf die friedliche Entwicklung der Welt gerichtet ist.“ 6 BVerfGE 36, 342 (360 f.): „Das Eigentümliche des Bundesstaates ist, dass der Gesamtstaat Staatsqualität und die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen. Das heißt aber, dass sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten je ihre eigene, von ihnen selbst bestimmte Verfassung besitzen. Und das wiederum heißt, dass die Gliedstaaten ebenso wie der Gesamtstaat in je eigener Verantwortung ihre Staatsfundamentalnormen artikulieren.“ 7 Vgl. BVerfGE 99, 1 (11): „In den Grenzen föderativer Bindungen gewährleistet das Grundgesetz Bund und Ländern eigenständige Verfassungsbereiche. Die Länder genießen im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie“. 8 BVerfGE 96, 342 (368 f.): „Das Recht des Bundes zur konkurrierenden Gesetzgebung auf den Gebieten der Gerichtsverfassung und des gerichtlichen Verfahrens (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) erstreckt sich nicht auf die Verfassungsgerichtsbarkeit. Dies folgt aus Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG, der dem Bund für die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit das Recht der ausschließlichen Gesetzgebung zuweist. Für die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder folgt es zudem aus deren eigener Staatlichkeit, die ihnen die Kompetenz zur Regelung ihres Landesstaatsrechts gibt. In dem föderativ gestalteten Bundesstaat des Grundgesetzes stehen die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Soweit das Grundgesetz für die Verfassungen der Länder keine Normativbestimmungen gibt, können die Länder ihr Verfassungsrecht und damit auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit selbst ordnen. Eine Landesverfassungsgerichtsbarkeit setzt das Grundgesetz mit Art. 100 Abs. 1 und Abs. 3 GG voraus. Es läßt die in einem Land getroffene Regelung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit unberührt, es sei denn, es regelt ausdrücklich etwas anderes oder die Landesregelung ist ihrer Struktur nach mit dem Grundgesetz unverträglich“. 9 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 56. 10 Dreier a.a.O., Rn. 56 m. w. N. 11 Vgl. zum „Profi l“ des Staatsgerichtshofs Rinken, Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Bundes-

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sungsgerichtsverbundes, wenn und indem sie mit europarechtlich vorgeprägten Sachverhalten konfrontiert werden.

b) EuGH und EGMR als europäische „Verfassungsgerichte“ Beim Stichwort „Europarecht“ bin ich – im Rahmen einer ersten Sichtung – schon bei den zentralen europäischen Akteuren des Verfassungsgerichtsverbundes angelangt. Eine entscheidende Rolle spielen hier seit 1952 der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (kurz EuGH) und seit 1958 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (kurz EGMR). Der EuGH sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrages.12 Der EGMR wacht über die Einhaltung der Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wichtig hierfür ist das Individualbeschwerderecht aller Bürger, eine Art Verfassungsbeschwerde also. Wie der Titel meines Vortrags schon andeutet, meine ich, dass man in Bezug auf diese beiden Gerichte durchaus von europäischen „Verfassungsgerichten“ sprechen kann,13 jedenfalls wenn man einen weiten Begriff von Verfassungsgerichtsbarkeit im staat. Zum 50jährigen Bestehen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, NordÖR 2000, 89 (90): „Ich sehe ein solches Profi l im Zusammenwirken folgender, in der Rechtsprechung des Gerichts deutlich gesetzter Akzente: 1. Innerhalb des demokratischen Legitimations- und Verantwortungszusammenhangs kommt dem Parlament eine zentrale Stellung zu; es muss deshalb in seinen Gestaltungs- und Kontrollrechten gegenüber der Exekutive gestärkt werden. 2. In der Verselbständigung der bürokratischen Exekutivapparate liegt eine Gefährdung, in der Offenheit und Öffentlichkeit des politischen Prozesses die wesentliche Garantie einer freien demokratischen Ordnung. 3. Erlebbare Demokratie ist auf ein Arrangement von überregionalen und regionalen Politikarenen angewiesen. Für diese These steht die überschaubare Stadtstaatlichkeit der Freien Hansestadt Bremen in ihrer vom Staatsgerichtshof stets positiv gewerteten Individualität [. . .] 4. Lebendige Demokratie ist nicht nur Staatsform, sondern bedarf der Ergänzung durch demokratieadäquate Strukturen und Prozesse im gesellschaftlichen Raum.“ 12 Art. 220 EG. 13 Vgl. zB F. C. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, 559: „[. . .] Frage nach der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit . . .“; s. auch Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 478 ff. („Die beiden europäischen Verfassungsgerichte EGMR und EuGH“): Vor allem der EuGH sei dank des „Ensembles von Teilverfassungen“, das die 27 Mitgliedstaaten der EU präge, Verfassungsgericht; der EGMR sei sowohl den Kompetenzen, den Verfahren, dem Status nach als auch in der Methodenwahl und den Rechtsprechungsergebnissen ein „Verfassungsgericht“; ferner ders., Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, 685 (686): „Die in rationalen, möglichst transparenten Arbeitsmethoden eingelöste Verfassungsbindung und die spezifi schen, in bestimmten Verfahren positivrechtlich zugewiesenen Kompetenzen oder auch nach dem eigenen Selbstverständnis praktisch wahrgenommenen Funktionen sind das Entscheidende.“; Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (362 f.): „Im Kern sind all die hier zu behandelnden Gerichte ‚Verfassungsgerichte‘, jedenfalls in einem funktionalen Sinn“; s. auch Everling, in: Schwarze (Hrsg,), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998, 199 (219 f.); zum EuGH Rodriguez Iglesias, Perspektiven europäischer und nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit im Lichte des Vertrags über eine Verfassung für Europa, in: Walter-Hallstein-Institut für Europa (Hrsg.), Europäische Verfassung in der Krise – auf der Suche nach einer gemeinsamen Basis für die erweiterte Europäische Union, Forum Constitutionis Europae Band 7, 2007, 107 (110 f.); vgl. auch bereits ders., Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, EuR 1992, 225 ff.; in Bezug auf den EGMR

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Sinne eines entwicklungsoffenen Funktionsbegriffs zugrundelegt,14 der zwischen unterschiedlichen Typen und Traditionen von Verfassungsgerichten vermittelt.15

c) Das Bundesverfassungsgericht an der Schnittstelle des föderalen und des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes Diese Begriffsbildung schärft auch den Blick dafür, dass das Bundesverfassungsgericht keine Alleinstellung mehr hat. Der große Verfassungslehrer Konrad Hesse, der auch der wissenschaftliche Vater von Herrn Präsidenten Rinken ist, hat insoweit bereits Mitte der 1990er Jahre von einem „Wandel der Aufgaben, der Stellung und der Wirkungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts“ gesprochen. Als bestimmende Faktoren dieses Wandels führt er unter anderem an: Die wachsende Bedeutung „der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder auf der einen und der europäischen Gerichtshöfe auf der anderen Seite“.16 In diesem Hinweis Konrad Hesses auf „die eine“ und „die andere Seite“ deutet sich die Mittlerfunktion des Bundesverfassungsgerichts auf der Schnittstelle des föderalen und des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes an. Gerade in europäischer Hinsicht ist es allerdings nicht nur Mittler, sondern auch Förderer der Entwicklung, denn

auch Mahrenholz, Europäische Verfassungsgerichte, in: JöR n. F. 49 (2001), 15 (21): „Verfassungsgericht ist der EGMR in funktionaler Hinsicht. Begriffl ich fehlt es ihm am Verfassungscharakter seiner Maßstäbe“; Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, 569 ff.; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?, S. 217 f. 14 Vgl den Ausgangspunkt bei Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, 1 (6 ff.): „jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll“; zu den einzelnen typischen Elementen des „Modells“ eines Verfassungsgerichts ders., Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 460 ff.; zum „Modellcharakter“ des BVerfG ebd., S. 470 ff. Auch dieses musste seine Rolle im Konstitutionalisierungsprozess – etwa im Verhältnis zu den obersten Bundesgerichten – erst fi nden, vgl. dazu auch Rinken, Alternativkommentar zum GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2001, vor Art. 93 Rn. 1 ff.; s. auch Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 1 ff.; anschaulich Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000. 15 D.h. zwischen Staatsgerichten und Grundrechtsgerichten, Obersten Gerichten oder Spezialgerichten. Gerichte können damit auch ihrerseits in den Begriff „hineinwachsen“, s. auch Häberle, Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, 685 (686): „[. . .] So ist der französische Conseil Constitutionnel Schritt für Schritt in die sich selbst verschaffte Rolle eines veritablen Verfassungsgerichts hineingewachsen.“ S. auch Wahl, Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, APuZ 2001, 45 (48): „Die Verfassungsgerichtsbarkeit (als Funktion oder eigene Institution) ist geworden.“ Selbst im Hinblick auf die Konstitutionalisierung des Völkerrechts erscheint damit früher oder später ein völkerrechtliches „Verfassungsgericht“ nicht völlig fernliegend; vgl. Häberle a.a.O.: „Der Begriff Verfassungsgericht ist in seinem Strukturelement nicht abschließend defi nierbar, er ist offen (z. B. für den Internationalen Strafgerichtshof nach dem Statut von Rom). Wie steht es um den IGH in Den Haag, angesichts der Konstitutionalisierung des Völkerrechts?“. 16 Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265 (269) (Hervorhebung d. Verf.).

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das Grundgesetz toleriert die Mitwirkung an der europäischen Integration nicht nur, sondern es verlangt sie als Verfassungspfl icht.17

d) Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten Um die Akteure des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes zu komplettieren, dürfen die Verfassungsgerichte der anderen europäischen Staaten nicht ungenannt bleiben. Hier fi nden sich mannigfaltige Belege für die Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1945:18 Dem Muster von Österreich, Deutschland und Italien folgten in den 1970er Jahren Verfassungsgerichte in Spanien, Portugal und Griechenland; nach 1989 traten die „Transformationsstaaten“ in Ost- und Südosteuropa hinzu.19

2. Begriff des Verbundes Wie ist es um das Verhältnis all dieser Verfassungsgerichte zueinander bestellt? 20 Ich denke, man kann zur Umschreibung der verschiedenen Ebenen auf den Begriff des „Verbundes“ zurückgreifen, ohne dabei etwaige Unterschiede zu negieren. Der Verbund als „Ordnungsidee“ (Schmidt-Aßmann 21) wird in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet.22 Er hilft, Funktionsweisen eines verknüpften Mehre17

Vgl. BVerfGE 123, 267 (346 f.). Vgl. Wahl, Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, APuZ 2001, 45; Faller, Zur Entwicklung der nationalen Verfassungsgerichte in Europa, EuGRZ 1986, 42. 19 Vgl. Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteueropa, Teilband I: Berichte, 2007. 20 Vgl. zu dieser Grundfrage aus den in jüngerer Zeit erschienenen Monographien F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000; Lutz, Kompetenzkonfl ikte und Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten, 2003; Dippel, Die Kompetenzabgrenzung in der Rechtsprechung von EGMR und EuGH, 2004; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?, 2007; Heer-Reißmann, Die Letztentscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Europa, 2008; Sauer, Jurisdiktionskonfl ikte in Mehrebenensystemen, 2008; Wiethoff, Das konzeptionelle Verhältnis von EuGH und EGMR, 2008; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009. 21 Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, 1 (7); s. auch ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 1 f. zur Ordnungsidee als „Ort und Auftrag fortgesetzter Reflexion und Systembildung“. 22 Das Bundesverfassungsgericht spricht in allgemeiner Hinsicht über die Europäische Union als „Staatenverbund“ (vgl. BVerfGE 123, 267 (348): „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“; s. zum Begriff auch P. Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: v. Bogdandy/Bast [Hrsg], Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, 1009 (1019 f.)); die Europarechtslehre bevorzugt den Ausdruck „Verfassungsverbund“ (vgl. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27 (33): „Der Begriff des Verfassungsverbunds kennzeichnet [. . .] die materielle Einheit von Gemeinschafts- und innerstaatlichem (Verfassungs-)Recht; ders., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 48 [1999], 205; ders., VVDStRL 60 18

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benensystems zu beschreiben, ohne dass damit schon die genauen Techniken des Zusammenspiels festgelegt wären. Dabei ermöglicht er den Verzicht auf räumliche, stark vereinfachende Bilder wie „Gleichordnung, Überordnung, Unterordnung“.23 Stattdessen eröffnet er die differenzierte Umschreibung anhand unterschiedlicher Ordnungsgesichtspunkte, wie Einheit, Differenz und Vielfalt, Homogenität und Pluralität, Abgrenzung, Zusammenspiel und Verschränkung.24 Vor dem Hintergrund dieser Folie möchte ich im Folgenden versuchen, die Funktionsweisen des bundesstaatlichen und des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes25 näher zu betrachten.26 Interessant erscheinen mir dabei bestimmte gesetzgeberische oder verfassungsgerichtliche Instrumente einer Ordnung der unterschiedlichen Verfassungsgerichtsbarkeiten.27

(2001), 148 (172 f.); P. M. Huber, VVDStRL 60 (2001), 194 (199)). Seltener ist auch die Rede vom „Justizverbund“, so zB bei Pernice, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006, S. 6: „Das Verhältnis das Europäischen Gerichtshofs [. . .] und des Gerichts erster Instanz [. . .] zu den nationalen Gerichten ist ein nahezu unerschöpfl iches Thema, juristisch und rechtspolitisch [. . .] Gelegenheit, sich angesichts immer neuer Entwicklungen über die Gestalt des Europäischen Verfassungsverbundes zu vergewissern, hier unter dem Aspekt des Justizverbundes“; vom „Rechtsprechungsverbund“ und „Rechtsschutzverbund“ spricht beispielsweise Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 ff. (383). 23 Vgl. m. w. N. H. Bauer, Die Bundestreue. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des Bundesstaatsrechts und zur Rechtsverhältnislehre, 1992, S. 223. 24 Vgl. Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, 1 (7): „Der Verbund ist eine Ordnungsidee, die die notwendige Handlungseinheit durch die Verschränkung zweier Organisationsprinzipien, der Prinzipien der Kooperation und der Hierarchie, herstellen will. Im Gedanken des Verbundes sind Eigenständigkeit, Rücksichtnahme und Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln gleichermaßen angelegt.“ 25 Der Begriff „Verfassungsgerichtsverbund“ fi ndet sich beispielsweise bei Brunkhorst, Zwischen transnationaler Klassenherrschaft und egalitärer Konstitutionalisierung. Europas zweite Chance, in: Joerges/Mahlmann/U. K. Preuß (Hrsg.), „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas, 2008 (109): „Ein bündisches Gebilde von der OrganKomplexität der heutigen Union ist nicht nur ein ‚Staatenverbund‘ (Kirchhof ), auch nicht nur [. . .] ein ‚Verfassungsgerichtsverbund‘ (Di Fabio) – sondern neben dem Staatenverbund und über dem Verfassungsgerichtsverbund ein republikanischer Bürgerbund (Rousseau)“; s. auch Brunkhorst, Die Legitimationskrise der Weltgesellschaft. Global Rule of Law, Global Constitutionalism und Weltstaatlichkeit, in: Albert/Stichweh (Hrsg), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007, 63 (77): „faktisch funktionieren die Beziehungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof trotz der von diesem reklamierten Kompetenz-Kompetenz als ‚Verfassungsgerichtsverbund‘.“ Soweit Brunkhorst ebd. wegen des Begriffs „Verfassungsgerichtsverbund“ auf Di Fabio (2001: 76, 78 f., 96) verweist, fi ndet sich dieser Ausdruck dort allerdings nicht wörtlich (vgl. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 78: „Kooperation der Verfassungsgerichte im überstaatlichen Verbund“). 26 Vgl. Schmidt-Aßmann a.a.O., S. 8: „Auffi nden neuer ‚bündischer‘ Regelungsinstrumente“. 27 Ähnlicher Ansatz bei Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, 473 (474), dem es „um eine Art gerichtlichen Kohärenzmanagements“ geht und der fragt, „ob und inwieweit es Vorkehrungen dafür gibt, dass verschiedene Gerichtsbarkeiten in wechselseitig abgestimmter oder aber in voneinander abgeschirmter Weise handeln“; in diese Richtung auch Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 ff., der den „rechtlichen Rahmen“ untersucht, über den „so etwas wie eine ‚strukturelle Koppelung‘ der verschiedenen Ebenen rechtsprechender Gewalt“ sichergestellt werde (375) und die „rechtlichen Arrangements“ vergleicht, die „an den Nahtstellen zwischen den verschiedenen Ebenen der Rechtsprechung im europäischen Verfassungsverbund zur Konfl iktvermeidung und Konfl iktlösung eingesetzt werden (381).

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Man kann in Bezug auf diese Instrumente von „Verbundtechniken“ sprechen – ohne dass damit gesagt wäre, bundesstaatlicher und europäischer Verfassungsgerichtsverbund funktionierten identisch. Dennoch: Eine gewisse „Strukturähnlichkeit“28 wird man als Hypothese zunächst einmal annehmen können – und sei es nur, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede klarer hervortreten zu lassen. Für die Analyse der Verbundtechniken werde ich im Folgenden materielle von formellen Aspekten abschichten. Diese Abschichtung dient im Wesentlichen der Übersichtlichkeit, weniger der strengen Kategorisierung. In Wahrheit wirken sich nämlich auch die „materiellen“ Verbundtechniken letztlich in einem kompetenziellen und damit in einem formellen Sinne aus.29 Das liegt daran, dass die Reichweite des Funktionsbereichs einer Verfassungsgerichtsbarkeit von formellen und materiellen Elementen bestimmt wird: Zum einen von seinem Prüfungsgegenstand, zum anderem von seinen Prüfungsmaßstab.30

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Vgl. Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (369): Bundesstaatlicher und supranationaler Verfassungsverbund wiesen eine „beachtliche Strukturähnlichkeit“ auf; dahingehend auch Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (368 f.): „ähnliche Konstellation“ im Verhältnis LVerfGe/BVerfG und BVerfG/EGMR; Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5 (7): „Das Verhältnis der Gerichte unterschiedlicher Ebenen ist im Augeblick vor allem im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Ebene in der Diskussion. Auch dort stellt sich das Problem, dass unterschiedliche Gerichte inhaltlich gleiche Grundrechte im Einzelfall unterschiedlich auslegen können. Im Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsgerichten sind vergleichbare Konfl ikte im Grundrechtsschutz nicht zu beobachten. Hier passt das vom Bundesverfassungsgericht auf sein Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof geprägte Wort vom ‚Kooperationsverhältnis‘ im Grundrechtsschutz wirklich“; vgl. ferner Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: FS 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (360), der vom „bundesstaatlichen Verfassungsverbund“ spricht. Skeptisch dagegen F. Kirchhof, Die Rolle der Landesverfassungsgerichte im deutschen Staat, VBlBW 2003, 137 (144): Das Verhältnis des EuGH zu den nationalen Verfassungsgerichten müsse anders gestaltet werden als innerhalb eines Staates zwischen Bundes- und Landesebene. Im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Bund- und Landesverfassungsgerichten sei die Trennung der Verfassungskreise und ein möglichst weitgehendes Eigenleben des europäischen Gerichts ohne Einfluss anderer Verfassungshüter nicht angebracht. 29 Vgl. zur „formell-materiell“-Dichotomie Alexy, Hans Kelsens Begriff der Verfassung, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, 333 (334 ff.). 30 Vgl. Lange, Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, 289 (302): Überschneidungen von Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit fänden nicht nur dort statt, wo Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte denselben Prüfungsgegenstand, sondern auch dort, wo sie den gleichen Prüfungsmaßstab hätten; s. auch Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: FS 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (371 ff.): „Prüfungsmaßstäbe“ und (373 ff.): „Prüfungsgegenstände“.

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II. Formelle Verbundtechniken Zunächst also zu den formellen Verbundtechniken.

1. Zuständigkeitsregelungen Der naheliegende Ausgangspunkt für die Ordnung der Funktionsbereiche von Verfassungsgerichtsbarkeiten sind – selbstverständlich – ausdrückliche Zuständigkeitsregelungen.31 Diese verhindern allerdings nicht, dass dabei parallele Zuständigkeiten entstehen können.32 Solche parallelen Zuständigkeiten existieren zum Beispiel in Bezug auf Akte der Landesgewalt: Akte der Landesgewalt werden vom Landesverfassungsgericht 33 und vom Bundesverfassungsgericht 35 kontrolliert. Im Verhältnis des 31 Man kann ausschließliche und alternative Zuständigkeiten sowie Reserve- und parallele Zuständigkeiten unterscheiden. Im bundesstaatlichen Verfassungsgerichtsverbund ist beispielsweise das Bundesverfassungsgericht ausschließlich zuständig für Parteiverbotsverfahren oder Bund-Länder-Streitigkeiten, außerdem für Zwischenländerstreitigkeiten, die über den Geltungsbereich der jeweiligen Landesverfassung hinauswirken, sowie Richteranklagen. Alternative Zuständigkeiten im Verhältnis zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit bestehen beispielsweise im Wahlprüfungsverfahren. Eine Reservekompetenz hat das BVerfG beispielsweise für Verfassungsorganstreitigkeiten innerhalb eines Landes und bei der Kommunalverfassungsbeschwerde gegen Landesgesetze vgl. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 71 ff. 32 Voßkuhle, a.a.O. Rn. 74 ff. 33 Ein umstrittenes Sonderproblem in Bezug auf den Beschwerdegegenstand „Akt der Landesgewalt“ stellt die Zuständigkeit der LVerfGe für fachgerichtliche Urteile dar, bei denen in letzter Instanz nicht ein Bundesgericht (BGH, BVerwG, BSG, BAG, BFH, s. Art. 95 GG) entschieden hat, sondern ein Gericht eines Landes, also beispielsweise das OLG oder das OVG, wenn die Entscheidung dieses Gerichts in Anwendung von Bundesrecht ergangen ist. Streng genommen handelt es sich bei solchen Urteilen um Akte der Landesgewalt – auch dann, wenn das eigene Verfahren der Gerichte bundesrechtlich geregelt ist (VwGO, StPO etc.), und auch dann, wenn die streitentscheidenden Normen dem materiellen Bundesrecht entstammen (z. B. StGB). Jedenfalls in Bezug auf eine etwaige Verletzung von (mit dem Grundgesetz inhaltsgleichen) Landesgrundrechten durch die landesgerichtliche Anwendung von Verfahrensrecht des Bundes hat das BVerfG aber (soweit die verfassungsrechtliche Beschwer in der Entscheidung des Gerichts besteht und die Landesverfassungsbeschwerde gegenüber dem fachgerichtlichen Rechtsweg subsidiär ist) einen Zugriff der Landesverfassungsgerichtsbarkeit ausdrücklich gebilligt, vgl. grundlegend BVerfGE 96, 345 (363 ff.); offen lassend bzgl. der gerichtlichen Anwendung materiellen Bundesrechts ebd., S. 362; aus der Lit. zur Problematik Sodan, Die Individualverfassungsbeschwerde in der Landesverfassungsgerichtsbarkeit, NdsVBl. 2005, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 32 (33 f.); Rinken, Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat. Zum 50jährigen Bestehen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, NordÖR 2000, 89 (92) mit umfangreichen weiteren Nachweisen; s. für eine Monographie aus neuerer Zeit v. Coelln, Anwendung von Bundesrecht nach Maßgabe der Landesgrundrechte?, 2001. Die Rechtsprechung des BVerfG dürfte allerdings auch auf materielles Bundesrecht übertragbar sein (s. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 77 Fn. 377; v. Coelln, a.a.O., S. 326 ff. m. w. N.); gleichwohl halten sich manche Landesverfassungsgerichte weiterhin zurück, vgl. z. B. die erst jüngst bekräftigte Lösung des BayVerfGH, BayVBl. 2009, 574: „[. . .] auf eine Verletzung der Grundrechte aus Art. 100, 101 BV (körperliche Unversehrtheit), Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV (allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Art. 103 Abs. 1 BV (Eigentum) kann die Verfassungsbeschwerde nicht gestützt werden. Die in Ausübung von Landesgewalt ergangenen Entscheidungen . . . beruhen auf den bundesrechtlichen Vorschriften des Luftverkehrsgesetzes [. . .] Nur wenn eine auf das Willkürverbot gestützte Rüge begründet wäre, könnten durch eine auf materiellem Bundesrecht beruhende Entscheidung auch andere verfas-

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Bundesverfassungsgerichts zum Bremischen Staatsgerichtshof entstehen entsprechende Überschneidungen in Verfahren nach der Generalklausel in Art. 140 der Landesverfassung.35 Strukturell das gleiche Phänomen besteht auch im Verhältnis von EGMR und Bundesverfassungsgericht: Gegen einen Akt der Bundesgewalt ist grundsätzlich sowohl die Konventionsbeschwerde zum EGMR möglich, als auch die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. 34

2. Subsidiaritätsregelungen Die erste Möglichkeit, solche parallelen Zuständigkeiten gewissermaßen zu „sortieren“ besteht darin, Subsidiaritätsregelungen zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht verzichtet allerdings auf eine derartige Koordinierung mit den Landesverfassungsgerichten. Nach seiner Rechsprechung gehört der Rechtsweg zu den Landesverfassungsgerichten nicht zum „Rechtsweg“, der vor Anrufung des BVerfG beschritten werden muss,36 und auch das Gebot materieller Subsidiarität verlangt keine vorherige Anrufung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit.37 Spiegelbildlich hierzu hält die Anrufung eines Landesverfassungsgerichts aber auch nicht die Beschwerdefrist für die Verfassungsbeschwerde38 offen; ein Beschwerdeführer wird daher im Zweifelsfall die Rechtsbehelfe parallel einlegen.39 sungsmäßige Rechte der Bayerischen Verfassung verletzt sein (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 13. 1. 2005, VerfGH 58, 37/44).“ Zur Kritik an diesem Ansatz des Bayerischen VerfGH vgl. mwN Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 351: „dogmatischer Kunstgriff “, „höchst zweifelhaft“: Auch willkürliche Rechtsanwendung bleibe Rechtsanwendung. Die Problematik stellt sich dort nicht, wo im Landesrecht ausdrückliche Regelungen vorhanden sind, so etwa in § 44 Abs. 2 VerfGHG RLP, vgl. dazu näher Held, Die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, NVwZ 1995, 534. 34 Der Prüfungsgegenstand der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG ist nämlich jeder „Akt öffentlicher Gewalt“. Gleiches gilt für die abstrakte Normenkontrolle. Dazu heißt es in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ausdrücklich: „bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze [. . .]“ (Hervorhebung d. Verf.). Vgl. auch Art. 100 Abs. 1 GG „ein Gesetz“, s. auch Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG. 35 Danach ist der Staatsgerichtshof zuständig für die Entscheidung von Zweifelsfragen über die Auslegung der Verfassung und andere staatsrechtliche Fragen, die ihm der Senat, die Bürgerschaft oder ein Fünftel der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft oder eine öffentlich-rechtliche Körperschaft des Landes Bremen vorlegt. Unter diese Vorschrift werden auch Fallkonstellationen der abstrakten Normenkontrolle gefasst, vgl. Rinken, Staatsgerichtshof, in: Kröning/Pottschmidt/Preuß/Rinken (Hrsg.), Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, 484 (500) m. Nachw. aus der Rspr. des StGH. Weitere Fallgruppen, die unter Art. 140 LV gefasst werden: Präventive Normenkontrolle, Organstreitigkeiten iwS, Interpretationsverfahren, in denen ohne unmittelbaren Anwendungsbezug der Inhalt des bremischen Verfassungsrechts verbindlich festgestellt wird. 36 § 90 Abs. 2 BVerfGG. 37 Nach dem Regierungsentwurf für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vom 24./28. Februar 1950 sollte die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG ausgeschlossen werden, soweit eine solche Beschwerde zu einem Landesverfassungsgericht statthaft war, vgl. BR-Drucks. 125/50 (zit. n. Schneider, Die Landesverfassungsbeschwerde – ein Stief kind bundesstaatlichen Grundrechtsschutzes?, NdsVBl. 2005, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 26 (27)). 38 § 93 Abs. 1 BVerfGG. 39 Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz stellt in § 90 Abs. 3 BVerfGG klar, dass das Recht, Landes-

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Genau anders herum löst der EGMR in Straßburg sein Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht und den anderen nationalen Verfassungsgerichten: Nach seiner Rechtsprechung gehört die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht zum Rechtsweg, der vor Anrufung des EGMR beschritten werden muss; der Weg zum EGMR ist damit subsidiär. Auch im Landesverfassungsrecht fi ndet man mitunter derartige Subsidiaritätsregelungen, und zwar in Form von „umgekehrte(n) Subsidiaritätsregelungen“40 zugunsten einer vorrangigen Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts.41

3. Entfallen von Beschwerdegegenständen Soweit keine solchen Subsidiaritätsregelungen vorhanden sind, müssen parallele Zuständigkeiten anders koordiniert werden. Eine Möglichkeit besteht darin, das jeweils andere Verfahren vor dem anderen Verfassungsgericht als „gegenstandslos“42 zu erklären oder das Klarstellungsinteresse zu verneinen, wenn ein Verfassungsgericht verfassungsbeschwerde zu erheben, unberührt bleibt von der Möglichkeit einer Bundesverfassungsbeschwerde gegen ein und denselben Akt öffentlicher Gewalt, vgl. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 77. 40 Vgl. Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5 (7): „umgekehrtes Subsidiaritätsverhältnis“. 41 Eine solche Regelung besteht zum Beispiel für das seit 2008 bestehende, neue Landesverfassungsgericht in Mecklenburg-Vorpommern, vgl. dazu die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts MV vom 27. November 2008 – LVerfG 7/07 –, NordÖR 2009, 20 ff.: Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts. Zugrunde lag ein Ordnungswidrigkeitenverfahren; der Beschwerdeführer hatte ein Bußgeld wegen eines Rotlichtverstoßes erhalten. Der Rotlichtverstoß konnte bewiesen werden anhand einer Videoaufnahme einer Kamera, die verborgen bei der Ampel aufgestellt war. Der Beschwerdeführer sah darin eine Verletzung des Grundrechts auf Schutz der persönlichen Daten aus Art. 6 Abs. 1 der Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern; er meinte, eine Videoaufnahme ohne Anfangsverdacht sei unzulässig. Das Landesverfassungsgericht hielt seine Verfassungsbeschwerde für unzulässig und entschied, dieser stehe der Grundsatz der Subsidiarität nach Art. 53 Nr. 7 LV entgegen: Nach dieser Vorschrift entscheidet das Landesverfassungsgericht „über Verfassungsbeschwerden, die jeder mit der Behauptung erheben kann, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner in Artikel 6 bis 10 der Verfassung gewährten Grundrechte verletzt zu sein, soweit eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nicht gegeben ist.“ Das Landesverfassungsgericht verstand nun diese Vorschrift so, dass die Landesverfassungsbeschwerde nur dann eröffnet sei, wenn der Beschwerdeführer sich auf ein Grundrecht aus Art. 6 bis 10 LV beruft, „das eine weitergehende Grundrechtsgewährleistung enthält als die Bundesgrundrechte“. In Art. 6 Abs. 1 LV heißt es: „Jeder hat das Recht auf Schutz seiner personenbezogenen Daten. Dieses Recht fi ndet seine Grenzen in den Rechten Dritter und in den überwiegenden Interessen der Allgemeinheit“. Das Landesverfassungsgericht gelangte zu dem Ergebnis, dieses Recht sei inhaltsgleich mit dem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG. Die Verfassungsbeschwerde war daher unzulässig; das LVerfG hielt fest: „Es war dem Beschwerdeführer möglich, vergleichbaren verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht gegen eine mögliche Grundrechtsbeeinträchtigung [. . .] zu suchen.“ Es gehe „um die Vermeidung von Normkonfl ikten, die im Rahmen einer Rechtskontrolle des Bundesverfassungsgerichts einerseits und des Landesverfassungsgerichts andererseits entstehen könnten.“ Vgl. zu einem parallel gelagerten Fall auch BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 11. August 2008 – 2 BvR 941/08 –, NJW 2009, 3293 (stattgebender Kammerbeschluss). 42 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 75 m. w. N.

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die Verfassungswidrigkeit festgestellt hat. Das wird etwa bei parallelen Verfahren im Verhältnis von Landesverfassungsgerichten und Bundesverfassungsgericht angenommen.43 Soviel zur Abgrenzung der Funktionsbereiche der Verfassungsgerichtsbarkeiten über den Prüfungsgegenstand. Treten wir einen Schritt näher und betrachten wir das Problem der Verschränkung von Prüfungsmaßstäben.

III. Materielle Verbundtechniken Ich hatte bereits angedeutet: Funktionell betrachtet bestimmt auch der Prüfungsund Entscheidungsmaßstab über die Reichweite des Funktionsbereichs eines Verfassungsgerichts.44

1. Ausgangspunkt: Verfassungsgerichte unterschiedlicher Ebenen als „Hüter“ eigenständiger „Verfassungsräume“ Ausgangspunkt ist dabei die Exklusivität des jeweiligen Entscheidungsmaßstabs.45 Diese Exklusivität folgt aus der bildhaften Annahme, dass die jeweils von den Verfassungsgerichten zu hütenden „Verfassungsräume“ getrennt seien.46 Danach sind die Landesverfassungsgerichte zuständig für die Wahrung und Auslegung der Landesverfassung, das Bundesverfassungsgericht hütet das Grundgesetz, der EuGH das eu43 Vgl. zum Normenkontrollverfahren Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 76 m. w. N.; s. auch Storr, Entscheidungsbesprechung ThürVerfGH vom 26. 3. 2007, VerfGH 52/06 u. a. sowie BVerfG vom 20. 3. 2007 – 2 BvR 2470/05 –: Sobald die angegriffene Entscheidung aufgehoben sei, entfalle für die (andere) Verfassungsbeschwerde der Beschwerdegegenstand; diese werde mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig. 44 Man könnte insoweit auch von der Reichweite der „Kompetenz“ des Verfassungsgerichts sprechen, wobei dann allerdings mit der analytischen Verwendung des Wortes „Kompetenz“ keine normative Aussage getroffen wird; insbesondere soll dann damit nicht gesagt sein, Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeiten seien an die Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. GG gebunden. Vgl. zu dieser Problematik mit umfangreichen Nachweisen Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Rn. 29: Etwaige Widersprüche des Landesverfassungsrechts zum Bundesrecht werden nicht als Kompetenz-, sondern als Kollisionsproblem eingestuft und dementsprechend bereinigt. 45 Vgl. Rozek, „Leipziger Allerlei II“ – ein kompetenzwidriges Landesgesetz, eine Gliedstaatsklausel und eine landesverfassungsgerichtliche Kompetenzextension“, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit. FS Bethge zum 70. Geburtstag, 2009, 587 (588): „Exklusivität des jeweiligen verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs“. 46 Vgl. BVerfGE 4, 178 (189) und BVerfGE 96, 345 (368): Die Verfassungsräume des Bundes und der Länder stünden „grundsätzlich selbständig nebeneinander“; s. auch BVerfGE 36, 342 (357): „Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit vollziehen sich im Bundesstaat in grundsätzlich getrennten Räumen“; zu diesem Ausgangspunkt „getrennter Verfassungsräume“ auch Friesenhahn, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, FG 25 Jahre BVerfG, Bd. 1, 1976, 748 (749 ff.): „Über die Eigenart der Verfassungsgerichtsbarkeit und die daraus folgende Bezogenheit der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und der Landesverfassungsgerichtsbarkeit je auf die Bundesverfassung und die Landesverfassung als getrennte Kompetenzbereiche“; krit. Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: FS 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (357 ff.), (363).

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ropäische Gemeinschafts – und Unionsrecht und der EGMR die Europäische Menschenrechtskonvention. Ein jedes Verfassungsgericht ist also zuständig für „seine“ Verfassung, die sehr originell und eigenständig sein kann wie z. B. die Bremische Verfassung. Nicht zu unrecht hat der berühmte Bayreuther Staatsrechtslehrer Peter Häberle aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Bremischen Landesverfassung 1997 von ihren „verfassungspolitische[n] Pionierleistungen“ gesprochen.47

2. Homogenisierungtechniken Die Exklusivität und Originalität dieser Maßstäbe ist bei näherem Hinsehen jedoch fragil, unterliegen sie doch den verschiedensten wechselseitigen Verschränkungen und Beeinflussungen. An erster Stelle stehen insofern bestimmte Verbundstrategien, die ich als „Homogenisierungstechniken“ bezeichnen möchte. Insbesondere der Geltungsvorrang stellt ein solches Instrument dar, das normhierarchisch funktioniert.48 Klassisches Beispiel ist der Vorrang des Grundgesetzes vor den Landesverfassungen, Art. 31 GG. Für die Landesverfassungsgerichte folgt daraus die jederzeitige Möglichkeit der Verdrängung49 des eigenen Entscheidungsmaßstabs, sofern eine Kollision mit Bestimmungen des Grundgesetzes vorliegt.50 Das wiederum bedeutet, dass die Landesverfassungsgerichte stets eine Vorprüfung ihres Entscheidungsmaßstabs – der Landesverfassung – am Maßstab des Grundgesetzes vornehmen werden: Die Annahme, das Grundgesetz sei kein Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, greift daher zu kurz. Richtigerweise ist das Grundgesetz kein unmittelbarer Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, es ist aber durchaus Prüfungsmaßstab. Wohlgemerkt: Prüfungsmaßstab des Entscheidungsmaßstabs, nicht: Prüfungsmaßstab des Entscheidungsgegenstandes.51 Soviel erst einmal zum Geltungsvorrang. Komplizierter ist die Lage beim Anwendungsvorrang. Ein Anwendungsvorrang wird angenommen im Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht. Er ist nach der Rechtsprechung des Bun47 Häberle, Die Zukunft der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen im Kontext Deutschlands und Europas, JZ 1998, 57 (58). Zur Originalität der Verfassungen der neuen Bundesländer vgl. Sacksofsky, Landesverfassungen und Grundgesetz – am Beispiel der Verfassungen der neuen Bundesländer, NVwZ 1993, 235. 48 Vgl. auch Oeter, VVDStRL 66 (2007), 316 (382): „Mechanismus der Vorrangregeln“ als ein „häufig verwendetes Instrument der Konfl iktvermeidung“ in Situationen der Rechtsprechungskonkurrenz. 49 Die Rechtsfolge aus Art. 31 GG – Nichtigkeit oder bloße Unanwendbarkeit – ist nach wie vor umstritten, vgl. dazu mit umfangreichen Nachweisen Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt?, AöR 130 (2005), 350 (360 f.) Fn. 72. 50 Art. 31 und – für die Grundrechte – Art. 142 GG; s. zum Staatsorganisationsrecht aber Art. 28 GG. 51 Vgl. auch die Differenzierung von Möstl, Landesverfassungsrecht – Zum Schattendasein verurteilt?, AöR 130 (2005), 350 (364) Fn. 93 (Pfl icht, den landesverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen) versus Fn. 94 (Kognitionshorizont der Landesverfassungsgerichte: Zum Teil sähen sich Landesverfassungsgerichte befugt, den landesrechtlichen Prüfungsgegenstand auf Bundesrechtskonformität zu überprüfen, freilich unter Beachtung von Art. 100 Abs. 1 GG); s. ferner die Nachweise in Fn. 31.

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desverfassungsgerichts52 allerdings kein normhierarchisches Instrument,53 denn er gilt lediglich, weil das Grundgesetz ihn gewissermaßen „sehenden Auges“ zulässt, und deshalb auch nur, soweit nicht der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes betroffen und solange nicht der sogenannte „Solange-IIFall“ eingetreten ist, also solange nicht das Grundrechtsniveau in der EU generell unter den unabdingbaren Standard abgesunken ist. Was aber sind die Konsequenzen des Anwendungsvorrangs des Europarechts für den Entscheidungsmaßstab eines Verfassungsgerichts, solange keiner dieser Grenzfälle gegeben ist? Auch für das Landesverfassungsrecht gilt der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts,54 deshalb ein Beispiel aus dem Bereich der Landesverfassungsgerichte. Im Jahr 2005 hatte der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz einen Fall zu entscheiden, in dem es um die Ausweisung von FFH-Gebieten – das sind Gebiete gemeinschaftlicher Bedeutung nach der europäischen „Flora-Fauna-Habitat“-Richtlinie – und von europäischen Vogelschutzgebieten ging. Der Landesgesetzgeber hatte solche Schutzgebiete im Landespflegegesetz ausgewiesen und dabei Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts und des Bundesrechts umgesetzt.55 Hiergegen wandte sich eine Gemeinde, in deren Fall nahezu das gesamte Gemeindegebiet (ausgenommen die bebaute Ortslage) von einem Europäischen Vogelschutzgebiet sowie in weiten Teilen von einem FFH-Gebiet erfasst war. Die Gemeinde machte im Wesentlichen einen unzulässigen Eingriff in ihre Planungshoheit geltend.56 Der Verfassungsgerichtshof entschied, die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung werde verdrängt, soweit [zwingendes] Bundes- und Gemeinschaftsrecht umgesetzt werde. Die Landesverfassung bleibe jedoch Maßstab für die öffentliche Gewalt des Landes, soweit Gemeinschafts- und Bundesrecht hierfür Entscheidungsräume offen ließen.57 Die Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos; der 52 Zur Begründung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH vgl. Rs. 6/64, Costa/ E. N. E. L, Slg. 1964, 1251; s. weiter EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhrund Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1125, Rn. 3; EuGH, Rs. 106/77, Amministrazione delle Finanze dello Stato/Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 13 ff. 53 Kritisch zur Annahme eines Vorrangs ohne Hierarchie (allerdings in Bezug auf die Idee des Verfassungsverbundes) Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffi zienz einer Unschärferelation, in: Krause/Veelken/Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa. GS Wolfgang Blomeyer, 2004, 637 (662 f.): Obwohl dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts im Konzept des „Europäischen Verfassungsverbundes“ eine einheits- und damit systemstablisierende Funktion zugeschrieben werde, solle der Verfassungsverbund gerade dadurch charakterisiert sein, dass er nicht hierarchisch strukturiert sei; die „These vom Vorrang ohne Hierarchie“ sei prima facie irritierend. 54 Vgl. zum Landesverfassungsrecht BayVerfGH, Entscheidung vom 5. April 2006 – Vf. 66-VI-05 –, juris, Rn. 9. Zur Frage der Übertragbarkeit der „Solange II-Judikatur“ auf Landesgrundrechte vgl. Schmahl, Die Verzahnung der deutschen, europäischen und internationalen Rechtsebenen bei der Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten, in: Bauschke u. a. (Hrsg.), Pluralität des Rechts – Regulierung im Spannungsfeld der Rechtsebenen, 2003, 163 (172). 55 VerfGH RLP, Urteil vom 11. Juli 2005 – N 25/04 –, juris. Die Entscheidung erging im Normenkontrollverfahren; zur seit 1992 bestehenden Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde in RheinlandPfalz Held, Die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, NVwZ 1995, 534. 56 VerfGH RLP a.a.O., Rn. 12. 57 VerfGH RLP a.a.O., Rn. 10.

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Verfassungsgerichtshof kam zum Ergebnis, das Land habe keine Umsetzungsspielräume gehabt. Die Einhaltung der Vorgaben des Gemeinschaftsrechts durch das Land 58 prüfte der Verfassungsgerichtshof dabei nach Maßgabe des Rechtsstaatsprinzips, und zwar dahingehend, ob ein „offenkundiger Verstoß“ gegen die europarechtliche Verpfl ichtung vorliege.59 Bei den Umsetzungsspielräumen setzt auch eine neuere Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zum Emissionshandel an. Darin führt der Erste Senat aus, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften, die gemeinschaftsrechtlich induziert sind, dann nicht anhand des nationalen Grundrechtskatalogs zu messen sind, wenn und soweit die nationalen Gesetzgebungskörperschaften über keinen Gestaltungsspielraum verfügen.60 Wir können an diesen Fällen eine weitere interessante Verbundtechnik beobachten: Das „verbundene“ Verfassungsgericht kontrolliert Rechtsakte, die förmlich betrachtet sein Prüfungsgegenstand sind, die aber gleichwohl nicht in vollem Umfang am eigenen Entscheidungsmaßstab gemessen werden können, weil dieser verdrängt ist. Wie man stattdessen den „fremden“ Entscheidungsmaßstab – hier: das Europarecht – „ins Spiel bringen“ kann, zeigt das Beispiel aus Rheinland-Pfalz ebenfalls: Indem man ihn inkorporiert.

3. Inkorporierungstechniken a) Hebeltechnik Damit bin ich schon bei einem Beispiel für eine weitere Art von Verbundstrategien angelangt, die ich „Inkorporierungstechniken“ nennen möchte. Als erste Inkorporierungstechnik wollen wir die von mir sog. „Hebeltechnik“ in den Blick nehmen. Bei ihr dienen einzelne verfassungsrechtliche Vorschriften gewissermaßen als „Hebel“ oder „Transportband“. Geeignet dazu ist – wie schon gezeigt – zum Beispiel das Rechtsstaatsprinzip, aber auch die Gliedstaatsklauseln der Landesverfassungen werden von einigen Landesverfassungsgerichten als Hebel eingesetzt, um auf Art. 70 ff. GG als Entscheidungsmaßstab zugreifen zu können.61 Beim Rechtsstaatsprinzip wird 58 Vgl. VerfGH RLP a.a.O., Rn. 50: „Da der Gesetzgeber die Schutzgebietsausweisung mit der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts (FFH- und Vogelschutzrichtlinien) begründet hat [. . .], ist die dadurch bewirkte Einschränkung der gemeindlichen Planungshoheit im Ergebnis dann verletzt, wenn und soweit die Schutzgebietsausweisung nicht durch die Verpfl ichtung nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 und Abs. 2 VRL gerechtfertigt ist.“ 59 S. VerfGH RLP a.a.O., Rn. 51: evidenter Verstoß gegen Bundes- oder sonstiges höherrangiges Recht [hier: Europarecht]). 60 Vgl. BVerfGE 118, 79 (95 f.) – Emissionshandel; dazu m. w. N. auch zur Kritik an dieser Rspr. Schmahl, Grundrechtsschutz im Dreieck von EU, EMRK und nationalem Verfassungsrecht, EuR 2008 Beiheft 1, S. 7 (16). Zum „Solange“-Vorbehalt vgl. sogleich unten. 61 Vgl. etwa VerfGH NRW, Urteil vom 19. Mai 1992 – 5/91, juris, Rn. 66: Die Bestimmungen des Grundgesetzes, die die Gesetzgbungskompetenzen der Länder regeln, seien Teil des materiellen Verfassungsrechts des Landes Nordrhein-Westfalen; s. auch SächsVerfGH, Urteil vom 10. Juli 2003 – Vf. 43-II-00 –, LVerfGE 14, 333 (379): Verstoß einer Bestimmung des Sächsischen Polizeigesetzes „wegen Unvereinbarkeit mit Art. 72 Abs. 1 iVm. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG“ gegen Art. 3 Abs. 2 sowie Art. 39

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allerdings in der Regel eine kleine Einschränkung gemacht: Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip wird nur angenommen bei einem „offenkundigen, schwerwiegenden und besonders krassen Widerspruch zum Europäischen Gemeinschaftsrecht“.62 Auf diese Weise kann es aber trotzdem dazu kommen, dass ein Landesverfassungsgericht etwa die Vereinbarkeit einer Gefahrenabwehrverordnung über „gefährliche Hunde“ mit der Warenverkehrsfreiheit aus Art. 28 und 29 des EG-Vertrages prüft.63 Übrigens kennt auch die Rechsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Hebeltechnik in Bezug auf den Entscheidungsmaßstab des EGMR: Zum einen erfasst die „Willkürrechtsprechung“ des BVerfG die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als Gesetzesrecht.64 Eine willkürliche Auslegung und Anwendung der EMRK wäre eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz.65 Zum anderen kann nach dem „Görgülü-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 die Nichtberücksichtigung einer Entscheidung des EGMR über das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem jeweils einschlägigen Grundrecht gerügt werden.66

b) Verweistechnik Einen direkten Zugriff auf einen „fremden“ Entscheidungsmaßstab ermöglichen ausdrückliche „Transformationsnormen“67 oder „Rezeptionsklauseln“68. Man fi ndet Abs. 2 iVm. Art. 1 Satz 1 SächsVerf; ebenso SächVerfGH, Urteil vom 20. Mai 2005 – Vf. 34-VIII-04 –, juris, Rn. 113: Der Verfassungsgerichtshof prüfe im Verfahren der Normenkontrolle auf kommunalen Antrag einen möglichen Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenz. Er sei insoweit berechtigt, Landesgesetze an den Vorschriften des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zu messen. S. dazu Rozek, „Leipziger Allerlei II“ – ein kompetenzwidriges Landesgesetz, eine Gliedstaatsklausel und eine landesverfassungsgerichtliche Kompetenzextension, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln (Hrsg.), FS Bethge, 2009, 587. Vgl. auch ders. ebd., S. 588: Bethge konstatiere „zu Recht, dass es zu den „Gretchenfragen“ jener Zuständigkeitsabgrenzung [zwischen BVerfG und LVerfGen] gehöre, „ob die Kompetenzbestimmungen der Art. 70 ff. GG, die unmittelbar Bund wie Länder binden, in Durchbrechung oder zumindest doch Modifi kation des Trennungsprinzips zum zulässigen Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte avancieren können“. 62 Vgl. zur Kontrolle von Europarecht über das Rechtsstaatsprinzip: BayVerfGH, Entscheidung vom 20. September 2005 – Vf. 13-VII-04 u. a., juris, Rn. 51: „[. . .] bisher offengelassen [. . .] jedenfalls nur bei [. . .]“; grundlegend BayVerfGH, Entscheidung vom 15. Mai 1997 – Vf. 21-VII-95 u. a., juris, Rn. 162 ff.; s. auch BayVerfGH, Entscheidung vom 20. September 2005 – Vf. 13-VII-04 u. a., juris, Rn. 51; BayVerfGH, Entscheidung vom 20. Juni 2008 – Vf. 14-VII-00, juris, Rn. 51. 63 VerfGH RLP, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – VGH B 8/01 u. a., juris (Gefahrenabwehrverordnung Gefährliche Hunde), Rn. 86. 64 Die EMRK gilt in der Bundesrepublik kraft des Zustimmungsgesetzes (d. h. des Gesetzes über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952, BGBl 1952 II, S. 685) formell „nur“ mit dem Rang einfachen Gesetzesrechts. Für einen Überblick über den Rang der EMRK in den innerstaatlichen Rechtsordnungen vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, § 3 Rn. 2 ff. und ders., VVDStRL 60 (2001), 290 (299 ff.). 65 Vgl. BVerfGE 74, 102 (128). 66 BVerfGE 111, 307 (329 f.) und ebd. (307), Ls. 1. 67 Vgl. Pieroth, Die Grundrechte der nordrhein-westfälischen Landesverfassung im Verhältnis zu den Grundrechten des Grundgesetzes (Bespr.), NVwZ 2001, 1256. 68 Nordmann, „Rezipierte“ Grundrechte für Schleswig-Holstein, NordÖR 2009, 97 Fn. 1.

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sie häufig in den nachgrundgesetzlichen Landesverfassungen, also nicht in Bremen, aber in vielen anderen Bundesländern.69 Typischerweise lautet die Formulierung des Verfassungsgesetzgebers: Die Grundrechte des Grundgesetzes sind „Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Landesrecht“.70 Wie solche Bestimmungen genau funktionieren, ist umstritten.71 Es ist aber nicht zweifelhaft, dass die in Bezug genommenen Grundrechte Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte werden.72 Im europäischen Verfassungsgerichtsverbund sind ähnliche Verweistechniken vorhanden. Ein Beispiel ist der im Lissabonner Vertrag vorgesehene, neue Art. 6 Abs. 3

69 So in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und in Schleswig-Holstein, vgl. näher Pieroth, Die Grundrechte der nordrhein-westfälischen Landesverfassung im Verhältnis zu den Grundrechten des Grundgesetzes (Bespr.), NVwZ 2001, 1256. Die jüngste Klausel dieser Art hat der Landtag von Schleswig-Holstein mit Gesetz vom 18. März 2008 in Art. 2a der Landesverfassung eingefügt: „Die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht“, GVOBl 2008, 149, s. dazu Normann, „Rezipierte“ Grundrechte für Schleswig-Holstein, NordÖR 2009, 97. 70 Vgl. z. B. Art. 4 Abs. 1 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen: „Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Fassung vom 23. Mai 1949 festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Landesrecht“. 71 Insbesondere ist dogmatisch ungeklärt, ob es sich bei inhaltsgleichen Bundes- und Landesgrundrechten um ein und dasselbe Grundrecht handelt, das lediglich mehrfach, nämlich durch das Grundgesetz und die jeweiligen Landesverfassungen, gewährleistet ist oder ob es sich um mehrere Grundrechte handelt, die auf der Ebene des Grundgesetzes und der jeweiligen Landesverfassung nebeneinander gelten, vgl. BVerfGE 96, 342 (368); Dietlein, Die Rezeption von Bundesgrundrechten durch Landesverfassungsrecht, AöR 120 (1995), 1 (4 ff.); Nordmann, „Rezipierte“ Grundrechte für Schleswig-Holstein, NordöR 2009, 97 (98). 72 Zumal sie gerade dem Zweck dienen, eine normative Grundlage für die Rechtsprechungstätigkeit der Landesverfassungsgerichte zu schaffen. Das Grundgesetz lässt inhaltsgleiche Grundrechte auf Landesebene jedenfalls zu: Art. 31 GG i. V. m. Art. 142 GG ist so zu verstehen, dass inhaltsgleiches Recht nicht „gebrochen wird“, vgl. BVerfGE 96, 345 (364 f.). Hierzu hat Rainer Wahl prägnant formuliert: Die Eröffnung des Rechtswegs zu den Landesverfassungsgerichten durch die inhaltliche Wiederholung von Bundesverfassungsrecht sei „die Pointe des Privilegs, dass inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht vom Bundesverfassungsrecht nicht gebrochen ist, sondern in Geltung bleibt“ (Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR 112 (1987), 26 (28) Fn. 4). Unklar ist bei alledem lediglich, ob aus der Entscheidungskompetenz der Landesverfassungsgerichte über das mit dem Grundgesetz inhaltsgleiche Landesverfassungsrecht auch eine „Interpretationskompetenz“ folgt, ob also die jeweiligen Landesverfassungsgerichte die inkorporierten Grundrechte in gleicher Weise auslegen müssen, wie das Bundesverfassungsgericht (vgl. Nordmann, „Rezipierte“ Grundrechte für Schleswig-Holstein, NordÖR 2009, 97 (99)) bzw. ob im Zweifelsfall eine Vorlagepfl icht nach Art. 100 Abs. 3 GG ausgelöst wird; vgl. näher Rühmann, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl. 2004, § 85 Rn. 35 mwN in Fn. 58; ebenfalls mwN Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 85 Rn. 26, der die „Verdoppelung der Interpretationswege“ befürwortet: Die Rezeption, auch wenn sie dynamischer Natur sei, beruhe auf einer autonomen Entscheidung des Landesverfassungsgebers; die eigenständige Handhabung dynamisch rezipierter Bundesgrundrechte sei föderalistisch legitimiert. A. A. etwa Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265 (269): Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und mit ihr Rechtseinheit und Rechtssicherheit würden durch die Teilverlagerung der Wahrnehmung der Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit vom BVerfG hin zu einer Mehrzahl von Landesverfassungsgerichten nicht gefährdet, was allerdings voraussetze, dass die Verfassungsgerichte der Länder nach Art. 100 Abs. 3 GG eine Entscheidung des BVerfG auch dann einzuholen hätten, wenn sie bei der Auslegung von Landesgrundrechten von der Interpretation einer inhaltsgleichen Norm des Grundgesetzes durch das BVerfG abweichen wollten.

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EU-Vertrag73 : Er macht die Grundrechte der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze zum – so wörtlich – „Teil des Unionsrechts“.74

c) Bestandteilstechnik Für die Inkorporierung eines Entscheidungsmaßstabs bedarf es jedoch nicht immer eines solchen ausdrücklichen Verweises im Text der Verfassung: Bestimmte Prüfungsmaßstäbe werden von den Verfassungsgerichten auch inkorporiert, ohne in der jeweiligen Landesverfassung eine explizite Verankerung gefunden zu haben. Sie gibt es – soweit ersichtlich – nur im bundesstaatlichen Verfassungsgerichtsverbund: „hineinwirkende Bestandteilsnormen“. Geschaffen wurden diese „Bestandteilsnormen“ vom Bundesverfassungsgericht schon im 1. Band der amtlichen Sammlung.75 Das Bundesverfassungsgericht hat bislang auch – trotz heftiger Kritik in der Literatur76 – jedenfalls in Bezug auf Art. 21 Grundgesetz an dieser Konstruktion festgehalten,77 obwohl es zwischenzeitlich gewisse Zweifel daran hatte erkennen lassen78. 73

„Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberliegerungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“ Vgl. auch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV Lissabon: „Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.“ Zur Wirkweise der EMRK in der Europäischen Union nach Art. 6 Abs. 2 EU (a. F.) in Gestalt der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ vgl. statt vieler Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (325 f.) mit umfangreichen Nachweisen in Fn. 137. 74 Auch umgekehrte Verweistechniken gibt es im europäischen Verbund, so etwa in Art. 19a LVerf RLP, eingefügt durch Gesetz vom 8. März 2000 (GVBl. S. 65): „Rechte, welche die Verfassung allen Deutschen gewährt, stehen auch Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union zu, soweit diese nach dem Recht der Europäischen Union Anspruch auf Gleichbehandlung haben.“ (Hervorhebung d. Verf.). 75 Vgl. BVerfGE 1, 208 (232 f.): Danach ist „die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates [. . .] nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten, sondern in sie hinein wirken auch Bestimmungen der Bundesverfassung. Beide Elemente zusammen machen erst die Verfassung des Gliedstaats aus“; bei solcher „Einwirkung der Bundesverfassung auf die Landesverfassung“ handle es sich um „allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze, die im Grundgesetz formuliert sind, aber als ungeschriebene Bestandteile auch der Landesverfassungen vorausgesetzt werden können und müssen“. 76 So schreibt beispielsweise Horst Dreier in seiner GG-Kommentierung (in: ders. [Hrsg], GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 54, dort auch mit umfangreichen Nachweisen zu kritischen Stimmen): „Diese [. . .] Konstruktion ist abzulehnen. Sie steht in offener Diskrepanz zur These von den getrennten Verfassungsräumen, ignoriert den Willen des Landesverfassunggebers und führt zur Konstruktion derivativen, nämlich aus dem Grundgesetz abgeleiteten Landesverfassungsrechts, worin eine unzulässige Umgehung des Art. 28 Abs. 1 GG liegt.“. 77 Vgl. aus neuerer Zeit etwa BVerfG [in seiner Funktion als LVerfG Schleswig-Holstein], Urteil vom 13. Februar 2008 – 2 BvK 1/07 – NVwZ 2008, 407 (408): „Das BVerfG wird hier gem. Art. 93 I Nr. 5, 99 GG als Landesverfassungsgericht für das Land Schleswig-Holstein tätig. Prüfungsmaßstab ist daher die Landesverfassung (. . .) Eine Verletzung des Grundgesetzes kann nur dann geprüft werden, wenn bestimmte Vorschriften des Grundgesetzes ausnahmsweise als ungeschriebene Bestandteile in die Landesverfassung hineinwirken [. . .]“. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen folgt auf Landesebene aus ihrem in Art. 21 Abs. 1 GG umschriebenen verfassungsrechtlichen Status, der unmittelbar auch für die Länder gilt und Bestandteil der Landesverfassungen ist“. 78 BVerfGE 103, 332 (357 f.): Mangels einer (in Art. 153 der Hessischen Verfassung hingegen enthaltenen) Bezugnahme auf die Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes wirke „im Bereich der hier

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Auch der Bremische Staatsgerichthof hat sich – wie viele andere Landesverfassungsgerichte – der „Bestandteils“-These angeschlossen.79 Auf diesem Wege hat er beispielsweise in einer Entscheidung aus dem Jahre 2002 die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes über die Beleihung Privater auch am Maßstab des Funktionsvorbehalts aus Art. 33 Abs. 4 GG gemessen: Diese Vorschrift sei, so der Staatsgerichtshof, „Teil des materiellen Landesverfassungsrechts und damit zulässiger Gegenstand einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs.“80 Ein solches „Hineinwirken“ des Grundgesetzes in die Landesverfassungen führt nicht unbedingt zur Schwächung der Landesverfassungsgerichte,81 vielmehr können von ihm auch kompetenzerweiternde Effekte ausgehen. Das zeigt der viel beachtete „Honecker-Beschluss“ des Berliner Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1993: Der Verfassungsgerichtshof bezog sich damals auf die Bestandteils-Formel des Bundesverfassungsgerichts und inkorporierte damit Art. 1 Abs. 1 GG.82 Anhand dieses Entscheidungsmaßstabs entschied er – ich vereinfache etwas –, dass das Strafverfahren wegen des Schießbefehls an der Mauer gegen den 80jährigen und sehr kranken Honecker einzustellen sei, weil dieser das Ende des Strafverfahrens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben würde. Zum „Honecker-Beschluss“ hieß es in der Literatur, die so verstandene „Bestandteilstheorie“ stelle eine „unverhüllte Zweckkonstruktion zur Erweiterung der landesverfassungsgerichtlichen Kontrollbefugnisse dar“.83 Das muss dem Verbundgedanken nicht widersprechen.

in Rede stehenden Kompetenzordnung für die Gesetzgebung“ das Verfassungsrecht des Bundes „in die Landesverfassung von Schleswig-Holstein nicht hinein.“ 79 Vgl. H. Neumann, Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, 1996, Art. 140 Rn. 3, der auf eine Entscheidung vom 30. November 1983 – St 1/83 – verweist; vgl. auch BremStGHE 1, 73 (76 f.); 1, 145 (150 f.); 6, 11 (18). 80 Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 15. Januar 2002 – St 1/01 –, Umdruck S. 13. 81 In diese Richtung aber BVerfGE 103, 332 (357 f.): „Aus der Sicht eines Landes ist ferner zu berücksichtigen, dass seine Verfassungsautonomie und damit seine Staatlichkeit ganz nachhaltig beschädigt werden, je mehr an Prinzipien oder Normen der Bundesverfassung in eine Landesverfassung ‚hineingelesen‘ wird. Auf diese Weise wird letztlich ein Eckpfeiler des Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland untergraben: das föderale Prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.“ 82 BerlVerfGH, Beschluss vom 12. Januar 1993 – VerfGH 55/92 –, NJW 1993, 515 (516). 83 Dietlein, Das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht, in: FS 50 Jahre NWVerfGH, 2002, 203 (216). Vgl. auch D. Wilke, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Einheit des Bundesrechts – Bemerkungen aus Anlaß des Honecker-Beschlusses des Berliner Verfassungsgerichtshofs, NJW 1993, 887 (889): Die „richterrechtliche Konzeption eines zusätzlichen Berliner Landesgrundrechts“ habe „lediglich einen die Zuständigkeit des Berliner Verfassungsgerichtshofs begründenden Effekt“ gehabt. Zur im Honecker-Beschluss relevanten Problematik, ob die fachgerichtliche Entscheidung eines Landesgerichts zulässiger Prüfungsgegenstand eines Landesverfassungsgerichts ist, wenn die Entscheidung des Fachgerichts auf der Anwendung von Bundesrecht beruht, s. bereits Fn. 34.

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4. Verfassungsauslegung als Instrument der Einheits- und Vielfaltssicherung a) Spielräume und Spielrauminterpretation Damit komme ich zu einem weiteren wichtigen Aspekt, nämlich zur Frage des Umgangs mit Spielräumen und der Interpretation von Spielräumen. Durchaus selbstbewußt geht unser Jubiliar, der Bremischer Staatsgerichtshof, mit Interpretationsfreiräumen um.84 Anschaulich studieren läßt sich seine Haltung am Beispiel seines Umgangs mit Art. 28 GG im Zusammenhang mit dem Wahlrecht von EU-Bürgern. Das Problem bestand in darin, dass in Bremen traditionell nur die Bürgerschaft (also der Landtag) gewählt wird, der zugleich die Stadtbürgerschaft – also das Kommunalorgan – darstellt. Das Wahlrecht der EU-Bürger sollte sich nun lediglich auf die Kommunalwahl, nicht aber die Landtagswahl beziehen. Der BremStGH entschied dazu im Jahr 2000,85 es habe im staatsorganisatorischen Spielraum des bremischen Gesetzgebers gelegen, auch nach Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger am traditionellen Modell der Stadtstaatlichkeit Bremens festzuhalten: In Bremen hätten lediglich die Unionsbürger ein selbständiges Wahlrecht zur Stadtbürgerschaft (also dem Kommunalorgan); die deutschen Bürger könnten nur die Bürgerschaft (d. h. den Landtag) wählen und beeinflussten dadurch zugleich die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft. Diese Differenzierung sei zur Herstellung der angestrebten Kompatibilität von stadtstaatlicher Struktur und Öffnung des Wahlrechts zur Stadtbürgerschaft für Unionsbürger rechtlich zulässig. Die einzige Alternative – die Verselbstständigung der Stadtbürgerschaft – sei demgegenüber eine staatsorganisatorisch tiefgreifende und folgenreiche Entscheidung; der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht verpfl ichtet gewesen, diese Alternative zu wählen.86 84 Vgl. auch Beutler, Die Verfassungsentwicklung in Bremen, JöR 52 (2004), 299 (316 ff.): Die Verfassungsauslegung durch den StGH habe gerade in jüngster Zeit deutliche Akzente auch im Hinblick auf die Selbständigkeitsdiskussion in der Perspektive historischer Gewachsenheit und Zukunftsoffenheit gesetzt. 85 BremStGH, Urteil vom 29. 8. 2000 – St 4/99 –: Die Antragstellerin, die Wählervereinigung Arbeit für Bremen und Bremerhaven (Af B), bewarb sich bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 6. 6. 1999 in den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven um Sitze in der Bremischen Bürgerschaft. Nach der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses durch den Landeswahlleiter entfielen auf die Antragstellerin – bei einem Stimmenanteil von 2,44% im gesamten Land – im Wahlbereich Bremen 5269 Stimmen (= 2,15%) und im Wahlbereich Bremerhaven 1841 Stimmen (= 4,01%). Da die Antragstellerin in keinem Wahlbereich mindestens 5% der abgegebenen gültigen Stimmen errungen hatte, erhielt sie gem. Art. 75 Abs. 3 BremVerf., § 7 Abs. 4 BremWahlG weder im Wahlbereich Bremen noch im Wahlbereich Bremerhaven einen Sitz in der Bremischen Bürgerschaft (Landtag). Erstmals nahmen an dieser Bürgerschaftswahl auch Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EG teil. Ihr Wahlrecht galt gem. § 1a BremWahlG in der durch das Gesetz vom 6. 10. 1996 geänderten Fassung jedoch ausschließlich für die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft. Im Wahlprüfungsverfahren machte die Ast. geltend, ihre Rechte auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb gem. Art. 21 Abs. 1 GG und auf Gleichheit der Wahl gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG seien verletzt, weil die 5% -Sperrklausel nicht aufgehoben worden sei, obwohl dies mit der Einführung des Wahlrechts für Unionsbürger geboten gewesen wäre. Die Beschwerde gegen den zurückweisenden Beschluss des Wahlprüfungsgerichts wurde ebenfalls zurückgewiesen. 86 Krit. Bovenschulte/Fisahn, Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, in: Fisahn (Hrsg.), Bremer Recht, 2002, S. 20 (86): Ob die Regelung des Art. 148 Abs. 1 Satz 3 LV [„Die Stadtbürgerschaft

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b) Wirkungen der grundgesetzlichen Verfassungsrechtsdogmatik Wie geht das Bundesverfassungsgericht mit diesem landesverfassungsgerichtlichen Selbstbewußtsein um? Seit längerem wird an der – ich zitiere – „unitarisierenden Verfassungsrechtsdogmatik“87 des Bundesverfassungsgerichts Kritik geübt.88 Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in den letzten Jahren mehrfach belegt, dass es gerade im Blick auf den Funktionsbereich der Landesverfassungsgerichte durchaus sensibel ist.89 Ich denke da beispielsweise an die Rechsprechung zum Wahlrecht: Ursprünglich hatte das Bundesverfassungsgericht das Landes- und Kommunalwahlrecht über Art. 3 Abs. 1 GG kontrolliert. Vor einigen Jahren hat es diese Rechtsprechung geändert.90 Seitdem kann im Anwendungsbereich der spezifischen wahlrechtlichen Gleichheitssätze nicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz zurückgegriffen werden; entsprechende Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.91 Auch die weitreichende Wirkung der „Elfes-Rechtsprechung“ hat das Bundesverfassungsgericht föderal begrenzt und es sich versagt, unter Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG die Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Norm mit der Landesverfassung zu überprüfen.92 besteht aus den von den stadtbremischen Wählern mit der Wahl zur Bürgerschaft im Walhbereich Bremen gewählten Vertretern“] mit dem Grundsatz der allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahl aller bundesdeutschen Gemeindevertretungen (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) vereinbar sei, könne bezweifelt werden. 87 Formulierung etwa bei Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5. 88 So spricht zum Beispiel Peter Badura von der „unitarische[n] Wirkung der Grundrechte des Grundgesetzes“, die erst dadurch durchgreifend zum Tragen komme, „dass die Staatspraxis, abgeleitet durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zunehmend den Grundrechten kodifi katorischen Charakter für die von ihnen bestrichenen Rechtsgebiete zugemessen“ habe, vgl. Badura, Stellenwert von Länderverfassungen und Verfassungskonfl ikten am bayerischen Beispiel, BayVBl. 2007, 193 (195) (mit Beispielen 195 ff.). Vgl. auch zB Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, S. 5: Die Homogenisierung von Landes- und Bundesverfassungsrecht werde durch die Verfassungsrechtsdogmatik gefördert; die für die deutsche Rechtswissenschaft kennzeichnende Identifi zierung von Wissenschaftlichkeit mit Systemdenken führe dazu, dass ein Großteil der Verfassungsrechtssätze als Konkretisierungen der grundlegenden, in Art. 20 und 28 GG geschützten Verfassungsprinzipien gesehen werden könne. Das lege dann den Fehlschluss nahe, alle solche Konkretisierungen seien zwingende, die Länder nach Art. 28 GG bindende Bestandteile dieser Prinzipien. Originalität auf Landesverfassungsebene werde sich daher sofort dem Vorwurf der Grundrechtsverletzung ausgesetzt sehen. Vgl. mit Blick auf die „Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte“ P. M. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190 m. w. N. zur „kompetenzielle[n] Dimension judikativer Grundrechtsentfaltung“. 89 Vgl. allgemein Tietje, Die Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit im föderalen System Deutschlands in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, AöR 124 (1999), 282 ff. 90 BVerfGE 99, 1. 91 Vgl. zuletzt BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 8. Juli 2008 – 2 BvR 1223/08 – juris, Rn. 5; vorgehend: Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 22. Mai 2008 – St 1/08 –, juris. Vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2009 – 2 BvR 120/09, juris, und zuletzt BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 3. Juli 2009 – 2 BvR 1291/09 – unveröffentlicht. 92 Vgl. BVerfGE 41, 88 (118 ff.); 45, 400 (413); 60, 175 (209); vgl. auch Schumann, Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht gegen Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, in: FS BayVerfGH, 1997, S. 201 (221): „föderale Reduktion der Elfes-Rechtsprechung [. . .] im

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c) Verfassungs(rechtsprechungs)vergleichung als Auslegungshilfe Wenn wir jetzt schon beim schwierigen Thema Verfassungsauslegung und deren Funktion im Verfassungsgerichtsverbund sind, darf die „vergleichende“ Verfassungsauslegung nicht unerwähnt bleiben. So ist beispielsweise die EMRK als „Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ heranzuziehen;93 dabei handelt es sich nach der „Görgülü“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar um eine „verfassungsrechtliche Pfl icht“.94 Auch von den Landesverfassungsgerichten lässt sich das Bundesverfassungsgericht immer wieder inspirieren. Beispielsweise berief sich der Erste Senat in seiner Entscheidung zum „großen Lauschangriff “ für die Defi nition des Eingriffs auf den Sächsischen Verfassungsgerichtshof.95 Wechselseitig zitieren sich auch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte.96 Die Landesverfassungsgerichte schließlich verweisen ohnehin in ganz erheblichem Umfang aufeinander. Das gilt auch für den Bremischen Staatsgerichtshof.97 Ein schönes Beispiel für den „föderalen Rechtsvergleich“ ist seine Entscheidung vom Mai 2009,98 in der es um die Wiedereinführung der Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung der Stadt Bremerhaven ging. Hier fi ndet man nicht nur eine vergleichende Bestandsaufnahme der Rechtslage in den Bundesländern, sondern auch zahlreiche Bezugnahmen auf die Rechtsprechung anderer Landesverfassungsgerichte: Zitiert werden die Verfassungsgerichte Hamburgs, MeRespekt vor der Landesverfassungsgerichtsbarkeit“; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 69. 93 BVerfGE 111, 307 (317). 94 BVerfGE 111, 307 (329): Verfassungsrechtliche Pfl icht aus Art. 1 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen; solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pfl icht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Vgl. dazu statt vieler E. Klein, Zur Bindungswirkung staatlicher Organe an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, JZ 2004, 1176 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, Die Bindung deutscher Gerichte an Urteile des EGMR, NJW 2005, 15 ff.; zur „weichen“ normativen Wirkung der EMRK vgl. auch die Nachweise bei Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (321 ff.). 95 BVerfGE 109, 279 (327) m. Verweis auf VerfGH Sachsen, LVerfGE 4, 303 (383); Beispiel von Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 (Sonderheft zum 50jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs), S. 5; s. auch BVerfGE 8, 122 (132). Weitere Beispiele bei Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (370 Fn. 101 u. 102) 96 Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG beispielsweise die Bezugnahme auf den Conseil d’Etat in BVerfGE 118, 79 (96); Beispiele für internationalen Austausch z. B. bei Cruz Villalón, Bericht Spanien, in: Battis/Mahrenholz/Tsatsos (Hrsg:), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, Berlin 1990, S. 93: „. . . Wenn man vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte absieht, so ist die Rechtsprechung des BVerfG auch diejenige, die vom spanischen Verfassungsgericht am meisten berücksichtigt wird.“ 97 Vgl. Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 22. Mai 2008 – St 1/08 –, juris, Orientierungssatz Nr. 2: „[. . .] föderale[n] Rechtsvergleich“; s. auch Rn. 32: „Diese Auslegung wird auch durch einen Vergleich mit der Ausgestaltung des Wahlrechts in anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland gestützt“. 98 Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 14. Mai 2009 – St 2/08 –, juris.

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cklenburg-Vorpommerns, Thüringens, Berlins und Nordrhein-Westfalens.99 Die Rechtsprechung der „verbundenen“ Verfassungsgerichte erweist sich damit als ein diskursives Ringen um die „beste Lösung“ – der Verfassungsgerichtsverbund wird so auch zum „Lernverbund“.100 Zugleich ist die wechselseitige Rezeption von Rechtsprechung eine Form der Kooperation.

IV. Kooperations- und Koordinationstechniken 1. Vorlagerechte- und pflichten als Koordinationsinstrument Das gibt mir das nächste Stichwort: Im Verfassungsgerichtsverbund stehen auch formelle Koordinationsinstrumente zur Verfügung, was uns hinüber führt zu den Vorlagerechte und -pfl ichten. So statuiert Art. 100 des Grundgesetzes Vorlagerechte und -pfl ichten an das Bundesverfassungsgericht;101 der gleichen Technik bedient sich mit Art. 234 des EG-Vertrages102 auch der supranationale Verfassungsgerichtsverbund für Vorlagen an den EuGH.103 Zudem ermöglicht Art. 234 EG-Vertrag eine Verschränkung des bundesstaatlichen und des supranationalen Verfassungsgerichtsver99 Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 14. Mai 2009 – St 2/08 –, juris: Verweise auf das Hamburgische Verfassungsgericht (Rn. 47 und Rn. 59), das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommerns (Rn. 51, 59, 64, 67, 75), den Thüringer Verfassungsgerichtshof (Rn. 55, 58, 59 und Rn. 62); den Verfassungsgerichtshof Berlin (Rn. 59), den Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen (Rn. 60 und Rn. 84). 100 Vgl. Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, S. 5: „Auch das Bundesverfassungsgericht ist bereit, von den Landesverfassungsgerichten zu lernen“, zum Verhältnis BVerfG/EGMR vgl. Hoffmann-Riem, Die Caroline II-Entscheidung des BVerfG – Ein Zwischenschritt bei der Konkretisierung des Kooperationsverhältnisses zwischen den verschiedenen betroffenen Gerichten, NJW 2009, 20 (26): „Anstöße zum wechselseitigen Lernen [. . .] In der Caroline II-Entscheidung hat das BVerfG dem EGMR nicht – wie manche gehofft hatten – den Fehdehandschuh hingeworfen, sondern es war bemüht, einen wechselseitigen Lernprozess zu fördern und einen Weg aufzuzeigen, der zur Kompatibilität der in den verschiedenen Rechtsordnungen maßgebenden Vorgaben führt“; Stichwort „Lernverbund“ bei Merli, VVDStRL 66 (2007), 392 (418); Steiner, Zum Kooperationsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, in: Detterbeck/Rozek/v.Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit. FS Bethge zum 70. Geburtstag, 2009, 653 (663). 101 Vgl. zu den strittigen Fragen der Reichweite von Art. 100 Abs. 1 GG die Nachweise bei Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt?, AöR 130 (2005), 350 (364 f.). 102 Vgl. dazu statt vieler Skouris, Stellung und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens im europäischen Rechtsschutzssystem, EuGRZ 2008, 343 ff.; Zusammenstellung über die Vorlagen der nationalen Verfassungsgerichte bei Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 2. Juli 2009 in der Rechtssache C-169/08, Presidente del Consiglio dei Ministri/Regione autonoma della Sardegna mit der Würdigung der Vorlage des italienischen Corte Constituzionale als Bestandteil eines „aktiven Kooperationsverhältnisses“. 103 Vgl. auch Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt?, AöR 130 (2005), 350 (379) Fn. 159, zur Verwendung des Begriffs „Kooperation“ im Verhältnis LVerfGe/BVerfG: Beziehe man das Wort auf die Auslegung und Fortbildung der jeweils höheren Verfassungsebene, also das Recht des dezentralen Verfassungsgerichts (Landesverfassungsgericht oder BVerfG), Auslegungsfragen des jeweils höheren Verfassungsrechts aufzuspüren und mittels Richtervorlage an das zentrale Verfassungsgericht (BVerfG oder EuGH) heranzutragen (sei es über Art. 234 EGB oder über Art. 100 Abs. 3 GG), bestehe eine „Strukturähnlichkeit“.

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bundes: Auch Landesverfassungsgerichte können nämlich Fragen über die Auslegung des Europarechts dem EuGH vorlegen.104 Sie sind damit „europäische Verfassungsgerichte“105 und Teil des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes. Soweit ersichtlich, hat sich bislang jedoch erst der Hessische Staatsgerichtshof 1997 zu einer Vorlage an den EuGH veranlasst gesehen.106

2. Kein Instanzenzug? Vorlagerechte und -pfl ichten stellen eine denkbare prozessuale Verknüpfung der Verfassungsgerichtsbarkeiten dar. Wie aber verhält es sich mit der „klassischsten“ aller prozessualen Verknüpfungen, dem Instanzenzug? Streng genommen gibt es keinen Instanzenzug zwischen Verfassungsgerichten.107 Das folgt daraus, dass die Entscheidungsmaßstäbe stets unterschiedliche sind: Die Kontrolle einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am Maßstab des Grundgesetzes durch den EGMR ist ausgeschlossen. Auch das Bundesverfassungsgericht seinerseits kontrolliert die Landesgewalt nicht am Maßstab von Landesverfassungsrecht. Eine andere Frage ist, ob Landesverfassungsgerichte durch ihre Entscheidungen das Grundgesetz verletzen können. Insofern gilt: Auch Entscheidungen von Landesverfassungsgerichten sind Akte der öffentlichen Gewalt und daher tauglicher Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts. Das gilt insbesondere, wenn der 104 Eine Vorlagepfl icht kann insoweit jedenfalls dann bestehen, wenn man die Möglichkeit, Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte mit einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG anzugreifen, nicht als Rechtsmittel im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EGV ansieht. Dazu näher Hirsch, Vorabentscheidungsvorlagen zum Europäischen Gerichtshof durch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: BayVerfGH (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpfl ichtung. FS zum 50jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, 45 (54 ff.). 105 Vgl. Häberle, Die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates, EuGRZ 2004, 117 (122): „Nationale Verfassungsgerichte als europäische Verfassungsgerichte“. 106 HessStGH, Beschluss vom 16. April 1997 – P.St. 1202 –, juris = NVwZ 1997, 784. Bei dem Ausgangsverfahren handelte es sich um ein abstraktes Normenkontrollverfahren; inhaltlich ging es um die Gemeinschaftskonformität von Frauenförderklauseln (einschließlich Quotenregelungen). Der Hessische Staatsgerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob die Gleichbehandlungsrichtlinie (Richtlinie 76/207/EWG vom 9. Februar 1976) den Regelungen entgegenstehe. In der Literatur wurde die Entscheidungserheblichkeit des Gemeinschaftsrechts für den betreffenden Fall und damit die Vorlagepflicht des Staatsgerichtshofs bezweifelt, vgl. Störmer, Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 177 EGV durch Landesverfassungsgerichte, NJ 52 (1998), 337 (339): Das Gemeinschaftsrecht sei kein Entscheidungsmaßstab, und es sei auch gemeinschaftsrechtlich nicht gefordert, im Wege der Rechtsfortbildung die Prüfungskompetenz der LVerfG auf das EG-Recht zu erstrecken: Die wirksame Durchsetzung des Europarechts sei bereits von den Fachgerichten gesichert. 107 Vgl. für das Verhältnis der Landesverfassungsgerichte zum Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 6, 449: „Das Bundesverfassungsgericht ist aber nicht eine zweite Instanz über den Landesverfassungsgerichten, die befugt wäre, deren Urteile in vollem Umfang nachzuprüfen“; BVerfGE 60, 175 (208); s. auch bereits Friesenhahn, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz – FG 25 Jahre BVerfG, 1976, 748 (794): „keine instanzenmäßige Überordnung des Bundesverfassungsgerichts über die Landesverfassungsgerichte“.

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Beschwerdeführer sich auf Prozessgrundrechte beruft, etwa die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör oder den gesetzlichen Richter.108 Ob und inwieweit ein Landesverfassungsgericht allein durch das Unterlassen der Beseitigung einer Rechtsverletzung das Grundgesetz verletzen kann, ist indessen nicht völlig unumstritten. Gegen eine solche Annahme wird angeführt, dass der Entscheidungsmaßstab des Landesverfassungsgerichts eben nicht das Grundgesetz, sondern die Landesverfassung sei.109 In diese Richtung tendiert beispielsweise eine Kammerentscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 1993.110 Dort heißt es unter anderem, Grundrechte des Grundgesetzes seien für das betreffende Landesverfassungsgericht nicht Prüfungsmaßstab gewesen und könnten insoweit von dessen Entscheidung auch nicht betroffen sein.111 Diese Zurückhaltung spiegelt sich in anderen Entscheidungen allerdings nicht wieder.112 Eine in gewisser Hinsicht ähnliche Ausgangslage besteht auch im Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR: An sich sind die Entscheidungsmaßstäbe der beiden Gerichte unterschiedlich, trotzdem sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gegenstand der Kontrolle durch den EGMR. Allerdings sind es seltene Fälle, in denen der EGMR tatsächlich einmal einen vom Bundesverfassungsgericht zuvor als grundgesetzkonform angesehenen Hoheitsakt beanstandet. So wurde die Bundesrepublik im Jahr 2004 wegen Verletzung der EMRK durch die sogenannte „Caroline-Entscheidung“113 des BVerfG aus dem Jahr 1999 verurteilt, in der es um das Verhältnis von Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit gegangen war.114 In 108

Wobei eine Verletzung des gesetzlichen Richters bekanntermaßen in der Missachtung einer Vorlagepfl icht an den EuGH liegen kann; vgl. zum EuGH als gesetzlichem Richter nur BVerfGE 73, 339 (366 f.); 113, 116; 82, 159 (194 ff.). 109 In diese Richtung z. B. Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005, Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5 (7): „[. . .] Vorwurf, dass das Landesverfassungsgericht die Grundrechtsverletzung nicht beseitigt hat. Es ist aber die Frage, ob es damit Grundrechte des Grundgesetzes überhaupt verletzen kann. Auch bei inhaltsgleichen Grundrechten ist der Prüfungsmaßstab der Gerichte ein anderer (und eine gleiche Auslegung im Einzelfall nicht gesichert). Die Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts, das einen Verstoß gegen die Landesverfassung verneint, beschränkt sich auf genau diese Feststellung, und kann daher nicht gegen das Grundgesetz verstoßen, selbst wenn das Bundesverfassungsgericht bei Anwendung eines inhaltsgleichen Grundrechts des Grundgesetzes zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.“ 110 Vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 19. April 1993 – 1 BvR 744/91 –, NVwZ 1994, 59. 111 BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 19. April 1993 – 1 BvR 744/91 –, NVwZ 1994, 59 (60). 112 Vgl. z.B. BVerfGE 97, 298 (298): „Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs [. . .] verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Rundfunkfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Sie wird aufgehoben.“ In der Entscheidung ging es um die Frage, „ob es mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar ist, dass sich nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs die privaten Anbieter von Rundfunkprogrammen in Bayern nicht auf den Schutz der Rundfunkfreiheit berufen können, dieser vielmehr nur auf seiten der BLM [= die Bayerische Landeszentrale für neue Medien, d. Verf.] zu Buche schlägt“, s. BVerfGE 97, 298 (309). Kritisch zu dieser Entscheidung Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt?, AöR 130 (2005), 350 (362) und (375) m. Fn. 145. 113 BVerfGE 101, 361. 114 EGMR (3. Sektion), Urteil vom 24. Juli 2004 – 59320/00 – von Hannover/Deutschland, Reports and Decisions 2004-VI S. 1 ff. = NJW 2004, 2647. Weitere Beispiele für Fälle, in denen der EGMR einen vom BVerfG zuvor als grundgesetzkonform angesehenen Hoheitsakt als konventions-

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neueren Entscheidungen aus dem Jahr 2008115 hat der zuständige Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sich mit dem (infolgedessen geänderten) „Schutzkonzept“ des BGH befasst und – auch mit Blick auf seine begrenzte Überprüfungskompetenz – festgestellt, dieses kollidiere nicht mit deutschem Verfassungsrecht.116 Das Beispiel zeigt, dass es hier keine zwingenden, eindeutigen Lösungen gibt. Etwaige Widersprüche werden am ehesten mit einer wechselseitigen Berücksichtigung der normativen Strukturen und einer „vorausschauenden“ Auslegung des jeweils eigenen Maßstabs vermieden.117 Ein interessanter Hinweis in diesem Zusammenhang: Im Verhältnis der Landesverfassungsgerichte zum Bundesverfassungsgericht ist seit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1997 (96. Band) geklärt,118 dass jedenfalls bei Entscheidungen, die in der Sache abschließend vom Landesverfassungsgericht entschieden werden (dh insbesondere Streitigkeiten zwischen Staatsorganen – im Falle Bremens Streitigkeiten nach Art. 140 der Landesverfassung), überhaupt keine Kontrolle der Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes erfolgt, auch nicht am Maßstab von Prozessgrundrechten. Entsprechende Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.119 widrig beanstandete, sind die baden-württembergische Feuerwehrabgabe (EGMR, Urteil vom 18. Juli 1994 – 13580/88 –, NVwZ 1995, 365) und die Entlassung einer Lehrerin wegen ihrer Tätigkeit in der DKP (EGMR, Urteil vom 26. September 1995 – 17851/91 –, NJW 1996, 375); außerdem wurde die Bundesrepublik wegen überlanger Verfahrensdauer gerügt, so z. B. in EGMR, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 10732/05 –, FamRZ 2009, 105; Urteil vom 5. Oktober 2006 – 66491/01 –, EuGRZ 2007, 268; Urteil vom 8. Januar 2004 – 47169/99 –, NJW 2005, 41. 115 BVerfG, Beschl. v. 26. Februar 2008 – 1 BvR 1602/07 u. a. –, NJW 2008, 1793 – „Caroline II“. 116 Vgl. Hoffmann-Riem, Die Caroline II-Entscheidung des BVerfG – Ein Zwischenschritt bei der Konkretisierung des Kooperationsverhältnisses zwischen den verschiedenen betroffenen Gerichten, NJW 2009, 20 (22). 117 Vgl. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, 473: „Kohärenzvorsorge“, vgl. auch Steiner, Zum Kooperationsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, FS Bethge, 2009, 653 (663): In der Rechtsprechung des BVerfG vermeide man jedenfalls den Konfl ikt mit einer schon bestehenden Rechtsprechung des EuGH. So lehne sich z. B. die Entscheidung des Ersten Senats zur Sportwette [BVerfGE 115, 276] deutlich an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an. 118 Offen gelassen noch von BVerfGE 30, 112 (122), in dem eine Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs angegriffen worden war, die im Verfahren nach der Generalklausel des Art. 140 LV (Zuständigkeit zur Verhandlung und Entscheidung von Zweifelsfragen über die Auslegung der Verfassung und andere staatsrechtliche Fragen) ergangen war. 119 Das Bundesverfassungsgericht lehnte in seiner Entscheidung im 96. Band (BVerfGE 96, 231; zum Sachverhalt und zur Fragestellung ebd., (242)) die Kontrolle der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs mit Blick auf die geltend gemachte Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ab. In der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs war es um eine Entscheidung des Bayerischen Landtags zur Prüfung der Durchführung eines Volksentscheides über das Abfallrecht in Bayern gegangen; hiergegen wurde von den Unterzeichnern des Volksbegehrens Verfassungsbeschwerde erhoben. Dazu das BVerfG: „Die bisher [. . .] offengelassene Frage entscheidet der Senat nunmehr dahin, daß die Rügen der Verletzung von grundrechtsgleichen Gewährleistungen dann nicht mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden können, wenn sie sich auf ein Verfahren des Landesverfassungsgerichts beziehen, in dem eine landesverfassungsrechtliche Streitigkeit in der Sache abschließend entschieden wird“. Die für die Entscheidung von „Streitigkeiten unter Funktionsträgern der Staatsgewalt“ anerkannte Unantastbarkeit der Landesverfassungsgerichtsbarkeit würde für einen Teilbereich wieder beseitigt, wenn das Bundesverfassungsgericht kontrollieren

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3. Ausübungsverzicht: „Solange“-Techniken Diesen Verzicht auf eine Kontrolle der „in der Sache abschließenden“ landesverfassungsgerichtlichen Entscheidung im Jahr 1997 hat das Bundesverfassungsgericht auch mit einer „Solange“-Formel unterfüttert – der Art, wie man sie aus seiner Rechtsprechung zum europäischen Verfassungsgerichtsverbund kennt: Zur Durchsetzung der grundrechtsgleichen Gewährleistungen sei (ich zitiere): ein „Übergriff auf die Landesverfassungsgerichtsbarkeit auch nicht geboten, solange die Länder . . . bei der Einrichtung ihrer Landesverfassungsgerichte die Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG beachten. Dazu gehört, dass sie ihre Verfassungsgerichte mit Richtern besetzen, die im Sinne des Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind, und dass sie ihre Verfassungsgerichtsbarkeit einer Bindung an die Prinzipien rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung unterwerfen. In diesem Rahmen brauchen daher landesverfassungsrechtliche Verfahren unter Funktionsträgern des Landes nicht durch das Bundesverfassungsgericht auf die Beachtung der für das Verfahren geltenden grundrechtsgleichen Gewährleistungen kontrolliert zu werden.“120 Zum Vergleich zitiere ich aus der wesentlich prominenteren Solange-II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist . . ., wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht . . . nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig.“121 Die „Solange-Technik“ des Ausübungsverzichts stellt nach alledem eine sehr hilfreiche Verbund-Technik dar, und so überrascht es nicht, dass wir sie auch in der Rechtsprechung des EGMR wiederfi nden: Der EGMR vertritt im Hinblick auf sein Verhältnis zum EuGH, dass staatliches Handeln der Konventionsstaaten in Erfüllung völkerrechtlicher Verpfl ichtungen im Sinne der EMRK „solange“ gerechtfertigt ist, wie die jeweilige völkerrechtliche Organisation die Grundrechte schützt, und dies in einer Art, die – ich zitiere – „wenigstens als gleichwertig zu dem von der Konvention gewährten Schutz anzusehen ist“.122 In seiner sogenannten „Bosphorus-AirwaysEntscheidung“ aus dem Jahr 2005123 hat der EGMR klargestellt, gleichwertig meine vergleichbar, nicht identisch.124 Der vom Europäischen Gemeinschaftsrecht vorgesehene müsste, ob die Landesverfassungsgerichte im Verfahren dieser Verfassungsstreitigkeiten die grundrechtsgleichen Gewährleistungen beachtet hätten. 120 BVerfGE 96, 231 (244 f.). 121 BVerfGE 73, 339 (387) (Kursivdruck d. Verf.). 122 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 30. Juni 2005 – 45036/98 – Bosphorus/Irland, NJW 2006, 197 (202) unter Verweis auf EGMR, 1990, DR, Bd. 64, S. 145 – M. &Co/Deutschland. 123 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 30. Juni 2005 – 45036/98 – Bosphorus/Irland, NJW 2006, 197. 124 EGMR a.a.O., 197 (202).

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Grundrechtsschutz könne (in Bezug auf den maßgeblichen Zeitpunkt) als dem der Konvention „gleichwertig“ in diesem Sinne angesehen werden.125 Es gibt allerdings einen bemerkenswerten Unterschied in der Handhabung der „Solange“-Idee durch das Bundesverfassungsgericht einerseits und den EGMR andererseits: Das Bundesverfassungsgericht verortet sie prozessual, nämlich bereits auf der Zulässigkeitsebene und damit zum frühstmöglichen Zeitpunkt,126 während der EGMR sich eine Einzelfallkontrolle der Gleichwertigkeit des Schutzstandards auf der Begründetheitsebene vorbehält.127

4. Identitäts- und ultra-vires-Kontrolle Eine ähnliche Zurückhaltung wie mit Blick auf die Solange-II-Rechtsprechung im Bereich des Grundrechtsschutzes übt das Bundesverfassungsgericht bislang auch im Hinblick auf die Reichweite der übertragenen Hoheitsrechte aus: Schon 1987 hat es überprüft, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien die Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung überschreitet, diese Frage im Ergebnis jedoch verneint.128 Auch im Maastricht-Urteil hat es sich die Prüfung vorbehalten, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen des ihnen eingeräumten Hoheitsrechts halten oder „aus ihnen ausbrechen“.129 Diese Kompetenz für eine „ultra-vires-Kontrolle“ wurde im Lissabon-Urteil130 nochmals bekräftigt und ergänzt durch eine „Identitätskontrol125

EGMR a.a.O. 197 (203). Vgl. auch Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, 473 (476). 127 S. näher Schmahl, Grundrechtsschutz im Dreieck von EU, EMRK und nationalem Verfassungsrecht, EuR Beiheft 1/2008, 7 (28). 128 BVerfGE 75, 223 (240 ff.) – Kloppenburg. 129 BVerfGE 89, 155 (188, 209 f.). 130 Vgl. aus der „ersten Rezeptionswelle“ des Urteils etwa Bieber, SZ vom 20. Juli 2009; Calliess, NJW vom 16. Juli 2009; Fischer, Die Zeit vom 9. Juli 2009; Grosser, SZ vom 11. Juli 2009; Kirchhof, FAZ vom 1. Juli 2009 und 4. Juli 2009; Möllers, FAZ vom 16. Juli 2009; Lenz, FAZ vom 8. August 2009; F. C. Mayer, „Rashomon in Karlsruhe“, WHI-Paper 07/09; Rüttgers, SZ vom 15. Juli 2009; Schorkopf, FAZ vom 16. Juli 2009; Streinz, Editorial NJW vom 16. Juli 2009; aus der „zweiten Rezeptionswelle“ eher zustimmend Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum LissabonUrteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff.; Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, Der Staat 2009 (erscheint demnächst); Schelter, Karlsruhe und die Folgen, ZFSH/ SGB 2009, S. 451 ff.; Schorkopf, The European Union as an Association of Sovereign States: Karlsruhe’s Ruling on the Treaty of Lisbon, German Law Journal 2009, S. 1219 ff.; ders., Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, S. 718 ff.; Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 2009 (erscheint demnächst); eher ablehnend etwa v. Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum, NJW 2010, S. 1 ff.; Frenz, Unanwendbares Europarecht nach Maßgabe des BVerfG?, EWS 2009, S. 297 ff.; Oppermann, Den Musterknaben ins Bremserhäuschen! – Bundesverfassungsgericht und Lissabon-Vertrag, EuZW 2009, S. 473; Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones at Sea, German Law Journal 2009, S. 1201 ff.; vgl. des Weiteren Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett? Zum Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, JZ 2009, S. 881 ff.; Fisahn, Bundesverfassungsgericht friert die europäische Demokratie national ein, KJ 2009, S. 220 ff.; Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, S. 2867 ff.; Pache, Das Ende der Europäischen Inte126

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le“.131 Das Bundesverfassungsgericht prüft danach, „ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist“. Die Identitätskontrolle gründet in der Erkenntnis, dass die grundgesetzliche Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ihre Grenze in dem von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten materiellen Identitätskern der Verfassung fi ndet – was für den verfassungsändernden Gesetzgeber unverfügbar ist, muss auch weiterhin integrationsfest sein. Sie ist zugleich europarechtlich untermauert, geht sie doch „Hand in Hand“132 mit dem Schutz der nationalen Verfassungsidentität durch Art. 4 Abs. 2 EUV-Lissabon sowie mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV-Lissabon.

V. Interaktion von Mitgliedern der Verfassungsgerichte Damit komme ich zum Schluss und einer ebenfalls wichtigen, wenn auch wenig reflektierten Voraussetzung eines funktionierenden Verfassungsgerichtsverbundes: Die persönliche Interaktion von Verfassungsrichtern.133 Das gedeihliche Zusammenwirken der verschiedenen Gerichte wird wesentlich erleichtert durch persönliche Gespräche und gegenseitige Information der dort jeweils arbeitenden Richterinnen und Richter.134 Nicht von ungefähr existiert eine lange Tradition von gemeinsamen Veranstaltungen, Konferenzen, Kolloquien und Tagungen von Verfassungsrichtern unterschiedlicher Gerichte.135 Hier schließt sich der Kreis: Auch die heutige Feiergration? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie, EuGRZ 2009, S. 285 ff.; Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl 2009, S. 1197 ff.; Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along? – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuZW 2009, S. 724 ff. 131 BVerfGE 113, 273 (296). Vgl. dazu Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – Ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht? ZRP 2009, 195 ff.; kritisch Skouris, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zu den nationalen Verfassungsgerichten, Festvortrag anlässlich des österreichischen Verfassungstags, Manuskript S. 13 ff. 132 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u. a. –, NJW 2009, 2267 (Leitsatz 4) und (2272) (Rn. 240). 133 Vgl. Limbach, Globalization of Constitutional Law through Interactions of Judges, VRÜ 2008, 51 (52 ff.): „Co-operation of judges“; „network of judges“. 134 Eher skeptisch Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, 473 (479): Auch der Gedankenaustausch bei wechselseitigen Besuchen der Richter trage nur wenig zur Kohärenzsicherung der Rechtsanwendung bei, sei er doch meist stärker auf persönliches Kennenlernen und Atmosphärisches sowie auf Strukturfragen der Gerichtsbarkeiten und Rechtsprechung ausgelegt als auf die Bearbeitung konkreter Einzelfragen oder besonders prekärer Inkohärenzen oder gar auf die Entwicklung neuer und abgestimmter methodischer oder rechtsdogmatischer Vorgehensweisen. 135 Schon 1972 fand auf Anregung der Verfassungsgerichtshöfe Jugoslawiens, Italiens und der Bundesrepublik eine Konferenz „der europäischen Verfassungsgerichte und ähnlicher mit der Wahrung der Verfassungsmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit betrauter Institutionen“ in Dubrovnik statt; mittlerweile nehmen daran 39 europäische Staaten teil; vgl. zu den ersten Jahren Faller, Zur Entwicklung der nationalen Verfassungsgerichte in Europa, EuGRZ 1986, 42; zur weiteren Entwicklung Limbach, Globalization of Constitutional Law through Interaction of Judges, VRÜ 2008, 51 (52 f.) („the impact of the Conference should not be underestimated“) und Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009,

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stunde ermöglicht den persönlichen Austausch und stellt sich damit als Ausdruck des gelebten Verfassungsgerichtsverbundes dar.

S. 460 f. („Die regelmäßigen Treffen der Verfassungsgerichte Europas [. . .] tun das Ihrige für Sache und Methoden des Rechtsvergleichs“).

Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung? * von

Prof. Dr. Christoph Enders, Universität Leipzig I. Das Bekenntnis zur Würde des Menschen – Verfassungsidentität im europäischen Kontext 1. Der Kunstgriff des Parlamentarischen Rats: Eine Präambel zum Grundrechtsabschnitt Die Überlegungen zur Grundgesetzgebung waren 1948/49 von einem klaren Bedürfnis beherrscht: Die Mitglieder des Parlamentarischen Rats, der über ein Grundgesetz für die Länder der drei westlichen Besatzungszonen Nachkriegsdeutschlands beraten sollte, standen unter dem Eindruck der Willkürherrschaft des Nationalsozialismus und der Schrecken des von Deutschland verschuldeten Zweiten Weltkriegs. Nach dieser Zeit galt es, die unter dem Nationalsozialismus missachtete Einsicht wieder zu bekräftigen, dass allein der Mensch den Mittelpunkt und das Ziel legitimer staatlicher Ordnung bildet. Schon der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee hatte darum in seinem Vorentwurf als Einleitungssentenz formuliert: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. Dieser Standpunkt sollte nach den Vorstellungen des Parlamentarischen Rats noch grundsätzlicher und präziser zum Ausdruck kommen. Man wollte als das vom Grundgesetz nachdrücklich geteilte Anliegen der modernen Menschenrechtstradition herausarbeiten, dass dem Menschen um seiner selbst willen (also ausschließlich kraft seines Mensch-seins) Rechte zustehen, die das Sinnzentrum aller Staatlichkeit bilden. Woher aber rührt dieser originäre Rechtsanspruch des Menschen? Das Grundgesetz konnte die Sonderstellung des Menschen nach der menschenverachtenden Barbarei des Nationalsozialismus nicht mehr ohne weiteres als selbstverständlich voraussetzen. Dass der Parlamentarische Rat angesichts dieses Dilemmas noch hinter die Rechte des Menschen zurückgeht, ist ein gesetzes* Der Text des Beitrags geht auf einen Vortrag zurück, der bei der Tagung „60 Jahre Grundgesetz – Zwischen Herkunft und Zukunft“ an der Università Luigi Bocconi (5.–7. 11. 2009) gehalten wurde.

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technischer Kunstgriff, der neu ist in der Geschichte des modernen Verfassungsstaates, weil sich damit das Staatswesen ausdrücklich Rechenschaft ablegt über den Grund seiner Verpfl ichtung auf das Recht des Menschen. Diese Selbstvergewisserung formuliert das Grundgesetz in einer Präambel, mit der es den Grundrechtsabschnitt programmatisch eröffnet1: Indem das Grundgesetz angesichts möglicher Zweifel die Würde des Menschen als unantastbar kennzeichnet, anerkennt es ausdrücklich die Befähigung und Berechtigung des Menschen, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, selbständige Ursache zu sein, nicht bloß Wirkung. Damit ist zugleich ein originärer, vorstaatlicher Rechtsanspruch des Menschen „auf Rechte“ anerkannt2. Diese allgemeine Rechtsfähigkeit des Menschen ist die denknotwendige, in der Verfassungstradition indessen bislang als solche nie ausdrücklich an- und ausgesprochene, nur konkludent zum Ausdruck gebrachte Voraussetzung aller Menschenrechtserklärungen, in deren Tradition sich das Grundgesetz stellt (Art. 1 Abs. 2 GG). Denn um sein Anrecht auf Selbstbestimmung wirksam verteidigen zu können, bedarf der Mensch der Rechte. Sie stehen dem Menschen der Idee nach schon vor aller verfassungsmäßigen Verbürgung – als „unverletzliche und unveräußerliche“ Rechte – gegen die staatliche Ordnung zu. Zu ihrer Realisierung sind sie indessen auf den Staat, das konkrete historisch-politische Gemeinwesen als Garanten angewiesen3. Darum positivieren die „nachfolgenden Grundrechte“ den vom Grundgesetz aufgenommenen Impetus der Menschenrechte und statuieren vollziehbare Rechtfertigungsansprüche im Interesse individueller Freiheit und Gleichheit. Der Leitidee des auf die Würde des Menschen verpfl ichteten Staatswesens folgt die positiv-rechtliche Realisierung durch die Grundrechtsgewährleistungen. Sie wahren die Menschenwürde, soweit das durch Rechtsmaßnahmen überhaupt möglich ist4, unmittelbar rechtlich im Verhältnis des Einzelnen zum Staat des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 3 GG) 5. 1 Zum Präambelcharakter der Bestimmung Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997, S. 404 ff., 416; Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26, Rn. 10, 71, 81; jetzt auch Tatjana Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, ZRph 2008, S. 41 (59). Menschenwürde und Menschenrechte fi nden sich also keineswegs „zufällig nicht hinter Art. 1 III GG“, so aber Friedhelm Hufen, Staatsrecht II, 2. Aufl. 2009, § 10, Rn. 9; vgl. denn auch dens., aaO, Rn. 45, Art. 1 II gehöre „eigentlich in die Präambel“. 2 Enders (Fn. 1), S. 392, 427–431, 502 f.; Isensee (Fn. 1), Rn. 50. Zu Bedeutung und historischen Entwicklung der allgemeinen Rechtsfähigkeit des Menschen, Rainer Wahl, Die Person im Ständestaat und im Rechtsstaat, in: in: R. Grawert u. a. (Hg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für E.-W. Böckenförde, Berlin 1995, S. 81 (84 f.). 3 So stellte Theodor Heuss in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rats am 23. 9. 1948 fest: „Die Würde des Menschen ruht in ihm selber; aber ihre Anerkennung innerhalb der sozialen Gemeinschaft setzt einen anderen voraus. Dieser Andere ist der organisierte andere, der Träger des Gemeinschaftslebens“, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, hrsg. v. Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. 5/I, 1993, S. 72. 4 Philippe Mastronardi, Verrechtlichung der Menschenwürde, in: K. Seelmann (Hg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, ARSP-Beiheft Nr. 101, 2004, S. 93, 105. 5 Gegenüber privaten Dritten entfaltet das Würdebekenntnis des Art. 1 GG dagegen keine unmittelbare Wirkung; hier ist der Staat aufgefordert schützend einzugreifen, Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, vgl. bereits Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 3. Aufl. 1986, S. 75 mit Fn. 60: Es wäre sinnlos dem Staat nicht nur Achtung, sondern auch Schutz der Menschenwürde aufzugeben, wenn jedermann

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Der Grundrechtsteil des Grundgesetzes hebt dergestalt mit einer voraussetzungslosen Erklärung an, die ihre normative Bedeutung vor allem im Verweis auf die „nachfolgenden“ Grundrechte hat. Erst diese nachfolgenden Grundrechte geben die rechtsverbindliche Interpretation des uninterpretiert und thesenhaft vorangestellten Bekenntnisses zur Würde des Menschen. In einem zentralen Punkt entfaltet allerdings die zunächst „nicht interpretierte These“ von der Würde des Menschen (Theodor Heuss6) doch eine ganz eigenständige normative Wirkung: Sie schneidet von Verfassungs wegen jegliche Debatten über das Anrecht des Menschen auf Selbstbestimmung, über seinen originären Rechtsanspruch ab. Deswegen ist nicht etwa z. B. die Hirnforschung verboten. Aber der Staat des Grundgesetzes baut davon unbeirrt rechtlich auf Freiheit und Verantwortung des Menschen7.

2. Deutschland und Europa – Divergierende Würdekonzepte Die Wirkungsgeschichte des Bekenntnisses zur Würde des Menschen, mit dem das Grundgesetz die Frage nach dem Daseinszweck des Gemeinwesens aufwirft und zugleich in spezifischer Weise beantwortet, erscheint zwiespältig. Einerseits entfaltet dieser gesetzestechnische „Kunstgriff “ offenbar große Überzeugungskraft. Der Satz von der Menschenwürde, der ursprünglich als Element einer Präambel des Grundrechtsabschnitts und „sozusagen philosophische Begründung des ganzen Grundrechtsabschnitts“ gedacht war8 und der offenkundig nicht auf unmittelbaren Vollzug angelegt ist (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) 9, avanciert in Literatur und Rechtsprechung zum Rechtssatz, der das tragende Konstitutionsprinzip der Gesamtrechtsordnung vorgibt10 und aus dem sogar ein oberstes Grundrecht abgeleitet wird11. Die Folgewirkungen reichen über den Rechtsbereich hinaus und prägen die politische Kultur der Bundesrerechtlich verpfl ichtet wäre, die Menschenwürde zu achten. Dagegen etwa Christian Hillgruber in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz, München 2009, Art. 1 Rn. 8, 71.2. 6 So die bekannte und häufig zitierte, im Hinblick auf die abschließende und verbindliche Konkretisierung durch die nachfolgenden Grundrechte aber meist unvollständig rezipierte Formulierung von Heuss in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rats, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 3), S. 72. 7 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); BVerfGE 30, 173 (193); BVerfGE 45, 187 (227); BVerfGE 115, 118 (153); BVerfGE 123, 267 (341, 413 – zum Schuldgrundsatz). 8 Mit kritischem Ton Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes, Stuttgart/Köln 1950, S. 20 ff. bekräftigend dagegen Isensee (Fn. 1), Rn. 10: „kein rechtspraktisches Gebot, sondern staatsphilosophische Sinndeutung“. Vgl. bereits Willibalt Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, NJW 1949, S. 481 (482). 9 Isensee (Fn. 1), Rn. 71; vgl. auch Mastronardi (Fn. 4), S. 112. 10 Vgl. Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), S. 117 (119, 122); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. Heidelberg 1999 (unveränd. Nachdruck der 19. Aufl. 1995), Rn. 116. Aus der Rspr. BVerfGE 6, 32 (36, 41); 115, 118 (152). 11 Prägend: Hans Carl Nipperdey, in: Nipperdey u. a. (Hg.), Die Grundrechte, Bd. 2, Berlin 1954, S. 1 (11). Ferner etwa Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts II, 3. Aufl. 2004, § 22, Rn. 74; Wolfram Höfling, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 1, Rn. 5 f.; Hufen (Fn. 1), § 10, Rn. 12. Aus der Rspr. BVerfGE 109, 133 (152 ff.).

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publik: Das Verfassungsbekenntnis zur Menschenwürde verkörpert heute den rechtsverbindlichen Inbegriff unverzichtbarer Mindeststandards gerechter Ordnung (Art. 1 mit Art. 79 Abs. 3 GG). In Grundsatzfragen wird darum das Politische immer wieder zum Rechtsproblem, wird es nach der letzten Instanz der Menschenwürde beurteilt, an der sich Gut und Böse, Freundschaft und Feindschaft auch rechtlich scheiden12. Der politische Prozess wird dadurch nicht nur im Sinne einer verfassungsrechtlichen Rahmenordnung umgrenzt. Gerade in zentralen Streitpunkten erscheint er weitgehend verfassungsrechtlich vordeterminiert (so, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Auseinandersetzung über den Embryonenschutz13 ). Auf europäischer Ebene aber, mit der sich die Ordnung des deutschen Staatslebens – programmgemäß (Präambel des Grundgesetzes: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“) – zunehmend verzahnt, bietet sich ein anderes Bild. Allerdings ist die Menschenwürde heute als Rechtsbegriff in Europa etabliert. Vor allem hat sich die Europäische Grundrechte-Charta – das ist Teil der Erfolgsgeschichte der Bonner Grundgesetzgebung – am Grundgesetz orientiert und in ihrem Art. 1 ein Würdebekenntnis verankert (Art. 1 GRCh)14. Wenn wir aber genauer hinsehen und dabei die Rechtspraxis einbeziehen, kommt der Menschenwürde – anders als nach deutschem Verfassungsrecht – in Europa keineswegs die Stellung eines axiomatischen Zentrums des gesamten positiven Rechts zu, eines allumfassenden Rechtssatzes also, mit dem ein Modell gerechter Ordnung in seinen Grundzügen verbindlich festgeschrieben wird15. Der Europäische Gerichtshof zählt sie zwar – wie die Grundrechte (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV a. F.) – zu den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“, aktiviert sie aber bislang vor allem als Verweisungsbegriff, der die Berechtigung sozial-ethisch begründeter, unverzichtbarer Freiheitsschranken (der öffentlichen Ordnung und guten Sitten [„ordre public and morality“]) markiert. Dagegen wird der „allgemeine Grundsatz“ der Menschenwürde nirgends im Sinne einer vollzugsfähigen Rechtsnorm angewendet16. Das gilt ähnlich für den Menschenrechtsschutz auf Ebene des Europarats. Hier liegt es in der Konsequenz eines insgesamt restriktiven Würdeverständnisses, wenn menschliche Embryonen im Ergebnis nicht als Personen und damit als Träger eige-

12 Vgl. – mit allerdings positiver Konnotation – Dieter Grimm, Der Weg zur Musterverfassung, FAZ Nr. 117 v. 22. 5. 2009, S. B 8: Der politische Diskurs sei „in Deutschland verfassungszentriert“. 13 Anschaulich Klaus Tanner, Bekenntnis zum Grundgesetz?, in: S. Bräcklein u. a. (Hg.), Politisches Denken ist, Festschrift für M.v. Renesse, Frankfurt/M. u. a. 2005, S. 97. 14 Dazu Christian Calliess, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, in: Gröschner/ Lembcke (Hg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 133 (153). 15 Vgl. auch Helmuth Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße?, in: Blankenagel u. a. (Hg.), Verfassung im Diskurs der Welt: Liber Amicorum f. Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 355 (364). 16 EuGH Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Abs.Nr. 70 – NL./. Europ. Parl u. Rat – zur BioPatentRL 98/44/EG und EuGH Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, I-9609, Abs.Nr. 31 – „Laserdrome“ (ergangen auf Vorlagebeschluss des BVerwG, BVerwGE 115, 189), wo das Gericht die subjektiv-rechtliche Bedeutung der Menschenwürde ganz bewusst dahinstehen lässt. Die vom Präsidium des Europäischen Konvents aktualisierten Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, 2007/C 303/02, ABl. C 303/17, berücksichtigen diese Einschränkung zu wenig. Vgl. auch Calliess (Fn. 14), S. 149 ff.

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nen Rechts anerkannt sind17. Dass der Embryo – so das Diktum des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – zwar „im Namen“ der Menschenwürde Respekt und Schutz verdient, aber doch ohne eigenen Rechtsanspruch ist18, zeigt erneut, dass im europäischen Kontext – jedenfalls im Lichte der Rechtspraxis – der Grundsatz der Menschenwürde weniger eine iustitiable Rechtsregel aufstellt, als eine zusammenfassende (der normativen Präzisierung bedürftige und zugängliche) Verweisungsnorm formuliert.

3. Die Menschenwürde als Hemmnis im Europäisierungsprozess? Es liegt nach allem auf der Hand, dass das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde, wenn mit ihm wirklich Mindeststandards gerechter Ordnung festgeschrieben und – über die „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) – sogar gegen Verfassungsänderungen immunisiert sind, einer europaweiten Vereinheitlichung rechtlich-politischer Organisation an vielen Stellen dauerhaft entgegenstehen könnte. Denn diese Mindeststandards binden auch den Integrationsgesetzgeber (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3 GG) und den Transformationsgesetzgeber (Art. 59 Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG)19. In seiner Lissabon-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht denn auch die Menschenwürde „stark gemacht“ und sehr deutlich Stellen markiert, an denen sich das Bekenntnis zur Menschenwürde als Element unveränderlicher deutscher Verfassungsidentität hemmend im Prozess der Europäisierung auswirkt oder auswirken könnte: Neben ihrer allgemeinen Bedeutung für abwehrrechtliche Mindeststandards 17 Die sachliche Differenzierung, wie sie im Biomedizin-Übereinkommen des Europarates vom 4. 4. 1997 mit Art. 1 Abs 1 des Zusatzprotokolls über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen (vom 12. 1. 1998) zum Ausdruck kommt, das ein Verbot des reproduktiven, nicht aber des „therapeutischen“ Klonens normiert, hat die Aufnahme von Textänderungen in die Grundrechte-Charta 2007 nicht beseitigt. Zwar wird nun allgemein der Begriff „Mensch“ verwendet, um eine schutzmindernde Differenzierung zwischen Mensch und Person zu vermeiden, vgl. hierzu Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl., München 2010, S. 119 f. Gleichwohl wird in inhaltlicher Orientierung am Biomedizin-Übereinkommen durch Art. 3 Abs. 2 lit .d) GRCh (2007) nach wie vor nur das reproduktive Klonen verboten, das Folgen für den geborenen Menschen zeitigt, vgl. die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, 2007/C 303/02, ABl. C 303/18. Demgegenüber bekundet etwa der Beschluss des Deutschen Bundestags vom 20.2. 2003 über eine „Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen“, BT-Drs. Nr. 15/463, (unter I.): „Der Deutsche Bundestag stellt fest: Jede künstliche Erzeugung menschlicher Embryonen durch Klonen ist unabhängig von der dazu genutzten Technik und dem damit verfolgten Zweck unvereinbar mit der nach unserer Rechtsauffassung universell gültigen Menschenwürde . . .“. Zu diesem unauflösbaren Konfl ikt der Rechtsauffassungen wie hier auch Calliess (Fn. 14), S. 159 ff. 18 EGMR-GK Urt. v. 8. 7. 2004, NJW 2005, 727 (731, Abs.Nr. 84) – Vo ./. France; ferner EGMR Urt. v. 7. 3. 2006, EuGRZ 2006, S. 389 (393, Abs. Nr. 46) und EGMR-GK Urt. v. 10. 4. 2007, NJW 2008, S. 2013 (2014, Abs. Nr. 56) – Evans ./. United Kingdom. 19 Vgl. BVerfGE 123, 267 (343 f., 353 f.) – Vertrag von Lissabon. Zu dieser Entscheidung aus der bereits umfänglichen Literatur Klaus Ferdinand Gärditz und Christian Hillgruber, Volkssouveränität ernstgenommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff. sowie Claus Dieter Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett?, JZ 2009, S. 881 ff. und die Beiträge von Dieter Grimm, Matthias Jestaedt, Jo Eric Khushal Murkens, Christoph Schönberger, Daniel Thym, Rainer Wahl, in: Der Staat 48 (2009), Heft 4.

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der individuellen Freiheit und Integrität20 kommt diese Wirkung etwa im Bereich der Strafrechtspflege (Unschuldsvermutung) 21, der sozialen Sicherheit22, ganz besonders aber der demokratischen Organisation des Gemeinwesens und der Legitimation politischer Entscheidungen 23 zum Tragen. Dieser Befund, nach dem die Menschenwürde als Hemmnis auf dem Weg zur Europäisierung wirkt oder wirken könnte, gibt Anlass, von den vielfachen Weiterungen der Interpretation des Würdesatzes in Art. 1 GG zu den Ursprüngen seiner Positivierung im Grundgesetz zurückzukehren. Was diese Positivierung rechtlich bedeuten kann, ist, auf dem entstehungsgeschichtlich verbürgten Hintergrund des Menschenrechtskontextes, nochmals zu fragen. Dieser ideengeschichtliche Kontext ist wichtig, weil in ihm eine allgemeine Funktionsbedingung von Menschenrechten aufscheint, die Hannah Arendt herausgearbeitet hat: Es kann nach aller Erfahrung keine (Menschen-) Rechte ohne eine rechtlich-organisatorische, gebietsmäßige Zusammenfassung der Menschen unter einer obersten Hoheitsgewalt geben. Diese Notwendigkeit bezeichnet eine zentrale Bedingung der Möglichkeit wirksamer Rechtsgewährleistung überhaupt24. Hier fi ndet zwangsläufig auch das im übrigen absolute Gebot, der Würde des Menschen durch Rechtsansprüche Anerkennung zu verschaffen, seine Grenzen. Insofern reduziert sich dann – wie zu zeigen ist – seine im Prozess der Europäisierung retardierende Wirkung.

II. Bedeutungsgehalt und rechtliche Implikationen des Bekenntnisses zur Menschenwürde 1. Der Mensch als rechtsfähiges Subjekt – Subjekt- und Objektformel Der Bedeutungsgehalt des Satzes von der Menschenwürde hat in den mittlerweile 60 Jahren der Geltung des Grundgesetzes klare Konturen erlangt, über die im Grundsatz Einigkeit besteht: Würde hat der Mensch – positiv gewendet – als Subjekt25. Rechtlich kann dies nur bedeuten – das zeigt in systematischer Perspektive der Blick auf Art. 1 Abs. 2 und 3 GG – dass der Mensch als Mensch Rechtssubjekt ist und deshalb um seiner selbst willen als Träger von Rechten, auch von Pfl ichten anzuerkennen ist.

20 Vgl. BVerfGE 123, 267 (353 f.). Für das Telekommunikationsgeheimnis nach Art. 10 GG und mit Blick auf veränderungsfeste Eingriffsgrenzen nimmt nun die Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung diesen Argumentationsduktus auf, BVerfG Urt. v. 2. 3. 2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08, Abs. Nr. 191, 218. 21 BVerfGE 123, 267 (359 f., 408 ff.). 22 BVerfGE 123, 267 (362 f.) und jetzt BVerfG, Urt. v. 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, LS 1 und 2, Abs. Nr. 133 – Existenzminimum. 23 BVerfGE 123, 267 (341 ff.). 24 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 1986, S. 601 ff., insbes. S. 606, 612, 613, 616. 25 Dürig (Fn. 10), S. 125. Zum Subjektbezug auch Jens Kersten, Das Klonen von Menschen, Tübingen 2004, S. 429 ff.; Hanno Kube, Persönlichkeitsrecht, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts VII, 3. Aufl., Heidelberg 2009, § 148, Rn. 118, 130.

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Was daraus für die Stellung des Menschen im Gemeinwesen folgt, macht richtig klar erst die so genannte Objektformel, die aus der Rechtssubjektivität einen Verbotssatz ableitet. Günter Dürig hat sie populär gemacht, die Gerichte, allen voran das Bundesverfassungsgericht, greifen trotz mancher Kritik immer wieder auf sie zurück: Nach dieser Formel ist die Würde des Menschen verletzt, wenn der Einzelne vom Staat als „bloßes Objekt“ behandelt wird 26.

2. Die rechtliche Bedeutung der Objektformel Wann aber ist eine Instrumentalisierung anzunehmen, die den Rahmen legitimer Rechtspfl ichten überschreitet, die also über die Objektstellung hinausgeht, die auch im demokratischen Rechtsstaat jedem Einzelnen kraft seiner Pfl icht zum Gesetzesgehorsam 27 auferlegt ist? Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat hier mit der Entscheidung zum Luftsicherheits-Gesetz größere Klarheit gebracht. Nach ihr wird der Mensch dann als bloßes Objekt fremder Interessen behandelt, wenn diese Behandlung seinen „Status als Rechtssubjekt grundsätzlich in Frage stellt“28, zusammenfassend also: wenn er entgegen seiner Stellung als Rechtssubjekt für fremde Zwecke instrumentalisiert wird. Anhand dieser Überlegung lässt sich die rechtliche Bedeutung der Objektformel präzisieren: Der Status des Menschen als Rechtssubjekt (als Person) findet seinen Ausdruck in der Entsprechung von äußeren Rechten und Pflichten, wie sie nach modernem Verständnis jedes Rechtsverhältnis kennzeichnen. Eine Pfl ichtenstellung ist daher immer nur solange legitim, wie ihr begrenzende Gegenrechte des Subjekts korrespondieren. Entfällt diese Begrenzung durch Gegenrechte vollständig und bleibt allein noch die Pfl ichtenstellung übrig, wird der Mensch zum „bloßen Objekt“ einer insofern „verächtlichen Behandlung“ gemacht. Von daher erklären sich die Einwände des Bundesverfassungsgerichts gegen eine Freigabe der Abtreibung ebenso wie sein Votum gegen den Abschuss terroristisch missbrauchter Passagierflugzeuge: Das Gericht präzisiert hier gewissermaßen sein „Prüfprogramm“ und moniert in beiden Fällen, dass eine Seite die Befugnis unbegrenzt freier Verfügung über den jeweils Anderen für sich beansprucht29. Für den Adressaten dieses Verfügungsanspruchs bliebe dann – soweit dieser Befund wirklich zutrifft 30 – vom Verhältnis wechselseitig sich entsprechender Rechte und Pfl ichten ausschließlich das Pfl ichtmoment übrig – wie dies auch typisch ist für die Sklaverei (vgl. bereits § 16 Satz 2 Österreich. ABGB von 1811; Art. 4 AEMR; Art. 4 Abs. 1 EMRK; Art. 5 Abs. 1 GRCh). Es ist diese rechts- und damit menschenverachtende 26 Dürig (Fn. 10), S. 119, 122 ; ders., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz , München 1958 ff., Art. 1 Abs. I, Rn. 28 (1958). Zustimmend etwa Häberle (Fn. 11), Rn. 43. Aus der Rspr. BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 87, 209 (228); 109, 133 (151 f.); 115, 118 (153, 154). 27 Vgl. BVerfGE 30, 1 (26). 28 BVerfGE 115, 118 (153) – LuftSiG. Dazu die Rekonstruktion von Jochen von Bernstorff, Pfl ichtenkollision und Menschenwürdegarantie, Der Staat 47 (2008), S. 21 ff.; ferner m. Nw. Dieter Hömig, Menschenwürdeschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Gröschner/Lembcke (Fn. 14), S. 25 (42 ff.). 29 BVerfGE 88, 203 (255); BVerfGE 115, 118 (154). 30 Näher unten im Text unter III. und IV.

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Totalisierung der Pfl ichtseite in den äußeren Beziehungen, vor allem auch im Subjektionsverhältnis zum Staat, gegen die sich die Objektformel wendet. Denn eine solche Totalisierung negiert den konstruktiven Mittelpunkt der Rechtsverfassung eines modernen Gemeinwesens, die Rechtssubjektstellung des Menschen.

3. Konsequenzen: Mindeststandards würdegebotener Rechtlichkeit Unter den so verstandenen Obersatz der Objektformel lässt sich, wie hier nur angedeutet werden kann, entgegen aller Kritik 31 durchaus subsumieren: Immer dann, wenn das Entsprechungsverhältnis von äußeren Rechten und Pflichten, das den Rechtsstatus des Menschen als Person konstituiert, stillschweigend negiert oder ausdrücklich missachtet wird, wird er „verächtlich“ behandelt und zum bloßen Objekt 32. Ein solcher Fall verächtlicher Behandlung ist die Folter. Der Endzweck dieses Eingriffs mag dabei durchaus legitim sein – so, wenn die Polizei den Entführer foltert, um zum Entführungsopfer zu finden oder wenn sie vom Bombenleger durch Folter Aussagen über das Versteck der Zeitbombe erpresst. Die Folter dient hier dem Schutz von Menschenleben vor einem rechtswidrigen Angriff („Rettungsfolter“33 ). Das Mittel der Folter ist aber unzulässig, weil sich mit ihm zwangsläufig ein absolut verbotener (Durchgangs-) Zweck verbindet: Der (körperliche oder psychische) Zwang richtet sich hier nicht auf die Durchsetzung einer Pfl icht zu äußerem Verhalten (Tun oder Unterlassen) 34. Er zielt direkt auf den Kern der persönlichen Freiheit und versucht, das forum internum der inneren Zwecksetzung für einen fremden Zweck zu vereinnahmen. Durch die Foltermaßnahme soll nämlich der Einzelne zu einer „Selbst-Darstellung“ veranlasst werden, die er im selben Moment zutiefst innerlich ablehnt 35. Dass das Folteropfer die Zwangsmaßnahme erduldet, seine innere Reserve 31 Selbstkritik des Gerichts in BVerfGE 30, 1 (25 f.), vgl. auch BVerfGE 109, 279 (312 f.). Matthias Herdegen spricht in diesem Zusammenhang von der „beschränkte(n) Leistungsfähigkeit aller Instrumentalisierungsrethorik“, in: Maunz/Dürig (Fn. 26), Bd. I, Art. 1 Abs. 1, Rn. 45 (2005); in diese Richtung bereits Luhmann (Fn. 5), S. 59 in. Fn. 18. Kritisch auch Hans-Georg Dederer, Die Garantie der Menschenwürde, JöR N. F. Bd. 57 (2009), S. 89, 118 f. 32 Näher Christoph Enders, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, VVDStRL 64 (2005), S. 7 (46 f.) sowie ders., in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 1, Rn. 14–16, 61 ff. Überlegungen in diese Richtung bei v. Bernstorff (Fn. 28), insbes. S. 29, 33; vgl. ferner Kube (Fn. 25), Rn. 152; Ralf Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, S. 269 (276 f.) 33 Zur Diskussion um die Zulässigkeit der „Rettungsfolter“ im Rechtsstaat des Grundgesetzes exemplarisch die Sammelbände von Helmut Goerlich (Hg.), Staatliche Folter, Paderborn 2007 und Peter Nitschke (Hg.) Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat?, Bochum 2005. 34 Darauf weist zutreffend hin Dieter Anders, Aktuelles Forum – Zur Zulässigkeit staatlicher Folter, in: Goerlich (Fn. 33), S. 13, 31. 35 Dieser Eingriff ist – vorbehaltlich der speziellen Garantie des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG – an Art. 2 Abs. 1 (i. V. m. Art. 1 Abs. 1) GG zu messen, Enders (Fn. 1), S. 450 f., 458 f., 468 im Anschluss an Luhmann (Fn. 5), S. 73, 75. Die absoluten Grenzen des Eingriffs ergeben sich als „Mindeststandards“ rechtlicher Freiheit (o. Fn. 32) aus Art. 1 Abs. 1 und 3, Art. 19 Abs. 2 GG. Vgl. bereits BVerfGE 6, 32 (41). Zur Gegenposition einer durch die Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsanwendung gebotenen Abwägungs- und Wertungsoffenheit Herdegen (Fn. 31), Rn. 43 ff.; Dederer (Fn. 31), S. 112 ff.; Karl E. Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Menschenwürde, Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 87 (98 ff.). Eine gründliche Analyse mit einem Votum zugunsten einer prinzipiellen Ab-

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aber bewahrt (und nicht oder bewusst falsch aussagt), mag vorkommen. Entscheidend ist: Die Folter baut gerade darauf, dass diese Möglichkeit in der Regel nicht eintreten wird. Sie ist angelegt auf eine vorbehaltlose innere, insoweit totale und rechtlich unbegrenzte Unterwerfung unter fremde Zwecksetzung, auf die „Entäußerung der Gesamtpersönlichkeit“. Eine solche Unterwerfung kann nicht Gegenstand eines Rechtsverhältnisses (einander korrespondierender äußerer Rechte und Pfl ichten) sein36, totalisiert vielmehr die Pfl ichtseite. Mit dem Instrument der Folter wird daher der Status des Menschen als Rechtssubjekt schlechthin in Frage gestellt. Die Folter disqualifiziert sich als „verächtliche Behandlung“ im Rechtssinne, die den unverzichtbaren Mindeststandard würdegebotener Rechtlichkeit unterschreitet.

III. Grenzen grundrechtlicher Würdegarantie Solche Mindeststandards sind durch die „Ewigkeitsklausel“ der Verfassung (Art. 79 Abs. GG, Art. 1 GG) vor jeder Relativierung geschützt – auch wenn sie europarechtlich legitimiert wäre37. Aus dem Menschenrechtskontext, in den das Grundgesetz ausdrücklich den grundrechtlichen Schutz der Menschenwürde stellt, folgen aber auch Grenzen dieses Schutzes: Vor allem beschränkt sich das Bekenntnis zur Menschenwürde, indem es auf die Notwendigkeit von Grundrechtsgarantien verweist ganz auf seine Begründungsfunktion. Es formuliert eine Aussage über Rechte und fügt den klassischen Rechtsgarantien nicht etwa selbst ein neuartiges „Supergrundrecht“ auf Menschenwürde hinzu38, das die Grenzen möglicher Rechtsgarantie sprengen würde. Die Einsicht, dass die mit dem Würdebekenntnis anhebende Präambel des Grundrechtsteils den tradierten Kontext der Menschenrechtsdeklarationen gar nicht überschreiten, dass sie ihn vielmehr erneuern und zur Legitimation der positiven Grundrechtsgewährleistungen bekräftigen wollte, indiziert aber auch einen Perspektivenwechsel in der viel und fruchtlos diskutierten Frage nach dem Beginn der Rechtssubjektstellung des Menschen und damit insbes. des Rechts auf Leben: Nach natürlichbiologischen Maßstäben mag die Entwicklung des Menschen ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle kontinuierlich und ohne Zäsuren ablaufen39. Für Stellung und Schutz des Menschen als Rechtssubjekt ist dieser tatsächliche Zuwägungsfähigkeit des Menschenwürdeschutzes gibt jetzt nochmals Oliver W. Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, in: Gröschner/Lembcke (Fn. 14), S. 235 (267 f.). 36 Vgl. BGHZ 143, 214 (220). 37 Auf die „Identitätskontrolle“, die dem Bundesverfassungsgericht nach der Lissabon-Entscheidung mit Rücksicht auf die durch Art. 79 Abs. 3 GG bestimmte, integrationsfeste Verfassungsidentität und die mit ihr festgeschriebenen „Mindeststandards“ obliegt, BVerfGE 123, 267 (343, 344, 348, 353 f.), verweist nun die Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung, BVerfG Urt. v. 2. 3. 2010 -1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08, Abs.Nr. 218. 38 Anders die h.A. in der Literatur, s. o. Fn. 11. In diese Richtung auch BVerfGE 109, 133 (152 ff.) und insbes. nun BVerfG Urt. v. 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Abs. Nr. 133 ff. – mit der Formel vom „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“. 39 Auf dieser Beobachtung fußt die „Kontinuitätsthese“ des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 39, 1 (37), BVerfGE 88, 203 (251 f.), nach der sich der nasciturus nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.

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sammenhang indessen nicht allein entscheidend. Orientiert man sich mit Art. 1 GG an der Menschenrechtstradition, so setzt nach dieser Tradition, in der stets von den „mit uns geborenen Rechten“, von den „angeborenen Rechten“ die Rede ist40, offenbar die Geburt des Menschen die rechtlich maßgebliche Zäsur41. Von diesem Zeitpunkt an und erst mit diesem Zeitpunkt schreibt das ganze moderne Recht – wie auch der EGMR richtig gesehen hat – dem Menschen eine moralische, der Zurechnung nach Rechten und Pflichten zugängliche Persönlichkeit zu42, die als Voraussetzung der Rechtssubjektstellung und damit aller Rechte überhaupt erachtet wird. Im Bekenntnis zur Menschenwürde, mit dem es ja nur das Bekenntnis zu den Menschenrechten erklären und begründen will, lässt das Grundgesetz keinen abweichenden Gestaltungswillen erkennen43. Embryonenschutz ist darum sicher ein Belang von besonderer Wichtigkeit, aber – entgegen vielfach vertretener Auffassung – keine Frage, die rechtlich anhand des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu entscheiden wäre oder sogar schon entschieden ist.

IV. Rechtsgewährleistung unter der Bedingung politisch-hoheitlicher Organisation Weitere Grenzen des Würdeschutzes folgen aus dem bereits beschriebenen Umstand, dass die Rechte, die den Schutz der Menschenwürde bewirken sollen, sämtlich, wie ja nicht zuletzt Art 1 GG selbst illustriert, auf die Anerkennung durch ein historisch-konkretes politisches Gemeinwesen angewiesen sind. Die Absolutheit der Rechtssubjektstellung des Menschen (seines „Rechts auf Rechte“) erfährt dadurch Einschränkungen, die sich aus den realen Wirksamkeitsbedingungen menschenrechtlicher Garantien erklären. Die Menschenrechte propagieren (universalistisch) abstrakte Freiheit und Gleichheit, ihre tatsächliche Wirksamkeit ist aber eine Frage der solidarischen Teilhabe an der Organisationsleistung eines bestimmten Gemeinwesens. Aus dieser allgemeinen Wirksamkeitsbedingung folgt nicht nur, dass der Einzelne im Falle existenzieller (militärischer, terroristischer) Bedrohung des Gemeinwesens gehalten sein kann, sogar mit seinem Leben für den Fortbestand des Gemeinwesens solidarisch einzustehen44. Dass der Menschenrechtsstatus der Freiheit und Gleichheit 40

Etwa in Art. 1 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 („Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren . . .“) oder im Österreichischen Allgemeinen Gesetzbuch von 1811 (§ 16 ABGB: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als Person zu betrachten . . .“) oder in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948 („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren . . .“). 41 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes (1971), München/Zürich 1998, S. 342 f., 438, 442 f.: „die ganze Fähigkeit zum Anfangen wurzelt im Geborensein“. 42 Vgl. Elisabeth. Gräb-Schmidt, Würde als Bestimmung der Natur des Menschen?, in: Härle/Vogel (Hg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, Freiburg u. a. 2008, S. 134 (152, 156 f.). 43 In der Grundtendenz ebenso Horst Dreier, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 2004, Art 1 I, Rn. 82. 44 Für den Kriegsdienst mit der Waffe, wie ihn männliche Bürger zu leisten haben (Art. 12 a GG),

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auf politische Organisation und solidarische Teilhabe verwiesen ist, bedeutet auch, dass es keine absoluten Individualansprüche auf soziale Sicherung geben kann. Solche Teilhabeansprüche sind bedingt durch die tatsächlichen Möglichkeiten45. Der Parlamentarische Rat hat daraus die Konsequenz gezogen, Sicherheit nur als persönliche Sicherheit vor Übergriffen Dritter zu interpretieren und auf grundrechtliche Leistungsansprüche sozialer Art gänzlich zu verzichten46. Stattdessen formuliert das Grundgesetz das Ideal sozialer Gerechtigkeit in Gestalt einer Staatszielbestimmung. Mit dem Prinzip der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) werden moderne Traditionsbestände staatsbürgerlicher Solidarität aufgegriffen und, im Interesse tatsächlich gleicher Entfaltungschancen, (nicht in, sondern) neben den Grundrechtsgarantien (die die Eigensphäre vor Übergriffen schützen) in der Verfassung verankert47. Das spricht aber dagegen, unmittelbar in der Menschenwürde, die ja Basis und Ziel des Grundrechtsschutzes verkörpert, zugleich die Staatsaufgabe der Existenzsicherung (des Einzelnen), womöglich gar einen Individualanspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums normiert zu sehen48. Schließlich steht zwar die Rechtssubjektivität des Menschen, die mit dem Bekenntnis zu Menschenwürde und Menschenrechten anerkannt ist, in Abhängigkeit wird diese Konsequenz traditionsgemäß ohne weiteres gezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch darüber hinaus die Aufopferung Einzelner für zulässig gehalten, wenn sie wirklich zur Aufrechterhaltung der freiheitlichen Ordnung unabweisbar ist, etwa wenn sich der Staat terroristischer Erpressung verweigert oder im Interesse der Landesverteidigung sehenden Auges Kollateralschäden bei der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt; BVerfGE 46, 160 (165) – Schleyer; BVerfGE 77, 170 (221) – ChemieWaffen. Den Abschuss von terroristisch missbrauchten Verkehrsflugzeugen hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber für menschenwürdewidrig erklärt, weil hier Mannschaft und Passagiere als bloßes Mittel zu einem „äußerlichen“, rein fremden Zweck benutzt (und dadurch „entrechtlicht“) werden, BVerfGE 115, 118 (154). Auch hier geht es aber dem Grunde nach darum, dass der allgemeine Vorbehalt jeglicher Rechtsgarantie eingelöst wird, indem die Bedingung der Möglichkeit von Recht gegen existenzbedrohende Angriffe in Schutz genommen und behauptet werden soll; vgl. dazu Enders, Der Staat in Not, DÖV 2007, S. 1039 (1043). 45 Das erkennt auch das BVerfG in seiner Entscheidung zum Existenzminimum an, BVerfG Urt. v. 9. 2. 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Abs. Nr. 133, 138. 46 Aufschlussreich insbesondere die Diskussion in der 42. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats v. 18. 1. 1949, die sich wie eine Zusammenfassung der Argumente gegen eine leistungsstaatliche Interpretation von Menschenwürdebekenntnis und Grundrechten liest, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, hrsg.v. Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. 14/II, München 2009, S. 1297 ff. Zusammenfassend zur Entstehungsgeschichte und zum wohlbegründeten Fehlen sozialer Grundrechte Enders, Sozialstaatlichkeit (Fn. 32), S. 11 ff., 39 f.; vgl. auch Hörnle (Fn. 1), S. 57. 47 Zutreffend insoweit BVerfGE 1, 97 (104, 105). 48 In der Literatur wurde ein solcher Anspruch schon länger bejaht, vgl. z. B. Häberle (Fn. 11), Rn. 77; Höfling (Fn. 11), Rn. 48. Hierzu mit Zustimmung im Grundsätzlichen und Kritik im Einzelnen die Berichte über Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung, von Ulrike Davy, VVDStRL 68 (2009), S. 122 (140 ff.) und Peter Axer, VVDStRL 68 (2009), S. 177 (196 ff.). Nachdem das Bundesverfassungsgericht ursprünglich (BVerfGE 82, 60 (85) und noch in seiner Lissabon-Entscheidung eine objektiv-rechtliche Perspektive eingenommen hatte BVerfGE 123, 267 (362 f.: „Existenzsicherung des Einzelnen eine . . . auch in Art. 1 Abs. 1 GG gegründete Staatsaufgabe“), bekennt es sich nun in seiner Entscheidung zum Existenzminimum zur Subjektivierung der staatlichen Gewährleistungspfl icht, BVerfG Urt. v. 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Abs. Nr. 133–135. („Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers“ auf die „zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Dasein notwendigen materiellen Mittel“). Vgl. auch Eberhard Eichinger, Sozialrechtlicher Gehalt der Menschenwürde, in: Gröschner/Lembcke (Fn. 14), S. 215 ff. (insbes. S. 232 f.).

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von der Organisationsleistung des Gemeinwesens. Die Menschenwürde vermittelt aber dennoch selbst keinen allgemeinen, absoluten Rechtsanspruch auf demokratische Teilhabe und damit auf „gerechte“, demokratische Organisation des Gemeinwesens49. Dem Menschenwürdebekenntnis geht es um den Eigenstand des Menschen. Durch die Abgrenzung von Innen und Außen, von Mein und Dein, die mit dem Status als Rechtssubjekt verbunden ist, soll ihm eine selbstbestimmte Entfaltung ermöglicht werden – auch im Verhältnis zum demokratisch legitimierten Gesetzgeber (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Die gegenläufige Frage nach der adäquaten Organisation des Gemeinwesens und der (integrativen) Partizipation des Einzelnen am politischen Prozess, beantwortet das Grundgesetz mit der gesonderten Festschreibung des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG). Selbst- und Mitbestimmung sind wohl zwei Seiten einer Medaille – aber eben doch zwei Seiten, die als solche vom Grundgesetz nachdrücklich (auch in Art. 79 Abs. 3 GG: „in den Artikeln 1 und 20 niedergelegte(n) Grundsätze“) unterschieden werden. Nur wenn man diesen Unterschied festhält, ist auch Sorge getragen, dass nicht umgekehrt eine „demokratisierte“ Menschenwürde die Mindeststandards an Rechtlichkeit unterläuft, die der Status des Menschen als Rechtssubjekt unhintergehbar gebietet50.

V. Schluss: Menschenwürde und Souveränitätsvorbehalt Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt: Wird das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde sachgerecht interpretiert, reduzieren sich die Hemmnisse erheblich, die einer gemeineuropäischen Rechtsordnung und vor allem der europäischen Integration von dieser Standortbestimmung des deutschen Volkes, die jeder Verfassungsänderung entzogen ist, drohen oder drohen könnten. Allerdings bleiben solche Hemmnisse ungeachtet dessen in nicht geringem Umfang bestehen, solange der starke Souveränitätsvorbehalt der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG fortbesteht51. Auch dieser Vorbehalt ist freilich nicht unüberwindbar. Er lässt sich, sofern dies politisch erwünscht ist, durch eine Verfassungsneugebung beseitigen (Art. 146 GG) – eine Souveränitätsoption, für die die deutsche Wiedervereinigung den Weg frei gemacht hat52. Da die Menschenwürde nach Art. 1 GG keine bestimm49 Vgl. aber BVerfGE 123, 267 (341); bereits Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts I, 1987, § 20, Rn. 68; ders. (Fn. 11), Rn. 68: „Menschenwürde als Recht auf politische Mitgestaltung ist [. . .] ein Grundrecht auf Demokratie“. 50 Vgl. Mastronardi (Fn. 4 ), S. 107. 51 Das Bundesverfassungsgericht leitet aus diesem Vorbehalt zu Recht die Befugnis und Pfl icht deutscher Gerichte zur Kontrolle von Maßnahmen ab, die im europäischen Unionsrecht wurzeln und insofern unmittelbar oder mittelbar auf Unionsorgane zurückgehen (Ultra-vires-Kontrolle; Kontrolle auf Wahrung der Verfassungsidentität), BVerfGE 123, 267 (353 f.); Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, in: R. Grawert u. a. (Fn. 2), S. 42 f. 52 Ewald Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland, AöR 117 (1992), S. 410, 430 ff., 442; Enders (Fn. 51), S. 44 ff., 47 f.; Peter Michael Huber, in: Sachs (Fn. 11), Art. 146, Rn. 12, 18 f.; Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, München 2009, insbes. S. 82 ff.; ders., in: Dreier (Fn. 43), Bd. III, 2. Aufl. Tübingen 2008, Art. 146, Rn. 16. In dieselbe Richtung weist nun vorsichtig die Lissabon-Entscheidung, BVerfGE 123, 267 (343). Die Gegenposition vor allem bei Josef Isensee, Staatseinheit

Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz

257

te Art politisch-demokratischer Organisation festschreibt, steht sie auch ihrer Idee nach einer solchen Entwicklung nicht entgegen.

und Verfassungskontinuität, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff.; dems., Schlussbestimmung des Grundgesetzes: Art. 146, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, Heidelberg 1992, § 166, Rn. 53 ff., 61; ebenso Gärditz/Hillgruber (Fn. 19), S. 875 f.

Meinungs- und Religionsfreiheit im verfassungsdogmatischen Vergleich von

Prof. Dr. Helmuth Schulze-Fielitz, Universität Würzburg Inhalt I.

Gemeinsamkeiten der Grundrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der fundamentale Charakter geistiger Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die weite Interpretation der grundrechtlichen Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hilfen zur kollektiven Grundrechtsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausstrahlungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Divergierende Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schrankenziehung bei der Meinungs- und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzrichtungen und Gewichtungen im Abwägungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Institutionelle Einbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kontrolldichte der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Neue Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Meinungsfreiheit: Folgen der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Religionsfreiheit: Folgen der Entkonfessionalisierung und Islamisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Gemeinsamkeiten der Grundrechtsentwicklung Eine zusammenfassende Behandlung der Entwicklung der Meinungs- und Religionsfreiheit unter dem Grundgesetz seit 1949 wird zunächst auf die Gemeinsamkeiten der in unterschiedlichen Normen und auf unterschiedliche Art und Weise verfassungsrechtlich ausgestalteten Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG einerseits und des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit den staatskirchenrechtlichen Bestimmungen andererseits abstellen können (I.). In einem zweiten Schritt sollen Unterschiede in ihrer rechtsdogmatischen Entfaltung akzentuiert (II.) und schließlich neue Herausforderungen ins Auge gefasst werden (III.).

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1. Der fundamentale Charakter geistiger Freiheiten Für die beiden Grundrechte der Meinungsfreiheit wie der Religions- (oder: Glaubens-)Freiheit gilt, dass sie für einen freiheitlichen und demokratischen Verfassungsstaat „schlechthin konstituierend“ und damit von fundamentaler Bedeutung sind, wie das Bundesverfassungsgericht für die Meinungsfreiheit von Anfang an (im LüthUrteil) betont hat1. Die Gewährleistung der Meinungsfreiheit entspricht der auf David Hume zurückführbaren Einsicht der Federalist Papers, dass alle Regierung auf Meinung gegründet sei2, also letztlich auf das Wollen und Wirken der Bürger auf Basis ihrer Interessen oder Wertüberzeugungen. Die Glaubensfreiheit als eines der ältesten Grundrechte ist historisch wie systematisch eine notwendige Bedingung moderner Verfassungsstaatlichkeit, denn erst mit der Anerkennung der Glaubensfreiheit entwickelt sich die religiöse Neutralität des Staates, erst mit dieser entwickelt sich auch der moderne Staat mit seinen bürgerlichen Freiheiten3. Die geistige Freiheit der Richtungsentscheidung im Inneren der Persönlichkeit (auf dem „forum internum“), ob in religiösen, politischen oder privaten Angelegenheiten, liegt aber aller öffentlichen Meinungsbildung voraus. Sie bildet insoweit die Basis eines freiheitlichen Verfassungsstaates westlichen Typs: Presse-, Meinungs- und Lehrfreiheit gehen entwicklungsgeschichtlich auf die Religionsfreiheit zurück4. Dieser hohe Rang der geistigen Äußerungsfreiheiten wurzelt nicht nur in der individuellen Menschenwürde mit ihrem elementaren Recht auf Denkfreiheit und mitmenschliche Kommunikation in allen Lebensbereichen, sondern folgt auch einer grundlegenden Prämisse westlicher Verfassungsstaaten. Danach macht es gerade die freie offene Meinungsbildung und Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit möglich, dass sich im Allgemeinen auf der Verfälschung von Tatsachen beruhende Auffassungen nicht durchsetzen können5, sondern dass sich aufgrund der kreativen Vielfalt von Problembeschreibungen und Problemlösungsvorschlägen demokratische Verfassungsstaaten durch eine überlegene Leistungsfähigkeit auszeichnen. In diesem Sinne versteht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Funktion der Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 10 EMRK6.

1 BVerfGE 7, 198 (208); siehe näher bilanzierend H. Schulze-Fielitz, Das Lüth-Urteil – nach 50 Jahren, Jura 2008, S. 52 (54). 2 Vgl. J. Madison, Federalist Paper Nr. 49, und A. Hamilton, Federalist Paper Nr. 84, in: dies. / J. Jay, The Federalist Papiers (1787/88), bearb. von B. Zehnpfennig, 1993, S. 313 und 503; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rn. 3. 3 M. Morlok, in: Dreier, GG I (Fn. 2), Art. 4 Rn. 12. 4 So jedenfalls akzentuiert A. v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 157 Rn. 30. 5 Vgl. BVerfGE 90, 1 (20 f.). 6 Vgl. ausf. R. Grote / N. Wenzel, in: R. Grote / T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 18 Rn. 12 ff.

Meinungs- und Religionsfreiheit im Vergleich

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2. Die weite Interpretation der grundrechtlichen Schutzbereiche Gemeinsam ist beiden geistigen Freiheitsrechten eine ausdehnende (auch verfassungsgerichtliche) Interpretation des Schutzbereichs der Grundrechte. Die Meinungsfreiheit erstreckt sich umfassend auf jedes bewertende Dafür-Halten in seiner Subjektivität7, unabhängig vom Thema und Zweck der Meinungsäußerung, von ihrem Wert, ihrer Richtigkeit, ihrer Begründetheit, ihrer Rationalität oder von ihrem abwertend-beleidigenden Charakter8. Umfasst sind auch Tatsachenbehauptungen, selbst wenn sich – bei entsprechender Sorgfalt bei der Quellenverwertung – später herausstellt, dass die Tatsacheninformation unwahr ist: Der öffentliche Kommunikationsprozess soll nicht beeinträchtigt werden, wie zu befürchten wäre, wenn nur unumstößliche Wahrheiten geäußert werden dürften9. Einzig Angaben rein statistischer Art, erwiesen unwahre oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen werden von Art. 5 Abs. 1 und 2 GG nicht geschützt10. Vor allem aber ist auch geschützt, durch die Wahl der Umstände der Äußerungen auf andere geistig wirken zu können11, zum Beispiel auch durch (rein geistig geäußerte, d. h. nicht mit wirtschaftlicher Machtandrohung verstärkte) Boykottaufrufe12. Geschützt ist der gesamte Kommunikationsprozess zwischen dem sich Äußernden und dem Rezipienten13. Die Informationsfreiheit als Voraussetzung individueller Meinungsbildung ist hinsichtlich (faktisch) allgemein zugänglicher Quellen ausdrücklich (deklaratorisch) in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hervorgehoben14. Die Glaubensfreiheit wird ebenfalls von Anfang an unter tatbestandlicher Zusammenfassung von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG umfassend verstanden15: als Schutz des „forum internum“, als Schutz des Bekenntnisses und als Schutz der Religionsausübung („forum externum“), aber eben auch als Schutz, nach seinem Glauben zu leben16, sich entsprechend zu kleiden, als Eltern seine Kinder religiös zu erziehen und in seiner Glaubensfreiheit auf andere und in der Welt zu wirken17; sie wirkt so als ein

7 Vgl. BVerfGE 61, 1 (9); 71, 162 (179); 90, 241 (247 ff.); ausf. Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 62 ff. 8 BVerfGE 61, 1 (7); 85, 1 (15); 90, 1 (14 f.). 9 Vgl. BVerfGE 61, 1 (8); 54, 208 (219 f.); 90, 1 (15); 90, 241 (254); ausf. H. Paetzold, Grundrechtliche Maßstäbe für die Wortberichterstattung der Presse – Kontrollstrategien von Bundesverfassungsgericht und EGMR im Vergleich, in: H. Rensen / S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 507 (510 ff., 527 ff.). 10 Vgl. BVerfGE 54, 208 (219); 61, 1 (8); 65, 1 (40 f.); 90, 1 (15); 90, 241 (247 f.); z. T. krit. SchulzeFielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 65. 11 BVerfGE 7, 198 (210); 61, 1 (7); 90, 1 (14); 97, 391 (398 f.). 12 BVerfGE 7, 198 (210, 212); 25, 256 (264); 62, 230 (244 f., 247 f.). 13 BVerfGE 57, 295 (319); 97, 391 (399); E. Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HStR VII (Fn. 4), § 162 Rn. 27. 14 Übersichtlich F. Schoch, Das Grundrecht der Informationsfreiheit, Jura 2008, S. 25 ff. 15 Zsfssd. zuletzt A. von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit – ein ausuferndes Grundrecht?, in: Rensen / Brink, Linien (Fn. 9), S. 247 (250 ff.); s. auch J. Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR, 2. Aufl. 1994, Band 1, S. 439 (440 f.). 16 BVerfGE 24, 236 (245 f., 248); 32, 98 (106); 108, 282 (297). 17 Vgl. BVerfGE 32, 98 (106); v. Campenhausen (Fn. 4), § 157 Rn. 51 ff., 57 ff.; M. Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“?, AöR 134

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umfassendes „Gesamtgrundrecht“18. Maßstäblich ist dabei die religiöse Überzeugung des Grundrechtsträgers und ggf. das Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft19. Dieses tendenziell sehr ausgedehnte Tatbestandsverständnis geht jetzt so weit, dass schon die bloße rechtliche Notwendigkeit einer förmlichen Erklärung bei einem Kirchenaustritt den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffen soll 20. Verfassungsgerichtlich ungeklärt ist, inwieweit lediglich vorbereitende oder unterstützende Handlungen (z. B. wirtschaftliche Betätigungen) auch bereits dem Schutzbereich der Religionsfreiheit unterfallen 21.

3. Hilfen zur kollektiven Grundrechtsverwirklichung Sobald die höchstpersönlich-individuelle Freiheit des Glaubens oder Meinens überschritten wird, gilt für beide Freiheitsrechte gleichermaßen, dass sie in institutionelle Strukturen kollektiver Freiheitsausübung als Hilfen für die individuelle Freiheitsverwirklichung eingebunden sind. Die individuelle Meinungsfreiheit schützt nur Äußerungen „in Wort, Schrift und Bild“ (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG). Sobald die Individualkommunikation überschritten wird und Meinungsäußerungen durch Medien der Massenkommunikation mit Hilfe publizistischer Verbreitungsformen erfolgen, sind die im Grundgesetz textlich ausdrücklich verselbstständigten Medienfreiheiten der Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit zusätzlich tatbestandlich einschlägig. Diese unterliegen einem eigenen Rechtsregime (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG), das auf die spezifische Gefährdungslage der Medienfreiheiten abstellt22. Denn Massenmedien wirken – abgelöst von der situativen Einheit eines konkreten kommunikativen Lebensvorgangs zwischen einzelnen Individuen – besonders nachhaltig, weil sie die jedermann verfügbaren Äußerungsformen von Wort, Schrift und Bild überschreiten und durch die breitenwirksame öffentliche Vermittlung von Äußerungen und Empfängern von Kommunikationsinhalten einen erheblichen ressourcenintensiven Organisationsaufwand voraussetzen – mit Folgen namentlich auch im Blick auf die öffentliche Meinungsbildung in der Demokratie23. Maßstab für die Äußerungsinhalte (und damit für die (2009), S. 309 (331); C. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 496 ff., 502 ff.; a. A. z. B. S. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 148 ff. 18 Vgl. BVerfGE 24, 236 (245); 32, 98 (206); 83, 341 (354); 108, 282 (297); Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 333, 381 ff.; U. Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 7 (15 ff.); Morlok (Fn. 3), Art. 4 Rn. 54; krit. z. B. F. Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 149 (154 ff.). 19 Vgl. I. Augsberg, Noli me tangere, Der Staat 48 (2009), S. 239 (243 f. u. ö.); ausf. M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 251 ff.; grdl. M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 431 ff., allg. S. 309 ff. u. ö. 20 BVerfG (Kammer) NJW 2008, S. 2978 (2978 f.). 21 Vgl. zum Problem Walter, Religionsverfassungsrecht (Fn. 17), S. 279 ff. (rechtsvergleichend); C. D. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 30 ff. 22 Vgl. BVerfGE 85, 1 (12); 86, 122 (128); ausf. F. Kübler, Medien, Menschenrechte und Demokratie, 2008. 23 Vgl. ausf. Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 86 ff. m. w. N.

Meinungs- und Religionsfreiheit im Vergleich

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Wortberichterstattung in Presse und Rundfunk) bleibt das Recht auf Meinungsfreiheit24 ; jenseits dessen wird alles Medienspezifische den tatbestandlich gesonderten Medienfreiheiten zugeordnet, soweit es um die institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sowie um die Institution des Mediums in seiner Freiheit überhaupt geht25. Dazu gehört insbesondere das Recht, Art und Ausrichtung, Inhalt und Form einer Publikation zu bestimmen, etwa auch die Bebilderung 26. Auf der anderen Seite unterliegen Medienfreiheiten gesteigerten gesetzlichen Bindungen, um den Gefahren für die pluralistische Demokratie durch eine einseitige Konzentration von Medienmacht vorzubeugen (s. u. II.3.). Bei der von vornherein für die Glaubensfreiheit konstitutiven kollektiven und korporativen Dimension sind es die staatskirchenrechtlichen Institutionen, die i. S. eines Religionsverfassungsrechts27 die individuelle Glaubensfreiheit stützen, indem sie funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung der Religionsfreiheit angelegt und Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit nach Maßgabe ihres religiösen Selbstverständnisses sind 28. Die Religionsfreiheit bildet das Fundament und die Zielund Funktionsbestimmung der ergänzenden staatskirchenrechtlichen Institutionen 29, die der gemeinschaftlichen Religionsausübung dienen30 und auch sonst das kirchliche Wirken in der Öffentlichkeit präsent halten31. Das gilt sowohl für jene etwa drei Dutzend Religionsgemeinschaften, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts i. S. von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV mit einem Bündel von zusätzlichen rechtlichen Privilegien ausgestattet sind 32, als auch für alle sonstigen Religionsgemeinschaften. Deshalb können sich auch juristische Personen des Zivilrechts (z. B. Vereine) auf die Religionsfreiheit berufen, und das sogar, soweit es um die Einreise eines ausländischen Religionsoberhauptes geht 33. Zu den nicht ausdiskutierten wissenschaftlichen Kontroversen der Gegenwart gehört die angemessene Zuordnung von religiöser Individualfreiheit nach Art. 4 GG und den staatskirchenrechtlichen Institutionen nach Art 140 GG i. V. m. Art. 136–139, 141 WRV, die nicht in der Grundrechtsgarantie des Art. 4 Abs. 1 GG aufgehen34. 24

BVerfGE 85, 1 (11 ff.). BVerfGE 85, 1 (13); 86, 122 (128). 26 BVerfGE 20, 162 (174 ff.); 95, 28 (35); 101, 361 (389). 27 Grdl. P. Häberle, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff.; ausf. P. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2009. 28 In diesem Sinne BVerfGE 102, 370 (387 f.); s. auch G. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2007, Rn. 178 ff., 186. 29 Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 329, 334; Listl, Glaubensfreiheit (Fn. 15), S. 444 f. 30 Vgl. Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 332 f. 31 Zum „Öffentlichkeitsauftrag“ der Kirchen vgl. (krit.) S. Mückl, Freiheit des kirchlichen Wirkens, in: HStR VII (Fn. 4), § 161 Rn. 3 f. 32 Vgl. dazu übersichtlich zuletzt M. Quaas, Begründung und Beendigung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, NVwZ 2009, S. 1400 (1401 f.); Hans Hofmann, Die Religionsverfassung des Grundgesetzes im Zusammentreffen mit dem Islam, ZG 24 (2009), S. 201 (215 ff.). 33 Vgl. BVerfG (Kammer) DÖV 2007, S. 202 (203); enger BVerwGE 114, 356 (360 ff.). 34 Zuletzt C. Waldhoff, Neue Religionskonfl ikte und staatliche Neutralität. Gutachten D zum 68. DJT, 2010, S. 55 ff.; Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 334 ff.; ausf. (i. S. eines höheren interpretativen Gewichts von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit (Fn. 19), S. 298 ff. 25

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4. Ausstrahlungswirkung Gemeinsam ist den geistigen Freiheiten weiterhin ihre Ausstrahlungswirkung auf die gesamte, zuvor vom parlamentarischen Gesetzgeber geschaffene Rechtsordnung35, mithin sowohl i. S. einer grundrechtskonformen Auslegung bei der Anwendung freiheitsbeschränkender öffentlich-rechtlicher Gesetze als auch bei der Auslegung der zivilrechtlichen Regelungen im horizontalen Verhältnis der Bürger untereinander i. S. einer sog. „Drittwirkung“ der Grundrechte36. Diese Ausstrahlungswirkung ist Folge der Entdeckung der objektiven Dimension von Grundrechten: Grundrechte sind nicht nur subjektive Rechte zur Abwehr staatlicher belastender Maßnahmen, sondern sie wirken darüber hinaus als objektive wertentscheidende Grundsatznormen und können die Auslegung und Anwendung aller Gesetze mitprägen. In dieser Erkenntnis liegt eine zentrale, unverändert aktuelle Bedeutung des Lüth-Urteils von 195837; was dort für die Meinungsfreiheit erstmals entwickelt wurde, gilt aber – wie für alle Grundrechte38 – auch für die Religionsfreiheit 39. Obwohl diese objektive Grundrechtsdimension die subjektive Abwehrdimension grundsätzlich nur ergänzen und verstärken soll40, hat sie ein eigenständiges Gewicht gewonnen. Sie führt dazu, dass alle Beschränkungen der Meinungsfreiheit durch Gesetze im Lichte der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit interpretiert werden müssen41 mit der Folge, dass das Recht der Meinungsfreiheit „auf Grund aller Umstände des Falles“ nur so weit zurücktreten muss, als durch seine Wahrnehmung schutzwürdige Interessen von höherem Rang verletzt würden. Es handelt sich um eine Kombination des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit42. In der Folge hat die Rechtsprechung einzelfall- oder fallgruppenorientiert zahlreiche Differenzierungskriterien zur Gewichtung der Abwägung entwickelt43 ; Kriterien sind zum Beispiel die Relevanz dieser Frage für die politische Öffentlichkeit, der situative Kontext (etwa zugunsten scharfer und übersteigerter Äußerungen in politischen Wahlkämpfen), Form oder Inhalt der Meinungsäußerung, im Blick auf Meinungsäußerungen besonders in Massenmedien auch die Unterscheidung von Berichterstattung und Meinungsverbreitung oder die Wirkungsintensität des Massenmediums. Namentlich straf- und strafprozessrechtliche Einschränkungen zum Schutz der persönlichen Ehre oder die Meinungsfreiheit im Sonderstatus (zum Beispiel von Beamten) stehen im Mittelpunkt der Rechtsprechung44. Im Zivilrecht geht es vor allem um den Schutz des allgemeinen Persönlich35

Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 331. Übersichtlich H.-J. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), HGR II, 2006, § 55 Rn. 1 ff., 11 ff.; ausf. M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 61 ff. 37 Vgl. Schulze-Fielitz, Lüth-Urteil (Fn. 1), S. 54. 38 H. Dreier, in: ders., GG I (Fn. 2), Vorb. Rn. 94 ff. 39 Morlok (Fn. 3), Art. 4 Rn. 152 ff. 40 Allg. BVerfGE 50, 290 (337). 41 Grdl. BVerfGE 7, 198 (209), st. Rspr.; ausf. Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 158 ff.; s. auch Papier (Fn. 36), § 55 Rn. 28 ff. 42 Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 159. 43 Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 161 ff. 44 Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 177 ff. 36

Meinungs- und Religionsfreiheit im Vergleich

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keitsrechts (gegenüber ehrverletzenden Meinungsäußerungen Dritter)45, der in neuester Zeit durch die neuen Möglichkeiten kritischer Persönlichkeitsbeurteilungen in Internetportalen erschwert zu werden scheint46. Bei der Glaubensfreiheit stellen sich im Blick auf ihre Ausstrahlungswirkung bei der Auslegung einfachen Gesetzesrechts konkrete Probleme vor allem bei Anwendung verwaltungsrechtlicher Gesetze, etwa bei Entscheidungen im Rahmen von gesetzlichen Ausnahme- und Härteklauseln zum Beispiel im Tierschutzrecht (etwa beim Schächten), im Feiertagsrecht oder im Asyl- und Ausländerrecht47. Im Bereich des Zivilrechts (deutlich weniger ausgeprägt als bei der Meinungsfreiheit) wirkt Art. 4 GG namentlich in arbeitsrechtlichen Verhältnissen bei der Ausgestaltung der Leistungspfl ichten des Arbeitnehmers (etwa beim Tragen des Kopftuches aus Glaubensgründen)48, aber auch bei sonstigen zivilrechtlichen Generalklauseln49. Die Rechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG begründen (namentlich in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV) zudem die Pfl icht zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates50 i. S. „strikter Gleichbehandlung“51 der verschiedenen Glaubensrichtungen als „Heimstatt aller Staatsbürger“52, weiterhin das Paritäts- und das Toleranzgebot53. Damit stellt sich im Rechtsalltag das Problem der Reichweite der sehr unterschiedlich interpretierbaren staatlichen Neutralität54, deren Durchbrechung einer verfassungsrechtlichen Grundlage bedarf.

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Papier (Fn. 36), § 55 Rn. 28 ff.; Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 277 ff. Vgl. zur öffentlichen Bewertung von Lehrern durch Schüler: BGH NJW 2009, 2888; G. Gounalakis / C. Klein, Zulässigkeit von personenbezogenen Bewertungsplattformen, NJW 2010, S. 566 ff.; C. Görisch, To be or note2be? Lehrerbewertungsportale im deutsch-französischen Rechtsprechungsvergleich, DVBl. 2010, S. 155 ff.; A.-B. Kaiser, Bewertungsportale im Internet – Die spickmich-Entscheidung des BGH, NVwZ 2009, S. 1474 ff.; H. Greve / F. Schärdel, Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, MMR 2008, S. 644 ff. 47 Morlok (Fn. 3), Art. 4 Rn. 154. 48 Morlok (Fn. 3), Art. 4 Rn. 152. 49 Morlok (Fn. 3), Art. 4 Rn. 153. 50 Vgl. BVerfGE 93, 1 (17); 105, 279 (294); 108, 282 (299); M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GGKommentar, Band 3, 2. Aufl. 2008, Art. 140 Rn. 36 ff.; krit. F. Holzke, Die „Neutralität“ des Staates in Fragen der Religion und Weltanschauung, NVwZ 2002, S. 903 (906 ff.). 51 So BVerfGE 108, 282 (298). 52 BVerfGE 19, 206 (216); 108, 282 (299). 53 v. Campenhausen (Fn. 4), § 157 Rn. 5 m. w. N.; s. auch S. Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VII (Fn. 4), § 159 Rn. 67 ff., 73 ff., ohne Inbezugnahme des Toleranzgebots; s. auch M. Jestaedt, Schulen und außerschulische Erziehung, in: HStR VII (Fn. 4), § 156 Rn. 71 ff. 54 Übersichtlich zuletzt Waldhoff, Religionskonfl ikte (Fn. 34), S. 42 ff.; H. M. Heinig, Verschärfung der oder Abschied von der Neutralität?, JZ 2009, S. 1136 ff.; Holzke, „Neutralität“ (Fn. 50), S. 905 ff.; ausf. S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002. 46

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II. Divergierende Entwicklungslinien 1. Schrankenziehung bei der Meinungs- und Religionsfreiheit Während die Glaubensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG ohne einen Vorbehalt des Gesetzes gewährleistet wird, sind Beschränkungen der Meinungsfreiheit durch allgemeine Gesetze, Gesetze zum Schutze der Jugend oder zum Schutze der persönlichen Ehre durch den Gesetzgeber nach Maßgabe von Art. 5 Abs. 2 GG zulässig. Daraus ergeben sich rechtliche Unterschiede der Freiheitsbeschränkungen durch Gesetz. Die Meinungsfreiheit lässt sich von Verfassung wegen stets durch („allgemeine“) Gesetze beschränken, die sich nicht im Sinne von Sonderrecht gegen einen bestimmten Meinungsinhalt als solchen richten, sondern meinungsinhaltsunabhängig übergeordnete Güter zu schützen suchen. Praktisch alle (auch) meinungsbeschränkenden Gesetze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Sinne für verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen worden, und sei es im Wege einer einschränkenden verfassungskonformen Auslegung. Letztlich lässt sich so jedes wichtige Gemeinschaftsgut gegebenenfalls zulasten der Meinungsfreiheit schützen, wenn es nur um deren Schutz unabhängig davon geht, ob es sich auf die Meinungsfreiheit auswirkt oder nicht. Wo wie im Falle der Straf barkeit der „Auschwitz-Lüge“ ausnahmsweise ein strafrechtliches Verbot offenkundig gegen eine Meinung als solche gerichtet ist, wurde der Grundrechtsschutz für tatbestandlich nicht einschlägig gehalten, weil erwiesen unwahre Behauptungen nicht von der Meinungsfreiheit geschützt sind55. Jüngst hat das Bundesverfassungsgericht überdies unter Abkehr von seinen bisherigen dogmatischen Rechtsprechungstraditionen in freier Rechtsschöpfung sogar Sonderrecht gegen Meinungsäußerungen von Neonazis als für ausnahmsweise zulässig erklärt mit der Begründung, angesichts des Ausmaßes des Unrechts der nationalsozialistischen Herrschaft sei dem Grundgesetz eine „Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent“.56 Auf diese Weise wird offensichtlich unter dem Druck einer antizipierten Reaktion der politischen Öffentlichkeit, aber methodisch unvertretbar der geschriebene Gesetzesvorbehalt von Art. 5 Abs. 2 GG um einen ungeschriebenen ergänzt und der Grundgesetzgeber durch verfassungsrichterrechtliche Erfindungen korrigiert. Eine Einschränkung der Religionsfreiheit kann sich demgegenüber nach ganz herrschender Auffassung gar nicht auf einen Gesetzesvorbehalt stützen57 und ist nach bisheriger Rechtsprechung nur zulässig, wenn sie zum Schutz kollidierender Grundrechte oder anderer Verfassungsgüter erforderlich ist 58. Bei dieser Abwägung geht es 55 Vgl. BVerfGE 90, 241 (251); krit. S. Huster, Das Verbot der „Auschwitzlüge“, die Meinungsfreiheit und das Bundesverfassungsgericht, NJW 1996, S. 487 ff. 56 BVerfG NJW 2010, S. 47 (51), m. Anm. T. Holzner, DVBl. 2010, S. 48 ff.; O. Lepsius, Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Sonderrecht, Jura 2010, S. 527 ff.; U. Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, S. 417 ff.; C. Degenhart und T. Hörnle, Urteilsanmerkungen, JZ 2010, S. 306 ff. bzw. 310 ff.; a. A. A. Kirsch, Rudolf-Heß-Gedenkmärsche, Volksverhetzung und die Meinungsfreiheit, NWVBl. 2010, S. 136 ff. 57 Anders aber (für Anwendbarkeit des Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 GG) etwa BVerwGE 112, 227 (231); D. Ehlers, in: M. Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 140 Rn. 4; ausf. Nachw. bei A. Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa, 2008, S. 241. 58 BVerfGE 28, 243 (261); 98, 1 (21); 108, 282 (299); vgl. zuletzt ausf. v. Campenhausen (Fn. 4), § 157

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der Rechtsprechung zufolge nicht um eine einfache Bestimmung des vorrangigen Rechtsgutes, sondern es ist i. S. „praktischer Konkordanz“ (Konrad Hesse) ein nach beiden Seiten hin schonender Ausgleich zu finden, so dass nicht ein Verfassungsrechtsgut auf Kosten des anderen „weggewogen“ wird, sondern beide konfl igierenden Rechtsgüter im Einzelfall soweit als möglich zum Zuge kommen können. Die tatbestandlich weite Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts führt hier dazu, dass es zahlreiche Konfl ikte mit den grundrechtlichen Freiheiten Dritter oder anderen auf Verfassungsebene geschützten Rechtsgütern geben kann, die es bei einer Beschränkung des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in enger Orientierung am Wortlaut und nur am „forum internum“ nicht gäbe59 ; zudem führen die Beschränkungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mangels eines einfachen, ausdrücklich umschriebenen Gesetzesvorbehalts stets zu Grundrechtskonfl ikten mit Abwägungen unmittelbar unter Rückgriff auf das Grundgesetz. Bestimmte Glaubenspraktiken (wie z. B. die weibliche Genitalbeschneidung) – wenn man sie nicht gleich aus dem Schutzbereich ausklammert60 – können so etwa für menschenunwürdig angesehen werden61 oder auch nicht (wie bei männlichen Genitalbeschneidungen) 62. Diese Konfl ikte zwischen der Glaubensfreiheit und ihren Begrenzungen erscheinen nach Maßgabe dieser vorherrschenden Rechtsprechungsdogmatik als Abwägungskonfl ikte auf der Ebene der Verfassung, ohne dass der parlamentarische Gesetzgeber über sie entscheiden (sondern sie allenfalls konturieren) dürfte. Der glaubensbedingte Wunsch nach allein häuslichem statt schulischem Grundschulunterricht wird zum Konfl ikt zwischen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG mit dem in Art. 7 Abs. 1 verankerten Anspruch des Grundgesetzes, dass im Wege staatlicher Schulpfl icht sozial kompetente und verantwortliche Staatsbürger im pluralistischen Gemeinwesen herausgebildet werden und so auch gesellschaftliche Integration gefördert und der Entstehung von Parallelgesellschaften entgegengewirkt wird63. Weil allerdings die meisten durch die Einschränkung der Religionsfreiheit zu schützenden Rechtsgüter auch auf Verfassungsebene gewährleistet sind, erweisen sich Einschränkungen der Glaubensfreiheit trotz des fehlenden Gesetzesvorbehalts im Ergebnis nur wenig strikter als Einschränkungen der Meinungsfreiheit64. Indessen erlaubt die existenzielle Dimension der Religionsfreiheit leichter als bei der Meinungsfreiheit eine Durchbrechung gesetzlicher Regelungen im Namen der Glaubensfreiheit im Einzelfall.

Rn. 105 ff.; K. Zähle, Religionsfreiheit und fremdschädigende Praktiken, AöR 134 (2009), S. 434 (438) m. w. N.; Walter, Religionsverfassungsrecht (Fn. 17), S. 515 ff. 59 Für eine Reduktion des Schutzbereichs i. S. einer Neubestimmung des „Gewährleistungsgehalts“ daher etwa Waldhoff, Religionskonfl ikte (Fn. 34), S. 73 f.; U. Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 2007, S. 127 ff., 173 ff., 196 u. ö. 60 Zähle, Religionsfreiheit (Fn. 58), S. 443 f.; s. auch Sacksofsky, Freiheit (Fn. 18), S. 10. 61 Zähle, Religionsfreiheit (Fn. 58), S. 447 f. 62 Zähle, Religionsfreiheit (Fn. 58), S. 448 ff. 63 Vgl. ausf. BVerfGK 8, 151 (153 ff.) – Homeschooling; krit. zu dieser Begründung K.-H. Ladeur / I. Augsberg, Toleranz – Religion – Recht, 2007, S. 105. 64 Sacksofsky, Freiheit (Fn. 18), S. 19 f.; von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit (Fn. 57), S. 245 ff.

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2. Schutzrichtungen und Gewichtungen im Abwägungsprozess Auf den ersten Blick sind Meinungs- und Glaubensfreiheit von vergleichbar hohem Gewicht im Prozess der Abwägung konfl igierender (Grund-)Rechtspositionen. Dennoch scheint es charakteristische, durchaus gegenläufige Unterschiede zu geben. Der Meinungsfreiheit wird wegen ihrer für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin grundlegenden Bedeutung bei aktiven Beiträgen im demokratischen Meinungskampf die Vermutung eines besonders hohen Gewichts beigemessen, gerade auch im Verhältnis der Bürger untereinander. Der Schutz des entgegenstehenden privaten Rechtsgutes tritt umso mehr zurück, je mehr eine Äußerung sich nicht unmittelbar gegen dieses Rechtsgut richtet, sondern es sich um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt65. Diese „Privilegierung“ politischer Äußerungen66 im Blick auf ihre Funktion im Kontext eines demokratischen Gemeinwesens gibt der öffentlichen Meinungsbildung in der pluralistischen Demokratie ein hohes Gewicht. Die Folge ist, dass gerade bei Konfl ikten zwischen Privaten konfl igierende Rechtsgüter wie der Schutz der Ehre Dritter67 oder der Schutz der Privatsphäre Prominenter68 ungeachtet sehr sorgfältiger, immer wieder neuer Differenzierungen in der Rechtsprechung 69 gegenüber der Freiheit der Massenmedien tendenziell zurückstehen. Neuerdings differenziert die Judikatur in der Gewichtung, indem bei einer Verurteilung zur (zukünftigen) Unterlassung einer mehrdeutigen, ggf. diffamierenden Tatsachenbehauptung das Persönlichkeitsrecht des von der Äußerung Betroffenen gegenüber der Meinungsfreiheit stärker gewichtet wird als im Falle nachträglicher (strafrechtlicher) Sanktionen70. Diese Entwicklung der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit steht seit „Lüth“ für eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und eine Liberalisierung der Bundesrepublik Deutschland. Die Hälfte der Bundesverfassungsrichter der ersten Generation war während der NS-Zeit politisch verfolgt oder emigriert und konnte vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung in westlichen Verfassungsstaaten bei der Betonung der besonderen Rolle der Meinungsfreiheit in der Demokratie diesen anderen Wertungshintergrund aktualisieren. Zentrales Medium war und ist die (zunächst 65

Grdl. BVerfGE 7, 198 (212); s. auch E 25, 256 (264). Krit. J. Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 5 (36 ff.); W. Schmitt Glaeser, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und Toleranzgebot, NJW 1996, S. 873 (874 ff.). 67 Z. B. BVerfGE 93, 266 (289 ff.); übersichtlich W. Hoffmann-Riem, Nachvollziehende Grundrechtskontrolle, AöR 128 (2003), S. 173 (190 ff., 201 ff.); D. Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1697 ff. 68 BVerfGE 97, 125 (144 ff.); 101, 361 (388 ff.). 69 Zuletzt wieder übersichtlich K.-H. Ladeur, Mediengerechte Spezifi zierung des Schutzes von Persönlichkeitsrechten gegen Beeinträchtigung durch Tatsachenbehauptungen und Schmähkritik, Af P 2009, S. 446 ff.; J. Jahn, Unangenehme Wahrheiten für Prominente, NJW 2009, S. 3344 ff. 70 BVerfGE 114, 339 (347 ff.); krit. J. Meskouris, Der Stolpe-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in rechtsvergleichender Betrachtung, Der Staat 48 (2009), S. 355 (379 ff.); T. Gas, Die Variantenlehre des BVerfG bei mehrdeutigen Äußerungen: Vereinheitlichung ja, Aufgabe nein!, Af P 2006, S. 428 (429 f.). 66

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nur einfachgesetzlich ermöglichte, dann konstitutionalisierte) Urteilsverfassungsbeschwerde individueller Bürger gegen letztinstanzliche Gerichtsentscheidungen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, beginnend mit dem Lüth-Urteil von 1958, bewirkte so in der Sache eine „sanfte Revolution“71, indem sie den zulässigen Spielraum für Protest und Kritik in der Öffentlichkeit durch die Vermutung der Zulässigkeit der freien öffentlichen Rede ungeachtet eines beleidigenden Charakters deutlich erweiterte; statt der Justiz soll so der öffentliche Meinungsbildungsprozess die maßgebliche Instanz sein, die über den Erfolg und die relative Richtigkeit konkurrierender Ansichten zu befinden hat. Diese Linie hat das Gericht bis heute durchgehalten. Jüngst wurde etwa den Strafgerichten die sorgfältige Prüfung aufgegeben, bei der abwertenden Bezeichnung der Nationalflagge der Bundesrepublik Deutschland als „schwarz-rot-senf “ zu prüfen, ob es sich im einzelnen Fall um eine (zulässige) scharfe Polemik oder um eine darüber hinaus gehende (straf bare) böswillige Verächtlichmachung in Form einer Schmähkritik handele72. Demgegenüber verbietet die Schutzkonzeption der Glaubensfreiheit zunächst jede staatliche funktionale Bewertung dessen, was seinem Selbstverständnis nach als Religion auftritt, am Maßstab staatlicher Rationalitätskriterien, sondern sie lässt erst in einem zweiten Schritt allenfalls eine Evidenzkontrolle zu73. Auch deshalb steht bei der Religionsfreiheit nicht das aktive Wirken religiösen Engagements in der Öffentlichkeit im Mittelpunkt von Abwägungen der Judikatur, sondern die individuelle existenzielle Abwehr primär staatlicher Zumutungen zulasten der individuellen, positiven wie negativen Glaubensfreiheit im Einzelfall. Deshalb braucht z. B. ein Pfarrer in Ausübung seiner Religionsfreiheit vor Gericht nicht zu schwören, wenn ihm das aus religiösen Gründen untragbar erscheint74, oder es bleibt das Unterlassen einer lebensrettenden Bluttransfusion aus Glaubensgründen straflos75. Auch die Befreiung muslimischer Mädchen vom koedukativen Sportunterricht zulasten des staatlichen Erziehungsauftrags76 gehört in diese Kategorie. Immer wieder gibt es zumal in neuerer Zeit aber auch Entscheidungen mit der Tendenz, im Namen der religiösen Neutralität des Staates die negative Religionsfreiheit zum Abwehrrecht gegen die Zumutungen der positiven Religionsfreiheit Dritter zu betonen77, etwa bei Streitigkeiten in staatlichen Schulen um das Schulgebet, um die ein Kopftuch tragende Lehrerin78 oder hinsichtlich des individuell unerträglichen Anblicks eines Kruzifi xes im Klassenraum79. Solche Konfl ikte um Religion in der Schule aktualisieren sich faktisch auch deshalb, weil Art. 7 GG die Errichtung von (auch: konfessionellen) Privatschu71

So F. Kübler, Lüth: eine sanfte Revolution (BVerfGE 7, 198 ff.), KritV 83 (2000), S. 313 ff. BVerfG (Kammer) NJW 2009, S. 908. 73 So Augsberg, Noli me tangere (Fn. 19), S. 244. 74 BVerfGE 33, 23 ff. 75 BVerfGE 32, 98 ff.; BVerwG NVwZ 2001, S. 924 (925); OVG Berlin NVwZ 2005, S. 1450 (1451 f.). 76 BVerwGE 94, 82 (91); wohl strenger BVerfG (Kammer) NVwZ 2003, S. 1113 f.; NVwZ 2008, 72 (74). 77 Ausf. v. Campenhausen (Fn. 4), § 157 Rn. 127 ff. 78 Vgl. BVerfGE 108, 282 ff.; BVerwGE 116, 329 ff.; 121, 140 ff.; Hans Hofmann, Symbole in Schule und Öffentlichkeit, NVwZ 2009, S. 74 ff.; ders., Religionsverfassung (Fn. 32), S. 202 ff. m. ausf. N. 79 BVerfGE 93, 1 (15 ff.); BVerwGE 109, 40 ff.; zuletzt Hofmann, Religionsverfassung (Fn. 32), S. 209 f. 72

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len zugunsten des staatlich bestimmten Schulsystems sehr erschwert und auf diese Weise konfessionell begründete Ausweichstrategien weithin unterbindet80.

3. Institutionelle Einbindung Meinungs- und Glaubensfreiheit unterscheiden sich auch im Blick auf die institutionelle Einbindung. Während die Glaubensfreiheit sich auf den herkömmlichen, aus der Weimarer Verfassung von 1919 überkommenen religionsrechtlichen Rahmen des „Staatskirchenrechts“ stützen konnte, entwickelte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eigene dogmatische Maßstäbe für Meinungsäußerungen zur Verhinderung verzerrender, demokratiegefährdender Meinungsmacht, wenn sie durch die publizistischen Mittel der Massenmedien verbreitet werden. Die Rechtsprechung hat vor dem erwähnten Hintergrund der Bedeutung der öffentlichen Meinungsbildung in der pluralistischen Demokratie in einer bis heute aktuellen und fortgeführten Rechtsprechungstradition die Meinungsäußerungen in und durch Massenmedien diszipliniert. Im Bereich der Pressefreiheit als einem Konstituens für die öffentliche Meinung in der Demokratie81 ist die „freie Presse“ als gegen Gefährdungen durch Monopolisierung zu schützendes Institut gewährleistet82, wobei das Recht der (grundrechtlich verbürgten staatsfreien) Presse auf Selbstbestimmung des Berichtenswerten nach Art und Ausrichtung, Inhalt und Form unterstrichen wird83. Im Bereich der Rundfunk- und Fernsehordnung gilt eine Pfl icht des Staates zur gesetzlichen Ausgestaltung (nicht: Beschränkung) der Rundfunkfreiheit im Sinne einer positiven Ordnung84. Ziel ist es, die potentielle Macht des Massenmediums Rundfunk anhand der maßgeblichen Kriterien der Staatsferne, Parteiferne und Wirtschaftsferne85 rechtlich zu disziplinieren, damit die Grundstruktur einer pluralistisch verfassten Demokratie nicht gefährdet wird, indem „der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird“86. Während die Staats-, Partei- und Wirtschaftsferne bei öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten durch Aufsichtsgremien mit den Vertretern wichtiger gesellschaftlicher Gruppen „binnenpluralistisch“ objektiv-rechtlich gewährleistet wird, werden private Rundfunkanstalten „außenpluralistisch“ durch gesetzliche Vorgaben auf ein Minimum pluraler Ausgewogenheit verpfl ichtet und beaufsichtigt87. Entscheidend in dieser „dualen“, d. h. durch öffentlich-rechtliche und private Sender geprägten Rundfunkordnung nach Maßgabe einer regelungsintensiven Rundfunkgesetzgebung (der Länder) ist, dass die Entwicklung des privaten Rundfunks nicht irreversibel die demokratienotwendige öffentliche pluralistische Medienordnung und ihre Vielfalt gefähr80

J. Oebbecke, Der Islam und die Reform des Religionsverfassungsrechts, Zf P 55 (2008), S. 49 (57 f.). 81 BVerfGE 20, 162 (175 f.); 66, 116 (133). 82 Vgl. BVerfGE 20, 162 (175); 85, 1 (13); 86, 122 (128); 95, 163 (172 f.); 97, 125 (144). 83 Vgl. Nachweise in Fn. 26 sowie BVerfGE 97, 228 (257); 120, 180 (196 f.). 84 BVerfGE 57, 295 (320); 95, 220 (236); 97, 228 (266 f.), st. Rspr. 85 Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 234. 86 BVerfGE 12, 205 (262 f.); 57, 295 (322, 325). 87 Ausf. Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 5 I, II Rn. 253 ff., 258 ff., 263 ff.

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det – was eine ständige Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber einer einseitig an privaten Rundfunkunternehmern orientierten Rundfunkordnung zugunsten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erklärt und rechtfertigt. Ein Vergleich mit Italien zeigt, dass dort sich die Parlamentsmehrheit über die Verfassungsrechtsprechung demokratiegefährdend hinwegsetzen kann, wenn sie einen Ministerpräsidenten stützt, der als solcher wie zugleich als Rundfunkunternehmer sechs Fernsehsender maßgeblich beeinflussen kann, die von insgesamt 90% der Fernsehzuschauer gesehen werden88. Demgegenüber ist die Religionsfreiheit auch für die Kirchen und ihr öffentliches Wirken – etwa auch in Gremien der Rundfunkaufsicht – Teil der politischen Kultur in der pluralistischen Demokratie, doch sind die institutionellen Strukturen den religiösen Eigengesetzlichkeiten dieser Religionsverfassung geschuldet, nicht primär der Sicherung der pluralistischen Demokratie, auch wenn sie zur Pluralität des freien politischen und geistigen Prozesses der Öffentlichkeit beitragen. Deshalb brauchen die Religionsgemeinschaften auch als Körperschaften des öffentlichen Rechts sich nur legal verhalten und dürfen sich indifferent gegenüber dem demokratischen Staat verhalten, etwa indem sie eine Teilnahme ihrer Mitglieder an politischen Wahlen oder die Erfüllung des Wehr- und Wehrersatzdienstes ablehnen89, solange es bei der bloßen Verweigerungshaltung ohne religiösen Anspruch auf eine aktive Umgestaltung des Staates bleibt90. Die relativ hohen Anforderungen an die innere Organisation von Religionsgemeinschaften als Voraussetzung einer Teilhabe an der Kooperation mit dem Staat (z. B. beim staatlichen Religionsunterricht) lassen die Durchsetzung solcher (kollektiven) Teilhabe deutlich schwieriger erscheinen als die individualrechtliche Abwehr von staatlichen Freiheitsbeschränkungen91.

4. Die Kontrolldichte der Verfassungsrechtsprechung Durch die Anerkennung der objektiven Dimension von Meinungs- und Glaubensfreiheit bei der Auslegung des Gesetzesrechts kann jeder gerichtlich streitige Problemfall zu einem Verfassungsproblem werden (s. o. II.1.). Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht als Institution bei beiden Grundrechten einen erheblichen Bedeutungsgewinn erfahren, kann es doch die gesamte einfachgesetzliche Rechtsordnung mit seiner verfassungsrechtlichen Deutung imprägnieren und auf diese Weise „konstitutionalisieren“92. Diese erweiterte Prüfungskompetenz aufgrund der objektiven Grundrechtsdimensionen machte das Bundesverfassungsgericht praktisch zum „höchsten“ Gericht auch gegenüber der Fachgerichtsbarkeit. Hierbei ist schon allge88

Ausf. Belege bei K. Serini, Sanktionen der Europäischen Union bei Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip, 2009, S. 202 ff., 225 ff., 237 ff., 252 ff. 89 BVerfGE 102, 370 ff.; a. A. BVerwGE 105, 117 ff. 90 Augsberg, Noli me tangere (Fn. 19), S. 254 f. 91 Oebbecke, Islam (Fn. 80), S. 58; s. auch R. Poscher, Totalität – Homogenität – Zentralität – Konsistenz. Zum verfassungsrechtlichen Begriff der Religionsgemeinschaft, Der Staat 39 (2000), S. 45 (57 ff.). 92 Vgl. BVerfGE 7, 198 (209); G. F. Schuppert / C. Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000.

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mein eine genaue Abgrenzung von einfachen Gesetzesverstößen, über die zu befi nden nur die Fachgerichtsbarkeit zuständig ist, von „spezifischen Verfassungsrechtsverletzungen“, die das Bundesverfassungsgericht prüfen und rügen darf, theoretisch ungelöst93. Speziell bei der Meinungsfreiheit geht das Bundesverfassungsgericht aber noch weiter als sonst. Die Prüfungsintensität geht hier über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht sonst als Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ ansieht; eine solche liegt (stets) vor, wenn Gerichtsentscheidungen „auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen“94. Weil das Bundesverfassungsgericht den Inhalt einer Meinungsäußerung und seine Deutungsvarianten inhaltlich genau kennen will und muss, um eine Verfassungskonformität oder Verfassungsverletzung zu erkennen, beansprucht es im Konfl iktfall für sich eine Interpretationsmacht hinsichtlich der tatsächlichen Meinungsäußerungen im Blick auf die jeweils denkbaren verfassungskonformen Deutungsvarianten95 nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums96. Diese Prüfung ist im Blick auf die Tatsachenüberprüfung intensiver als sonst, auch wenn es die Anforderungen an die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung in ein enges Gewand von prozeduralen Anforderungen und Begründungslasten für die Fachgerichte kleidet97. Das Bundesverfassungsgericht wirkt insoweit bei der Prüfung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG faktisch wie eine fachgerichtliche „Superrevisionsinstanz“; diese überprüft auch sonst nicht mehr den tatsächlichen Prozessstoff selbst, sondern den prozeduralen Umgang mit ihm durch die gerichtlichen Vorinstanzen. Dieser Vorrang von Verfassung und Verfassungsgericht mit ihrer erweiterten Prüfungsbefugnis führte zu einer oft monierten „Verrechtlichung“ der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, also die Lösung politischer Konfl ikte in gerichtsförmigen Verfahren oft auch unter Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts; darin lässt sich vor dem Hintergrund der historischen Belastungen der politischen Demokratie in Deutschland ein funktionales Äquivalent für das in anderen Ländern durch eine jahrhundertelang gewachsene demokratische Tradition entstandene Vertrauen in den politischen Prozess und die ihn gestaltenden politischen Institutionen („politische Kultur“) sehen98. Demgegenüber ist die Verfassungsjudikatur zum Selbstverständnis von einzelnen Gläubigen oder von Religionsgemeinschaften zu deren Gunsten sehr großzügig. Vor dem Hintergrund der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates verzichtet die Rechtsprechung weitgehend auf eine Definition von Begriff und Inhalt der Religion; Verwaltung und Rechtsprechung beschränken sich insoweit auf eine Plausibilitätskontrolle99 bei der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG für den 93

Vgl. nur Schulze-Fielitz, Lüth-Urteil (Fn. 1), S. 55 m. w. N. Vgl. z. B. BVerwGE 86, 101 (129); grdl. E 18, 85 (93) = „Hecksche Formel“. 95 Vgl. BVerfGE 82, 43 (52); 93, 266 (295); Grimm, Meinungsfreiheit (Fn. 67), S. 1700 f. 96 BVerfGE 93, 266 (295); 114, 339 (348). 97 Ausf. Paetzold, Maßstäbe (Fn. 9), S. 520 ff., 547 f. 98 W. Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in den USA und Europa, JZ 2003, S. 269 (273, 274). 99 Vgl. BVerfGE 83, 341 ff. 94

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einzelnen oder auch für Religionsgemeinschaften. Anders als bei der Prüfung des Meinungsinhalts ist die Kontrolldichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich religiös-weltanschaulicher Inhalte als Religion insoweit deutlich zurückgenommen, indem weithin das Selbstverständnis der Gläubigen oder ihrer Glaubensgemeinschaften von ihrer Religion als Religion akzeptiert wird.

III. Neue Herausforderungen 1. Meinungsfreiheit: Folgen der Globalisierung Das deutsche Verständnis von Meinungsfreiheit steht zunehmend unter dem Veränderungsdruck, wie er sich aus den Folgen der Globalisierung (oder Internationalisierung) ergibt. Das Bundesverfassungsgericht hatte in einer jahrzehntelangen Rechtsprechungstradition zum konfl ikthaften Verhältnis von Meinungsfreiheit, namentlich in den Massenmedien, und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht derer, über die in Massenmedien berichtet wird, eine eigene Rechtsprechungsdogmatik entwickelt. Für das spezielle Problem von Abbildungen Prominenter in Presseorganen liegt diese Judikatur tendenziell auf einer Kompromisslinie zwischen dem sehr ausgeprägten Schutz der Persönlichkeit und ihrer Privatsphäre etwa im französischen Recht und einem ausgeprägten Schutz der Pressefreiheit im Common-Law-Rechtskreis. Die Internationalisierung der Grundrechtsjudikatur durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Europäischen Gerichtshof, auch auf Basis der Europäischen Grundrechte (= allgemeinen Rechtsgrundsätze bzw. Grundrechte-Charta), führt nicht nur zu institutionellen Konfl ikten und Vorrangansprüchen zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit, sondern auch zu materiellen Verschiebungen bei der inhaltlichen Problemlösung. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Persönlichkeitsschutz Prominenter im Sinne eines strengeren Persönlichkeitsschutzes korrigiert100, indem die Abbildung von Nichtpolitikern als (zuvor) „relativen Personen der Zeitgeschichte“ nun eingeschränkt wird; er hat dabei die Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs entdifferenziert, indem er z. B. deutlich pauschal(er) das öffentliche Interesse an der Abbildung von Nicht-Politikern i. S. von „nur“ gesellschaftlich Prominenten weitgehend für unbeachtlich hält. Die nationalen Verfassungsgerichte müssen diese Rechtsprechung einerseits berücksichtigen; sie versuchen andererseits Einzelfälle mit angeblich fehlender systematischer Bedeutung zu relativer Bedeutungslosigkeit im Grundsätzlichen umzuinterpretieren. Die deutsche Rechtsprechung hat demgemäß ihre frühere dogmatische Figur der „relativen Personen der Zeitgeschichte“ aufgegeben und sich zugunsten einer stärkeren Orientierung an den Umständen des Einzelfalls korrigiert101 mit der 100 EGMR NJW 2004, S. 2647 ff. – Caroline von Monaco; dazu als Reaktionen etwa einerseits R. Stürner, Caroline-Urteil des EGMR – Rückkehr zum richtigen Maß, Af P 2005, S. 213 ff.; andererseits H. Gersdorf, Caroline-Urteil des EGMR – Bedrohung der nationalen Medienordnung, Af P 2005, S. 221 ff. 101 Vgl. BGH NJW 2007, S. 1981 f.; dazu näher C. Teichmann, Abschied von der absoluten Person der Zeitgeschichte, NJW 2007, S. 1917 ff.; weiterhin aus jüngerer Zeit J. Stender-Vorwachs, Bildbericht-

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Folge, dass diese Umstände keineswegs klarer als vorher abgegrenzt und die Entscheidungsergebnisse eindeutig prognostiziert werden könnten. Generell ist durchaus ungeklärt, ob und wie weit sich die materiellrechtlichen Maßstäbe für solche Konfl ikte auf europaweit einheitliche Standards einpendeln könnten und/oder auch nur sollten. Eine andere ungelöste Konfl iktlinie ergibt sich aus der Internationalisierung der Kommunikation durch das staatsgrenzenüberschreitende World Wide Web, weil Verbote von Meinungsinhalten von Staat zu Staat unterschiedlich geregelt sind – man denke nur an das Verbot von NS-Symbolen in Deutschland, das in den meisten Ländern der Welt unbekannt ist, oder die Bekämpfung der Kinderpornographie. Nationale gesetzliche Verbote und Zugangssperren durch Access-Provider, so symbolisch sie oft nur sein können, eröffnen schrittweise Wege zur Internet-Zensur102, die Begehrlichkeiten auch hinsichtlich anderer unerwünschter Inhalte wecken. Sie könnten die Freiheit von Information und Kommunikation empfi ndlich relativieren, jedenfalls das konstitutive Vertrauen der westlichen Verfassungsstaaten in die vernunftstärkende und daher überlegene Kraft der freien Kommunikation dementieren. Die politische und wissenschaftliche Diskussion steht hier erst ganz am Anfang.

2. Religionsfreiheit: Folgen der Entkonfessionalisierung und Islamisierung Auch die Glaubensfreiheit steht vor neuen Herausforderungen, die nicht so sehr in einer abweichenden vorrangigen Rechtsprechung internationaler Gerichts gründen, sondern in tatsächlichen Veränderungen, deren Bewältigung nach Maßgabe des geltenden Staatskirchenrechts nicht so gewiss ist wie seine Verfechter mitunter glauben machen wollen103. Einerseits verlieren tatsächlich die Großkirchen infolge einer jedenfalls organisatorisch gelockerten religiösen Orientierung ständig Mitglieder; zudem wurde Deutschland durch die Wiedervereinigung überwiegend um konfessionslose, im Sozialismus atheistisch erzogene Bürger der DDR bereichert. In Deutschland gehören heute nur noch drei Fünftel aller Bürger einer der beiden Großkirchen an; im Land Brandenburg sind drei Viertel der Bürger konfessionslos. Dieser Bedeutungsschwund von Christentum und Kirche in der Gesellschaft stellt die herkömmliche, von den beiden christlichen Großkirchen geprägte religionsrechtliche Struktur in Frage104, so sehr jene die größten gesellschaftlichen Organisationen mit großem Einflusspotential bleiben. Deshalb dürfte die Rolle der – auch historisch vorrangigen erstattung über Prominente – Heide Simonis, Sabine Christiansen und Caroline von Hannover, NJW 2009, S. 334 ff.; BVerfGE 120, 180 (199 ff., 210 ff.); dazu näher W. Hoffmann-Riem, Die Caroline IIEntscheidung des BVerfG, NJW 2009, S. 20 ff. 102 A. Marberth-Kubicki, Der Beginn der Internet-Zensur, NJW 2009, S. 1792 ff. 103 Vgl. aber C. Walter, Religiöse Freiheit als Gefahr? Eine Gegenrede, DVBl. 2008, S. 1073 (1080); s. auch U. Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion, 2008, S. 81, 112 u. ö.. 104 Vgl. (zuletzt) Waldhoff, Religionskonfl ikte (Fn. 34), S. 13 ff., S. 66 ff.; Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 313 ff.; ausf. Classen, Religionsfreiheit (Fn. 21), S. 2 f. u. ö.; J. Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: ders. / W. Rees / W. Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 67 (79 ff.). – Noch in den 1960er Jahren gehörten in der Bundesrepublik 95% der Bürger einer der beiden Großkirchen an, vgl. Sacksofsky, Freiheit (Fn. 18), S. 11.

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– negativen Religionsfreiheit105 in Abwehr gegenüber staatlichen Formen der positiven Religionsförderung zugunsten Dritter an Bedeutung zunehmen106 : Das Kruzifi x-Urteil des Bundesverfassungsgerichts107 (wie auch das des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für Italien108, entsprechend der französischen Rechtstradition109 ), das die Anbringung von Kruzifi xen in den Klassenräumen staatlicher Grundschulen gegen den Willen einzelner Eltern als Verstoß gegen die negative Glaubensfreiheit der Kinder qualifiziert hat, oder der Vorrang des Ethik-Unterrichts gegenüber dem Religionsunterricht in den Ländern Berlin und Brandenburg110 sind möglicherweise Symptome für solche tiefer gehenden Veränderungen und nicht bloß „fehlerhafte“ Abweichungen von der herkömmlichen grundrechtlichen Judikatur, die die negative Religionsfreiheit zulasten der positiven Religionsfreiheit vermeintlich überdehnen. Kehrseite ist eine Aufwertung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates111, die die herkömmliche positive Förderung einzelner, namentlich christlicher und jüdischer Religionsgemeinschaften oder kirchliche Privilegien112 i. S. „verständnisvoller Neutralität“113 vor wachsende Begründungslasten stellt114. Andererseits stellen das Wachstum des Islams, konkret bald vier Millionen in Deutschland lebende Muslime das deutsche Religionsverfassungsrecht vor neue Probleme115. Während ein Teil der Lehre nicht nur den kleineren oder „neuen“ Sekten, sondern insbesondere auch dem Islam die Inanspruchnahme staatskirchenrechtlicher Gewährleistungen versagen will116, plädiert die wohl unverändert herrschende Auffassung für die grundsätzliche Beibehaltung der Ausformung des geltenden Staatskirchenrechts i. S. einer Offenheit als Rahmenrecht für alle Religionen, die sich vor dem Hintergrund einer „positiven“ Neutralität des Staates i. S. eines ständigen Prozesses einer Reproduktion der Ausdifferenzierung von religiösem und politischem 105

v. Campenhausen (Fn. 4), § 157 Rn. 128. Tiefgründig krit. aber Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 318 ff. 107 BVerfGE 93, 1 ff.; zur verfassungskonformen Auslegung der Folgegesetzgebung in Bayern: BVerwGE 109, 40 ff. 108 EGMR, Urt. vom 3. 11. 2009, Beschwerde Nr. 30814/06 – Lautsi; krit. I. Augsberg / K. Engelbrecht, Staatlicher Gebrauch religiöser Symbole im Licht der Europäischen Menschenrechtskonvention, JZ 2010, S. 450 ff. 109 Vgl. von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit (Fn. 57), S. 89 ff., 118 ff. 110 Vgl. BVerfGE 104, 305; 106, 210; ausf. S. Korioth / I. Augsberg, Ethik- oder Religionsunterricht?, ZG 24 (2009), S. 222 ff. 111 Genau entgegengesetzt (gegen den „Mythos der Neutralität“ und für eine staatliche „Religionspolitik“) C. Hillgruber, Staat und Religion, 2007, S. 47 ff., 71 ff. 112 Empirische Belege bei H. Rottleuthner, Wie säkular ist die Bundesrepublik?, in: M. Mahlmann / ders. (Hrsg.), Ein neuer Kampf der Religionen?, 2006, S. 13 (30 ff.). 113 Di Fabio, Gewissen (Fn. 103), S. 116. 114 Am Beispiel der Existenz theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten vgl. BVerfGE 122, 89 (108 ff.) und krit. C. Bäcker, Staat, Kirche und Wissenschaft, Der Staat 48 (2009), S. 327 (331 ff.); dagegen H. M. Heinig, Wie das Grundgesetz (vor) Theologie an staatlichen Hochschulen schützt, Der Staat 48 (2009), S. 615 ff. 115 Ausf. S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008; zur europäischen Ebene P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 524 ff. 116 Z. B. A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 453 ff., 458 ff.; C. Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, JZ 1999, S. 538 (545); Isensee, Zukunftsfähigkeit (Fn. 104), S. 85 ff.; zuletzt wieder ders., Integration mit Migrationshintergrund, JZ 2010, S. 317 (321); krit. Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 347 ff. 106

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System117 nach ihrem Selbstverständnis sollen entfalten können118. Die „positive“ Neutralität wird dabei teilweise im Gegensatz zu einer formalen Gleichbehandlung als „Diversity Management“ betrachtet, das nicht nach den bewährten Mustern der Kooperation mit den christlichen Kirchen erfolgen soll119. Solches kann zu ungeahnten positiven Ansprüchen führen, etwa dem eines muslimischen Schülers auf räumliche Gebetsmöglichkeiten in den Unterrichtspausen auf einer staatlichen Schule120. Die vom Bundesverfassungsgericht nahegelegte länderspezifische gesetzliche Regelung des Tragens von Kopftüchern von Lehrerinnen121 ist der Versuch, solche Entfaltung regional differenzierten Regeln zuzuführen. Er hat sich faktisch durch eine Vielzahl landesgesetzlicher Verbote zulasten der Religionsfreiheit muslimischer Frauen ausgewirkt122. Auch das bestehende staatskirchenrechtliche System einer Privilegierung von Religionsgemeinschaften als organisatorisch stark verselbständigten Körperschaften des öffentlichen Rechts enthält einen bias zulasten solcher Religionsgemeinschaften, die (wie der Islam) weniger organisationsaffin sind123 ; das zeigt sich auch bei der Frage eines islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Schulfach124. Andere sehen in einer interpretatorischen Verengung des grundrechtlichen Tatbestandes des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem Verständnis von Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV als grundrechtlichem Schrankenvorbehalt ein aufgrund des Verfassungswandels gebotenes Mittel, staatlich-gesetzgeberische Grenzziehungen zu stärken125. Bedingung für die Funktionsfähigkeit eines solchen regional orientierten Rechtsrahmens ist freilich in jedem Fall die Subordination der Religionsgesellschaften unter die weltliche Staatsgewalt unter Anerkennung der gleichen Religionsfreiheit für alle. Die Religionsfreiheit muss dort ihre Grenzen fi nden, wo sie durch eigene Totalisierungskonzeptionen die Differenz von Religion einerseits und Recht oder Politik andererseits zugunsten eines religionsgeprägten Rechtssystems oder einer glaubens-

117

In diesem Sinne Ladeur/Augsberg, Toleranz (Fn. 63), S. 86. Heckel, Zukunftsfähigkeit (Fn. 17), S. 364 ff., 368 ff.; Hofmann, Religionsverfassung (Fn. 32), S. 220 ff.; Oebbecke, Islam (Fn. 80), S. 59 ff. 119 So Ladeur/Augsberg, Toleranz (Fn. 63), S. 91 f.; in die Gegenrichtung geht das Konzept der Begründungsneutralität, vgl. Huster, Neutralität (Fn. 54), pass.; ders., Neutralität ohne Inhalt?, JZ 2010, S. 354 ff.; krit. H. M. Heinig, Verschleierte Neutralität, JZ 2010, S. 357 ff. 120 Positiv bejaht von VG Berlin NVwZ-RR 2010, S. 189 (190 ff.), mit zust. Anmerkung C. Correll, DVBl. 2010, S. 133 ff. 121 BVerfGE 108, 282 (309 ff.); zu den gesetzgeberischen Folgeaktivitäten auf Länderebene Hofmann, Religionsverfassung (Fn. 32), S. 204 ff.; ausf. C. Sicko, Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Umsetzung durch die Landesgesetzgeber, 2008. 122 So A. Liedhegener, Religionsfreiheit und die neue Religionspolitik, Zf P 55 (2008), S. 84 (96 ff., 100 ff.). 123 Oebbecke, Islam (Fn. 80), S. 58; Classen, Religionsfreiheit (Fn. 21), S. 74 ff. 124 Vgl. BVerwGE 123, 49 ff.; Waldhoff, Religionskonfl ikte (Fn. 34), S. 92 ff.; N. Coumont, Islam und Schule, und S. Muckel / R. Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Muckel, Islam (Fn. 115), S. 440 (551 ff.) bzw. S. 234 (266 ff.); Ladeur/Augsberg, Toleranz (Fn. 63), S. 92 ff.; ausf. W. Bock (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007. 125 Schoch, Grundrechtsdogmatik (Fn. 18), S. 158 ff., 163 ff.; krit. C. Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 47 (73 f.). 118

Meinungs- und Religionsfreiheit im Vergleich

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geleiteten Politik fundamentalistisch bedroht126. Das ist jedenfalls bei der Anwendung von Gewalt oder ihrer Propagierung der Fall127. Ein Relativismus des eigenen Wahrheitsanspruchs der Religionen widerspricht heute („noch“?) dem Selbstverständnis des Islam im Kern128 und könnte deshalb auch im Vorfeld von physischer Gewaltanwendung vor neuartige Probleme stellen, nicht nur im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Die Pfl icht zur Toleranz129 der Religionsgemeinschaften auch im Verhältnis untereinander ist ein unverzichtbares Minimum. Die Religionsfreiheit schützt nicht vor unfreiwilligen Konfrontationen mit anderen Religionen und mit polemischer öffentlicher Religionskritik130, die wie auch sonst nur i. S. einer (widerleglichen) Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede in der demokratischen Öffentlichkeit nach den Grundsätzen der Verfassungsjudikatur zu Art. 5 GG gewürdigt werden muss. Die Bewahrung des strikten Vorranges der individuellen Meinungsund Glaubensfreiheit als geistiger Äußerungsfreiheit erscheint insoweit als ein zentraler Indikator, ob dem historischen Projekt des westlichen Verfassungsstaats dauerhaft Erfolg beschieden sein kann131.

126 Augsberg, Noli me tangere (Fn. 19), S. 249 f., 257; Möllers, Freiheit (Fn. 125), S. 67, 72; unklar Heinig, Verschärfung (Fn. 54), S. 1139. 127 Vgl. Sacksofsky, Freiheit (Fn. 18), S. 32. 128 v. Campenhausen (Fn. 4), § 157 Rn. 46; Hillgruber, Staat (Fn. 111), S. 83 ff.; sehr differenziert Ladeur/Augsberg, Toleranz (Fn. 63), S. 74 ff.; anders für den Islam unter den Bedingungen einer Diaspora D. Zacharias, Islamisches Recht und Rechtsverständnis, in: Muckel, Islam (Fn. 115), S. 43 (155 ff.). 129 Zu dessen ambivalenter Herausforderung eindringlich Ladeur/Augsberg, Toleranz (Fn. 63), S. 28 ff. 130 Möllers, Freiheit (Fn. 125), S. 77; Di Fabio, Gewissen (Fn. 103), S. 69; s. auch BVerfGE 93, 1 (16). 131 Vgl. gleichsinnig H. Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: ders. / E. Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S. 11 (25 f., 27 f.).

Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG Überlegungen aus Anlass der Ausnahme-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 11. 2009 von

Stefan Martini, Hamburg* Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die neuen allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Kombinationsformel zum politischen Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Doppelte Blindheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Meinungsneutralität in Analogie zu Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Universalschranke des Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Vorher und Nachher der Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen für § 130 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Annäherung an amerikanisches Verständnis der Meinungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die historisch begründete Ausnahme zu den allgemeinen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Entstehungskontext zum Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsimmanente Ausnahme vs. verfassungsimmanentes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Ausnahme- und Regelcharakter der Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übereinstimmung mit der EMRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sichtbare und unsichtbare Schichten deutscher Verfassungsidentität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Andreas v. Arnauld, Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht und Europarecht, an der Helmut-Schmidt-Universität. Ich danke Andreas von Arnauld, Mathias Hong und Matthias Kötter herzlich für wertvolle Hinweise, Anregungen und Kritik.

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I. Einleitung Das Ideal demokratischer Rechtsstaatlichkeit sieht staatliches Handeln von allgemein geltenden Regeln bestimmt, die sich ein parlamentarisch repräsentiertes Volk gegeben hat.1 Das Gegenbild ist die freie hoheitliche Entscheidung über einen Ausnahmefall: Sie setzt sich willkürhaft und rechtsstaatswidrig über den normativen Anspruch der Regel hinweg. Nichtsdestotrotz suchen nicht gesetzlich vorgeprägte Situationen, die Umstände des Einzelfalls unter dem Schirm des allgemeinen Gesetzes ihr Recht – ihren Ansprüchen wird im Rahmen von Ausnahme- und Übergangsvorschriften sowie mit Billigkeitsentscheidungen in der Rechtsanwendung begegnet.2 Einzelfallausnahmen sind gerechtfertigt, weil sie einem Verlust an Rechtlichkeit vorbeugen. Das Leitbild aber besteht: Die Regel bleibt die Regel, die Ausnahme die Ausnahme.3 Über Ausnahmen deutscher Verfassungsregeln entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Seine letztverbindlichen Aus- und Weiterdeutungen grundgesetzlicher Normen sind vom Volkssouverän (mittelbar) legitimiert, in aller Regel aber nicht kontrolliert bzw. im änderungsfesten Kern und in Anbetracht der politischen Realitäten nicht kontrollierbar. Daraus ergeben sich methodische Skrupel und umstrittene Kompetenzgrenzen, an denen sich Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts messen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nun kürzlich als wahrer Verfassungssouverän gezeigt, als es am 4. 11. 2009 darüber beschloss, ob das versammlungsrechtliche Verbot einer Rudolf-Heß-Kundgebung von 2005 in Wunsiedel4 gegen Grundrechte des Veranstalters, Jürgen Rieger, verstößt: 5 Zum einen setzten sich die acht Richter des Ersten Senats – unter Federführung des Berichterstatters Johannes Masing6 – ausnahmsweise über den Tod des Beschwerdeführers hinweg, der in der Regel zur Erledigung des Verfahrens führt.7 Zum anderen und Entscheidenden: Sie hoben eine – bis anhin unbekannte8 – Ausnahme aus der grundgesetzlichen Taufe, mit der sie Sonderrecht gegen verherrlichende Akte des historischen Nationalsozialismus gegen den von ihnen konkretisierten Sinn der allgemeinen Gesetze aus Art. 5 Abs. 2 GG für grundgesetzkonform erklären. Versammlungsverbote bzw. die ihm zugrunde lie1

S. G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 14 ff., 174 ff. A. v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 222, 336 ff., 639. 3 V. Arnauld (Fn. 2), S. 654 ff.; dort auch zur Tendenz, die Billigkeit zu verregeln. Vgl. zur dirigierenden Wirkung einer Ausnahme BVerfG, NJW 2010, 833 (839). 4 Bestätigt durch BVerwGE 131, 216. 5 BVerfG, EuGRZ 2009, 631. 6 In der Online-Version des Beschlusses (http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20091104_ 1bvr215008.html) war die Berichterstattung Masings unüblicherweise und wohl versehentlich dadurch zu erkennen, dass sein Name zwischen dem Urteilstext und den Unterschriften der Richter gesondert aufgeführt war – dieses Versehen ist mittlerweile behoben. 7 Z. B. in BVerfGE 109, 279 (304); BVerfG, NJW 2007, 351. Unter Anschluss an BVerfGE 6, 389 (442), wurde das Verfahren wegen Entscheidungsreife (Rieger starb sechs Tage vor Entscheidungsdatum) und objektiver verfassungsrechtlicher Bedeutung (s. § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG) fortgeführt, BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (636). 8 S. allerdings C. Degenhart, in: R. Dolzer (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 und 2 ( Juli 2006) Rn. 195. 2

Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG

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gende Strafnorm des § 130 Abs. 4 StGB können nun auf diese neu geschöpfte Ausnahme gestützt werden. Während erste wissenschaftliche Reaktionen die unsichtbare „Schranken-Schranken-Schranke“ ablehnen,9 wurde die Ausnahme-Entscheidung in der Tagespresse verhalten wohlwollend aufgenommen.10 Das Unbehagen an der methodischen Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts wird jedenfalls im öffentlichen Diskurs durch den politisch-moralischen Gewinn aufgehoben: Gedenkmärsche zu Ehren Rudolf Heß’ können in Zukunft verboten werden.11 Da die Kundgabe nationalsozialistischer Einstellungen an den Grundfesten deutschen Gründungskonsenses nach 1945 rührt, ist es ein allgemein geteiltes Ansinnen, diese zu verhindern. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bildet dabei nur den Schlussstein der mehr oder weniger konzertierten Aktivitäten, rechtsextremistische Platzbehauptungen im öffentlichen Raum mit rechtlichen Mitteln zu bekämpfen.12 Seit 1988 der einstige „Stellvertreter“ Adolf Hitlers, Rudolf Heß, in Wunsiedel beigesetzt wurde, versuchte Jürgen Rieger, Gedenkkundgebungen juristisch durchzusetzen. War er zunächst erfolgreich, wurden von 1991 bis 2000 die Kundgebungen verboten.13 Seit 2001 konnte Rieger dank der fachgerichtskritischeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Aufmärsche wieder durchsetzen.14 Die Aufmärsche, die Umgehung ihrer Verbote sowie Rudolf Heß selbst sind im Laufe der Jahre für die rechtsextremistische Szene zu einem gemeinschaftsstiftenden Bezugspunkt geworden.15 Mit der Einführung des § 130 Abs. 4 StGB, der die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung des Nationalsozialismus pönalisiert, bekamen die Versammlungsbehörden im Jahr 2005 ihr bislang neuestes juristisches Mittel in die Hand, Wunsiedelmärsche zu verhindern. Riegers Anträge auf einstweilige Anordnung zur Auf hebung der sofortigen Vollziehung der versammlungsrechtlichen Verbote, die auf § 130 Abs. 4 StGB gestützt waren, hatten regelmäßig keinen Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht.16 Die Entscheidung in der Hauptsache beendet nun eine 20 Jahre währende Auseinandersetzung, die der bei seinem Tod stellvertretende NPD-Vorsitzende letztlich verlor.

9 S. nur G. Bertram, NJW 2009, Heft 50, XII (XII): „schiere Rechtssetzung“, T. Holzner, DVBl. 2010, 48 (50): „Relativierung von Art. 5 Abs. 1 GG“. Eindeutig zustimmend bislang wohl nur L. Rauer, Rechtliche Maßnahmen gegen rechtsextremistische Versammlungen, 2010, S. 152. 10 Z. B. H. Prantl, „Verwüstete Erinnerung“, SZ v. 17. 11. 2009; S. Geiger, „Karlsruhe stärkt die Meinungsfreiheit“, Stuttgarter Zeitung v. 18. 11. 2009. 11 Der Gedenkaufzug für Jürgen Rieger konnte hingegen stattfi nden, s. VGH München, Beschluss v. 13. 11. 2009, 10 CS 09.2811 ( juris). 12 S. U. Volkmann, JZ 2010, 209 ff. Zu außerrechtlichen Mitteln W. Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777 (2780 f.). 13 S. T. Dörfl er / A. Klärner, Mittelweg 36, 4/2004, 74 (75). 14 BVerfG, NJW 2001, 2069 (2070); NJW 2000, 3053 gegenüber noch BVerfG, EuGRZ 1997, 522; VGH München, BayVBl. 1993, 658; BVerfG, NVwZ 1992, 54. Konkret VGH München, Beschluss. v. 17. 8. 2001, 24 ZS 01.2097 ( juris); VGH München, BayVBl. 2003, 52; BVerfG, NJW 2003, 3689. 15 S. Dörfl er / A. Klärner (Fn. 13), 74 ff. 16 Zuletzt, BVerfG, Beschluss v. 10. 8. 2009, 1 BvQ 34/09 ( juris). S. auch BVerfG, NVwZ-RR 2008, 73; BayVBl. 2006, 760; NJW 2005, 3204.

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Der neue Beschluss hat nicht nur wegen der die Öffentlichkeit aufregenden Versammlungen Brisanz – zu deren Abregung er beitragen dürfte17 –, sondern wegen seiner bemerkenswerten Grundentscheidungen. Die Schranken der Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 2 GG werden neu justiert (II.). Art. 5 Abs. 1 und 2 GG wird ein neuer Baustein – die Einschränkbarkeit von Meinungen, die sich auf den historischen Nationalsozialismus beziehen, – hinzugefügt (III.). Diese Neuerungen werden im Folgenden erläutert und methodisch befragt. Überdies sagt der Beschluss etwas über das Selbst- und Selbstverständigungsverständnis der deutschen Gesellschaft und deren Tabuhaushalt aus, die beide (u. a.) durch das Grundgesetz verkörpert und durch das Bundesverfassungsgericht beeinflusst werden (IV.).

II. Die neuen allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG Für auf und durch Versammlungen ausgedrückte Ansichten ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) das gegenüber der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) speziellere Grundrecht.18 Hilfsweise lässt sich die Vorhand der Meinungsfreiheit mit dem gegenüber Art. 8 Abs. 2 GG verstärkten Schutz des qualifizierten Schrankenvorbehalts von Art. 5 Abs. 2 GG stützen. Nach Art. 5 Abs. 2 (1. Alt.) GG darf nicht jedes Gesetz die Meinungsfreiheit einschränken; die Einschränkung des „Gesetz“gebers19 geht weiter: das Gesetz hat „allgemein“ zu sein.20 Jurastudierende vieler Generationen lernten, dass das Bundesverfassungsgericht „allgemeine Gesetze“ mit der so genannten Kombinationsformel konkretisiert.21 Sollten deren Voraussetzungen einmal nicht erfüllt sein, konnte man stets auf die zwei Notanker aus Art. 5 Abs. 2 GG, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend sowie das Recht der persönlichen Ehre, zurückgreifen. Nicht nur die Studierenden müssen nach dem Wunsiedel-Beschluss umlernen.

1. Von der Kombinationsformel zum politischen Diskriminierungsverbot Seit dem Lüth-Urteil von 1958 galt die erwähnte Kombinationsformel als Bundesverfassungsgerichtsrecht; regelmäßig und nahezu wörtlich zitierte sie das Bundesverfassungsgericht.22 Nach der Kombinationsformel sind nur die Gesetze „allgemein“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang 17

Vgl. U. Volkmann, NJW 2010, 417 (419). BVerfGE 111, 147 (154 f.); 90, 241 (246). 19 „Gesetz“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 ist weit zu verstehen, s. BVerfGE 34, 269 (284 ff.). 20 Nach Kirchhof (Fn. 1), S. 238, ist Art. 5 Abs. 2 eine Spezialausprägung von Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG. 21 S. nur B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte, 25. Aufl. 2009, Rn. 637. Vgl. auch für ein Forum der allgemein interessierten Öffentlichkeit K. Stamm, APuZ B 37–38 (2001), 16 (20). 22 BVerfGE 26, 186 (205); 28, 175 (185 f.); 28, 282 (292); 42, 133 (140 f.); 49, 24 (68); 50, 234 (241). Nicht sehr deutlich E 74, 297 (343). 18

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hat.23 In einer späteren Entscheidung wurde die Definition derart abgewandelt, als vom zu schützenden Rechtsgut jedenfalls Gleichrangigkeit mit der Meinungsfreiheit gefordert wurde.24 Mit seiner Interpretation kombinierte das Bundesverfassungsgericht zwei Varianten der Sonderrechtslehre sowie die Abwägungslehre, die in der Weimarer Republik nebeneinander vertreten wurden – ermöglicht wurde der Rückbezug dadurch, dass der Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV den gleichen Begriff wie Art. 5 Abs. 2 verwendete. Nach Häntzschel durfte ein allgemeines Gesetz kein „Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit“ bilden, sich also nicht gegen die „rein geistige Zielrichtung von Meinungen“ richten (1. Aspekt der Lüth-Formel).25 Rothenbüchers Sonderrechtsauffassung ging weiter: Nach ihr dürften sich allgemeine Gesetze nicht gegen eine „Meinung als solche“ wenden; sie hätten dem Schutze „eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes (zu) dienen“26 (1. und 2. Aspekt27): Das Bundesverfassungsgericht verknüpft den ersten und zweiten Aspekt mithilfe des Wortes „vielmehr“, das sich im Wunsiedel-Beschluss nicht wiederfindet, sondern durch ein „sondern“ ersetzt wird.28 Smend formulierte schließlich die Abwägungslehre, die den Vorrang eines materialen Gemeinschaftswerts gegenüber der Meinungsfreiheit fordert (3. Aspekt).29 Nach der Formel aus dem Lüth-Urteil müssen alle drei Aspekte kumulativ, nicht bloß alternativ vorliegen, um die Allgemeinheit eines Gesetzes zu begründen.30 Spätestens seit 1981 ist allerdings das Vorrangelement der Kombinationsformel – trotz Zitat des Lüth-Urteils – unerwähnt geblieben.31 Das Vorrangerfordernis wurde überdies schon schonungslos offen auf die Anwendung des allgemeinen Gesetzes verschoben.32 Dies mag damit zusammenhängen, dass Abwägung ohnehin in der Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfi ndet, mittels derer die Meinungsfreiheit mit dem unabhängigen Schutzgut abgestimmt wird.33 Eine Verdopplung der Abwägung wird vermieden. Außerdem kann das Aufgehen der summarischen Abwägung in der Ver23

BVerfGE 7, 198 (209 f.). BVerfGE 91, 125 (135). 25 K. Häntzschel, AöR N. F. (10) 1926, 228 (232 f.); ders., in: G. Anschütz / R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1932, S. 651 (659 ff.). 26 K. Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6 (20). S. auch Häntzschel, AöR N. F. (10) 1926 (Fn. 25), 233: fordert allgemein, „nicht gegen den Gedankeninhalt gerichtete (. . .) Gründe (. . .)“, damit meinungsbeschränkende Gesetze als allgemein gelten können. 27 Der zweite Aspekt ist wiederum kombiniert: Das Verbot der Beschränkung einer spezifi schen Meinung verbindet sich mit dem Gebot ein anderes Rechtsgut zu schützen. 28 S. BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (637); vgl. aber BVerfGE 111, 147 (155). 29 R. Smend, VVDStRL 4 (1928), 44 (52). Zustimmend P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 34. 30 Faktische Alternativität konstatiert resignativ M. Jestaedt, Die Meinungsfreiheit und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen – Das Lüth-Urteil zwischen Dogmatisierung und Historisierung, in: B. Rill (Hrsg.), Grundrechte – Grundpfl ichten: eine untrennbare Verbindung, 2001, S. 67 (70). 31 BVerfGE 57, 250 (268) – ohne Verweis auf Lüth; 59, 231 (263 f.); 62, 230 (243 f.); 71, 108 (114); 71, 162 (175); ohne auch nur mittelbaren Verweis auf Lüth 71, 206 (214); 93, 266 (291); 97, 125 (146); 111, 147 (155); 113, 63 (78); 120, 180 (200). S. auch BVerfGE 95, 220 (236): Beschränkung auf Sonderrechtsverbot. 32 BVerfGE 117, 244 (260). 33 S. W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52 (90); S. Huster, NJW 1996, 487 (489 Fn. 23); L. Michael, ZJS 2010, 155 (157). Aus anderen Gründen hält M. Hochhuth, Die Meinungsfreiheit im System des 24

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hältnismäßigkeitsprüfung den Vorwurf entkräften, dass die Abwägung innerhalb der Kombinationsformel die Kumulativität der Kriterien oft überspielen würde.34 Von einer Kombinationsformel lässt sich mithin nur noch im eingeschränkten Sinne sprechen.35

a) Doppelte Blindheitsprüfung Diese Entwicklung greift der Wunsiedel-Beschluss auf und konkretisiert den übrig gebliebenen zweiten Aspekt der Lüth-Formel: Gesetze, die „völlig unabhängig von dem Inhalt einer Meinungsäußerung“36 die Meinungsfreiheit beschränken, sind unproblematisch als allgemeine Gesetze einzuordnen, z. B. § 823 Abs. 1 BGB. Aber auch die Anknüpfung an Meinungsinhalte begründet nicht per se einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 GG, solange die Beschränkung den Schutz bestimmter und anerkannter Rechtsgüter verfolgt.37 Indem sich das inkriminierte Gesetz statt auf den negativen Zweck der Meinungsbeschränkung auf einen anderen (positiven) Zweck ausrichtet, kann über die Meinung hinweggesehen werden, obwohl an sie angeknüpft wird. Diese „sehende Blindheit“ soll die durch Art. 5 Abs. 2 GG bezweckte rechtsstaatliche Distanz des Staates gegenüber Meinungen prinzipiell indizieren.38 Meinungsbeschränkende Gesetze müssen aber eine doppelte Blindheit aufweisen. Das Gebot der Meinungsneutralität wird nicht nur durch die Ausrichtung auf ein (anderes, meinungsneutrales) Schutzgut erfüllt. Allgemeine Gesetze müssen Neutralität gegenüber spezifi schen „Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien“ beweisen. Die prinzipielle Vermutung39 für die Allgemeinheit durch Einhaltung der ersten Blindheitsstufe kann auf einen zweiten Blick widerlegt werden. Neutralität gegenüber bestimmten Meinungen versteht das Bundesverfassungsgericht dabei nicht formal; das Sonderrechtsverbot formuliert einen weichen Maßstab: „Je mehr eine Norm so angelegt ist, dass sie absehbar allein Anhänger bestimmter politischer, religiöser oder weltanschaulicher Auffassungen trifft und somit auf den öffentlichen Meinungskampf einwirkt, desto mehr spricht dafür, dass die Schwelle zum Sonderrecht überschritten ist.“40 Neutralitätsverletzungen des Gesetzgebers können dabei nur durch eine „Gesamtsicht“ bestimmt werden, die den Entstehungskontext der Norm berücksichtigt sowie eine realistische Gesetzesfolgeneinschätzung vornimmt, welche

Grundgesetzes, 2007, S. 74 Fn. 144, das Abwägungselement ebenfalls für überflüssig. Äquivalenz der Gesetzesallgemeinheit mit Güterabwägung bei Häberle (Fn. 29), S. 34 ff. 34 S. z. B. H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art 5 I, II, Rn. 142. 35 S. C. Enders, JZ 2008, 1092 (1094). 36 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (637). 37 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (637 f.). 38 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 39 Tatsächlich scheint es sich nicht um eine Regel-Ausnahme-Norm zu handeln (höchstens um ein empirisch auftretendes Regel-Ausnahme-Verhältnis), sondern um einen zwei Voraussetzungen enthaltenden Tatbestand. 40 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638).

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Gruppierungen „typischerweise“ vom Gesetz und seinen Sanktionen betroffen sein werden.41

b) Meinungsneutralität in Analogie zu Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Um seine Neukonkretisierung zu stützen, greift das Bundesverfassungsgericht auf eine Analogie zum Verbot der Diskriminierung politischer Anschauungen (Art. 3 Abs. 3 S. 1 Alt. 9 GG) zurück.42 Nicht vor Einschränkungen von Meinungsäußerungen schon aufgrund ihrer Meinungsqualität schützt das Allgemeinheitsgebot des Art. 5 Abs. 2 GG, sondern vor Ungleichbehandlungen konkreter Standpunkte.43 Das Bundesverfassungsgericht knüpft dabei an einen Vorläufer aus seiner Rechtsprechung an: 1972 wurde ein gesetzliches Einfuhrverbot für Filme, die geeignet sind, als Propagandamittel gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung und den Gedanken der Völkerverständigung zu wirken, als allgemein eingeordnet, da das Verbot nicht nach politischen Ansichten differenzierte.44 Andererseits warnte das Bundesverfassungsgericht im Radikalen-Beschluss davor, mit Art. 3 Abs. 3 GG die Schrankenregelungen derjenigen Grundrechte auszuhebeln, die das Äußern politischer Überzeugungen spezieller verbürgen.45 Der Radikalen-Beschluss lässt sich aber integrieren, da das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis zu Art. 5 Abs. 2 GG nur eine Ähnlichkeit mit, nur eine Analogie in Art. 3 Abs. 3 GG entdeckt. Tatsächlich inspiriert wurde das Bundesverfassungsgericht hingegen offenbar von seiner Rechtsprechung zu politischen Parteien: Auch hier gelten „allgemeine Gesetze“ als legitime Schranken der Freiheitsausübung, „Vorschriften, die kein Sonderrecht gegen die Parteien enthalten“46 : Normen, die nicht zwischen parteilichen und nichtparteilichen Aktivitäten diskriminieren. Dies spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht in Zukunft bei der Bestimmung, was einen konkreten Standpunkt ausmacht, auf Positionen etablierter Gruppen bzw. Parteien im politischen Spektrum zurückgreifen wird. Das Gebot der Gleichbehandlung von Meinungen bedeutet, dass der Gesetzgeber weder an „historische Deutungen von Geschehnissen“ anknüpfen noch Rechtsgüter „eines nicht mehr offenen, sondern bereits feststehenden Personenkreises“47 privilegieren darf. Obwohl das Bundesverfassungsgericht strenge Neutralität und Gleichbehandlung fordert, wenn der Gesetzgeber an Meinungsinhalte anknüpft, um Rechtsgüter zu schützen,48 stellt dies keinen harten Maßstab auf. Denn erstens müssen fest 41

Zitate bei BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638): „entsprechend“. Eine direkte Anwendung hat das BverfG wegen gleichheitsrechtlicher (!) Spezialität des Art. 5 Abs. 2 GG ausgeschlossen, ebd., 642. 43 S. auch Pieroth/Schlink (Fn. 21), Rn. 638: Verbot der Meinungsmissionierung und Verbot der Meinungsdiskriminierung. 44 BVerfGE 33, 52 (66). Auf das Benachteiligungsverbot weist auch U. Rühl, NJW 1995, 361 (362) hin, ohne dieses mit Art. 5 Abs. 2 GG zu verknüpfen. 45 BVerfGE 39, 334 (368), mit dem Unterschied zwischen „Haben“ (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) und „Äußern“ (Art. 2 Abs. 1, 4, 5, 8, 9 GG) einer politischen Überzeugung. 46 BVerfGE 47, 198 (232); 47, 130 (139 f.). 47 Zitate bei BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 48 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 42

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stehende Personenkreise bestimmt genug sein (die Nachfahren verfolgter Juden bspw. könnten unter einen offenen Personenkreis fallen), zweitens historische Deutungen auch als Deutungen anerkannt sein (z. B. die Auschwitzleugnung nicht49 ), und drittens zählen diese Anknüpfungspunkte nur als Indizien, nicht als Belege für Sonderrecht.50 Diskriminierungen bestimmter Meinungen sind schließlich mit der nachgiebigen Je-Desto-Skala des konkreten Standpunktbezugs verknüpft. Diese Offenheit des Allgemeinheitsgebots wird auch durch die Analogie zu Art. 3 Abs. 3 GG gestützt, dessen Striktheit nach der herrschenden Meinung durch entgegenstehende Gründe ausgehebelt werden kann.51 Die konkreten Diskriminierungsverbote gelten – so das Bundesverfassungsgericht im Radikalen-Beschluss – nicht absolut; eine zu formal verstandene Gleichbehandlung dürfe nicht dazu führen, Deutschland „seinen Feinden auszuliefern“52. Diskriminierung trotz Abs. 3 kann in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein,53 wenn eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung angelegt wird.54

c) Universalschranke des Art. 5 Abs. 2 GG Des Weiteren erstreckt die neue Rechtsprechung das Allgemeinheitserfordernis auf die anderen Alternativen des Art. 5 Abs. 2 GG (gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre), mit der Folge, dass die beiden anderen Schranken ihre selbständige Funktion verlieren.55 Schon vorher wurde ihnen – teilweise – ein nur deklaratorischer Charakter zugesprochen, d. h. sie wurden den Schutzgütern zugeschlagen, die sich zu einer Meinung als solche neutral verhalten.56 Diese Auffassung wird durch den neuen Beschluss bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht ist aber bislang, was der Beschluss unterschlägt, nahezu ununterbrochen von der Selbständigkeit der Schrankentrias-Elemente ausgegangen; noch 2004 ist von „Schranken“ des Art. 5 Abs. 2 GG die Rede, werden die persönliche Ehre und der Jugendschutz als selbständige Schranken neben den allge-

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BVerfGE 90, 241. BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 51 Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 3 GG bejahend Rauer (Fn. 9), S. 150 f.; kritisch hingegen Michael (Fn. 33), 160, 162. 52 BVerfGE 39, 334 (369). 53 S. z. B. BVerfGE 113, 1 (20), und zwar wegen zwingender Gründe bzw. kollidierenden Verfassungsrechts. 54 H. M.: BVerfGE 85, 191 (206), 92, 91 (109); 114, 357 (264); E. Osterloh, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 3 Rn. 254; H. D. Jarass, in: ders. / B. Pieroth, Grundgesetz. Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 3 Rn. 93. Die Gegenauffassung sucht die Lösung in einer Blindheitsprüfung erster Stufe: Die Differenzierung muss andere Zwecke verfolgen, s. C. Starck, in: H. v. Mangoldt (Begr.) / F. Klein / C. Starck (Hrsg.), Bonner Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 1999, Art. 3 Rn. 350, sowie noch BVerfGE 75, 40 (70). 55 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639). 56 Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 151. Anderer Auffassung z. B. R. Herzog, in: T. Maunz / G. Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 5 Abs. I, II (1992) Rn. 244; A. Scheidler, NWVBl. 2010, 131 (135). 50

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meinen Gesetzen angesehen.57 Das Bundesverfassungsgericht hat sogar die Möglichkeit, die Schranke der allgemeinen Gesetze mit Hilfe der anderen Schranken zu umgehen, einst angedeutet.58 Mit dieser Rechtsprechungslinie setzt sich der Beschluss nicht auseinander. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich indes auf Entscheidungen, die den Beleidigungstatbestand (§ 185 StGB) als allgemeines Gesetz qualifizierten. Die Argumentation lautet: Bislang ist das Gericht auf die Alternativschranken sogar im Bereich des Ehrenschutzes nicht angewiesen wesen. Bemerkenswert ist hierbei, dass in der zitierten „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung § 185 StGB, zwar insoweit er die Ehre des Staates betrifft, als allgemeines Gesetz eingestuft,59 allerdings insoweit er die Ehre von natürlichen Personen schützt, der ausdrücklich in Art. 5 Abs. 2 aufgeführten Schranke der persönlichen Ehre zugeordnet wird.60 Das Bundesverfassungsgericht hätte stattdessen auf eine alte Entscheidung verweisen können, in der das Wörtchen „insbesondere“ zwischen die Schranke der allgemeinen Gesetze und die zwei besonderen Schranken gerückt ist. Mit Hilfe dieser „Ergänzung“ des grundgesetzlichen Wortlautes erweckte das Gericht damals den Eindruck, dass die zwei besonderen Schranken nur Unterfall der „allgemeinen“ Schranke seien.61 Dies ist jetzt die ausdrückliche Position des Bundesverfassungsgerichts. Die Rechtfertigung für die neue Schrankendeutung hätte mithin eher darin gefunden werden können, dass die Rechtsprechung des Gerichts bislang nicht ganz eindeutig war, verknüpft mit der teleologischen Überlegung, die Meinungsfreiheit zu stärken. Auch die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG ist eingeebnet worden; dort fiel dies jedoch leichter, weil die speziellen Schranken – von Anfang an – nicht zur Umgehung der allgemeinen gebraucht wurden.62 Des Weiteren stützt das Bundesverfassungsgericht die Schrankeneinebnung mit Hilfe diachroner Rechtsvergleichung. So enthielt Art. 118 WRV nur das Gebot allgemeiner Gesetze, nicht aber alternative Schranken – und dennoch seien Bestimmungen des Ehr- und Jugendschutzes von den maßgeblichen Positionen der Weimarer Republik, die später auch maßgebend für das bundesrepublikanische Verständnis wurden (Häntzschel, Rothenbücher und Smend), „als von den allgemeinen Gesetzen grundsätzlich mitumfasst angesehen“63 worden. Die Verknüpfung mit der jetzigen Rechtslage erreicht das Bundesverfassungsgericht über eine subjektiv-historischen Umkehrschluss: So sei „nicht ersichtlich, dass der Grundgesetzgeber mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG diesbezüglich eine andere Grundentscheidung treffen wollte“64. Ist dieser Schluss wirklich zwingend? Zwar knüpft der Verfassunggeber mit dem Begriff der allgemeinen Gesetze – in zu bestimmender Weise – an die Weimarer 57 BVerfGE 111, 147 (154 f.); Hervorhebung S. M. S. auch 47, 130 (147); 19, 73 (74); 30, 336 (347 f., 352 f.); 33, 1 (16 f.); 42, 143 (150); 60, 234 (240); 90, 1 (16); 90, 241 (251). 58 BVerfGE 30, 336 (353). S. die konkrete Umgehung bei einer Rudolf-Heß-Gedenkveranstaltung VGH München, Beschluss v. 5. 8. 2008, 10 CS 08.2005 ( juris), Rn. 7. 59 BVerfGE 93, 266 (291), insoweit auch BVerfG EuGRZ 2009, 631 (639). 60 BVerfGE 93, 266 (290). 61 BVerfGE 11, 234 (238). 62 Vgl. H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art 2 I Rn. 53, 60. 63 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639). 64 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639).

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Verfassung an; dies tat er jedoch auch an anderen Stellen des Grundgesetzes.65 Die textuelle Übereinstimmung befreit mithin noch nicht von Erklärungslasten. Aus der Kongruenz allein kann nämlich nicht gefolgert werden, dass der Verfassunggeber ausdrücklich eine Abweichungsabsicht hätte kundtun müssen, in der sich über den Wortlaut der jeweiligen Vorschrift hinaus eine Abkehr von Weimarer Lehrmeinungen manifestiert.66 Das Bundesverfassungsgericht wirbelt mit methodischen Darund Widerlegungslasten; jedenfalls erhöht sie sie zum Nachteil der textuellen Auslegung. Dabei sind die Belege aus dem Parlamentarischen Rat alles andere als eindeutig. Manche Äußerungen deuten in die Richtung der Neuausrichtung; 67 viele Aussagen wenden sich indes im Ganzen gegen die Formel aus Art. 118 WRV oder argumentieren ohne Rücksicht auf Weimarer Verhältnisse.68 Die Subjunktion „insbesondere“, die im Entwurf des allgemeinen Redaktionsausschusses noch enthalten war, wurde zwei Wochen später schon wieder gestrichen, ohne dass sich deutlich zeigt, warum dies geschah.69 Im Übrigen stützt sich das Bundesverfassungsgericht auf die Fortwirkung von Lehrmeinungen, die in der Rechtspraxis eine zu vernachlässigende Rolle gespielt haben.70 Im Ergebnis reduziert das Bundesverfassungsgericht die Schranken des Ehr- und Jugendschutzes auf eine Auslegungsdirektive, die garantieren soll, dass das jeweils geltende Allgemeinheitsverständnis des Art. 5 Abs. 2 GG immer auch Gesetze zum Schutze der Jugend und der persönlichen Ehre deckt.71 Damit ist wohl nicht gemeint, dass die Alternativschranken trotz ihrer Inkorporation ihre Umgehungsfunktion behalten dürfen. Sie stehen für Schutzgüter wie andere auch, um deretwillen der Staat effektiv Meinungen beschränken darf (erste Blindheitsstufe). In welchem Maße Jugend- und Ehrschutzbestimmungen allgemein sind, kann letztlich nur das Diskriminierungsverbot politischer Standpunkte beantworten (zweite Blindheitsprüfung).

d) Das Vorher und Nachher der Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG Wie fällt insgesamt ein Vorher-Nachher-Vergleich aus? Auf den ersten Blick verschärft das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 GG im Sinne eines stärkeren Schutzes der Meinungsfreiheit: Schon zuvor war – wenngleich unbemerkt, die summarische Abwägung zur Klärung der Allgemeinheit eines Gesetzes aufgegeben worden (s. II.1.). Nunmehr stehen auch die Alternativschranken 65

S. H. Dreier, DVBl. 1999, 667 (671). S. auch J. P. Schaefer, DÖV 2010, 379 (386); A. Kirsch, NWVBl. 2010, 136 (139); B. Rusteberg, StudZR 2010, 159 (162). 67 T. Heuss, in: Deutscher Bundestag / Deutsches Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/I, 1993, S. 113: Recht der Ehre „zum mindesten deklaratorisch“. 68 Deutscher Bundestag / Deutsches Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/II, 1993, S. 648 ff., 670 ff. 69 J. Lücke, Die „allgemeinen“ Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG), 1998, S. 27, kommt angesichts dieses Prozesses zum gleichen Schluss wie das BVerfG. 70 C. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 305. 71 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639). 66

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des Jugend- und Ehrschutzes nicht mehr zur Verfügung, um das Allgemeinheitserfordernis zu umgehen bzw. zu übertrumpfen. Ferner entbindet nach neuer Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der Umweg über verfassungsimmanente Schranken nicht von der Pfl icht, auch diese am Erfordernis der Allgemeinheit zu messen.72 In die Bilanz muss aber mit eingehen, dass der Anwendungsbereich des Sonderrechtsverbots gegenüber dem bisher vertretenen Meinungsspektrum verengt wird. Um als nicht-allgemein qualifi ziert zu werden, muss das einschränkende Gesetz konkrete „Grundpositionen“ bzw. einzelne Gruppierungen „im politischen Kräftefeld“, denen Grundpositionen zugeordnet werden können, herausheben und treffen. In einer spezifischen Meinung kulminierende extremistische Haltungen, die sich „grundsätzlich aus verschiedenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Grundpositionen ergeben“73 können, würden vom jetzt neu defi nierten Sonderrechtsverbot nicht schlechterdings erfasst.74 Ablehnende Haltungen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen (Verfassungsfeindlichkeit), Meinungen zur Abtreibungsfrage, Migrationspolitik oder der Gentechnik können bspw. von sich gar feindlich gegenüber stehenden Gruppierungen vertreten werden. Jedenfalls fällt es in solchen, sicherlich nur in engen Grenzen vorstellbaren Konstellationen schwerer, Sonderrecht zu bejahen bzw. fällt es leichter, Meinungen durch parlamentarischen Akt aus dem öffentlich-legitimen Diskurs zu verbannen. Für eine weniger strikte Handhabung des Gebots der Standpunktdiskriminierung spricht auch der Verweis im Wunsiedel-Beschluss auf eine Entscheidung zu § 90a StGB75: Danach hält sich das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit offen, Vorschriften, die sich allgemein gegen Verfassungsfeinde richten, als allgemeine Gesetze zu qualifizieren. Wie ist ferner eine Regelung zu beurteilen, die im Ergebnis zwei „im politischen Kräftefeld“ genügend voneinander unterscheidbare Standpunkte beschränkt, eine dritte aber nicht? 76 Das Diskriminierungsverbot liefert hier eine nur vage Richtschnur. Die Interpretation des Gebots der Standpunkt-Enthaltung als skalierten Maßstab lässt im Übrigen Raum für Abwägung durch die Gerichte. Offen ist ebenso, wie der Diskriminierungsmaßstab auf Meinungsäußerungen übertragen werden kann, die nicht die politische Sphäre betreffen.77 Trotz aller methodischer Kritik muss man aber konstatieren, dass das Bundesverfassungsgericht Stringenz und Ordnung in die Dogmatik des Art. 5 Abs. 2 GG gebracht hat. Das Gleichbehandlungsgebot liefert einen unterscheidbaren Maßstab; dem Umschiffen der Allgemeinheitsklippe werden enge Grenzen gesetzt. Ob aber das Schutzniveau der Meinungsfreiheit tatsächlich steigt, ob das Neutralitätsgebot 72

S. BVerfG EuGRZ 2009, 631 (639); M. Hong, ZaöRV 70 (2010), 73 (117). Zitate bei BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 74 Ihnen kämen zumindest die konkretisierten Anforderungen an den legitimen Zweck zu Gute, s. BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (640 f.). 75 BVerfGE 47, 198 (232) bei BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 76 Nach der Rechtsprechung des U. S. Supreme Court zum ersten Zusatzartikel hat dies den Anstrich von Verfassungswidrigkeit, s. R. A. V. v. St. Paul, 505 U. S. 377 (1992), s. dazu auch sogleich. 77 Wird hier stärker differenziert werden (z. B. Werbeverbote), setzt sich das Verfassungsgericht in Widerspruch zu dem von ihm aufgestellten Prinzip der Meinungsneutralität – hier liegt das Paradox der Fall(gruppen)differenzierung, das politischer Rede generell verstärkten Schutz zuwachsen lässt. S. auch Rusteberg (Fn. 66), 169. 73

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angesichts der weichen Je-Desto-Skala Gesetze zu Fall zu bringen vermag, bleibt abzuwarten.

2. Folgerungen für § 130 StGB Das Bundesverfassungsgericht hat § 130 Abs. 4 StGB nach den neuen Maßstäben für nicht-allgemein erklärt.78 Es konnte hierzu auf seine von ihm vorbereiteten Kriterien und Indizien zurückgreifen: So wird in der Vorschrift eine bestimmte Geschichtsdeutung unter Strafe gestellt; schützt § 130 Abs. 4 StGB nicht vor Verherrlichung aller oder zumindest verschiedener Gewalt- und Willkürherrschaften; so ist die Novelle eine Reaktion des Gesetzgebers auf aktuelle Vorhaben nationalsozialistischer Gruppierungen, u. a. der des Beschwerdeführers selbst.79 Mit der Schrankeneinebnung in Art. 5 Abs. 2 GG ist im Übrigen allen vorher vertretenen Versuchen, über das Recht der persönlichen Ehre bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG das (strenger interpretierte) Allgemeinheitsgebot zu umschiffen,80 die Grundlage entzogen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte noch zu einer anderen Bewertung als das Bundesverfassungsgericht gelangen, weil es die zweite Stufe der Blindheitsprüfung überging: Es hielt die Rechtfertigung der Meinungseinschränkung mit einem meinungsneutralen Schutzgut für ausreichend, ohne die Frage der Standpunktneutralität zu stellen.81 Da die zweite Blindheitsstufe nun nicht mehr in einer Formel versteckt werden kann, sondern durch Konkretisierung enthüllt ist, ist dieser Weg spätestens ab nun nicht mehr gangbar. Was bedeutet die neue Auslegung des Art. 5 Abs. 2 GG im Übrigen für § 130 Abs. 3 StGB, der das Leugnen, Billigen oder Verharmlosen von völkerrechtswidrigen Taten des Nationalsozialismus unter Strafe stellt? Das Leugnen des Holocaust konnte das Bundesverfassungsgericht als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung vom Schutz der Meinungsfreiheit ausnehmen.82 Die Tatbestandsalternativen des Billigens und Verharmlosens hingegen sind Meinungen i. S. v. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.83 Über sie ging das Bundesverfassungsgericht seinerzeit mit der recht pauschalen Bewertung hinweg, dass § 130 StGB ein allgemeines Gesetz sei, weil es „dem Schutz der Menschlichkeit dient . . . und seinen verfassungsrechtlichen Rückhalt letztlich in Art. 1 Abs. 1 GG fi ndet“84. Der aktuelle erste Senat bekennt sich zu dieser Rechtspre-

78 So auch schon VGH München, BayVBl. 2008, 109 (110). Ebenso C. Enders / R. Lange, JZ 2006, 105 (110). 79 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (638). 80 S. VGH München, BayVBl. 2008, 109 (110); M. Kniesel / R. Poscher, in: H. Lisken / E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, Kap. J Rn. 166. 81 BVerwGE 131, 216 (220). S. auch VGH München, BayVBl. 2006, 760; VG Bayreuth, Beschluss v. 23. 7. 2008, B 1 S 08.657 ( juris). Überhaupt nicht problematisiert von VG Kassel, Urteil v. 28. 9. 2009, 4 K 1403/07.KS ( juris); OLG Rostock, StraFo 2007, 515; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 10. 8. 2007, 2 M 252/07 ( juris); VG München, Beschluss v. 27. 10. 2006, M 7 S 06.4014 ( juris). 82 BVerfGE 90, 241 (249). 83 J. Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 171 ff. Offen gelassen von BVerfGE 90, 241 (250). 84 BVerfGE 90, 241 (251). S. auch A. Stegbauer, NStZ 2000, 281 (284).

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chung; 85 unklar bleibt jedoch, wie die Wertung von 1994 mit seiner neu orientierten Interpretation in Einklang zu bringen ist. Gefordert ist ja nicht nur die Ausrichtung auf ein meinungsneutrales Schutzgut, sondern auch die Neutralität des Staates im Meinungskampf (s. 1.a)). Die Pönalisierung des Holocaust-Billigens und -Verharmlosens trifft aber einen kleinen, abgrenzbaren, vorfi ndlichen Personenkreis und benachteiligt eine Deutung der Geschichte. Die Indizien, die das Bundesverfassungsgericht aufführt, um den Standpunktbezug eines Gesetzes festzustellen, liegen vor.86 Verwiese man auf den absoluten Schutz der Menschenwürde, würde man die Allgemeinheit des Gesetzes hinterrücks einer Abwägung ausliefern, der die Allgemeinheit des Gesetzes gerade vorgeschaltet sein soll. Wie strikt die Neudeutung von Art. 5 Abs. 2 GG ist, wird sich an solchen Zweifelsfällen erst noch beweisen müssen.

3. Annäherung an amerikanisches Verständnis der Meinungsfreiheit? Die Differenz von deutschem (bzw. europäischem) und amerikanischem Verständnis der Meinungsfreiheit wird häufig betont.87 Während die deutsche Konzeption aufgrund historischer Erfahrungen die Meinungsfreiheit in bedeutsamen Konstellationen gegenüber anderen Schutzgütern zurücktreten lässt, setzt die amerikanische Doktrin in stärkerem Maß auf das freie Spiel der Meinungen.88 Die Grenzen der freien, insbesondere politischen Rede89 sind weiter gezogen – sie sind erst erreicht, wenn die Rede sog. „fighting words“ verwendet 90 oder eine unmittelbare Gefahr für Rechtsgüter erzeugt91, indem sie zum Rechtsbruch aufstachelt92. Diese Kriterien entsprechen prinzipiell dem Grundsatz im deutschen Verfassungsrecht, dass die rein geistigen Wirkungen von Meinungsäußerungen nicht beschränkt werden sollen.93 Die gravierenden Unterschiede an den Grenzen der Meinungsfreiheit ergeben sich aber in der Bewertung, ob eine Rechtsgutsverletzung durch Rede überhaupt vor85

BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (637). Wie hier schon A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 132 f. Jahn (Fn. 83), S. 190 ff., bestätigt die Allgemeinheit von § 130 Abs. 3 StGB und vernachlässigt wie das BVerwG zu § 130 Abs. 4 GG die zweite Blindheitsstufe. 87 R. A. Sedler, Michigan State Law Review 2006, 377 ff.; R. Errera, Freedom of Speech in Europe, in: G. Nolte (Hrsg.), European and US Constitutionalism, 2005, S. 23 ff.; F. Schauer, Freedom of expression adjudication in Europe and the United States, in: ebd., S. 49 ff.; E. Barendt, Freedom of Speech, 2. Aufl. 2005, S. 54; A. Nieuwenhuis, Netherlands Quarterly of Human Rights 18 (2000), 195 ff. 88 Der sog. „free trade in ideas“, Abrams et al. v. United States, 250 U. S. 616, 630 (1919) (dissenting Holmes). 89 Barendt (Fn. 87), S. 154 ff. 90 Chaplinsky v. State of New Hampshire, 315 U. S. 568 (1942) (Murphy). 91 Der sog. „clear and present danger“-Test, Schenck v. United States 249 U. S. 47, 52 (1919) (Holmes). Zu eingeschränkten Sorgfaltspfl ichten und pressefreundlicher Wahrheitsrisikoverteilung bei politischer Berichterstattung New York Times v. Sullivan 376 U. S. 254 (1964). 92 Brandenburg v. Ohio, 395 U. S. 444, 447 (1969) (per curiam). S. auch Art. 20 Abs. 2 IPbpR und Art. 4 der Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention, zu denen die USA freilich Vorbehalte hinzugefügt haben. 93 BVerfGE 7, 198 (210); J. A. Frowein, AöR 105 (1980), 169 (182 f.). S. Auch schon Häntzschel, in: Handbuch (Fn. 25), S. 659. Ausführlich jetzt BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (640 f.) zu der (teilweise vagen) Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit. 86

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liegt, sowie in der konkreten Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und kollidierenden Schutzgütern.94 Indem das Bundesverfassungsgericht die Schranken der Meinungsfreiheit durch das Antidiskriminierungsverständnis der allgemeinen Gesetze enger gezogen hat und Umgehungsmöglichkeiten strikt ausschließt, könnte seine Auffassung der amerikanischen Doktrin näher gekommen sein, ohne konkrete Abwägungspositionen aufgeben zu müssen. Das Nadelöhr der allgemeinen Gesetze ist durch seine Vorschaltung ja von der Rechtsgutsabwägung grundsätzlich frei. Trotz aller Zweifel, wie strikt der neue Maßstab in der künftigen Praxis gehandhabt wird, erinnert er an das Prinzip der Meinungsneutralität bzw. das Verbot der Standpunktdiskriminierung, das den U. S. Supreme Court bei der Bewertung meinungseinschränkender Hoheitsakte quer zu dem weiten Schutz politischer Rede leitet. Inhaltsbezogene Beschränkungen der Meinungsfreiheit sind in den USA nicht generell ausgeschlossen. Sie sind aber einer strikten Prüfung ausgesetzt; nur erforderliche und zwingende Interessen können sie rechtfertigen.95 Als Grundregel lässt sich aufstellen, dass die Prüfungsdichte und -intensität steigt, je meinungsbezogener die (abstrakt-generellen) Einschränkungen sind. Fehlende Neutralität gegenüber Redezwecken und konkreten Standpunkten sind dabei Gradmesser für intensive Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Wird ein Standpunkt gegenüber einem anderen benachteiligt,96 handelt es sich mithin um „viewpoint discrimination“, ist in aller Regel die betreffende Norm verfassungswidrig.97 Ist hingegen politische oder religiöse Rede insgesamt gegenüber anderen Redezwecken benachteiligt, kann bei strenger Prüfung die politische Rede zurückstehen.98 Problematisch und umstritten ist die Abgrenzung von themenbezogenenen und standpunktbezogenen Eingriffen in die Meinungsfreiheit, die über die Striktheit der Rechtfertigungsprüfung entscheidet.99 Diese abgestufte Bewertung der Neutralität einer staatlichen Regelung ähnelt der Je-Desto-Skala des Bundesverfassungsgerichts, die ebenfalls sensibel auf das Maß der Diskriminierung reagiert. Standpunktdiskriminierung löst in Deutschland jedoch die Verfassungswidrigkeit per se aus, während in den USA die Abwägung bzw. die Prüfung der Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit durch das Ergebnis (erheblich) gesteuert wird. Dieser Unterschied erklärt sich dadurch, dass mit dem WunsiedelBeschluss eine der konkreten Abwägung vorgeschaltete Prüfung reformiert wurde, die die amerikanische Verfassungsrechtsdogmatik so nicht kennt. Zwar lässt der Wortlaut des Ersten Zusatzartikels eine Interpretation nach Art der „allgemeinen Gesetze“ zu; die amerikanische Doktrin hat sich jedoch für ein ausdifferenziertes System von Abwägungs- und Regelaussagekategorien entschieden, das der Meinungsfreiheit eine starke, zentrale Stellung einräumt. Oberflächlich betrachtet fällt 94

Ausführlich W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aufl. 2001, S. 157 ff. Die Unterschiede relativieren sich ein gutes Stück, wenn man die starke Stellung der Meinungsfreiheit im Grundgesetz im Verfassungsvergleich jenseits der USA anerkennt, Jestaedt (Fn. 30), S. 72. 95 Barendt (Fn. 87), S. 51. 96 Selbst durch Gleichbehandlung, Simon & Schuster v. Crime Victims Board 502 U. S. 105 (1991). 97 W. Brugger, AöR 2003, 372 (381 f.). Grundlegend R. A. V. v. City of St. Paul, 505 U. S. 377 (1992). Weitere Beispielsfälle bei Sedler (Fn. 87), 382 f. 98 Burson v. Freeman, 504 U. S. 191 (1992). 99 W. Sadurski, Freedom of Speech and its Limits, 2002, S. 135 ff.

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damit die deutsche Doktrin sogar strenger und meinungsfreundlicher aus als die amerikanische. Zieht man jedoch in Betracht, dass in den USA jeder abstrakt-generelle hoheitliche Akt (auch aufgrund eines Gesetzes) sich am Neutralitätsmaßstab messen lassen muss sowie die erste Blindheitsprüfung unbekannt ist und dass die meisten staatlichen Regelungen die Neutralitätsschranken passieren, relativiert sich dieser Schnellschluss. Überdies kann die Weichheit des Maßstabs das deutsche Verfassungsgericht dazu verleiten, nur in äußerst seltenen Fällen eine Meinungsdiskriminierung zu bejahen. Trotz vergleichbarer Wertungsgesichtspunkte bei der Gleichbehandlung von Standpunkten offenbart sich die transatlantische Differenz also beim Anwendungsbereich des Maßstabs und vor allem der Prüfungsstruktur, mithin auf den in Deutschland zusätzlichen Prüfungsstufen (unter anderem in der sogleich folgenden, s. III.), die das Schutzniveau der Meinungsfreiheit im Wesentlichen bestimmen. Zu diesen Prüfungsstufen gehören die Wechselwirkungslehre und die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die für den Ausgleich der beteiligten Interessen sorgen. Obwohl die Prinzipien der Meinungsfreiheit transatlantisch geteilt werden,100 unterscheiden die Wertigkeit von kollidierenden Interessen sowie die Prüfungsstruktur deutsches und amerikanisches Verständnis der Meinungsfreiheit weiterhin. Aufgrund der längeren und reicheren Erfahrung mit der Struktur, Fallgruppen und anderen Problemen der Meinungsneutralität kann die deutsche Verfassungslehre künftig jedenfalls in diesem Punkt von der amerikanischen Debatte lernen.101

III. Die historisch begründete Ausnahme zu den allgemeinen Gesetzen Das Bundesverfassungsgericht hätte seine Prüfung mit der Feststellung beschließen können, § 130 Abs. 4 StGB sei kein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG: Die Verbote der Wunsiedelmärsche wären mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig gewesen. Es war jedoch mit seiner Neuinterpretation noch nicht am Ende und kreierte eine Ausnahme vom Allgemeinheitsgebot für Vorschriften, „die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affi rmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen“102. Damit ließ das Bundesverfassungsgericht das Gesetz trotz Nicht-Allgemeinheit die Hürde des Art. 5 Abs. 2 GG überspringen, mit der Folge, dass es nach intensiver Diskussion die Verhältnismäßigkeit des Gesetzes und damit die Rechtsgrundlage für das Versammlungsverbot bejahen konnte.103 Wie ist die Autoexemption vom Meinungsdiskriminierungsverbot zu begründen, zumal der Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 GG nicht darauf hindeutet und die Ausnahme in einem gewissen Widerspruch zur neuen Strenge des Art. 5 Abs. 2 GG steht?

100 101 102 103

Nieuwenhuis (Fn. 87), 197 ff. S. eingehend Barendt (Fn. 87), S. 52 f. BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639). BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (640 ff.).

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1. Vom Entstehungskontext zum Norminhalt Rhetorisch versucht das Bundesverfassungsgericht den Eindruck zu vermeiden, es geriere sich als Verfassungsgesetzgeber: Es erkennt die Ausnahme nur an, stellt nur fest, dass die Ausnahme Art. 5 Abs. 1 und 2 GG immanent ist und dass die Grundrechtsabsätze eine „Offenheit . . . für . . . Sonderbestimmungen“ aufwiesen (2. Leitsatz). Indem das Gericht den ersten Absatz in die Verfassungsinterpretation einbezieht, löst es sich von der einsamen Strenge des zweiten Absatzes. Der Widerspruch der Ausnahme zum eben erst begründeten Diskriminierungsverbot wird kaschiert, die Interpretationsgewalt des Bundesverfassungsgerichts nicht entblößt. Das Gericht rechtfertigt den Freiheitsentzug durch Verfassungsrechtsprechung ferner mit Thesen, denen (nahezu) niemand widersprechen wollte: Das Unrecht und der Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft entzögen sich „allgemeinen Kriterien“, seien einzigartig; zeitgenössische Bezugnahmen auf diese Schreckensherrschaft lösten „nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung“ aus; das deutsche Verhältnis zum Nationalsozialismus begründe eine „Sonderkonstellation“, ja eine „einzigartige Konstellation“.104 Die fehlende Kongruenz von allgemeinem Gesetz und einzigartigem Verbrechen liefert mithin den ersten Begründungsstrang für die Ausnahme von den allgemeinen Gesetzen. Diese Inkongruenz bzw. die durch das einzigartige Verbrechen geprägte Identität der Bundesrepublik erfordere eine einzigartige Reaktion. Keine andere Bedrohung des inneren Friedens sei in Sicht, die auf ähnliche Weise die „Identität des Gemeinwesens“ angreife; insofern sei die NS-Herrschaft „mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar“105. Von vornherein steht freilich nicht fest, dass kein allgemeines Gesetz die Propaganda zugunsten der NS-Herrschaft regeln könnte; der – freilich nicht unproblematische (s. II.2.) – § 130 StGB a. F. zeugt von dieser Möglichkeit.106 Bestimmungen, die Bezüge zu Gewaltherrschaft generell verurteilen, können sehr wohl allgemein gefasst sein – dass neonationalsozialistische Ansichten das Gemeinwesen stärker gefährden als andere extreme Positionen, schließt nicht aus, dass sie mit diesen zusammen von Gesetzen reguliert werden können. In Wahrheit scheint das Bundesverfassungsgericht ein breit geteiltes Bedürfnis aufzunehmen, einer bestimmten Geisteshaltung im deutschen gesellschaftlichen Diskurs Platz, Anerkennung und Wirkung zu versagen: Wer würde schon für Neonazis sprechen wollen? Die Einzigartigkeit als Argument entspricht diesem für Deutschland einzigartigen Konsens. Hinzu tritt der zweite Begründungsstrang für die NS-Ausnahme in Art. 5 Abs. 1 und 2 GG. Sie reflektiere die identitätsstiftende Grund- und Gründungshaltung des Grundgesetzes, welches als „historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte“, „von seinem Auf bau bis in viele Details“ sowie in seinen Grundnormen (Art. 1, 20, 79 Abs. 3 GG) „ein Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“107 darstellt. Damit wird nicht von der Entstehungsgeschichte, sondern vom historischen Entstehungskontext des Grundge104 105 106 107

Alle Zitate bei BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639 f.). BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639). Formulierungsvorschlag bei Michael (Fn. 33), 165. Alle Zitate bei BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (639).

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setzes auf ein aktuales Normverständnis geschlossen. Dieser Kontext scheint für das Bundesverfassungsgericht normative Kraft zu entfalten, weil er sich in einer hinter allen Vorschriften des Grundgesetzes liegenden Normidentität fortschreibt. Der Normanwendungskontext, der gesellschaftlich geregelte Normbereich vermag die Interpretation einer Norm wohl zu beeinflussen; für den Entstehungskontext des gesamten Normenwerkes, gilt dies nicht in gleich unmittelbarer Weise. Eine Begründung durch – historischen oder gesellschaftlichen – Konsens ersetzt aber keine konsentierte Methodik. Diese hätte – schon wegen Occams Messer – zunächst die Entstehungsgeschichte befragt: Der übergreifenden Teleologie des Grundgesetzes geht die konkrete Teleologie einer einzelnen Grundgesetznorm vor. Die Materialien zu Art. 5 GG, die der Beschluss nicht erwähnt, sprechen nämlich eher für einen weiten Schutz der Meinungsfreiheit, der in bewusstem Gegensatz (nicht nur) zur NS-Zeit so verstanden wurde und der deswegen als ähnlich identitätsprägend für die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung gelten kann wie der Antinationalsozialismus des Grundgesetzes im Ganzen. Hinzu kommt, dass im Wunsiedel-Beschluss anders als in früheren Fällen durch verfassungsrichterliche Rechtsfortbildung weder die kollektive108 noch die individuelle Selbstbestimmung109 gestärkt, sondern Freiheitsausübung gerade geschwächt wird.110 Die grundsätzliche „Vermutung für die Zulässigkeit der privaten Rede“ im „geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage“111 – mithin die konkrete Teleologie der Meinungsfreiheit – wird vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls nicht berücksichtigt. Vom Ergebnis betrachtet mag der Wunsiedel-Beschluss auf der Linie der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen,112 die über die Entwicklung von Gewährleistungsgehalten die Schutzbereiche von Grundrechten einengt und damit das rationalisierende Prüfungsprogramm der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung abschneidet.113 Dogmatisch beschreitet das Gericht jedoch einen anderen Weg: Zwar wird die Qualifikation des Gesetzesvorbehalts durch die Begründung einer Ausnahme umgangen; alle anderen Maßstäbe der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung werden aber dadurch nicht außer Kraft gesetzt: Das zu prüfende Gesetz wird an ihnen gemessen.114

108

Z. B. BVerfGE 90, 286, wo sich auf die deutsche Verfassungstradition gestützt wurde. Z. B. BVerfGE 120, 274. 110 Vgl. BVerfGE 65, 182 (195), wo die erhebliche Beeinträchtigung von Rechtspositionen sowie eine fehlende allgemeine Rechtsüberzeugung gegen die Rechtsfortbildung einfachen Rechts sprachen. 111 Beide Zitate aus BVerfGE 7, 198 (212), wobei das Lüth-Urteil diese Vermutung dahingehend einschränkt, dass sie nur für die zum geistigen Meinungskampf in der öffentlichen Sphäre „Legitimierten“ spricht. 112 Vgl. Schaefer (Fn. 66), 380; C. Degenhart, JZ 2010, 306 (310). 113 BVerfGE 104, 92; 105, 252; 105, 279. Darstellung bei B. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 135 ff. Zur Kritik allgemein A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, sowie zur jüngeren Rspr. W. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 ff. 114 Vgl. BVerfG, EuGRZ 2009, 637 (640 ff.). 109

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2. Verfassungsimmanente Ausnahme vs. verfassungsimmanentes Prinzip Kurios ist ferner das Verhältnis des Wunsiedel-Beschlusses zur jüngeren Rechtsprechung des Gerichts zum Einfluss der Meinungsfreiheit auf Verbote rechtsextremer Versammlungen. Noch unter der Berichterstattung Wolfgang Hoffmann-Riems wurden Versuche des OVG Münster abgewehrt, rechtsextremistische Versammlungen zu verhindern, indem es in den Tatbestand der öffentlichen Ordnung (als zweitem Verbotsgrund neben der öffentlichen Sicherheit in § 15 VersG) einen verfassungsimmanenten Anti-Nationalsozialismus-Vorbehalt hineinlas.115 Demgegenüber betont das Bundesverfassungsgericht den abschließenden Charakter der Vorschriften zur wehrhaften Demokratie sowie der die Meinungsfreiheit einschränkenden Strafgesetze (z. B. § 130 StGB).116 Nach außen bekennt sich das Bundesverfassungsgericht in seinem aktuellen Beschluss zu Rechtsprechungskontinuität: das Grundgesetz kenne „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“, das Verbote rechtsradikaler Meinungsinhalte „schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts“ erlaube.117 Dennoch bleibt ein Bruch erkennbar: Die abschließenden Vorschriften des Grundgesetzes zur wehrhaften Demokratie werden, wie vom OVG Münster,118 durch die NS-Ausnahme in Art. 5 GG letztlich doch umgangen. Wie das OVG Münster stützt sich auch das Bundesverfassungsgericht auf eine holistische Gesamtdeutung des Grundgesetzes. Ferner hält die öffentliche Ordnung – nach orthodoxer Formulierung unabdingbare gesellschaftliche Normen – nun auf einer höheren Normebene Einzug in die Rechtsordnung, um Versammlungsverbote zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet sich freilich vom OVG Münster, als es die Auswirkungen des Antinationalsozialismus des Grundgesetzes begrenzt: Während das OVG Münster generell rechtsextremistischen Aktivitäten einen Riegel vorschieben möchte, erlaubt das Bundesverfassungsgericht Sonderrecht nur für Affirmationen des historischen Nationalsozialismus in Deutschland. Sonstigen rechtsextremen, ebenfalls für die meisten Menschen unerträglichen Äußerungen kann nur mit Gesetzen begegnet werden, die die strengen Maßstäbe der Allgemeinheit des Art. 5 Abs. 2 GG erfüllen. Es fragt sich letztlich, warum ein solch hoher, methodisch unsicherer Aufwand betrieben wird, um einen Ausschnitt eines drückenden gesellschaftlichen Problems um den Preis zu lösen, eben erst aufgestellten Grundsätzen ihre Grundsätzlichkeit zu nehmen? Der Eindruck ist nicht zu vermeiden, dass die (symbolische?119 ) Ausnahme für den NS-Sonderfall mit einer (vermeintlichen?) Verstärkung des Gewährleistungsniveaus von Art. 5 GG erkauft wurde.

115 S. OVG Münster, NJW 2001, 2111 ff.; NJW 2001, 2113 f.; NJW 2001, 2114; NJW 2001, 2986 f. S. auch U. Battis / K. J. Grigoleit, NVwZ 2001, 121 ff. 116 BVerfGE 111, 147 (158 f.); NVwZ 2004, 90 (91). S. Auch H. D. Jarass, in: ders. / B. Pieroth, Grundgesetz. Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 5 Rn. 68. 117 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (640). 118 Eine Parallele erkennt auch Volkmann (Fn. 17), 419. 119 Schaefer (Fn. 66), 387.

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3. Der Ausnahme- und Regelcharakter der Ausnahme Ausnahmen für meinungsbezogene Verbote wurden bislang mit entgegenstehendem Verfassungsrecht begründet, z. B. aus Art. 1 Abs. 1 GG120, den Prinzipien der streitbaren Demokratie Art. 9 Abs. 2, 21 Abs. 2 GG,121 Art. 139 GG122, Art. 33 Abs. 5 GG123 sowie der Schutzpfl icht des Staates, den öffentlichen Frieden zu sichern124. In der Kommentarliteratur wird dies in engen Grenzen gebilligt;125 das Bundesverfassungsgericht sprach sich bisher nicht eindeutig für oder gegen diese Strategie aus.126 Nun geht es einen komplett anderen Weg: Die Berufung auf verfassungsimmanente Schranken über die Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG wird erschwert, weil das Bundesverfassungsgericht die Allgemeinheitsanforderungen umfassend und strikt versteht und zweitens nicht auf Schranken außerhalb Art. 5 Abs. 2 GG rekurriert, sondern die Sonder-Ausnahme innerhalb Art. 5 Abs. 1 und 2 GG verortet. Aber auch der Ausnahmecharakter einer Ausnahme ist kein neuer Topos in der verfassungsrechtlichen Argumentation. Dies betraf in der Vergangenheit §§ 185, 130 (noch ohne Abs. 4), 86a, 90a und b StGB127 und im Speziellen die Auschwitzleugnung.128 Bei diesen ausnahmsweise vorgenommenen sowie als Ausnahmen deklarierten bzw. wahrgenommenen Ausnahmen ist es nun nicht geblieben. Mit dem Wunsiedel-Beschluss ist ein weiteres Mal die Rhetorik der Ausnahme in Anspruch genommen worden. Berücksichtigen muss man freilich, dass die jetzige Ausnahme im sachlichen (NS-)Zusammenhang mit den vorigen steht und die bisher als Ausnahmen behandelten Vorschriften nun den Allgemeinheitstest vor dem Bundesverfassungsgericht wohl bestehen dürften. Weitere verfassungsimmanente Ausnahmen sind trotz der Traditionslinie nicht zu erwarten, da das Bundesverfassungsgericht die Messlatte sehr hoch gehangen hat – es muss sich um identitätsprägende und einzigartige Konstellationen handeln, um verfassungsrechtliche Ausnahmen von allgemeinen Regeln zu rechtfertigen.129 Nicht unvorstellbar ist es jedoch, von der Identitätsfolie des Grundgesetzes ausgehend auch in anderen Grundgesetzvorschriften NSAusnahmen aufzufi nden.

120

VGH München, BayVBl. 2008, 109 (110). Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 153; Degenhart (Fn. 8), Rn. 192: Bestandteil der allgemeinen Gesetze ohne Anknüpfung an institutionelle Verfahren. 122 Frowein (Fn. 93), 182 Fn. 70. 123 BVerfGE 39, 334 (367). Art. 33 Abs. 5 GG wurde in die allgemeinen Gesetze von Art. 5 Abs. 2 GG hineingelesen. 124 S. D. Beisel, NJW 1995, 997 (1001); Huster (Fn. 33), (489 f.). Für die Argumentation mit der Verfassungstreue Nachweise bei Jahn (Fn. 83), S. 190. Vertiefend zu einem positiven Begriff des öffentlichen Friedens A. v. Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung?, in: J. Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung, 2007, S. 81 ff. 125 A. A. aber H. Bethge, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 5 Rn. 176; s. freilich ebd., Rn. 178: Ausnahme des allgemeinen Friedlichkeitsverbotes. 126 Z. B. skeptisch BVerfG, NJW 2001, 2069 (2070); s. aber allgemeine Aussagen in BVerfGE 111, 147 (157 f.); 66, 116 (136). 127 BVerfG, NJW 2001, 2069 (2069). 128 Kirchhof (Fn. 2), S. 239; Huster (Fn. 33), 491: Verknüpfung von singulärem Verbrechen und singulärer Ausnahme. 129 Hong (Fn. 72), 118. 121

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Die absolute Ausnahme in Art. 5 Abs. 2 GG wird (zunächst) für Beruhigung in einigen juristischen Problemfällen sorgen: So wird die Konstruktion, die Menschenwürde als Rechtfertigung zur Meinungseinschränkung zu bemühen und ihren Ausnahme-Normgehalt dadurch zu strapazieren, für einen Teilbereich unnötig gemacht.130 Dem § 130 Abs. 4 StGB ähnelnde Normen im Versammlungsrecht wie der Art. 15 Abs. 2 BayVersG werden nicht mehr mit dem Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit konfrontiert sein. Bei § 15 Abs. 2 VersG, der Versammlungen an Gedenkorten, die an die Opfer der NS-Herrschaft erinnern, verbieten lässt, stellt sich allerdings die Abgrenzungsfrage, ob gerade die NS-Ideologie getroffen werden soll oder nur generell rechtsextremistische Einstellungen.131 Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Rechtfertigung dieser Einschränkung des Versammlungsortes in einer kurzen Kammer-Entscheidung – ohne Hinweis auf Art. 5 Abs. 2 GG – noch auf die Würde der Opfer berufen.132 In künftigen Entscheidungen könnte die NS-Ausnahme eine verstärkte Rolle spielen.

4. Übereinstimmung mit der EMRK? Jürgen Rieger hatte den Versammlungsverboten auch ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip vorgeworfen – dieser Anfechtungsgrund wurde vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Zulässigkeit verworfen.133 Führt die völkerrechtliche Individualverbürgung, die nach deutschem Verfassungs(gerichts)recht nur bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu berücksichtigen ist,134 zu einer anderen Bewertung der neuen verfassungsrechtlichen Lage?135 Meinungsbekundungen auf Versammlungen sind wie unter dem Grundgesetz im Verhältnis zur Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) spezieller durch die Meinungsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 S. 1 EMRK) geschützt.136 Zwar enthält Art. 10 Abs. 2 EMRK zahlreiche Schranken der Meinungsfreiheit, inklusive der hier einschlägigen „Strafdrohungen“, jedoch auch ausdrücklich normierte Schranken-Schranken, z. B. die Voraussetzung, dass meinungsbeschränkende Gesetze in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zu sein haben. Bekanntlich spricht der EGMR für diese Beurteilung den Mitgliedstaaten einen margin of appreciation zu.137 Sowohl die vom Bundesverfassungsgericht interpretierte Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG als auch deren Ausnahme für NS-bezogene Meinungsäußerungen dürften sich innerhalb dieses Ermessenspielraums bewegen. 130

So Stegbauer (Fn. 84), 284, für die Auschwitzleugnung. Vgl. aber Enders (Fn. 35), 1096. So Enders / Lange (Fn. 78), 109. 132 BVerfG, NVwZ 2005, 1055 (1056). S. auch BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (645). 133 BVerfG, EuGRZ 2009, 631 (637). 134 BVerfGE 111, 307 (316). 135 Vorrang vor der deutschen Verfassung hat die EMRK schon als unionsrechtliche Grundsätze im europarechtlich determinierten Bereich, s. Art. 6 Abs. 3 EUV. Vollen Vorrang genießt sie nach Beitritt der EU zur EMRK, s. Art. 6 Abs. 2 EUV. 136 S. J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S. 157. 137 EGMR, EuGRZ 1977, 38 (40 ff.) – Handyside, § 47 ff. 131

Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG

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Diese Bewertung ergibt sich zusätzlich aus der Dogmatik des Art. 10 EMRK zu extremistischer Rede. So genießen sowohl „Bemerkungen gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte“ als auch „Rechtfertigungen einer Pro-Nazi-Politik“ nicht den Schutz des Art. 10 EMRK, was insbesondere durch Rekurs auf das auslegungsleitende Missbrauchsverbot aus Art. 17 EMRK gestützt wird.138 Nahe legen diese Formulierungen, dass konventionswidrige Aktivitäten schon aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK fallen.139 Grundwerte, die für die Schutzbereichsbegrenzung herangezogen werden können, ergeben sich insbesondere aus dem vierten Präambelabsatz der EMRK, wonach die Grundfreiheiten „am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung . . . gesichert werden“.140 Jedenfalls für rechtsextreme und insbesondere nationalsozialistische Äußerungen fällt das Schutzniveau der EMRK gegenüber Art. 5 GG geringer aus.141 Die Neuinterpretation des Art. 5 Abs. 2 GG steht somit nicht unter dem Druck des individualschützenden Völkerrechts.

IV. Sichtbare und unsichtbare Schichten deutscher Verfassungsidentität Die vom Bundesverfassungsgericht geschöpfte Ausnahme ist kein Ausdruck von Einzelfallgerechtigkeit, die Unbilligkeiten einer allgemeinen Regel korrigiert. Der Wunsiedel-Beschluss muss stattdessen als prokuratorischer Akt begriffen werden, der für das Gros der deutschen Gesellschaft tief liegende Bedürfnisse und Verdrängungsstrukturen befriedigt und befriedet.142 Wie aber kann das Bundesverfassungsgericht zum Stellvertreter der deutschen Gesellschaft werden? Und greift der Vorwurf zu kurz, den gesellschaftlichen Konsens als Auslegungsreserve zu verwenden? Nicht nur das Grundgesetz hat eine (juristische) Identität,143 ein auf relative Dauer gestelltes Selbst- und Fremdbild. Bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen und Reduktionen können auch der deutschen Gesellschaft Charakterkonturen gerade 138 EGMR, Slg. 1998-VII, S. 2886, Nr. 53 – Lehideux und Isorni/Frankreich; EGMR, NJW 2004, 3691 (3692) – Garaudy/Frankreich. Weitere Nachweise bei Kühling (Fn. 136), S. 193 ff. 139 J. A. Frowein, in: ders. / W. Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 10 Rn. 6 für eine enge Handhabe; Barendt (Fn. 87), S. 182 m. w. N. A. A. R. Grote / N. Wenzel, in: R. Grote / T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 18 Rn. 35: Rechtfertigungslösung. Anders bspw. auch EKMR, 12. 5. 1988, No. 12194/86, DR 56, 205 (209 f.) – Kühnen/Deutschland, wo Einschränkungen von dem Text und dem Geist der Konvention widersprechende Aktivitäten (hier: Verbreitung nationalsozialistischer Thesen), die geeignet sind, die Konventionsfreiheiten zu zerstören, als „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ (Art. 10 Abs. 2 EMRK) angesehen wurden. Vgl. auch EKMR, 16. 7. 1982, No. 9235/81 – X/Deutschland, DR 29, 194 (197 f.). Vor einer leichtfertigen Übertragung deutscher Grundrechtskategorien warnt Hong (Fn. 72), 83; ebd., passim, auch zur widersprüchlichen Spruchpraxis des EGMR. 140 EKMR, 12. 5. 1988, No. 12194/86, DR 56, 205 (209) – Kühnen/Deutschland. 141 Eingehend Hong (Fn. 72), 73 ff. S. auch für den Rieger-Fall BVerwGE 131, 216 (224). Differenziert Grote / Wenzel (Fn. 139), Rn. 25 ff.; E. H. Riedel, Die Meinungsfreiheit als Menschenrecht und ihre Verbürgung durch die Europäische Menschenrechtskonvention, in: ders., Die Universalität der Menschenrechte, hrsg. v. C. Koenig / R. A. Lorz, 2003, S. 283 (293, 296, 301). 142 Krit. schon H. Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902 (904). 143 BVerfG, EuGRZ 2009, 339 ff., s. Leitsatz 4 S. 2; NJW 2010, 833 (839). S. auch BVerfGE 123, 267 (344 und passim).

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über die Analyse des Grundgesetzes zugeschrieben werden.144 Verfassungen – ihr Inhalt und ihre Praxis – verkörpern einen Werte- und Ordnungsentwurf, der der Gesellschaft nicht isoliert gegenübersteht.145 Das Grundgesetz ist nicht nur Ausdruck einer historischen Entstehungssituation; es kann weiter- und auf die Gesellschaft rückwirkend zum Richtpunkt gesellschaftlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Selbstverständigung werden.146 An dieser Orientierung nimmt auch das Verständnis teil, das das Grundgesetz als symbolischen Gegenentwurf zum (NS-)Totalitarismus ansieht: Die Verfassung steht dafür, dass die deutsche Gesellschaft die unrühmliche Vergangenheit ein für alle mal abstreift.147 Dennoch holt diese Vergangenheit die deutsche Gesellschaft regelmäßig ein, wenn Rechtsextremisten skandieren. Obzwar sie eine nicht unerhebliche Zahl von Anhängern versammeln, werden ihre Positionen nicht als Bestandteil der öffentlichen Auseinandersetzung wahrgenommen. Allein ihre teilweise rituelle Ablehnung ist im öffentlichen Diskurs bemerkbar. Hier zeigt die NS-Vergangenheit als Tabu der deutschen Gesellschaft148 ihre Auswirkungen. Ein Tabu markiert den unwiederbringlichen Ausschluss eines Objekts, einer Handlung, eines Spruchs aus der Gemeinschaft. Seine Unberührbarkeit geben dem Tabu eine identitätsstiftende Funktion und verhindern seine Thematisierung und Regelbarkeit, weshalb sich in seinem Vorfeld Verbote ansiedeln, die schon die Annäherung an das Tabu erschweren.149 Das Verbot der NS-Affi rmation legt sich dementsprechend schützend um das Unberühr-, ja Unfassbare des Tabus der NS-Verbrechen. Identitätsbildend wirkt das Tabu, indem es in einem quasi-mythischen Akt der Gemeinschaftsgründung – die Beratungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes – von der Gemeinschaft und ihren Regeln ausgeschlossen wird. Das NS-Tabu stiftete in der Gründungsphase der Bundesrepublik also eine negative Identität – diese Ausschließung wirkt dadurch fort, dass die NS-Vergangenheit im aktuellen Geschehen nicht (annähernd affirmativ) thematisiert werden darf. Die Tabuwirkung erstreckt sich nicht nur auf die Affirmation des Tabus selbst, sondern ebenfalls auf den Umgang mit dieser Affi rmation. Letztere sanktionieren weniger eindeutige Verbote als gesellschaftliche Vermeidungshaltungen sie beeinflussen. Diese Tabustruktur reflektiert sich auch in der deutschen Verfassung. Der Nationalsozialismus ist der normative Nichtort im Grundgesetz150 : „Der Antinazismus des 144 Eine (hier nicht zu leistende) detailliertere Betrachtung dürfte sowohl den gesellschaftlichen Pluralismus als auch den Rückzug von Individuen und kleinen Gruppen von gesellschaftlichen Ansprüchen nicht außer Acht lassen. 145 H. Vorländer, Die Verfassung, 3. Aufl. 2009, S. 10; C. R. Sunstein, On the Expressive Function of Law, East European Constitutional Review 5 (1996/1), 66 (67); G. P. Fletcher, Constitutional Identity, in: Michel Rosenfeld (Hrsg.), Constitutionalism, Identity, Difference, and Legitimacy, 1994, S. 223 ff. 146 Vorländer (Fn. 145), S. 18. 147 S. Dreier (Fn. 65), 667 ff. 148 Deskriptiv und kritisch J. Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 73 ff. 149 S. A. v. Arnauld, Recht – Spiel – Magie, in: ders. (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, S. 101 (111 f.). 150 Im Parlamentarischen Rat wurde man sich einig, dem Nationalsozialismus nicht durch Erwähnung in der Präambel ein „ewiges Denkmal“ (A. Süsterhenn) zu setzen, s. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2000, S. 1303. Anders aber die Präambel der Bayerischen Verfassung: nach ihr führte die „Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen“ zu einem „Trümmerfeld“.

Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG

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Grundgesetzes ist implizit, nicht explizit.“151 Explizit ist demgegenüber die positive Identität des Grundgesetzes: das Bekenntnis zu unmittelbar geltenden Menschenrechten, individueller Autonomie (Art. 1 GG), Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 GG) und damit seine „Wiedereingliederung in die nordamerikanischwestatlantische Verfassungstradition“152. Prima facie vollführt das Bundesverfassungsgericht in seinem Wunsiedel-Beschluss Tabuvernichtung – das Gericht holt das Tabu an die Oberfläche, indem es die Ausgrenzung konkret benennt, das Unberührbare berührt und dadurch entzaubert. Punktuell stieß das Tabu freilich schon vorher in gesetzgeberischen und verfassungsgerichtlichen Entscheidungen hervor, jedoch stets durch die Opferwürde mediatisiert. Das Tabu wird nun zwar expliziert, es erhält eine grundgesetzliche „Adresse“. Letztlich bleibt die Tabustruktur des Grundgesetzes jedoch unangetastet.153 Die NSAusnahme steht seltsam undefiniert hinter dem „eigentlichen“ Text und der „eigentlichen“ Regel des Art. 5 Abs. 2 GG; nach dem Bundesverfassungsgericht schwebt sie sogar zwischen Art. 5 Abs. 1 und 2 GG. Hinzu kommt, dass die Ausnahme Ausdruck einer Anti-NS-Haltung des Grundgesetze im Ganzen sei, die wiederum hinter den Normen versteckt liegt und sich nur negativ im Entstehungskontext und als Schatten der freiheitlichen Prinzipien zeigt. Das Ou-Topische des Tabus wird auf komplexe Weise aufrechterhalten. Das Bundesverfasssungsgericht vernichtet das Tabu also nicht, es verwaltet es. Die Stärke des Tabus zeigt sich gerade im relativ unhinterfragten Grundkonsens der gesellschaftlichen Grundeinstellung, dass NS- oder NS-ähnliche Haltungen keinen Platz in der deutschen Gesellschaft haben. Das Bundesverfassungsgericht schleust diesen Grundkonsens in die Verfassungsinterpretation ein. Nicht unwillkommen:154 in der Verfassung zeige sich – so eine verbreitete Auffassung – ein „Grundkonsens, der auf die endgültige Überwindung und Ächtung der nationalsozialistischen Ideologie gerichtet ist“155. Was ist aber problematisch daran, dass sich alle einig sind? Erstens wird die Normativität der Verfassung aufgelöst, wenn die Verfassung Objekt der herrschenden gesellschaftlichen Auffassungen wird; vorgesehene Verfahren zur Aufnahme gesellschaftlich dominanter Vorstellungen in Recht werden umgangen; das Zentrum der Normativität verlagert sich auf die Gesellschaft. Zweitens widerspricht diese Methode dem Zeitwiderstand einer Verfassung: Ihre Überzeugungskraft müsste leiden, wenn der verfassungsrechtlich bzw. verfassungsgerichtlich versteinerte Grundkonsens einmal dem Grundkonsens der aktuell dominierenden Öffentlichkeit zuwiderläuft.156 Drittens widerspricht die dauerhafte Ausgrenzung einer Minderheit durch die überwältigende Mehrheit den pluralistischen Prinzipien des Grundgesetzes. Schließlich beruhigt die Durchsetzung der Mehrheit zwar deren Gemüter; ihre Verdrängungsstrukturen bleiben jedoch – verkürzt gesprochen – unaufgebrochen; die Konfrontation der Gesellschaft mit sich selbst wird auf staatliche und 151 152 153 154 155 156

ihnen.

U. Rühl, NVwZ 2003, 531 (536). Dreier (Fn. 65), 671. Vgl. v. Arnauld (Fn. 149), S. 112. Volkmann (Fn. 17), 419. Battis / Grigoleit (Fn. 115), 128. Damit sind nicht nationalsozialistische Einstellungen gemeint, sondern die Art des Umgangs mit

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rechtliche Institutionen verschoben, statt offene und damit schmerzliche Verständigung über unmenschliche Ideologien zu provozieren. Trotz aller anerkennenswerten methodischen Transparenz des Wunsiedel-Beschlusses vertraut die Entscheidung konservierend auf die negative Identität des Grundgesetzes, anstatt – was die Neuinterpretation von Art. 5 Abs. 2 GG durchaus hergegeben hätte – positive Identitätsstrukturen zu aktivieren: „more speech, not enforced silence“157. Das Bundesverfassungsgericht diskutiert zwar intensiv die Grundrechtsgemäßheit des Gesetzes. Der Öffentlichkeit wird aber die Möglichkeit abgeschnitten, die Folgen der eigentlich zu bejahenden Verfassungswidrigkeit der Norm zu debattieren. Die Debatte ist durch Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts in gewisser Weise beendet.

V. Schluss Der Wunsiedel-Beschluss erweist sich angesichts seiner Funktion als letztverbindlicher Gerichtsspruch als ungewöhnlich ambivalent; das gilt sowohl für den Umgang mit der Tabustruktur der deutschen Gesellschaft, sowohl mit dem Verhältnis von Recht und Moral als auch mit dem Verhältnis von Regel und Ausnahme. Dank seiner zentralen rechtlichen Stellung agiert das Bundesverfassungsgericht als Hüter des NS-Tabus:158 Es verfügt über das Tabu, hat die Macht über dessen Offenlegung und Fortschreibung. Indem es einerseits sein Vorhofverbot ausspricht und bestätigt, aber gleichzeitig das Tabu selbst mit dieser juridischen Fixierung verdeckt, aktualisiert das Gericht das Tabu in ambivalenter Weise. Ferner bekräftigt das Gericht die freiheitssichernde Grenze von Recht, das äußerliche Rechtsinteressen einander zuordnet, und der Moral, auf deren Innerlichkeit das Recht keinen Anspruch hat.159 Für die Ausnahme der Gutheißung des historischen Nationalsozialismus lässt es allerdings eine Art Gesinnungsverbot durch Recht zu.160 Trotz dieser ambivalenten Haltung bleibt das Bundesverfassungsgericht damit weiterhin auf einer mittleren Spur zwischen dem meinungsliberalen U. S. Supreme Court und dem über den Hebel der Konventionswerte meinungskontrollierenden EGMR.161 Ebenfalls ambivalent agiert das Bundesverfassungsgericht als Souverän über das Verhältnis von allgemeiner Regel und einzigartiger Ausnahme. Im selben verfassungsrechtlichen Moment stellt es – eine alte Regel modifizierend – sowohl eine alle staatliche Gewalt bindende Regel auf als auch die ihr zugehörige und gleichermaßen widersprechende Ausnahme.162 Auch die Allgemeinheit des Gesetzes sichert Freiheit, weil es die Unsicherheit beseitigt, wegen rechtlich zweifelhafter Gründe aus der Allgemeinheit der Bevölkerung herausgegriffen zu werden. Ausnahmen sind zwar unvermeidliche Konsequenz von 157 Whitney v. People of State of California, 274 U. S. 357, 377 (1927) (concurring Brandeis). S. auch Volkmann (Fn. 17), 418. 158 Vgl. G. Maisuradze, Tabu im Spiel und in der Ordnung des Rechts, in: A. v. Arnauld (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, 119 (126 f.). 159 Zu Zweifeln an dieser Grenzziehung U. Volkmann (Fn. 17), 419. 160 Schaefer (Fn. 66), 380. 161 Hong (Fn. 72), 116 f. 162 Michael (Fn. 33), 164; Rusteberg (Fn. 66), 166.

Diskriminierung (rechts)extremer Meinungen nach Art. 5 Abs. 2 GG

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Regeln,163 können aber, sowohl um Ungerechtigkeit zu vermeiden als auch um gerechten Zielen zu dienen, erforderlich sein. Das Zusammenspiel von Regel und Ausnahme muss unter der Wirkung dirigierender Prinzipien – wie dem Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 a. E. GG) – austariert werden. Angesichts dieser „Stimmigkeitsforderung“ bleibt eine Irritation zurück, wenn das Bundesverfassungsgericht auf paradoxe Weise eine verfassungsrechtliche Regel einerseits konsequenter und strenger auslegt als bisher und ihr gleichzeitig eine der seiner Ansicht nach gebotenen Strenge zuwiderlaufenden Ausnahme hinzufügt.

163 Zur weiter führenden rechtstheoretischen Differenz von Regeln und Prinzipien R. Alexy, ARSP, Beiheft NF 25 (1986), 13 ff.; B. Schilcher / P. Koller / B.-C. Funk (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, 2000.

Staatszielbestimmungen und Verfassungswerte als Problem des Verfassungsrechts von

Dr. Antonio D’Atena Professor für Verfassungsrecht an der „Tor Vergata“ Universität Rom

Inhalt 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die ideologische (axiologische) Prägung der zeitgenössischen Verfassungstexte und die besonderen Merkmale der Verfassungslegalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Frage der Normativität der Staatszielbestimmungen der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Verfassung als System von Prinzipien und Werten in gegenseitigem Konfliktverhältnis. Das Problem der Priorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fortsetzung: die Alternative von Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Notwendigkeit einer Entwicklung der Verfassungsregelung und die Einführung von „ad hoc“-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Vorbemerkungen Die „literarische Gattung“ Verfassung weist eine besondere stilistische Eigenheit auf, und zwar den Umstand, dass in den Verfassungstexten neben den „vollständigen“ (auch self-executing genannten) Rechtssätzen – also neben den Bestimmungen, die imstande sind, unmittelbar das zu bewirken, wofür sie erlassen wurden – bemerkenswert häufig Bestimmungen auftreten, die nicht dazu imstande sind. Diese brauchen, um ihre Wirkung voll zu entfalten, den vermittelnden Eingriff des Gesetzgebers, der sie durch Ausführungsgesetze ergänzt, sodass die von ihnen genannten Ziele erreicht werden können. Es handelt sich um eine Eigenheit, die den modernen Konstitutionalismus seit seinem Entstehen prägt. Das lässt sich an den ersten historischen Verfassungen nachweisen: den von den ehemaligen nordamerikanischen Kolonien vor dem Entstehen der Vereinigten Staaten beschlossenen Verfassungen. Dort gibt es zahlreiche Beispiele für diese Technik der Rechtsetzung. Man denke nur an den wiederholten

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Verweis auf das Prinzip der Gewaltenteilung1. Das gleiche gilt für die Normen, die dem Staat die Pfl icht auferlegten, Schulen zu errichten2, die Strafgesetzgebung zu verändern, um blutige Strafen einzuschränken3, nicht allzu hohe Kautionen und Geldstrafen zu fordern4 oder eine Gesetzgebung zu schaffen, die die Tugend befördert und dem Laster und der Unmoral vorbeugt5. Die historisch-politische Tragweite derartiger Formulierungen ist offensichtlich. Sie umreißen das Gesellschaftsmodell, das die Väter und die Mütter der Verfassung verwirklichen wollen, und geben die Ziele an, die dafür vom Gesetzgeber zu verfolgen sind. Mit den Worten eines der Mitglieder der italienischen verfassungsgebenden Versammlung, Piero Calamandrei, könnte man sagen, dass solche Sätze eine Art „versprochene Revolution“ darstellen6. Es handelt sich zudem um Bestimmungen, die auf stark ideologisch untermauerten Wertentscheidungen beruhen.

2. Die ideologische (axiologische) Prägung der zeitgenössischen Verfassungstexte und die besonderen Merkmale der Verfassungslegalität Diese ideologische (oder axiologische) Prägung ist in den Verfassungstexten des 20. Jahrhunderts besonders deutlich spürbar, da sie zahlreiche Formulierungen der oben beschriebenen Art aufweisen. Es handelt sich vor allem um Programmsätze im engeren Sinn, die so genannten Staatszielbestimmungen, die die Entwicklungslinien der Rechtsordnung durch die Festlegung der Ziele, die der Gesetzgeber zu verfolgen hat, vorzeichnen. Zu dieser Kategorie sind zum Beispiel, im Bezug auf die italienische Verfassung, die Bestimmungen zu zählen, die dem Staat die Förderung der Dezentralisierung der lokalen Gebietskörperschaften (Art. 5), den Mutterschafts-, Kindheits- und Jugendschutz (Art. 31, Abs. 2), den Schutz der Spartätigkeit (Art. 47), die Entwicklung des Handwerks (Art. 45, Abs. 2), den Schutz der Landschaft und des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation (Art. 9, Abs. 2) oder das Recht auf Klageerhebung

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Maryland, VI, North Carolina, IV. North Carolina, XLI: „That a school or schools shall be established by the legislature, for the convenient instruction of youth, with such salaries to the masters, paid by the public, as may enable them to instruct at low prices; and, all usefull learning shall be duly encouraged and promoted in one or more universities. 3 South Carolina, XL: „That the penal laws, as heretofore used, shall be reformed, and punishments made in some cases less sanguinary, and in general more proportionate to the crime.“ 4 Vermont, Section XXVI: „Excessive bail shall not be exacted for bailable offences: and all fi nes shall be moderate.“ 5 Vermont, Section XLI: „Laws for the encouragement of virtue and prevention of vice and immorality, shall be made and constantly kept in force.“ 6 Calamandrei, Cenni introduttivi sulla Costituente e sui suoi lavori, in Commentario sistematico alla Costituzione italiana, herausg. von P. Calamandrei u. A. Levi, Firenze 1950, Band. I, S. XXXV, Idem, La Costituzione e le leggi per attuarla, in Valiani / De Rosa / Calamandrei / Battaglia / Corbino / Lussu / Sansone, Dieci anni dopo, Bari, 1955, 215. 2

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und Verteidigung für mittellose Personen (Art. 24, Abs. 3) vorschreiben. Und man könnte weitere Beispiele anführen.7 Auf dieselbe Kategorie können außerdem die Bestimmungen zurückgeführt werden, mit denen der liberale Konstitutionalismus auf die Kritik der so genannten bürgerlichen Freiheiten reagierte, die von der marxistischen Lehre vorgebracht wurde8. Dies betrifft die Klauseln zu den sozialen Grundrechten9, die zum ersten Mal in der mexikanischen Verfassung von 1917 und in der Weimarer Verfassung von 1919 auftauchten. Darin werden Rechte anerkannt, die sich nicht an die ausgesprochen negative Prägung der klassischen Freiheitsrechte des 19. Jahrhunderts anlehnen, mit denen sie gemeinsam aufgelistet werden: das Recht auf Gesundheit (Art. 32 it. Verf.), das Recht auf eine „ausreichende“ Entlohnung (Art. 36 it. Verf.), das Recht auf Gleichbehandlung der berufstätigen Frauen und Minderjährigen (Art. 37 it. Verf.), das Recht auf Sozialversicherung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen (Art. 38 it. Verf.), das Recht auf Arbeit (Art. 4 it. Verf.). Diese Rechte betreffen Leistungen, in deren Genuss man nur kommen kann, wenn der Staat in bestimmten Bereichen aktiv tätig wird.10

3. Die Frage der Normativität der Staatszielbestimmungen der Verfassung Ein Problem, das sich bei den bisher genannten Verfassungstechniken im Vorfeld stellt, ist das der Wirksamkeit11. Man muss sich nämlich fragen, ob diese Bestimmungen sich ausschließlich an den Gesetzgeber adressieren oder ob sie über eine unmittelbare normative Wirkung verfügen.

7 In der italienischen Verfassung gibt es ungefähr zwanzig Staatszielbestimmungen. Außer den bereits im Text zitierten handelt es sich um Bestimmungen folgenden Inhalts: substantielle Gleichheit (Art. 3, Abs. 2), Bedingungen, die das Recht auf Arbeit verwirklichen (Art. 4, Abs. 1), Kultur und Forschung (Art. 9, Abs. 1), Schutz der sprachlichen Minderheiten (Art. 6), Schulbildung fähiger und verdienstvoller Schüler (Art. 34, Abs. 2,3), berufl iche Fortbildung der Arbeitnehmer (Art. 35, Abs. 2), Förderung des Genossenschaftswesens auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit (Art. 45, Abs. 1), Zugang des Kleinsparers zum Wohnungseigentum (Art. 47, Abs. 2), demokratische Grundordnung der Wehrverfassung (Art. 52, Abs. 3), Unabhängigkeit des Staatsrats, des Rechnungshofs (Art. 100) und des Verfassungsgerichts (Art. 137, Abs. 1), sowie der Richter und Staatsanwälte der Sondergerichtsbarkeit und der an der Rechtsprechung mitwirkenden Beisitzer (Art. 108, Abs. 2). 8 S. dazu: Battaglia, Dichiarazioni dei diritti, in Encicl. dir., XII, Milano 1964, 417 ff. 9 Zu den Problemen, die die Anerkennung der sozialen Grundrechte mit sich bringt, s. in der neueren italienischen Fachliteratur: Baldassarre, Diritti sociali, in Encicl. giur. Treccani, XI, Roma 1988 ( jetzt in Diritti della persona e valori costituzionali, Torino 1997, 123 ff.); Pace, Problematica delle libertà costituzionali. Parte generale, 2. Aufl., Padova 1990, 59 ff.; Luciani, Sui diritti sociali, in Studi in onore di M. Mazziotti di Celso, Padova 1995, 97 ff. 10 Vgl. dazu bes. Grossi, I diritti di libertà ad uso di lezioni, II. 1, 2. Aufl., Torino 1991, 274 ff., wie auch vorher Mazziotti Di Celso, Diritti sociali, in Encicl.dir., XII, Milano 1964, 802 ff., bes. 804. S. außerdem in Bezug auf die positiven Beiträge, die die volle Ausübung der Freiheitsrechte garantieren sollen: Pace, Problematica delle libertà costituzionali. Parte generale, a.a.O., 28, Anm. 1. 11 Für eine Zusammenfassung der diesbezüglichen Diskussion vgl.: Nania, Il valore della Costituzione, Milano 1986, 69 ff.; s. auch: Dogliani, Interpretazioni della Costituzione, Torino 1982, 27 ff.

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Manchmal ist das Problem ausdrücklich vom positiven Recht geregelt. Man denke zum Beispiel an Art. 53, Abs. 3 der geltenden spanischen Verfassung, nach dem die richterliche Anwendung der Bestimmungen im dritten Kapitel des zweiten Titels der Verfassung („principios rectores de la politica social y economica“) von der Implementierung dieser Bestimmungen durch den Gesetzgeber abhängig gemacht wird12. Man denke auch an Art. 1 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes, der – die entgegengesetzte Lösung – festlegt, dass die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte (von denen einige das Wesen sozialer Grundrechte13 haben) als „unmittelbar geltendes Recht“ bindend für die drei Staatsgewalten sind14. Aber im Allgemeinen bieten die Verfassungstexte nicht so eindeutige Angaben. In solchen Fällen ist die zuvor genannte Alternative von großer Bedeutung. Wenn man sich der ersten Auffassung anschließt, erkennt man damit den Staatszielbestimmungen das Wesen von Vorschriften mit zeitversetzter Wirksamkeit zu, die nur dann juristisch bedeutsame Wirksamkeit haben können, wenn der Gesetzgeber sie durch die nötigen Ausführungsbestimmungen in Kraft setzt15. Auf diese Art sind sie letzten Endes als reine Empfehlungen an das Parlament zu verstehen, wenn nicht gar als bloße Absichtserklärungen. Wenn man stattdessen von der zweiten Auffassung ausgeht, lassen sich aus den gegebenen Bestimmungen drei Folgen ableiten. Man kann davon ausgehen, dass sie: a) juristisch (und nicht nur politisch) verbindlich für den Gesetzgeber sind; b) die Verfassungswidrigkeit von untergeordneten, nicht mit ihnen vereinbaren Normen verursachen; c) zur Festlegung der allgemeinen Rechtsprinzipien beitragen, die nötig sind, sowohl um Rechtslücken zu schließen als auch für die systematische Rechtsinterpretation. In Italien hat sich nach einer lebhaften Debatte diese letztere Auffassung der Staatszielbestimmungen der Verfassung durchgesetzt, wobei einer der bedeutendsten italienischen Verfassungsrechtler des 20. Jahrhunderts, Vezio Crisafulli, die Hauptrolle gespielt hat16. Tatsächlich hat der Verfassungsgerichtshof es für richtig befunden, be12 S. dazu Rodriguez-Zapata, Theoria y pratica del derecho constitucional, Madrid 1996, 129 (der auf eine Tendenz der Rechtswissenschaft verweist, nach der diese Prinzipien auch unabhängig von ihrer Verwirklichung durch das Gesetz eine Wirkung auf die verfassungskonforme Auslegung der ordentlichen Gesetzgebung hätten). 13 . . . wie das Recht auf Mutterschutz (Art. 6, Abs. 4) und der Schutz der unehelichen Kinder (Art. 6, Abs. 5). 14 „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ 15 Nach Inkrafttreten der italienischen Verfassung von 1947 wurde diese Auffassung mehrheitlich von der Rechtsprechung geteilt, die davon ausging, dass die so genannten Staatszielbestimmungen ausschließlich an den Gesetzgeber gerichtet seien und verneinte, dass sie einen unmittelbaren Einfluss auf die bereits bestehende Gesetzgebung haben könnten. So u. a.: Cass. Pen., 7. 2. 1948, in Foro it., 1948, II, 57; Cons St., V, 26. 5. 1948, in Giur.it., 1948, III, 81; App. Brescia, 16. 7. 1948, in Corte Bresc., 1948, II, 72. Einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Ausrichtungen der ordentlichen Rechtsprechung in Bezug auf die einzelnen Zielbestimmungen der neuen Verfassung gewinnt man aus der Rassegna di giurisprudenza sulla Costituzione e sugli Statuti regionali (dal 1948 al 1955), in Giur.cost., 1956, 272 ff. 16 Vgl. bes. die Aufsätze in Crisafulli, La Costituzione e le sue disposizioni di principio, Milano 1952, allgemein, s. dazu auch: Barile, La Costituzione come norma giuridica, Firenze 1951, bes. 55 ff.

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reits ab der ersten Entscheidung (Urteil Nr. 1/1956) Gesetze, die nicht mit den Programmsätzen der Verfassung vereinbar waren, für nichtig zu erklären. Um die konkrete Tragweite dieser Lösung ermessen zu können, wollen wir ein Beispiel aus Art. 37 it. Verf. anführen. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Arbeitsbedingungen der berufstätigen Frau „ihr die Erfüllung ihrer Hauptaufgabe in der Familie gestatten und insbesondere einen angemessenen Schutz von Mutter und Kind gewährleisten“ müssen. Es ist offensichtlich, dass zur vollständigen Erreichung des in dieser Norm genannten Ziels der Eingriff des Gesetzgebers unabdingbar ist. Nur der Gesetzgeber kann den Schwangerschaftsurlaub oder die verpfl ichtende Einrichtung von Kinderkrippen am Arbeitsplatz festsetzen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Verfassungsnorm in Erwartung von Ausführungsgesetzen zur gänzlichen Unwirksamkeit verdammt wäre. Sie kann nämlich eventuelle gesetzliche Normen, die eine Kündigung im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaft vorsähen, verfassungswidrig machen und damit deren Nichtigkeitserklärung durch den Verfassungsgerichtshof rechtfertigen. Aber das ist noch nicht alles. Aus dem Vorhandensein von nicht durchgeführten Staatszielbestimmungen in der Verfassung kann die Rechtsprechung auch nachhaltigere Schlussfolgerungen ziehen. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür liefert in Italien der Art. 36, Abs. 1, der festlegt, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine „ausreichende“ und dem Umfang und der Art der Arbeitsleistung entsprechende Entlohnung hat. Dass es sich hierbei um einen Programmsatz handelt, steht außer Zweifel. Er gibt nämlich die allgemeinen Merkmale an, die die Entlohnung aufweisen muss, ohne diese selbst festzulegen. Er sagt zum Beispiel nicht, welche Entlohnung angemessen für die Art der Arbeit eines Druckers oder eines Krankenpflegers oder eines Narkosearztes ist . . . Um diese Norm auszuführen, hat Art. 39 der Verfassung eine besondere Rechtsquelle vorgesehen: den öffentlich rechtlichen Tarifvertrag, der von Delegationen ausgehandelt werden muss, in denen alle „eingetragenen“ Gewerkschaften der betreffenden Berufsgruppe vertreten sind (es handelt sich um die so genannten erga omnes Tarifverträge). Dieser Rechtsquelle wurde für jede einzelne Berufsgruppe die Festlegung der Entsprechung von Art der Arbeit und Entlohnung übertragen. Aber auf Grund der Opposition zahlreicher Gewerkschaften ist Art. 39 Verf. nach mehr als 60 Jahren seines Inkrafttretens noch nicht ausgeführt. Der Gesetzgeber hat nämlich nie das Verfahren der Eintragung der Gewerkschaften geregelt. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: – Die einzigen existierenden Tarifverträge sind privatrechtlicher Natur: unterzeichnet von den einzelnen (nicht eingetragenen) Gewerkschaften und mit einer auf die eingeschriebenen Mitglieder beschränkten Gültigkeit; – Arbeitnehmer, die in keiner Gewerkschaft eingeschrieben sind (oder genauer: in keiner der Gewerkschaften, die den Tarifvertrag unterzeichnet haben) genießen keinerlei Schutz.

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Daraus geht klar hervor, dass wenn die italienischen Richter die erste der beiden anfangs genannten Auffassungen vertreten hätten, Art. 36 der Verf. totes Recht geblieben wäre. Diesen Weg hat die Rechtsprechung jedoch nicht eingeschlagen. Um auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zu schützen, wurde die unmittelbare Anwendung des Art. 36 Verf. beschlossen. Aus dieser Norm wurde das Recht abgeleitet, die konkrete Höhe der Entlohnung zu bestimmen. Um jedoch willkürlichen Bewertungen vorzubeugen, wird die genannte Höhe der Entlohnung den privatrechtlichen Tarifverträgen angeglichen. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die privatrechtlichen Tarifverträge, obwohl sie juristisch keine Wirksamkeit für die Arbeitnehmer haben, die nicht in den als Tarifvertragsparteien auftretenden Gewerkschaften organisiert sind, besonders zuverlässige Bewertungen für die Entsprechung von Art der Arbeit und Entlohnung liefern. Daher wird es dem Richter möglich, den Art. 36 Verf. „auszufüllen“ und die darin geforderte Regelung zu ergänzen , womit dem Prinzip der Entsprechung von „Art“ und Entlohnung der geleisteten Arbeit ein konkreter Inhalt verliehen wird.

4. Die Verfassung als System von Prinzipien und Werten in gegenseitigem Konfl iktverhältnis. Das Problem der Priorität Die Anerkennung des Umstands, dass die in der Verfassung enthaltenen Staatszielbestimmungen imstande sind, vor der Anwendung von Ausführungsgesetzen eine juristische Wirksamkeit zu entfalten, löst jedoch nicht alle Probleme, da die Werte, die durch derartige Bestimmungen Eingang in die Verfassung finden, im Allgemeinen heterogen sind. Zuweilen sind es Werte, die in einem Konfl iktverhältnis zueinander stehen. Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich an der in Italien bestehenden Verfassung beweisen, die bei gründlicher Lektüre ein besonders ausgearbeitetes und differenziertes Wertsystem durchscheinen lässt, das Werte umfasst wie : Gleichheit (was auch in substantieller Bedeutung zu verstehen ist)17, Menschenwürde18, Demokra-

17 Art. 3, Abs. 1 und 2. Zum Begriff der substantiellen Gleichheit vgl.: Romagnoli, Il principio di eguaglianza sostanziale, in Comm. cost. Branca, I, Principi fondamentali, Roma-Bologna 1975, 162 ff.; Caravita, Oltre l’eguaglianza formale, Padova 1984. 18 Dieser Wert wird direkt angesprochen in Art. 41, Abs. 2, Art. 32 und Art. 36, Abs. 1, wo es heißt, dass a) die privatwirtschaftliche Betätigung keine Beeinträchtigung der „Menschenwürde“ mit sich bringen darf; b) dass die Heilbehandlungen „die Würde der menschlichen Person“ nicht verletzen dürfen; c) dass die Entlohnung für den Arbeitnehmer und seine Familie ein „freies und menschenwürdiges“ Dasein sichern muss. Er ist außerdem eine Voraussetzung für alle Freiheitsnormen (angefangen von der zur „persönlichen“ Freiheit) und für verschiedene Bestimmungen (wie Art. 27, Abs. 2, der „menschenunwürdige“ Behandlungen verbietet und auf dem Prinzip der Erziehung und Besserung durch die Strafe besteht). Diese Bestimmungen lassen in ihrer Gesamtheit ein Menschenbild durchscheinen, das auf der Würde der Person basiert. Zum Menschenbild grundlegend: Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl., Berlin, 2007.

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tie19, Pluralismus20, Freiheit21, Frieden 22, nationale Einheit23, Familie24, Mutterschaft25, Arbeit26, gesunde Umwelt27, Verteidigung des Vaterlandes28. Dies ist nicht der Ort für eine eingehendere Analyse. Es soll jedoch hervorgehoben werden, dass eines der bedeutendsten Strukturmerkmale der gegenwärtigen Verfassungstexte darin besteht, dass sie heterogene, miteinander konfl igierende Prinzipien und Werte umfassen 29. (Max Weber sprach diesbezüglich von Polytheismus der Werte30.) Dies ist die unmittelbare Konsequenz der kompromissartigen Natur eines Großteils der Verfassungen des 20. Jahrhunderts (angefangen von der Weimarer Verfassung). Sie sind häufig das Ergebnis einer Auseinandersetzung in den verfassungsgebenden Versammlungen zwischen politischen Kräften, die unterschiedlichen Weltanschauungen (und damit unterschiedlichen Werten oder zumindest einer unterschiedlichen Priorität der Werte) verpfl ichtet sind 31. Daher beruht das Verfas19 Man denke an Art. 1, Abs. 1 (der die Republik als „demokratisch“ bezeichnet), an die Normen zum Wahlrecht und zur Volksabstimmung (Artt. 48, 75, 123, Abs. 1, 138), an die Bestimmungen über die Versammlungen der Volksvertreter (auf den verschiedenen Regierungsebenen), an die Vorschrift, die die Eintragung der Gewerkschaften von deren demokratischer innerer Struktur abhängig macht (Art. 39, Abs. 3), an die Norm, die den Parteien den „demokratischen Weg“ vorschreibt (Art. 49), an die Bestimmung, nach der sich die Wehrverfassung an der „demokratischen Grundordnung“ der Republik auszurichten hat (Art. 52, darüber: Balduzzi, Principio di legalità e spirito democratico nell’ordinamento delle forze armate, Milano 1988, bes. 156 ff.). 20 Dieser Wert lässt sich an der Formulierung ablesen, die die wesentliche Funktion der gesellschaftlichen Gruppen für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit betont (Art. 2, Abs. 1), ebenso an dem Prinzip der Förderung der Gebietskörperschaften (Art. 5), an den Bestimmungen über den Pluralismus der Religionen, der Gewerkschaften und Parteien (Artt. 8, 39 und 49), an der vollen Anerkennung der Vereinigungsfreiheit (Art. 18), an der Norm zum Schutz der sprachlichen Minderheiten (Art. 6). 21 Vgl. bes. die Artt. 2 und 13 ff. 22 Art. 11, der „Souveränitätsbeschränkungen“ zulässt, die zur Schaffung einer Frieden und Gerechtigkeit unter den Völkern sichernden Ordnung erforderlich sind. Dazu: Chieffi, Il valore costituzionale della pace, Napoli 1990. 23 Abzulesen aus dem Prinzip der „Einheit“ und „Unteilbarkeit“ der Republik in Art. 5, Abs. 1. 24 Vgl. außer den Bestimmungen, die ausdrücklich diesem Thema gewidmet sind (Artt. 29–32), auch diejenigen, die indirekt darauf Bezug nehmen, wie Art. 36 (der, wie schon zitiert, die Entlohnung im Hinblick auf ein freies und menschenwürdiges Dasein des Arbeitnehmers und seiner Familie definiert) oder Art. 37 ( mit Bezug auf die Funktion der berufstätigen Frau in der Familie). Zum systematischen Zusammenhang dieser Bestimmungen vgl. Esposito, Famiglia e figli nella Costituzione italiana, in La Costituzione italiana. Saggi, Padova 1954, 144 ff. 25 Vgl. Artt. 31 und 37, a.a.O. 26 Art. 1, Abs. 1 („Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik“), Art. 4 (Recht auf Arbeit), Artt. 35 ff. 27 Vgl. vor allem die Artikel 9 und 32. Dazu: Simoncini, Ambiente e protezione della natura, Padova 1996, 109 ff. 28 . . . die Art. 52, Abs. 1 als „heilige“ Bürgerpfl icht defi niert. 29 Zu dieser Komplexität des Wertsystems vgl. allgemein: Häberle, Die Verfassung des Pluralismus. Studien zur Verfassungstheorie der öffenen Gesellschaft, Königstein/Ts. 1980; Ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, Freiburg-München 1981. 30 Vgl. z. B.: Weber, Wissenschaft als Beruf, 1922. 31 Grundlegend dazu, in Bezug auf die Weimarer Verfassung, aber auch darüber hinaus, die Betrachtungen von Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, 29 ff. Besondere Berücksichtigung des Paktes, aus dem die italienische Verfassung von 1947 hervorgegangen ist, fi ndet sich in Crisafulli, La Costituzione e le sue disposizioni di principio, a.a.O., 30 ff. S. schließlich allgemein: Mortati, Costituzione (dottrine generali), in Encicl. dir., XI, Milano, 1962, 184 ff.

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sungsrecht nicht auf einheitlichen oder zumindest homogenen Grundprinzipien, sondern weist Konfl ikte im Wertsystem auf. Diese Erscheinung ist besonders auffallend in Bezug auf die Staatszielbestimmungen, die ihrer Beschaffenheit nach auf Kollisionskurs gehen, wenn die volle Erfüllung des jeweils darin ausgesprochenen Ziels unvereinbar mit Zielen anderer Bestimmungen ist. Man betrachte zum Beispiel die möglichen Konfl ikte zwischen zwei oft von den Verfassungen angestrebten Zielen: Umweltschutz und wirtschaftlicher Entwicklung32. Es ist einleuchtend, dass ein absoluter Umweltschutz keinerlei Einrichtung von Produktionsstrukturen erlauben würde, die irgend eine Auswirkung auf die natürliche Umwelt haben. Die Errichtung von Fabriken oder Elektrizitätswerken wäre ausgeschlossen, wodurch sich ein Konfl ikt mit den Zielen der wirtschaftlichen Entwicklung ergeben würde. Umgekehrt wäre eine ebenso absolute Wirtschaftsentwicklung natürlich umweltfeindlich und würde die Umwelt den Zielen der Produktion opfern. Bei genauerem Hinsehen kann man die Überlegungen aber auch allgemeiner fassen. Der Wertkonfl ikt kann nämlich auch zwischen anders strukturierten Bestimmungen oder Regelungen auftreten. Man denke beispielsweise an das Konfl iktverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit, das einen Kernpunkt in der gesamten Dynamik der gegenwärtigen freiheitlichen Demokratien darstellt: die Gleichheit, die – wie Thomas Mann 1950 in einer Rede an der Universität Chicago in einzigartiger Klarheit unterstrichen hat – den Keim der Tyrannei in sich trägt, und die Freiheit, die zu anarchistischer Auflösung führen kann33. Ein anderes Beispiel ist der Konfl ikt zwischen Unitarismus und Autonomie, von deren dialektischem Verhältnis die föderalen und regionalen Ordnungen geprägt sind 34. Das größte Problem dieser axiologischen Komplexität ist das der Prioritäten, wenn es darum geht, potentielle oder vorhandene Wertkonfl ikte zu entscheiden. In vielen Fällen wird das Problem von der Verfassung gelöst, die direkt die von ihr anerkannten Werte gegeneinander abwägt. In Italien ist das zum Beispiel der Fall bei dem Konfl ikt zwischen den zwei Polaritäten der freiheitlichen Demokratie oder bei dem eben genannten Konfl iktverhältnis von Unitarismus und Autonomie, die ihre Beilegung in der von der Verfassungsordnung genau dosierten Abwägung der antagonistischen Elemente finden. Es fehlt auch nicht an Fällen, in denen der Verfassungstext klar und deutlich die Priorität angibt, auf der seine Vorschriften basieren35. 32

Dazu: Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in Ders., Die Verfassung des Pluralismus, a.a.O.,

193 f. 33 Mann, Meine Zeit, jetzt in Über mich selbst. Autobiographische Schriften, Frankfurt am Main 1994, 25: „Sie widersprechen einander und können nie zu idealer Vereinigung gelangen, denn Gleichheit trägt in sich die Tyrannei und Freiheit die anarchistische Auflösung“. 34 In Bezug auf den zweiten Konfl ikt vgl. die klassischen Studien von Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907, und Fleiner, Unitarismus und Föderalismus in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten von Amerika, Jena 1931. Zum ersten Konfl ikt s. unter den neuesten Studien: D’Atena, Das demokratische Prinzip im System der Verfassungsprinzipien, in Jahrbuch des Öffentlichen Rechts (47), 1999, 1 ff., dort auch weitere bibliographische Hinweise. 35 Dazu, stellvertretend für alle: Baldassarre, Libertà, a.a.O., 304, 306; Chieffi, Il valore costituzionale della pace, a.a.O., 96 f.

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Die italienische Verfassung ordnet etwa die Freiheit der Meinungsäußerung ausdrücklich dem Sittengesetz unter. „Druckschriften, Film- und Theatervorführungen sowie sonstige Veranstaltungen, die gegen das Sittengesetz verstoßen, sind verboten“ (Art. 21, Abs. 6). Eine ähnliche Lösung gilt für ein ebenfalls von der Verfassung garantiertes Grundrecht, die Religionsfreiheit. Art. 19 gewährt nämlich die Verfassungsgarantie nur, „sofern die Religionspraxis nicht gegen das Sittengesetz verstößt“. Weitere Beispiele aus der italienischen Verfassung sind die Rangordnung zwischen der Gesundheit und der Unverletzlichkeit der Wohnung, indem ausdrücklich Durchsuchungen aus sanitären Gründen gestattet werden (Art. 14, Abs. 3), das ähnliche Verhältnis zwischen der Versammlungsfreiheit und der öffentlichen Sicherheit. In der Tat dürfen Versammlungen an öffentlichen Orten untersagt werden, „wenn nachweislich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht“ (Art. 17, Abs. 3). Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Verfassungen keine klaren Prioritäten setzen, in denen also keine hierarchische Wertordnung vorliegt. Dann bevölkert der Polytheismus der Werte, von dem Max Weber sprach, einen Olymp ohne Rangordnung. Daraus ergeben sich Konfl ikte ohne klare Kriterien für deren Beilegung: das gilt für die schon zitierte Wirtschaftsentwicklung und den Umweltschutz36 oder den Landschaftsschutz (Art. 9 Verf.) und die Verteidigung des Vaterlands37, das Streikrecht und die damit konfl igierenden Grundrechte38, die Privacy (in ihren verfassungsmäßig garantierten Grenzen39 ) und das Recht auf Berichterstattung.

5. Fortsetzung: die Alternative von Gesetzgebung und Rechtsprechung Für die Behandlung der Probleme, die durch die ungelösten (oder nicht eindeutig gelösten) Konfl ikte aufgeworfen werden, gibt die Lehre zwei Lösungen an, die normalerweise als Alternativen gesehen werden. Die erste Lösung ist die der Vermittlung durch den Gesetzgeber. Auf diese Weise müssten die Prioritäten vom Gesetzgeber festgelegt werden, und zwar in eigen-

36 Dieses Konfl iktverhältnis wird oft im Hinblick auf die Ordnung der EU-Verträge unterstrichen. Vgl. z. B. Bleckmann, Teleologie und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in Europarecht, 1979, 243 ff.; Gerard, Votum, in Verschiedene Autoren, L’Europe et ses Régions, Liège-La Haye 1975, 144. 37 Zur diesbezüglichen Verfassungsrechtsprechung s. Chieffi, Il valore costituzionale della pace, a.a.O., 95. 38 Dazu: D’Atena, La legge sullo sciopero nei servizi pubblici essenziali: profili sistematici, in Giust. civ., 1994 (und in Studi Galeotti, I, Milano 1998); Ders., Sciopero nei servizi pubblici essenziali, in Encicl.dir., III aggiornamento, Milano 1999. 39 Zu den Grundlagen und Grenzen dieses Rechts s. Pace, Problematica delle libertà costituzionali. Parte speciale, 2. Aufl., Padova 1992, 213 f.; Grossi, I diritti di libertà ad uso di lezioni, a.a.O., 259 f. Vgl. auch, mit besonderer Berücksichtigung der Lage in den USA: Baldassarre, Privacy e Costituzione. L’esperienza statunitense, Roma 1974, 361 ff.

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ständiger politischer Entscheidung40, die nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit unterliegt. In Italien wird die zweite Lösung bevorzugt. Hier geht man davon aus, dass das von der Verfassung akzeptierte pluralistische Wertsystem einen Meta-Wert voraussetzt, nämlich die Erhaltung des Gleichgewichts von eben diesen Werten. Dank dieses Meta-Werts darf kein Wert die vollständige Aufgabe eines anderen, mit ihm konfl igierenden Wertes zur Folge haben. Auf dieser Grundlage empfiehlt sich die Abwägung (oder das In-Einklang-bringen) der Werte als die beste Methode, die vom Richter nach Vernunftkriterien angewandt wird41. Beide Lösungen enthalten ein Stück Wahrheit. In gewissen Fällen steht die Unumgänglichkeit des legislativen Eingriffs außer Frage42. Das gilt zum Beispiel für die so genannten Leistungsrechte, die zwar auch vor dem Erlass von Ausführungsgesetzen einige Wirkungen haben, aber nur dank letzterer vollständig wirksam werden können43. Es ist offensichtlich, dass nur der Gesetzgeber der berufstätigen Mutter den Schwangerschaftsurlaub garantieren kann. Ebenfalls kann nur der Gesetzgeber durch die Finanzierung von Krankenhäusern dem Recht auf Gesundheit, wie es in Art. 32 der it. Verfassung verbürgt ist, die nötige Wirksamkeit verleihen. Ein Umstand, dem man nicht zustimmen kann, ist, dass dem gesetzgebenden Organ eine Vorzugsstellung in Bezug auf eine generelle Lösung der Wertkonfl ikte in der Verfassung eingeräumt wird. Da dieses Organ nach dem Mehrheitsprinzip funktioniert, kann es die Konfl ikte im Verfassungstext nur lösen, indem es die eine oder die andere Seite im Konfl ikt bevorzugt, wodurch das aus der Verfassung hervorgegangene Gleichgewicht gestört, wenn nicht sogar umgestürzt wird44.

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So z. B.: Starck, La légitimité de la justice constitutionnelle et le principe democratique de majorité, in Brito u. a.(Hgg.), Legitimidade e legitimaçâo da justiça constitutional, Coimbra 1995, 70 (dort auch weitere Verweise). 41 Auf dieser Linie liegt vor allem Zagrebelsky, Il diritto mite, a.a.O., 11 f. Vgl. auch: Modugno, I „nuovi diritti“ nella giurisprudenza costituzionale, a.a.O., 101: „Im Ausgleich kann das einzelne Recht, das als Bezugswert angesehen wird, eingeschränkt werden, um die mit ihm konfl igierenden Werte zu schützen (. . .) bis zu einem Punkt äußerster Spannung, solange dies nicht deren totale Aufgabe bedeutet, d. h. solange deren unabdingbare Daseinsberechtigung nicht in Frage gestellt wird.“ 42 Zur Unverzichtbarkeit des Gesetzgebers für die Verwirklichung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat: Häberle, Bedeutungsgehalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaats, in Ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, Baden-Baden, 1996, ins. 531 f. 43 Vgl zu dieser Frage z. B. Pace, Problematica delle libertà costituzionali. Parte generale, a.a.O., 59 ff.; Starck, Über Auslegung und Wirkungen der Grundrechte, in Praxis der Verfassungsauslegung, Baden-Baden 1994, 32 ss.; Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in Isensee/Kirchhof (Hgg.), Handbuch des Staatsrechts, V. Allgemeine Grundrechtslehren, 1992, 315 ff. In Bezug auf die (wenn auch beschränkte) Wirksamkeit, die die Normen, in denen solche „Rechte“ anerkannt werden, vor dem Erlass der Ausführungsgesetze haben können, s. Crisafulli, La Costituzione e le sue disposizioni di principio, a.a.O., 36 ff., 75 ff. Zu der diesbezüglichen Ausrichtung des Verfassungsgerichtshofs vgl. Colapietro, La giurisprudenza costituzionale nella crisi dello Stato sociale, Padova 1996, 370 ff. 44 Auf dieser Linie: Cerri, Il „principio“ come fattore di orientamento interpretativo e come valore „privilegiato“: spunti ed ipotesi per una distinzione, in Giur. cost., 1987, 1827; D’Atena, Autorità di garanzia e qualità della legalità costituzionale, in Amato u. a., Regolazione e garanzia del pluralismo. Le Autorità amministrative indipendenti (Quaderni della Riv.trim.di dir. e proc.civ., n. 2), Milano 1997, 120 f.

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Wenn es zum Beispiel darum ginge, die Grenzen des Streikrechts festzulegen, könnte man mit Recht davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Rechten im Parlament die Bedürfnisse der Produktion berücksichtigen (und damit das Streikrecht stark einschränken) würde, während eine Mehrheit der Linken das Streikrecht ausdehnen und den Bedürfnissen der Produktion unterordnen würde. Wenn man dieser Auffassung stattgäbe, würde man zu der alten Einstellung zurückkehren, die in den Staatszielbestimmungen Empfehlungen sieht, die an den Gesetzgeber gerichtet sind. Dieser wäre damit zum Handeln aufgerufen, wie und wann er es für richtig hält, und das Ergebnis wäre unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit unanfechtbar45. Aus diesen Gründen tun sich der Rechtsprechung (und vor allem der Verfassungsrechtsprechung) in diesem Bereich nicht unerhebliche Möglichkeiten auf. Es ist im übrigen kein Zufall, dass eine der von den Verfassungsjustizorganen am häufigsten angewandten Techniken im balancing test zwischen konfl igierenden Rechten, Grundsätzen oder geschützten Rechtsgütern besteht46. Hierzu liefert im Bezug auf Italien ein besonders bedeutsames Beispiel das Urteil Nr. 171/1996 des Verfassungsgerichtshofs, das den so genannten Streik der Anwälte betrifft (das heißt die kollektive Arbeitsenthaltung bei den Verhandlungen, um die Interessen ihrer Berufsgruppe zu verteidigen). Das Problem entstand daraus, dass das Streikgesetz für den öffentlichen Dienst diesen Umstand nicht vorgesehen hat. Daher ergaben sich zwei entgegen gesetzte Auslegungsmöglichkeiten: – Man konnte annehmen, dass die kollektive Arbeitsenthaltung kein Streik im technischen Sinn und damit verboten ist. – Man konnte umgekehrt annehmen, dass sie nicht nur erlaubt, sondern ohne jede Einschränkung erlaubt ist. Um diese Frage zu lösen, hat der Verfassungsgerichtshof einen balancing test zwischen den beiden konfl igierenden Werten der Verfassung vorgenommen: zwischen dem Recht der Bürger auf Klageerhebung und Verteidigung vor den Gerichtshöfen und dem Recht der Anwälte, ihre Interessen in kollektiver Form zu schützen (ein Recht, das nach Ansicht des Gerichts in der Vereinigungsfreiheit inbegriffen ist). Nachdem das Prinzip der Abwägung angenommen war, kam das Gericht zu folgendem Schluss: – Einerseits wurde das Recht der Anwälte auf kollektive Arbeitsenthaltung bei den Verhandlungen zum Schutz der Interessen ihrer Berufsgruppe anerkannt; 45

Treffende Beobachtungen dazu bei: Baldassarre, Diritti sociali, a.a.O., 136 ff. In Bezug auf die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshof s. stellvertretend: Baldassarre, Costituzione e teoria dei valori, in Verschiedene Autoren, Giornate in onore di Angelo Falzea, Milano 1993, 70 ff.; sowie für eine analytische Gegenüberstellung: Bin, R., Diritti e argomenti. Il bilanciamento degli interessi nella giurisprudenza costituzionale, Milano 1992, 9 ff.; s. auch, unter vergleichendem Aspekt: Cerri, Il „principio“ come fattore di orientamento interpretativo e come valore „privilegiato“, a.a.O., 1806 ff.; Cervati, In tema di interpretazione della Costituzione, nuove tecniche argomentative e „bilanciamento“ fra valori costituzionali (a proposito di alcune rifl essioni della dottrina austriaca e tedesca), in Il principio di ragionevolezza nella giurisprudenza della Corte costituzionale (Atti del Seminario organizzato dalla Corte costituzionale nei giorni 13.–14. 10. 1992), Milano 1994, 60 ff.; Regasto, L’interpretazione costituzionale. Il confronto tra „valori“ e „principi“ in alcuni ordinamenti costituzionali, Rimini 1997. 46

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– andererseits musste dieses Recht sich in den Grenzen halten, die vom Gesetzgeber für den Streik im öffentlichen Dienst vorgesehen sind. Auf dieser Grundlage hat das Gericht die Unterlassung des Gesetzgebers (der die kollektive Arbeitsenthaltung der Anwälte nicht in das Streikrecht für den öffentlichen Dienst eingeschlossen hatte) für verfassungswidrig erklärt. Nach dem Gesagten bleibt jedoch hinzuzufügen, dass die Möglichkeiten der Rechtsprechung in diesem Bereich nicht unbegrenzt sind. Man darf sich nicht verbergen, dass der Eingriff des Richters (auch des Verfassungsrichters) Gefahren mit sich bringt und seine Grenzen hat. Die erste Gefahr besteht darin, dass bestimmten Formulierungen der Verfassung normative Werte zugeschrieben werden, wo sie nicht vorhanden sind. Diese Kritik gilt zum Beispiel für die „uneigentlichen“ Kompromisse, die eine Verzögerungstaktik bedeuten, die sich, um mit Carl Schmitt zu sprechen, in Verfassungsformeln finden, die widersprüchlichen Forderungen genügen, aber „die eigentlichen Streitpunkte“ unentschieden lassen47. Nach Carl Schmitt war ein Beispiel für derartige Kompromisse in der Weimarer Verfassung zu fi nden, und zwar in Bezug auf die Ordnung des Schulwesens, wo es drei unterschiedliche Richtungen gab: das Prinzip der Staatsschule, das Prinzip der konfessionellen Schule und das der freien Schule. In solchen Fällen ist es zweifelhaft, dass aus der Verfassung Schlussfolgerungen gewonnen werden können, die in ausreichendem Maß richtungweisend für die Gesetzgebung und die Auslegung sind48. Die zweite Gefahr besteht darin, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit die gewöhnlichen Auslegungsmaßstäbe durch eine Werte-Logik ersetzt und sich damit immer zu Abwägungen zwischen den Verfassungswerten berufen fühlt. Die Risiken dieses Ansatzes werden im Allgemeinen unterstrichen, wo es um die Bestimmungen für die Grundrechte geht. Wenn zum Beispiel die Freiheitsrechte restlos durch Werte defi niert werden, nehmen die Garantien der Normen, die sie regeln, in ihrer Tragweite stark ab und es läuft darauf hinaus, dass die Freiheitsrechte durch Abwägungen geschützt werden, die fraglich sein können. Diesbezüglich betont z. B. Carl Schmitt49, dass die Umwandlung der Rechte in Werte dazu führt, dass die Rechte selbst in eine Rangordnung eingestuft werden, die ständigen Umwälzungen ausgesetzt ist 50. Aufgrund einer Umkehrung der Ziele riskieren deshalb The47 Schmitt, Verfassungslehre, a.a.O., 32 ff. Zum Thema s. auch Barile, La Costituzione come norma giuridica, a.a.O., 58 ff. 48 Die Gefahr, dass die Verfassungsrechtsprechung, wenn sie „vage Proklamationen“ der Verfassung zu Leitlinien erklärt, die Entwicklung der untergeordneten Gesetzgebung beeinflusst und dem ordentlichen Gesetzgeber dadurch die ihm zustehenden politischen Entscheidungen entzieht, wird in der jüngeren Forschung mit besonderem Nachdruck unterstrichen von Starck, La légitimité de la justice constitutionnelle et le principe démocratique de majorité, a.a.O., 67 ff. (s. auch ders.: Die Verfassungsauslegung, in Isensee/Kirchhof (Hgg.), Handbuch des Staatsrechts, VII Normativität und Schutz der Verfassung – Internationale Beziehungen, 1992, 197). 49 Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1967, 37 ff. 50 Zu diesem Ansatz im italienischen Verfassungsrecht und zu der daraus folgenden Bedeutungsabnahme der Verfassungsbestimmungen für die Rechte s.: Bin, R., Diritti e argomenti, a.a.O., 4 ff.; im Bezug auf die Nachgiebigkeit, die in dieser Hinsicht dazu führt, den Verfassungsrechten ihren Stempel aufzudrücken: Mangiameli, La „laicità“ dello Stato tra neutralizzazione del fattore religioso e „pluralismo

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orien, die die Normativität der Verfassung am meisten stärken wollen, diese auszuhöhlen. Aber diese Überlegungen haben allgemeinere Gültigkeit. Es ist immer gefährlich zu behaupten, man könne jedes bei der Anwendung der Verfassung auftretende Problem durch eine Abwägung lösen51. Diese Vorgehensweise setzt das Verfassungsgericht dem Risiko aus, vom Richter zum Schiedsrichter der Verfassungsmäßigkeit zu werden52, wodurch es seine Grenzen überschreiten würde53.

6. Die Notwendigkeit einer Entwicklung der Verfassungsregelung und die Einführung von „ad hoc“-Verfahren Es bleibt ein letzter Punkt zu behandeln. In einigen Fällen ist es notwendig, wenn konfl igierende Verfassungswerte in Einklang gebracht werden sollen – wie es von der Verfassung verlangt wird – dass Entwicklungsverfahren der Verfassungsregelung eingesetzt werden, die die antagonistischen Forderungen ans Licht bringen und – wenn man so sagen kann – einander gegenüberstellen können54, wodurch die Konfl iktlösung kaum wahrnehmbaren Wertvorstellungen des Interpreten entzogen wird55. Dieser Weg ist in Italien in einigen Fällen mit den unabhängigen Verwaltungsbehörden eingeschlagen worden. Einige dieser Behörden sind an Verfahren beteiligt, in denen die Vertreter der konfl igierenden Ansprüche den von ihnen vertretenen Interessen Ausdruck verlei-

confessionale e culturale“. (A proposito della sentenza che segna la fine del giuramento del teste nel processo civile) in Dir. e soc., 1997, 46; Pace, Metodi interpretativi e costituzionalismo, in Quad. cost., 2001, 39 ff. 51 Dazu s. Fois, Principi e regole normative nell’opera di Vezio Crisafulli, in Bartole u. a. (Hgg.), Il contributo di Vezio Crisafulli alla scienza del diritto costituzionale, Padova 1994, 249 ff.; Ders., „Ragionevolezza“ e „valori“. Interrogazioni progressive verso le concezioni sulla forma di Stato e sul diritto, in Il principio di ragionevolezza nella giurisprudenza della Corte costituzionale, a.a.O., 103 ff., der die grundsätzlich illiberalen Wesensmerkmale dieses Vorgehens unterstreicht; Paladin, Le fonti del diritto italiano, a.a.O., 116, der vor der Gefahr warnt, „dass die Verfassung und die Gesetze . . . auf eine unerhebliche oder willkürlich zu manipulierende Gegebenheit reduziert werden“; s. auch: Mangiameli, La „laicità“ dello Stato, a.a.O., 42 f., 54, Anm. 103; Poggi, Il sistema giurisdizionale tra „attuazione“ e „adeguamento“ della Costituzione, Torino 1995, 296 ff., bes. 300 ff. Anders jedoch: Mezzanotte, Le fonti tra legittimazione e legalità, in Queste istituzioni 1991, 50 ff., mit nachvollziehbarer Argumentation kritisiert von Pace, La causa della rigidità costituzionale. Una rilettura di Bryce, dello Statuto albertino e di qualche altra costituzione, jetzt in Potere costituente, rigidità costituzionale, autovincoli legislativi, Padova 1997, 94 ff., Anm. 193 52 Rimoli, Costituzione rigida, potere di revisione e interpretazione per valori, in Giur.cost., 1992, 3776 f. 53 Vgl dazu Baldassarre, Intervento, in Occhiocupo (Hg.), La Corte costituzionale tra norma giuridica e realtà sociale. Bilancio di vent’anni di attività, Bologna 1978, 121 ff., der einen zu häufigen Rückgriff auf das Vernunftkriterium von Seiten des Verfassungsgerichtshofs beklagt. 54 Die Forderung nach Verfahrensweisen, die eine „faire“ Gegenüberstellung der Werte fördern, wird betont von Zagrebelsky, Il diritto mite, a.a.O., 11 f., 168 f. Zu der verfahrenstechnischen Konkretisierung der Prinzipien: Bartole, Principi del diritto (diritto costituzionale), in Encicl. Dir., XXXV, Milano 1986, 532. 55 M. Mazziotti Di Celso, Principi supremi dell’ordinamento costituzionali e forma di Stato, in Dir. e soc., 1996, 321.

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Antonio D’Atena

hen können, womit der balancing test auf eine möglichst mess- und kontrollierbare Grundlage gestellt wird. Das wichtigste Beispiel dafür stellt die unabhängige Verwaltungsbehörde, die das Gesetz für den Streik in den wesentlichen öffentlichen Dienstleistungen vorsieht (auf dieses Gesetz haben wir schon beim so genannten Anwaltsstreik Bezug genommen) 56. Das Gesetz geht von drei Voraussetzungen aus: – erstens: dass das von Art. 40 Verf. garantierte Streikrecht mit anderen Verfassungsrechten (wie dem Recht auf Gesundheit oder auf Freizügigkeit) in Konfl ikt geraten kann; – zweitens: dass der totale Schutz des ersteren die totale Aufgabe der übrigen mit sich bringen würde; – drittens: dass der totale Schutz dieser übrigen die Unterdrückung des Streikrechts in den jeweils betroffenen Bereichen bedeuten würde. Um die Koexistenz der konfl igierenden Rechte zu gewährleisten, wendet das Gesetz das Prinzip der Abwägung an: es schreibt vor, dass zwischen diesen Rechten ein akzeptabler Ausgleich geschaffen werden muss. Insbesondere darf die Dienstleistung nicht gänzlich unterbrochen werden, da einige Leistungen im Sinne der Wesensgehaltgarantie für die Rechte der Kunden des öffentlichen Diensts zu erbringen sind. Was daran bedeutsam ist, ist, dass das Gesetz sich nicht anmaßt, direkt das Gleichgewicht zwischen den eventuell konfl igierenden Rechten zu bestimmen, sondern zu diesem Zweck ein Verfahren vorsieht, an dem die Vertreter aller betroffenen Interessen beteiligt sind: die Einrichtungen, die öffentliche Dienstleistungen anbieten, die Gewerkschaften der Arbeitnehmer und die Verbraucherverbände. Auf diese Weise wurden die Bedingungen für eine gemeinsame Auseinandersetzung geschaffen, in der die verschiedenen Interessen zur Sprache kommen, wodurch die unabhängige Verwaltungsbehörde, die das letzte Wort hat, über die zur Abwägung nötigen Instrumente verfügt. Diese Lösung ist von größter Bedeutung, da sie beweist, dass die Abwägung von Verfassungswerten nicht immer und ausschließlich Sache des Gesetzgebers oder der Rechtsprechung sein kann. Es gibt in der Tat Fälle, wo andere Mechanismen vorzusehen sind, die es den Werten selbst ermöglichen, sich auszudrücken und zu vergleichen, um den balancing test dem Risiko der Willkür zu entziehen. Dieser Forderung sollten die Verfassungsgesetzgeber nachkommen57. Sie sollten diese Mechanismen in der Verfassung verankern, was normalerweise nicht geschieht. Auf dieser Linie hat zum Beispiel der italienische Verfassungsgesetzgeber in der 14. Legislaturperiode agiert, als es um ein Projekt der Verfassungsreform ging, das nicht in Kraft getreten ist, weil es von den Wählern in einem Referendum abgelehnt wurde. Das Projekt war in vieler Hinsicht strittig. Die darin enthaltene Regelung der

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Gesetz Nr. 146/1990. Dazu Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, a.a.O., 194: „Über die Zukunft der Grundrechte im Leistungsstaat wird vor allem im organisatorischen Teil der Verfassung und in ihren Verfahren entschieden“. 57

Staatszielbestimmungen und Verfassungswerte

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unabhängigen Verwaltungsbehörden war jedoch gut. Dort heißt es u. a.58 : „(1) Zum Zweck der Ausübung von Schutz- oder Kontrollhandlungen der von der Verfassung garantierten Freiheitsrechte . . . kann das Gesetz eigens dafür bestimmte unabhängige Verwaltungsbehörden einrichten; deren Mandatsdauer, Voraussetzungen für die Wählbarkeit und Bedingungen der Unabhängigkeit festgelegt werden. (2) Die Verwaltungsbehörden unterrichten die Kammern von den Ergebnissen ihrer Tätigkeit“. Es ist also wünschenswert, dass in einer künftigen Verfassungsänderung etwas Entsprechendes wieder aufgegriffen wird. Auf diese Weise würde der axiologischen Komplexität der Verfassung die Umsetzung erleichtert, zu der ihr die drei klassischen Staatsgewalten nicht immer verhelfen können. So würde endlich ein Phänomen in der Verfassung verankert, das im materiellen Sinn zur Verfassung gehört.

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Art. 35, der die Einführung eines Art. 98 zwei vorsah, dessen Gehalt im Text wiedergegeben ist.

Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element einer gemischten Bundesstaatslehre von

Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf Einleitung Das Instrument der Abweichungsgesetzgebung – eingeführt als Art. 72 Abs. 3 GG sowie Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG n. F. durch die Föderalismusreform I (2006) – hat es schwer im deutschen Bundesstaat. Die Bedeutung dieses Instruments in der politischen Praxis ist bislang marginal. Es fehlen noch die Beispiele. Bemerkenswert ist, dass auffallend viele kritische Stimmen in der deutschen Staatsrechtslehre1 auch noch dazu beizutragen versuchen, dass es dabei bleiben soll. Statt danach zu suchen, dem Instrument die vom verfassungsändernden Gesetzgeber intendierte Bedeutung zu verleihen, wird kaum ein Versuch unterlassen, die Abweichungsgesetzgebung als Fremdkörper im deutschen Bundesstaat noch kleiner zu reden als sie ist. Man mag über das verfassungspolitische Für und Wider der Abweichungsgesetzgebung streiten. Vor allem die Kompetenzbereiche dieses Instruments im Rahmen der in Art. 72 Abs. 3 GG genannten Materien – positiver hingegen ist Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG zu bewerten – sind tatsächlich kritikwürdig. Vielleicht handelt es sich also um eine Frühgeburt, die nicht ausgereift ist. Wegen verfassungspolitischer Bedenken empfehlen sich manche Verfassungsinterpreten bezüglich der Abweichungsgesetzgebung eher in der Rolle des Totengräbers als in der des Geburtshelfers. Die Jurisprudenz sollte indes grundsätzlich danach streben, Normen zum Leben und zur Wirkung zu verhelfen. Interpretation sollte den Sinn der Normen konstruktiv entfalten, 1 Insgesamt sehr kritisch: Hans Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008; mit europarechtlichen Bedenken: Felix Eckardt/Raphael Weyland, NVwZ 2006, 737 (740 f.); Astrid Epiney, NuR 2006, 403 ff.; einschränkend durch das Prinzip der Bundestreue: Hans Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 170 f.; Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 72 Rn. 43; für eine Restriktion der Abweichungsgesetzgebung im Einzelfall: Michael Kloepfer, ZG 2006, 250 (255); Lars Mammen, DÖV 2007, 376 (378); für eine Restriktion im extremen Missbrauchsfall: Volker Haug, DÖV 2008, 851 (856); positiver: Claudio Franzius, NVwZ 2008, 492: „Die Abweichungsgesetzgebung ist so schlecht nicht.“; Andreas Glaser, NuR 2007, 439 (442 ff.); Jörn Ipsen, NJW 2006, 2801 (2806); Lars Mammen, DÖV 2007, 376 ff.; Hans-Werner Rengeling, DVBl. 2006, 1537 (1549); Helmuth Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 ff.

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statt ihn destruktiv ad absurdum zu führen. Im Fall der Abweichungsgesetzgebung liegt das Problem darin, dass sie aus dem Rahmen der überkommenen unitarischen Bundesstaatstheorie herausfällt. Wer diesen Rahmen nicht zu überschreiten wagt, wird die Abweichungsgesetzgebung selbst als destruktiven Störfaktor begreifen. Diese Sichtweise verkennt aber das Prinzip der Einheit der Verfassung2, deren Gepräge durch neue Elemente der Verfassungsänderung eine Modifizierung erfahren kann. Mit der unitarischen Bundesstaatstheorie und ihrem ungeschriebenen Instrument der Bundestreue werden wir der Abweichungsgesetzgebung nicht gerecht, sondern zerstören ihre Entfaltung. Das missachtet den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers, der das Instrument der Abweichungsgesetzgebung im Rahmen einer Reform des Bundesstaates bewusst eingeführt hat – entgegen mancher Bedenken. Die Wissenschaft müsste eine Föderalismusreform zum Anlass nehmen, über eine Reform ihrer Theorien nachzudenken. Gerade weil weitere Föderalismusreformen nicht ausgeschlossen sind, ja wünschenswert wären, sollte die Relevanz von Verfassungsänderungen nicht marginalisiert werden. Derzeit scheint indes zu gelten: Föderalismusreformen vergehen – ungeschriebenes3 Bundesstaatsrecht besteht.4 So wird insbesondere versucht, ungeliebte Konsequenzen geschriebener Abweichungskompetenzen durch das ungeschriebene Feinsteuerungsinstrument der Bundestreue zu korrigieren. Und man fragt sich: Ist dieses ungeschriebene Bundesstaatsrecht noch konkretisiertes Verfassungsrecht? 5 Dabei spricht vieles dafür, dass das BVerfG Änderungen des Bundesstaatsrechts sehr ernst nimmt und keineswegs durch seine Rechtsprechung zu nivellieren sucht. Das gilt vor allem für solche Verfassungsänderungen, die Kompetenzen der Länder zu bewahren suchen. Man denke insbesondere an die Rechtsprechung6 zu Art. 72 Abs. 2 GG, der 1994 von der Bedürfnisklausel zu einer Erforderlichkeitsklausel verschärft wurde. Ob die Abweichungsgesetzgebung eine politische Bedeutung bekommen wird und ob eine restriktive Auslegung dieser Kompetenzen und ihrer Wahrnehmung dies behindern wird, ist bis heute nicht entschieden.

I. Von der unitarischen zur gemischten Bundesstaatstheorie In der Ausgestaltung des Grundgesetzes von 1949 kann die Bundesrepublik Deutschland mit Konrad Hesse 7 als „unitarischer Bundesstaat“ beschrieben werden. Der unitarische Bundesstaat ist auf weitreichende Rechtseinheitlichkeit angelegt. Das hat unbestreitbare Vorteile für den Rechtsverkehr und für die rechtliche und soziale 2 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 20, 71; aus der Rechtsprechung: BVerfGE 28, 243 (260 f.) – Dienstpfl ichtverweigerung. 3 Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 196 ff. 4 In Anlehnung an Otto Mayer, „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl age 1924, Vorwort zur dritten Aufl age. 5 In Anlehnung an Fritz Werner, „Verwaltungsrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht“, DVBl. 1959, 527. 6 BVerfGE 106, 62 (135 ff.) – Altenpflege; E 110, 141 (174 ff.) – Kampf hunde; E 111, 10 (28 ff.) – Ladenschlussgesetz III; E 111, 226 (252 ff.) – Juniorprofessur. 7 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 14.

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Gleichheit. Die Ausführung der Gesetze ist wesentlich Ländersache – aber ihre Gesetzgebungskompetenzen sind praktisch sehr beschränkt. Letzteres wird kompensiert durch die starke Bedeutung des Bundesrates bei der Bundesgesetzgebung. Als Vorteil dieses unitarischen Modells konstatiert Konrad Hesse 8 unter anderem die Möglichkeit der Länder, ihre Verwaltungserfahrung beim Vollzug der (Bundes-)Gesetze in die Gesetzgebung einzubringen. Solcher „Mitwirkungs-Föderalismus“ hat aber auch Nachteile: Das Modell führt zu einer Verflechtung der demokratischen Verantwortung. Durch Zustimmungserfordernisse des Bundesrates wird die Bundesgesetzgebung nicht nur schwerfälliger; es kann sogar zu politischen Blockadeszenarien kommen. Mit Peter Häberle 9 ist von einer „gemischten Bundesstaatstheorie“ auszugehen, die kontinuierlich weiterzuentwickeln ist. Insbesondere wurden durch Verfassungsreformen 1994 und 2006 Gegenakzente zum Unitarismus in das Grundgesetz eingefügt, nämlich Elemente der Subsidiarität und der Abweichungsgesetzgebung. Der Unitarismus dominiert den deutschen Föderalismus freilich nach wie vor. Mit dem Modell des Unitarismus lassen sich aber nicht alle Elemente der heutigen Ausprägung des grundgesetzlichen Föderalismus beschreiben und interpretieren. Der deutsche Föderalismus enthält auch Elemente etwa des kompetitiven aber auch des kooperativen Föderalismus. An dieser Stelle sollen zwei jüngere Elemente herausgegriffen werden: Während die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG den Unitarismus relativiert, durchbricht die Abweichungsgesetzgebung sogar dieses Modell.

1. Subsidiarität als relativierendes Gegenelement zum Unitarismus Die alte Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. von 1949 war nicht justiziabel.10 Es existierte also keine rechtlich handhabbare Subsidiaritätsklausel gegenüber der Bundesgesetzgebung. Vielmehr stand die Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebung im politischen Ermessen des Bundes. Das hatte zur Folge, dass die insoweit im Grundsatz theoretisch bestehenden Gesetzgebungskompetenzen der Länder im wichtigen Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung durch die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG ausgehöhlt wurden. Danach haben die Länder die Kompetenz nämlich nur solange und soweit der Bund nicht von seiner Kompetenz Gebrauch macht. 8

Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 25, 28 f. Erstmalig: Peter Häberle, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 46 (1988), S. 148 ff.; fortentwickelt in ders., Die Verwaltung 24 (1991), 169 (184); ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 776 ff.; zur Rezeption: Hartmut Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, in: Alexander Blankenagel/Ingolf Pernice/Helmuth Schulze-Fielitz, Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle, 2004, S. 645 ff. 10 BVerfGE 2, 213 (214 f.) – Straffreiheitsgesetz; noch offen lassend, aber in dieselbe Richtung E 1, 264 (272 f.) – Bezirksschornsteinfeger; aus der älteren Literatur hierzu: Rupert Scholz, in: Festgabe BVerfG, Band II, S. 252 (258 ff.); Michael Gruson, Die Bedürfniskompetenz, 1967, S. 88 ff.; Klaus Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 596 f.; Dietmut Majer, EuGRZ 1980, 98 (106 f.); Christian Calliess, DÖV 1997, 889 (895); Norbert Achterberg, DVBl. 1967, 213 (219 f.); vgl. auch den Rückblick bei Rupert Stettner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band II, 2. Aufl., Supplementum 2007, Art. 72 Rn. 16 ff. 9

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Die neue Erforderlichkeitsklausel von 1994 sollte die weitere Aushöhlung der Länderkompetenzen verhindern. Das BVerfG hat diese zum Beispiel in Entscheidungen zum Sozialrecht und zum Hochschulrecht angewendet.11 Es prüfte im Einzelfall, ob bundeseinheitliche Regelungen „erforderlich“ sind. Diese Prüfung erfolgt in zwei Schritten: Zunächst ist zu ermitteln, ob eine Regelung des Bundesgesetzgebers zum Schutz der in Art. 72 Abs. 2 genannten Rechtsgüter zulässig ist („wenn . . . erforderlich“). Auf einer zweiten Stufe ist dann das Ausmaß der Eingriffsbefugnis festzustellen („soweit . . . erforderlich“).12 Die auf der ersten Stufe notwendige Konkretisierung der in Art. 72 Abs. 2 GG aufgezählten Ziele einer zulässigen Bundesgesetzgebung (Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse) muss sich dabei am jeweiligen Sinn der bundesstaatlichen Integrationsinteressen orientieren.13 Die Erfordernisse der zweiten Stufe sollen den Bund auf einen möglichst geringen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder verweisen: Eine bundesgesetzliche Regelung ist daher nur zulässig, wenn ohne sie die vom Gesetzgeber für sein Tätigwerden im konkret zu regelnden Bereich in Anspruch genommene Zielvorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG nicht oder nicht hinlänglich erreicht werden kann.14 Eine Bundeskompetenz besteht dagegen nicht, sofern landesrechtliche Regelungen zum Schutz der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter ausreichen, wobei jedoch nicht jede theoretische Handlungsmöglichkeit der Länder, insbesondere die bloße Möglichkeit gleich lautender Ländergesetze, die Bundeskompetenz ausschließt.15 Zudem ist dem Gesetzgeber, wenn die Erforderlichkeit bejaht wird, eine Prärogative für Konzept und Ausgestaltung des Gesetzes zuzugestehen.16 Der Vorteil dieses wirksamen Hebels der Subsidiarität besteht darin, Länderkompetenzen zu stärken bzw. zu erhalten. Nachteile dieses Instruments bestehen darin, dass mit der justiziablen Subsidiaritätsklausel ein verfassungsrechtliches Damoklesschwert über der Ausübung der bundesrechtlichen Kompetenz hängt. Das gilt umso mehr, als dem BVerfG dabei keine Gutachtenkompetenz zusteht, sondern Gesetze nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 2a GG vielmehr erst nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens auf den Prüfstand einer abstrakten Normenkontrolle gestellt werden können. Es ist denkbar ineffizient, wenn nach einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren und einem verfassungsgerichtlichen Verfahren die Gesetzgebung von vorn zu beginnen hat. Außerdem erfolgen so eine Politisierung des Verfassungsrechts sowie eine Verrechtlichung der Politik. Nachdenklich könnten wir fragen, ob der Hebel der Schaffung eines Verfahrens vor dem BVerfG ein typisch deutsches Mittel ist, um verfassungspolitische Probleme zu lösen. Immerhin wurde die Anwendbarkeit der Klausel 2006 wegen dieser Nachteile auf bestimmte Materien beschränkt. Die Subsidiaritätsklausel bleibt ein Teilelement des deutschen Bundesstaates. Aber seine beschränkte Anwendbarkeit (auf bestimmten in Art. 72 Abs. 2 GG aufgezählten Gebieten) verhindert, dass das Subsidiaritätsprinzip die gesamte kon11 12 13 14 15 16

BVerfGE 106, 62 (135 ff.) – Altenpflege; E 111, 226 (252 ff.) – Juniorprofessur. BVerfGE 106, 62 (149) – Altenpflege. BVerfGE 106, 62 (143) – Altenpflege. BVerfGE 106, 62 (149) – Altenpflege. BVerfGE 106, 62 (150) – Altenpflege. BVerfGE 106, 62 (149) – Altenpflege.

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kurrierende Gesetzgebung prägt und auf diese Weise den Unitarismus insgesamt dauerhaft relativiert. Die Einschränkung der länderfreundlichen Subsidiaritätsklausel wurde von den Ländern nicht ohne Kompensation hingenommen. Das Verfahren der Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 2 GG setzt Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat voraus. Der partielle Verzicht der Länder auf das scharfe Schwert der Subsidiaritätsklausel ist wesentlich durch die Einführung der Abweichungsgesetzgebung kompensiert worden. Dass es sich um ein direktes Kompensationsgeschäft handelt, zeigt sich auch daran, dass die Materien für die Abweichungsgesetzgebung denen entsprechen, die zuvor als Rahmengesetzgebung geregelt waren. Für letztere, die als Instrument 2006 komplett gestrichen wurde, galt nach Art. 75 Abs. 2 GG ebenfalls eine strenge Subsidiaritätsklausel der Erforderlichkeit.

2. Abweichungsgesetzgebung als Durchbrechung des Unitarismus: Elemente eines experimentellen Föderalismus Die Föderalismusreform 2006 hat das deutsche Bundesstaatsmodell mit dem Instrument der Abweichungsgesetzgebung punktuell um experimentelle Elemente ergänzt. Nach Art. 72 Abs. 3 und Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG können die Länder bei bestimmten Materien der konkurrierenden Gesetzgebung von Bundesgesetzen abweichen. Es handelt sich zugleich um Ausnahmen des unitarischen Vorrangs des Bundesrechts bzw. der unitarischen Sperrwirkung der Bundesgesetzgebung (Art. 31 und Art. 72 Abs. 1 GG): Für die Abweichungsgesetzgebung gilt die „lex posterior“Regel. Landesrecht wird durch Bundesrecht weder gebrochen noch wird die Ausübung von Landeskompetenzen gesperrt. Mit der Abweichungsgesetzgebung ist ein Instrument der konkurrierenden Gesetzgebung im wahrsten Sinne des Wortes entstanden. Anders als bei der Erforderlichkeitsklausel handelt es sich nicht um eine Kompetenzausübungsschranke zulasten des Bundes. Im Gegenteil: Der Bund wird in Bereichen der Abweichungsgesetzgebung weder durch eine Erforderlichkeitsklausel, noch durch Zustimmungsbedürfnisse des Bundesrates gebremst, eine bundeseinheitliche Regelung zu schaffen. Auch wird nicht etwa der Bund durch Landesgesetzgebung gehemmt. Das Inkrafttreten bundesrechtlicher Vereinheitlichungsversuche wird nach Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG bzw. Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG lediglich zeitlich verzögert, um die Transaktionskosten kurzfristig sich zweimal ändernder Gesetze in den Ländern zu vermeiden, die von diesen Regelungen abweichen wollen. Bundesgesetzgebung kann in diesen Bereichen zwar durch Landesgesetzgebung substituiert werden, sie ist aber trotzdem nicht subsidiär. Vielmehr kann auch umgekehrt Landesgesetzgebung durch Bundesgesetzgebung substituiert und vereinheitlicht werden. Das Instrument der Abweichungsgesetzgebung ist neutral und gleichermaßen offen für bundesrechtliche Vereinheitlichung wie für landesrechtliche Abweichung. Das Maß von Einheit und Vielfalt wird dem politischen Prozess der Kompetenzausübung überlassen. Lediglich die o. g. zeitliche Verzögerung des Inkrafttretens von Bundesgesetzen gibt den Ländern die Möglichkeit, ihre Regelung jeweils durchzusetzen. Sie behalten damit aber nicht endgültig das „letzte Wort“, sondern stets nur vorläufig das „spätere Wort“, das sich wegen der

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„lex posterior“-Regel durchsetzt. Damit wird der Unitarismus – in dem Maße, in dem die Länder von Abweichungsgesetzgebung Gebrauch machen – nicht nur eingeschränkt, sondern durchbrochen. Dabei handelt es sich um ein Element der „experimentellen Gesetzgebung“17. Mit Blick auf die Schweiz hat Peter Häberle18 von einem „offen experimentierenden Bundesstaat“ gesprochen. Mit „experimentellen Elementen“19 des deutschen Föderalismus ist nicht die – freilich auch signifi kante – Reformfreudigkeit des verfassungsändernden Gesetzgebers gemeint, der gerade im Bereich des Bundesstaatsgefüges schon manches Element eingeführt und abgeschafft hat. Nicht die Suche nach dem richtigen Bundesstaatsmodell soll das Experiment sein. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sollte stets nur Regeln in die Verfassung schreiben, die zumindest darauf angelegt sind, bewahrenswerten Modellcharakter zu tragen. Experimentellen Charakter trägt vielmehr der in der Abweichungsgesetzgebung angelegte Wettbewerb der Kompetenzausübung. Das spezifisch Experimentelle liegt darin, dass jede bundesrechtliche Regelung nur soweit und solange Bestand hat, bis die Länder abweichen und umgekehrt die Länderregelungen jederzeit durch vereinheitlichende Bundesgesetzgebung abgelöst werden können. Eine solche wechselseitig konkurrierende Gesetzgebung ist darauf angelegt, dass Gesetze häufiger als üblich auf den Prüfstand gestellt werden. Freilich sind in jeder Demokratie als Herrschaft auf Zeit alle Gesetze „vorläufig“ im Sinne von „stets abänderbar“. Der verfassungsrechtliche, in den Grundrechten und im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz des Vertrauensschutzes steht Gesetzesänderungen für die Zukunft nur ganz ausnahmsweise entgegen. Nicht nur wenn ein Gesetz ausdrücklich auf Zeit erlassen wird, sondern auch nach einem Meinungs- bzw. Politikwechsel kann jeder Gesetzgeber eigene Gesetze reformieren. Bei der Abweichungsgesetzgebung kommt aber etwas hinzu: Jeder der Gesetzgeber steht nicht nur in zeitlicher Konkurrenz zu sich selbst, sondern auch noch in Konkurrenz zum Gesetzgeber der anderen Ebene. Und jede Initiative – sei es zur landesrechtlichen Abweichung oder zur bundesrechtlichen Vereinheitlichung – wird politisch für sich in Anspruch nehmen, besser zu sein als die mehr oder weniger bewährten Vorgängerregelungen. Dabei wird es jedenfalls auch um die Auswertung von Erfahrungen gehen. Insbesondere kann der Bund bei Vereinheitlichungen auch Erfahrungen mit zuvor abweichenden Landesregelungen aufgreifen. So könnte der Bundesgesetzgeber zumindest für sich in Anspruch nehmen, dass das neue Bundesgesetz besser ist als das alte und dass für eine erneute Abweichung deshalb kein politischer Anlass mehr besteht. Auch bei der Einführung der Abweichungsgesetzgebung handelt es sich freilich nicht um die völlige Ablösung des überkommenen deutschen Föderalismusmodells, sondern lediglich um eine weitere Ergänzung und Modifizierung des nach wie vor

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Grundlegend: Hans-Detlef Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. Peter Häberle, in: Jutta Kramer (Hrsg.), Föderalismus zwischen Integration und Sezession, 1993, S. 237. 19 Lothar Michael, JZ 2006, 884 ff.; zustimmend: Stefan Kadelbach, VVDStRL 66 (2007), S. 7 (23); Christian Tietje, VVDStRL 66 (2007), S. 45 (71); Christian Waldhoff, VVDStRL 66 (2007), S. 216 (223); Johanna Hey, VVDStRL 66 (2007), S. 277 (305); Claudio Franzius, NVwZ 2008, 492 (499); Stefan Oeter, in: Christian Starck, Föderalismusreform, 2007, Rn. 68. 18

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primär unitarisch geprägten Bundesstaates. Denn die Abweichungsgesetzgebung ist auf bestimmte Materien beschränkt: Materiellrechtliche Abweichungsgesetzgebung ist nach Art. 72 Abs. 3 GG beschränkt auf die Materien Naturschutzrecht, Recht der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse, Wasserhaushaltsrecht, Raumordnungsrecht, Bodenverteilung, Jagdwesen. Verfassungspolitisch verdient die Auswahl dieser Materien Kritik. Es handelt sich um Materien, die z. T. eine bundeseinheitliche Gesetzgebung besonders wünschenswert erscheinen lassen und die z. T. wegen ihrer sehr beschränkten politischen Bedeutung marginal bleiben werden. Viel größere Aufmerksamkeit verdient allerdings die Möglichkeit einer formellrechtlichen Abweichungsgesetzgebung nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG zur Regelung der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungsverfahrens.

II. Grundsätze der Interpretation der Abweichungsgesetzgebung 1. Kein Primat unitarischer Interpretation des deutschen Bundesstaatsrechts Die Bundesstaatstheorie muss heute zur Kenntnis nehmen, dass die Ausprägung der Gesetzgebungskompetenzen im GG zwar nach wie vor unitarisch geprägt ist, aber durch Elemente der Subsidiarität (Erforderlichkeitsklausel) und experimenteller Vielfalt (Abweichungsgesetzgebung) modifi ziert ist. Selbst aus einer unitarischen Bundesstaatstheorie folgt kein Primat der unitarischen Interpretation des Bundesstaatsrechts. Mögen die Länderrechte in der Gesetzgebung auch schwächer ausgeprägt sein, spricht das nicht für deren restriktive Interpretation. Dass der Bundespräsident nur wenige Kompetenzen hat, ist auch kein gutes Argument dafür, um seine wenigen Kompetenzen auch noch restriktiv auszulegen. Selbst Konrad Hesse, der die Theorie des unitarischen Bundesstaates entwickelt hat, war schon immer skeptisch gegenüber dem Prinzip der Bundestreue.20 Er wollte dem politischen Prozess vertrauen und den Föderalismus nicht mehr als ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen verrechtlichen und nur wenn notwendig in die Hände des BVerfG legen. Andererseits: Wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber wie 1994 mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG eine explizite Kompetenz des BVerfG zur Überprüfung der Subsidiarität der Bundesgesetzgebung schafft, hat das BVerfG diese Grenze des Unitarismus zu Recht und konsequent aufgegriffen.

2. Rechtlich handhabbarer Erhalt von Länderkompetenzen als historischer Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers Eine unitarische Interpretation des Grundgesetzes ist umso weniger geboten, als Änderungen des Grundgesetzes den Unitarismus modifizieren, d. h. relativieren bzw. durchbrechen. 20 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 269 f.

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Die frühere Rechtsprechung des BVerfG21 zur Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG musste deshalb aufgegeben werden. An dieser Stelle ist noch einmal darauf zurückzukommen, dass die Einführung der Abweichungsgesetzgebung die Anwendung der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG bzw. des Art. 75 Abs. 2 GG a. F. partiell ersetzt und kompensiert. Die politische Kompensationsfunktion dieser Elemente der Föderalismusreform ist ein weiteres Argument dafür, Art. 72 Abs. 3 GG ebenso wie den Art. 72 Abs. 2 GG nicht restriktiv auszulegen. Zwar wurde die Erforderlichkeitsklausel als verfassungspolitisch unbefriedigend empfunden und deshalb bewusst eingeschränkt. Letzteres geschah aber nicht etwa durch Beschränkung ihrer Justiziabilität, sondern durch Beschränkung ihres Anwendungsbereichs. Den Ländern ging es erkennbar um den Erhalt rechtlich durchsetzbarer Kompetenzschranken des Bundes bzw. um deren Kompensation durch vergleichbar wirksame Länderrechte. Der Bundesrat hätte wohl kaum einer Ersetzung des „scharfen Schwertes“ der Subsidiaritätsklausel durch einen „zahnlosen Tiger“ der Abweichungsgesetzgebung zugestimmt. Es widerspräche deshalb dem historischen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers, in letztere ungeschriebene rechtliche Hürden hineinzulesen, die diese nicht nur politisch unattraktiv, sondern rechtlich unpraktikabel machen.

3. Gewollte Ermöglichung eines Regelungswettbewerbs und der Regelungsvielfalt Abweichungsgesetzgebung eröffnet die Chance zu experimenteller Gesetzgebung. Sie ist eine starke Ausprägung der Idee des Wettbewerbsföderalismus. Streben Bund und Länder verschiedene Regelungsmodelle an, bleibt es den politischen Akteuren überlassen, sich auf ein einheitliches Modell zu einigen bzw. dieses zu akzeptieren oder aber Regelungsvielfalt in Kauf zu nehmen. Auf diese Weise kann ein wechselseitiger politischer Regelungswettbewerb zwischen den Ländern und dem Bund sowie zwischen den Ländern stattfinden. Dieses Element des experimentellen Bundesstaates ist gewollt und eine restriktive Auslegung nicht angezeigt. Die Länder können von ihrer Abweichungskompetenz Gebrauch machen, werden dies aber gegebenenfalls vor ihren Wählern politisch zu verantworten haben. Regelungsvielfalt und Regelungsflexibilität zu ermöglichen, ist insoweit verfassungsgewollt. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Systematik der Abweichungsgesetzgebung nicht einseitig auf Regelungsvielfalt angelegt ist. Sie eröffnet nicht nur den Ländern jederzeit die Möglichkeit zur Abweichung. Vielmehr kann auch der Bund jederzeit die Initiative ergreifen, das Recht zu vereinheitlichen. Sinn und Zweck der Abweichungsgesetzgebungskompetenz ist also keineswegs eine möglichst vielfältige und schnell wechselnde Gesetzgebung. Nicht der Zustand der Regelungsvielfalt und Regelungsflexibilität als solcher ist verfassungsintendiert. Als reine Kompetenzregelung überlässt das Instrument den politischen Akteuren die Entscheidungen über das Maß der Regelungsintensität und der Regelungseinheit bzw. -vielfalt sowie – vorbe21 BVerfGE 2, 213 (224 f.) – Straffreiheitsgesetz; E 4, 115 (127 f.) – Besoldungsgesetz von Nordrhein-Westfalen; E 10, 234 (245 f.) – Platow-Amnestie; E 33, 224 (229) – Bauordnungswidrigkeit; offen lassend noch BVerfGE 1, 264 (272 f.) – Bezirksschornsteinfeger.

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haltlich der o. g. ausdrücklichen Frist – über den Zeitpunkt etwaiger Rechtsänderungen.

4. Keine Beschränkung des Abweichungsgesetzgebers durch den allgemeinen Gleichheitssatz Der allgemeine Gleichheitssatz steht Abweichungsgesetzen schon von seinem Ansatz her grundsätzlich nicht entgegen. Denn der allgemeine Gleichheitssatz gilt für jeden Hoheitsträger gesondert.22 Der Bund und jedes Land sind für den Hoheitsbereich ihrer jeweiligen Staatsgewalt an den Gleichheitssatz gebunden – aber nicht darüber hinaus. Regelungen verschiedener Länder beziehungsweise Landes- und Bundesrecht sind verfassungsrechtlich per se unvergleichbar i. S. d. grundrechtlichen Gleichheit. Der Gleichheitssatz ist ein reiner Selbstbindungsmechanismus und damit per se ungeeignet, über die Grenzen der jeweiligen Hoheitsbereiche hinauszuwirken. Die bisweilen in der Weimarer Zeit23 diskutierte Relativierung föderaler Vielfalt durch grundrechtliche Gleichheit ist abzulehnen.24 Mit der Ermöglichung von Rechtsvielfalt geht rechtliche Ungleichheit einher. Was die Abweichungsgesetzgebung kompetenzrechtlich ermöglicht, ist letztlich die inhaltliche Abweichung. Letztere wird nicht durch den allgemeinen Gleichheitssatz beschränkt – nicht einmal durch das Willkürverbot bzw. den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit des Rechts. Denn es ist der politischen „Willkür“ der Länder überlassen, ihre Kompetenz auszuüben, ohne darauf Rücksicht nehmen zu müssen, was bundesrechtlich bzw. durch andere Länder geregelt ist. Abweichung ist, wenn man so will, politischer „Widerspruch“. Das Gebot der rechtlichen Widerspruchsfreiheit gilt aber nicht, soweit die Rechtseinheit kompetenzrechtlich durchbrochen ist. Da die Erforderlichkeitsklausel bewusst und gewollt für den Bereich der Abweichungsgesetzgebung suspendiert wurde, sperrt selbst der Gedanke der „Wahrung der Rechtsund Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse“ i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG nicht die landesrechtliche Abweichung von einer bundesgesetzlichen Regelung. Bei landesrechtlichen Abweichungsgesetzen zur Regelung der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG kann der Bund freilich über Art. 84 Abs. 3 bis Abs. 5 GG seine (beschränkten) aufsichtsrechtlichen Mittel zur Herstellung des rechtmäßigen Vollzugs der Bundesgesetze ausüben. Der Maßstab des rechtmäßigen Vollzugs reduziert sich dabei allerdings auf die (materiellen) Regelungen des Bundesrechts, von denen die Länder nicht abweichen (können). Landesrechtliche Regelungen des Verwaltungsverfahrens und deren Vollzug könnten erst dann vom Bund gerügt werden, wenn sie den Vollzug des (materiellen) Bundesrechts unmöglich machen.

22

BVerfGE 1, 82, 85; Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, 2. Aufl. 2010, Rn. 774. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 119 (270). 24 Gegen derartige Argumentationen bereits Hans Nawiasky, VVDStRL 3 (1927), S. 25 (26). 23

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5. Keine Sperrwirkung des Unionsrechts gegenüber dem Abweichungsgesetzgeber und Entbehrlichkeit des Prinzips der Bundestreue Auch unionsrechtliche Anforderungen schließen Abweichungsgesetzgebung nicht per se aus.25 Das Unionsrecht ist von den Ländern freilich – wie vom Bund auch – zu beachten. Lässt das Unionsrecht Spielräume, können sie vom Bund und auch von den Ländern ausgefüllt werden. Zu rechtlichen Problemen kommt es lediglich, wenn abweichendes Landesrecht gegen Unionsrecht verstößt. Auf den ersten Blick erscheint der Ansatz tatsächlich naheliegend, in einem Verstoß gegen Unionsrecht zugleich einen Verstoß gegen das Prinzip der Bundestreue anzunehmen.26 Denn letztlich ist die Bundesrepublik als Mitglied der EU als Ganze an die Unionstreue gebunden. Der Grundsatz der Bundestreue hält sowohl den Bund als auch die Länder dazu an, die „gebotene und zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaats und auf die Belange der Länder zu nehmen“27. Ist die Bundesrepublik nun gehalten, Unionsrecht umzusetzen, so haben die Länder alles zu tun, um diese Bundespfl icht im Rahmen ihrer Kompetenzen zu erfüllen. Allerdings ist fraglich, welche Rechtsfolgen sich hier aus dem Grundsatz der Bundestreue ergeben sollen. Eine Nichtigkeit von Landesrecht, das gegen Unionsrecht verstößt, anzunehmen, erscheint schwer begründbar. Der ungeschriebene Grundsatz der Bundestreue ist als „bundesstaatsspezifische Ausprägung von Treu und Glauben“28 nur ein Korrektiv und kann nicht als eigenständiges Verfassungsprinzip herangezogen werden.29 Auch wäre die Nichtigkeit als Folge eines Unionsrechtsverstoßes eine „überschießende“ Konsequenz, die über das hinausgeht, was Unionsrecht seinerseits beansprucht: nämlich lediglich Anwendungsvorrang. Die Bundestreue kann als Hebel zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht weiter gehen, als das Unionsrecht selbst. Erst Recht überzeugt es nicht, hier noch weiter zu gehen und im Bereich unionsrechtlicher Umsetzungspfl ichten eine Sperrung der Abweichungskompetenz der Länder anzunehmen. Das würde der Konzeption der Abweichungsgesetzgebung widersprechen, nach der die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG gerade durchbrochen wird. Das Unionsrecht gebietet vielmehr allenfalls, dass die bundesgesetzliche Regelung anstelle einer landesrechtlichen Regelung zur Anwendung kommt, wenn erstere dem Unionsrecht entspricht und letztere nicht. Dies wird z. T. auch tatsächlich als gebotene Folge des Prinzips der Bundestreue angesehen.30 Verdient diese Ansicht auch im Ergebnis Zustimmung, bedarf es hierzu nicht des Umwegs über das Prinzip der Bundestreue. Vielmehr kommt man zu demselben und zutreffenden Ergebnis, wenn man unmittelbar die Konsequenzen aus dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Uni25 Anders: Felix Eckardt / Raphael Weyland, NVwZ 2006, 737 (740 f.); Astrid Epiney, NuR 2006, 403 ff.; wie hier: Wolfgang Köck/Rainer Wolf, NVwZ 2008, 353 (356). 26 So Wolfgang Köck / Rainer Wolf, NVwZ 2008, 353 (356); Helmuth Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (254). 27 BVerfGE 92, 203 (230); Hartmut Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 195 (243). 28 Hartmut Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 252 f. 29 Manche Autoren sprechen der Bundestreue sogar jede eigenständige Bedeutung ab: HermannWilfried Bayer, Die Bundestreue, 1961, S. 91 Fn. 53; Konrad Hesse, Der unitarische Bundestaat, 1962, S. 7. 30 Wolfgang Köck/Rainer Wolf, NVwZ 2008, 353 (356); Helmuth Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (254).

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onsrechts zieht.31 An das Unionsrecht sind die Länder ebenso gebunden wie der Bund 32, so dass der Grundsatz des Anwendungsvorrangs hier auch Relevanz besitzt. Dieser bewirkt unmittelbar, dass das gegen Unionsrecht verstoßende Landesgesetz nicht angewendet wird. Weil die Abweichungsgesetzgebung ihrerseits die bundesrechtliche Regelung nicht außer Kraft setzt, sondern gegebenenfalls nur Anwendungsvorrang als lex posterior beansprucht, wird in diesen Fällen der Weg automatisch frei, das Bundesgesetz anzuwenden. Dasselbe geschieht – jenseits der Fälle des Unionsrechtsvorrangs – auch dann, wenn ein landesrechtliches Abweichungsgesetz aufgehoben wird (sei es vom Gesetzgeber oder durch eine verfassungsgerichtliche Verwerfung). Die bundesgesetzliche Regelung nimmt – wenn sie ihrerseits dem Unionsrecht genügt – insoweit am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teil. Sie füllt die Lücke, die sich durch nichtanwendbares Landesrecht gegebenenfalls auftut. Das landesrechtliche Abweichungsgesetz wird aber dadurch keinesfalls nichtig33, sondern bleibt in Fällen ohne Unionsrechtsbezug gegebenenfalls anwendbar. Auch die Möglichkeit, dass gegen die Bundesrepublik wegen der bestehenden Unionsrechtsverletzung ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH eingeleitet werden könnte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Selbst für den Fall einer Haftung trifft das Grundgesetz seit der Föderalismusreform I (2006) mit Art. 104a Abs. 6 GG eine ausdrückliche Regelung. Dass die Länder dadurch pekuniär gegebenenfalls in die Verantwortung genommen werden, ist bei weitem wirksamer34 als es das unbestimmte Instrument der Bundestreue sein könnte.

6. Entbehrlichkeit des Prinzips der Bundestreue zur Vermeidung einer „Ping-Pong-Gesetzgebung“ Für den Fall einer „Ping-Pong-Gesetzgebung“ zwischen Bund und Ländern trifft das Grundgesetz eine formale Regelung, die ebenfalls das Prinzip der Bundestreue entbehrlich macht. Der Sinn der Abweichungsgesetzgebung besteht darin, dass die Kompetenzen von Bund und Ländern wechselseitig in einer Weise konkurrieren, dass keine Seite auf die andere „Rücksicht“ zu nehmen braucht. Es ist deshalb schon vom Ansatz fragwürdig, der Abweichungsgesetzgebung den ungeschriebenen Grundsatz der Bundestreue grundsätzlich entgegenzustellen.35 Mit dem ungeschriebenen Grundsatz dürfen geschriebene Grundsätze des Föderalismus nicht unterlaufen werden.36 Bundestreue dient vielmehr der Verwirklichung des Bundesstaatsprinzips und seiner Mechanismen. Das wiederum hängt aber von der Ausgestaltung des 31 Für diese Lösung Stefan Oeter, in: Christian Starck, Föderalismusreform, 2007, Rn. 46; Michael Kloepfer, ZG 2006, 250 (266). 32 Statt aller: Walter Frenz, NVwZ 2006, 742 (746); Michael Kloepfer, ZG 2006, 250 (266). 33 Anders Harald Ginzky/Jörg Rechenberg, ZUR 2006, 344. 34 Dazu Walter Frenz, NVwZ 2006, 742 (747). 35 A. A. Hans Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 170 f.; Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 72 Rn. 43; für eine Restriktion der Abweichungsgesetzgebung im Einzelfall: Michael Kloepfer, ZG 2006, 250 (255); Lars Mammen, DÖV 2007, 376 (378); für eine Restriktion im extremen Missbrauchsfall: Volker Haug, DÖV 2008, 851 (856). 36 Insoweit kritisch gegenüber der Bundestreue auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 269 f.

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Bundesstaatsprinzips im Verfassungsrecht ab. Der deutsche Bundesstaat ist nur noch insoweit unitarisch, als er keine experimentellen Elemente enthält. Es besteht auch gar kein Anlass, hier die Kompetenzausübungsschranke der Bundestreue in Ansatz zu bringen – weder gegen eine Abweichung durch die Länder noch gegen deren Vereinheitlichung durch den Bund. Anlass und Zeitpunkt derartiger Initiativen bleiben ganz dem politischen Prozess überlassen. Der Ansatz des ungeschriebenen Prinzips der Bundestreue zur Beschränkung der Abweichung durch die Länder drohte diese experimentellen Elemente zu nivellieren und stünde dem Wesen der Abweichungsgesetzgebung entgegen. Deren Sinn ist es ja gerade, keine Rücksicht auf die bundesrechtliche Regelung nehmen zu müssen. Auch zum Schutz der Länder brauchen wir meines Erachtens keine rechtliche Schranke gegen eine so genannte „Ping-Pong-Gesetzgebung“. Die Frist des Art. 73 Abs. 3 S. 2 und Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG gibt den Ländern die Möglichkeit, auf eine bundesgesetzliche Vereinheitlichungsinitiative gegebenenfalls politisch zu reagieren und ein „hin und her“ zu verhindern. Der Bund kann derartige Initiativen zur Vereinheitlichung jederzeit und ohne jegliche inhaltliche Beschränkung ergreifen. Um es deutlich zu sagen: Selbst wenn der Bund turnusgemäß alle seine Gesetze, von denen Länder abweichen, jedes Jahr und ohne weitere inhaltliche Änderung neu verabschieden würde, müssten und könnten die Länder jeweils politisch entscheiden, ob sie weiter abweichen wollen. Der Bund hat damit stets das politische Mittel in der Hand, jedes abweichende Land zu zwingen, sich zu seiner Abweichungsverantwortung zu bekennen – nicht mehr und nicht weniger. Allein das Interesse der Rechtsvereinheitlichung legitimiert den Bund, dies (gegebenenfalls immer wieder) zu versuchen. Der Bund kann dabei freilich auch Ideen aus Abweichungsgesetzen oder Erfahrungen aus der bundesgesetzlichen Regelung einarbeiten – und wird dies schon deshalb regelmäßig tun, weil sich solch eine Initiative besser politisch „verkaufen“ lässt – aber er muss es nicht. Der Erfolg einer solchen bundesrechtlichen Initiative, die darauf gerichtet ist, dass bislang abweichende Länder untätig bleiben, wird wesentlich davon abhängen, ob das abweichende Land so gute Erfahrungen mit seiner Abweichung gemacht hat, dass es seinerseits die Transaktionskosten der Abweichung weiter politisch „verkaufen“ kann. Gegebenenfalls kann auch ein Mehrheits- oder auch nur ein Stimmungswechsel im Land ausschlaggebend sein, um eine Abweichungsgesetzgebung nicht weiter aufrecht zu erhalten. Man könnte einwenden, dass der Bund es so in der Hand hat, der Landespolitik ein Thema aufzudrängen – gegebenenfalls sogar taktisch zu Zeiten des Wahlkampfs oder in Situationen instabiler Mehrheiten. Aber selbst wenn dem so ist, rechtfertigt allein das Interesse an einer Rechtsvereinheitlichung den Versuch einer bundesrechtlichen Vereinheitlichung. Anders gesagt bedarf der Bund – anders als bei Art. 72 Abs. 2 GG! – keinerlei Rechtfertigung für seine Regelung. Das ist die Kehrseite dieses klugen, rein formalen Mechanismus der Abweichungskompetenz, die den Zustand der Rechtsvielfalt eben nicht bezweckt, sondern nur ermöglicht. Damit es nicht zu einem „Ping-Pong“ dauernder Änderungen kommt, reicht die Frist des Inkrafttretens von Bundesgesetzen einerseits und die politische Verantwortung der Akteure andererseits. Das Prinzip der Bundestreue ist an dieser Stelle schlicht entbehrlich. Außerdem hat die Bundestreue eine problematische Juridifizierung der politischen Mechanismen des Föderalismus zur Folge. Das Bundesverfassungsgericht

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würde sich mit der Bundestreue gegebenenfalls Kompetenzen anmaßen, die es selbst in die Verfassung hineinliest. Eine Dejuridifizierung der Kompetenzausübung im Bundesstaat ist jedoch eine der Intentionen der Föderalismusreform I (2006), was noch zu zeigen sein wird (dazu III. 2).

III. Abweichungsgesetzgebung und Demokratieprinzip 1. Beschränkung des Demokratieprinzips durch Fristen Der eben als klug bezeichnete Mechanismus hat freilich seinen demokratischen Preis. Auch das Demokratieprinzip sollte indes nicht grundsätzlich gegen die Abweichungsgesetzgebung ins Feld geführt werden. Freilich erscheint die 6-Monatsfrist für das Inkrafttreten neuer bundesrechtlicher Regelungen nach Art. 73 Abs. 3 S. 2 und Art. 84 Abs. 1 S. 3 GG insoweit auf den ersten Blick verfassungspolitisch problematisch. Denn der Gesetzgeber des Bundes wird so in seiner demokratischen Flexibilität beschränkt. Das Demokratieprinzip als Prinzip der Flexibilität des Rechts wird auf diese Weise in der Tat betroffen. Diese Verfassungsänderung verstößt aber nicht gegen Art. 79 Abs. 3 GG. Man denke sich nur einmal die Alternative, dem Bund würde in bestimmten Bereichen die Kompetenz ganz genommen. Das wäre unproblematisch. Die Kompetenz des Bundes in Bereichen der Abweichungsgesetzgebung ist keine uneingeschränkte Kompetenz, die in undemokratischer Weise beschränkt wird, sondern sie ist eine systematisch eingeschränkte Kompetenz zur Vereinheitlichung des Rechts. Zudem dient die Frist erstens dem in Art. 79 Abs. 3 GG mehrfach betonten Erhalt von Länderkompetenzen. Sie dient zweitens dem Rechtsstaatsprinzip (dazu noch unter IV.), indem sie Rechtsunsicherheit und Übergangsschwierigkeiten vermeidet. Die Abweichungsgesetzgebung ist schließlich drittens sogar ein mehrfacher Gewinn für die Demokratie:

2. Gewinne für das Demokratieprinzips durch eine Dejuridifizierung und Repolitisierung der Gesetzgebung Die Abweichungsgesetzgebung ist ein Teil des Kompromisses, um Bundesratsblockaden aufzulösen, die ihrerseits der demokratischen Flexibilität entgegenstanden. Außerdem schafft die Föderalismusreform damit eine Entflechtung und Verklarung der demokratischen Verantwortlichkeiten. Der experimentelle Föderalismus begrenzt zudem die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Das Instrument der Abweichungsgesetzgebung tritt partiell an die Stelle des Damoklesschwertes des Art. 72 Abs. 2 GG, der seinerseits in seiner Anwendbarkeit beschränkt wurde, bzw. des Art. 75 Abs. 2 GG, der ganz entfiel. Im politischen Kompromiss der Föderalismusreform wurden eingeschränkte Klagerechte durch zusätzliche Gesetzgebungskompetenzen kompensiert. Außerdem wurde in Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG eine Vereinheitlichungskompetenz des Bundes innerhalb eines Teils der Abweichungsgesetzgebung (betreffend die Organisation und das Verfahren des

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Vollzugs von Bundesrecht) geschaffen, die ihrerseits bemerkenswert nicht einer „Erforderlichkeit“ unterworfen, sondern an ein „besonderes Bedürfnis“ geknüpft wird. Wann ein entsprechender „Ausnahmefall“ vorliegt, steht im Ermessen des Bundes („kann“-Regelung!). Die Nähe zur Formulierung des alten Art. 72 Abs. 2 GG, das Fehlen einer dem Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG entsprechenden ausdrücklichen Kompetenz des Verfassungsgerichts sprechen dafür, dass diese Regelung nicht justitiabel ist. Schließlich sollte das BVerfG wie gezeigt größte Zurückhaltung darin üben, den Konsequenzen durch andere Verfassungsgrundsätze Grenzen zu setzen. Der experimentelle Föderalismus dejuridifiziert also das Verfassungsrecht. Auch das mag im deutschen Rechts- und d. h. Justizstaat ungewohnt sein. Es hat aber eine Komponente, die ebenfalls ein Gewinn ist: Er repolitisiert die Politik. Freilich dürfen Gesetze der Länder weder gegen Gemeinschaftsrecht noch gegen Grundrechte verstoßen. Insofern bleiben alle materiellen Verfassungsbindungen und ihre verfassungsprozessualen Konsequenzen unberührt – aber das ist kein spezifisches Problem des experimentellen Bundesstaates. Wie bereits erörtert: Der allgemeine Gleichheitssatz ist jeweils nur innerhalb des Landes- bzw. Bundesrechts anwendbar. Nebenbei sei bemerkt: Das vielfältig geäußerte Misstrauen, als könnte allein die Möglichkeit der Landesgesetzgebung die Demokratie und unseren Rechtsstaat gefährden, erinnert nicht selten auch an das Misstrauen gegenüber plebiszitären Elementen. Manchmal fragt man sich, wem die Juristen im Namen der Demokratie denn noch trauen, wenn sie in Plebisziten die Gefahr des demagogischen Missbrauchs beschwören und in parlamentarischer Abweichungsgesetzgebung die Gefahr eines Ping-Pong-Machtspiels wittern. Abgesehen davon wäre übrigens die Ausübung landesrechtlicher Kompetenz durch Abweichungsgesetzgebung im Wege eines landesrechtlichen Volksentscheides theoretisch denkbar – ebenso wie die Auf hebung einer entsprechenden landesrechtlichen Abweichung.

IV. Abweichungsgesetzgebung und Rechtsstaatsprinzip: Rechtsklarheit der Abweichungsgesetzgebung Eine verfassungsrechtliche Grenze könnte jedoch bei der Abweichungsgesetzgebung eine besondere praktische Rolle spielen: Das Rechtsstaatsprinzip gebietet Rechtsklarheit. Insbesondere bei Teilabweichungen muss klar sein, welche Regelung der anderen Ebene daneben gelten soll und wie sich die Regeln dabei zueinander verhalten sollen. Abweichungsgesetzgebung macht das Recht für den Anwender und auch für die Gesetzgebung komplizierter.37 Letztere ist verpfl ichtet, die Probleme der Rechtsanwendung so gering wie möglich zu halten. Das bedeutet nicht, dass Abweichungen als solche aus diesem Grund zu rechtfertigen wären – noch einmal: Der allgemeine Gleichheitssatz ist nicht anwendbar. Vielmehr geht es lediglich um die Gewährleistung der Klarheit, ob und wie das Recht gegebenenfalls abweicht.38 Dem ist bei Abweichungsgesetzgebung Rechnung zu tragen.

37 38

Hans Walter Louis, ZUR 2006, 340 (343). Peter Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (79).

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Indes stellt sich die Frage, was daraus konkret folgt. Aus dem Rechtsstaatsprinzip wurde ein Klarstellungsgebot des Landesgesetzgebers abgeleitet, gegebenenfalls darauf hinzuweisen, ob ein Landesgesetz eine Abweichung darstellen soll.39 Eine gemeinsame Veröffentlichung des Bundes- und Landesrechts – etwa in der Datenbank „juris“40 – dürfte dafür allein nicht genügen,41 da jede Abweichung vom Wortlaut des Bundesrechts – auch ohne materielle Abweichungsintention – als Abweichungsgesetzgebung nach wie vor in Betracht käme.42 Gleiches gelte im Hinblick auf mögliche Änderungen des in Bezug genommenen Bundesgesetzes für bloße salvatorische Klauseln.43 Abhilfe schaffen könnte hier ein Hinweis in den Materialien, ein expliziter Hinweis im Gesetzestext, der die Norm, von der abgewichen wird, genau bezeichnet.44 Dem ist insofern beizupfl ichten, als solche Klarstellungen der Rechtsklarheit dienen würden. In die Gesetzgebungslehre sollten derartige Empfehlungen einfl ießen. Verfassungsrechtlich stellt sich aber die Frage, wann das Rechtsstaatsprinzip verletzt wäre und welche Rechtsfolge daran zu knüpfen wäre. In Betracht kämen die Nichtigkeit eines Teils oder auch der ganzen Regelung sowie eine verfassungsrechtliche Unvereinbarkeitserklärung verbunden mit dem Auftrag der gesetzlichen Verklarung. Wenn man sich die äußerst zurückhaltende Rechtsprechung des BVerfG45 zum Gebot der Bestimmtheit von Strafgesetzen nach Art. 103 Abs. 2 GG vergegenwärtigt, ist kaum damit zu rechnen, dass hier allzu strenge Maßstäbe anzulegen wären. Das ändert freilich nichts daran, dass jedwede explizite Klarstellung rechtspolitisch empfehlenswert ist und die Argumentationslast des Landesgesetzgebers mindert, wenn es zum Streit über die Rechtsklarheit der Regelung kommt. Der kluge Gesetzgeber wird Normen schon deshalb klar zu fassen versuchen, um Interpretationen auszuschließen, die seinem Willen widersprechen. Andererseits kann nicht der Grundsatz aufgestellt werden, dass Abweichungsgesetze klarer als alle anderen Gesetze zu formulieren wären und dass es hier überhaupt nicht zu Auslegungsfragen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen bundesrechtlichen und landesrechtlichen Regeln kommen darf. Ob aus Gründen der Normklarheit ein expliziter Hinweis im Sinne eines Abweichungszitiergebots zwingend vom Gebot der Normklarheit gefordert wird, im Umkehrschluss also in allen anderen Fällen ein Verstoß gegen dieses Gebot vorläge, erscheint zweifelhaft. Wenn aus den (möglicherweise abweichenden) Regelungen heraus nicht klar werden kann, ob es sich um eine Abweichung handelt oder nicht, wird man eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzip annehmen können. Andererseits ist damit aber weder gesagt, dass die nötige Klarheit nur über ein Zitat erreicht werden kann, noch dass eine formale Klarstellung alle 39 Wolfgang Köck, NVwZ 2008, 353 (357); Helmuth Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (255); Peter Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (79 f.). 40 So der Vorschlag in einem Entschließungsantrag von CDU/CSU und SPD v. 28. 06. 2006 (BTDr 16/2052, S. 9). 41 So auch Helmuth Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (255). 42 Wolfgang Köck, NVwZ 2008, 353 (357). 43 Peter Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (80). 44 Peter Fischer-Hüftle, NuR 2007, 78 (80); Wolfgang Köck, NVwZ 2008, 353 (357); Hans Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 172. 45 BVerfGE 73, 206 (238) – Mutlangen; zuletzt BVerfG, 1 BvR 2150/08 vom 4. 11. 2009, AbsatzNr. 94; kritisch dazu Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, 2. Aufl. 2010, Rn. 911.

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Probleme der Rechtsunklarheit beseitigen kann. Ein formales verfassungsrechtliches Zitiergebot für den abweichenden Gesetzgeber hätte einer ausdrücklichen Regelung in der Verfassung bedurft.46 Nebenbei sei bemerkt: Selbst das ausdrückliche Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wird von der Rechtsprechung nicht formal streng angewendet47 – im Gegensatz freilich zum Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG. Mit letzterem ist die Abweichungsgesetzgebung schon deshalb nicht vergleichbar, weil sich die Kompetenz zur Abweichung unmittelbar aus dem Grundgesetz ergibt und keiner gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass Adressat der Normklarheit im Bereich der Abweichungsgesetzgebung auch der Bund ist, der klarstellen sollte, welche Regelungen (bei den in Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 5 genannten Ausnahmen) aus seiner Sicht zum Bereich eines abweichungsfesten Kerns gehören.48 Allerdings wird selbst bei Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip das BVerfG größte Zurückhaltung üben müssen, Normen zu verwerfen. Vielmehr wird regelmäßig eine verfassungskonforme Auslegung möglich und nötigenfalls ein Neuregelungsauftrag vorzugswürdig sein. Die Frage der Unterscheidbarkeit von Bundes- und Landesrecht bei einer Gemengelage zwischen beiden kann auch – worauf schon 200649 hingewiesen wurde – Bedeutung im grundrechtlichen Kontext bekommen. Die Klassifizierung als Bundesoder Landesrecht hat hier insbesondere Konsequenzen für die Geltung der jeweiligen Landesverfassung und die mögliche Anrufung eines Landesverfassungsgerichts.50 Landesrechtliche Abweichungsgesetze sind dabei als echtes Landesrecht zu behandeln und nicht etwa – wie es bei Art. 80 Abs. 4 GG zumindest diskutiert wird51- um abgeleitetes Bundesrecht handelt.

V. Bedeutung der experimentellen Elemente und Ausblick Die Bedeutung der (bislang theoretischen) Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung sollte weder über- noch unterschätzt werden. Zunächst ist die praktische Bedeutung der experimentellen Elemente des deutschen Bundesstaates zu relativieren: Die Abweichungsgesetzgebung ist auf einige wenige Materien beschränkt. Deren praktische Bedeutung gegenüber anderen Gesetzgebungsmaterien ist eher gering. Bislang, d. h. drei Jahre nach der Reform gibt es noch keinen Anwendungsfall. Allerdings sei davor gewarnt, das Instrument deshalb bereits als Totgeburt zu betrachten. Z. T. mag das an Übergangsfristen nach Art. 125b Abs. 1 GG liegen: Erst seit dem 1. 1. 2010 haben die Länder unabhängig von einer 46

Vgl. das Pendant – freilich mit anderer Stoßrichtung – in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG. Krit. Horst Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl., zu Art. 19 Abs. 1 Rn. 24 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechung. 48 Hans Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 172. 49 Oliver Klein/Karsten Schneider, DVBl. 2006, 1549 (1553). 50 Oliver Klein/Karsten Schneider, DVBl. 2006, 1549 (1553); Rupert Stettner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band II, 2. Aufl., Supplementum 2007, Art. 72 Rn. 53. 51 Hartmut Bauer, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band II, 2. Aufl., 2006, Art. 80 Rn. 66. 47

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Neuregelung des Bundes in allen betreffenden Materien die uneingeschränkte Abweichungskompetenz. Die politische Konstellation der großen Koalition in der 16. Legislaturperiode hat die Föderalismusreform I noch nicht auf ihre Bewährungsprobe gestellt. Das könnte sich ändern, je mehr die Politik wieder in zwei Lager zerfällt – insbesondere sofern Bundesrats- und Bundestagsmehrheiten auseinander fallen und der Bund nicht die Chance hat, eine Abweichungsgesetzgebung nach Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG auszuschließen. Eine rein quantitative Betrachtung wird einer verfassungspolitischen Bewertung aber nicht gerecht. Schließlich sollte eine Kompetenznorm verfassungspolitisch nicht daran gemessen werden, ob von ihr möglichst oft Gebrauch gemacht wird. Das wäre vom Gesichtspunkt der Subsidiarität allen staatlichen Handelns geradezu widersinnig. Bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern geht es zwar nicht darum, ob es überhaupt eine staatliche Regelung geben soll, sondern auf welcher Ebene. Aber auch Kompetenzverteilungsnormen sollte man allenfalls dann verfassungspolitisch nach dem Ausmaß ihres Gebrauchs bewerten, wenn der einen oder der anderen Ebene der Vorzug gebührt. Das ist im Bereich der Subsidiaritätsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG der Fall, die aber im Bereich des Art. 73 Abs. 3 GG gerade nicht gilt. Art. 73 Abs. 3 GG eröffnet gerade die Möglichkeit, Regelungen des Bundes durch Abweichungen der Länder und umgekehrt zu ersetzen. Die Abweichungsgesetzgebung ist deshalb als Modell keineswegs eindeutig auf Regelungsvielfalt angelegt. Sie ermöglicht Abweichung und Regelungsvielfalt. Der Zustand der Regelungsvielfalt ist aber nicht Selbstzweck und ist als solcher nicht verfassungsgewollt. Das ergibt sich schon daraus, dass dem Bund stets die Möglichkeit bleibt, eine einheitliche Regelung zu initiieren. In welchem Maß und mit welcher Geschwindigkeit das Instrument der Abweichungsgesetzgebung eine Rolle spielen soll, darüber entscheidet der politische Prozess. Und allein das ist ein verfassungspolitischer Vorteil und ein Gewinn für die Demokratie. Das Instrument der Abweichungsgesetzgebung ist Anlass, ein überkommenes, allzu unitarisches Verständnis des Bundesstaates prinzipiell zu überdenken. Auch könnte die Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung zum politischen Druckmittel der Kompromissfi ndung genutzt werden.52 Sie wird letztlich – aber nicht durch einschränkende Auslegung, sondern politisch – in ein Verhältnis zu den kooperativen Elementen des Föderalismus zu rücken sein. Ob sich das Instrument verfassungspolitisch langfristig bewähren wird, bleibt abzuwarten. Der Kompromiss, den der verfassungsändernde Gesetzgeber hier geschlossen hat, sollte nicht schlecht geredet werden. Bei weiteren Föderalismusreformen sollte darüber nachgedacht werden, die in Art. 72 Abs. 3 GG genannten Materien der Abweichungsgesetzgebung durch andere zu ersetzen. Eine Streichung des Instruments sollte – insbesondere auch im Rahmen des Art. 84 Abs. 1 GG – hingegen nicht gefordert werden, solange nicht ein positiver Gebrauch von Abweichungskompetenzen zu verfassungspolitisch untragbaren Zuständen geführt hat. Alle Verfassungsinterpreten sollten konstruktiv dazu beitragen, dass das Instrument der Abweichungsgesetzgebung auf konstruktive Weise nutzbar wird. Die Nutzbarkeit und nicht die Ausnutzung wird im besten Falle ihr verfassungspolitischer Gewinn sein. 52

Claudio Franzius, NVwZ 2008, 492 (493).

Korruptionsbekämpfung auf internationaler und nationaler Ebene Der „Evaluierungsbericht“ (2008) von GRECO über Österreich und seine legistischen Konsequenzen von

o. Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. Waldemar Hummer Univ.-Ass. Dr. Julia Villotti Universität Innsbruck

I. Einführung Laut Eurobarometer (2009)1 ist nach der mehrheitlichen Ansicht der Europäer bzw Unionsbürger Korruption in allen Institutionen präsent: zu 77% auf der nationalen, zu 75% auf der lokalen und zu 73% auf der regionalen Ebene. Die europäischen Bürger sind zu 46% der Ansicht, dass die PolitikerInnen korrupt sind, gefolgt von den Beamten, die für öffentliche Ausschreibungen zuständig sind (43%) und den Funktionären, die Baugenehmigungen erteilen (42%). Im Durchschnitt glaubt mehr als die Hälfte der EU-Bürger, dass der Großteil der Korruption von der organisierten Kriminalität kommt (54%), während 35% dem widersprechen und 11% dazu keine Meinung haben. Des Weiteren stimmt die überwältigende Mehrheit der Unionsbürger (78%) der Aussage zu, dass Korruption ein großes Problem in ihrem jeweiligen Land ist. Allerdings gibt es diesbezüglich signifi kante Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten: So variiert die Zustimmung zu dieser Aussage zwischen 95% in Griechenland und 22% in Dänemark.2 Österreich scheint diesbezüglich offensichtlich „eine Insel der Seligen“ zu sein: „Österreich und sein Öffentlicher Dienst stehen, wenn es um das Thema Korruption geht, sehr gut da (. . .). Öffentlich Bedienstete in Österreich sind grundsätzlich nicht bestechlich und erledigen ihre Aufgaben objektiv

1 Europäische Kommission (Hrsg.), Eurobarometer Spezial 325/Welle 72.2-TNS Opinion & Social „Einstellung der Europäer gegenüber Korruption“ vom November 2009, 6 f., 66 ff. 2 Eurobarometer (Fn. 1), 6.

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und unvoreingenommen“.3 Diese mehr als optimistische Autostereotypisierung des offiziellen Österreich muss allerdings im Lichte der Heterostereotypisierung seiner gegenwärtigen Stellung durch den „Korruptionswahrnehmungsindex“ (Corruption Perception Index, CPI)4, der von der INGO „Transparency International“ erstellt und laufend ajourniert wird, relativiert werden. Im CPI nahm Österreich im Jahr 2009 weltweit nur mehr den 16. Platz ein, womit es sich zwar nach wie vor in einer guten Position befi ndet, seinen Spitzenplatz vom Jahr 2005, in dem es noch den zehnten Rang einnahm, aber nicht mehr halten konnte.5 Besonders bedeutsam für die Frage des Ausmaßes der Korruption in Österreich war aber der „Evaluierungsbericht Österreich“ (Compliance Report), den die im Schoß des Europarates ausgebildete „Staatengruppe gegen Korruption“ (Group of States against Corruption, GRECO) im Jahre 2008 erstellte6. Dieser Bericht, der von einem fünfköpfigen „GRECO Evaluierungsteam“ (GET) ausgearbeitet wurde, stellte im öffentlichen Sektor Fälle von Korruption fest, die die Tatbestände des Missbrauchs der Amtsgewalt, der Geschenkannahme durch Amtsträger und der Bestechung verwirklichten. Korruption im privaten Sektor wurde vornehmlich in Form von Delikten wie Betrug, Veruntreuung, Geldwäscherei und Kridadelikten nachgewiesen. Dieser Evaluierungsbericht Österreich (2008), verbunden mit dem „Transparency International Austrian Chapter-Jahresbericht 2007“, der ebenfalls eine Zunahme der Korruptionsfälle in Österreich diagnostiziert hatte, hat dazu geführt, dass in Österreich eine Debatte über eine Verschärfung des Korruptionsstrafrechts ausbrach. Beide Berichte fordern auch eine aktivere Rolle Österreichs in der internationalen Antikorruptionspolitik. Zum einen wird dabei die längst überfällige Ratifi kation des „Strafrechtsübereinkommens gegen Korruption“ des Europarates7 gefordert, zum anderen aber auch die Schaffung einer – sowohl in der „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption“ (UNCAC) 8, als auch in der eben erwähnten Europaratskonvention vorgesehenen unabhängigen und weisungsfreien Anti-Korruptionsbehörde – angeregt. Österreich kam diesen Aufforderungen (a) materiell vor allem durch das Strafrechtsänderungsgesetz (2008) sowie das Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz (2009) 9 sowie (b) institutionell durch die Schaffung einer Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (KStA) (2008)10 nach, nachdem es schon vorher Büros für Interne Angelegenheiten (BIAs) in einzelnen Bundesministerien zur speziellen Korruptionsbekämpfung eingerichtet hatte.11

3 Bundeskanzleramt (Hrsg.), Die Verantwortung liegt bei mir. Verhaltenskodex zur Korruptionsprävention (2008), Vorwort; vgl. dazu Fn. 241. 4 Transparency International, Korruptionswahrnehmungsindex 2009; http://www.transparency. org/cpi (Stand: 9. August 2010). 5 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.3. 6 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.2. 7 Vgl. dazu nachstehend in Kap. III.2.b.cc.(b).(bb). 8 Vgl. dazu nachstehend in Kap. III.1. 9 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.1. 10 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.2.b.jj. 11 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.2.b.ff. und IV.2.b.gg.

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Mit 1. Jänner 2010 wurde das BIA-BMI durch das Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK)12 abgelöst, womit eine größere Effizienz in der Korruptionsbekämpfung erreicht werden soll. Die gegenständliche Studie versucht daher, zunächst die völkerrechtlichen – auf universeller und regionaler Ebene – als auch europarechtlichen Vorgaben für die Korruptionsbekämpfung sowie deren Monitoring aufzuzeigen, um sich anschließend mit der Antikorruptionslage in Österreich zu beschäftigen. Dabei wird bewusst auf den Impakt dieser völkerrechtlichen/europarechtlichen Vorgaben auf die österreichische Legistik abgestellt und eine Zäsur vor dem Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄG 2008) bzw dem Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz (KorrStrÄG 2009) vorgenommen, um damit die bisherigen Bestimmungen im Strafgesetzbuch (StGB) bzw. einigen speziellen strafrechtlichen Nebengesetzen mit deren aktuellen Novellierungen iSd Umsetzung dieser internationalen Vorgaben zu kontrastieren. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang, wie vorstehend bereits erwähnt, sowohl dem „Evaluation Report“ von GRECO (2008) als auch dem „Jahresbericht 2007“ der INGO „Transparency International-Austrian Chapter“ (TI-AC) zu, die eine Reihe von Mängel im österreichischen System der Korruptionsbekämpfung aufgezeigt haben. Zunächst muss aber mit einer begriffl ichen Abgrenzung der inkriminierten unterschiedlichen Erscheinungsformen der Korruption begonnen werden, um die ganze Komplexität des Untersuchungsgegenstandes erfassen zu können.

II. Begriffsklärung „Korruption ist im weiteren Sinn eine allgemeine Bezeichnung für oft sehr subtil gestaltete rechtswidrige Gegebenheiten (zB Duldung und Förderung von Lügnern, Schmierern, Fälschern, Betrügern und Hochstaplern im öffentlichen Dienst, Sittenverfall, Rechtsbruch), im engeren Sinn für die in der Form der Bestechung und der Bestechlichkeit straf baren Sachverhalte. Korruption ist zu bekämpfen. Sie schadet in jedem Fall der Allgemeinheit. Einen besonderen Straftatbestand der Korruption gibt es nicht“13. „Eine sogenannte aktive Bestechnung begeht, wer einem Beamten Geschenke oder andere Vorteile anbietet, verspricht oder gewährt, um ihn zu einer Verletzung seiner Amtspfl icht zu bestimmen. Ein Beamter macht sich der Bestechlichkeit schuldig, wenn er für eine Amtshandlung Geschenke oder andere Vorteile annimmt, fordert oder sich versprechen lässt (passive Bestechnung)“.14 Korruption bzw Bestechung15 sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich gefährden die Rechtstreue der Gesellschaft, den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft, den Wettbewerb im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen und hemmen eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung. Alleine 12

Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.4.c. Köbler, Juristisches Wörterbuch10 (2001), 286; vgl. dazu die etymologische Wurzel von „Korruption“, die aus dem Lateinischen Wort „corruptio“ kommt, das Verderbnis, Verderben und Verdorbensein bedeutet. 14 Creifelds, Rechtswörterbuch4 (1968), 172 f. 15 Vgl. Mölders, Bestechung und Bestechlichkeit im internationalen geschäftlichen Verkehr (2009), 22 ff. 13

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Österreichs Wirtschaft entsteht laut Transparency International durch Korruption jährlich ein Schaden im Ausmaß von 23 Mrd Euro (!).16 Es handelt sich dabei um ein dermaßen vielschichtiges Phänomen, dass man es tatbildmäßig nur sehr schwer erfassen und sanktionieren kann. Dementsprechend sind die einzelnen Begehungsformen dieses Delikts auf eine Reihe zivil- und strafrechtlicher Tatbestände verstreut, die jeweils von unterschiedlichen Voraussetzungen der Straf barkeit ausgehen und auch verschiedene Sanktionsmechanismen haben. Da sich daher Korruption nicht auf einzelne Delikte eingrenzen lässt, bereitet die statistische Erfassung von Korruptionsverurteilungen große Schwierigkeiten. Insoweit ist die Kriminalstatistik im Hinblick auf die Erfassung korruptionsbedingter Verurteilungen wenig aussagekräftig. Auch im österreichischen Korruptionsstrafrecht fi ndet sich keine Defi nition des Begriffes „Korruption“. Es handelt sich dabei vielmehr um einen nicht-rechtlichen sprachlichen Gattungsbegriff (genus proximum) als Oberbegriff, dem die einzelnen im Strafgesetzbuch sowie in strafrechtlichen Nebengesetzen, wie beispielsweise dem Strafrechtsänderungsgesetz (StRÄG), dem Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz, aber auch dem Arzneimittelgesetz (AMG)17 und dem Gesetz über unlauteren Wettbewerb (UWG)18, enthaltenen Deliktstatbestände (differentia specifica) für den öffentlichen wie auch für den privaten Bereich mehr oder weniger umgangssprachlich subsumiert werden können. Walter Geyer, der Leiter der mit 1. Jänner 2009 eingesetzten Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (KStA)19, hält die gängige Defi nition von Korruption als „Befugnismissbrauch im Austausch gegen eine Vorteilszuwendung“ für zu eng gefasst. Auch Machtmissbrauch ohne Vorteilszuwendung, die sog „Freunderlwirtschaft“ sowie Schmiergeldzahlungen ohne Missbrauch von Vertretungsbefugnissen sind, so Geyer, als Erscheinungsformen von Korruption zu qualifizieren.20 Transparency International wiederum defi niert Korruption ganz allgemein als „Missbrauch von (anvertrauter) Macht zum persönlichen Nutzen“21, womit politische, juristische, wirtschaftliche und moralische Aspekte umfasst sind,22 während Köbler 23 Korruption als „das durch materielle Vorteile (in einfachen Fällen Geld, in eleganteren Fällen geldwerte Beziehungen) bewirkte pfl ichtwidrige Verhalten von Verpfl ichteten“ beschreibt. 16 Die Presse, 23. Mai 2008, zitiert nach Knötzl, Gefährliche Geschenke – Die Gefahren des verschärften Antikorruptionsstrafrechts, in: Gröhs/Kotschnigg (Hrsg.), Wirtschafts- und Finanzstrafrecht in der Praxis, Bd. 3 (2009), 114. 17 Bundesgesetz über die Herstellung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln (AMG 1983) BGBl 185/1983 idF BGBl I 63/2009. 18 Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb (UWG 1984), BGBl 448/1984 idF BGBl I 79/2007. 19 Vgl. dazu nachstehend in Kap.IV.1.b.bb. 20 Vgl. Geyer, Korruption und ihre Bekämpfung, 37. Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie 25. bis 27. Februar 2009 in Ottenstein/NÖ, JSt (2009), 7; vgl dazu Dannecker, Die Verschärfung der strafrechtlichen und steuerrechtlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption in Deutschland, in: Dannecker/Leitner (Hrsg.), Schmiergelder (2002), 111 ff. sowie die in Fn. 144 angegebene Literatur. 21 Transparency International Austrian Chapter, Grundsatzpapier Gesundheitswesen; http://www. ti-austria.at (Stand: 8. August 2010). 22 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.3. 23 Köbler, Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte2 (2004), 350.

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Auch im internationalen Kontext wird der Begriff „Korruption“ zumeist als kategorialer Oberbegriff gebraucht.24 So werden in den einschlägigen völkerrechtlichen Konventionen Rechtsbegriffe wie „acts of corruption“, „transnational bribery“, illicit enrichment“ etc verwendet, um Korruptionstatbestände zu beschreiben.25 In der Präambel des Strafrechtsübereinkommens über Korruption (1999) 26, das im Schoß des Europarates ausgearbeitet wurde, findet sich etwa der Hinweis, dass „Korruption eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte darstellt, die Grundsätze verantwortungsbewussten staatlichen Handelns, der Billigkeit und der sozialen Gerechtigkeit untergräbt, den Wettbewerb verzerrt, die wirtschaftliche Entwicklung behindert und die Stabilität der demokratischen Institutionen und die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft gefährdet“. Einen einzelnen Deliktstatbestand der Korruption kennt jedoch auch dieses Übereinkommen nicht, die einzelnen Tatbestände werden vielmehr unter dem Oberbegriff „Korruption“ zusammengefasst. Auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (UNCAC) 27, das sich ausschließlich auf Korruption im engeren Sinn bezieht, enthält keine Defi nition derselben. Das im Schoß des Europarates abgeschlossene Zivilrechtsübereinkommen über Korruption (1999) 28 hingegen enthält eine Umschreibung dieser inkriminierten Aktivitäten und defi niert Korruption als „das unmittelbare oder mittelbare Fordern, Anbieten, Gewähren, Annehmen oder Inaussichtstellen von Bestechungsgeldern oder eines anderen ungerechtfertigten Vorteils, das die Erfüllung der dem Begünstigten obliegenden Pfl ichten beeinträchtigt oder dazu führt, dass er sich nicht wie geboten verhält“29.

III. Völkerrechtliche und europarechtliche Vorgaben der Korruptionsbekämpfung Da korruptive Sachverhalte ja nicht immer nur innerhalb der Grenzen eines Staates gesetzt werden, sondern in vielen Fällen auch grenzüberschreitenden Charakter haben, musste es im Laufe der Zeit auch zu einer internationalen – völkerrechtlichen, aber auch europarechtlichen – Erfassung und Pönalisierung dieses Deliktstypus kommen, ein Vorgang, der im Schoß mehrerer – sowohl intergouvernementaler als auch supranationaler – Internationaler Organisationen ausgearbeitet wurde. Dies materialisierte sich aber nicht nur auf der universellen Ebene im Schoß der Vereinten Nationen (VN), sondern wurde auch im Rahmen regional tätiger Organisationen umgesetzt. Dementsprechend kam es zum einen im Schoß der VN und zum anderen im Rahmen europäischer (Europarat, OECD, EU) und außereuropäischer

24 Vgl. dazu Androulakis, Die Globalisierung der Korruptionsbekämpfung (2007), 184 ff., 236 ff., 282 ff. 25 Vgl. nachstehend in Kap. III.2. 26 Vgl. nachstehend in Kap. III.2.b.cc.(b).(bb). 27 Vgl. nachstehend in Kap. III.1. 28 Vgl. nachstehend in Kap. III.2.b.cc.(b).(dd). 29 Vgl. Art. 2 des Zivilrechtsübereinkommens über Korruption.

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(OAS, AU) Organisationen zur Ausarbeitung und zum Abschluss von sog. „AntiKorruptions-Übereinkommen“. Während aber im gegenständlichen Beitrag die im Schoß der VN, der OAS und der AU sowie der OECD und der EU ausgearbeiteten Anti-Korruptionsabkommen nur kursorisch dargestellt werden, wird auf die im Rahmen des Europarates erstellten einschlägigen völkerrechtlichen Verträge intensiver eingegangen, da in deren Rahmen auch das „Abkommen über die Errichtung der Staatengruppe gegen Korruption“ (GRECO) 30 abgeschlossen wurde, deren „Evaluierungsbericht Österreich (2008)“31 maßgeblich für die (neuerliche) Umgestaltung der österreichischen Anti-Korruptionsbestimmungen verantwortlich war.

1. Auf universeller Ebene – Vereinte Nationen Die Generalversammlung (GV) der VN nahm bereits am 16. Dezember 1996 eine „Erklärung gegen Korruption und Bestechung im Internationalen Wirtschaftsverkehr“ (Declaration against Corruption and Bribery in International Commercial Transactions)32 an und etablierte ein „Ad-hoc-Komitee für die Ausarbeitung eines Übereinkommens gegen Korruption“. Der daraus hervorgegangene „Draft“ wurde von der GV der VN am 31. Oktober 2003 als „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption“ [„UN-Convention against Corruption“ (UNCAC)] 33 angenommen, das von Österreich am 10. Dezember 2003 unterzeichnet, am 11. Jänner 2006 ratifi ziert und in der Folge am 13. März 2006 im Bundesgesetzblatt 34 kundgemacht wurde. Die parlamentarische Genehmigung dieses Übereinkommens erfolgte gem Art. 50 Abs. 2 B-VG(alt) 35 allerdings unter Erfüllungsvorbehalt, da es nicht als „self-executing“ qualifiziert wurde. Das UN-Übereinkommen gegen Korruption sieht verschiedenste Maßnahmen zur Zurückdrängung der Korruption vor. In Art. 2 UNCAC defi niert es zunächst den „Amtsträger“ als „eine Person, die in einem Vertragsstaat durch Ernennung oder Wahl, befristet oder unbefristet, bezahlt oder unbezahlt und unabhängig von ihrem Dienstrang ein Amt im Bereich der Gesetzgebung, Exekutive, Verwaltung oder Justiz innehat“. Art. 15 UNCAC verpfl ichtet in der Folge die Vertragsstaaten, die aktive und passive Bestechung von inländischen Amtsträgern zum Zwecke der pfl ichtgemäßen wie auch pfl ichtwidrigen Vornahme eines Amtsgeschäftes unter Strafe zu stellen. Art. 15 lit a und b UNCAC stellt in diesem Zusammenhang in concreto auf einen ungerechtfertigten Vorteil ab, der in der Zuteilung eines entgeltlichen oder unentgeltlichen Vorteils bestehen kann und in einem nicht unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zur Tathandlung stehen muss. Darüber hinaus kann der Vorteil der 30

Vgl. dazu nachstehend in Kap. III. Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.2. 32 36 ILM 1043 (1997). 33 Beschluss der GV der VN A/RES/58/4; 43 ILM 37 (2004). 34 BGBl III 47/2006. 35 B-VG idF BGBl I 1/2008; für den aktuellen Wortlaut von Art. 50 B-VG siehe BGBl I 2/2008; vgl. dazu Lienbacher, Der erste Teil der Verfassungsreform, in JRP (2008), 77 (80). 31

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pönalisierten Handlung aber auch darin bestehen, dass dieser einer dritten Person zukommt.36 Die Tathandlung selbst besteht nach Art. 15 lit a im Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines ungerechtfertigten Vorteils und nach lit b im Fordern oder Annehmen eines ungerechtfertigten Vorteils, wobei der Zweck der Tathandlung insofern in einem Konnex mit der Amtshandlung stehen muss, als der ungerechtfertigte Vorteil die Gegenleistung dafür sein soll, dass der Amtsträger in Ausübung seiner Amtspfl ichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt. Im Gegensatz dazu war in Österreich sowohl der Begriff „Amtsträger“ in § 74 Abs. 1 Ziff. 4a StGB als auch die Formulierung der einschlägigen Straftatbestände der §§ 304 StGB (Geschenkannahme durch Amtsträger oder Schiedsrichter), 307 StGB (Bestechung) und 304a StGB (Stimmenkauf und -verkauf ) 37 unterschiedlich ausgestaltet. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 200838 kam es zunächst zur Überarbeitung dieser Bestimmungen, um sie den Vorgaben des UNCAC anzupassen. In Punkt E.9. des Regierungsprogramms für die XXIV. Gesetzgebungsperiode39 war vorgesehen, das Korruptionsstrafrecht neuerlich zu überarbeiten. Dementsprechend wurde in der Folge auch eine weitere Präzisierung durch das Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz (KorrStrÄG 2009)40 vorgenommen. Die in den Art. 6 und 36 UNCAC angeführten Aufgabenstellungen im Bereich der Korruptionsbekämpfung und -prävention, vor allem aber die Forderung zur Etablierung unabhängiger nationaler Einrichtungen der Korruptionsprävention und -bekämpfung41, hat für Österreich in den vergangenen Jahren insbesondere das „Büro für Interne Angelegenheiten“ (BIA-BMI) wahrgenommen, das ab dem 1. Jänner 2010 allerdings durch das „Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung“ (BAK) ersetzt wurde.42 Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde im Jahre 1999 außerdem das „Übereinkommen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“43 angenommen, das die Vertragsstaaten unter anderem dazu verpfl ichtet, die Straftaten der Geldwäsche (Art. 6) und der Korruption (Art 8) zu sanktionieren, sofern diese grenzüberschreitender Natur sind und daran eine organisierte kriminelle Gruppe mitgewirkt hat. Als „Korruption“ wird dabei zum einen „das Versprechen, das Angebot oder die Gewährung eines ungerechtfertigten Vorteils unmittelbar oder mittelbar an einen Amtsträger für diesen selbst oder für eine andere Person oder einen anderen Rechtsträger als Gegenleistung dafür, dass der Amtsträger bei der Ausübung seiner Dienstpfl ichten eine Hand-

36 Vgl. dazu die Punkte 193 ff. des „Legislative Guide for the implementation of the United Nations Convention against Corruption; http://www.unodc.org/pdf/corruption/CoC_LegislativeGuide.pdf. 37 In einem Gutachten des Legislativdienstes der Parlaments vom 29. Jänner 2008 wird darauf hingewiesen, dass die Bestimmung des § 304a StGB hinsichtlich der Abgeordnetenkorruption nicht den Vorgaben des UN-Übereinkommens gegen Korruption entspricht; vgl. Anfrage des Abg. Albert Steinhauser, Freundinnen und Freunde, 654/J XXIV. GP vom 16. Jänner 2009, 1. 38 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.1.b. 39 Präsentiert am 23. November 2008. 40 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.1. 41 Vgl. dazu allgemein Möhrenschlager, Der strafrechtliche Schutz gegen Korruption, in: Dölling (Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention (2007), 387 ff. 42 Vgl. dazu nachstehend in Kap. IV.4.c. 43 BGBl III 84/2005.

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lung vornimmt oder unterlässt“ qualifiziert.44 Zum anderen fällt darunter „die unmittelbare oder mittelbare Forderung oder Annahme eines ungerechtfertigten Vorteils durch einen Amtsträger für diesen selbst oder für eine andere Person oder einen anderen Rechtsträger als Gegenleistung dafür, dass der Amtsträger bei der Ausübung seiner Dienstpfl ichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt“.45 „Amtsträger“ im Sinne des Übereinkommens sind Amtsträger oder Personen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, entsprechend den Bestimmungen dieses Begriffs im innerstaatlichen Recht und seiner Anwendung im Strafrecht des jeweiligen Staates, in dem die betroffenen Personen ihre Aufgaben wahrnehmen.46 Die Vertragsstaaten haben wirksame Gesetzgebungs- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Integrität von Amtsträgern zu fördern und ihre Korruption zu verhüten, aufzudecken und der Schwere der Straftat Rechnung tragende Sanktionen vorzusehen.47

2. Auf regionaler Ebene – OAS, AU, OECD, EU, Europarat Wie vorstehend bereits erwähnt, wurden nicht nur auf universeller, sondern vor allem auch auf regionaler Ebene eine Reihe von Anti-Korruptionsabkommen geschlossen, wobei in diesem Zusammenhang sowohl zwei außereuropäische Räume – nämlich beide Amerikas (OAS) und Afrika (AU) – als auch der europäische Raum (OECD, EU, Europarat) dargestellt werden sollen.

a) Außereuropäische Räume – OAS, AU Im Schoß der „Organisation Amerikanischer Staaten“ (Organization of American States, OAS) wurde am 29. März 1996 die „Interamerikanische Konvention gegen Korruption“ (Inter-American Convention against Corruption IACAC)48 angenommen, die aus 28 Artikeln besteht und deren Ziel es ist, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten der OAS vorgesehenen Mechanismen zur Korruptionsbekämpfung zu stärken und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck enthält die Konvention verschiedene institutionelle wie materielle – grundsätzlich aber nur sehr allgemein gefasste – Vorgaben, wie beispielsweise in Bezug auf die Schulung von Regierungsmitarbeitern im Bereich der Korruption sowie die Einrichtung von Kontrollinstanzen, die die Umsetzung notwendiger Anti-Korruptionsmechanismen in den jeweiligen Staaten überwachen sollen. Neben den erwähnten Vorgaben, die in die einzelnen nationalen Rechtsordnungen entsprechend implementiert werden sollen, zielt die Konvention – zur Verwirklichung einer effektiven und auch grenzüberschreitenden Korruptionsbekämpfung – außerdem auf eine verstärkte Zusammenarbeit der Vertragsstaaten ab.49 44

Art. 8 Abs. 1 lit. a des Übereinkommens gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Art. 8 lit. b des Übereinkommens gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. 46 Art. 8 Abs. 4 des Übereinkommens gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. 47 Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 des Übereinkommens gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. 48 35 ILM 724 (1996). 49 Vgl. Art. II der Interamerikanischen Konvention gegen Korruption. 45

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Als Pendant zum Amtsträgerbegriff des österreichischen Korruptionsstrafrechts unterscheidet die Konvention zwischen den Termini „public official“, „government official“ und „public servant“, wobei von diesen Bezeichnungen „any official or employee of the State or its agencies, including those who have been selected, appointed, or elected to perform activities or functions in the name of the State or in the service of the State, at any level of its hierarchy“50 erfasst sind. Damit sind auch Parlamentarier und Personen, die in (ausgegliederten) staatlichen Unternehmen tätig sind, „Amtsträger“ im Sinne der gegenständlichen Konvention. Letztere unterscheidet verschiedene Deliktstatbestände wie Korruptionshandlungen (acts of corruption), transnationale Bestechung (transnational bribery) sowie ungerechtfertigte Bereicherung (illicit enrichment), die aber alle durch den Oberbegriff „Korruption“ erfasst werden. Die Vertragsstaaten sind verpfl ichtet, die notwendigen legislativen Maßnahmen zu ergreifen, um die genannten Korruptionshandlungen als Straftaten in ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen festzuschreiben und entsprechend zu sanktionieren.51 Im Rahmen der „Afrikanischen Union“ (African Union, AU) wiederum, wurde am 11. Juli 2003 in Maputo/Mozambik die „AU-Konvention über die Verhinderung und Bekämpfung von Korruption“ (African Union Convention on Preventing and Combating Corruption) 52 angenommen, die ebenfalls aus 28 Artikeln besteht und auf die Koordinierung und Harmonisierung der korruptionsrelevanten gesetzlichen Vorgaben in den afrikanischen Staaten, auf verstärkte Transparenz in Bezug auf die öffentliche Verwaltung sowie auf die Förderung der sozioökonomischen Entwicklung auf dem afrikanischen Kontinent abzielt.53 Es fällt auf, dass letztere Konvention im Vergleich zur vorerwähnten „Interamerikanischen Konvention gegen Korruption“ (1996) ausdrücklich – neben der Korruptionsbekämpfung auf dem öffentlichen Sektor – auch Anti-Korruptionsmaßnahmen für den privaten Sektor vorsieht. So haben die Vertragsstaaten etwa einschlägige gesetzliche Regelungen vorzusehen und die Einbeziehung von Akteuren des privaten Sektors in den Kampf für einen fairen Wettbewerb durch Annahme entsprechender Mechanismen sicherzustellen.54 Dem entsprechend ist der Amtsträgerbegriff der AU-Konvention auch weit gefasst zu verstehen. Die Defi nition55 deckt sich wörtlich mit der in der vorstehend zitierten „Interamerikanischen Konvention gegen Korruption“ (1996) enthaltenen Defi nition der Begriffe „public official“, „government official“ und „public servant“.56 Unter den Überbegriff „Corruption“ sind auch im Rahmen der AU-Antikorruptionskonvention verschiedene Deliktstatbestände zu subsumieren, unter anderem die Fälle ungerechtfertigter Bereicherung und aktive und passive Bestechung eines Amtsträgers. Auch die AU-Antikorruptionskonvention enthält keine Bestimmungen hinsichtlich der Sanktionen für die Vornahme der genannten Korruptionshandlungen, sie 50 51 52 53 54 55

Vgl. Art. I Abs. 3 der Interamerikanischen Konvention gegen Korruption. Art. VII der Interamerikanischen Konvention gegen Korruption. 43 ILM 5 (2004). Vgl. Art. 2 der AU-Konvention über die Verhinderung und Bekämpfung von Korruption. Vgl. Art. 11 der AU-Konvention über die Verhinderung und Bekämpfung von Korruption. Vgl. Art. 1 Abs. 9 der AU-Konvention über die Verhinderung und Bekämpfung von Korrup-

tion. 56

Vgl. dazu Kap. III.2.a.

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verpfl ichtet die Vertragsstaaten aber dazu, diese in ihren nationalen Rechtsordnungen als Straftaten festzuschreiben und entsprechend zu sanktionieren.57

b) Europa – OECD, EU, Europarat In Europa sind eine Reihe von Anti-Korruptionsbestimmungen ausgebildet worden, und zwar sowohl (a) im Schoß der OECD, als auch (b) im Rahmen der EU sowie (c) im Europarat. Diese Regelungen unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres Inhalts, ihrer Rechtsform, ihrer Regelungsintensität sowie Sanktionierung grundlegend. Schwerpunktmäßig wird in diesem Zusammenhang aber auf die im Schoß des Europarates ausgebildeten Anti-Korruptionsabkommen eingegangen.

aa) OECD In diesem Zusammenhang sind zum einen das „Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr“ sowie die 40 Empfehlungen der im Schoß der OECD eingerichteten Finanzermittlungsgruppe für Geldwäsche (FATF) zu erwähnen. Das am 21. November 1997 im Rahmen der OECD unterzeichnete „Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr“ (Convention on Combating Bribery of Foreign Public Officials in International Business Transactions) (1998) 58 verpfl ichtet die Vertragsstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Bestechung ausländischer Amtsträger sowie die Beteiligung an der Bestechung eines ausländischen Amtsträgers nach ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen strafrechtlich zu ahnden.59 Ein „ausländischer Amtsträger“ im Sinne des Übereinkommens ist eine Person, die in einem anderen Staat durch Ernennung oder Wahl ein Amt im Bereich der Gesetzgebung, Verwaltung oder Justiz innehat oder die für einen anderen Staat einschließlich einer Behörde oder eines öffentlichen Unternehmens öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Des Weiteren sind darunter Amtsträger oder Bevollmächtigte von internationalen Organisationen zu verstehen60. Zudem ist eine Verantwortlichkeit juristischer Personen für diese Form der Bestechung im gegenständlichen Übereinkommen vorgesehen.61

57

Art. 6 der AU-Konvention über die Verhinderung und Bekämpfung von Korruption. 37 ILM 1 (1998); BGBl III 176/1999. 59 Vgl. Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. 60 Vgl. Art. 1 Abs. 4 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. 61 Vgl. Art. 2 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. 58

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Die Vertragsstaaten sind dazu verpfl ichtet, die Bestechung von ausländischen Amtsträgern mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen zu bedrohen. Der Strafrahmen sollte dabei mit den Sanktionen, die bei Bestechung inländischer Amtsträger vorgesehen sind, vergleichbar sein. Außerdem ist die Verantwortlichkeit auch juristischer Personen ausdrücklich festgeschrieben.62 Was hingegen die 40 Empfehlungen der Finanzermittlungsgruppe für Geldwäsche (Financial Action Task Force on Money Laundering – FATF) 63 betrifft, so wurden diese ursprünglich – im Jahr 1990 – zur Bekämpfung des Missbrauchs von Finanzsystemen durch Geldwäsche im Zusammenhang mit Drogengeschäften ausgearbeitet. Mit der Überarbeitung der Empfehlungen sechs Jahre nach deren Annahme sollte den neu entstandenen Formen der Geldwäsche Rechnung getragen werden. Inhaltlich betreffen sie die von Kreditinstituten, Nicht-Banken und Berufsgruppen zu ergreifenden Maßnahmen zur Vorbeugung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sowie institutionelle Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfi nanzierung. Außerdem wird die Notwendigkeit einer internationalen Kooperation in diesem Bereich betont und zu erleichtern versucht. Inzwischen wurden die Empfehlungen von mehr als 130 Ländern angenommen und sind damit zum „internationalen Anti-Geldwäsche-Standard“ geworden.64

bb) EU Die Europäische Union (EU) hat eine umfassende Politik zur Bekämpfung der Korruption entwickelt, und dafür eine Reihe entsprechender Rechtsakte erlassen. Im Oktober 2008 wurde von der EU darüber hinaus die Einrichtung eines Netzes von Kontaktstellen in den Mitgliedstaaten beschlossen, das dem Austausch bewährter Verfahren und von Erfahrungen im Hinblick auf Korruptionsprävention und -bekämpfung dient.65 Was den Tatbestand der Bestechung betrifft, so haben die EU-Mitgliedstaaten zunächst am 26. Juli 1995 das auf den (alten) Artikel K.3 EUV gestützte Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften 66 angenommen. In der Folge nahm dann der Rat am 27. September 1996 den Rechtsakt über die Ausarbeitung eines Protokolls zum Übereinkommen über den Schutz der fi nan62

Art. 3 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. 63 Die Finanzermittlungsgruppe für Geldwäsche (FATF) ist eine intergouvernementale Institution zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfi nanzierung, die sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene Empfehlungen (Recommendations) entwickelt und publik macht [FATF, About the FATF, at http://www.fatf-gafi.org/pages/0,3417,en_32250379_32236836_1_1_1_1_1,00.html (Stand: 29. Oktober 2009)]; vgl. dazu auch FATF/GAFI (ed.), FATF revised mandate 2008–2012 (Stand: 11. Jänner 2008). 64 Vgl. FATF, The 40 Recommendations – Introduction, at http://www.fatf-gafi.org/document/ 28/0,3343,en_32250379_32236930_33658140_1_1_1_1,00.html#Introduction (Stand: 29. Oktober 2009). 65 Vgl. http://europa.eu/legislation_summaries/fight_against_fraud/fight_against_corruption/lf0 002_en.htm (Stand: 11. Jänner 2008). 66 ABl 1995, Nr C 316, 49 ff.

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ziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften67 an. Sowohl das Übereinkommen, vor allem aber dieses Protokoll, das am 17. Oktober 2002 in Kraft getreten ist, enthalten Begriffsbestimmungen und harmonisierte Strafen für den Straftatbestand der Bestechung. Letzterer ist dann gegeben, wenn „eine Person vorsätzlich einem Beamten unmittelbar oder über eine Mittelsperson einen Vorteil jedweder Art für ihn selbst oder für einen Dritten als Gegenleistung verspricht oder gewährt, dass der Beamte unter Verletzung seiner Dienstpfl ichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt, wodurch die fi nanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft geschädigt werden oder geschädigt werden können“68. In der Folge nahm der Rat am 26. Mai 1997 das „Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind“69, an. Ferner nahm der Rat am 22. Dezember 1998 im Rahmen der dritten Säule die Gemeinsame Maßnahme 98/742/JI betreffend die Bestechung im privaten Sektor 70 an, die er später zu einem Rahmenbeschluss umgestaltete. Dementsprechend erging, gestützt auf Art. 29, 31 Abs. 1 lit e und 34 Abs. 2 lit b EUV(alt) auch der Rahmenbeschluss 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor 71, durch den sichergestellt werden soll, dass in allen Mitgliedstaaten sowohl die Bestechung als auch die Bestechlichkeit im privaten Sektor unter Strafe gestellt wird, dass auch juristische Personen für diese Strafen haftbar gemacht werden können und dass die dabei verhängten Strafen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind. Der Rahmenbeschluss 2003/568/JI war gem seinem Art. 9 bis zum 22. Juli 2005 umzusetzen. In Österreich erfolgte die Umsetzung durch das Strafrechtsänderungsgesetz (2004)72. Bereits im Jahr 1998 wurde im Rahmen der dritten Säule der Europäischen Union vom Rat eine Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI zur Bekämpfung der Geldwäsche 73 angenommen. 2001 erließ der Rat – wiederum im Rahmen der dritten Säule – den Rahmenbeschluss über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten74. In der Folge wurde schließlich vom Europäischen Parlament und vom Rat die Richtlinie 2001/97/EG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche 75 angenommen.76

67

ABl 1996, Nr C 313, 1 ff. Art. 3 des Protokolls zum Übereinkommen. 69 ABl 1997, Nr C 195, 2 ff. 70 ABl 1998, Nr L 358, 2 ff. 71 ABl 2003, Nr L 192, 54 ff; gem Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI wird die Gemeinsame Maßnahme 98/742/JI aufgehoben. 72 BGBl I 15/2004. 73 Gemeinsame Maßnahme vom 3. Dezember 1998 betreffend Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten, ABl 1998, Nr L 333, 1 ff. 74 ABl 2001, Nr L 182, 1 f. 75 ABl 2001, Nr L 344, 7 ff.; aufgehoben durch die RL 2005/60/EG des Rates vom 26. Oktober 2005, ABl 2005, Nr L 309, 15 ff. 76 Vgl. dazu allgemein Gentzik, Die Europäisierung des deutschen und englischen Geldwäschestrafrechts (2002). 68

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cc) Europarat Die Korruptionsbekämpfung im Rahmen des Europarates erfolgt in dreierlei Hinsicht, wobei die jeweiligen Ansätze eng miteinander verknüpft sind: (a) zum einen die Ausarbeitung von europäischen Normen und Standards, (b) zum anderen die Überwachung der Einhaltung dieser Normen sowie (c) die Leistung gezielter Hilfe für Länder und Regionen zur Durchsetzung dieser Normen im Rahmen von Programmen zur technischen Zusammenarbeit.

(a) Das Anti-Korruptionsprogramm des Europarates Erstmals setzte sich das Ministerkomitee des Europarates im Jahre 1981 mit Fragen der Wirtschaftskriminalität auseinander und erließ am 25. Juni 1981 auf der Basis von Art. 15.b der Satzung des Europarates77 die Recommendation No R (81) 12 of the Committee of Ministers to the Member States on Economic Crime. Im Anhang zu dieser Empfehlung des Ministerkomitees wurde eine „List of economic offences“ aufgenommen, als deren elfter Punkt „unfair competition (including bribery of an employee of a competing company) and misleading advertising“ figurierte. In der Folge kamen die Justizminister der Mitgliedstaaten des Europarates auf ihrem 19. Treffen in Valetta/Malta im Jahr 1994 überein, dass das Delikt der Korruption auf europäischer Ebene bekämpft werden müsse, weil dadurch die Stabilität der demokratischen Institutionen in den Mitgliedstaaten unterminieret werden könnte. Dementsprechend forderten sie den Europarat auf, dieser Anregung nachzukommen. Als Reaktion darauf setzte das Ministerkomitee des Europarates auf seiner Tagung in Straßburg 1995 unter der Schirmherrschaft des „European Committee on Crime Problems“ (CDPC)78, und des „European Committee on Legal Co-operation“ (CDCJ)79 eine multidisziplinäre Anti-Korruptionsgruppe („Multidisciplinary Group on Corruption“, GMC) ein, womit die Korruptionsbekämpfung als eines der Hauptziele des Europarates etabliert wurde. Im November 1996 nahm das Ministerkomitee das durch das GMC erarbeitete „Aktionsprogramm gegen die Korruption“ an und setzte den 31. Dezember 1996 als Deadline für dessen Implementierung fest. In diesem Zusammenhang begrüßte das Ministerkomitee die geplante Ausarbeitung zweier einschlägiger Konventionen sowie den darin unter Umständen vorgesehenen „follow-up“Mechanismus zum Monitoring der in diesen Übereinkommen übernommenen Verpfl ichtungen durch die Mitgliedstaaten. Im Juni 1997 drückten die Justizminister der Mitgliedstaaten des Europarates auf ihrer 21. Tagung in Prag ihre Besorgnis über die Zunahme der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität – unter der die Korruption einen immer größeren Platz einnahm – aus und regten den raschen Abschluss eines Strafrechtsübereinkommens über Korruption an. Am 10./11. Oktober 1997 77

BGBl 1956/121 idF BGBl III 2003/54. Das CDPC wurde vom Ministerkomitee im Jahre 1958 eingerichtet und hat als Aufgabe die Koordinierung der Aktivitäten des Europarates im Bereich der Verbrechensverhütung und -kontrolle. 79 Das CDCJ wurde vom Ministerkomitee im Jahre 1963 eingerichtet und hilft diesem bei der Ausarbeitung von Empfehlungen bzw der Inhalte von Vertragsentwürfen. 78

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kamen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Europarates auf ihrem zweiten Gipfeltreffen in Straßburg überein, das Ministerkomitee zu beauftragen, Leitlinien für die Bekämpfung der Korruption auf nationaler und internationaler Ebene zu erarbeiten. Am 6. November 1997 erließ das Ministerkomitee die Resolution (97) 24 on the Twenty Guiding Principles for the Fight against Corruption 80 und beauftragte die GMC, in aller Kürze einen Vertragsentwurf über die Schaffung einer Einrichtung für die Implementierung und das Monitoring von Anti-Korruptionsmaßnahmen auszuarbeiten.81 Bereits im März 1998 legte die GMC, nachdem sie sowohl das CDCJ als auch das CDPC konsultiert hatte, den Entwurf einer entsprechenden Übereinkunft vor, den das Ministerkomitee durch die Resolution (98) 7 annahm. Am 1. Mai 1999 wurde durch die Entschließung (99) 5 des Ministerkomitees die „Gruppe der Staaten gegen Korruption“ (Group of States against Corruption, GRECO) in Form eines erweiterten Teilabkommens82 formell konstituiert, die folgende 17 Gründungsstaaten umfasste: Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Litauen, Luxemburg, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien und Zypern. Bisher sind GRECO 45 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates sowie die USA beigetreten.83 Österreich trat GRECO mit einiger Verspätung erst am 1. Dezember 200684 bei und ist seit diesem Zeitpunkt dem obligatorischen mehrstufigen Evaluierungsverfahren zur Überprüfung der Antikorruptions-Übereinkommen des Europarates unterworfen.

(b) Die „Anti-Korruptionsübereinkommen“ des Europarates (aa) Bezeichnung, Rechtsnatur und Offenheit Am 27. Jänner 1999 wurde im Schoß des Europarates das „Strafrechtsübereinkommen über Korruption“85 unterzeichnet, das am 1. Juli 2002 in Kraft trat. Die Ausarbeitung desselben oblag einem Expertenkomitee unter österreichischem Vorsitz86. Dieses 80

Den 20 Guiding Principles kommt lediglich unverbindlicher Hinweischarakter zu. Vgl. dazu allgemein Miklau, 50 Jahre Strafrechtskooperation und Kriminalpolitik in Europa, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006. Bilanz einer 50-jährigen Mitgliedschaft (2008), Bd. I, 385 ff. 82 Vgl. dazu nachstehend in Kap. III.2.b.cc.(b).(bb). 83 Vgl. Köck, Ein halbes Jahrhundert gemeinsam auf dem Weg zu einem modernen Strafvollzug, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006. Bilanz einer 50-jährigen Mitgliedschaft (2008), Bd. I, 417 f. 84 Der Leiter der österreichischen Delegation bei GRECO ist der LStA Dr. Christian Manquet; vgl. Köck, Ein halbes Jahrhundert gemeinsam auf dem Weg zu einem modernen Strafvollzug, in: Hummer, (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006. Bilanz einer 50-jährigen Mitgliedschaft (2008), Bd. 1, 417. 85 Criminal Law Convention on Corruption (SEV/ETS Nr 173); 38 ILM 505 (1999); http://conventions.coe.int. 86 Den Vorsitz führte der LStA Dr. Christian Manquet; vgl. dazu Miklau, 50 Jahre Strafrechtskooperation und Kriminalpolitik in Europa, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), 400 Fn. 51. 81

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Strafrechtsübereinkommen wurde am 15. Mai 2003 noch durch ein „Zusatzprotokoll zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption“87 ergänzt, das wiederum am 1. Februar 2005 in Kraft trat.88 Am 4. November 1999 wurde das „Zivilrechtsübereinkommen über Korruption“ (Civil Law Convention on Corruption) 89 unterzeichnet, das in der Folge am 1. November 2003 in Kraft trat. Nominatim handelt es sich dabei um ein „Übereinkommen“ (Conventions) und nicht um ein „Abkommen“ (Agreements), dem im Recht des Europarates rein formal auch ein anderer Charakter zukommt: Gemäß den vom Ministerkomitee bereits 1962 angenommenen und im Februar 1980 neu gefassten und konsolidierten „Model Final Clauses for Conventions and Agreements concluded within the Council of Europe“90 konnten „Abkommen“ mit oder ohne Vorbehalt der Ratifi kation, Annahme oder Genehmigung unterzeichnet bzw abgeschlossen werden, wohingegen „Übereinkommen“ formell ratifiziert, angenommen oder genehmigt werden mussten. Heute wird diese formelle Unterscheidung allerdings nicht mehr strikt eingehalten, sodass lediglich die jeweilige „Modell-Schlussklausel“ in den Verträgen genauen Aufschluss darüber gibt, unter welchen formalen Voraussetzungen der entsprechende Vertrag abgeschlossen werden muss.91 Des Weiteren handelt es sich bei diesen Übereinkommen nicht um solche „des Europarates“ selbst – wie dies die einschlägigen primärrechtlichen Bestimmungen der Art. 1 lit. b iVm Art. 13 und Art. 15 lit. a der Satzung des Europarates sowie die offizielle Bezeichnung der Vertragssammlung [„Sammlung der Europäischen Verträge“92 (Nr. 1 bis 1993) bzw „Sammlung der Europaratsverträge“93 (sic) (Nr 194 ff.)] eigentlich vermuten lassen – sondern vielmehr um Verträge der Mitgliedstaaten des Europarates, die allerdings unter intensiver Beteiligung der Organe des Europarates ausgehandelt und abgeschlossen wurden.94 Die beiden „Anti-Korruptionsübereinkommen“ sowie das Zusatzprotokoll zum Strafrechtsübereinkommen stehen neben den Mitgliedstaaten des Europarates auch den europäischen und außereuropäischen Nichtmitgliedstaaten des Europarates sowie der Europäischen Gemeinschaft (EG) 95 zum Beitritt offen.96 Des Weiteren wurden durch das Ministerkomitee noch zwei weitere einschlägige Empfehlungen erlassen, nämlich am 11. Mai 2000 die Recommendation No Rec(2000)10 87

SEV/ETS Nr 191; siehe Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), 1367. Vgl. Hummer/Schmid, Gesamtdarstellung der (Rechtsharmonisierungs-)Konventionen im Schoß des Europarates – unter besonderer Berücksichtigung der Teilnahme Österreichs, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), Bd. 1, 338. 89 SEV/ETS Nr 174; BGBl III Nr 155/2006; siehe Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956– 2006 (Fn. 81), 1366. 90 Sie lösten die Modellklauseln des Jahres 1962 ab. 91 Vgl. Hummer/Schmid (Fn. 88), 291, 294. 92 European Treaty Series/Série des Traités Européens (ETS/STCE). 93 Council of Europe Treaty Series/Série des Traités du Conseil d’Europe (CETS/STCE). 94 Vgl. Hummer/Schmid (Fn. 88), 301 ff. 95 Zu den auch für die EG geöffneten Konventionen, die im Schoß des Europarates ausgearbeitet und abgeschlossen wurden. 96 Von den bisherigen 203 Abkommen, die im Schoß des Europarates abgeschlossen wurden, sind 163 für europäische Nichtmitgliedstaaten, 149 für außereuropäische Nichtmitgliedstaaten und 46 für die EG geöffnet; vgl. Hummer/Schmid (Fn. 88), 286 Fn. 17 bis 19. 88

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of the Committee of Ministers to Member states on codes of conduct for public offi cials sowie am 8. April 2003 die Recommendation Rec(2003)4 of the Committee of Ministers to Member states on common rules against corruption in the funding of political parties and electoral campaigns.

(bb) Das Strafrechtsübereinkommen über Korruption (1999) Nach den Bestimmungen des Strafrechtsübereinkommens über Korruption (1999) 97 sind die Mitgliedstaaten gehalten, die Straf barkeit bestimmter Arten korrupten Verhaltens – wie etwa die aktive und passive Bestechung in- und ausländischer Amtsträger, Geldwäsche bei Erträgen aus Korruptionsdelikten und Zuwiderhandlungen gegen Buchführungsvorschriften –98 in ihren nationalen Rechtsordnungen vorzusehen. Außerdem enthält das Übereinkommen Vorgaben hinsichtlich der Sanktionierung dieser Straftaten, wonach jeder Vertragsstaat für wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – einschließlich freiheitsentziehender Maßnahmen – zu sorgen hat.99 Auch der Begehung der angeführten Delikte durch juristische Personen soll durch die Androhung angemessener abschreckender, strafrechtlicher oder nicht strafrechtlicher (fi nanzieller) Sanktionen vorgebeugt werden.100 Das Übereinkommen enthält außerdem Bestimmungen über die Entziehung von Tatwerkzeugen und von im Zuge einer Straftat erlangten Vermögenswerte,101 über Beihilfe und Anstiftung zur Begehung102 sowie über den staatlichen Gerichtsstand. Des Weiteren sind zur Korruptionsbekämpfung spezialisierte unabhängige Behörden zu schaffen, die über die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen verfügen, „um ihre Aufgaben wirksam und frei von jedem unzulässigen Druck wahrnehmen zu können“.103 In Kapitel IV des Übereinkommens ist weiters die Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei der Untersuchung und Verfolgung von Korruptionsdelikten – etwa durch Rechtshilfe und Auslieferung sowie durch unaufgeforderte Übermittlung von Informationen – vorgesehen.104 Kollisionsrechtliche Bestimmungen enthält das Übereinkommen keine, es verpfl ichtet vielmehr die Vertragsstaaten, die erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um die materiellen Vorgaben in ihrer jeweiligen innerstaatliche Rechtsordnung umzusetzen. Ein eigenes Monitoring-Verfahren ist nicht vorgesehen, jeder Staat wird aber an dem Tag, an dem das Übereinkommen für diesen in Kraft tritt, automatisch Mitglied der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO),105 die gemäß Art. 24 die Durchführung des Übereinkommens zu überwachen hat.

97

Fn. 85. Vgl. Art. 2–14 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 99 Vgl. Art. 19 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 100 Vgl. Art. 18 Abs. 1 und 2 und 19 Abs. 1 und 2 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 101 Vgl. Art. 19 Abs. 3 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 102 Vgl. Art. 18 Abs. 3 und Art. 15 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 103 Vgl. Art. 20 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 104 Vgl. Art. 25 ff. des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 105 Art. 33 Abs. 2 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption. 98

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Im siebten Jahr nach seinem Inkrafttreten am 1. Juli 2002 hatten 41 Staaten das Abkommen gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorgaben ratifi ziert. Sechs Mitgliedstaaten des Europarates – darunter auch Österreich106 – haben die Konvention lediglich unterzeichnet. Die EG, die gem Art. 33 Abs. 2 des Strafrechtsübereinkommens eingeladen ist, dieser Konvention beizutreten, hat dieses Offert aber bisher nicht effektuiert.107 Von den Nicht-Mitgliedsstaaten des Europarates haben nur die USA und Mexiko die Konvention unterzeichnet, einzig Belarus hat diese auch ratifiziert. Dass Österreich das Übereinkommen am 13. Oktober 2000 zwar unterzeichnet, bis heute aber noch nicht ratifiziert hat, liegt in der österreichischen Praxis begründet, die inhaltlichen Vorgaben völkerrechtlicher Übereinkommen zunächst in der österreichischen Rechtsordnung umzusetzen und die Übereinkommen erst danach zu ratifizieren. Man vermeidet mit dieser Vorgangsweise die des Öfteren sehr langwierigen Umsetzungs- und Anpassungsvorgänge der innerstaatlichen Rechtsordnung an die vertraglich vorgegebenen Verpfl ichtungen. Diese österreichische Praxis fi ndet im Übrigen in der B-VG-Novelle BGBl I 2/2008 eine konzeptionelle Entsprechung, gemäß derer Staatsverträge nach Art 50 B-VG, deren Bestimmungen mit dem B-VG kollidieren, erst dann abgeschlossen werden können, wenn es zuvor zu einer entsprechenden Änderung des B-VG gekommen ist.108 Eine Ausnahme von dieser Praxis der vorhergehenden Anpassung der österreichischen Rechtsordnung stellt aber das vorerwähnte „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption“ (UNCAC)109 dar, das von Österreich ratifiziert wurde, ohne dass es zuvor zu einer entsprechenden Umgestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung gekommen ist.

(cc) Das Zusatzprotokoll zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption (2003) Das vorstehend bereits erwähnte Zusatzprotokoll zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption (2003), das am 1. Februar 2005 in Kraft getreten ist, wurde bisher von 32 Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet. Das Zusatzprotokoll ist, wie die Stammkonvention auch, für einen Beitritt nicht-europäischer Staaten sowie der EG – seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (2007) zum 1. Dezember 2009 ist die (neue) Europäische Union Rechtsnachfolgerin der EG (Art. 1 Abs. 3 EUV110 ) – geöffnet. Im Gegensatz zu den sog Änderungsprotokollen – die die Stammkonvention ändern und, um in Kraft zu treten, grundsätzlich von allen Vertragsstaaten ratifiziert werden müssen – treten Zusatzprotokolle, die die Stammkonvention nicht ändern, sondern ihr nur etwas inhaltlich hinzufügen, nur für diejenigen Staaten in Kraft, die sie ratifizieren. Die Ratifi kanten des Zusatzprotokolls müssen allerdings bereits Ver106

Österreich unterzeichnete das Abkommen am 13. Oktober 2000. Zum Verfahren des Abschlusses von Europaratskonventionen durch die Europäische Gemeinschaft vgl. allgemein Hummer/Schmid (Fn. 88), 306 ff. 108 Lienbacher (Fn. 35), 77 (80). 109 Vgl. dazu vorstehend Kap. III.1. 110 ABl 2008, Nr. C 115, 16. 107

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tragsparteien des Strafrechtsübereinkommens über Korruption sein.111 Österreich hat das Protokoll bislang noch nicht unterzeichnet. Inhaltlich ergänzt das Zusatzprotokoll die Stammkonvention dahingehend, dass der persönliche Anwendungsbereich des Strafrechtsübereinkommens über Korruption auch auf die aktive und passive Bestechung in- und ausländischer Schiedsrichter und Schöffen erstreckt wird, wobei die Begriffe „Schiedsrichter“ und „Schöffe“ nach nationalem Recht definiert werden. Ersterer Begriff umfasst jedenfalls auch Personen, die aufgrund von Schiedsvereinbarungen dazu berufen sind, rechtlich bindende Entscheidungen in von den Parteien vorgelegten Streitigkeiten zu fällen. Als Schöffen im Sinne des Zusatzprotokolls sind wiederum Personen zu verstehen, die als Laienmitglieder von Kollegien handeln, die die Aufgabe haben, im Rahmen eines Strafverfahrens über die Schuld von Angeklagten zu erkennen.112 Über die konkrete Durchführung des Zusatzprotokolls wacht gemäß Art. 7 – wie auch beim Strafrechtsübereinkommen – die Staatengruppe gegen Korruption des Europarates (GRECO).

(dd) Das Zivilrechtsübereinkommen über Korruption (1999) Mit dem vorerwähnten Zivilrechtsübereinkommen über Korruption (1999), das mittlerweile durch 32 Mitgliedstaaten des Europarates – einschließlich Österreich –113 ratifiziert wurde, wird erstmals der Versuch unternommen, völkerrechtlich verbindliche Schadensersatzansprüche für Personen zu eröffnen, die durch Bestechungshandlungen einen Schaden erlitten haben (Art. 1). Das Übereinkommen besteht inhaltlich aus drei Kapiteln, die folgende Regelungsbereiche umfassen: Maßnahmen auf nationaler Ebene, internationale Zusammenarbeit und Überwachung der Durchführung sowie Schlussbestimmungen. Im Einzelnen regelt das Übereinkommen Fragen des Schadensersatzes, der Haftung, der Gültigkeit von Verträgen, des Schutzes der Beschäftigten, die Korruptionsfälle aufdecken, der Buchführung und Rechnungsprüfung, der (gerichtlichen) Sicherstellung von Vermögenswerten zur gerichtlichen Vollstreckung und der internationalen Zusammenarbeit. Die einzelnen Bestimmungen sind in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entsprechend umzusetzen, sodass auch das Zivilrechtsübereinkommen keine kollisionsrechtlichen Vorschriften vorsieht.114 Mit der Ratifizierung des Zivilrechtsübereinkommens werden die Staaten vom Zeitpunkt des Inkrafttretens derselben automatisch Mitglied von GRECO, falls sie es nicht schon über ihre Mitgliedschaft in anderen einschlägigen Abkommen bereits sind. Dementsprechend wird gemäß Art. 14 die ordnungsgemäße Durchführung des Zivilrechtsübereinkommens von GRECO entsprechend überwacht. Das Überein111

Vgl. Art. 11 des Zusatzprotokolls zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption. Vgl. Art. 1 Ziff. 1 und 3 des Zusatzprotokolls zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption. 113 BGBl III 155/2006. 114 Vgl. dazu Verschraegen, Gesamtevaluierung der Rechtsharmonisierungskonventionen im Schoß des Europarates aus österreichischer Sicht – Zivilrecht, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), 367. 112

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kommen steht den Mitgliedstaaten des Europarates, ferner auch den Nichtmitgliedstaaten, die bei seiner Ausarbeitung mitgewirkt haben (Bosnien-Herzegowina115, der Heilige Stuhl, Japan, Kanada, Mexiko, die USA und Weißrussland) sowie der Europäischen Gemeinschaft (seit 1. Dezember 2009 der Europäischen Union als Rechtsnachfolgerin) offen.

(ee) Das „Abkommen über die Errichtung der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO)“ als Teilabkommen des Europarates Die Aufgabe von GRECO besteht darin, in den einzelnen Mitgliedstaaten dieses Teilabkommens des Europarates116 entsprechende Untersuchungen hinsichtlich des erreichten Standes der Korruptionsbekämpfung durchzuführen. Damit handelt es sich bei GRECO um ein spezielles „Monitoring-Verfahren“ zur Überwachung der ordnungsgemäßen Durchführung aller im Schoß des Europarates verabschiedeter AntiKorruptionsmaßnahmen, das neben den allgemeinen „Monitoring-Verfahren“ des Ministerkomitees (bzw den bei diesem angesiedelten „Steering Committees“), der Parlamentarischen Versammlung oder des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates117 ausgebildet wurde. GRECO erstellt in diesem Zusammenhang sowohl „evaluation reports“ als auch „compliance reports“. GRECO arbeitet dabei in horizontalen Evaluierungsrunden, die für alle Mitgliedstaaten gelten und stets spezielle Themen umfassen. So stand auf der ersten Evaluierungsrunde von GRECO (2000–2002) die Unabhängigkeit, Spezialisierung und Fahndungstechnik der jeweiligen nationalen Kontrollbehörden im Mittelpunkt der Untersuchungen, ebenso wie auch das Ausmaß der jeweils gewährten Immunitäten vor Verfolgung und Inhaftierung für Beamte. Die zweite Evaluierungsrunde (2003– 2006) betraf die Identifizierung, Beschlagnahme und den Verfall von Sachen, mit denen Beamte korrumpiert werden sollen sowie die Erfassung von rechtlichen Umgehungskonstruktionen, mittels derer Korruption „verschleiert“ werden könnte. Die dritte Evaluierungsrunde, die im Jänner 2007 eröffnet wurde, richtet sich wiederum auf die nähere Abklärung und Präzisierung der im „Strafrechtsübereinkommen über Korruption“ (1999) enthaltenen Straftatbestände sowie die Transparenz der Parteienfinanzierung. Dieser Evaluierungsprozess durch GRECO folgt einer bewährten Vorgangsweise: zunächst wird durch GRECO ein Team von unabhängigen Experten für die Evaluierung eines bestimmten Mitgliedstaates zusammengestellt. Die Untersuchung sur place wird zum einen durch mündliche Befragungen und zum anderen durch die schriftliche Beantwortung von Fragebögen vorgenommen, wobei neben amtlichen Stellen auch Organisationen der Zivilgesellschaft kontaktiert werden. Nach dem Besuch des Mitgliedstaates erstellt das Expertenteam einen Bericht, der zunächst diesem Staat zur Kommentierung übermittelt wird. In der Folge geht der Bericht mitsamt 115

Bosnien-Herzegowina wurde inzwischen Mitglied des Europarates. Vgl. dazu nachstehend Kap. III.2.b.cc. 117 Vgl. dazu Hummer, Der Europarat: Grundlagen, Struktur, Arbeitsweise, Tätigkeitsfelder, Außenbeziehungen, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), 13 ff. 116

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der Stellungnahme des betreffenden Staates als „Evaluation Report“ zur Prüfung und endgültigen Annahme an GRECO. Die darauf hin von GRECO gezogenen Schlussfolgerungen können Aussagen darüber enthalten, ob die Gesetzgebung, aber auch die Praxis, im gegenständlichen Mitgliedstaat den vorgegebenen Standards entsprechen oder nicht. Die Schlussfolgerungen können entweder Empfehlungen oder Beobachtungen enthalten. Auf erstere muss innerhalb von 18 Monaten reagiert werden, auf letztere hingegen in der anschließenden „compliance procedure“ nicht mehr. Eine der Stärken des Monitoring durch GRECO ist der Umstand, dass die Durchführung und Umsetzung der „Evaluation Reports“ bzw der in diesen enthaltenen Empfehlungen in einer eigenen „Compliance Procedure“ untersucht werden. Im Rahmen eines sog „Situation Report“, der spätestens 18 Monate nach der Annahme des „Evaluation Report“ zu erstellen ist, wird festgestellt, ob den Empfehlungen durch den betroffenen Mitgliedstaat entsprechend nachgekommen worden ist oder nicht. Ist dies nicht der Fall, dann kann GRECO eine Nachfrist von weiteren 18 Monaten setzen, nach deren Ablauf GRECO die zwischenzeitlich ergriffenen Maßnahmen neuerlich überprüfen kann. Die Verfahrensordnung von GRECO118 sieht für diejenigen Staaten, deren Antworten auf die Empfehlungen von GRECO „globally unsatisfactory“ waren, einen eigenen „graduated approach“ vor, der aus mehreren Schritten besteht.119 Als Teilabkommen nimmt GRECO eine ganz spezielle Stellung innerhalb der beiden im Schoß des Europarates abgeschlossenen „Anti-Korruptionsübereinkommen“ ein, auf die vorstehend bereits eingegangen worden ist. Ein Teilabkommen ist „eine besondere Art Abkommen, die es Mitgliedstaaten des Europarates ermöglicht, an einer Aktivität trotz der Enthaltung anderer Mitgliedstaaten teilzunehmen“.120 Diese (offizielle) Umschreibung von Teilabkommen durch den Europarat ist aber missverständlich, deutet sie zunächst doch darauf hin, dass es sich dabei um einen Vertrag (arg „Abkommen“) zwischen einer beschränkten Anzahl von Mitgliedstaaten des Europarates handelt. In Wirklichkeit stellt ein „Teilabkommen“ aber gerade keinen völkerrechtlichen Vertrag zwischen (einigen) Mitgliedstaaten des Europarates im herkömmlichen Sinn,121 sondern vielmehr eine spezielle Form der (verstärkten) Zusammenarbeit einer kleineren Zahl von Mitgliedstaaten dar, sich – mit Zustimmung bzw Duldung der anderen Mitgliedstaaten – auf einem Tätigkeitsgebiet des Europarates zu einer engeren Kooperation zusammenzuschließen – und letztlich auch deren Kosten (selbst) zu tragen.122 Als Parallele zu den Teilabkommen im Rahmen des Europarates bietet sich im Schoß der EU – nach dem Rechtsstand auf der Grundlage des Vertrages von Nizza (2001) – das Instrument der sogenannten „verstärkten Zusammenarbeit“ oder „Flexibilität“ sowohl in der „Ersten“ (Art. 11–11a EGV), als auch in der „Zweiten“ (Art. 27a – 118 GRECO, Rules of Procedure (2005); Die Verfahrensordnung wurde im Rahmen der ersten GRECO-Vollversammlung vom 4. – 6. Oktober 1999 in Straßburg angenommen und zuletzt im März 2005 novelliert [Greco (2005) 6E]. 119 Rule 32 der GRECO Rules of Procedure (Fn. 118). 120 Europarat (Hrsg.), Glossar zu den Verträgen; http://conventions.coe.int. 121 Vgl. auch Polakiewicz, Treaty-making in the Council of Europe (1999), 12. 122 Vgl. Hack, Stellung und Funktion des Europarates in der österreichischen Außenpolitik, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), 135.

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27e EUV) und der „Dritten Säule“ (Art. 40–40b EUV) sowie in der EU selbst (Art. 43–45 EUV)123 an, gemäß derer eine beschränkte Anzahl von Mitgliedstaaten untereinander enger zusammenarbeiten können, als dies für die anderen Mitgliedstaaten generell vorgesehen ist. Zur Ausbildung einer solchen „verstärkten Zusammenarbeit“ ist es bis jetzt innerhalb der EU allerdings noch nicht gekommen. Durch den Vertrag von Lissabon (2007) wird das Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“ in Art. 20 EUV grundgelegt und in den Art. 326–334 AEUV näher ausgestaltet.124 Gemäß der Statutary Resolution (93) 28 des Ministerkomitees vom 14. Mai 1993 „on partial and enlarged agreements“125 bedürfen Teilabkommen zum einen der Erlaubnis des Ministerkomitees und zum anderen auch einer Entschließung zum Abschluss derselben, in der das Statut des jeweiligen Teilabkommens enthalten ist und die lediglich von den Mitgliedstaaten des Europarates gefasst wird, die diesem in der Folge auch beitreten wollen. Teilabkommen sind offen konzipiert, sodass jeder Mitgliedstaat des Europarates diesen jederzeit beitreten kann. Es bedarf dafür keines eigenen Beitrittsinstruments, sondern lediglich einer entsprechenden Notifi kation des Beitrittswillens an den Generalsekretär des Europarates. Anders verhält es sich hingegen beim Beitritt von Nicht-Mitgliedstaaten des Europarates zu einem Teilabkommen, da dieser einer ausdrücklichen Einladung durch das Ministerkomitee bedarf.126 Teilabkommen sind daher keine Verträge, die im Schoß des Europarates zwischen dessen Mitgliedstaaten abgeschlossen werden, sondern beruhen auf organgeschaffenem Folgerecht.127 Teilabkommen sind in der Lage, eigene Organe zu ihrer Durchführung einzurichten, wie zB die „Europäische Kommission für Demokratie durch Recht“ (Venice-Commission)128 oder die gegenständliche „Staatengruppe gegen die Korruption“ (GRECO).129

IV. Anti-Korruptionsrechtslage in Österreich Wie sind nun all diese völkerrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben zur Bekämpfung der Korruption in die österreichische Rechtsordnung inkorporiert worden? Die Art der Inkorporation dieser völkerrechtlichen bzw europarechtlichen Bestimmungen war ausgesprochen vielfältig. 123

Vgl. dazu Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht (2007), 365 ff., 714 ff. und 745 ff. Vgl. dazu Obwexer, Auf bau, Systematik, Struktur und tragende Grundsätze des Vertrages von Lissabon, in: Hummer/Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon (2009), 115. 125 Diese Resolution ersetzt die frühere Statutarische Entschließung (51) 62 des Ministerkomitees vom 2. August 1951; vgl. Benoît-Rohmer/Klebes, Das Recht des Europarates (2006), 115 f. 126 Vgl. dazu Hummer/Schmid (Fn. 88), 293. 127 Vgl. Hummer (Fn. 117), 38. 128 Vgl. dazu Matscher, F. Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (VenedigKommission), in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006 (Fn. 81), 191 ff. 129 Bei der verwandten Einrichtung des Monitoring-Mechanismus des Europarates zur Bekämpfung von Geldwäsche und Finanzierung von Terrorismus (MONEYVAL) handelt es sich nicht um ein Teilabkommen, sondern vielmehr um ein Subkomitee des Europäischen Ausschusses für StrafrechtsFragen (CDPC); vgl. Mild, Spezielles Monitoring-Verfahren zur Bekämpfung von Geldwäsche und Finanzierung von Terrorismus (MONEYVAL), in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956– 2006 (Fn. 81), Bd. 2, 1104 f. 124

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Zum einen sind die völkerrechtlichen – universellen und regionalen – Abkommen durch Österreich noch nicht einmal unterzeichnet worden. Zum anderen sind sie zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifi ziert worden. Des Weiteren sind sie – aufgrund ihres „self-executing“-Charakters – gem Art. 50 Abs. 1 B-VG parlamentarisch genehmigt und ratifiziert worden. Sie sind aber auch wegen ihres „non-self-executing“-Charakters anlässlich ihrer parlamentarischen Genehmigung gem Art. 50 Abs 2 B-VG unter Erfüllungsvorbehalt gestellt – und bis heute noch nicht umgesetzt worden.130 Zum anderen sind aber auch die noch auf der Grundlage des Vertrages von Nizza (2001) angenommenen europarechtlichen Vorgaben zu erwähnen, die sowohl aus Übereinkommen der Europäischen Gemeinschaft, als auch aus sekundärem Gemeinschaftsrecht der „Ersten“ (Richtlinien) bzw unionsrechtlichem Sekundärrecht der „Dritten Säule“ (Gemeinsame Maßnahmen, Rahmenbeschlüsse) der EU resultieren.131

1. Anti-Korruptionsrechtslage in Österreich vor dem Inkrafttreten des Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetzes (KorrStrÄG) (2009) a) Das Österreichische Strafgesetzbuch (StGB) 132 Wie bereits vorstehend erwähnt, kennt das österreichische Strafrecht keinen eigenen Tatbestand „Korruption“. Die einzelnen korruptionsrelevanten Bestimmungen, die durch physische Personen begangen werden können, fi nden sich vielmehr in den verschiedenen Abschnitten des Strafgesetzbuches verteilt: für den privaten Bereich im sechsten (Straf bare Handlungen gegen fremdes Vermögen) und für den öffentlichen Bereich im 22. Abschnitt (Straf bare Verletzungen der Amtspfl icht und verwandte straf bare Handlungen). Die Sanktionierung der korruptionsrelevanten Delikte ist unterschiedlich: es wird dabei nach § 17 StGB darauf abgestellt, ob es sich um vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangene Delikte handelt, darüber hinaus wird hinsichtlich der angedrohten Sanktion zwischen Verbrechen und Vergehen unterschieden. Sobald das mit Strafe bedrohte Verhalten beendet wird, beginnt die Verjährungsfrist zu laufen, welche je nach Delikt ein, drei, fünf, zehn oder zwanzig Jahre, bei Korruptionsdelikten jedoch meist drei oder fünf Jahre beträgt.133 Die Voraussetzungen einer Verantwortlichkeit juristischer Personen für die Begehung von in österreichischen Bundes- bzw Landesgesetzen mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen, wird durch das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG) (2005)134 geregelt. Die allgemeinen Strafgesetze kommen danach auch in Bezug auf

130

Vgl. dazu vorstehend Kap. III. Vgl. dazu vorstehend Kap. III.2.b.bb. 132 Bundesgesetz vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB) BGBl 60/1974 idF BGBl I 112/2007. 133 Vgl. § 57 StGB [idF BGBl I 112/2007]. 134 Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz – VbVG) BGBl 151/2005 idF BGBl I 112/2007. 131

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juristische Personen zur Anwendung, außerdem sind im VbVG Verbandsgeldbußen und spezielle Verfahrensbestimmungen vorgesehen. Bei der Aufdifferenzierung der korruptionsrelevanten Bestimmungen in den einschlägigen Strafgesetzen ist zwischen solchen (a) für den privaten und solchen (b) für den öffentlichen Bereich zu unterscheiden: Ad (a) Die korruptionsrelevanten Bestimmungen für den privaten Bereich stellen sich dabei wie folgt dar: – Untreue (§ 153 StGB)135 Der Tatbestand der Untreue nach § 153 StGB ist – wie der Amtsmissbrauch nach § 302 StGB – ein Missbrauchstatbestand, nach dem der wissentliche Befugnismissbrauch im Zusammenhang mit der Zufügung eines Vermögensnachteils im Privatbereich straf bar ist. Ein Bereicherungsvorsatz ist dabei nicht Tatbestandsvoraussetzung, die Erlangung eines Vermögensvorteils ist in den meisten Fällen nur Motiv für missbräuchliches Verhalten.136 – Geschenkannahme durch Machthaber (§ 153a StGB)137 Nach dieser Bestimmung ist die Annahme eines nicht bloß geringfügigen Vermögensvorteils für die Ausübung der Vertretungsmacht und das Nichtabführen desselben an den an sich berechtigten Machthaber straf bar.138 – Wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Vergabeverfahren (§ 168b StGB)139 – Geschenkannahme durch Bedienstete und Beauftragte (§ 168c StGB)140 und Bestechung von Bediensteten und Beauftragten (§ 168d StGB)141 Diese beiden letzten, mit dem Strafrechtsänderungsgesetz (StRÄG 2008)142 neu eingeführten Bestimmungen regeln Fälle aktiver und passiver Bestechung im privaten Bereich. Es sollen damit das Vermögen der Mitbewerber einerseits und der freie und lautere Wettbewerb andererseits geschützt werden. Derjenige, der sich im Zusammenhang mit einer Geschenkannahme oder Bestechung iSd §§ 168c und 168d StGB einen bloß geringfügigen Vorteil versprechen lässt, bleibt straffrei – sofern die Tat nicht gewerbsmäßig begangen wird.143 § 168c StGB ist als Offizial- und § 168d StGB als Privatanklagedelikt konzipiert.144

135

§ 153 StGB [idF BGBl I 112/2007]. Fuchs/Jerabek, Korruption und Amtsmissbrauch Grundlagen, Defi nitionen und Beispiele zu den §§ 302, 304, 307, 310, und 311 StGB (2009), 45 ff. 137 § 153a StGB [idF BGBl I 112/2007]. 138 Fuchs/Jerabek (Fn. 136), 97. 139 § 168b StGB [idF BGBl I 112/2007]. 140 § 168c StGB [idF BGBl I 112/2007]. 141 § 168d StGB [idF BGBl I 112/2007]. 142 Vgl. dazu nachstehend Kap. IV.1.b. 143 §§ 168c Abs. 3 und 168d StGB [idF BGBl I 112/2007]. 144 Eingehend zu §§ 168c und 168d StGB [idF BGBl I 112/2007] Brandstätter/Rauch/Wegscheider, Korruptionsstrafrecht NEU – der „private Bereich“. Struktur und Grundzüge der relevanten Tatbestände, JSt (2008), 155 ff.; Plöckinger, Bestechungs-, Provisions- und Schmiergeldzahlungen im geschäftlichen Bereich. Umfang und Reichweite des neuen Antikorruptionstatbestands des § 168d StGB, ÖJZ (2009), 23 ff.; Jarolim/Gogl, Kampf der Korruption – Neue Straftatbestände zur Bekämpfung von Bestechung im privaten und öffentlichen Sektor, Recht und Finanzen für Gemeinden (2008), 103 (104); Schuss, Tickets für die Euro: Marketing oder Bestechung? Geschenke. Wo sich der Spass jetzt auf hört, in: Die Presse, 5. Juli 2008. 136

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Ad (b) Die korruptionsrelevanten Bestimmungen für den öffentlichen Bereich stellen sich wie folgt dar: – Missbrauch der Amtsgewalt (§ 302 StGB)145 Diese Bestimmung verbietet den wissentlichen Missbrauch eingeräumter Verfügungsmacht durch einen Beamten im Bereich der Hoheitsverwaltung mit dem Vorsatz, einen anderen zu schädigen. Nicht jedes pfl ichtwidrige Verhalten eines Beamten stellt einen Missbrauch nach § 302 StGB dar, der Beamte muss befugt sein, gewisse Amtsgeschäfte für den Rechtsträger bzw in dessen Namen vorzunehmen und ebendiese Befugnis missbräuchlich ausnützen.146 – Geschenkannahme durch Amtsträger147 oder Schiedsrichter (§ 304 StGB)148 und Bestechung (§ 307 StGB)149 Die korrespondierenden Tatbestände des § 304 Abs. 1 und 2 StGB und des § 307 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 StGB sanktionieren Fälle aktiver und passiver Bestechung. § 304 Abs. 1 StGB bedroht sowohl die Annahme eines Geschenks im Zusammenhang mit pfl ichtgemäßem als auch mit pfl ichtwidrigem Handeln. Die Straf barkeit der Zuwendung von Leistungen ohne konkreten Anlassfall gemäß § 304 Abs. 2 und § 307 Abs. 2 StGB, umgangssprachlich als „Anfüttern“150 bezeichnet, wurde mit dem StRÄG 2008 wesentlich verschärft: Es reicht in diesen beiden Fällen bereits aus, sich einen Vorteil „im Hinblick“ auf die Amtsführung versprechen zu lassen, diesen anzunehmen bzw anzubieten, zu versprechen oder zu gewähren – die Vornahme einer konkreten Handlung oder Unterlassung im Zusammenhang mit der Amtsführung ist dabei nicht erforderlich.151 In Bezug auf das „Anfüttern“ muss die Vorteilsgewährung in Zusammenhang mit einer künftigen Amtsführung stehen, ein „Anfüttern“ für vorangegangenes Verhalten ist nicht möglich. Der in Aussicht stehende Vorteil „im Hinblick“ auf die Amtsführung kann sowohl materieller – also Geldzahlungen, Dienstleistungen uä – als auch immaterieller Art – etwa gesellschaftliche oder berufl iche Vorteile wie das Verschaffen von Auszeichnungen oder das Unterstützen von Bewerbungsgesuchen uä – sein.152 Die Straf barkeit wegen Geschenkannahme ist nicht mehr – wie vor dem StRÄG 2008 – auf die Annahme von Geschenken unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze153 im Zusammenhang mit der Amtsführung beschränkt. In Fällen, in denen der Wert

145

§ 302 StGB [idF BGBl I 112/2007]. Vgl. dazu Bertel, § 302 Missbrauch der Amtsgewalt, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 28. EL 2008, Rn 1 ff.; Fuchs/Jerabek (Fn. 136), 3 ff. 147 Zum Begriff des Amtsträgers vgl. nachstehend Kap. III.2.a. 148 § 304 StGB [idF BGBl I 112/2007]. 149 § 307 StGB [idF BGBl I 112/2007]. 150 Vgl. dazu Knötzl (Fn. 16), 119 f. 151 Vgl. dazu Hinterhofer, Zur Straf barkeit des „Anfütterns“ von Amtsträgern – Versuch einer einschränkenden Auslegung, ÖJZ (2009), 250; Jarolim/Gogl (Fn. 144), 103 (105 f.); Brandstetter/Glaser/ Höchler/Singer, Anmerkungen zum neuen Korruptionsstrafrecht, ecolex (2009), 4 (6 f.); Reindl-Krauskopf, Korruptionsstrafrecht in Österreich – Überzogen oder zahnlos?, JSt (2009), 49 (52 ff.). 152 Vgl. Knötzl (Fn. 16), 119. 153 Nach der Judikatur lag die Geringfügigkeitsgrenze etwa bei 100 Euro (OGH 12. 4. 2005, 11 O 140/04), in der Lehre wurde aber auch eine Grenze von 300 Euro [Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil II § 3048 (2008) Rz 14] vertreten; vgl. dazu Knötzl (Fn. 16), 119. 146

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des Vorteils 3000 Euro übersteigt, wird die Tat gemäß § 304 Abs. 3 StGB mit strengerer Strafe sanktioniert.154 – Abgeordnetenbestechung (§ 304a StGB)155 Vom Anwendungsbereich dieses Delikts erfasst sind Fälle, in denen Abgeordnete zum Nationalrat, Bundesrat, der Bundesversammlung, zu einem Landtag oder des Gemeinderats ihre Stimme verkaufen, indem sie vor der Stimmabgabe einen Vorteil fordern, annehmen oder sich versprechen lassen. Da (inländische!) Abgeordnete ausdrücklich vom Amtsträgerbegriff des StGB § 74 Abs. 1 Z 4a StGB ausgenommen sind, können sich diese nur nach § 304a StGB, nicht aber nach § 304 StGB straf bar machen. Von § 304a StGB ist ausschließlich der Stimmenverkauf, nicht aber die Annahme von Vorteilen im Nachhinein erfasst.156 Wilhelm157 bezeichnet diesen, mit dem StRÄG 2008 eingeführten neuen Tatbestand als „dümmliches Placebo“, da Abgeordneten auch neben dem Kauf oder Verkauf von Stimmen, zahlreiche andere Möglichkeiten offen stünden, sich durch korruptes Verhalten Vorteile zu verschaffen. – Geschenkannahme durch Sachverständige (§ 306 StGB)158 Sachverständige, die für ein bestimmtes behördliches Verfahren bestellt wurden und die einen Vorteil für einen unrichtigen Befund oder ein unrichtiges Gutachten fordern, annehmen oder sich versprechen lassen, machen sich nach dieser Bestimmung straf bar.159 – Geschenkannahme durch Mitarbeiter und sachverständige Berater (§ 306a StGB)160 Mitarbeiter und sachverständige Berater, die maßgeblichen Einfluss auf die Rechtshandlungen eines leitenden Angestellten in Hinblick auf die Ausübung seiner Amtsgeschäfte haben und diesen regelmäßig geltend machen, um für sich oder einen Dritten einen Vorteil zu fordern, anzunehmen oder versprechen zu lassen, machen sich nach § 306a StGB straf bar. Der Täter hat dabei den Vorsatz, den leitenden Angestellten zu einer pfl ichtwidrigen Rechtshandlung zu bewegen.161 – Verbotene Intervention (§ 308 StGB)162 Vom Straftatbestand der verbotenen Intervention sind diejenigen Fälle erfasst, in denen jemand wissentlich (unmittelbar oder mittelbar) darauf Einfluss nimmt, dass ein Amtsträger, ein Abgeordneter oder ein Schiedsrichter eine Dienstverrichtung parteilich vornimmt oder die Vornahme derselben unterlässt. Der Täter kann sich dabei auch eines (gutgläubigen) Dritten bedienen. Da mit einer Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs (§ 302 StGB) oder wegen Untreue (§ 153 StGB) grundsätzlich auch Vergehen nach § 308 StGB abgegolten sind, kommt die gegenständliche Bestimmung nur sehr selten zur Anwendung.163 154

Fuchs/Jerabek (Fn. 136), 59 f. § 304a StGB [idF BGBl I 109/2007]. 156 Vgl. dazu Bertel, § 304a Abgeordnetenbestechung, in: Höpfel/Ratz (Fn. 146), Rn. 1 ff. 157 Wilhelm, Von abgeordneten Korruptionstätern, ecolex (2009), 1. 158 § 306 [idF BGBl I 109/2007]. 159 Vgl. dazu Bertel, § 306 Geschenkannahme durch Sachverständige, in Höpfel/Ratz (Fn. 146), Rn. 1 ff. 160 § 306a StGB [idF BGBl I 112/2007]. 161 Vgl. dazu Bertel, § 306a Geschenkannahme durch Mitarbeiter und sachverständige Berater, in: Höpfel/Ratz (Fn. 146), Rn. 1 ff. 162 § 308 StGB [idF BGBl I 112/2007]. 163 Vgl. dazu Bertel, § 308 Verbotene Intervention, in: Höpfel/Ratz (Fn. 146), Rn. 1 ff. 155

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– Verletzung des Amtsgeheimnisses (§ 310 StGB)164 Nach dieser Bestimmung machen sich Beamte oder diesen gleichgestellte Personen straf bar, die gegen ihre Verschwiegenheitspfl icht verstoßen und ein ihnen anvertrautes Geheimnis offenbaren oder verwerten. Die Offenbarung oder Verwertung muss aber geeignet sein, ein öffentliches oder privates Interesse zu verletzen.165 – Falsche Beurkundung und Beglaubigung im Amt (§ 311 StGB)166 Mit dieser Bestimmung soll der Wahrheitsgehalt öffentlicher Urkunden geschützt werden. Beamte, die sich tatbestandsmäßig verhalten, machen sich jedoch in den meisten Fällen hauptsächlich des Amtsmissbrauches nach § 302 StGB schuldig. Da § 311 StGB gegenüber § 302 StGB nur subsidiär zur Anwendung kommt, spielt die gegenständliche Bestimmung in der Praxis keine große Rolle.167 – Abschöpfung der Bereicherung (§ 20 StGB), Unterbleiben der Abschöpfung (§ 20a StGB) und Einziehung (§ 26 StGB) Die für die Bereicherung aus strafrechtlich relevanten Delikten maßgebliche Bestimmung stellt § 20 StGB dar, die die Abschöpfung von im Rahmen straf barer Handlungen erlangter Vermögenswerte regelt. § 20a StGB sieht außerdem vor, dass die Abschöpfung einer unrechtmäßig erlangten Bereicherung in bestimmten Ausnahmefällen unterbleiben kann. Dies etwa in Fällen, in denen die Bereicherung durch bestimmte rechtliche Maßnahmen beseitigt wird (§ 20a lit a StGB), wenn die Einbringung des Vermögenswertes unverhältnismäßig erscheint (§ 20a lit b StGB) oder wenn die Abschöpfung des Geldbetrages für die bereicherte Person eine unbillige Härte darstellt (§ 20a lit c StGB). § 26 StGB schließlich sieht die Einziehung von Gegenständen, welche zur Begehung der straf baren Handlung verwendet oder durch diese Handlung hervorgebracht wurden, vor. In Fällen, in denen die zukünftige Abschöpfung der Bereicherung gefährdet oder ernsthaft erschwert erscheint, kann der zuständige Richter auf Antrag des Staatsanwaltes eine dem Sicherungszweck im Einzelfall angemessene einstweilige Verfügung erlassen, wie etwa die Verwahrung und Verwaltung von beweglichen körperlichen Sachen oder auch ein Veräußerungs- bzw Belastungsverbot in Bezug auf bewegliche körperliche Sachen und Liegenschaften.168

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§ 310 StGB [idF BGBl I 112/2007]. Fuchs/Jerabek (Fn. 136), 73 ff. 166 § 311 StGB [idF BGBl I 112/2007]. 167 Fuchs/Jerabek (Fn. 136), 88. 168 Vgl. § 20a Abs. 1 und 2 Strafprozessordnung (StPO) BGBl 631/1975 idF BGBl I 52/2009; nach Abs. 5 und 6 ist ein Geldbetrag zu bestimmen, in dem die voraussichtliche Abschöpfung der Bereicherung oder der Verfall Deckung fi ndet, nach dessen Erlag (wie auch in Fällen, in denen die Voraussetzungen der Beschlagnahme nicht oder nicht mehr bestehen) die Staatsanwaltschaft verpfl ichtet ist, die Beschlagnahme aufzuheben. 165

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b) Das Strafrechtsänderungsgesetz (StRÄG) (2008) aa) Materielles Strafrecht Durch das mit 1. Jänner 2008 in Kraft getretene Strafrechtsänderungsgesetz (StRÄG 2008)169 wurde das bestehende Korruptionsstrafrecht novelliert, um die Vorgaben der verschiedenen korruptionsrelevanten internationalen Abkommen auf universeller bzw europäischer Ebene entsprechend umzusetzen170. Mit der Legaldefinition in § 74 Abs. 1 Z 4a StGB wurde der Begriff des „Amtsträgers“ eingeführt, mit dem der frühere „Beamtenbegriff “ insoweit ausgeweitet wird, als mit Ausnahme von Mitgliedern inländischer verfassungsmäßiger Vertretungskörper, davon jeder erfasst ist, der mit öffentlichen Aufgaben betraut ist. Abgesehen davon wird zwischen österreichischen, ausländischen oder internationalen Amtsträgern nicht mehr unterschieden.171 Die damit einhergehende Ungleichbehandlung von österreichischen Parlamentariern und Abgeordneten zum Europäischen Parlament wird vielfach kritisiert und mitunter als gemeinschaftsrechtswidrig qualifiziert.172 Neben der neuen Bestimmung zur Abgeordnetenbestechung gemäß § 304a StGB wurden mit den Tatbeständen der „Geschenkannahme durch Bedienstete oder Beauftragte“ gemäß § 168c StGB, also Fälle passiver Bestechung, und der „Bestechung von Bediensteten und Beauftragten“ gemäß § 168d StGB, also Fälle aktiver Bestechung, neue Korruptionsdelikte in das Strafgesetzbuch aufgenommen.173 Außerdem wurde mit dem StRÄG 2008 die Höchststrafe für aktive Korruption von zwei auf drei Jahre Freiheitsstrafe angeboten174. Insgesamt wurde das bestehende Korruptionsstrafrecht durch das StRÄG 2008 – vor allem durch Einführung von Straftatbeständen für den privaten Sektor – wesentlich verschärft. Dies stieß auf vehemente Kritik, wobei die Bestimmungen zum einen als zu wenig weitgehend,175 zum anderen aber als bereits viel zu weitgehend176 angesehen wurden. Vor allem aber wurde die Kriminalisierung von Netzwerkpflege und die Erschwerung der Sponsorensuche im Kulturbetrieb kritisiert. So sprach die Präsidentin der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler, ganz offen von einer „Kulturrevolution“ (sic), die bekämpft werden müsse, da private Sponsoren, die dem Steuer169 Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung 1975, das Strafvollzugsgesetz, das Bewährungshilfegesetz und das Jugendgerichtsgesetz 1988 geändert werden (Strafrechtsänderungsgesetz – StRÄG) (2008), BGBl I 112/2007. 170 Vgl. dazu vorstehend Kap. III. 171 Vgl. dazu Soyer, Über Korruption ihre Freunde und Feinde, juridikum (2009), 62 (64); Medigovic, Geht das neue Korruptionsstrafrecht für Amtsträger zu weit?, ÖJZ (2009), 149; Reindl-Krauskopf (Fn. 148), 49 ff.; Fuchs/Jerabek (Fn. 136), 52 ff. 172 Diesbezüglich von einer „gleichheitswidrig zum Himmel schreienden Ausnahme“ spricht Wilhelm (Fn. 157), 1; von einer Gemeinschaftsrechtsverletzung durch die Ungleichbehandlung von Abgeordneten österreichischer Parlamente und Mitgliedern des Europäischen Parlaments geht aus: Glaser, Der neue Amtsträgerbegriff im österreichischen Strafrecht, JBl (2009), 255. 173 Zu den neuen Korruptionstatbeständen im StRÄG (2008) vgl. eingehend Jarolim/Gogl (Fn. 144), 103 ff. 174 Vgl. § 307 Abs. 1 StGB [idF BGBl I 112/2007]. 175 ZB Wilhelm (Fn. 157), 1 ff. 176 ZB Medigovic (Fn. 171), 149 ff.

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zahler den Einsatz öffentlicher Gelder ersparen, durch diese Regelungen verunsichert würden.177 Auch Veranstalter hochkarätiger sportlicher Events, die ihre sog. „Corporate-Tickets“, das sind kostspielige Einladungen in VIP-Lounges mit Service der Extraklasse, nicht mehr vermarkten können, beklagen dramatische Geschäftseinbußen.178 Experten wiederum bemängelten vor allem die zu weit gefasste Defi nition des Amtsträgerbegriffes, die Ausnahme von der Straf barkeit für österreichische Parlamentarier sowie die bislang nicht zustande gekommene Ausweitung der „kleinen Kronzeugenregelung“ nach § 41a StGB179 zu einer „großen Kronzeugenregelung“.180 Ein erster parlamentarischer Anlauf zur Beseitigung der durch das StRÄG (2008) herbeigeführten Rechtsunsicherheit und Angst vor übermäßiger Kriminalisierung wurde mit dem Initiativantrag der Abgeordneten Morak et al vom 12. September 2008181 vorgenommen, scheiterte aber in der letzten Sitzung des Nationalrates vor den Neuwahlen. In dem nach den Wahlen von den beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP vereinbarten Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode182 wurde die Überarbeitung des StRÄG (2008) verbindlich vereinbart, was schließlich am 8. Juli 2009 zum Beschluss einer Novelle zum StGB, dem Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz (KorrStRÄG 2009),183 führte, auf das nachstehend noch einzugehen sein wird.

bb) Institutionelles Strafrecht: Die Einrichtung der „Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption“ (KStA) Mit dem Strafprozessreformbegleitgesetz (2007)184 wurde eine zentrale Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (KStA) geschaffen, die bundesweit für die Leitung der Ermittlungsverfahren in Bezug auf die Tatbestände der §§ 313, 153 bis 153b, 168b, 168c Abs. 2 und 165 StGB verantwortlich ist. Eine Zuständigkeit hinsichtlich des Tatbestands von § 313 StGB wird nur dann begründet, sofern durch dessen Anwendung die Zuständigkeit des Landesgerichts als Geschworenen- oder Schöffengericht be177 Rabl-Stadler, Das könnte uns grauenhaft schaden, Die Presse, 25. Juli 2008; Aichinger, Korruption: Konkretere Regeln nötig, in: Die Presse, 12. Februar 2009; vgl. Gröhs, Steuerliche Aspekte der Korruption im Vertrieb, in: Gröhs/Kotschnigg (Hrsg.), Wirtschafts- und Finanzstrafrecht in der Praxis (2009), 97. 178 Knötzl (Fn. 16), 113. 179 Nach § 41a StGB [idF BGBl I 112/2007] kann der Täter im Falle einer Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden mit einer außerordentlichen Strafmilderung nach Maßgabe des § 41 StGB rechnen; dazu hat der Nationalrat im Rahmen der Beschlussfassung zum StRÄG 2008 eine „Entschließung betreffend die Evaluierung der Kronzeugenregelung“ verabschiedet [51/E (XXIII. GP)]. 180 Vgl. dazu die Ansicht von Doralt und Reindl-Krauskopf, wiedergegeben in: Aichinger (Fn. 177); kritisch auch Brandstetter/Glaser/Höcher/Singer (Fn. 151), 4 ff., Wilhelm (Fn. 157), 1; Glaser (Fn. 172), 255; Bogensberger, Korruptionsbekämpfung „reloaded“, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Korruption. Ursachen – Erscheinungsformen – Bekämpfung (2009), 74 (88). 181 902/A XXIII.GP; vgl. dazu Knötzl (Fn. 16), 113. 182 Regierungsprogramm, präsentiert am 23. November 2008, Kapitel Justiz, Punkt E.10, 131. 183 Vgl. dazu nachstehend Kap. IV.1.a. 184 BGBl I 112/2007.

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gründet wäre.185 Außerdem werden von der Zuständigkeit der KStA nur Delikte umfasst, die nach dem 1. Januar 2009 begangen worden sind, wobei die derzeitige Justizministerin, Claudia Bandion-Ortner, es als zielführend erachten würde, die Zuständigkeit der KStA „auch auf alle nach dem Jahresbeginn 2009 neu zur Anzeige gebrachten Delikte auszuweiten“.186 Die drei Außenstellen der KStA an den Oberlandesgerichten (OLG) Linz, Graz und Innsbruck sollen ortsnahe Ermittlungen ermöglichen. Zuständigkeitskonfl ikte mit anderen Staatsanwaltschaften sind im Wege des § 28a StPO zu lösen, wonach diejenigen Strafsachen, an deren Verfolgung „ein besonderes öffentliches Interesse nicht besteht“, dem sonst zuständigen Staatsanwalt übertragen werden können.187 Die Unabhängigkeit dieser speziellen Ermittlungsbehörde in Korruptionsangelegenheiten war lange umstritten – während sich die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) für die Weisungsfreistellung derselben ausgesprochen hatte,188 erachtete die Österreichische Volkspartei (ÖVP) ein Weisungsrecht des Ministers zur Kontrolle und politischen Verantwortlichkeit für sinnvoll.189 Schlussendlich einigte man sich darauf, die Korruptionsstaatsanwälte den allgemeinen Staatsanwälten gleichzustellen, führte jedoch mit dem StRÄG 2008 eine neue „Transparenzregel“ ein: sämtliche Weisungen und mündlichen Erörterungen sind dem Tagebuch der Staatsanwaltschaft sowie im Ermittlungsverfahren dem Ermittlungsakt und im Haupt- und Rechtsmittelverfahren dem auf eine gerichtliche Entscheidung abzielenden Antrag anzuschließen. Außerdem hat der Justizminister dem Nationalrat und dem Bundesrat jährlich über die von ihm in diesem Zusammenhang erteilten Weisungen zu berichten. Mit dieser neuen Transparenzregel sollen die erfolgten Weisungen für die Verfahrensparteien nachvollziehbar sein.190 Am 1. Jänner 2009 hat die Korruptionsstaatsanwaltschaft (KStA) unter der Leitung des ehemaligen Parlamentariers und vormaligen Leiters der Staatsanwaltschaft am Landesgericht Korneuburg, Walter Geyer, ihre Arbeit aufgenommen. Bislang sind

185 Vgl. § 2a Bundesgesetz über die staatsanwaltschaftlichen Behörden (Staatsanwaltschaftsgesetz – StAG) BGBl 164/1986 idF BGBl I 52/2009; § 20a Abs. 1 und 2 StPO. 186 Bundesministerium für Justiz, Amtseinführung des Leiters der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Korruption, at http://www.justiz.gv.at/service/content.php?nav=66&id=481 (Stand: 13. August 2009). 187 Vgl. Bertel/Venier, Strafprozessrecht 3 (2009), 28. 188 Vgl. das Referat der vormaligen Justizministerin Maria Berger bei der ÖJK-Weißenbachtagung 2008, in dem sie sich neuerlich für eine Weisungsfreistellung der KStA aussprach [abgedruckt in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Korruption. Ursachen – Erscheinungsformen – Bekämpfung (2009), 8 (11)]. 189 Vgl. Schuss, Zeitfenster für strittige Weisungsfreiheit, in: Die Presse, 16. Januar 2009. 190 Vgl. Abschnitt V (Weisungen) StAG; vgl. dazu 299 Blg XIII GP: „Die Weisungsunterstellung zählt nun zu den ganz wesentlichen Grundsätzen der österreichischen Verfassungsordnung. Allerdings soll durch eine Erhöhung der Transparenz von erteilten Weisungen und durch einen Ausbau der parlamentarischen Kontrollrechte unterstrichen werden, dass von diesem Weisungsrecht nur in rechtlich begründeten Fällen Gebrauch gemacht wird“.

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dort aber nur sieben Staatsanwälte beschäftigt,191 vorgesehen ist jedoch ein Team von 15 bis 20 Personen.192

2. Der „Evaluation Report“ von GRECO (2008) als Anstoß für die Novellierung der bestehenden Anti-Korruptionsrechtslage in Österreich a) Das GRECO-Evaluierungsteam Da Österreich der Group of States against Corruption (GRECO) erst nach dem Abschluss der ersten Evaluierungsrunde, nämlich am 1. Dezember 2006, beigetreten ist,193 wurde es einem zusammengefassten Evaluierungsverfahren unterzogen, in dem sowohl die Themenbereiche der ersten Evaluierungsrunde (Unabhängigkeit, Spezialisierung und vorhandene Mittel der nationalen Behörden, welche mit der Verhinderung und dem Kampf gegen die Korruption betraut sind“194 und „Ausmaß und Umfang der Immunitäten“)195, als auch die der zweiten Evaluierungsrunde („Erträge aus Korruptionsdelikten“196, „Öffentliche Verwaltung und Korruption“197 sowie „Juristische Personen und Korruption“)198 untersucht wurden. Gegenstand dieser beiden Evaluierungsrunden war zum einen die Umsetzung der Resolution (97)24 des Ministerkomitees des Europarates über die zwanzig Leitprinzipien („Guiding Principles“) zur Bekämpfung von Korruption, insbesondere der Grundsätze 3–7, 9, 10 und 19, zum anderen sollte die Umsetzung bzw Einhaltung der Art. 14, 18 und 19 Abs. 2 des „Strafrechtsübereinkommens über Korruption“

191 Im ersten Jahr 2009 sind insgesamt 1.730 Anzeigen bei der KStA eingegangen, wobei eine steigende Tendenz zu beobachten ist. Jeder der sieben – ursprünglich waren zwanzig vorgesehen – Staatsanwälte bearbeitet derzeit 41 Fälle und seit Jahresbeginn 2009 wurden zu 16 Korruptionsfällen Anklageschriften verfasst. Rund zwei Mio Euro konnten sichergestellt werden; vgl. dazu das Interview mit Walter Geyer im Ö1-Morgenjournal vom 29. Dezember 2009, Korruptionsstaatsanwaltschaft – Bilanz nach einem Jahr: Zu wenig Mitarbeiter; Korruption: Zu wenige Staatsanwälte, in: OÖNachrichten, 30. Dezember 2009, 4; Simoner, Korruptionsjäger will mehr Personal und Kompetenzen, in: Der Standard, 30. Dezember 2009, 10. 192 Vgl. dazu ua „Korruption: Geyer für Kronzeugen- und „Whistleblower“-Regelung, in: Der Standard, 1. Februar 2009; „Fast allein gegen Mafi a und Korruption“, in: Der Standard, 30. Dezember 2008; vgl. außerdem BM Mag Claudia Bandion-Ortner, die sich „bei den kommenden Budgetverhandlungen intensiv für die notwendigen Mittel zum weiteren Auf- und Ausbau einer effi zienten Korruptionsstaatsanwaltschaft einsetzen“ möchte [Bundesministerium für Justiz, Amtseinführung des Leiters der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Korruption, at http://www.justiz.gv.at/service/ content.php?nav=66&id=481 (Stand: 13. August 2009)]. 193 Der Beitritt erfolgte mittels Ratifi kation des Zivilrechtsübereinkommens über Korruption des Europarates (SEV/ETS Nr 174); das Abkommen wurde gemeinsam mit dem Abkommen über die Errichtung der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) und der Entschließung (99)5 über die Einrichtung der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) am 6. Oktober 2006 kundgemacht (BGBl 155/2006 idF BGBl III 2/2008). 194 Themen I und II der ersten Evaluierungsrunde. 195 Thema III der ersten Evaluierungsrunde. 196 Thema I der zweiten Evaluierungsrunde. 197 Thema II der zweiten Evaluierungsrunde. 198 Thema III der zweiten Evaluierungsrunde.

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(1999)199, durch die Mitgliedstaaten überprüft werden. Österreich hat dieses Abkommen zwar Mitte Oktober 2000 unterzeichnet, seine Ratifi kation ist jedoch noch immer ausständig, obwohl diese von Seiten der (I)NGO „Transparency International – Austrian Chapter (TI-AC)“ gefordert wird 200 und von der vormaligen Bundesministerin für Justiz, Maria Berger, bereits im März 2007 für die letzte Legislaturperiode angekündigt worden war201. Mit dem Inkrafttreten des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes (2005) 202 ist nunmehr die Voraussetzung für eine Ratifi kation des Strafrechtsübereinkommens über Korruption, das im Rahmen des Europarates abgeschlossen wurde, geschaffen worden 203. Die Evaluierung durch GRECO wurde mit der Übermittlung von zwei Fragebögen („Questionnaires“) eingeleitet, die an das GRECO-Sekretariat zu retournieren waren. Nach Rückmeldung der Antworten hielt sich das „GRECO Evaluierungsteam (GET)“, bestehend aus einem Mitglied des Sekretariats des Europarates, dem Leiter der Abteilung für Internationales Recht im Schweizer Justizministerium, Ernst Gnaegi, dem Generaldirektor der Abteilung für Finanzauf klärung in Bulgarien, Vassil Kirov, einer Beraterin im serbischen Justizministerium, Aleksandra Popovic, sowie dem Regierungsberater des Büros des ungarischen Premierministers, Tibor Sepsi, fünf Tage lang in Österreich auf,204 um zusätzliche Informationen direkt vor Ort zu erheben.205 Im Zuge der Recherchen traf das Evaluierungsteam mit Mitarbeitern verschiedener Ministerien 206, des Weiteren mit Vertretern des Bundeskanzleramtes, des Parlaments, des Rechnungshofes, der Volksanwaltschaft, der Richterschaft, der Staatsanwaltschaften und der Finanzaufsichtsbehörde zusammen. Um zu einer möglichst umfassenden und objektiven Einschätzung zu gelangen, fanden außerdem Treffen mit Strafrechts- und Kriminologieprofessoren, Vertretern der Notariatskammer, der Rechtsanwaltskammer, der Kammer der Wirtschaftstreuhänder sowie mit Vertretern von TI-AC statt. Der auf der Grundlage dieser Gespräche sowie der im Rahmen der schriftlichen Beantwortung der Fragebögen rückgemeldeten Informationen erstellte und von GRECO in der 38. Vollversammlung am 13. Juni 2008 in Straßburg angenommene erste Evaluierungsbericht207 wurde dem Bundeskanzleramt zwar am 21. Juli 2008 zugestellt, aber erst am 19. Dezember 2008 öffentlich zugänglich gemacht.208 Der Bericht ist in sieben Abschnitte gegliedert, wobei nach einem grundlegenden Über199

Vgl. dazu Fn. 85. Vgl. dazu nachstehend Kap. IV.3. 201 Vgl. die Anfragebeantwortung betreffend „Ärzte und Pharmafi rmen – Korruptionsverdacht in Österreich?“ durch die damalige Justizministerin Maria Berger vom 7. März 2007 (217/AB XXIII.GP). 202 Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten (Fn. 134); vgl dazu Knötzl (Fn. 16), 125. 203 Zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption vgl. vorstehend Kap. III.2.b.cc.(b).(bb). 204 Vom 19. – 23. November 2007. 205 Vgl. Art. 13 GRECO-Statut. 206 Das Evaluierungsteam traf mit Vertretern der Ministerien für Justiz, Inneres, Wirtschaft und Arbeit, Finanzen, Gesundheit Familie und Jugend sowie des Verteidigungsministeriums zusammen. 207 Greco Eval I-II Rep (2007) 2E. 208 Anfragebeantwortung 4646/AB; vgl. dazu die Anfrage des Abg. Albert Steinhauser, Freundinnen und Freunde 936/J XXIV.GP vom 18. 2. 2009. 200

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blick über Österreichs Anti-Korruptionspolitik ausführlich auf jeden der fünf Themenbereiche eingegangen wird. Einer Situationsbeschreibung folgt jeweils eine Analyse, die zuletzt in Empfehlungen mündet. In den Schlussfolgerungen wird eine abschließende Bewertung der Situation in Österreich vorgenommen und die in den 24 Abschnitten des Berichts formulierten Empfehlungen werden noch einmal zusammengefasst.

b) Korruptionsrelevante gesetzliche Grundlagen in Österreich Die Auswertung der Antworten auf die Questionnaires hat ergeben, dass die in Österreich vorherrschenden Fälle von Korruption im öffentlichen Sektor die Tatbestände des Missbrauchs der Amtsgewalt, der Geschenkannahme durch Amtsträger und der Bestechung darstellen. Korruption im privaten Sektor tritt vornehmlich in Form von Delikten wie Betrug, Veruntreuung, Geldwäscherei und Kridadelikten auf. Bedenkliche Verbindungen zwischen der Korruption im öffentlichen Sektor und dem organisierten Verbrechen wurden – im Gegensatz zur Korruption im privaten Sektor209 – nicht festgestellt.

aa) Strafgesetzbuch (StGB) Zum Zeitpunkt der Abfassung des GET-Berichtes war – ungeachtet der in Österreich normierten zwingenden Abschöpfung der Bereicherung - kein einziger Fall bekannt, indem eine solche Abschöpfung tatsächlich verfügt worden wäre.210 Daraus zieht das GET den Schluss, dass Korruptionsdelikten von den Behörden im Allgemeinen nicht die entsprechende Beachtung geschenkt würde, und empfiehlt, umgehend geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um bei den Untersuchungs- und Verfolgungsbehörden das Bewusstsein zu stärken, dass die Abschöpfung von Korruptionserträgen – insbesondere auch in Fällen des Missbrauches der Amtsgewalt nach § 302 StGB211 – eine rechtsstaatliche Notwendigkeit darstellt. Geldwäscherei ist in Österreich nach § 165 StGB straf bar, wobei die Bestimmung auf eine bestimmte Anzahl von Delikten Bezug nimmt – unter anderem auch auf korruptionsrelevante Delikte. In Ermangelung einheitlicher Regelungen zur Vorbeugung bzw Verhinderung von Geldwäscherei, sind dahingehende Verdachtsmomente nach Maßgabe unterschiedlichster gesetzlicher Bestimmungen212 von den 209 Dabei verweisen die Behörden insbesondere auf das Baugewerbe, den Bank- und Kreditdienstleistungssektor, das Beschaffungswesen sowie das Glücksspielwesen. 210 Lediglich im Rahmen von ein bis zwei Bestechungsfällen, welche unter § 153 StGB (Untreue) subsumiert wurden, wurde die Bereicherung abgeschöpft. 211 Das Evaluierungsteam verweist im Zusammenhang mit § 302 StGB auf das nur niedrige Beweismaß (die Hingabe bzw der Empfang einer Bestechung ist ebenso wenig erforderlich wie eine korrupte Absprache) und die offensichtliche Tendenz der Behörden, die vermögensrechtlichen Aspekte des Deliktes zu vernachlässigen. 212 Vgl. ua das Bankwesengesetz, das Versicherungsaufsichtsgesetz, das Wertpapieraufsichtsgesetz und die Gewerbeordnung; der Großteil der Verdachtsmeldungen (welche insgesamt in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen haben) kommt aber aus dem Bankensektor.

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dann jeweils zuständigen bereichsspezifischen Regelungsbehörden (Berufskammern, etc) an die dafür zuständige Spezialabteilung des Bundeskanzleramtes (BK), die „Financial Intelligence Unit“ (FIU),213 zu melden. Vom GET wird vor allem die nach zum Zeitpunkt der Abfassung des Berichts geltender Rechtslage nicht vollständige Berücksichtigung korruptionsbezogener Geldwäscherei und die strafrechtliche NichtRelevanz der Eigengeldwäsche kritisiert. Während in Bezug auf letztere seitens der Behörden argumentiert wird, dass die Kriminalisierung derselben gegen fundamentale Rechtsgrundsätze verstoßen würde, vertraten die Richter gegenüber dem GET die Ansicht, dass kein rechtliches Hindernis bestünde, entsprechende Deliktstatbestände in das österreichische Recht einzuführen. Das Evaluierungsteam spricht sich in diesem Zusammenhang für eine Prüfung der gegenständlichen Problematik aus und empfiehlt, die Flexibilität des österreichischen Anti-Geldwäsche-Regimes dahingehend zu verbessern, dass allen mit der Materie befassten Behörden VerfahrensRichtlinien zur Verfügung gestellt werden, um den Erfordernissen des Kampfes gegen Korruption besser gerecht werden zu können.214 § 20b StGB regelt den zwingenden Verfall von Vermögenswerten,215 der nach Meinung des GET den einzigen direkten Zugriff auf Vermögenswerte aus kriminellen Handlungen – jedoch nur hinsichtlich organisierter Kriminalität und terroristischer Vereinigungen, nicht aber in Bezug auf Korruption und Geldwäscherei – darstellt. Neben der fehlenden Zugriffsmöglichkeit auf Erträge aus Korruption und Geldwäscherei wird insbesondere bemängelt, dass die Abschöpfung der Bereicherung als finanzielle Sanktion und nicht als Abschöpfung der direkten Erträge konzipiert ist. Da die Bestimmung betreffend den Verfall von Vermögenswerten keinen Aufschluss darüber gibt, auf welche Arten von Vermögenswerten sie anzuwenden ist, empfiehlt das GET eine Klarstellung dahingehend, dass sämtliche Maßnahmen – sowohl die einstweiligen, wie die endgültigen – auf die verschiedensten Formen von Erträgen (darunter jedenfalls auf bewegliches und unbewegliches Vermögen sowie immaterielle Bereicherung216) anzuwenden sind.

bb) Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (2005) Nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (2005) können auch juristische Personen und andere Körperschaften – sowohl bei fahrlässiger wie auch bei vorsätzlicher Begehung – Täter der im StGB normierten Delikte, einschließlich der Korruptionsdelikte, sein. Die dabei vorgesehene Höchststrafe für strafrechtlich verantwortliche juristische Personen von einer Million Euro ist nach Ansicht des Evaluierungsteams zu

213

Vgl. dazu Mild (Fn. 129), 1093, 1106, 1091. Darunter werden beispielsweise Indikatoren für korruptionsbezogene Verdachtsmeldungen verstanden. 215 Auch diesbezüglich fi nden sich in § 20c StGB entsprechende Ausnahmen. 216 In diesem Zusammenhang wird von Seiten des GET, neben der materiellen und immateriellen Bereicherung, auf Erträge verwiesen, welche bewusst dritten Personen übertragen wurden, um die Abschöpfung zu vermeiden sowie auf Erträge, die mit legal erworbenen Vermögenswerten vermischt sind. 214

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gering, um eine effektive und verhältnismäßige sowie general- und spezialpräventive Sanktion für Korruptionsdelikte darzustellen. Um einen hohen Grad an Transparenz sicherzustellen, müssen juristische Personen in einem öffentlich zugänglichen Register eingetragen sein, das Informationen betreffend Gesellschaftsdaten, Aktionäre, Vorstände, Kapital ua enthält.217 Nach Ansicht des GET können sich dabei vor allem bei Aktiengesellschaften – da diese berechtigt sind, Inhaberaktien auszugeben, die ohne Registrierung von einem Inhaber an einen anderen transferiert werden können – Probleme ergeben, die Identifi kation bestimmter Vermögensbestandteile oder Begünstigter sicherzustellen. Auch Stiftungen – ihre Begünstigten müssen nämlich nicht bekannt gegeben werden – und Brief kastenfi rmen könnten unter Umständen dazu missbraucht werden, Einkünfte zu verschleiern bzw für steuerrechtliche, strafrechtliche und sonstige Delikte zu instrumentalisieren. Der Umstand, dass in Österreich politische Verbindungen und sonstige Netzwerke verbreitet sind, was die Mitgliedschaft in politischen Parteien und Vereinen besonders attraktiv macht, gibt für das Evaluierungsteam Anlass zu Besorgnis. Dementsprechend wird angeregt, die Transparenz im Zusammenhang mit juristischen Personen zu steigern und die Kontrolle von Gesellschaften, Stiftungen und Vereinen zu intensivieren. Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (2005) wird in diesem Zusammenhang vom GET grundsätzlich positiv erwähnt, die bisher nur zögerliche Anwendung desselben durch die Polizei, die Richter und die Staatsanwälte aufgrund der Komplexität und des den anwendenden Behörden verbleibenden Ermessensspielraumes jedoch bemängelt. Aus diesem Grund wird die Bereitstellung von Anleitungen zur praktischen Anwendung des Gesetzes sowie eine spezifische und systematischen Ausbildung der genannten Personengruppen in Bezug auf die Anwendung dieses Gesetzes empfohlen. Weiters wäre die Schaffung eines mit dem Strafregister für natürliche Personen vergleichbaren Registers für (wegen Korruption) verurteilte juristische Personen wünschenswert. Außerdem sollten wegen schwerer Korruptionsdelikte verurteilte natürliche Personen, für bestimmte Zeit von unternehmerischen Führungspositionen ausgeschlossen werden.

cc) Strafrechtsänderungsgesetz (2008) Insbesondere die Ausweitung des Amtsträgerbegriffes mit dem StRÄG 2008 stellt nach Ansicht des GET eine bedeutende Verbesserung der strafrechtlichen Handlungsmöglichkeiten im Kampf gegen die Korruption in Österreich dar, wogegen die strafrechtliche Erfassung der (österreichischen!) Parlamentarier auch nach Inkrafttreten des Strafrechtsänderungsgesetzes als unbefriedigend beurteilt wird: Nach Art. 4 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption müssten die Mitglieder inländischer Vertretungskörper den korruptionsrelevanten Bestimmungen des Strafrechtes in gleicher Weise unterliegen wie die sonstigen Amtsträger. Die neu geschaffene Be217 Laut der Statistik „Strafen 2005, 2006, 2007“ wurden 2005 ca. 11000 Verwarnungen mit bedingten Strafen und in 3900 Fällen unbedingte Strafen in Firmenbuchverfahren verhängt.

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stimmung betreffend die Abgeordnetenbestechung ist tatbestandsmäßig auf den Kauf oder Verkauf von Wählerstimmen beschränkt, die passive Bestechung von Volksvertretern bleibt indes im Rahmen des StGB weiterhin ungeregelt.

dd) Weitere korruptionsrelevante Bestimmungen Weitere korruptionsrelevante Bestimmungen fi nden sich in Nebengesetzen, wie beispielsweise im Bundesgesetz über die Herstellung und das Inverkehrbringen von Arzneimittel (AMG) 218 und dem Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb (UWG) 219. Das Fehlen von Schutzmaßnahmen mit dem Ziel einer Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Zeugen und Justizbehörden- beispielsweise in Form einer Kronzeugenregelung oder eines Zeugenschutzprogrammes220 – wird vom GET in diesem Zusammenhang zwar entsprechend angemerkt, jedoch mit Verweis auf das Fehlen jeglicher negativer Rückmeldungen aus der Praxis nicht weiter kommentiert.

ee) Behördenzuständigkeit Das GET kritisiert vor allem die – abgesehen von der Reform des Strafrechts – bislang fehlenden Anti-Korruptionsmaßnahmen der Regierung und bemängelt, dass es diesbezüglich keine aufeinander abgestimmten Vorgehensweisen der damit an sich befassten Behörden gibt. Dieser Umstand könnte nach Ansicht des GET unter anderem auf die durch die Einführung der legislativen Autonomie der Länder verursachte Inhomogenität der Gesetzgebung sowie auf ein Informations- und Bewusstseinsdefizit der Vertreter von Ländern und Gemeinden wie auch der verschiedenen befassten Bundesministerien zurückzuführen sein. Es wird dementsprechend die Entwicklung eines Mechanismus zur Verbesserung der interinstitutionellen und multidisziplinären Zusammenarbeit vorgeschlagen und gleichzeitig die Notwendigkeit der Einbeziehung der Bundesländer und des privaten Sektors betont.

ff) Büro für Interne Angelegenheiten – Bundesministerium für Inneres (BIA-BMI) Das durch Erlass des Innenministers vom 31. Jänner 2001 als besondere Polizeiabteilung für den Kampf gegen die Korruption und andere in den §§ 302 bis 313 StGB genannte Delikte geschaffene und dem Innenministerium (Sektion IV) eingegliederte Büro für Interne Angelegenheiten (BIA-BMI) führte in direkter Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften und Gerichten sicherheits- und kriminalpolizeiliche Ermittlungen bei Verdacht auf Korruption oder auf Fehlverhalten von Beamten durch. Der Ansatz des BIA-BMI im Kampf gegen Korruption basierte zum ersten auf 218

Fn. 17. Fn. 18. 220 In § 34 StGB ist lediglich vorgesehen, dass ein Geständnis vom Gericht als strafmildernd gewertet werden kann. 219

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reaktiven Untersuchungen, zum zweiten auf vorbeugenden und zum dritten auf erzieherischen Maßnahmen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Förderung der internationalen Zusammenarbeit, was unter anderem die aktive Mitwirkung am Aufbau einer informellen Vernetzung der verschiedenen Überwachungs- und Untersuchungsbehörden im Rahmen der EPAC (European Partners against Corruption) zeigte. Obwohl von Seiten des BIA-BMI verschiedene Bemühungen zur Korruptionsprävention unternommen wurden – insbesondere in Form von Ausbildungskursen, Seminaren und der Erarbeitung einschlägiger Unterlagen – wird das Fehlen einer Typologisierung von Korruptionstatbeständen wie auch der Mangel an Analysen der Situation in Österreich und jeglicher Forschung in diesem Bereich vom GET kritisiert. Die Vertreter des BIA-BMI erklärten diese Mängel unter anderem mit der zu geringen Mitarbeiterkapazität des Büros. Da eine klare Abgrenzung der behördlichen Zuständigkeiten in Bezug auf Korruptionsfälle fehlt, regt das GET an, das BIA-BMI als zentrale Behörde im Korruptionsbereich zu positionieren und die Zuständigkeiten zwischen dem BIA-BMI und den Polizeibehörden detailliert festzulegen, wobei insbesondere eine verstärkte Kooperation zwischen den verschiedenen Polizeieinheiten, den Staatsanwaltschaften und dem BIA-BMI angestrebt werden sollte.

gg) Büro für Interne Angelegenheiten – Bundesministerium für Finanzen (BIA-BMF) Eine weitere Organisationseinheit, das dem Modell des BIA im BMI nachgebildete Büro für Interne Angelegenheiten (BIA-BMF), wurde im Jahr 2002 im Bundesministerium für Finanzen zur Untersuchung von Fehlverhalten, das durch bundesweit tätige Mitarbeiter der Bundesfi nanzbehörden gesetzt wurde, eingerichtet. Das Büro verfügt jedoch über keine speziellen Sanktions- und Ermittlungsbefugnisse und ist diesfalls auf die Mitwirkung der Polizeibehörden angewiesen.

hh) Bundeskriminalamt (BKA) Das Bundeskriminalamt, Teil der dem Bundesminister für Inneres direkt unterstellten Sektion II des Innenministeriums – Generaldirektion für öffentliche Sicherheit – ist unter anderem für Ermittlungen in Finanzstrafsachen und allen Erscheinungsformen von Wirtschaftskriminalität einschließlich schwerer Wirtschaftsstraftaten wie Korruption, Veruntreuung und Kridadelikten – insbesondere im Zusammenhang mit Unternehmen und juristischen Personen – zuständig. Das BKA, das als oberste Sicherheitsbehörde gegenüber den regionalen und lokalen Polizeibehörden weisungsbefugt ist, spielt im Kampf gegen Korruption insofern eine wichtige Rolle, als die Behörden verpfl ichtet sind, sämtliche Fälle von Korruption den zuständigen, mit speziell ausgebildeten Einheiten 221 besetzten Unterabteilungen des BKA, näm221 Die Beamten verfügen zumeist über eine betriebswirtschaftliche Grundausbildung und über Fachwissen im Bereich Rechnungsprüfung und Wirtschafts- bzw. Finanzrecht.

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lich den Landeskriminalämtern, zu melden. Die in der Abteilung für Wirtschaftsund Finanzkriminalität des BKA eigens eingerichtete Geldwäschemeldestelle analysiert als „Financial Intelligence Unit“ (FIU) auch Verdachtsmeldungen und übermittelt diese an andere Behörden. Die Personalausstattung der mit Wirtschaftskriminalität befassten Polizeibehörden wird vom GET allerdings als unzureichend beurteilt.

ii) Gerichte und Staatsanwaltschaften Nach Art. 82 B-VG222 geht alle Gerichtsbarkeit vom Bund aus, wobei alle vier Instanzen 223 – abhängig von der Schwere des Delikts – für Korruptionsangelegenheiten zuständig sind. Die rechtliche Position der ca. 1700 österreichischen Berufsrichter, insbesondere deren verfassungsgesetzlich gewährleistete Unabhängigkeit224, Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit225 sowie der in § 32 des Gerichtsorganisationsgesetzes226 geregelte Grundsatz der festen Geschäftsverteilung, wird, ebenso wie die Einrichtung einer spezialisierten Abteilung für Wirtschaftskriminalität am Landesgericht Wien, vom GET als zufriedenstellend bewertet. Aufgrund des teils niedrigen Spezialisierungsniveaus an den untergeordneten Gerichten wird diesbezüglich empfohlen, vermehrt korruptionsspezifische Fortbildungen – gerade auch für Richter der unteren Instanzen – anzubieten. Zur Stärkung der Rechtstellung der Staatsanwälte, die in Österreich nicht mit richterlichen Garantien ausgestattet, sondern vielmehr an die Weisungen des Justizministers gebunden sind,227 wird eine Reform des Staatsanwaltschaftsgesetz (StAG) im Sinne einer Annäherung an das Dienstrecht der Richter empfohlen.228 Aufgrund der Tatsache, dass sowohl Richter wie auch Staatsanwälte Mitglieder politischer Parteien sein dürfen, und der damit in Zusammenhang stehenden Befürchtung, dass die 222

Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) BGBl 1/1930 idF BGBl I 2/2008. Bezirksgerichte für Delikte mit einer Strafdrohung von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von bis zu 360 Tagessätzen, Landesgerichte als Rechtsmittelgerichte für Entscheidungen der Bezirksgerichte und als erstinstanzliche Gerichte für Delikte, welche mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mehr bedroht sind, Oberlandesgerichte als Gerichtshöfe zweiter Instanz sowie der Oberste Gerichtshof. 224 Vgl. Art. 87 Abs. 1 B-VG. 225 Vgl. Art. 88 Abs. 2 B-VG. 226 Gesetz womit Vorschriften über die Besetzung, innere Einrichtung und Geschäftsordnung der Gerichte erlassen werden (Gerichtsorganisationsgesetz – GOG) BGBl 760/1996 idF BGBl I 111/2007. 227 Die einzelnen Staatsanwaltschaften unterstehen den Oberstaatsanwaltschaften, welche wiederum dem Justizministerium unmittelbar untergeordnet sind. Weisungen des Justizministeriums sowie der Oberstaatsanwaltschaft dürfen nur schriftlich erteilt werden, müssen sich auf eine gesetzliche Grundlage beziehen und entsprechend begründet werden. Weiters muss der Justizminister dem Parlament über die Ausübung des Weisungsrechts berichten. Innerhalb der einzelnen staatsanwaltschaftlichen Behörden kommt den jeweiligen Abteilungsleitern die Befugnis zu, sowohl mündliche als auch schriftliche Weisungen zu erteilen, wobei die einzelnen Staatsanwälte im Falle gesetzeswidriger Weisungen durchaus berechtigt sind, deren schriftliche Ausfertigung zu verlangen und gegebenenfalls auch von der Bearbeitung des jeweiligen Falles enthoben werden können. 228 Hinsichtlich des Disziplinarrechts wurden mit 1. Jänner 2008 die Staatsanwälte den Richtern gleichgestellt, was vom GET positiv bewertet wird. 223

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Politik versuchen könnte, auf das Auswahlverfahren in unzulässiger Weise Einfluss zu nehmen,229 empfiehlt das GET, eine spezialisierte Behörde einzurichten, die für die Auswahl, Ausbildung, Ernennung, berufl iche Lauf bahn und das Disziplinarrecht der beiden Berufsgruppen zuständig ist. Den Staatsanwaltschaften, die – im Gegensatz zur früher zwischen Staatsanwaltschaften und Polizei geteilten Zuständigkeit – seit der Reform der Strafprozessordnung nunmehr alleine für die Durchführung der Vorverfahren zuständig sind,230 wurden mit dem Strafprozessrechtsreformgesetz (2007) zusätzliche Ermittlungsmöglichkeiten eröffnet: neben der Möglichkeit zur Einholung von Auskünften über Daten einer Nachrichtenübermittlung und zur Überwachung von Nachrichten231, besteht nun auch die Möglichkeit zur Observation, zu verdeckten Ermittlungen und zur Tätigung von Scheinkäufen.232 Im Rahmen der Ermittlungsverfahren stellt die Unzulässigkeit der Einsichtnahme in Finanzdaten von Verdächtigen eine gewisse Problematik dar. Das Bankgeheimnis kann nämlich nur in jenen Fällen aufgehoben werden,233 in denen der Verdacht einer straf baren Handlung besteht, die mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist. Zudem weigern sich die Steuerbehörden regelmäßig, die von den Ermittlungsbehörden gewünschten Informationen zur Verfügung zu stellen. Nach Ansicht des GET könnte diesem Umstand durch Auf hebung des Bankgeheimnisses bei Korruptionsdelikten, auch wenn diese mit weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind, sowie mit einer Neuregelung betreffend den Zugang zu und den Austausch von Daten im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen begegnet werden.

jj) Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (KStA) Neben den bei der Oberstaatsanwaltschaft Wien speziell eingerichteten Gruppen zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und organisierter Kriminalität wird die mit dem Strafrechtsänderungsgesetz (2008) neu geschaffene KStA mit Zweigstellen in Graz, Innsbruck und Linz vom GET begrüßt, wenn auch die ursprünglich geforderte Weisungsfreiheit der Behörde nicht realisiert werden konnte.234 Laut Evaluierungsbericht waren zu Beginn der operativen Phase fünf Staatsanwälte mit einem Personal von 25 Mitarbeitern vorgesehen. Diese personellen Ressourcen wurden vom GET als unzureichend beurteilt und dementsprechend empfohlen, 229 Zum Staatsanwalt kann nur ernannt werden, wer die Ernennungserfordernissen nach § 26 des Richterdienstgesetzes (BGBl 305/1961) erfüllt und zumindest eine einjährige Praxis als Richter bei einem Gericht oder als Staatsanwalt aufweist (§ 12 StAG idF BGBl I 53/2007). 230 Vgl. §§ 19–28 der Strafprozessordnung [(StPO) BGBl 631/1975 idF BGBl I 109/2007]; die Zuständigkeit der Richter ist in diesem Zusammenhang auf die Genehmigung und die Kontrolle von Zwangsmaßnahmen beschränkt. 231 Vgl. § 134 Zif 2 und 3 und § 135 Abs. 2 und 3 StPO. 232 Vgl. §§ 129 bis 136 StPO. 233 Vgl. § 38 Abs. 2 Z 1 des Bundesgesetzes über das Bankwesen (Bankwesengesetz – BWG) BGBl 532/1993 idF BGBl I 108/2007 (Verfassungsbestimmung). 234 In einzelnen Fällen ist das Justizministerium gegenüber der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (KStA) weisungsbefugt.

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nach einer Einführungsphase die Angemessenheit der verfügbaren Ressourcen zu überprüfen.235

kk) Immunität von Abgeordneten Von den zwei Erscheinungsformen der Immunität von Abgeordneten, die in der österreichischen Rechtsordnung vorgesehen sind – einerseits der Nichthaftung für deren Abstimmungsverhalten und für in Ausübung des Amtes geäußerte Meinungen und andererseits der Unantastbarkeit – ist im Zusammenhang mit der Korruptionsbekämpfung hauptsächlich letztere von Bedeutung – vor allem in Form der Immunität von Verhaftungen, die den folgenden vier Personengruppen bzw Funktionsträgern zukommt: dem Bundespräsidenten 236, den Mitgliedern des Nationalrates, des Bundesrates und der Landtage. Diese können, wenn Sie im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, nur mit Zustimmung des jeweiligen Vertretungskörpers verhaftet werden 237. Ohne Zustimmung des Parlaments, des Bundesrates bzw der Landtage können gegen diese Organwalter Verfahren wegen Straftaten nur dann durchgeführt werden, wenn keine offensichtliche Verbindung zwischen der Straftat und der politischen Tätigkeit eines Parlamentariers gegeben ist. Die Anzahl der Personen, denen in Österreich Immunität zukommt, wird vom GET als international vergleichsweise gering beurteilt. Eine Schwierigkeit wird aber darin gesehen, dass die Entscheidung, ob das fragliche Delikt in einem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit dieser Personengruppe steht oder nicht, sehr oft erst in einem langwierigen und unübersichtlichen Procedere erfolgen kann. Aus diesem Grund empfiehlt das GET, „Anleitungen zu entwickeln, welche konkrete und objektive Kriterien beinhalten, die bei der Bestimmung, ob eine Handlung im Zusammenhang mit der Amtsausübung eines Parlamentariers steht und damit auch der Entscheidung, ob die Immunität dieser Person betroffen ist und aufgehoben werden kann, herangezogen werden können“. Der Gefahr eines Missbrauchs der Immunitätsregelung sollte nach Überzeugung des GET zusätzlich durch eine Verpfl ichtung zur ausdrücklichen Begründung sämtlicher Entscheidungen in Immunitätsfragen begegnet werden.

ll) Öffentliche Verwaltung und Korruption Die Defi nition des Begriffes „öffentliche Verwaltung“ erfolgt – in Ermangelung einer gesetzlichen Defi nition – überwiegend über das Arbeitsverhältnis der in diesen beschäftigten Personen. Demnach gehören der öffentlichen Verwaltung Personen an, welche in einem Arbeitsverhältnis zum Bund, zu einem der Länder, einer Gemeinde 235

Vgl. dazu Kap. IV.1.b.bb. Nach Art. 63 B-VG müssen Strafverfahren gegen den Bundespräsidenten von der Bundesversammlung genehmigt werden. 237 Vgl. Art. 57, 58 und 96 Abs. 1 B-VG sowie die Bestimmungen in der jeweiligen Landesverfassung. 236

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oder einem Gemeindeverband stehen. Bei der im Strafgesetzbuch238 enthaltenen Defi nition des Begriffes „Beamter“ ist insofern von einer weiter gefassten Konzeption des Begriffes „öffentliche Verwaltung“ auszugehen, als davon auch Personen umfasst sind, welche für Behörden arbeiten, die unter einem (auch geringen) organisatorischen Einfluss bzw der Kontrolle einer Gebietskörperschaft stehen. Damit sind auch Richter, Staatsanwälte, Bürgermeister ua dem Beamtenbegriff des § 74 StGB zu subsumieren. Dem GET wurde mitgeteilt, dass im Zuge des Strafrechtsänderungsgesetzes (2008) beabsichtigt sei, den Beamtenbegriff des § 74 StGB auf alle Amtsträger in der Verwaltung und im Justizbereich sowie auf alle Personen, die mit öffentlichen Funktionen in öffentlichen Unternehmen betraut sind, auszudehnen. Tatsächlich ist jedoch die Definition des Begriffes „Beamter“ soweit gleich geblieben und lediglich mit dem Zusatz „als Beamter gilt auch, wer nach einem anderen Bundesgesetz oder auf Grund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung bei einem Einsatz im Inland einem österreichischen Beamten gleichgestellt ist“, versehen worden (§ 74 Abs. 1 lit 4 StGB). Als „Amtsträger“ wird in diesem Zusammenhang jeder bezeichnet, „der für Österreich, für einen anderen Staat oder für eine internationale Organisation ein Amt der Gesetzgebung, Verwaltung oder Justiz innehat oder sonst mit öffentlichen Aufgaben, einschließlich in öffentlichen Unternehmen, betraut ist mit Ausnahme von Mitgliedern inländischer verfassungsmäßiger Vertretungskörper“ (§ 74 Abs. 1 lit 4a StGB). Nach Art. 20 B-VG trifft alle Beamten, die mit Verwaltungsaufgaben der Gebietskörperschaften betraut sind, sowie Funktionäre anderer Körperschaften öffentlichen Rechts, eine Auskunftspfl icht „soweit dies nicht einer gesetzlichen Verschwiegenheitspfl icht entgegensteht“. Das GET kritisiert, dass dieses im Auskunftspfl ichtgesetz (1987) 239 geregelte Recht zwar als Recht zur Beantragung von Auskünften, nicht jedoch als ein in jedem Fall garantiertes allgemeines inhaltliches Auskunftsrecht – von dem allerdings Ausnahmen vorgesehen sind – verstanden wird. Letztlich stünde es den Behörden frei, die Auskunftserteilung ohne Angabe von Gründen zu verweigern. Um den Zugang zu Informationen sicherzustellen, empfiehlt das Evaluierungsteam die Entwicklung detaillierter Kriterien, damit gegebenenfalls eine solche Weigerung von den betroffenen Personen wirksam bekämpft werden kann. Der Rechnungshof (RH), der nach den Artikeln 121 ff. B-VG als oberste Rechnungsprüfungsbehörde zur Kontrolle sämtlicher Behörden und Einrichtungen, die staatliche Mittel und Subventionen lukrieren, berufen ist, hat in den letzten Jahren keine einzige korruptionsspezifische Untersuchung durchgeführt. Da das GET dem RH das Potential, eine wichtige Rolle als Anti-Korruptions-Wächter einnehmen zu können, nicht abspricht, regt es in seinem Bericht an, dessen Mitarbeiter durch geeignete Fortbildungsmaßnahmen für die Korruptionsproblematik zu sensibilisieren und empfiehlt weiters, im Sinne einer effektiveren Anti-Korruptionspolitik die Zusammenarbeit mit den anderen infrage kommenden Anti-Korruptionsbehörden – wie den BIAs und der KStA – durch Kooperationsvereinbarungen zu intensivieren. Im Rahmen dieser Vereinbarungen sollte vor allem die Verpfl ichtung des RH fest238

§ 74 StGB. Bundesgesetz über die Auskunftspfl icht der Verwaltung des Bundes (Auskunftspfl ichtgesetz) BGBl 287/1987 idF BGBl I 158/1998. 239

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geschrieben werden, den zuständigen Strafverfolgungsbehörden Verdachtsfälle hinsichtlich Korruption und Fälle von Fehlverhalten, die zu strafrechtlichen Sanktionen führen könnten, zu melden. Neben der generellen Verpfl ichtung zur Anzeige wahrgenommener straf barer Handlungen an die Staatsanwaltschaft, die gemäß § 86 StPO jede Person trifft, fi nden sich vergleichbare Bestimmungen auch in verschiedenen anderen Gesetzen 240. Schutzmaßnahmen für sog „whistle blower“, also für Personen (insbesondere Beamte und Vertragsbedienstete), die guten Glaubens Verdachtsfälle von straf baren Handlungen, von denen sie Kenntnis erlangt haben, anzeigen, sollen verhindern, dass diese Personen aufgrund dieser Meldung Nachteile erleiden. Da in Österreich derartige Schutzmaßnahmen nicht existieren, empfiehlt das Evaluierungsteam, entsprechende Bestimmungen für alle Bundesbeamten und Vertragsbedienstete einzuführen und auch die Länder zu bestärken, in ihren Kompetenzbereichen geeignete Vorkehrungen zu treffen. Die Tatsache, dass im September 2007 die Ausarbeitung eines „Verhaltenskodex“ für alle im öffentlichen Bereich Tätigen durch die Bundesregierung veranlasst worden ist,241 wird vom GET wohlwollend zur Kenntnis genommen und diesbezüglich die Erwartung ausgesprochen, dass die Länder, die noch keine vergleichbaren Richtlinien verabschiedet haben,242 diesem Beispiel folgen mögen. Die österreichischen Regelungen betreffend die Geschenkannahme lassen nach Ansicht des GET einen klaren und konsequenten Ansatz vermissen, insbesondere wird das Fehlen einer klaren Abgrenzung des persönlichen Anwendungsbereiches243 und das bestehende unterschiedliche Regelungsniveau in den einzelnen Ländern 244 kritisiert. Außerdem sind nach Ansicht des GET die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuches – insbesondere § 304 Abs. 4 über die „Geschenkannahme in Amtssachen“ und § 308 Abs. 2 über die „Verbotene Intervention“245 – nicht hinreichend präzisiert und lassen so Spielraum für mögliche Fehlinterpretationen. 240 So etwa in § 53 des Beamten-Dienstrechtsgesetzes (BGBl 333/1979 idF BGBl I 176/2004) und in § 17 Abs. 3 der Verfahrensbestimmungen für die Wiener Stadtverwaltung. 241 Zum Verhaltenskodex vgl. Fn. 3; vgl dazu weiters das Referat der vormaligen BM für Frauen, Medien und öffentlichen Dienst und jetzigen BM für BM für Verkehr, Innovation und Technologie, Doris Bures, bei der ÖJK-Weißenbachtagung 2008 [abgedruckt in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Korruption. Ursachen – Erscheinungsformen – Bekämpfung (2009), 13 ff.]. 242 Im Bundesland Wien wurde basierend auf den relevanten Bestimmungen der Dienstordnung (1994) [Gesetz über das Dienstrecht der Beamten der Bundeshauptstadt Wien (Dienstordnung – DO) LGBl 43/2008] und der Vertragsbedienstetenordnung (1995) [Gesetz über das Dienstrecht der Vertragsbediensteten der Gemeinde Wien (Vertragsbedienstetenordnung – VBO) LGBl 22/2008] sowie auf der Grundlage der Ergebnisse einer von der Landesregierung eingerichteten Arbeitsgruppe ein „Handbuch zur Verhinderung von Korruption“ ausgearbeitet, das als praktischer Leitfaden für Beamte, öffentlich Bedienstete und ihre Vorgesetzten sowie interessierte BürgerInnen herangezogen werden soll. 243 Das GET bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf gewählte Beamte, Richter und Staatsanwälte. 244 In Wien fi nden sich die einschlägigen Bestimmungen in § 18 Abs. 3 DO sowie in § 4 Abs. 5 der VBO. 245 Nach dieser Bestimmung sind „geringfügige Vorteile“ zulässig, ohne jedoch darauf hinzuweisen, was darunter zu verstehen ist – eine ähnliche Ausnahme fi ndet sich in § 308 Abs. 2 StGB; vgl. dazu vorstehend Kap. IV.1.a.

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Das GET bemängelt zudem, dass die Regelungen betreffend die Unvereinbarkeit von bestimmten Tätigkeiten mit der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung unzureichend seien. Diese Problematik manifestiere sich etwa bei einem Wechsel eines Mitarbeiters von der öffentlichen Verwaltung in die Privatwirtschaft. Diesbezügliche Bestimmungen fi nden sich im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) (1991) 246 sowie im Unvereinbarkeitsgesetz (UVG) (1983) 247. Letzteres schreibt unter anderem vor, dass Mitglieder der Bundesregierung sowie der einzelnen Landesregierungen, der Nationalratspräsident und die Obleute der Klubs im Nationalrat ohne Zustimmung des Unvereinbarkeitsausschusses des Nationalrates neben ihrer politischen Funktion keine Beschäftigung ausüben dürfen, für die sie ein Einkommen beziehen. Die Zustimmung ist dabei nur in den Fällen zu erteilen, in denen trotz einer solchen Beschäftigung eine objektive und unbeeinflusste Amtsführung gewährleistet bleibt.248 Potentiellen Missbräuchen soll auch durch eine regelmäßige Bekanntgabe des Vermögensstandes der Mitglieder von Bundes- und Landesregierungen an den Rechnungshof entgegengewirkt werden,249 wobei das GET eine Intensivierung einer solchen Kontrolle empfiehlt. Nach § 6a Abs. 2 Unvereinbarkeitsgesetz ist die Fortsetzung der Amtsausübung durch Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte und andere Sicherheitsbeamte, die zu Mitgliedern des Nationalrates, des Bundesrates oder des Landtages gewählt sind, nur dann zulässig, wenn diese objektiv und unbeeinflusst erfolgen kann. Die Ausübung von Nebenbeschäftigungen durch Bundesbeamte ist ua im Beamten-Dienstrechtsgesetz (1979) 250 geregelt. Demnach hat der Beamte zunächst selbst zu beurteilen, ob er durch die Nebenbeschäftigung an der Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben gehindert wird, ob sie die Vermutung einer Befangenheit hervorruft, oder ob sonstige wesentliche dienstliche Interessen gefährdet werden.251 Wenn keiner dieser Gründe vorliegt, ist der Beamte berechtigt, die Nebentätigkeit auszuüben, andernfalls nicht. Auf Landesebene finden sich diesbezügliche Bestimmungen ua in § 22 DO bzw. § 8 VBO (Wien), wonach sich der Beamte „der Ausübung seines Amtes zu enthalten und seine Vertretung zu veranlassen [hat], wenn wichtige Gründe vorliegen, die geeignet sind, seine volle Unbefangenheit in Zweifel zu setzen“.

cc) Zusammenfassung des GRECO-Berichts Obwohl laut GET in Österreich einige interessante Anti-Korruptionsinitiativen ergriffen werden konnten, wird die Situation der Korruptionsbekämpfung in Öster246

Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) BGBl 51/1991 idF BGBl I 5/2008. Bundesgesetz über Unvereinbarkeiten für oberste Organe und sonstige öffentliche Funktionäre (Unvereinbarkeitsgesetz), BGBl 330/1983 idF BGBl I 2/2008. 248 Vgl. §§ 2 und 3 Unvereinbarkeitsgesetz. 249 Vgl. § 3a Unvereinbarkeitsgesetz. 250 Bundesgesetz über das Dienstrecht der Beamten (Beamten-Dienstrechtsgesetz – BDG) BGBl 333/1979 idF BGBl I 147/2008. 251 § 56 BDG; ähnliche Bestimmungen fi nden sich auch in Landesgesetzen, wie etwa § 22 DO und § 8 VBO. 247

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reich – mit Ausnahme Wiens – insgesamt als noch unzureichend beurteilt. Durch wissenschaftliche Studien sowie durch die Förderung und Koordination der interinstitutionellen Zusammenarbeit könnte die Transparenz erhöht und die Sensibilität für korruptionsrelevante Handlungen gestärkt werden. Das GET kommt zum Schluss, dass die (politische) Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften und der zuständigen Polizeibehörden – als wichtiger Eckpfeiler im Kampf gegen die Korruption – in Österreich nicht in ausreichendem Maße gegeben ist. Das Evaluierungsteam räumt jedoch ein, dass mit der geplanten Annäherung des Dienstrechts der Staatsanwälte an das der Richter sowie mit der Stärkung und der Klärung der Rolle des BIA-BMI große Schritte in die richtige Richtung gemacht worden sind, die zu berechtigten Hoffnungen Anlass geben. Als besonders unbefriedigend stellt sich für das GET allerdings die Situation hinsichtlich der Abschöpfung von Erträgen aus Korruptionsdelikten dar (bisher wurde in keinem einzigen Fall eine Abschöpfung vorgenommen), was auf mangelndes Problembewusstsein der Strafverfolgungsbehörden zurückgeführt wird. Entsprechend der „Rule“ 30 Abs. 2 der Verfahrensordnung von GRECO252 hatten die österreichischen Behörden bis zum 31. Dezember 2009 einen Bericht über die in Umsetzung der Empfehlungen ergriffenen Maßnahmen vorzulegen, worauf GRECO darüber zu befi nden hat, ob den Empfehlungen in ausreichendem Maße Rechnung getragen wurde. Thema der dritten Evaluierungsrunde, die am 1. Januar 2007 begonnen hat – für Österreich jedoch noch nicht relevant ist – ist unter anderem die Transparenz der Parteienfi nanzierung, auf die schon im ersten Evaluierungsbericht mehrmals negativ Bezug genommen wurde. Dementsprechend sind auch im Rahmen der dritten Evaluierungsrunde interessante Erkenntnisse und kritische Bewertungen hinsichtlich der Lage in Österreich zu erwarten.

3. Transparency International (TI) – Austrian Chapter – Jahresbericht 2007 Neben dem GRECO hat aber auch Transparency International (TI) den Stand der Korruptionsbekämpfung in Österreich untersucht. TI ist eine international tätige Anti-Korruptions-INGO253, die sich selbst als „gemeinnützige, parteipolitisch unabhängige Bewegung von gleichgesinnten Menschen aus aller Welt, die sich dem globalen Kampf gegen die Korruption verschrieben haben“, beschreibt. Sie definiert „Korruption“ als Missbrauch von (anvertrauter) Macht zum persönlichen Nutzen, womit politische, juristische, wirtschaftliche und moralische Aspekte umfasst sind. Im Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perception Index CPI) von TI, dem Expertenumfragen unter Managern multinationaler Unternehmen sowie Einschätzungen spezialisierter Unternehmensberatungsinstitute zur Vereitelung von Korruption im öffentlichen Sektor zugrunde liegen, hat sich die Position Österreichs seit 252

Vgl. dazu Fn. 118. Vgl. dazu allgemein Hummer, Internationale nichtstaatliche Organisationen im Zeitalter der Globalisierung – Abgrenzung, Handlungsbefugnisse, Rechtsnatur, in: Dicke/Hummer/Girsberger/BoeleWoelki/Engel/Frowein (Hrsg.), Völkerrecht und Internationales Privatrecht in einem sich globalisierenden internationalen System – Auswirkungen der Entstaatlichung transnationaler Rechtsbeziehungen, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd. 39 (2000), 45 ff. 253

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2005 kontinuierlich verschlechtert und liegt im CPI 2009 im weltweiten Vergleich nur mehr auf Rang 16. Im April 2005 wurde in Österreich die NGO „Transparency International - Austrian Chapter – Verein zur Korruptionsbekämpfung“ (TI-AC) mit Sitz in Wien 254 und einem Beirat255 bestehen. In ihrem Jahresbericht 2007 weist TI-AC drauf hin, dass Österreich zunächst zwischen 1995 und 2005 seine Position im Korruptionswahrnehmungsindex stetig verbessern und zur Spitzengruppe besonders korruptionsarmer Staaten aufschließen konnte. Der Spitzenwert betrug im Jahre 2005 8,7 Punkte, was den zehnten Rang im weltweiten Ranking bedeutete. 2006 fiel Österreich mit 8,6 Punkten auf den elften Platz zurück, 2009 war aber ein Absturz auf nur mehr 7,9 Punkte und Platz 16 zu verzeichnen.256 Im Vergleich dazu liegt die USA gemäß CPI auf dem 19. Platz. Der Grund dafür lag in einer Reihe von Korruptionsvorwürfen, die 2007 virulent wurden. Bereits Ende Oktober 2006 wurden zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt, die der Überprüfung der Auftragsvergabe der „Eurofighter“-Kampfflugzeuge (2001–2003) sowie der Untersuchung aktueller Banken- und Finanzskandale – vor allem des BAWAG-Skandals – dienten. Obwohl die Arbeit der Ausschüsse Mitte 2007 eingestellt wurde, ohne dass erwähnenswerte Konsequenzen ergriffen wurden, kam es – als Folge des Banken-Untersuchungsausschusses – zumindest zu einer Straffung und verbesserten Organisation der Finanzmarktaufsicht (FMA).

4. Aktuelle Anti-Korruptionsrechtslage in Österreich a) Das Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz (KorrStrÄG 2009) Mit dem am 1. September 2009 in Kraft getretenen Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz (KorrStrÄG 2009) 257 sollten die Bestimmungen des Strafgesetzbuches zur Bekämpfung der Korruption im öffentlichen Bereich (§§ 74 und 304 ff. StGB) entsprechend geändert und die durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2008 hervorgerufene Rechtsunsicherheit258 durch die im Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates vorgesehene Präzisierung unklarer Begriffe sowie durch Schärfung der Anti-Korruptionsbestimmung für den öffentlichen Sektor weitgehend beseitigt werden.259 Mit dieser Novelle reagierte der Gesetzgeber auf die für 254 1040 Wien, Operngasse 20B/9, angesiedelt im: Österreichisches Institut für Internationale Politik, ÖIIP; Der Dreier-Vorstand besteht gegenwärtig aus: Prof. Eva Geiblinger (Vorsitzende), Mag. Ruth Bachmayer, Dr. Armin Dallmann. 255 Der Beirat besteht gegenwärtig aus 14 Mitgliedern, das Beiratspräsidium aus: Dr. Franz Fiedler (Vorsitzender), o. Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer, Dr. Hubert Sickinger. 256 Transparency International – Austrian Chapter. Verein zur Korruptionsbekämpfung, Jahresbericht 2007, Anhang 2. 257 Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung 1975 und das Staatsanwaltschaftsgesetz geändert werden [Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz 2009 (KorrStrÄG 2009) BGBl I 98/2009]. 258 Vgl. dazu vorstehend Kap. IV.1.b. 259 Vgl. das Vorblatt sowie die Erläuterungen zum KorrStrÄG 2009.

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das Strafrecht außergewöhnlich umfangreiche Kritik, die dem StRÄG 2008 unpräzise, überschießende und nicht treffsichere Bestimmungen vorgeworfen hatte.260 So wurde unter anderem der mit dem StRÄG 2008 eingeführte Begriff des Amtsträgers gemäß § 74 Abs. 1 Ziff. 4a StGB näher präzisiert. Im Gegensatz zum StRÄG 2008, das grundsätzlich von einem – gemäß dem Gewaltenteilungsprinzip – dreigeteilten Amtsträgerbegriff ausging, geht das KorrStrÄG 2009 von einem viergeteilten, im Wesentlichen organisatorisch zu verstehenden Amtsträgerbegriff aus.261 Nunmehr ist „Amtsträger“ – „jeder, der Mitglied eines inländischen verfassungsmäßigen Vertretungskörpers ist [. . .]“ (lit a). Damit kommt es zu einer Anwendbarkeit des österreichischen Korruptionsstrafrechts auch auf Abgeordnete inländischer gesetzgebender Körperschaften, also auf Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats, der Bundesversammlung, der Landtage sowie Gemeinderäte – allerdings nur in eingeschränkter Form: die Genannten sind – im Gegensatz zu ausländischen Abgeordneten und Abgeordneten zum Europäischen Parlament262 – nur dann als Amtsträger im Sinn des StGB zu qualifizieren, soweit sie in einer Wahl oder Abstimmung ihre Stimme abgeben oder sonst in Ausübung der in den Vorschriften über dessen Geschäftsordnung festgelegten Pfl ichten Handlungen vornehmen oder unterlassen.263 Damit wird zwischen Handlungen in Ausübung von Rechten – wobei der Abgeordnete a priori nicht als Amtsträger handelt – und Handlungen in Ausübung von Pfl ichten – wobei der Abgeordnete als Amtsträger handelt und damit den korruptionsstrafrechtlichen Bestimmungen unterworfen ist – unterschieden.264 Außerdem erfüllt jeder den Amtsträgerbegriff, der – „für den Bund, ein Bundesland, einen Gemeindeverband, eine Gemeinde, für einen Sozialversicherungsträger oder deren Hauptverband, für einen anderen Staat oder für eine internationale Organisation Aufgaben der Gesetzgebung, Verwaltung oder Justiz als deren Organ oder Dienstnehmer wahrnimmt, mit Ausnahme der in lit a genannten Amtsträger in Erfüllung ihrer Aufgaben“ (lit b). Ob die Aufgaben im Rahmen der Hoheitsverwaltung, der Privatwirtschaftsverwaltung oder überhaupt privatrechtlich wahrgenommen werden, ist für die Amtsträgerschaft nach lit b ohne Bedeutung. Neu aufgenommen in die Defi nition wurden explizit die österreichischen Sozialversicherungsträger sowie der Hauptverband der österreichischen Sozialversiche260

Schön/Schuschnigg, Reform des Antikorruptionsstrafrechts. Das Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz 2009, 4 SIAK Journal (2009), 16. 261 Vgl. dazu Schön/Schuschnigg (Fn. 260), 18. 262 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Z 4a lit b StGB [idF BGBl I 98/2009]; dabei geht von einer „willkürlich anmutenden“, sachlich nicht erklärbaren Differenzierung zwischen inländischen Abgeordneten und Abgeordneten ausländischer Parlamente sowie EU-Mandatare aus: Hinterhofer, Eingeschränktes Korruptionsstrafrecht für Abgeordnete österreichischer Vertretungskörper – Demokratiepolitische Notwendigkeit oder legistischer Missgriff ?, ecolex (2009), 736 (738). Dazu muss aber festgestellt werden, dass die österreichischen Abgeordneten zum EP zwar nicht vom Amtsträgerbegriff der lit a des § 74 Abs. 1 Ziff. 4a KorrStrÄG (2009) umfasst sind, nichtsdestotrotz aber vom weitergehenden Amtsträgerbegriff der lit b umfasst sein können; vgl. dazu Schön/Schuschnigg (Fn. 260), 19. 263 Art. 74 Abs. 1 Z 4a lit a StGB [idF BGBl I 98/2009]. 264 Hinterhofer (Fn. 262), 736 argumentiert, dass damit etwa der gesamte Bereich des „Lobbyings“ vom Amtsträgerbegriff ausgenommen ist.

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rungsträger (§ 31 ASVG) 265. Aufgrund des organisatorisch zu verstehenden Amtsträgerbegriffs der lit b wird als „Dienstnehmer“ jede Person zu verstehen sein, die von einer der genannten Körperschaften des öffentlichen Rechts in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegen Entgelt und unter Einbindung in die Organisationsstruktur derselben beschäftigt ist. Daher fallen zB auch Richteramtsanwärter, Rechtspraktikanten und Verwaltungspraktikanten unter den Begriff des Dienstnehmers der lit. b.266 – „sonst im Namen der in lit b genannten Körperschaften befugt ist, in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen“ (lit. c). Diese Defi nition lehnt sich an die Defi nition des § 302 StGB (Missbrauch der Amtsgewalt) an. Darunter fallen zB der Amtsarzt, die Schöffen und Geschworenen sowie Jagd- und Fischereiaufsichtsorgane, aber auch „beliehene Unternehmer“, wie zB der Kfz-Techniker hinsichtlich der Überprüfung der Fahrtauglichkeit eines Kfz gem § 57a KFG; 267 – „als Organ eines Rechtsträgers oder aufgrund eines Dienstverhältnisses zu einem Rechtsträger tätig ist, der der Kontrolle durch den Rechnungshof, dem Rechnungshof gleichartige Einrichtungen der Länder oder einer vergleichbaren internationalen oder ausländischen Kontrolleinrichtung unterliegt und weit überwiegend Leistungen für die Verwaltung der in lit. b genannten Körperschaften erbringt“ (lit. d) 268. Damit sollen Organe solcher Rechtsträger erfasst werden, in die staatliche Verwaltungstätigkeit im engeren Sinn ausgegliedert wurde, wobei folgende zwei (kumulative) Voraussetzungen vorliegen müssen: Rechnungshof kontrolle und überwiegende Leistungserbringung für die Verwaltung. Als Kontrolleinrichtungen sind neben dem österreichischen Rechnungshof zB auch Einrichtungen wie das Kontrollamt der Stadt Wien, der Niederösterreichische Landesrechnungshof oder der Europäische Rechnungshof zu verstehen. Die Leistungserbringung muss per se für den Betrieb eines Rechtsträgers und nicht gegenüber der Allgemeinheit erbracht werden, wobei als Rechtsträger Unternehmen zB der Daseinsvorsorge (zB Elektrizitätsversorgung), die öffentlich-rechtlichen Kammern, der ORF, die Österreichische Post AG, die ASFINAG, die ÖBB-Holding AG, die Austro Control GmbH, die Statistik Austria etc nicht (mehr) in Betracht kommen. Dessen ungeachtet könnte ein Dienstnehmer eines dieser Unternehmen als Amtsträger gem lit c agieren, wie zB ein Postbote hinsichtlich der Zustellung amtlicher Schriftstücke nach dem Zustellgesetz269. Zudem wurde der Begriff des „leitenden Angestellten“ näher spezifiziert – nunmehr sind darunter „Angestellte eines Unternehmens, auf dessen Geschäftsführung ihnen ein maßgeblicher Einfluss zusteht, zu verstehen. Ihnen stehen Geschäftsführer, Mitglieder des Vorstands oder Aufsichtsrats und Prokuristen ohne Angestelltenverhältnis gleich“270. Aufgrund der Erweiterung des Amtsträgerbegriffes auch in Bezug auf Mitglieder inländischer verfassungsmäßiger Vertretungskörper, wird der Deliktstatbestand der 265 266 267 268 269 270

BGBl 189/1955 idF BGBl I 84/2009. Schön/Schuschnigg (Fn. 260), 19. BGBl 267/1967 idF BGBl I 94/2009. Art. 74 Abs. 1 Z 4a StGB [idF BGBl I 98/2009]. BGBl 200/1982 idF BGBl I 10/2004. Art. 74 Abs. 3 StGB [idF BGBl I 98/2009]; vgl. dazu Knötzl (Fn. 16), 117.

Der „Evaluierungsbericht“ (2008) von GRECO über Österreich

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Abgeordnetenbestechung (§ 304a StGB) obsolet, da sich Abgeordnete künftig als Amtsträger auch nach Art. 304 StGB straf bar machen können. Die vormalige „Geschenkannahme durch Amtsträger oder Schiedsrichter“ gemäß § 304 StGB wird durch den Tatbestand der „Bestechlichkeit271“ ersetzt, der der aktiven Bestechung gemäß § 307 StGB wird abgeändert272 und (§ 307a – § 307c StGB) 273 ergänzt.274 Zusätzlich eingefügt wird das Delikt der „Vorteilsannahme275“, die „Geschenkannahme durch Sachverständige“ gemäß Art. 306 StGB wird durch das Delikt der „Vorbereitung der Bestechlichkeit oder der Vorteilsannahme276“ ersetzt und § 306a StGB („Geschenkannahme durch Mitarbeiter und sachverständige Berater“) wird ersatzlos gestrichen. Die „verbotene Intervention“ gemäß § 308 StGB wurde ebenfalls modifiziert277.

b) Die Strafprozessordnung (StPO) Auch die Strafprozessordnung wurde im Rahmen des KorrStrÄG 2009 insofern novelliert, als die Zuständigkeit der KStA ausgeweitet und die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK) 278 gesetzlich verankert wurde279.

c) Das Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK) Unter anderem auch zur Erfüllung internationaler Vorgaben im Bereich der Korruption, insbesondere des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Korruption (UNCAC),280 des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor,281 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption des Europarates282 samt Zusatzprotokoll, des EU-Bestechungsübereinkommens283 sowie des OECD-Bestechungsübereinkommens, wurde ein „Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung“ (BAK) eingerichtet, das mit 1. Jänner 2010 das bisherige „Büro für Interne Angelegenheiten“ (BIA) abgelöst hat.284 271

§ 304 StGB [idF BGBl I 98/2009]. § 307 StGB [idF BGBl I 98/2009]. 273 § 307a StGB [idF BGBl I 98/2009]. § 307b StGB [idF BGBl I 98/2009]. § 307c StGB [idF BGBl I 98/2009]. 274 Vgl. dazu Schön/Schuschnigg (Fn. 260), 21 ff. 275 § 305 StGB [idF BGBl I 98/2009]. 276 § 306 StGB [idF BGBl I 98/2009]. 277 § 308 StGB [idF BGBl I 98/2009]. 278 Vgl. dazu nachstehend Kap. IV.4.c. 279 § 20a Abs. 1 und 2 StPO [idF BGBl I 98/2009]. 280 Vgl. dazu vorstehend Kap. III.1. 281 Vgl. dazu vorstehend Kap. III.2.b.bb. 282 Vgl. dazu vorstehend Kap. III.2.b.cc.(b).(bb). 283 Vgl. dazu vorstehend Kap. III.2.b.bb. 284 Vgl. BlgStenProt BR 8152. 272

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Das BAK wurde mittels Bundesgesetz über die Einrichtung und Organisation des Bundesamts zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK-Gesetz) 285 geschaffen und wird die „Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Korruption“ (KStA) künftig bei der Verfolgung von Korruptionsdelikten unterstützen. Das neu eingerichtete Bundesamt wird unter anderem für sicherheits- und kriminalpolizeiliche Angelegenheiten wegen der im 22. Abschnitt des StGB bezeichneten Handlungen, sowie für die Verfolgung der §§ 153a und 153b, 168b, 146 ff, 168c Abs. 2 und 313 StGB und – unter bestimmten Voraussetzungen – für den Deliktstatbestand der Geldwäscherei gemäß § 165 StGB zuständig sein.286 Das BAK wird somit qualitativ sowohl eine Präventiveinrichtung gem Art. 6 als auch eine Ermittlungsbehörde nach Art. 36 UNCAC287 sein. Des Weiteren soll das BAK zwar im Bundesministerium für Inneres (BMI) angesiedelt bleiben, als organisatorisch außerhalb der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit eingerichtete Organisationseinheit des BMI, aber für das gesamte Bundesgebiet zentrale Funktionen im Bereich der sicherheits- und kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit mit im Korruptionsbereich tätigen ausländischen und internationalen Einrichtungen wahrnehmen.288 Das BAK ist im Unterschied zum BIA, das im Rahmen der allgemeinen kriminalpolizeilichen Kompetenzen des BMI theoretisch für alle gerichtlich straf baren Deliktsformen zu Ermittlungen herangezogen werden konnte, gem § 4 BAK-Gesetz bundesweit lediglich für die Ermittlungen in folgenden fünfzehn Deliktstatbeständen zuständig: Missbrauch der Amtsgewalt (§ 302 StGB), Bestechlichkeit (§ 304 StGB), Vorteilsannahme (§ 305 StGB), Vorbereitung der Bestechlichkeit (§ 306 StGB), Bestechung (§ 307 StGB), Vorteilszuwendung (§ 307a StGB), Vorbereitung der Bestechung oder der Vorteilsannahme (§ 307b StGB), Verbotene Intervention (§ 308 StGB), Untreue unter Ausnützung einer Amtsstellung oder unter Beteiligung eines Amtsträgers (§ 153, 313, 74 StGB), Geschenkannahme durch Machthaber (§ 153a StGB), Wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Vergabeverfahren (§ 168b StGB), Schwerer Betrug (§ 147 StGB) sowie Gewerbsmäßiger Betrug (§ 148 StGB) aufgrund einer solchen Absprache, Geschenkannahme durch Bedienstete oder Beauftragte (§ 168c Abs. 2 StGB), Geldwäscherei (§ 165 StGB), soweit die Vermögensbestandteile aus oben genannten Vergehen oder Verbrechen herrühren, Kriminelle Vereinigung oder Kriminelle Organisation (§§ 278 und 278a StGB), soweit diese auf die Begehung oben genannter Vergehen oder Verbrechen ausgerichtet ist, Straf bare Handlungen nach dem StGB sowie nach den strafrechtlichen Nebengesetzen, soweit diese mit den Ziffern 1 bis 13 in Zusammenhang stehen und soweit diese über schriftlichen Auftrag eines Gerichtes oder einer Staatsanwaltschaft zu verfolgen sind und straf bare Handlungen nach dem StGB sowie nach den strafrechtlichen Nebengeset285 Bundesgesetz, mit dem das Sicherheitspolizeigesetz geändert und ein Bundesgesetz über die Einrichtung und Organisation des Bundesamts zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung erlassen wird (BGBl I Nr 72/2009). 286 § 4 des BG über die Einrichtung und Organisation eines Bundesamts zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung. 287 Vgl. dazu vorstehend Kap. III.1. 288 § 1 des BG über die Einrichtung und Organisation eines Bundesamts zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung.

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zen von öffentlich Bediensteten aus dem Ressortbereich des BMI, soweit diese über schriftlichen Auftrag eines Gerichtes oder einer Staatsanwaltschaft zu verfolgen sind. Mit dieser taxativen Aufzählung folgt das BAK-Gesetz dem Kompetenzkatalog der komplementär strukturierten KStA, wenngleich damit auch große Teile der – qualitativ und quantitativ durchaus relevanten – Korruption im privaten Sektor nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich dieser beiden Spezialdienststellen fallen. Neu geregelt wurden durch das BAK-Gesetz insbesondere die folgenden Bereiche: (a) für Maßnahmen der Korruptionsprävention gibt es nun einen umfassenden, wenn auch nicht genau umschriebenen gesetzlichen Auftrag (§§ 1 und 4 Abs. 3 BAK-Gesetz); (b) die Bestellung des Direktors und seines Stellvertreters erfolgt nach Anhörung der Präsidenten des VfGH, VwGH und des OGH für eine Funktionsdauer von fünf Jahren (§ 2 BAK-Gesetz). Beide Funktionäre unterliegen einem generellen Nebenerwerbsverbot – mit Ausnahme von Publikationen und Lehre; (c) das bisher nur im BMI herrschende „Allgemeine Melderecht“ außerhalb des Dienstweges gilt nun für alle Bundesbediensteten (§ 5 BAK-Gesetz); (d) allfällige Weisungen an das BAK in einem bestimmten Verfahren sind zukünftig nur mehr schriftlich zu erteilen und zu begründen. Eine aus besonderen Gründen zunächst nur mündlich erteilte Weisung ist unverzüglich schriftlich nachzureichen § 7 BAK-Gesetz); (e) die Einrichtung einer sog Rechtsschutzkommission (§§ 8 und 9 BAK-Gesetz), die sich mit etwaigen Vorwürfen gegen das BAK zu beschäftigen hat; (f ) die Personalvertretungsagenden für das BAK werden von der zentralen Personalvertretung des BMI wahrgenommen.289

Postscriptum Zwischen der Abfassung und der Druck legung des gegenständlichen Manuskripts hat sich ein wichtiger Vorfall ereignet, der unbedingt nachgetragen werden muss. Zur Umsetzung der UNCAC kam es im Sommer 2010 – aufgrund einer gemeinsamen Initiative der UN-Office on Drugs and Crime (UNODC), der österreichischen Bundesregierung, des European Anti-Fraud Office (OLAF) sowie weiterer Initianten – zur Gründung der „International Anti-Corruption Academy“ (IACA) mit Sitz in Laxenburg bei Wien.290 Auf einer Konferenz, die im September 2010 unter Beteiligung von 120 Mitgliedstaaten der VN sowie zahlreiche (I)NGOs in Wien stattgefunden hat, wurde das Statut der IACA von 35 Staaten und einer IO unterzeichnet. Die IACA, deren Mitgliedschaft allen Staaten und IOs offen steht, soll Mitte 2011 als Internationale Organisation mit eigener völker recht licher Rechtspersönlichkeit er richtet werden. Die hauptsächliche Zweckbestim mung der IACA ist die Ausbildung, das Training und die Erzielung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der Bekämpfung von Korruption.

289 Vgl. dazu Kreutner, Das neue Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK). Neue Spielregeln, in: Wiener Zeitung, 16. Dezember 2009, 7. 290 IACA, A-2361 Laxenburg, Münchendorferstrasse 2; www.iaca-info.org.

Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz von

Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M., Leipzig Einleitung: „Als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ „Als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, war schon im Jahre 1949 Leitmotiv offener Staatlichkeit1, das die Präambel des Grundgesetzes einer Betätigung der verfassungsgebenden Gewalt des Deutschen Volkes zur Zielvorgabe machte. Tiefer hätte die historische Zäsur nach Überwindung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nachdrücklicher hätte das mit dem Verfassungsvorspruch gegebene Integrationsversprechen nicht ausfallen können.2 Wie stark gerade die Idee der europäischen Einigung die Arbeiten am Grundgesetz prägte, wie selbstverständlich der Gründergeneration die internationale Einbindung war, mag aus der historischen Rückschau erstaunen.3 Das Erstaunen wird umso größer, wenn heute europäische und internationale Integration in vielerlei Hinsicht eher als Krisenphänomene denn Zukunftsoptionen wahrgenommen werden.4 Die Euro1 Wegweisend K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetztes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; sodann W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967; R. Bernhardt, Verfassungsrecht und internationale Lagen, DÖV 1977, S. 457 ff.; unter Zugrundlegung des Kooperationsgedankens weiterführend P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff.; weiterhin H. Mosler, Die Übertragung von Hoheitsrechten, in: HStR, Bd. VIII, 1. Aufl. 1992, § 175 Rn. 10; U. di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; ders., Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff.; K.-P. Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 19 ff.; mit spezifi schem Blick auf den europäischen Integrationsprozess B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, in: FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff.; für eine instruktive Übersicht schließlich R. Wahl, Der offene Staat und seine Rechtsgrundlagen, JuS 2003, S. 1145 ff. 2 K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2008, § 14 Rn. 1. 3 Ebd., Rn. 2; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, § 10. 4 Zum Begriff der Krise H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgerichts in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), S. 1 ff.

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päische Union hat ihre „Verfassungskrise ohne Verfassung“ längst hinter sich; der Vertrag von Lissabon weckt (mitunter diffuse) Ängste vor der Erosion staatlicher Verfasstheit und nationaler Identität. Gegen das Zustimmungsgesetz wurde vor dem Bundesverfassungsgericht sogar das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG in Stellung gebracht.5 Der aktuelle Streit um den Rettungsschirm für Griechenland und andere in Finanznot geratene EU-Staaten befördert weitere Beunruhigung.6 Auf globaler Ebene tut die Finanzkrise desgleichen.7 Warum im Rahmen internationaler Mandate deutsche Soldaten in Afghanistan oder vor dem Horn von Afrika zum Einsatz kommen, ist im politischen Diskurs nur schwer vermittelbar. Abstrakt also sind der Dienst am Weltfrieden in internationalen Verantwortungsgemeinschaften und die bereitwillige Mitwirkung am Europäischen Integrationsprozess gewiss willkommene Identitätszuschreibungen der politischen Gemeinschaft unter dem Grundgesetz, in ihrer konkreten Umsetzung kommt es indes zum Schwur. Gerade dem Tag für Tag neuen Einigwerden Europas fehlt häufig jene Strahlkraft der großen politischen Ideen, die in seinen konstitutionellen Texten klassisch präsent sind.8 Europa als „Einheit in Vielfalt“ ( J. Ch. Burckhardt) 9 lässt sich leichter ausbuchstabieren als leben respektive politisch mit Leben füllen. Nicht zuletzt für die jüngeren Generationen, die Europas Trümmerfeld nach 1945 nicht mehr aus eigener Anschauung, die leidvolle Erfahrungen und leidenschaftliches Europawerben der Gründerjahre allenfalls noch aus dem Geschichtsunterricht kennen10, ist das heute integrierte Europa ein mehr oder weniger selbstverständliches „Faktum ohne besonderen Charme“11. Ein europäisches „Wir- Gefühl“12 bleibt weiterhin Desiderat, ein weltbürgerliches „WirGefühl“ rückt in noch sehr viel weitere Ferne. Der offene Verfassungsstaat muss sich seiner Offenheit daher immer neu vergewissern und werbend für sie eintreten. Es gilt einerseits deutlich machen, dass „offene Staatlichkeit“ gerade keine staatliche Selbstaufgabe will; dass „offene Staatlichkeit“ die vertraute politische Einheit im Verfassungsstaat nicht in Frage stellt, sondern sie vielmehr zur Voraussetzung hat und auf ihr auf baut. Es gilt anderseits aber auch herauszustellen, dass Souveränitätsverzicht durch Integration nicht Souveränitätsverlust bedeuten muss, sondern Souveränitäts-

5 Vgl. BVerfGE 123, 267 (313 f.); die Zurückweisung dieses Ansinnens erfolgte durch das Gericht mit der wünschenswerten Eindeutigkeit, ebd. S. 333. 6 D. Schwarzer, Governance-Dynamik in der Eurozone, Parl. Beilage 18 (2010), S. 16 ff. 7 Ch. Ohler, International Regulation and Supervision of Financial Markets after the Crisis, European Yearbook of International Economic Law (EYIEL), Bd. 1 (2010), S. 3 ff. 8 Zu denken ist etwa an den von Frankreich ausgehenden Menschenrechtsuniversalismus, vgl. L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 2. Aufl. 1991, S. 231 ff. 9 Grundrechtsspezifi sch A. Weber, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnung(en), DVBl. 2003, S. 220 ff. 10 Zu denken ist überdies an W. Churchills Neuordnungsideen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, dazu M. Seidel, Der europäische Verfassungsprozess und Winston Churchills Züricher Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, EuZW 2008, S. 1. 11 U. Sarcinelli/M. C. Herrmann, Europa in der Wahrnehmung junger Menschen – Bedingungen und Konsequenzen für Politikvermittlung und politische Bildungsarbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B25–26/98 (12. Juni 1998), S. 10 ff., 11. 12 A. Deringer, Europäisches Parlament und Maastrichturteil des Bundesverfassungsgerichts, in: FS U. Everling, Bd. I, 1995, S. 248 ff., 251: Gemeinsame Identität aus einem „Wir-Gefühl“, das gerade keine Homogenität voraussetzt.

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gewinn durch neue, integrative wie integrierte Handlungs- und politische Gestaltungsmacht des Nationalstaates sein kann.13

I. Souveränität und offene Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Schon die Literatur der frühen Jahre14 sprach, in Anlehnung an den eingangs zitierten Präambeltext, von einer „demokratischen Wendung zu einer internationalistischen Grundeinstellung“. Sie bezog sich dabei auch auf die Anerkennung der eigenen unrechtsstaatlichen Vergangenheit und auf eine gleichsam „kathartische“ Abkehr vom nationalsozialistischen Regime.15 Zu dieser Katharsis gehört seither die bewusste Loslösung von einer „selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit“ ebenso wie der Bruch „mit allen Formen des politischen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung – auch als Angriffskrieg – für ein selbstverständliches Recht des souveränen Staates hielt“16. Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, wie sie das Grundgesetz versteht, war folglich niemals ungebunden, sondern von vornherein durch universelle Gerechtigkeitsbedingungen ebenso wie durch völkerrechtliche Bindungsmaßstäbe determiniert. „Bindungslose Selbstherrlichkeit“ und „rücksichtslose Interessendurchsetzung“ will „das souveräne Selbstbestimmungsrecht der politischen Gemeinschaft“ weder fördern noch schützen.17

13 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 209 ff.; weitere Nachweise zur rechtsebenso wie zur politikwissenschaftlichen Diskussion bei M. Kotzur, Sovereignty and the European Federal Constitution – New Perspectives on Sovereignty in a Multilevel Scheme of Constitutionalism, The Federalist 2008, S. 131 ff. 14 H. Kraus, Die auswärtige Stellung der Bundesrepublik nach dem Bonner Grundgesetz, 1950, S. 21. Und mehr als 50 Jahre später betont die höchstrichterliche Rechtsprechung aus Karlsruhe: „Das Grundgesetz hat die öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24) und auf die europäische Integration (Art. 23 GG) festgelegt (BVerfGE 111, 307, 318 – Görgülü). 15 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 36.; P. M. Huber, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Präambel Rn. 41 ff.; allg. Ch. Starck, W. Berg und B. Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51 (1992), S. 9 ff., S. 46 ff. und S. 91 ff.; allg. auch M. Bermanseder, Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat, 1998. 16 So BVerfGE 123, 267 (346), mit Verweis u. a. auf Ch. Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 356 f. Diese und die folgenden Passagen aus dem wegen seines teilweise retrospektiven Souveränitätsverständnisses zu Recht kritisierten Lissabon-Urteil (vgl. etwa P. Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 ff.) seien bewusst zitiert, um jene prospektiven Souveränitätsargumente zu unterstreichen, die das Gericht im gleichen Urteil auch durch den Sprachstil besonders stark macht – und in ihrer Konsequenz dann doch nicht vollständig umsetzt. 17 BVerfGE 123, 267 (344). Auch für die frühe Politik der Westintegration und Europäischen Einigung unter Bundskanzler K. Adenauer wirkte ein solches Souveränitätsdenken wegleitend, vgl. W. Weidenfeld, Konrad Adenauer und Europa. Die geistigen Grundlage der westeuropäischen Integrationspolitik des ersten Bonner Bundeskanzlers, 1976; A. Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer: Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963, 2. Aufl. 1988.

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Die Betätigung dieses Selbstbestimmungsrechts blieb indes im Jahre 1949, so kurze Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges, angesichts von Besatzung und beginnendem „Kalten Krieg“ in mehrfacher Hinsicht defizitär: nicht das ganze Deutsche Volk konnte von seiner pouvoir constituant Gebrauch machen – in der ursprünglichen Präambelfassung hieß es noch aussagekräftig, der gestaltungsmächtige Teil des Volkes habe auch für „jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.“18 In Bruch mit den überkommenen Regeln der Verfassungsgebung fehlte es weiterhin an einer Volksabstimmung über das Verfassungswerk, das ohnehin nur Provisorium19 sein und einem bloßen „Staatsfragment“20 vorläufige konstitutionelle Einheit verleihen sollte. Vor allem aber führte der Akt der Verfassungsgebung nicht zu voller – immer verstanden als völkerrechtlich gebundener und instrumental auf den Menschen hin gedachter21 – Souveränität der Bundesrepublik Deutschland.22 Diese „volle Souveränität“ blieb einer Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands mit der Wiedervereinigung vorbehalten und fand im 2+4-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den Alliierten 1990 ihren völkerrechtlichen Niederschlag.23 Mag dieser Souveränitätsgewinn rechtlich nicht an den europäischen Integrationsprozess gebunden gewesen sein, politisch war er es ohne Zweifel. Deutsche und europäische Einigung standen in enger Wechselwirkung, nur das europäisch integrierte Deutschland durfte auf ein Ja zur Wiedervereinigung seitens der Alliierten und der internationalen Gemeinschaft als solcher hoffen.24 Die integrationsbedingten Souveränitätsverluste waren für die Bundesrepublik von Anfang an ein Souveränitätsgewinn.25 Gerade aus dieser Perspektive wird schnell verständlich, war18 P. M. Huber, in: M. Sachs (Hrsg.), GG. 5. Aufl. 2009, Präambel Rn. 4 ff. Für eine weit ausgreifende Dokumentation sei verwiesen auf M. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949: Die Entstehung des Grundgesetzes, 1998. 19 Dass die GG-Präambel deshalb eine unzutreffende Beschreibung der Entstehungsgeschichte beinhalte, wurde immer wieder kritisiert, statt aller etwa D. Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 96 und öfter. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 68 weist überzeugend nach, warum diese Kritik jedenfalls in ihrer Rigidität fehlgeht und der „komplexen Legitimationsfigur“ der verfassunggebenden Gewalt nicht gerecht wird. Die Abweichung vom tradierten Standardmodell bleibt dennoch ein die bundesrepublikanische Verfassungsidentität prägendes Faktum. 20 T. Hertfelder/J. Hess (Hrsg.), Streiten um das Staatsfragment. Theodor Heuss und Thomas Dehler berichten von der Entstehung des Grundgesetzes, 1999. 21 Programmatisch J. P. Müller, Wandel des Souveränitätsbegriffs im Lichte der Grundrechte, in: Symposion L. Wildhaber, 1997, S. 45 ff. 22 Grundlegend M. Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederauf bau deutscher Staatlichkeit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 7; R. Mußgnung, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: ebd., § 8; W. Benz, Die Gründung der Bundesrepublik: Von der Bizone zum souveränen Staat, 1984. 23 W. Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, 1991; K. Stern, Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, BayVBl. 1991, S. 523 ff.; Ch. Raap, Ist das vereinte Deutschland souverän?, BayVBl. 1992, S. 11 ff. 24 Diese Auffassung hatte sich bereits im Parlamentarischen Rat durchgesetzt; dazu, etwa unter Bezugnahme auf ein Zitat von Dr. Süsterhenn (CDU), K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2008, § 14 Rn. 5 m. w. N.; M. Bermanseder, Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat, 1998, S. 102 ff. 25 Das gilt es vor allem zu berücksichtigen, wenn die nationale Verfassungsidentität gegen die konstitutionelle Dynamik des europäischen Integrationsprozesses in Stellung gebracht wird, vgl. Ch. Cal-

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um in den letzten 60 Jahren für die deutsche Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz – aber auch für das Bundesverfassungsgericht26 – die gleichberechtigte Einbindung des deutschen Nationalstaates in transnationale Integrations- bzw. Verantwortungsgemeinschaften ein die Verfassungsidentität prägendes „Lebensthema“ war. So hat sich die deutsche Staatsrechtlehrervereinigung manche Kontroversen um das Spannungsverhältnis von staatlicher Selbstbehauptung und Integrationsoffenheit geliefert. Das Themenspektrum ihrer Jahrestagungen 27 zeugt letztlich aber von einer Dynamik des Wandels, für die K. Hesse eine prägende Formel gefunden hat: „Wir leben insoweit von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und die, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bislang als gesichert geltende Bestandteile der Staats- und Verfassungslehre, ist die Geschichte hinweggegangen. Den bekannten Tatbestand jener Wandlungen umschreibe ich hier mit den geläufigen Stichworten: Funktionswandel moderner Staatlichkeit, Internationalisierung oder auch Globalisierung, Europäisierung.“28

Was Hesse durchaus mit dialektischer Stoßrichtung umschreibt, steht in besonders hohem Maße für die Teleologie des Europäischen Integrationsprozesses, aber auch für andere Formen transnationaler Integration. Der (Verfassungs-)Staat bleibt weiterhin die historisch gewachsene, für die Freiheit und Sicherheit ihrer Bürger wirkungsmächtige, „global anerkannte Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft“29. Die Handlungsfähigkeit jedoch mit Autarkie gleichzusetzen, wäre wirklichkeitsblind; die Gemeinschaftlichkeit mit Geschlossenheit zu verwechseln, widerspräche der normativen Orientierung des Grundgesetzes. Gerade die Einbindung in staatenübergreifenden Integrationszusammenhänge – respektive Verantwortungsgemeinschaften – will jene Steuerungsfähigkeit sicherstellen, die jedem Staat für sich genommen angesichts weit ausgreifender Globalisierungsprozesse verloren zu gehen droht. In der EU sind die „Souveränitäten“ zwischen Union und Mitgliedstaaten – anders als in der Vorstellungswelt des Souveränitätsklassikers Jean Bodin – geteilt.30 Durch die freiwillige Übertragung von Hoheitsrechten soll letztendlich der zentrale Zweck jeder Form politischer Gemeinschaftsbildung, die Konliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen (. . .), ZEuS 2009, S. 559 ff. Insgesamt war, auch daran sei bewusst erinnert, die deutsche Rechtsordnung vor der Wiedervereinigung extrakonstitutionell bedingt, dazu M. Herdegen, Extrakonstitutionelle Grundlagen der deutschen Rechtsordnung?, Staat und Recht 39 (1990), S. 697 ff. Für eine Übersicht schließlich H. Bauer, Die Verfassungsentwicklung des wiedervereinigten Deutschland, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 14. 26 Vgl. J. Alshut, Der Staat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1999. 27 Frühe Beispiele geben W. G. Grewe/E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12 (1954), S. 129 ff. bzw. 179 ff.; G. Erler/W. Thieme, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (1960), S. 7 ff. bzw. 50 ff.; J. H. Kaiser/P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 1 ff. bzw. 34 ff. Eine vollständige Übersicht zu den Themen und Berichterstattern fi ndet sich auf der Homepage der Staatsrechtslehrervereinigung unter http://vdstrl.zar-muenster.de/themen.html. 28 K. Hesse, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, in seinen „Einleitenden Bemerkungen“, S. 11 ff., 13. 29 BVerfGE 123, 267 (346). 30 Aus der kontroversen Diskussion, insbesondere seit dem Maastricht-Urteil des BVerfG (E 89, 155)

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kretisierung von Gemeinwohl, nunmehr kooperativ realisiert werden. Auch wo, bei graduell schwächeren Integrationsformen, die Übertragung von Hoheitsrechten nicht in Rede steht, wirkt die Idee kooperativer Gemeinwohlverwirklichung leitmotivisch für die internationale Einbindung und – ihr korrespondierend – für das Verständnis der auswärtigen Gewalt im kooperativ-offenen Verfassungsstaat.

II. Das Verhältnis von überstaatlichem und staatlichem Recht: „praktische Konkordanz“ im Mehrebenensystem Unter dieser Prämisse, und nicht etwa verengt auf normhierarchische Konstruktionsmodelle, gilt es auch die Wechselbezüglichkeit von staatlichem und überstaatlichem Recht zu bestimmen. Der große Schulenstreit über ein monistisches oder dualistisches Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht 31 hatte in der Entstehungszeit des Grundgesetzes längst an Schärfe und Bedeutung verloren. In ihren extremen Varianten waren sowohl der Versuch, Völkerrecht und staatliches Recht als strikt voneinander geschiedene Rechtsordnungen zu begreifen, als auch dessen Gegenmodell, alles Recht auf ein einheitliches staatenübergreifendes System zurückzuführen, letztlich gescheitert und mussten modifizierten Spielarten weichen. Für die in ihrem Art. 25 und 59 Abs. 2 GG gemäßigt dualistische Verfassung der Bundesrepublik sollte bei aller Kooperationsoffenheit nach Außen Völkerrecht nicht ohne weiteres innerstaatlich zu beachten sein; zugleich stand aber die Verfassungspfl icht, innerstaatlich eine völkerrechtskonforme Rechtlage herzustellen, nie in Frage.32 Klassisch dualistisch argumentiert auch das BVerfG, besonders pointiert etwa in seiner umstrittenen Görgülü-Entscheidung33 : „Dem Grundgesetz liegt deutlich die klassische Vorstellung zugrunde, dass es sich beim Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und das die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG. Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes.“

siehe etwa Ch. Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt – oder: Vom Kampf der Rechtsordnungen nach Maastricht, in: FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 29 ff. 31 Klassiker sind etwa H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899; H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920; A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf der Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923; dazu R. Geiger, Heinrich Triepels Lehre über den Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht: ein Rückblick, in: Leipziger Juristenfakultät (Hrsg.), Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 2009, S. 73 ff., und ders., Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, S. 13 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 32 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, S. 14 f.; umfassend Ch. Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren, 2003. 33 BVerfGE 111, 307 (318).

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Das Karlsruher Gericht stellt die Integrationsoffenheit damit – ganz parallel zu seiner Maastricht 34 - und jüngst Lissabon-Entscheidung35 – unter Souveränitätsvorbehalt. Das Grundgesetz erstrebe zwar „die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten“, verzichte aber nicht auf „die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“.36 Deshalb seien solche völkerrechtlichen Normen unbeachtlich, deren Anwendung einen Verstoß gegen die „tragenden Grundsätze der Verfassung“37 respektive – um eine Formulierung des Lissabon-Urteils aufzugreifen – gegen die „Verfassungsidentität“38 darstelle. Gewiss wird in der neueren völkerrechtlichen Literatur mitunter ein „verfassungsrechtliches Widerstandsrecht“ gegen internationale Normen postuliert, die Kernprinzipien der nationalen Verfassungen wie die Grundrechte oder das Demokratieprinzip verletzen.39 Als ultima ratio mag es konstruktiv auf die Fortentwicklung des Völkerrechts wirken, aber nur dann, wenn das übergeordnete Ziel verfassungsstaatlicher Öffnung und internationaler Kooperation seine Leitgesichtspunkte bleiben.40

34 BVerfGE 89, 155; P. Hommelhoff / P. Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994. 35 BVerfGE 123, 267; die Begleitliteratur ist schon nach kurzer Zeit kaum mehr zu überblicken, in Auswahl etwa: Ch. Calliess, Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Parlamentarische Integrationsverantwortung auf europäischer und nationaler Ebene, ZG 2010, S. 1 ff.; W. Cremer, Lissabon-Vertrag und Grundgesetz, Jura 2010, S. 296 ff.; P. Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 ff.; F. J. Lindner, Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Konsequenzen für die europäische Integration, BayVBl. 2010, S. 193 ff.; F. C. Mayer, Rashomon in Karlsruhe, NJW 2010, S. 714 ff.; P.-Ch. Müller-Graff, Das LissabonUrteil – Implikationen für die Europapolitik, ParlBeilage Nr. 18, 2010, S. 22 ff.; U. J. Schröder, Die offene Flanke. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon, DÖV 2010, S. 303 ff.; A. Weber, Die Europäische Union unter Richtervorbehalt?, JZ 2010, S. 157 ff.; M. Wiemers, Der Lissabon-Vertrag und das Bundesverfassungsgericht – Zum BVerfG-Urteil über den Vertrag zur Reform der Europäischen Union, VR 2010, S. 73 ff.; C. D. Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfasungsrechtliches Prokrustesbett?, JZ 2099, S. 881 ff.; K. F. Gärditz/ Ch. Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff.; D. Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, Der Staat 48 (2009), S. 475 ff.; M. Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah?, Der Staat 48 (2009), S. 497 ff.; Ph. Terhechte, Souveränität, Dynamik, Integration – making up the rules as we go along, EuZW 2009, S. 724 ff.; D. Thym, Europäische Integration im Schatten staatlicher Souveränität, Der Staat 48 (2009), S. 559 ff.; R. Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat 48 (2009), S. 587 ff. 36 BVerfGE 123, 267 (319). 37 Ebd. 38 Vgl. K. Dingelmann, Integrationsverantwortung und Identitätskontrolle: Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ZEuS 2009, S. 491 ff.; H. Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil, ZRP 2009, S. 195 ff. 39 Th. Cottier / D. Würger, Auswirkungen der Globalisierung auf das Verfassungsrecht: Eine Diskussionsgrundlage, in: Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung: Die Schweiz im globalen Konzert, 1999, S. 241 ff., 263 f.; A. v. Bogdandy, Pluralism, Direct Effect, and the Ultimate Say: On the Relationship between International and Domestic Constitutional Law, Journal of International Constitutional Law 6 (2008), 397 ff. 40 Ch. Gloria, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 54 Rn. 21 m. w. N.; zur theoretischen Einordnung des Völkerrechts als „Menschheitsrecht“ P. Häberle, Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem“ Geltungsgrund des Völkerrechts, in: FS M. Kriele, 1997, S. 1277 ff.

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Der potentielle Gegensatz zwischen „Verfassungsidentität“ und völkergemeinschaftlichen Erwartungen an die staatlich verfasste Gemeinschaft verliert ohnehin schnell an Schärfe, wird „Souveränität“ nicht zu einer Art Abwehrrecht nach außen umgedeutet. Souveränität meint nichts anderes als „völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit“41; auch die Volkssouveränität, im demokratischen Verfassungsstaat immer mit der inneren und äußern Souveränität zusammenzulesen42, unterliegt diesen Bindungen. Der Staat ist, wie es W. v. Simson klassisch formuliert hat, überstaatlich bedingt43 und das Völkerrecht wird zur „Legitimationsordnung moderner Staatlichkeit“.44 Nicht nur Begriff und Aufgaben, auch die instrumental auf den Menschen hin zu denkenden Legitimationsgrundlagen des Staates sind angesichts der tatsächlichen und rechtlichen Verflechtungen des Globalisierungszeitalters nur unter Einschluss der völkerrechtlichen Perspektive treffend zu verstehen. Für das analytische Begreifen dieser Verflochtenheit der Rechtsordnungen bleiben sowohl Monismus als auch Dualismus zu grobe Raster und haben allenfalls begrenzten Erklärungswert.45. Geeignetere Matrix solcher Verflechtungen, deren internationale Maßstabsnormen46 das nationale Recht teils durchdringen und umformen, teils aber auch rezipieren und damit internationalisieren, ist das Mehrebenensystem, wo es um verfassungsqualitative Momente des „Verflochten-Seins“ geht, der Mehrebenen-Konstitutionalismus.47 Das den Politikwissenschaften entlehnte Modell hat sich für den europäischen Verfassungsraum weithin durchgesetzt und findet auch bezüglich völ41

F. v. Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Bd. I, 1988, S. 416 – aufgegriffen in BVerfG 123, 267 (346), das sich für ein modernes Souveränitätsverständnis interessanter Weise auf einen Gelehrten des 19. Jahrhunderts beruft. 42 J. Kokott, Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, ZaöRV 64 (2004), S. 517 ff. 43 Etwa W. v. Simson, Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: FS C. Aubin, 1979, S. 217 f.; ausführlich P. Häberle / J. Schwarze / W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Die überstaatliche Bedingtheit des Staates: zu Grundpositionen Werner von Simsons auf den Gebieten der Staats- und Verfassungslehre, des Völkerund des Europarechts, 1993. 44 D. Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, 2005, S. 427 f. Schon W. Fiedler (Die Kontinuität des deutschen Staatswesens im Jahre 1990 – Zur Einwirkung des Völkerrechts auf Verfassungslagen, AVR 31 (1993), S. 333 ff., 333) hatte dualistische Denkmodelle überzeugend relativiert: „Das Denken in „dualistischen“ Modellen bediente sich verschiedener Transformationsvorstellungen, um im konkreten Einzelfall alle wirksamen Aspekte einzubeziehen. Eine strenge Unterscheidung etwa zwischen Staatsund Völkerrecht wurde dabei schon früh von „Gemengelagen“ durchbrochen, die vor allem in der Deutschlandfrage für systematische Unklarheit sorgten. Inzwischen steht fest, dass die „Gemengelage“ meist dem jeweils fallbezogenen Verhältnis zwischen nationalem und internationalem Recht entsprach, während die systematischen Unklarheiten eher in den Köpfen der Interpreten entstanden. Dass differenzierende Fragen zu stellen waren, die im konkreten Fall mehr der einen oder mehr der anderen Rechtsmaterie zuzuordnen waren, änderte nichts daran, dass nur der Zusammenhang beider verlässliche Antworten liefern konnte, ohne dass die systematischen Eigenarten des Details in ein notwendig diffuses Licht getaucht werden mussten.“ 45 M. Zuleeg, Der Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der internationalen Beziehungen, DÖV 1977, S. 467 ff., 467. 46 Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 6. 47 I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European ConstitutionMaking Revisited?, Common Market Law Review 36 (1999), S. 703 ff.; jüngst etwa fortentwickelt bei M. Knauff, Der Regelverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, Habilitationsschrift (Manuskriptfassung) 2009, S. 7.

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kerrechtlicher Konstitutionalisierungsprozesse vorsichtigen Anklang. Eine Hierarchisierung der Entscheidungsebenen darf indes nicht impliziert werden.48 Treffende Umschreibungen leisten daher ebenfalls (Leit-)Bilder wie „Politikverflechtung“49, „Mehrebenenverflechtung“50, „Sympolitie“51 oder „Synarchie“52. Auf demokratische Legitimationsprobleme verweist die „Mehrebenen-Demokratie“53. Insgesamt kommt es zu vielfachen, in ihrer Komplexität häufig schwer greif baren Wechselwirkungen zwischen der Konstitutionalisierung des transnationalen Rechtsraumes und der Internationalisierung des Verfassungsrechts.54 Für die wechselseitige Zuordnung dieser Rechtsräume sei daher das von K. Hesse für die Grundrechtsdogmatik entfaltete Prinzip der „praktischen Konkordanz“55 nutzbar gemacht. Ihm zufolge soll die verhältnismäßige Zuordnung von Rechtsgütern so erfolgen, dass beide auch im Kollisionsfall zu optimaler Wirksamkeit gelangen.56 Solch ein Ausgleich erweist sich gewiss schon innerhalb des innerstaatlichen Rechts als schwierig; auf den Ausgleich zwischen potentiell divergierenden Normsystemen lässt sich das Modell erst recht nicht passgenau übertragen. Vor allem darf der harmonisierende Duktus der „Konkordanz“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen den verflochtenen Normierungsebenen zu Normkonfl ikten kommen kann, die notwendigen Abwägungsprozesse mitunter an ihrer Überkomplexität zu scheitern drohen und Vorrang- bzw. Letztentscheidungsfragen nichtsdestoweniger beantwortet werden müssen. Das gelingt aber angesichts des heutigen Intensitätsgrades immer weniger durch kategoriale Scheidung und abstrakten Vorrang des einen oder des anderen. Solcher „Perplexität“ stellt sich das Modell der praktischen – durchaus auch einzelfall-orientiert pragmatischen – Konkordanz. Nichts anderes meinen Stimmen aus der Literatur, die ein „kommunikatives“ statt strikt hierarchisches Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht anmahnen.57 Das Bundesverfassungsgericht 48

Dezidiert P. Badura, Verfassung und Verfassungsrecht in Europa, AöR 131 (2006), S. 423 ff., 426; P. Häberle, VVDStRL 66 (2007), S. 84; jetzt in ders., Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 204 f.; allgemein W. L. Weh, Vom Stufenbau zur Relativität. Das Europarecht in der nationalen Rechtsordnung, 1997, etwa S. 213 ff. 49 F. W. Scharpf / B. Reissert / F. Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; später F. W. Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S. 323 ff. 50 A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 188; ihr folgend J. Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, 2008, S. 75. 51 D. Th. Tsatsos, The European Sympolity: New Democratic Discourses, 2008. 52 D. N. Chryssochoou, Europe as a Synarchy: A Study in Organized Co-Sovereignty, JöR 57 (2007), S. 407 ff. 53 U. di Fabio, Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, 1998, S. 139 ff. 54 B.-O. Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, Der Staat 62 (2003), S. 61 ff.; A. Fischer-Lescano, Globalverfassung, 2005. 55 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), Rn. 317 ff. 56 Ebd., Rn. 318. 57 Nachweise dazu, auch unter Hinweis auf die Arbeiten von Th. Cottier, D. Würger und A. v. Bogdandy bei A. Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), S. 3 ff., 60.

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in seiner Solange-Rechtsprechung58, der EuGH in der Kadi-Entscheidung59 und der EGMR in der Rechtssache Bosphorus60 weisen diesbezüglich praktikable Wege.

III. Die grundgesetzliche Ausgestaltung der „offenen Staatlichkeit“ 1. Eine verfassungstextliche Bestandsaufnahme a) Präambel und Grundrechtsteil Der offene Verfassungsstaat strebt letztlich die Konkordanz seiner Rechtsordnung mit transnationalen Rechtssystemen an. „Offene Staatlichkeit“ ist zunächst aber ein deskriptiver Begriff respektive eine „rechtssoziologische Charakterisierung“.61 Sie reflektiert überdies, was Wirklichkeit werden soll, und dieses Sollen gewinnt hinreichend präzise normative Konturen erst durch die Positivierung im Verfassungstext. Im Sinne einer „gestuften Normativität“ leistet die Verfassungspräambel dabei das grundlegende Bekenntnis, der operative Verfassungsteil die notwendige Konkretisierung. In feierlicher Sprache, zugleich Bürgernähe suchend, wirbt die Präambel semantisch um Integrationsoffenheit und erhebt letztere zum Verfassungsprogramm der Bundesrepublik.62 Und sie tut das nicht nur mit integrationspolitischem Ansporn, sondern durchaus auch mit normativem Anspruch. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem berühmten Grundlagenvertragsurteil (E 36, S. 1 ff.) insoweit eindeutige Stellung genommen. Das Wiedervereinigungsgebot und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes waren im ursprünglichen Präambeltext verankert. Das Gericht betonte nachdrücklich, dass der Vorspruch des Grundgesetzes nicht nur politische Bedeutung, sondern auch rechtlichen Gehalt habe, der sich gerade durch das Zusammenspiel mit den nachfolgenden Verfassungsbestimmungen entfalte.63 Letztere seien „im Lichte“ der Präambel zu lesen. Eine vergleichbare, ihrerseits völkerrechtlich inspirierte Orientierungsfunktion für den grundgesetzlichen Verfassungsstaat übernimmt die Menschenwürdeklausel 58

BVerfGE 37, 271 – Solange I; BVerfGE 79, 339 – Solange II. M. Kotzur, Kooperativer Grundrechtsschutz in der Völkergemeinschaft – zur Rechtsmittelentscheidung des EuGH (Große Kammer) in den verbundenen Rechtssachen Kadi u. a., EuGRZ 2008, S. 673 ff. mit weiteren Nachweisen. 60 EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005 (Bosphorus Airways) – Application no. 45036/98, abruf bar unter http://cmiskp.echr.coe.int.; dazu U. Maier, Der Fall „Bosphorus Airways“ vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – Ein Wendepunkt im Verhältnis der beiden Gerichte und im europäischen Grundrechtsschutz?, Diss. Leipzig, 2010. 61 S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 137. 62 P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, Berlin 1982, S. 211 ff., 245; siehe über das Grundgesetz hinaus A.-C. Kulow, Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages, 1997, zu den kognitiven, deliberativen und voluntativen Elementen von Präambeltexten; M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtschutzes, 2001, S. 102; Einen guten, auch rechtsvergleichenden Überblick gibt am Beispiel des deutschen Grundgesetzes H. Dreier, in: ders., GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 16 ff. Für die Schweiz L. Waser-Huber, Die Präambeln in den schweizerischen Verfassungen, 1988. 63 E 36, 1 (17). 59

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aus Art. 1 Abs. 1 GG64. Die weltweite Menschenrechtsbewegung, die von den Vereinten Nationen ausging und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 einen ersten Höhepunkt fand65, hatte nachhaltige Auswirkungen auf die deutsche Verfassungsgebung des Jahres 1949.66 Die Menschenwürde und die völkerrechtlich postulierten Menschenrechte wurden zum „Maßstab der Verfassungskonkretisierung“ – schon in seiner Genese war das menschenrechtsfreundliche Grundgesetzt damit überstaatlich mitbedingt und mitbestimmt.67 Das in Art. 1 Abs. 2 GG positivierte Bekenntnis des deutschen Volkes zu überpositiven, das heißt „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“, ist zugleich verfassungsrechtliche Öffnung zu völkerrechtlich radizierter Menschenrechtsuniversalität. Denn diese Rechte, so fährt der Verfassungstext fort, sind „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Im wiederum hochfahrend-feierlichen Sprachduktus einer „Grundrechtspräambel“ rezipiert das Grundgesetz das universelle Menschenrechtsideal68, macht es sich präskriptiv als Bekenntnis zu eigen und legt zugleich eine Menschenrechtsbindung deutscher hoheitlicher Gewalt nahe, wo diese extraterritorial handelt. Integrationsoffenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit reflektieren auch manche der speziellen Grundrechtsverbürgungen. Art. 9 Abs. 2 GG verbietet Vereinigungen, die sich „gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten“. Internationale, wenn nicht universelle Kooperationsideale leben von grundrechtlicher Freiheit, können ihr aber auch Grenzen setzen.69 Mit Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG kennt der Grundrechtsteil des Grundgesetzes ein weiteres Element spezifisch „grundrechtsgesicherter“ offener Staatlichkeit. Das vormals vorbehaltlos garantierte Auslieferungsverbot zugunsten deutscher Staatsangehöriger wird eingeschränkt. Der Gesetzgeber darf nunmehr eine Auslieferung vorsehen, wenn es sich um einen Mitgliedstaat der EU oder einen internationalen Gerichtshof handelt – besonders relevant mit Blick auf die Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Weil dabei

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Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 2; K. Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, ARSP Beiheft 110, 2004; K. Lehnig, Der verfassungsrechtliche Schutz der Würde des Menschen in Deutschland und den USA, 2003. 65 Zur AEMR aus Anlass ihres „60. Geburtstages“ B. Fassbender, Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 – eine Einführung in ihre Entstehung, Bedeutung und Wirkung, in: ders (Hrsg.), Menschenrechtserklärung. Neuübersetzung, Synopse, Erläuterung, Materialien, 2009, S. 1 ff.; M. Kotzur, 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – Reflexionen zur Entstehungsgeschichte, Ideengeschichte und Wirkungsgeschichte, MenschenRechtsMagazin Potsdam 2008, S. 184 ff. 66 J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, 2006, § 26, Rn. 3. 67 Programmatisch K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung – Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, AöR 114 (1989), S. 391 ff. 68 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 2 Rn. 11; J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, 2006, § 26, Rn. 82. 69 Siehe R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, S. 306.

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aber rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sein müssen, wird zugleich grundrechtliche Rückbindung gesichert.70

b) Die Integrationshebel aus Art. 23 und 24 GG In Art. 23 n. F., der nach der Wiedervereinigung symbolträchtig an die Stelle des gleichsam verbrauchten Beitrittsartikels getreten ist, öffnet sich das Grundgesetz der politischen Integration Europas und erhebt sie zum prioritären Ziel.71 Die Norm, zugleich Staatszielbestimmung und Integrationsmaßstab72, leistet die verfassungsrechtliche Rückbindung des europäischen Integrationsprozesses und ist damit zugleich selbst konstitutioneller Baustein im europäischen Verfassungsverbund. Letzterer muss, wie die Struktursicherungsklausel aus Abs. 1 S. 1 vorgibt, demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen genügen, dabei das Subsidiaritätsprinzip wahren und einen grundgesetzlichen Standards vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten.73 Eine Fülle prozeduraler Anforderungen will neben den Rechten des Parlaments und den Interessen der Länder insgesamt breite innerstaatliche Konsensfindung in Sachen Integration sichern – und eben das durch konsensstiftende Verfahren.74 Art. 24 GG, vor Neufassung des Art. 23 GG zugleich Grundlage für den europäischen Integrationsprozess, ermöglicht eine noch weitergehende Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, seit geraumer Zeit auch auf sog. „grenznachbarschaftliche Einrichtungen“ zur kleinräumig-kooperativen Ausgestaltung des europäischen Verfassungsraums.75 Nicht verschwiegen sei, dass damit schwierige Fragen nach dem diese Einrichtungen steuernden Recht, vor allem aber nach dem Rechtsschutz der potentiell betroffen Bürger verbunden sind.76 Mit Art. 24 GG, der in der deutschen Verfassungsgeschichte kein Vorbild kennt, war erstmals der nationalstaatliche „Souveränitätspanzer“77 durchschlagen und zwischenstaatlichen 70 Dazu K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy / P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2008, § 14 Rn. 49. 71 V. Skouris, Die mitgliedstaatlichen Verfassungen nach fünfzig Jahren europäischer Integration – Bemerkungen am Beispiel des Grundgesetzes, in: K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, 2010, S. 37 ff., S. 41; M. Cornils, Artikel 23 Abs. 1 GG: Abwägungsposten oder Kollisionsregel, in: AöR 129 (2004), S. 336 ff.; J. A. Frowein, Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 209 ff.; D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses: Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000; F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000. 72 Ch. Starck, Das Grundgesetz heute. Deutsche und europäische Perspektiven, in: K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, 2010, S. 55 ff., 64. 73 Ausführliche Nachweise bei I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 50 ff. 74 K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy / P. Cruz Villalón / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2008, § 14 Rn. 34. 75 M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004. 76 M. Niedobitek, Das Recht der grenzüberschreitenden Verträge, 2001, S. 440 ff. 77 A. Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Grundgesetz, ZaöRV 35 (1975), S. 79 ff., 81 f.

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Einrichtungen die Möglichkeit eines – auch den Bürger verpfl ichtenden – Durchgriffs in den innerstaatlichen Kompetenzraum eröffnet.78 Das plastisch-vereinfachende Sprachbild vom „Integrationshebel“ ist bis heute gebräuchlich.79 Dieser „Hebel“ darf effektiven Rechtsschutz jedoch nicht aushebeln oder Grundrechtsbindungen verkürzen.

c) Art. 25 und 26 GG Im Gegensatz zu Art. 23 GG und Art. 24 GG bleibt Art. 25 GG, auch wenn er über die parallele Bestimmung aus Art. 4 der Weimarer Reichsverfassung hinausweist, stärker im Rahmen traditioneller völkerrechtlicher Öffnungsklauseln und ist kein prägendes Offenheitsspezifi kum des Grundgesetzes.80 Für Art. 59 Abs. 2 GG, der die innerstaatlich Umsetzung völkerrechtlicher Verträge regelt, gilt Paralleles. Dennoch kann die Verpfl ichtung aller staatlichen Organe, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts strikt zu beachten und das gesamte innerstaatliche Recht völkerrechtsfreundlich81 auszulegen, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.82 Dass Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu Bestandteilen des Bundesrechts mit Übergesetzesrang erhebt – ohne sich eindeutig für deren (generelle) Transformation oder (generelle) Adaption auszusprechen83 –, zeugt nicht nur von der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, sondern auch von einer spezifischen Bindung des Handelns der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat sich, wo immer völkerrechtliche Vertretungsmacht aktiviert oder völkerrechtliches Handeln durch innerstaatliche politische Willensbildung vorbereitet wird, an den zentralen Maßgaben der UN-Charta, der „Friendly Relations Declaration“84 oder des Menschenrechte-Völkerrechts zu orientieren. Bezogen auf das Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 UN-Charta gestaltet Art. 26 GG diese Orientierung zum konkreten Verbot des Angriffskrieges aus. Dass unter dem Grundgesetz ebenso wie unter einer „International Rule of Law“ Herr nicht mehr ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet85, könnte kaum sinnfälligeren Ausdruck 78 Früh P. Badura, Bewahrung und Veränderung rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 ff., 54 ff.; ausführliche Nachweise bei K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy / P. Cruz Villalón / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2008, § 14 Rn. 11, Fn. 38. 79 Insoweit heute klassisch H. P. Ipsen, Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, in: Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts – Europarechtliches Kolloquium 1964, 1965, S. 1 ff., 26; später ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 10 Rn. 53. 80 K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy / P. Cruz Villalón / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2008, § 14 Rn. 6. 81 Von „Völkerrechtsfreundlichkeit“ spricht schon BVerfGE 6, 309 (362 f.). 82 Aus der Rspr. z. B. BVerfGE 23, 288 (316); 46, 343 (363); 63, 343 (373); 75, 1 (18); 112, 1 (24); dazu auch R. Streinz, in: M. Sachs, GG-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 25 Rn. 8. 83 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, S. 141. 84 GA Res. 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970. 85 C. Schmitt, Politische Theologie, vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922 (3. Aufl. 1979); in Auseinandersetzung damit R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1958, S. 119 ff., 194; P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, 1957; K. Hesse, Grundfragen einer verfassungsmäßigen Normierung des Ausnahmezustandes, JZ 1960, S. 105 ff.;

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fi nden. Um die Vornahme und Vorbereitung friedensstörender Handlungen effektiv zu sanktionieren, formuliert Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG einen Gesetzgebungsauftrag, der durch § 80, § 80 a oder § 130 StGB, nebenstrafrechtlich durch § 34 Abs. 2 Nr. 2 Außenwirtschaftsgesetz und § 19 Abs. 2 Nr. 2 b Kriegswaffenkontrollgesetz jedenfalls teilweise realisiert ist. Ebenso wichtig sind die im deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) positivierten Straftatbestände des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder der Kriegsverbrechen.86 Die „offene Staatlichkeit“ bedarf, was gerade für den strafrechtsrelevanten Bereich sehr deutlich wird, nicht nur der verfassungsrechtlichen Absicherung, sondern auch der einfachgesetzlichen Konkretisierung.

d) Die bundesstaatlichen Spezifika bei der Ausgestaltung der internationalen Beziehungen Der Pflege der auswärtigen Beziehungen, vor allem in ihren kompetenzrechtlichen Dimensionen, gilt Art. 32 GG. Die Pflege der auswärtigen Beziehungen ist grundsätzlich Sache des Bundes.87 Ihm obliegt die gesamtstaatliche Repräsentanz der Bundesrepublik gegenüber anderen Völkerrechtsubjekten. Neben der Anhörungspfl icht besonders betroffener Länder gesteht Art. 32 Abs. 3 den Ländern im Rahmen ihrer Gesetzgebungszuständigkeit sogar völkerrechtliche Vertragsabschlusskompetenz zu.88 Ob es sich dabei um eine ausschließliche oder lediglich konkurrierende Kompetenzzuweisung handelt, ist bis heute umstritten.89 Eine pragmatische Lösung der Kontroverse hält das Lindauer Abkommen aus dem Jahre 1957 vor.90 Ohne Details vorstellen zu können, sei dessen Grundtenor knapp umrissen: wo immer völkerrechtliche Verträge wesentliche Interessen der Länder berühren – ob sie nun in deren ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit fallen oder nicht – werden diese möglichst frühzeitig unterrichtet, damit sie noch vor Vertragsabschluss rechtzeitig ihre Einwände erheben können. Der nach außen kooperative Verfassungsstaat ist insoweit nach innen kooperativer Bundesstaat.91 Insgesamt zeigt die Verfassungsentwicklung unter dem Grundgesetz – parallel zur Parlamentarisierung – eine immer stärkere Tendenz zur Föderalisierung des auswärtigen Handelns. Gerade im europäischen Verfassungsheute G. Agamben, L’Etat d’exception, 2003; M. García-Salmones, The Ethos of the Rule of Law in International Legal Discourse: Portrait of an Outsider, in: International Community Law Review 10 (2008), S. 29 ff., 33; zahlreiche weitere Nachweise aus der kaum zu überblickenden Lit. bei M. Kotzur, Die Weltgemeinschaft im Ausnahmezustand, AVR 42 (2004), S. 353 ff., 356 ff. 86 BGBl. 2002 I, 2254; zu alldem noch R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, S. 309. 87 Ausführlich dazu und zum Folgenden Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 53 ff.; früh und wegweisend R. Bernhardt, Der Abschluss völkerrechtlicher Verträge im Bundesstaat, 1957. 88 Vgl. BVerfGE 2, 347 (370). 89 Differenziert W. Graf Vitzthum, Der Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, AöR 115 (1990), S. 281 ff. 90 Statt aller hier nur H.-J. Papier, Abschluss völkerrechtlicher Verträge und Föderalismus. Lindauer Abkommen, DÖV 2003, S. 265 ff. 91 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff.; ders., Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 ff.

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verbund haben die Länder nachhaltig um Mitgestaltungskompetenzen gerungen (vgl. Art. 23 Abs. 4 bis 7 GG) 92 und sich für ein „Europa der Regionen“ stark gemacht.93

e) Art. 79 Abs. 3 GG: der „offene Verfassungsstaat“ unter Ewigkeitsvorbehalt Dass auch die Unveränderlichkeitssperre aus Art. 79 Abs. 3 GG Ausdruck „offener Verfassungsstaatlichkeit“ ist, liegt zunächst nicht auf der Hand. Im Gegenteil, wie es das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Vertrag von Maastricht (E 89, 155) und zum Reformvertrag von Lissabon (E 123, 267) unmissverständlich klar gemacht hat, setzt die Norm der Integrationsoffenheit eindeutige Grenzen und dient jedenfalls nach Karlsruher Lesart dem „Bestandsschutz“ deutscher Staatlichkeit ebenso wie der Bewahrung deutscher Verfassungsidentität.94 Umso bemerkenswerter ist eine Passage, die sich auch in der jüngsten Lissabon-Entscheidung fi ndet: „Mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie reagierte das Grundgesetz einerseits auf historische Erfahrungen einer schleichenden oder abrupten Aushöhlung der freiheitlichen Substanz einer demokratischen Grundordnung. Es macht aber auch deutlich, dass die Verfassung der Deutschen in Übereinstimmung mit der internationalen Entwicklung gerade auch seit Bestehen der Vereinten Nationen einen universellen Grund besitzt, der durch positives Recht nicht verändert werden soll.“95 Was zur unveränderlichen Verfassungsidentität gehört, ist auf diese Weise überzeugend völkerrechtlich angereichert. Der Grund der Unveränderlichkeit ist ein universeller, die universellen Prinzipien der UN-Charta widerspiegelnder. Mit dieser überzeugenden Argumentation sind auch die „offene Verfassungsstaatlichkeit“ und die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes unter Ewigkeitsvorbehalt gestellt; die offene Verfassungsstaatlichkeit ist überdies zu einem wesentlichen Element der deutschen Verfassungsidentität gemacht. Karlsruhe locuta.

2. Die Gewährleistungsverantwortung des offenen Verfassungsstaates für seine internationale Handlungsfähigkeit Aus den hier vorgestellten vieldimensionalen verfassungsrechtlichen Öffnungsklauseln, vor allem aber aus der Tatsache, dass die „offene Staatlichkeit“ zu den prägenden Elementen deutscher Verfassungsidentität zählt, sind weitreichende Kon92 Siehe schon S. Hobe, Die auswärtige Gewalt – Tendenzen zur Föderalisierung und Parlamentarisierung, Jura 1986, S. 818 ff.; Ch. Calliess, Innerstaatliche Mitwirkungsrechte der deutschen Bundesländer nach Art. 23 GG und ihre Sicherung auf europäischer Ebene, in: R. Hrbek (Hrsg.), Europapolitik und Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 13 ff.; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 106 ff. 93 Ausführlich Ch. Calliess, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, AöR 121 (1996), S. 509 ff., 513 ff. 94 In kritischer Auseinandersetzung mit der Konzeption des BVerfG I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: R. Bieber / P. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 225 ff. 95 BVerfGE 123, 267 (344).

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sequenzen zu ziehen: die Offenheit muss innerstaatlich wie überstaatlich gestaltet werden. Das setzt einen handlungsfähigen und gestaltungsmächtigen Staat voraus – eben auch und gerade als internationalen Akteur. Mit anderen Worten: Den offenen Verfassungsstaat trifft eine Gewährleistungsverantwortung für seine internationale Handlungsfähigkeit.96 Dieser muss er in allen drei staatlichen Gewalten Rechnung tragen. Das kann seinerseits wiederum sehr konkret und schon auf Verfassungsebene geschehen. So beruht der Schutz der eigenen Staatsangehörigen im Ausland (diplomatischer und konsularischer Schutz) zwar auf Völkerrecht, er hat aber auch im Verfassungsrecht seine individualrechtliche Basis, insbes. in Art. 16 Abs. 1 GG.97 Das kann andererseits abstraktes politisches – insbesondere haushaltspolitisches – Gebot bleiben. Aus der Fülle relevanter integrations- respektive kooperationsvölkerrechtlicher Aufgabenbereiche, die solches Akteurspotential (und die dazugehörige fi nanzielle Leistungsfähigkeit) fordern, seinen etwa hervorgehoben: die Friedenssicherung, die wirtschaftliche Kooperation, die soziale Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, der Menschenrechtsschutz, der Umweltschutz, das Gesundheitsrecht, das Verkehrsrecht, schließlich der technisch-administrative Bereich und die technische Standardisierung.98 Aber auf keinem anderen Feld ist gegenwärtig die staatliche Gewährleistungsverantwortung für seine internationale Handlungsfähigkeit so gefordert wie bei der Finazmarktregulierung.99 Das allzu beliebte politische Mantra der „Alternativlosigkeit“ stellt nicht nur für die lebendige Demokratie, sondern auch für die Gewährleistungsverantwortung des offenen Verfassungsstaates eine ernsthafte Gefährdung dar.

3. Die staatlichen Akteuere im überstaatlichen Wirkungszusammenhang Mit der Frage nach der Gewährleistungsverantwortung verbunden ist die Frage nach den verantwortlichen Akteuren, die „auswärtige Gewalt“ zu gestalten haben. Der Terminus der auswärtigen Gewalt ist dem Grundgesetztext unbekannt, als

96 Grundlegend und prägend für den Begriff der „Gewährleistungsverantwortung“ im Kontext der verwaltungsrechtlichen/verwaltungswissenschaftlichen Privatisierungsdebatte A. Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatlicher Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 ff., 304 ff. Diese Gewährleistungsverantwortung trifft alle staatlichen Gewalten und soll vor allem die Verantwortung des Parlaments nicht auf eine generelle Gewährleistungsverantwortung reduzieren, vgl. BVerfGE 123, 267 (330): „Das Parlament trägt mit anderen Worten nicht nur eine abstrakte „Gewährleistungsverantwortung“ für das hoheitliche Handeln anderer Herrschaftsverbände, sondern die konkrete Verantwortung für das Handeln des Staatsverbandes“. 97 Siehe BVerfGE 37, 217 (241); 55, 349 (364); K. Stern, Die Schutzpfl ichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, S. 241 ff. 98 Nachweise bei D.-E. Khan / A. Paulus, Gemeinsame Werte in der Völkerrechtsgemeinschaft?, in: I. Erberich u. a. (Hrsg.), Frieden und Recht, 1998, S. 217 ff. 99 J. Matthes, Die Rolle des Staates in einer neuen Weltwirtschaftsordnung, 2009; P. Nobel, FINMAG – Ende der Magie, SJZ 2009, S. 253 ff.; H.-G. Henneke, Sparkassen- und Landesbankenstruktur nach der Finanzkrise, DVBl. 2010, S. 472 ff.; noch vor der Finanzkrise S. Weber, Bankenregulierung im Spannungsfeld zwischen gemeinschaftlicher Harmonisierung und faktischer Vereinheitlichung im Rahmen des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht, in: Ch. Calliess/H. Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, 2004, S. 141 ff.

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Grundgesetzkontext dafür aber umso geläufiger.100 Verfassungsrechtslehre und Verfassungspraxis sehen in ihm einen zweckmäßigen Sammelbegriff, der in einem weiteren Sinne die Pflege aller auswärtigen Angelegenheiten, in einem engeren Sinne die Summe aller staatlichen Kompetenzen zur Gestaltung der internationalen Beziehungen meint. Schnell wird damit deutlich, dass die auswärtige keine eigenständige Gewalt im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre ausformt. Sie ist nicht etwa vierte Gewalt neben der Exekutive, Legislative und Judikative, sondern wird von diesen je funktionenspezifisch ausgeübt respektive kontrolliert.101 Diese Ausübung ihrerseits ist durch die offene Verfassungsstaatlichkeit des Grundgesetzes bedingt und hält – in den Grenzen von Art. 23 Abs. 2 S. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG – das innerstaatliche Verfassungsrecht rezeptionsoffen für die Entwicklungen des Völker- und Europarechts.102 Auswärtige Gewalt ist deshalb immer auch ein Stück weit Integrationsgewalt, 103 eingebunden in das System von „checks and balances“, rechtsstaatlich zu bändigen und demokratisch zu legitimieren. In diesem gewaltenteilig organisierten Institutionengefüge obliegt dem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt die völkerrechtliche Vertretung (Art. 59 Abs. 1, Art. 58 GG, Art. 11 GOBREg).104 Er hat in seiner Funktion des höchsten Repräsentanten, was klassischen völkerrechtlichen Vorstellungen und monarchischer Tradition entspricht, die umfassende Befugnis zur Außenvertretung. Diese ist angesichts seiner limitierten Kompetenzen allerdings rein formaler Natur und kann überdies auch auf andere Verfassungsorgane delegiert werden. Die Praxis differenziert hier je nach tätig werdendem Vertretungsorgan zwischen Staatsverträgen, Regierungsabkommen und Ressortabkommen. Eine eigenständige politische Gestaltungskompetenz hat der Bundespräsident nicht. Er tritt auch nach außen hin in staatsnotarieller Funktion auf.105 Die politische Außenvertretung gehört indes zur Zuständigkeit der parlamentarisch verantwortlichen Akteure (Bundeskanzler, Außenminister). Es korrespondiert gängiger völkerrechtlicher Praxis, auch die formale völkerrechtliche Vertretungskompetenz auf diese zu delegieren (vgl. Art. 59 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 7 Abs. 2 lit. a WVK).106 Eine Vertretung der Bundesrepublik durch den Bundespräsidenten im Europäischen Rat bleibt aufgrund von Art. 23 Abs. 6 GG, Art. 15 Abs. 2, Art. 16 EUV von vornherein ausgeschlossen.

100 W. Fiedler, Auswärtige Gewalt und Verfassungsgewichtung, FS H.-J. Schlochauer, 1981, S. 57 ff.; B. Ehrenzeller, Legislative Gewalt und Außenpolitik, 1993. 101 Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 1; W. Kluth, Die verfassungsrechtlichen Bindungen im Bereich der auswärtigen Gewalt nach dem Grundgesetz, in: FS K. H. Friauf, 1996, S. 197 ff.; W. G. Grewe, Zum Verfassungsrecht der Auswärtigen Gewalt, AöR 112 (1987), S. 521 ff.; G. H. Reichel, Die auswärtige Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 1967. 102 Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 13. 103 A. Ruppert, Die Integrationsgewalt, 1969. 104 K. Schlaich, Die Funktion des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 2, 2. Aufl. 1998, § 49 Rn. 43 ff.; jetzt M. Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: ebd., Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 62 Rn. 42 ff. 105 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 221, 224. 106 Siehe U. Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1986, S. 205 ff.

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Damit steht die herausgehobene außenpolitische Funktion der Exekutive (Gubernative) außer Frage. Die Exekutive trifft nicht nur die wesentlichen außenpolitischen Entscheidungen sondern ist auch maßgeblicher Akteur auf der internationalen bzw. supranationalen Ebene.107 Damit verbunden bleibt das Risiko einer Entparlamentarisierung, wo, etwa im Rahmen der EU, vergemeinschaftete (unionalisierte) Rechtsetzung in Rede steht oder Recht in intergouvernementalen Mechanismen erzeugt wird.108 Eine stärkere Beteiligung der Legislativen soll auf europa- wie völkerrechtlicher Ebene Kompensation schaffen. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erstreckt die Kontrollrechte des Bundestages bewusst auf die Vertragsgewalt.109 Das gilt, wenn hochpolitische Verträge betroffen sind. Dazu rechnen solche, die die Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit, letztlich seine „Gewährleistungsverantwortung“ in der Staatengemeinschaft betreffen.110 Dazu rechnen weiterhin all die Verträge, zu deren innerstaatlichen Umsetzung ein Gesetz notwendig ist, um einer Erosion des Gesetzesvorbehalts entgegen zu wirken.111 Für die europäische Integration hält Art. 23 Abs. 3 als lex specialis noch weitergehende Beteiligungsrechte des Parlaments vor112 ; hinsichtlich der Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon hat das BVerfG extrem restriktive Kriterien vorgegeben.113 Das Karlsruher Gericht unterstellt die auswärtige Gewalt als solche einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle114, ist aber durchaus zu einer Reduzierung der Kontrolldichte bereit.115 Gerade im grundrechtssensiblen Bereich darf diese Reduzierung 107 Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 22; U. Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1986, S. 16. Hier sind durch verstärkte zwischenstaatliche Kooperation und supranationale Organisation die stärksten Veränderungen im Laufe von 60 Jahren Grundgesetz zu beobachten. In der Europäischen Union haben über den Rat die mitgliedstaatlichen Exekutiven auch auf den Rechtssetzungsprozess bestimmenden Einfluss. Verschiedene Varianten der Komitologie treten hinzu und wecken bei manchen die Befürchtungen einer europäischen „Technokratie“. Auch intergouvernementale Mechanismen bedingen eine Verschiebung des innerstaatlichen Kräfteverhältnisses zugunsten der Exekutiven. Das Wirtschafts- und Währungsrecht liefert manches Anschauungsmaterial. Eindringlicher noch beweist das Vorgehen des UN-Sicherheitsrates bei seinen Anti-Terrormaßnahmen, wie weit die Bindung an Sicherheitsratssanktionen ohne unmittelbare demokratische Legitimation und ohne hinreichende gerichtliche Kontrolle reichen kann. Die oben (Fn. 59) zitierte Kadi-Entscheidung des EuGH kann hier als wegweisend gelten. 108 M. Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung, VVDStRL 62 (2003), S. 7 ff., 26 ff. 109 Dazu bereits BVerfGE 1, 372 (390) 110 BVerfGE 40, 141 (164). 111 BVerfGE 1, 372 (388 f.) 112 J. Kokott, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, DVBl. 1996, S. 937 ff., 943 f.; stärker die erweiterten parlamentarischen Mitwirkungsrechte betonend R. Wolfrum, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 38 ff., 57 f. 113 BVerfGE 123, 267 (369 ff.). Bei aller introvertierten Verengung ist die Stoßrichtung als solche modern: sowohl in der Europa- als auch in der Völkerrechtslehre wird eine immer intensivere und möglichst frühzeitige Beteiligung der nationalen Parlamente bei allem völkerrechtsrelevantem Handeln der staatlicher Akteure gefordert. Wenn der Reformvertrag von Lissabon die Subsidiaritätskontrolle stärkt, den mitgliedstaatlichen Parlamenten im Rahmen des „Frühwarnsystems“ eine „orange Karte“ zugesteht, macht er mit dieser Forderung seinerseits ernst. 114 Seit BVerfGE 4, 157 (161); umfassend G. F. Schuppert, Die verfassungsrechtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 1973, S. 162 ff. und öfter. 115 Solche funktionellrechtlichen Grenzen hatte schon K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, FS H. Huber, 1981, S. 261 ff., angemahnt.

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jedoch ihrerseits nicht zu weit gehen.116 Maßstäbe setzt hier die – auch von anderen Gerichten aufgegriffene – Solange-Rechtsprechung. Gemäß seiner „Solange I“-Entscheidung117 wollte Karlsruhe nicht darauf verzichten, auch gemeinschaftsrechtliche (heute unionale) Hoheitsakte an nationalen Grundrechtsstandards zu messen. Das war kein deutscher Sonderweg. In ganz ähnlicher Weise entschied auch der Italienische Verfassungsgerichtshof. Der EuGH reagierte rasch und konsequent. Er entwickelte im wertenden Rechtsvergleich unter Heranziehung der mitgliedstaatlichen Grundrechtsstandards schrittweise die unverzichtbaren Unionsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze.118 Frühe, auch methodisch wegweisende Leitentscheidungen sind die Fälle Stauder119, Internationale Handelsgesellschaft120 und Nold121. Sie machen unmissverständlich klar, dass sowohl das Unionshandeln als auch das Handeln der Mitgliedstaaten grundrechtsgebunden sind und in den je nationalen bzw. im europäischen Grundrechtekatalog ihre zwar eigenen, aber durchaus interdependenten Rechtsquellen finden.122 Die „verbundoffene“ Verfassungsstaatlichkeit hätte keinen treffenderen Beleg fi nden können.

4. Ein Beispielsfall: Die Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte Ein Lehrstück zur immer intensiveren Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt bildet die Rechtsprechung des BVerfG zum Auslandseinsatz von Bundeswehrstreitkräften. Seine ursprüngliche Annahme zugunsten einer Prärogative der Exekutive123 hat das Gericht immer stärker relativiert. Es verlangt zwar noch immer keine gesetzliche Grundlage im Sinne eines Entsendegesetzes, wohl aber einen konstitutiven Parlamentsbeschluss. Als „Parlamentsheer“ dürfe das Machtpotential der Bundeswehr nicht ausschließlich der Exekutive überantwortet bleiben, sondern müsse sich in das Gesamtgefüge der demokratischen Verfassungsordnung einfügen.124 Mag die auswärtige Gewalt auch eine Domäne der Exekutive bleiben und in weiten Teilen zum Kernbereich ihrer Eigenverantwortung rechnen, ist das Parlament jedenfalls dann und dort mit einzubinden, wo wesentliche Grundrechtspositionen – hier der im Einsatz befi ndlichen deutschen Soldaten – betroffen sind („Grundrechtswesentlichkeit“). 116 Siehe Th. Giegerich, Verfassungsrechtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat: Vergleichende Bestandsaufnahme mit Ausblick auf die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, ZaöRV 57 (1997), S. 409 ff., 446 ff. 117 BVerfGE 37, 271. 118 R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 759 ff.; R. Schwartmann, Europäischer Grundrechtsschutz nach dem Verfassungsvertrag, AVR 43 (2005), S. 129 ff., 132 f. m. w. N.; J. Kühling, Grundrechte, in: A. v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 ff., 586 ff.; G. Nicolaysen, Die gemeinschaftsrechtliche Begründung von Grundrechten, EuR 2003, S. 719 ff. 119 EuGH Rs. 29/69, Slg. 419. 120 EuGH Rs. 11/70, Slg. 1125. 121 EuGH Rs. 4/73, Slg. 491. 122 M. Ruffert, EU-Staaten als Verpfl ichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518 ff. 123 BVerfG 68, 1 (80 ff.). 124 BVerfGE 90, 286 (381 f.). Einzelheiten und Kritik bei Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 39 ff.

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Die Grundrechtsradizierung der auswärtigen Gewalt wird insgesamt umso wichtiger, je intensiver internationale Akteure normsetzend tätig werden und je selbstverständlicher nationale Akteure jenseits ihres eigenen Hoheitsgebietes handeln. Für die erste Variante liefern die Antiterrorresolutionen und das „smart sanctions“-System des UN-Sicherheitsrates, mit der Kadi-Entscheidung bereits angesprochen, für die zweite Variante Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan oder vor Somalia wichtige Beispiele. Sind die Grundrechte im Sinne von Art. 1 Abs. 2 GG Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft und binden sie im Sinne Art. 1 Abs. 3 GG die staatlichen Gewalten umfassend, so ist diese Bindung nicht auf innerstaat liches Handeln begrenzt. Sie wirkt überall dort, wo deutsche Hoheitsgewalt ausgeübt wird. Nur das wird dem von Art. 1 GG erhobenen Universalitätsanspruch gerecht.125 Parallelen lassen sich auch im EMRK-Recht erkennen.126 Grundsätzlich besteht die Menschenrechtsverpfl ichtung aus der EMRK für staatliches Handeln auf dem jeweiligen Territorium des Mitgliedstaates. Hiervon hat der Gerichtshof jedoch wichtige Ausnahmen zugelassen. In ständiger Rechtsprechung bejaht er eine Verpfl ichtung aus Art. 3 EMRK in solchen Auslieferungs- oder Ausweisungsfällen, bei denen die Rechtsverletzung im aufnehmenden Staat droht. Des Weiteren können Militäraktionen eine extraterritoriale Grundrechtsverantwortung begründen. Spätestens seit dem KosvoKrieg kommt dieser Frage höchste Aktualität zu. Formal werden die Voraussetzungen, unter denen eine extraterritoriale Bindungswirkung der EMRK zu fordern ist, vor der Interpretation der „Hoheitsgewalt“, der „jurisdiction“ bestimmt. Bei Militäreinsätzen ist sie dann gegeben, wenn der betroffene Staat effektive Kontrolle über fremdes Hoheitsgebiet ausübt. Materiell steht dahinter aber auch der unausgesprochene Universalitätsanspruch jener Menschenrechte, die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft sind – um auf die berühmte Formel aus Art. 1 Abs. 2 GG zurückzukommen.

VI. Abschließende Bewertung Die Stärke einer Verfassung erweist sich nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit, neue Wirklichkeiten zu verarbeiten. Den Funktionswandel moderner Staatlichkeit, mit den schon einleitend genannten Stichworten von Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung skizziert, konnten die Väter und Mütter des Grundgesetzes in seinem heutigen Umfang und seiner heutigen Dynamik kaum voraussehen. Als Phänomene mögen solche ökonomisch und politisch bedingten, kommunikationstechnisch begünstigten „Entgrenzungsprozesse“127 nicht neu sein; sie haben aber in quantitativer Hinsicht so stark zugenommen, dass daraus ein qualitativer Sprung resultiert und sogar die „traditionelle Monopolstellung des Staates als Anbieter von 125 Th. Giegerich, Grund- und Menschenrechte im globalen Zeitalter: Neubewertung ihrer territorialen, personalen und internationalen Dimension in Deutschland, Europa und den USA, EuGRZ 2004, S. 758 ff. 126 Ch. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 11. 127 Von einem „Verlust der territorialen Radizierung des Staates“ spricht U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 97 ff.

„Offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz

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Recht“ in Frage gestellt ist.128 Ein Schwanengesang auf die Staatlichkeit, weder in abstracto noch in concreto auf die grundgesetzlich verfasste Staatlichkeit, sei mit diesem Wirklichkeitsbefund allerdings nicht angestimmt.129 Es geht vielmehr darum, den Territorialstaat, der auf klassisch-hierarchische Steuerungsmodelle vertraute, „in einem Umfeld nicht-hierarchischer grenzüberschreitender Verflechtungen neu zu organisieren“.130 Dazu bedarf es nicht zuletzt auch „des internationalen Juristen“131, der mit rechtsvergleichendem Arbeiten vertraut ist und „seine“ lebende Verfassung, seine „living constitution“ komparatistisch inspirieren kann. Dass Integrationsoffenheit ebenso wie Freiheit immer auch ein Risiko bedeutet, steht außer Frage.132 Ebenso, dass das Grundgesetz im Spannungsfeld von staatlicher Öffnung und staatlicher Selbstbehauptung eine umkämpfte Ordnung bleiben wird.133 Das Leitmotiv dieser stets neuen und stets neu herausgeforderten Ordnungsorientierung steht aber auch für die nächsten 60 Jahre fest: „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

128 A. Peters, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL 69 (2010), S. 7 ff., 15; zum Globalisierungsprozess ferner M. Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das öffentliche Recht, 2004, S. 11 ff.; Ch. Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVBL. 2000, S. 1 ff.; vorher schon F. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des 20. Jahrhunderts, PVS 1991, S. 621 ff. 129 Dezidiert etwa in seinem Eintreten für den Staat als Garanten freiheitlicher Ordnung J. Isensee, Die alte Frage nach der Rechtsfertigung des Staates, JZ 1999, S. 265 ff. 130 Ch. Calliess, Auswärtige Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 4; ders., Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip als rechtliches Regulativ der Globalisierung von Staat und Gesellschaft, Rechtstheorie, Beiheft 20 (2002), S. 371 ff. 131 J. Drolshammer, The Global Groove of the Harvard Yard – Persönliches zur Person in der „Globalisierung und die Anglo-Amerikanisierung von Recht und Rechtsberufen, ZSR 128 (2009), S. 317 ff. 132 H. Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, Rechtwissenschaft 1 (2010), S. 11 ff. 133 G. S. Schaal/C. Ritzi, Das Grundgesetz als umkämpfte Ordnung. Deutungsmuster in der massenmedialen Berichterstattung anlässlich der Jubiläumstage des Grundgesetzes, Behemoth 3 (2010), S. 101 ff.

Das subjektive internationale Recht von

Prof. Dr. iur. Anne Peters, Universität Basel I. Problemstellung Das subjektive Recht bringt die Würde des Menschen zur Geltung.1 Die im subjektiven Recht „angelegten Elemente der Personalität und Individualität“2 sind Ausprägungen eines Menschenbildes, das seit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 auch dem Völkerrecht zugrunde liegt.3 Deshalb ist die Gewährleistung subjektiver Rechte eine der Grundbedingungen einer freiheitlichen internationalen Ordnung, die unter der internationalen „rule of law“ steht und in neuerer Zeit auch demokratische und soziale Leitprinzipien zu verwirklichen sucht. Das Ziel dieses Beitrags ist, erstens, positiv zu zeigen, dass das gegenwärtige Völkerrecht das Institut des subjektiven internationalen Rechts kennt, und zweitens normativ zu begründen, dass diese Rechtsentwicklung mit den grundlegenden Wertvorstellungen des sich konstitutionalisierenden Völkerrechts in Einklang steht. Es soll also, ausgehend vom empirischen Befund der angewachsenen völkerrechtlichen Individualrechte und -pfl ichten, die Existenz des subjektiven internationalen Rechts dogmatisch hergeleitet, theoretisch eingefasst und ethisch gerechtfertigt werden. Im völkerrechtlichen Diskurs taucht der Begriff des subjektiven Rechts kaum auf. Jedoch wird die Diskussion um einen Begriff geführt, der als Spiegelbild gelten kann, den des Rechtssubjekts. Hier soll der Begriff des subjektiven internationalen Rechts in die Debatte eingeführt werden, um eine Entwicklung auf den Punkt zu bringen, die den einzelnen Menschen zum primären Völkerrechtssubjekt hat werden lassen. Der Mensch hat nicht nur eine Reihe subjektiver internationaler Rechte (im Plural), sondern ihm kommt weitergehend Völkerrechtssubjektivität (Völkerrechtspersönlich1 Deshalb ist auch die Subjektstellung des Einzelnen die „Leitidee“ des Grundgesetzes (BVerwGE 1, 159 (161) (1954)). 2 Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetzkommentar (57. Aufl. München: Beck 2010), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 117. 3 Die Präambel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 beginnt mit den Worten: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräusserlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden, …“.

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keit) kraft seines Menschseins zu. Hintergrund dieses Befundes ist, dass Individuen in jüngster Zeit immer mehr internationale Rechte, auch unterhalb der Schwelle der Menschenrechte, erworben haben. Gleichermaßen werden ihnen völkerrechtliche Pfl ichten, etwa zur Unterlassung von Völkerrechtsverbrechen, auferlegt. Die Subjektstellung entwickelt sich sowohl auf der Primär- als auch auf der Sekundärebene. Einzelpersonen können Beteiligte am internationalen Verantwortungsverhältnis, das durch einen Völkerrechtsbruch entsteht, sein. So wie die Rechte des Menschen im nationalen öffentlichen Recht nicht zwingend auf die Grundrechte beschränkt sind, kann es auch im Völkerrecht subjektive „einfache“ Rechte geben. Die massive Zunahme solcher Rechtspositionen hat nicht nur eine quantitative Bedeutung. Zusammen mit einer progressiven Interpretation des Menschenrechts auf Rechtsfähigkeit bewirkte sie – und das ist die These – einen qualitativen Sprung zur Etablierung einer originären und nicht sachlich beschränkten Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen. Die Ansicht, dass Individuen nicht nur die eigentlichen Nutznießer des Völkerrechts, sondern die letztlichen oder sogar einzigen Rechtssubjekte dieser Ordnung seien, wurde insbesondere von Völkerrechtsgelehrten der Zwischenkriegszeit vertreten.4 Jener internationale Individualismus, der die Kodifi kation internationaler Menschenrechte vorbereitete, war nicht nur eine Reaktion auf die Gräuel des ersten Weltkrieges. Er war auch maßgeblich von demokratischem Gedankengut und von der Furcht vor der Massengesellschaft getragen. Die individualistisch ausgerichteten Völkerrechtler der 1920er und ’30er Jahre spürten den Aufstieg des Totalitarismus und versuchten, das Individuum davor mit Hilfe des internationalen Rechts zu schützen5 − vergeblich, wie der baldige Ausbruch des zweiten Weltkrieges zeigte. Aus dieser Katastrophe erwuchs der zweite Pfeiler der Rejustierung und Zentrierung des internationalen Systems auf das Individuum hin, in Gestalt der Nürnberger Prozesse von 1946. Diese Kriegsverbrecherprozesse postulierten die Verantwortung und 4 So insbesondere von Georges Scelle (Nachweise unten Fn. 39 – 41). Hans Kelsen, Les rapports de système entre le droit interne et le droit international public, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 14 (1926/IV), 231 – 329 (281): „L’idée qu’il y aurait entre l’État et les individus, et par suite d’État à État, des rapports qui ne seraient pas des rapports entre individus est une simple illusion, qui ne s’explique que par l’inadmissible hypostase de l’État en un surhomme.“ Nach Nicolas Politis befand sich bereits in der Zwischenkriegszeit das Völkerrecht in einer Umbruchphase vom inter-nationalen Recht der Staaten zu einem genuin universellen Recht der Menschen. Weil die Staaten lediglich Fiktionen seien und aus Menschen bestünden und alles Recht letztlich dem Menschen dienen solle, habe das Völkerrecht als soziales Produkt keine andere Struktur als das nationale Recht (Nicolas Politis, Les nouvelles tendances du droit international (Paris: Hachette 1927), 55 – 93, insb. 76 f.). Maurice Bourquin diagnostizierte „une poussée, chaque jour plus visible, en faveur de ce qu’on pourrait appeler l’émancipation internationale de l’individu.“ (Maurice Bourquin, Règles générales du droit de la paix, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 35 (1931/I), 5 – 229 (46)). Auch James Brierly lehrte „en dernière analyse, seuls les individus sont susceptibles d’être sujets de ce droit-là [i.e. des Völkerrechts]“. ( James Leslie Brierly, Règles générales du droit de la paix, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 58 (1936/IV), 5 – 237 (47)). Siehe ferner Jean Spiropoulos, L’individu en droit international (Paris: Librairie générale de droit et de jurisprudence 1928). 5 Janne Elisabeth Nijman, The Concept of International Legal Personality: An Inquiry into the History and Theory of International Law (Den Haag: TMC Asser Press 2004), 87, 126 – 127, 130, 147 – 48, 171, 187, 225 und passim.

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Straf barkeit von Menschen kraft Völkerrecht und entzogen den Tätern das Schutzschild des Staates, hinter dem sie sich zu verschanzen suchten. Seitdem hat sich das geltende Völkerrecht in die Richtung, die von den Wissenschaftlern der 1920 – 30er Jahre vorgezeichnet wurde, markant weiter entwickelt. Zeitgenössische Völkerrechtslehrer stellen eine Umwandlung des internationalen Systems fest. Gegenwärtig bewege sich „die internationale Gemeinschaft … fortschreitend von einem souveränitätszentrierten zu einem wertorientierten oder individuumszentrierten System.“6 Die Einbeziehung von Individuen in das Völkerrecht, weit jenseits der Menschenrechte, sei zum „Grundaxiom“ der Völkerrechtsordnung geworden.7 Es wird ein Paradigmenwechsel „vom Völkerrecht zum Weltrecht“,8 vom „internationalen Recht zum neuen globalen Recht“,9 zum „neuen Jus Gentium der Menschheit“,10 oder eine „Humanisierung des Völkerrechts“ diagnostiziert.11

II. Der Mensch als Subjekt des Völkerrechts Die wissenschaftliche Anerkennung der Völkerrechtspersönlichkeit (Völkerrechtssubjektivität) des einzelnen Menschen, hier vorläufig verstanden als seine Fähigkeit, internationale Rechte und Pfl ichten zu haben, hängt vom ideellen Vorverständnis und von der dogmatischen Begriffl ichkeit des Beobachters ab. Die historischen Paradigmen und die variierende Terminologie sollen hier deshalb kurz nachgezeichnet werden, um im Anschluss daran einen rechtstheoretisch zweckmäßigen Begriff der Völkerrechtspersönlichkeit vorzuschlagen und die Völkerrechtssubjektivität des Individuums auf eine neue Rechtsgrundlage zu stellen.

1. Ideengeschichte Rechtssubjektivität ist die Fähigkeit, ein subjektives Recht innezuhaben und nicht lediglich dem objektiven Recht unterworfen zu sein. Die Dogmengeschichte des subjektiven Rechts ist bekannt. Das römische „ius“ (im Gegensatz zur „lex“) bezeichnete noch nicht ein subjektives Recht oder Anspruch im heutigen Sinne, son-

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Christian Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century: General Course on Public International Law, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 281 (1999), 11 ff. (237; Übersetzung der Verf.). 7 Oliver Dörr, Privatisierung des Völkerrechts, Juristen-Zeitung 60 (2005), 905 – 916 (905); siehe auch P. K. Menon, The Legal Personality of Individuals, Sri Lanka Journal of International Law 6 (1994), 127 – 156 (148). 8 Angelika Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht (Berlin: Duncker & Humblot 2007). 9 Rafael Domingo, The New Global Law (Cambridge: CUP 2010), 123. 10 Antônio Augusto Cançado Trindade, International Law for Humankind: Towards a New Jus Gentium, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 316 (2005), 9 – 444. 11 Theodor Meron, The Humanization of International Law (Leiden: Martinus Nijhoff 2006). Siehe auch Antonio Cassese, The Human Dimension of International Law: Selected Papers (hrsg. von Paola Gaeta/Salvator Zappalà, Oxford: OUP 2008).

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dern war mehrdeutig.12 In einer dem gegenwärtigen Verständnis entsprechenden Bedeutung wurde der Begriff „ius“ erst im 14. Jahrhundert von William von Ockham verwendet und von Thomas Hobbes weiter ausgefaltet.13 Rechte von Einzelnen waren in der ab dem 16. Jahrhundert wissenschaftlich bearbeiteten Diziplin des ius naturae et gentium präsent. Ihr ging es nicht um Rechtsbeziehungen zwischen unabhängigen Gemeinschaften (Staaten), sondern um die universale Geltung bestimmter Normen für alle Völker und alle Menschen.14 Weil letztlich alles Recht aus der Natur abgeleitet wurde, war das Völkerrecht nicht deutlich vom nationalen Recht getrennt. Dementsprechend wurden auch die jeweiligen Akteure nicht scharf unterschieden. Damit blieb der Einzelne in die Natur- und Völkerrechtsordnung eingebettet. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Keim des naturrechtlichen Gedankens, dass der Mensch seines Menschseins wegen rechtsfähig sei, in diesem Kontext gelegt wurde. So argumentierte Francisco de Vitoria in seinen 1557 posthum veröffentlichten Relectiones, dass die Ureinwohner von Amerika in den spanisch bzw. portugiesisch eroberten Gebieten Rechte und Ansprüche sowohl im öffentlichen Recht als auch im Privatrecht hätten, genau wie Christen, weil niemand von Natur aus Sklave sei.15 Hugo Grotius’ De iure belli ac pacis von 1625 gilt als die erste (in einem rationalisierten Naturrecht fundierte) Konstruktion eines Rechtssystems auf der Basis von subjektiven Rechte anstelle von objektivem Recht.16

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Das naturrechtlich geprägte „ius“ wurde eher im Sinn einer gerechten Zuteilung verwendet. Grundlegend hierzu Michel Villey, La formation de la pensée juridique moderne: Cours d’histoire de la philosophie du droit (Paris: Les Ed. Domat-Montchrestien 1975); Annabel S. Brett, Liberty, Rights and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought (Cambridge: CUP 1997). Nach Michel Villey ist der heutige Begriff des subjektiven Rechts eine „contresens commis sur le language romain“ (Villey, ibid., 236). Siehe auch Helmut Coing, Zur Geschichte des Begriffs „subjektives Recht“, in: Helmut Coing/Frederick H. Lawson/Kurt Grönfors, Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit (Frankfurt a.M.: Metzner 1959), 7 – 23. 13 Hierzu grundlegend Villey, ibid., 225 – 272, der die Bedeutungsverschiebung mit Ockhams Nominalismus erklärt; zu Hobbes, ibid., 649 – 676. 14 Ulrich Scheuner, Die grossen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung zwischen 1648 und 1815, Nachdruck in: ders., Schriften zum Völkerrecht (hrsg. von Christian Tomuschat) (Berlin: Duncker & Humblot 1984), 352 – 354. 15 Francisco de Vitoria, Relectiones Theologicae, De Indis (original 1532), Sec. I, Ziff. 24 (in: The Classics of International Law, hrsg. von Ernest Nys (Washington: Carnegie Institution 1917), 128 (engl.) und 232 (lat.)). Dabei hielt de Vitoria die Rechtsbeziehungen zwischen den Spaniern und den Ureinwohnern offenbar für internationale Beziehungen im heutigen Sinne, denn er diskutierte das Recht der Kriegführung und Herrschaftstitel. De Vitoria unterschied aber nicht zwischen dem „privaten“ Krieg und dem eines Prinzen oder Herrschers (vgl. ibid., 167 – 169). Der Staat wurde noch ohne Rekurs auf das Souveränitätsmerkmal defi niert (ibid., 169). Siehe allgemein Felix Hafner/Adrian Loretan/ Christoph Spenlé, Naturrecht und Menschenrecht: Der Beitrag der Spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte, in: Frank Grunert/Kurt Seelmann (Hrsg.), Die Ordnung der Praxis: Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik (Tübingen: Niemeyer 2001), 123 – 153. 16 Nach Richard Tuck ist De iure belli ac pacis „in fact the fi rst reconstruction of an actual legal system in terms of rights rather than laws. Consequently it is the true ancestor of all the modern codes which have rights of various kinds at their centre“ (Richard Tuck, Natural Rights Theories: Their Origin and Development (Cambridge: CUP 1979), 66). Zu Grotius’ naturrechtlichem Ansatz und seiner Bedeutung für das Völkerrecht massgeblich Hersch Lauterpacht, The Grotian Tradition of International Law, BYIL 23 (1946), 1 – 53.

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Die naturrechtliche Tradition erlosch nie ganz. Nach Johann Caspar Bluntschli verband das Völkerrecht „als allgemeines Menschenrecht Christen und Muhammedaner, Brahmanisten und Buddhisten, die Anhänger des Konfutse und die Verehrer der Gestirne, die Gläubigen und die Ungläubigen.“17 Insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg zog die individuumszentrierte Völkerrechtslehre wieder Inspiration aus dem Naturrecht. Nach dem wissenschaftlichen Wegbereiter der Nürnberger Prozesse und der Menschenrechtskodifi kationen, Hersch Lauterpacht, ist „in Bezug sowohl auf Rechte als auch Pfl ichten das Individuum das letzte Subjekt allen Rechts“,18 „die letztmaßgebliche Einheit der internationalen Gemeinschaft“.19 Die Notwendigkeit der Subjektstellung des Einzelnen begründete Lauterpacht mit der Verhinderung einer allgemeinen Verantwortungslosigkeit durch die Errichtung eines staatlichen Schutzschirms. Nur so könnten den allgemeinen ethischen Standards unter zivilisierten Gemeinschaften Wirksamkeit verschafft werden.20 Ab dem 18. Jahrhundert traten – mit der Konsolidierung souveräner Staaten und den parallelen wissenschaftlichen Konzepten der staatlichen Rechtspersönlichkeit, der staatlichen Grundrechte und -pfl ichten und nicht zuletzt der Souveränität – die Staaten als politische Akteure und Subjekte des Völkerrechts in den Vordergrund. Bekanntlich wurde das Völkerrecht mit dem Aufstieg der rechtspositivistischen Methode allmählich vom Naturrecht abgelöst und parallel dazu klar vom innerstaatlichen Recht unterschieden. Beide Bewegungen führten zu einer Konzentration des Völkerrechts auf die Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen und zur Verdrängung des Menschen aus dieser Rechtsordnung.21 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stand allerdings die etatistische Zuspitzung des Völkerrechts in einem Spannungsverhältnis zur Proliferation des Individualschutzes mittels völkerrechtlicher Verträge. Beispielsweise begann Art. 29 der Brüsseler Generalakte zur Ächtung der Sklaverei von 1890 mit dem Satz: „Ein jeder wider seinen Willen an Bord eines einheimischen Schiffes zurückgehaltener Sklave soll das Recht haben, seine Freiheit zu beanspruchen.“22 Entgegen dem explizit individualrechtlichen Wortlaut wurden dieses und ähnliche völkerrechtliche Abkommen von der rechtspositivistischen und dualistischen Lehre als rein zwischenstaatliche gegenseitige Verpfl ichtungen konstruiert, aus denen Einzelpersonen keine internationalen 17 Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten: als Rechtsbuch dargestellt (3. Aufl. Nördlingen: Verlag der C. H. Beck’schen Buchhandlung 1878), § 6 Abs. 3 (61). Für die naturrechtlich fundierte Völkerrechtssubjektivität des Menschen auch Pasquale Fiore, Le droit international codifié et sa sanction juridique (3. Aufl. Paris: Pedone 1911, Übersetzung aus dem Italienischen), § 61, 108 – 110. 18 Hersch Lauterpacht, International Law and Human Rights (London: Stevens 1950), 69 (Übersetzung der Verf.). 19 Lauterpacht, Grotian Tradition 1946 (Fn. 16), 1 – 53 (Übersetzung der Verf.). 20 Hersch Lauterpacht, Chap. 5, The Subjects of International Law, in: Eli Lauterpacht (Hrsg.), International Law: Being the Collected Papers of Hersch Lauterpacht (1970 – 1978), Vol. I: The General Works (Cambridge: CUP 1970), 279 – 307 (280 f.). 21 Siehe nur Albert Zorn, Grundzüge des Völkerrechts (2. Aufl. Leipzig: J. J. Weber 1903), 3: „Träger völkerrechtlicher Beziehungen sind also niemals Privatpersonen, sondern ausschliesslich Staaten ... .“ Siehe auch ibid., 26 ff. 22 Brüsseler Generalakte zur Ächtung der Sklaverei vom 2. Juli 1890, AJIL 3 (1909), Supplement S. 29 auf 41 (Übersetzung und Hervorhebung der Verf.).

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Ansprüche herleiten konnten.23 Ihr Protagonist Heinrich Triepel führte aus: „Wenn es Völkerrecht giebt, kann es nur für die Verkehrsbeziehungen koordinirter Staaten unter einander gelten. Der Satz ... entscheidet über die Art der dem Individuum zukommenen Stellung. Diese kann nicht die eines Rechtssubjekts sein. Der Einzelne ist vom Standpunkte einer die Staaten als solche verbindenden Rechtsgemeinschaft unfähig, Träger eigener, von der Rechtsordnung dieser Gemeinschaft ausgehenden Rechte und Pfl ichten zu sein. Es ist gleichgültig, das es in grossem Umfange seiner Interessen sind, deren Wahrung völkerrechtliche Sätze im Auge haben. ... Staatenvereinbarungen zugunsten afrikanischer Neger erheben die Schwarzen, deren Wohl sie befördern sollen, nicht zu Persönlichkeiten der Rechtsgemeinschaft, deren Satzungen auf sie Bezug nehmen. So kann das Individuum eines ... Völkerrechts nur als Gegenstand völkerrechtlicher Rechte und Pfl ichten gedacht werden.“24 Nach dieser heute sogenannten Objektlehre berechtigte und verpfl ichtete also das Völkerrecht, insbesondere das Vertragsrecht, nur die Vertragsparteien, somit die Staaten.25 Der Einzelperson wurde in völkerrechtlichen Verträgen kein Recht eingeräumt, sondern sie genoss nur einen Rechtsreflex. Sie war Begünstigter, aber nicht Rechtsträger, nicht Subjekt, sondern Objekt des Völkerrechts. Die Objektlehre basierte auf der strikt rechtspositivistischen Methode,26 die bekanntlich einen notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral verneinte.27 Dementsprechend sollte das Völkerrecht von der Politik, der Courtoisie, dem römischen und kanonischen Recht und der Theologie geschieden und die (Völker-) 23

Zu den Sklavereiabkommen Emanuel Ullmann, Völkerrecht (2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 1908), § 133 (402 – 406). Siehe auch StIGH, Jurisdiction of the Courts of Danzig, PCIJ Ser. B, No. 15 (1928), 17 f. und 21. Der Gerichtshof befand, dass „ein internationales Abkommen als solches keine direkten Rechte und Pfl ichten für private Individuen erzeugen könne.“ Trotz dieses Lippenbekenntnisses zum strikten Dualismus legte der StIGH das Abkommen unter Berücksichtigung der Absicht der Vertragsparteien dahingehend aus, dass es „Bestandteil“ des Dienstverhältnisses zwischen den Eisenbahnbeamten und der polnischen Eisenbahnverwaltung sei, und dass sich infolgedessen die Eisenbahnangestellten in ihren Klagen vor Danziger Gerichten, mit denen sie fi nanzielle Forderungen gegen die Eisenbahnverwaltung geltend machten, auf die Bestimmungen des Abkommens berufen konnten (ibid., 21). 24 Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (Leipzig: C. L. Hirschfeld 1899), 20 f.; siehe auch ibid., 13 – 18, 259 – 262 (Hervorhebung der Verf.). 25 Grundlegend Paul Heilborn, Das System des Völkerrechs aus den völkerrechtlichen Begriffen (Berlin: Springer 1896), 58 – 138 (insb. 68, 70 – 73, 79 f., 82 f., 110), 372, 374, 382, 417. Umfassende kritische Darstellung der Objektlehre bei George Manner, The Object Theory of the Individual in International Law, AJIL 46 (1952), 428 – 449. 26 Vgl. Antônio Augusto Cançado Trindade: „The old monopoly of the State of being the condition of being subject of rights is no longer sustainable, nor are the excesses of a degenerated legal positivism, which excluded from the international legal order the fi nal addressee of juridical norms: the human being. The need is acknowledged nowadays to restore to this latter the central position − as subject of domestic as well as international law − from where he was unduly replaced, with disastrous consequences, evidenced in the successive atrocities committed against him in the last decades. All this occurred with the indulgence of legal positivism, in its typical subservience to State authoritarianism.“ Inter-American Court of Human Rights, 1. Oktober 1999, Advisory Opinion OC-16/99, concurring opinion, Rn. 12 (Hervorhebungen der Verf.). 27 Auch das Völkerrecht wurde immanent, ohne Rekurs auf rechtsexterne Werte defi niert: Als Völkerrechtsnormen galten nur, aber auch alle Texte, die in bestimmten Verfahren erzeugt wurden, unabhängig von ihrem Inhalt. Über das auf diese Weise gesetzte (positive) Völkerrecht hinaus wurde kein Recht anerkannt. Vgl. den Begründer der Objektlehre, Heilborn, System des Völkerrecht 1896

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rechtswissenschaft von allen politischen, philosophischen, „dialektischen“ und „metaphysischen“ Spekulationen gereinigt werden.28 Die positivistische Objektlehre war damit eine Reaktion auf die unscharfe naturrechtliche, also vermeintlich spekulative, utopische und unjuristische Mitbehandlung des Individuums durch das vorausgegangene Natur- und Völkerrecht. Im Rechtspositivismus wurde eine eventuelle Rechtsfähigkeit des Einzelnen folglich als bloßes Produkt des gesetzten Rechts angesehen. Die staatliche Rechtsordnung war die Instanz, welche die Qualität als Rechtsperson verlieh. In Ermangelung völkerrechtlicher Verträge, die dem Individuum echte Rechte einräumten, konnte der Einzelne kein Völkerrechtssubjekt sein. Die Objektlehre wurde in führenden Lehrbüchern bis nach dem zweiten Weltkrieg vertreten29 und wirkt bis heute fort. Sie war jedoch nie unangefochten. So monierte Robert von Mohl schon 1860 die Souveränitätsfi xiertheit der Völkerrechtswissenschaft und hielt eine (wissenschaftliche) „Förderung“ der Staaten nur „als letztes Mittel zu Erreichung der menschlichen Lebenszwecke“ für legitim.30 „Es müssen die Rechtssätze aufgefunden werden, welche die Verbindung der Menschen in ihrer höchsten Potenz, nämlich über das Leben des einzelnen Staates hinaus, und zwar zur Erreichung ihrer Lebenszwecke zu regeln haben. ... Einmal sind die sämtlichen Subjekte einer internationalen Verbindung zu beachten; nämlich nicht bloß die Staaten selbst, sondern auch die gesellschaftlichen Kreise und die einzelnen Individuen.“31 Andere zeitgenössische Autoren zeigten Pfl ichten der Individuen auf, die aus den Akten der frühen internationalen Organisationen (internationale Flusskommissionen) sowie aus dem Völkergewohnheitsrecht (Recht der Piraterie, der Blockade und des Schmuggels) flossen. 1899 schloss Wilhelm Kaufmann aus der Existenz von Vergehen gegen das Völkerrecht (Seeräuberei, Sklaventransporte etc.), auf unmittelbare völkerrechtliche Rechtspfl ichten von Individuen.32 Kraft Staatsvertrag oder sonst internationalem Recht könnten „unmittelbar (Fn. 25), 370: „Das Völkerrecht ist der Inbegriff der von den Staaten als Regel ihres Zusammenlebens anerkannten Rechtsnormen.“ 28 Zorn, Grundzüge des Völkerrechts 1903 (Fn. 21), 10: „Zu den juristischen Quellen des Völkerrechts gehören somit nicht Naturrecht und Rechts- oder Moralphilosophie, Politik und Ergebnisse geschichtlicher Entwickelung.“ 29 Siehe nur Lassa Francis Lawrence Oppenheim, International Law (2. Aufl. London: Longmans Green 1912), Bd. I, 3, 19 – 20, 455 – 460; Rolf Knubben, Die Subjekte des Völkerrechts (Stuttgart: Kohlhammer 1928), 487 ff.; Dionisio Anzilotti, Corso di diritto internazionale (3. Aufl. Rom: Athenaeum 1928), Bd. I, 113, 121 ff.; Karl Strupp, Grundzüge des positiven Völkerrechts (5. Aufl. Bonn: Röhrscheid 1932), 1 ff., 32 ff., 95 ff., 102 ff.; Georg Schwarzenberger, A Manual of International Law (London: Stevens 1947), 35, 53 f. Zahlreiche weitere Nachweise bei Manner, Object Theory 1952 (Fn. 25), 429 Fn. 2. 30 Nach von Mohl wurde fehlerhafterweise „der ganze Gegenstand lediglich nur vom Standpunkte der Souveränität der Staaten aufgefasst ... Bei dieser Auffassung ist denn naürlich die Bemühung dahin gerichtet, so wenig als möglich von der Selbstständigkeit aufzugeben; während doch die richtige Auffassung vielmehr die ist, nach gesicherter Selbstständigkeit, (welcher allerdings die Grundlage jedes Gedeihens vorangehen muss), die Gemeinschaft unter den grössten organischen Menschenverbindungen, Staaten genannt, möglichst zu fördern als letztes Mittel zu Erreichung der menschlichen Lebenszwecke. Es bricht also die übliche Behandlung des Völkerrechts gerade in der Mitte ab“ (Robert von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik (Tübingen: Laupp & Siebeck 1860), Bd. I, 585). 31 Ibid., 586 (Hervorhebung der Verf.). Siehe auch ibid., 599 sowie 626 – 636 (zur „Förderung der Zwecke Einzelner“ durch das Völkerrecht). 32 Wilhelm Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechtes und das Verhältnis der Staatengesetzgebung und der Staatsorgane zu derselben (Stuttgart: F. Enke 1899), 27.

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selbständige internationalrechtliche Pfl ichten von Staatsunterthanen begründet werden“.33 Dabei seien „diese internationalrechtlich geregelten und bestimmten subjektiven Rechte und Rechtspflichten theils sog. private, theils sog. öffentliche Rechte und Pfl ichten.“34 Diese begründete Kaufmann nicht naturrechtlich, sondern voluntaristisch: Die Geltung des Völkerrechts beruhe auf der „gemeinsame[n] Willensthat“ infolge der Willenseinigung. Das Völkerrecht gelte somit „für den einzelnen Staat und eventuell für das Individuum und das Staatsorgan, weil sie einbefaßt sind in der internationalen Völkergemeinschaft.“35 „Auf die durch den Staatsvertrag herbeigeführte Errichtung neuer objektiver Rechtsnormen – eines ius supra partes – ist es vielmehr zurückzuführen, daß diese subjektiven Rechte und Pfl ichten entstehen oder entstehen können.“36 Schließlich bejahte Walther Schücking nach Verabschiedung des nie in Kraft getretenen Haager Abkommens von 1907 über den internationalen Prisenhof eine partielle Völkerrechtssubjektivität des Individuums aufgrund der dort neu eingeräumten individuellen Klagebefugnis Einzelner.37 Die stärkste Gegenbewegung zur Objektlehre bildete ab den 1920er Jahren die soziologische Schule. Sie basierte auf einer radikalen französischen Verfassungstheorie, die gegen die Vorstellung des Staates als souveräner Kollektivpersönlichkeit mit eigenem „Staatswillen“ opponierte und ihn stattdessen allein auf die „soziale Realität“, dass heißt auf die Individuen in Wahrnehmung der staatlichen Funktionen, zurückführte.38 Diese individualistische Konzeption wurde von Georges Scelle auf das Völkerrecht übertragen. Er argumentierte, dass juristische Beziehungen soziale Beziehungen seien. Soziale Beziehungen können nur zwischen Individuen bestehen. Folglich basiere auch die „sociabilité internationale“ auf interindividuellen Beziehungen. Die internationale Rechtsordnung determiniere alles nationale Recht, das völkerrechtskonform ausgestaltet sein müsse. Deshalb sei jedes Individuum auch unmittelbar dem internationalen Recht unterworfen. Es handele lediglich in verschiedenen Rollen:39 „Une société internationale, comme une société étatique, est une

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Ibid., 25. Ibid., 3 (Hervorhebung der Verf.). 35 Ibid., 77 (Hervorhebung der Verf.). 36 Ibid., 30. 37 Schücking wies darauf hin, dass es völkerrechtliche Pfl ichten für Einzelpersonen „schon immer“ gegeben habe und Rechte in Ausnahmefällen ebenfalls (Walther Schücking, Der Staatenverband der Haager Konferenzen (München und Leipzig: Duncker & Humblot 1912), 141 – 148). 38 Léon Duguit, Traité de droit constitutionnel (2. Aufl. Paris: E. de Boccard 1921), Bd. I, § 38 (324 – 335), zur Völkerrechtssubjektivität in § 62 (560 – 565); Bd. II, 1923, passim, z. B. 2, 404, 417, 428 f. Siehe auch Louis Le Fur, La théorie du droit naturel depuis le XVIIe siècle et la doctrine moderne, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 19 (1927/III), 259 – 442 (404): „La personnalité juridique doit être la simple traduction juridique de la personnalité réelle, qu’elle doit être reconnue à tout individu.“ (Hervorhebung der Verf.). 39 Georges Scelle, Règles générales du droit de la paix, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 46 (1933/IV), 327, 342 f; ibid., Droit international public (Paris: Les Ed. Domat-Montchrestien 1944), 410 f.; ibid., Some Reflections on Juridical Personality in International Law, in: George A. Lipsky (Hrsg.), Law and Politics in the World Community (Berkely: University of California Press 1953), 49 – 58. 34

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société d’individus, et rien que d’individus.“40 „Les individus seuls sont sujets de droit en droit international public.“41 Seit den 1950er und 60er Jahren geht die soziologische „policy-oriented“ Jurisprudenz (Schule von New Haven) von der Prämisse aus, dass Recht und Politik nicht scharf getrennt werden können. Ihre Vertreter defi nieren das Völkerrecht als einen spezifischen Entscheidungsprozess bzw. als einen Kommunikationsfluss mit politischem Inhalt und Kontrollabsicht.42 In diesem Modell wird die Dichotomie von „Subjekten“ und „Objekten“ abgelehnt. Es gibt lediglich „Teilnehmer“. Individuen sind in dieser Perspektive „participants in the world power process“, ebenso wie Staaten und internationale Institutionen.43 Demgegenüber sind die „Critical Legal Studies“ anti-individualistisch ausgerichtet. Zwar bemängelt die kritische Lehre, dass die traditionelle („liberale“) juristische Methodik zu Unrecht das Subjekt und seine Subjektivität bei der Analyse des Vorgangs der Rechtsanwendung und -auslegung ausblende.44 Andererseits ist ihre Prämisse, dass der Einzelne kein essentielles Subjekt sei, sondern durch multiple Faktoren erst sozial konstituiert werde.45 Hinzu kommt die postmoderne Kritik an Individualrechten überhaupt: Die Rhetorik der Rechte sei so offen und unbestimmt, dass beide Streitparteien sie instrumentalisieren können. Das Recht, das so progressiv erscheint, werde im nächsten Fall gegen den Prätendenten verwendet. Rechte seien Bestandteil der Legitimationserzählung und damit eine Maskerade, die der Perpetuierung der Machtverhältnisse diene.46 Demgegenüber basiert der Ansatz von „Law and Economics“ auf einem methodologischen Individualismus. Seine Vertreter akzeptieren, dass das Individuum die eigentliche Quelle von (auch internationalen) Rechten ist. Es herrsche „Konsumen-

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Scelle, Règles générales 1933 (Fn. 39), 343. Siehe ferner die Nachweise in Fn. 4. Georges Scelle, Précis de droit des gens: principes et systématique, Bd. I, Introduction: le milieu intersocial (Paris: Sirey 1932), 42: „Les individus seuls sont sujets de droit en droit international public.“ 42 Sieg fried Wiessner/Andrew Willard, Policy-Oriented Jurisprudence, GYIL 44 (2001), 96 – 112 (101 f.). 43 Myres McDougal, International Law, Power, and Policy: A Contemporary Conception, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 82 (1953/I), 133 – 260 (173 f.); Rosalyn Higgins, Problems and Process: International Law and how we use it (Oxford: Clarendon Press 1995), 50. 44 Pierre Schlag, The Problem of the Subject, Texas Law Review 69 (1991), 1627 – 1743; Jack M. Balkin, Understanding Legal Understanding: The Legal Subject and the Problem of Legal Coherence, Yale Law Journal 103 (1993), 105 – 175. 45 Hierzu aus literaturgeschichtlicher Sicht: Wolfgang Frühwald, Der Zerfall des Individuums: Über szientifi sches Erschrecken in der Literatur (Heidelberg: C. F. Müller 1993), 15 – 17: Das Individuum sei in ein psychisches System verwandelt, in das Minimalmodell einer pluralen Gesellschaft, ähnlich komplex gestaltet wie die weite Welt des komplizierten Atomkerns. Der Einzelne sei in die Geschichtslosigkeit vernetzter Systemzusammenhänge eingetreten und erfahre sich darin als teilbares und geteiltes Wesen, dessen Zusammenhang mit sich selbst zweifelhaft geworden ist. Siehe auch Peter Bürger, Das Verschwinden des Subjekts (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998), 9: „Das Subjekt ist in Verruf geraten“; das Subjekt als zentrale Kategorie der Moderne sei tot (ibid., 12); Übertragung dieses Ansatzes auf die Rechtswissenschaft z. B. bei Robert S. Chang, The End of Innocence or Politics. After the Fall of the Essential Subject, American University Law Review 45 (1996), 687 – 694. 46 Mark Tushnet, An Essay on Rights, Texas Law Review 62 (1984), 1363 – 1403 (1371). 41

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tensouveränität“.47 Die Entstehung der Völkerrechtsordnung wird individualistisch erklärt. Sie sei spontan entstanden und unbeabsichtigtes Produkt des individuellen, präferenzmaximierenden Verhaltens.48 Staaten werden als kollektive Entitäten ohne eigene Rationalität erkannt. So gesehen handeln die Staaten nur als unvollkommene Vermittler für Individuen. Die Auswahlentscheidungen („choices“) des Staates sind in der Rational choice-Perspektive in Wirklichkeit Entscheidungen von Individuen, die am Entscheidungsverfahren beteiligt sind.49 Allerdings ist die ökonomische Analyse des Völkerrechts überwiegend staatsfi xiert. In maßgeblichen Werken dieser Richtung kommen Individuen gar nicht vor.50 In der Gegenwart, die vielfach als Krise des positiven Völkerrechts empfunden wird, ist eine Renaissance des Naturrechts zu verzeichnen, in der das Individuum als „wahres Subjekt“ des Völkerrechts, zelebriert wird.51 Antônio Augusto Cançado Trindade führte in seiner allgemeinen Haager Vorlesung von 2005 aus: „Die Konsolidierung der Rechtspersönlichkeit und Handlungsfähigkeit des Individuums als Subjekt des Völkerrechts stellt die kostbarste Errungenschaft des internationalen Rechtsdenkens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Dieses Denken hat den Ausschluss des Individuums aus der Völkerrechtsordnung überwunden und die Rettung des Individuums als Völkerrechtssubjekt vollbracht … Individuen erscheinen heute als wahre Subjekte – und nicht nur als ‚Akteure‘ – des Völkerrechts.“52 „Die Anerkennung des Individuums als Subjekt sowohl des nationalen Rechts als auch des Völkerrechts stellt eine wahre juristische Revolution dar – zu der beizutragen wir verpfl ichtet sind um dem Vorrang höherer Werte zum Durchbruch zu verhelfen – welche endlich den Normen sowohl des nationalen öffentlichen Rechts als auch des internationalen Rechts einen ethischen Gehalt verschafft.“53 In diesem Geist hat Rafael Domingo kürzlich gefordert, „die Zentralität der Person, die dem Völkerrecht verloren ging, für das globale Recht wiederzuerlangen“. Auch die Staaten seien (nur) juristische Personen, die letztlich aus Menschen bestehen. So gesehen wird alles Recht von Menschen und für Menschen erzeugt und nicht von den Staaten, die den Men47 Jeffrey L. Dunoff/Joel P. Trachtman, The Law and Economics of Humanitarian Law Violations in Internal Confl ict, AJIL 93 (1999), 394 – 409 (397). 48 Joel P. Trachtman, The Economic Structure of International Law (Cambridge, Mass: Harvard UP 2008), 10. 49 Ibid., 18. 50 Siehe nur Andrew Guzman, How International Law Works (Oxford: OUP 2008). In Jack L. Goldsmith/Eric A. Posner, The Limits of International Law (Oxford: OUP 2005) werden Menschenrechte nur unter dem Gesichtspunkt erwähnt, dass die Ratifi kation der Menschenrechtsverträge im Eigeninteresse der Staaten liegt, weil sie ihr Prestige steigern und keine echten Nachteile bei Nichtbefolgung zu befürchten sind. Der ökonomische Ansatz steht insofern, ungeachtet seines teilweise abweichenden Selbstverständnisses, in der politikwissenschaftlichen Tradition des Realismus. 51 Naturrecht wirkt auch in der gegenwärtig teilweise vertretenen Ansicht fort, nach der das Individuum jedenfalls hinsichtlich fundamentaler Menschenrechte ein Völkerrechtssubjekt sei, weil diese vorstaatlich, also nicht vom Staat gewährt seien (Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, begr. von Otto Kimminich (9. Aufl. Tübingen: UTB 2006), 167). 52 Cançado Trindade, International Law for Humankind 2005 (Fn. 10), 252 (Übersetzung der Verf., Fussnoten weg gelassen; auch ibid., 34, 58). 53 Ibid., 274 (Übersetzung der Verf.). Siehe zur deutlich naturrechtlichen Prägung von Cançado Trindades Ansatz ibid., 33 f., 57, 147, 265 – 267. Der Autor fasst den „historischen Prozess der Humanisierung des Völkerrechts“ als Vorgang der Fokussierung auf „Grundwerte“ und der „Realisierung übergeordneter gemeinsamer Ziele“ auf (ibid., 282).

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schen dienen sollen. Die Person (nicht als Rechtsträger, sondern als menschliches Wesen) ist der Protagonist des Rechts. Nach Domingo ist die goldene Regel des „neuen globalen Rechts“ ex persona ius oritur. Menschen sind die „authentischen“ Rechtsträger, jederzeit und überall.54

2. Dogmatik Die Theorie und Dogmatik des subjektiven Rechts sind komplex.55 Üblicherweise werden die subjektiven Rechte unterteilt in, erstens, Ansprüche (claim rights) im Sinne des Rechts, vom Adressaten der Pfl icht die Handlung rechtlich verlangen zu können, zweitens Freiheiten (Erlaubnisnormen) und drittens Gestaltungsrechte, also Befähigungen zur rechtlichen Gestaltung, die wiederum bilateral oder erga omnes wirken können.56 Menschenrechte enthalten vielfach mehrere Arten von subjektiven Rechten.57 An dieser Stelle soll nicht diese Dogmatik allgemein, sondern speziell jene der Völkerrechtspersönlichkeit rekapituliert werden. Denn das subjektive Recht interessiert im völkerrechtlichen Kontext nicht in erster Linie als dogmatische Figur, sondern als Chiffre für die in einem ethischen und dogmatischen Sinne primäre Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen.

a) Multiple Begriffe der Völkerrechtsubjektivität Der Begriff der Völkerrechtssubjektivität (Völkerrechtspersönlichkeit) ist unklar und umstritten. Nach einem sogenannten „materiellen Ansatz“ können aus der Völkerrechtssubjektivität typische materielle Rechte abgeleitet werden,58 insbesondere das Vertragsschlussrecht, das Gesandtschaftsrecht, die Deliktsfähigkeit und ein Teilnahmerecht an internationalen Organisationen. Auf dasselbe Ergebnis hinaus läuft 54 Domingo, Global Law 2010 (Fn. 9), 124 – 126. In diesem Sinne auch Janne Elisabeth Nijman: „[T]he right to legal personality is part of man’s human identity and humanity is under an obligation to defend it if the ‚primary‘ political community fails to provide the necessary conditions. It therefore follows that the individual is the legal personality par excellence of international law, i.e., the law of mankind. Yes, states are international legal persons, but they are secondary persons; individual human beings are the universal human society“. Nijman, International Legal Personality 2004 (Fn. 5), 473 (Hervorhebung der Verf.). 55 Hierzu Eva Schulev-Steindl, Subjektive Rechte: Eine rechtstheoretische und dogmatische Analyse (Wien, u. a.: Springer 2008). 56 Grundlegend Wesley Newcomb Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, Yale Law Journal 23 (1913), 16 – 59 und Yale Law Journal 26 (1917), 710 – 770. 57 Nach heutiger Auffassung enthalten alle „Generationen“ von Menschenrechten die Verpfl ichtung zum Respekt, zum Schutz und zur Erfüllung („obligations to respect, protect, and fulfi l“); siehe hierzu grundlegend (mit noch abweichender Terminologie) Henry Shue, Basic Rights (Princeton: Princeton UP 1980), 35 – 64. 58 In diesem Sinne Manuel Rama-Montaldo, International Legal Personality and Implied Powers of International Organizations, BYIL 44 (1970), 111 ff., 116 und 139 – 144. Siehe insb. 139: „From the personality of an organization, as from that of a State, arise only those rights and duties which fi nd their source in personality itself … : the rights to bring a claim, to negotiate, to conclude a special agreement, protest, request for an inquiry, etc. The rights arising from personality constitute in their totality, capacity to operate upon an international plane.‘“ (Hervorhebung der Verf.).

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die analytisch umgekehrte Strategie, als Völkerrechtssubjekte nur diejenigen Einheiten zu qualifizieren, die bestimmte (inhaltliche) Typen von Rechten innehaben, z. B. die Fähigkeit, deliktisch verantwortlich zu sein oder die Fähigkeit, internationale Privilegien und Immunitäten zu genießen und vor allem die Vertragsschlussfähigkeit.59 Unabhängig davon, ob die so defi nierte Völkerrechtspersönlichkeit als Vorbedingung oder als Konsequenz der genannten materiellen Rechte aufgefasst wird, assoziieren beide Ansätze die Völkerrechtspersönlichkeit mit einem Mindestbestand an Rechten. In dieser Begriffl ichkeit wären Individuen keine Völkerrechtssubjekte, weil sie kein Vertragsschlussrecht60 und kein Gesandtschaftsrecht haben. Einige Autoren laden den Begriff des Völkerrechtssubjekts inhaltlich auf und reservieren ihn auf diese Weise für einen engeren Kreis von Rechtsträgern. Hier heißt es, nur diejenige Entität, die eine Mindest-„Fülle“ oder „Dichte“ von Rechten, eine gewisse Handlungsfreiheit, eine gewisse Allgemeinheit der Berechtigungen genieße, sei ein Völkerrechtssubjekt.61 Eine Einheit hingegen, die nur punktuelle, einzelne Rechte innehabe, sei kein Völkerrechtssubjekt.62 Eine Qualifizierung des Individuums nach diesem System würde eine genaue Prüfung aller internationalen Rechte und Pfl ichten, die Individuen haben, erfordern. Eine derartige Prüfung würde zeigen, dass das Individuum in einer Grauzone angesiedelt ist. Es hat punktuelle Rechte und Pfl ichten, aber diese nehmen immer mehr zu. Weiter wird vorgebracht, ein Völkerrechtssubjekt sei nur jener, der nicht nur Rechte, sondern auch Pfl ichten habe.63 Hier würden Individuen, deren völkerrechtsunmittelbare Straf barkeit mittlerweile gesichert ist, dazu zählen. Verbreitet ist auch die Position, welche die Völkerrechtssubjektivität an die Einklagbarkeit von materiellen Rechten vor einer internationalen Streitbeilegungsinstanz koppelt.64 Nach dieser Konzeption ist der Einzelne nur ein sehr begrenztes Völkerrechtssubjekt. Schließlich wollte vor allem die frühere sowjetische Völkerrechtslehre die Völkerrechtssubjektivität den souveränen Einheiten, und damit letztlich den Staaten, vorbe59 Tomuschat, Survival of Mankind 1999 (Fn. 6), 160: „Then, the capacity to conclude international treaties would stand out as the main element permitting identification as a subject of international law.“ Überblick zu dieser Position bei Robert Kolb, Nouvelle observation sur la détermination de la personalité juridique internationale, Zeitschrift für öffentliches Recht 57 (2002), 229 – 241 (236). 60 Mit dem Fokus auf dem ius tractandus überschneidet sich die Meinung, Völkerrechtssubjekt sei nur derjenige, der auch Rechtserzeuger sei. Hierzu unten Teil II.2.d). 61 Marek St. Korowicz, The Problem of International Personality of Individuals, AJIL 50 (1956), 533 – 562 (558); Karl Zemanek, Internationale Organisationen als Handlungseinheiten in der Völkerrechtsgemeinschaft, ÖZÖR 7 (1956), 335 – 372 (349 f. und 357 f.); Tomuschat, Survival of Mankind 1999 (Fn. 6), 160: „identifying a special category of subjects of international law makes sense only with regard to entities which have a certain freedom of action on the international level and which engage in international transactions beyond a framework rigidly fi xed once and for all in their constitutive instrument.“ 62 In diesem Raster fallen etwa die Sachverständigenausschüsse eines Menschenrechtsabkommens oder internationale Gerichte aus dem Kreis der Völkerrechtssubjekte heraus, obwohl sie einzelne Befugnisse, z. B. aus dem Menschenrechtsabkommen oder aus Sitzabkommen mit Staaten, haben. 63 Peter James Nkambo Mugerwa, Subjects of International Law, in: Max Sørensen (Hrsg.), Manual of Public International Law (London: Macmillan 1968), 247 – 310 (249); David Feldman, International Personality, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 191 (1985/II), 343 ff., (359). 64 Hierzu unten Teil II.2.c).

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halten.65 Als Widerhall der souveränistischen Ansicht erscheint die Ansicht, nur Einheiten, die mit allgemeiner politischer Macht ausgestattet sind, könnten Völkerrechtssubjekte sein: „N’est au fond sujet que celui qui participe et qui pèse sur la vie politique internationale“.66 Alle anderen Rechtsträger hätten nur die „capacité internationale“, seien aber kein Völkerrechtssubjekt. In diesem machtorientierten Raster wären Individuen keine Völkerrechtssubjekte.

b) Kategorien: Der Staat gegen alle anderen Üblicherweise wird der Einzelne als anormales, unnatürliches, derivatives, künstliches, vereinbartes, gekorenes, partielles, begrenztes, passives, abhängiges, potentielles oder sui generis Völkerrechtssubjekt bezeichnet. Alle diese Bezeichnungen gehen vom staatlichen Völkerrechtssubjekt als Normalfall aus. Dies ist im Folgenden anhand der gängigen Kategorisierungen der Völkerrechtssubjektivität zu zeigen. Bezogen auf die sachliche Reichweite der Völkerrechtsfähigkeit wird zwischen „vollen“/ „universellen“/„generellen“ Subjekten einerseits und „partiellen“/„funktional beschränkten“ Völkerrechtssubjekten andererseits unterschieden. „Vollrechtssubjekt“ soll nur der Staat sein. Nur er sei − heißt es − potentiell in der Lage, alle Arten von völkerrechtlichen Rechten und Pfl ichten zu haben. Damit wäre er voll völkerrechtsfähig. Demgegenüber sind nach dieser Unterteilung alle anderen Akteure in den internationalen Beziehungen nur teilrechtsfähig. Sie haben nur die Fähigkeit, bestimmte Typen von Rechten oder einzelne Rechte zu haben, in Abhängigkeit von der Norm, welche ihnen die Rechtsfähigkeit explizit oder implizit zuerkennt.67 Die Idee der beschränkten Rechtsfähigkeit leuchtet ein. Beispielsweise würde niemand behaupten, dass eine Privatperson einen Krieg erklären oder völkerrechtswirksam Gebiet erwerben kann. Allerdings müsste dann konsequenterweise auch der Staat als lediglich beschränktes Rechtssubjekt gelten. Denn Staaten haben gerade nicht − auch nicht potentiell − die Totalität aller im Völkerrecht möglichen Rechtspositionen inne. Sie können z. B. keine Menschenrechte genießen. Im Endeffekt gibt es nur partielle Völkerrechtssubjekte, die ganz unterschiedliche Rechte und Pfl ichten haben und sehr unterschiedlich „dicht“ sind. Eine andere Einteilung bezieht sich auf die Frage, gegenüber wem die Völkerrechtssubjektivität wirkt; mit anderen Worten auf die Frage: Wer muss die Entität als Völkerrechtssubjekt anerkennen bzw. behandeln? Auf dieser Ebene werden die „ob65 Zur allmählichen Anerkennung der beschränkten Völkerrechtspersönlichkeit einiger (nicht aller) internationalen Organisationen in der sowjetischen Lehre Chris Osakwe, Contemporary Soviet Doctrine and the Juridical Nature of Universal International Organizations, AJIL 65 (1971), 502 – 521. Zur Anerkennung der Völkerrechtssubjektivität des Individuums erst in der Endphase der sowjetischen Lehre Rein A. Mullerson, Human Rights and the Individual as Subject of International Law: A Soviet View, EJIL 1 (1990), 33 – 43, insb. 35. 66 Kolb, Personalité juridique 2002 (Fn. 59), 236, weiter ausgeführt auf 236 – 237. 67 Beispielsweise reicht die Völkerrechtssubjektivität einer internationalen Organisation nach ganz überwiegender Ansicht nur so weit, wie es die Aufgaben der Organisation nach dem Gründungsstatut erfordern. Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Weil die Völkerrechtssubjektivität der internationalen Organisationen abhängig vom Gründungsstatut ist, bleibt sie – so gesehen – „abgeleitet“ von den Staaten.

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jektiven“/„Erga omnes“-Völkerrechtssubjekte den bloß „partikulären“ Subjekten gegenübergestellt. Objektive Völkerrechtspersönlichkeit soll heißen: Diese wirkt gegenüber allen Akteuren und eine eventuelle Anerkennung von Seiten anderer Subjekte wirkt nur deklaratorisch. In Bezug auf wichtige internationale Organisationen wird teilweise vertreten, dass diese eine „objektive“ Völkerrechtsfähigkeit hätten.68 Wenn man die zu den Organisationen angestellten Überlegungen auf die Individuen überträgt, könnte man argumentieren, dass diese lediglich partikuläre Völkerrechtssubjekte seien.69 Dann wäre z. B. ein Mensch nur gegenüber den Vertragsparteien der UN-Pakte Träger der darin garantierten Menschenrechte. Eine wiederum andere Einteilung scheidet die „ursprünglichen“/„originären“ / „geborenen“/„primären“/„notwendigen“/„natürlichen“/„direkten“ Völkerrechtssubjekte von den „abgeleiteten“/„derivativen“/„gekorenen“ Subjekten. Ursprüngliche (oder ähnlich benannte) Völkerrechtssubjekte sollen nur die Staaten sein: „L’Etat est le sujet à la fois originel et nécessaire du droit des gens. C’est lui, qui, historiquement, a mis en place un ordre juridique dont, logiquement, sa personnalité propre est un nécessaire présupposé.“70 Die Staaten sind nach dieser Ansicht nicht Rechtserzeugnis, sondern selbst Rechtserzeuger; sie sind das der Rechtsordnung vorgegebene Faktum; sie tragen selbst das Völkerrecht. Abgeleitet (oder ähnlich) heißt: Das Völkerrechtssubjekt wird erst innerhalb der schon vorgängig bestehenden Rechtsordnung konstituiert; der Subjektstatus wird der Einheit (von den Staaten) durch einen völkerrechtlichen Vertrag zuerkannt. Er kann dementsprechend auch wieder entzogen werden. Die Unterscheidung zwischen originären und derivativen Völkerrechtssubjekten und die damit einhergehende Ansicht, nur wer Erzeuger von Völkerrecht ist, könne auch vollwertiges Völkerrechtssubjekt sein, wiederholt damit die Unterscheidung zwischen Staaten und allen anderen politischen Einheiten. Gegen die der Kategorisierung „geboren versus gekoren“ bzw. „originär versus derivativ“ zugrundeliegende Koppelung von Rechtsfähigkeit an Rechtserzeugungsfähigkeit werden noch dogmatische Einwände zu erheben sein (siehe unten Teil II.2.d)). Hinzu kommt, dass die angebliche Ursprünglichkeit bzw. Unabgeleitetheit der Staaten nicht auf historischen Fakten, sondern auf einer Überhöhung der Institution beruht. Diese fi ndet ihre Parallele darin, dass die „Unabgeleitetheit“ als zentrales Element von Souveränität angesehen wird und deshalb für Staaten reserviert bleibt.71 68 Grundlegend Finn Seyersted, Objective International Personality of Intergovernmental Organizations: Do their Capacities Really Depend upon the Conventions Establishing them? (Copenhagen 1963). 69 So Peter Malanczuk, Akehurst’s Modern Introduction to International Law (London: Routledge 1997), 104: „if states of the fi rst group confer international rights on individuals, then individuals are subject of international law as far as those states are concerned“ (Hervorhebung der Verf.); ebenso Riccardo Pisillo-Mazzeschi, International Obligations for Reparation Claims?, in: Albrecht Randelzhofer/Christian Tomuschat (Hrsg.), State Responsibility and the Individual: Reparation in Instances of Grave Violations of Human Rights (The Hague: Martinus Nijhoff 1999), 149 – 172 (172): „relative“ oder „inter-partes“ Völkerrechtspersönlichkeit der Individuen. 70 Joe Verhoeven, Droit international public (Bruxelles: Larcier 2000), 50 (Hervorhebungen der Verf.). 71 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. Aufl. Berlin: Verlag von O. Häring 1914), 489: „Staatsgewalt ist aber nicht weiter ableitbare Herrschergewalt, Herrschergewalt aus eigener Macht und daher zu eigenem Recht“. Id., 180: „Er [der Staat] ist der einzige kraft ihm innewohnender ursprünglicher, rechtlich von keiner anderen Macht abgeleitete herrschende Verband.“ (Hervorhebungen der Verf.). Hierzu

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Im Rahmen dieser Begriffl ichkeit bleibt außer Acht, dass die meisten konkreten Staaten historisch durch Friedensvertrag, Sezession oder durch einen Dekolonisierungsprozess, also durchaus durch völkerrechtliche Akte, „erzeugt“ wurden und keine naturgegebenen Einheiten sind. Auf der anderen Seite können auch internationale Organisationen, die per Vertrag geschaffen wurden und deshalb als derivativ gelten, ihrerseits wieder Völkerrecht erzeugen. Historisch gesehen hatten tatsächlich in der „klassischen“ Periode des Völkerrechts die zum Völkerrechtssubjekt aufgestiegenen Staaten die Rechtserzeugung monopolisiert. Auch heute noch sind sie die wichtigsten „creator-subjects“.72 Jedoch sind internationale Organisationen, andere Akteure der Zivilgesellschaft und sogar die Wirtschaft an der transnationalen Rechtserzeugung beteiligt.73 Staaten und zwischenstaatliche Organisationen und in begrenztem Umfang nichtstaatliche Akteure sind somit sowohl-als-auch: sowohl Völkerrechtsprodukte als auch Rechtsproduzenten. So gesehen sind mehrere Kategorien von Akteuren, nicht nur Staaten, empirisch ebenfalls „primäre“ Völkerrechtssubjekte.

c) Materielle und prozessuale Rechte Die Völkerrechtspersönlichkeit des Individuums hängt nicht von individualisierten internationalen Durchsetzungsmöglichkeiten ab. Demgegenüber lautete die traditionelle Auffassung, dass Menschen nur insoweit Völkerrechtssubjekte seien, als ihnen Verfahren zur selbständigen Durchsetzung ihrer Rechte vor internationalen Gerichten und ähnlichen Foren zur Verfügung stünden, ohne auf diplomatischen Schutz durch ihren Heimatstaat angewiesen zu sein.74 Ansonsten seien Individuen maximal „potentielle“ Völkerrechtssubjekte.75 In diesem Sinne schreibt etwa Bruno Simma, das mangels verfahrensmäßiger Durchsetzungsmöglichkeiten Menschen in einem „traditionellen“ (formalen) Sinne keine Völkerrechtssubjekte seien.76 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre (Frankfurt a.M.: Athenaeum 1971), 88: „[B]ei dem Versuch, die Staatsgewalt von der Hoheitsgewalt aller anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts abzugrenzen, erlangte die Vorstellung, dass die Souveränität mit der Unabgeleitetheit aller staatlichen Gewalt gleichzusetzen sei, entscheidendes Gewicht.“ 72 Anthony D’Amato, International Law: Process and Prospect (Irvington: Transnational Publ. 1995), 148. 73 Anne Peters/Lucy Koechlin/Till Förster/Gretta Fenner Zinkernagel (Hrsg.), Non-state Actors as Standard Setters (Cambridge: CUP 2009). 74 Hans Kelsen, Principles of International Law (2. Aufl. hrsg von Robert W. Tucker, New York: Holt Rinehart and Winston 1966), 234, und die bis vor einigen Jahren überwiegende Auffassung. Siehe nur Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht (Berlin: Duncker & Humblot 1984), 256; Ian Brownlie, Principles of International Law (7. Aufl. Oxford: OUP 2008), 57. 75 Korowicz, International Personality of Individuals 1956 (Fn. 61), 535: „But if we do not endow the individual with even a partial, limited capacity for action before international judicial or political bodies, we may speak of him as of a potential subject of international law, because the protection of his international rights, directly conferred upon him, still rests with the state.“ 76 Bruno Simma, Der Einfluss der Menschenrechte auf das Völkerrecht: Ein Entwurf, in: Isabelle Buffard u.a. (Hrsg.), International Law between Universalism and Fragmentation: Festschrift in Honour of Gerhard Hafner (Leiden u.a.: Martinus Nijhoff 2008), 729 – 745, 734. Simma fügt aber hinzu, dass es aus „pragmatischer“ Sicht auf dieses formale Kriterium nicht entscheidend ankomme.

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Diese Sichtweise verknüpft also die materielle Rechtsstellung mit der prozessualen. Ihr ist zuzugeben, dass der Gehalt von Individualrechten typischerweise erst durch Konfl ikte näher defi niert wird. Wenn Rechte echte Ansprüche gewähren und nicht bloß programmatische Appelle sein sollen, müssen sie auch im Konfl iktfall durchsetzbar sein.77 Dieser Gedanke liegt dem englischen Rechtssprichwort „no right without a remedy“ zugrunde. Im Völkerrecht ist die Forderung nach der Koppelung von Recht und Durchsetzbarkeit außerdem eine Manifestation des völkerrechtlichen Effektivitätsprinzips.78 Dennoch schlage ich vor, die Verknüpfung von Rechtspersönlichkeit und der individuellen Klagebefugnis zu lösen.79 Die „prozessuale“ Konzeption der Völkerrechtspersönlichkeit überzeugt aus mehreren Gründen nicht. Die überkommene Sichtweise, dass Recht klagbar sein muss, stammt aus dem römischen Aktionendenken. Hier kam es auf die actio, also auf die Defi nition des Klagebegehrens, an; ein hiervon getrenntes Konzept eines materiellrechtlichen Anspruchs war noch unentwickelt. Im common law ist es lange bei dieser Fixierung auf den writ und die damit zusammenhängende Formel „remedies precede rights“ geblieben. Auch in der deutschen juristischen Debatte wurden der materielle und der prozessuale Aspekt des subjektiven (öffentlichen) Rechts oft vermengt. Die klassische Jellineksche Defi nition des subjektiven öffentlichen Rechts als die „Fähigkeit, Rechtsnormen im individuellen Interesse in Bewegung zu setzen“80, hat zu dieser Verwirrung beigetragen. Jedoch meinte Jellinek mit „in Bewegung setzen“ nur die Anruf barkeit einer Norm durch den Bürger etwa vor Verwaltungsbehörden und nicht die Klagbarkeit als Vorbedingung der Existenz des subjektiven Rechts.81 Tatsächlich werden heute in wohl allen Rechtssystemen materielles und prozessuales Recht unterschieden. Während die römische Parömie „ubi actio, ibi ius“ wohl zutrifft, ist sie nicht umkehrbar. Es kann „ius“ ohne „actio“ geben. Bereits der Ständige Internationale Gerichtshof hatte ausgeführt: „Es ist kaum notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Fähigkeit bürgerliche Rechte zu besitzen nicht notwendigerweise die Fähigkeit impliziert, diese auch selbst auszuüben.“82 Auch im LaGrand-Fall 77

Michael Ignatieff, The Attack on Human Rights, Foreign Affairs 80 (2001) Nr. 6, 102 – 116 (108 – 109). 78 Hierzu unten Teil III.2. 79 Siehe in diesem Sinne bereits Hersch Lauterpacht, The Subjects of the Law of Nations (Part I), LQR 63 (1947), 428 – 460 (455). Im gegenwärtigen Schrifttum Karl Doehring, Völkerrecht (2. Aufl. Heidelberg: C. F. Müller 2004), Rn. 246 – 250. 80 Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (Tübingen: Mohr 1905), 51 (Hervorhebung der Verf.). Siehe auch Ottmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung (Berlin: Kohlhammer 1914), 224: „Subjektives öffentliches Recht ist diejenige rechtliche Stellung des Untertanen zum Staat, in der er auf Grund eines Rechtsgeschäftes oder eines zwingenden, zum Schutz seiner Individualinteressen erlassenen Rechtssatzes, auf den er sich der Verwaltung gegenüber soll berufen können, vom Staat etwas verlangen kann oder ihm gegenüber etwas tun darf.“ (Hervorhebung der Verf.). Zur Unterscheidung von der Einklagbarkeit ibid., 12 f. 81 Für Jellinek war der Bestand eines subjektiven öffentlichen Rechts unabhängig von der tatsächlichen prozessualen Durchsetzungsmacht des Rechtsträgers vor Gerichten. Vom Fehlen eines entwickelten Rechtsschutzes dürfe nicht auf das Fehlen des Individualanspruchs überhaupt geschlossen werden ( Jellinek, System 1905 (Fn. 80), 349 – 361, insb. 351). 82 StIGH, Peter Pàzmàny University Case, Ser. A/B, No 61 (1935), 231 (Hervorhebung der Verf.). „It

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nahm der Internationale Gerichtshof (IGH) ohne weiteres an, dass das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) ein „individuelles Recht erzeugt“, das (nur) vom Heimatstaat vor dem Gerichtshof geltend gemacht werden könne.83 Demgegenüber stand die Koppelungsthese in der positivistischen Tradition, welche Sanktionen und zwangsweise Durchsetzbarkeit als begriffsnotwendige Elemente von Recht ansieht. Dieser Rechtsbegriff ist jedoch sehr eng und nicht allgemein anerkannt. Auch nicht einklagbares Recht erfüllt wichtige Ordnungs- und Legitimationsfunktionen. Dementsprechend sind auch im nationalen Recht zahlreiche Rechtsnormen nicht gerichtlich durchsetzbar. Insbesondere Vorschriften von Staatsverfassungen sind oft nicht justiziabel.84 Ferner kann die von den Befürwortern des engen, prozessualen Begriffs der Völkerrechtspersönlichkeit zu Recht in den Blick genommene Abhilfemöglichkeit („remedy“) verschiedene Formen annehmen. Sie erfordert nicht unbedingt eine gerichtsförmige Feststellung, wie der prozessuale Begriff der Völkerrechtspersönlichkeit es implizierte. Dies gilt umso mehr, als im Völkerrecht die Grenzen zwischen der politisch-diplomatischen und der rechtlich-justizförmigen Streiterledigung, also der „power-based“ und „rights-based“ Konfl iktlösung fl ießend sind. Im historischen Verlauf wurden manche diplomatische Konfl iktlösungsmechanismen allmählich verrechtlicht, und auch die universellen Menschenrechtsschutzinstanzen wurden teilweise gerichtsähnlicher. Insbesondere für das Völkerrecht erscheint es unangemessen, die Existenz materieller Rechte und die Rechtspersönlichkeit des Einzelnen an die Verfügbarkeit von Klagemöglichkeiten gegen Staaten zu koppeln, weil die Staaten ohnehin keiner obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit (auch nicht gegenüber staatlichen Klägern) unterworfen sind. Schließlich und vor allem unterschlägt die prozessuale Konzeption der Völkerrechtspersönlichkeit des Individuums, dass die Durchsetzung von Rechten auf verschiedenen Ebenen stattfi nden kann, auf der internationalen und der nationalen. Sie unterschätzt die wichtige Rolle der nationalen Institutionen für die dezentralisierte Durchsetzung des Völkerrechts. Aus allen diesen Gründen, vor allem wegen der wichtigen systemischen Funktion der nationalen Gerichte, erscheint es in dogmatischer Hinsicht inkonsistent, die dem Einzelnen verfügbaren Verfahren vor internationalen Durchsetzungsinstanzen zum Begriffsmerkmal der Völkerrechtspersönlichkeit des Individuums zu erheben.

is scarcely necessary to point out that the capacity to possess civil rights does not necessarily imply the capacity to exercise those rights oneself.“ Siehe auch AGMR, Advisory Opinion Nr. 17, Judicial Condition and Human Rights of the Child, vom 28. August 2002, Leitsatz 1 des Gutachtens (79), sowie zustimmendes Sondervotum Cançado Trindade, Rn. 6 und 8: Das Kind ist Träger von (Menschen)rechten unabhängig von seiner Handlungsfähigkeit („capacity“), also der Fähigkeit zur Ausübung dieser Rechte. 83 IGH, LaGrand Case (Germany v. United States of America), ICJ Reports 2001, 466, Rn. 77. 84 Vgl. im deutschen Grundgesetz die Staatsziele (Art. 3 Abs. 2 Satz 2; Art. 20 Abs. 1; Art. 20a; Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Siehe aus der schweizerischen Verfassung die Sozialziele des Art. 41 BV.

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d) Rechtsfähigkeit und Rechtserzeugungsmacht Obwohl Individuen im geltenden Völkerrecht Rechte und Pfl ichten haben, besitzen sie nicht die Fähigkeit zur Rechtserzeugung. Sie können in aller Regel keine völkerrechtlichen Verträge schließen und ihr Verhalten stellt keine relevante Praxis dar, die zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht führen könnte. Die fehlende Rechtserzeugungsmacht bedeutet gleichzeitig – so die herkömmliche Sichtweise −, dass „[d]ie Individuen nicht die Herren ihrer internationalen Rechte“ sind.85 Damit soll ausgesagt werden, dass sie sich ihre völkerrechtlichen Rechte und Pfl ichten nicht selbst gegeben haben. Die Rechte (und auch die diesen vorgelagerte Rechtsfähigkeit) wurden ihnen von Staaten eingeräumt und können ihnen ebenso wieder genommen werden. Diese Überlegung bildet den Kern der Rede vom „abgeleiteten“ oder „passiven“86 Völkerrechtssubjekt. Strengere Autoren, die einen engeren Begriff der Völkerrechtssubjektivität verwenden, sprechen wegen der fehlenden Völkerrechtssetzungskompetenz der Einzelmenschen diesen sogar die Völkerrechtssubjektivität ganz ab.87 Aus jener Sicht sind Individuen immer noch anzusehen „als Objekt, dem Rechte zugesprochen oder zuerkannt werden, nicht als Herren [‚agents‘], von denen die Macht ausgeht, eine solche Zuerkennung vorzunehmen, (…) als Objekt, oder bestenfalls als Begünstigter von Ergebnissen, aber nicht als Herr des Verfahrens.“88 Diese Koppelung der Subjektstellung an die Rechtssetzungskompetenz des Akteurs ist jedoch weder theoretisch überzeugend, noch beruht sie auf rechtsempirisch zutreffenden Prämissen. Erstens spiegelt die Rede von der staatlichen „Zuerkennung“ der Rechtspersönlichkeit an Individuen eine strikt rechtspositivistische Auffassung der Rechtsfähigkeit des Menschen wieder, die mit guten Gründen in Frage gestellt werden kann.89 Sie widerspricht zweitens der üblichen juristischen Dogmatik, die zwischen Rechtsträgerschaft und Rechtserzeugungsmacht unterscheidet. Im Zivilrecht werden Rechts- und Geschäftsfähigkeit unterschieden. Das öffentliche Recht kennt die Rechtsträgerschaft (z. B. Grundrechtsträgerschaft) einerseits und die Wahl- und 85 Michel Cosnard, Rapport introductif, in: Société française pour le droit international (Hrsg.), Colloque de Mans: Le sujet en droit international (Paris 2005) 13 – 53 (51; Übersetzung der Verf.). 86 Antoine Favre, Principes du droit des gens (Paris: Librairie de droit et de jurisprudence, Fribourg: Editions Universitaires 1974), 310: „On peut dès lors considérer comme sujets passifs du droit des gens les entités qui n’ont pas qualité pour établir des normes du droit international mais sont constituées par le droit international comme destinataires des règles du droit des gens, règles qui fi xent leurs droits ou leurs obligations de caractère international: ainsi en est-il … dans certains cas de l’individu.“ (Hervorhebungen weg gelassen). Siehe auch Kolb, Personalité juridique 2002 (Fn. 59), insb. auf 236 und 239. 87 Prosper Weil, Le droit international en quête de son identité: cours générale de droit international public, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 237 (1992, 24/VI), 9 – 370 (122): Individuen sind nur Objekte des Völkerrechts weil sie selbst kein Völkerrecht setzen, sondern ihnen nur gewisse Rechte und Pfl ichten von Staaten zuerkannt wurden. Mit eingehender Begründung auch Theodor Schweisfurth, Völkerrecht (Tübingen: Mohr Siebeck 2006), Rn. 9 – 14 und 138 – 147. 88 Joseph H. H. Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, ZaöRV 64 (2004), 547 – 562 (558; Übersetzung der Verf.). 89 Hierzu unten Teil II.2. e) cc).

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Stimmberechtigung (Befähigung zur Mitwirkung an der Rechtserzeugung) andererseits. Somit ist die Unterscheidung von Rechtsfähigkeit und Rechtserzeugungsfähigkeit im Völkerrecht sowohl in der traditionellen Privatrechtsanalogie (dazu sogleich) als auch in der moderneren Vorstellung vom Völkerrecht als internationales öffentliches Recht90 systemkonform. Die These, nur wer Erzeuger von Völkerrecht ist, könne auch (vollwertiges) Völkerrechtssubjekt sein, ist deshalb dogmatisch wenig anschlussfähig. Aus öffentlichrechtlicher Perspektive ist selbstverständlich, dass Einzelpersonen auch im nationalen Bereich nicht autarke Rechtssetzer sind, sondern nur Mitgesetzgeber, indem sie ihr demokratisches Wahlrecht und ihre direktdemokratischen Stimmrechte ausüben. Nach üblicher Auffassung setzt sich diese demokratische Repräsentation der Bürger sogar bis in die Völkerrechtssetzung fort. Die Regierungen, welche die Verträge schließen sind ja in demokratischen Staaten ebenfalls echte Repräsentanten der Bürger. Insofern wäre auch die Völkerrechtserzeugung in einem sehr beschränkten Sinne Rechtssetzung der Individuen. Allerdings sind hier die Legitimationsketten sehr lang, und außerdem sind auch nichtdemokratische Staaten an der Vertragserarbeitung beteiligt, so dass das Konzept einer indirekten völkerrechtlichen Rechtssetzung über ihre Regierungen letztlich nicht trägt. Drittens setzt die Annahme, dass im Völkerrecht nur diejenigen Akteure Subjekte seien, die auch Rechtserzeuger sind, einen strengeren Subjektbegriff ein als im nationalen Recht. Diese besondere Strenge kann m.E. nicht mit einer spezifischen Struktur des Völkerrechts erklärt und gerechtfertigt werden, etwa dahingehend, dass der „Grundsatz der Mediatisierung des Einzelnen im Völkerrecht aus dem Charakter des Völkervertragsrechts als einer zwischenstaatlichen Konsensrechtsordnung folg[e].“91 Diesem Einwand liegt nämlich die überholte Prämisse zugrunde, dass das Völkerrecht eine horizontale, genossenschaftliche Ordnung sei, die darin bestehe, dass sich Subjekte selbst binden. Nur unter dieser Prämisse könnten Rechte und Pfl ichten nur für diejenigen, die ihnen zugestimmt haben, erwachsen. Die Legitimation, oder in der altmodischen Terminologie, der „Geltungsgrund“ des Völkerrechts läge in der staatlichen Zustimmung. Tatsächlich wären in diesem Schema nur diejenigen Rechtssubjekte, die gleichzeitig auch die Rechtserzeuger sind. Die rein privatrechtsanaloge Konstruktion des Völkerrechts („Völkerrecht als großgeschriebenes Privatrecht“92 ) trifft allerdings die Rechtsrealität nicht ganz. Bereits völkergewohnheitsrechtliche Normen sind zu einem gewissen Grad unabhängig von der Zustimmung einzelner Staaten, da sie schon aus einer allgemeinen (nicht notwendig uniformen) Praxis und opinio iuris entstehen, an der auch andere Völkerrechtssubjekte neben den Staaten beteiligt sein können. Die Privatrechtsanalogie ist ferner durch vielfältige Rechtsentwicklungen, die von der Anerkennung von Erga omnes-Normen über Ius cogens bis zur Praxis von Mehrheitsentscheidungen für die Verabschiedung von Sekundärrecht in internationalen Regimen reichen, überholt. Im neu konfigurierten gegenwärtigen

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Hierzu Armin von Bogdandy/Rüdiger Wolfrum/Jochen von Bernstoff/Philipp Dann/Matthias Goldmann (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions (Heidelberg: Springer 2010). 91 Bernd Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43 (2005), 312 – 344 (335). 92 Thomas Holland, Studies in International Law (Oxford: Clarendon 1898), 152.

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Völkerrecht gibt es keinen rechtskonstruktiven Grund, der es erlauben würde, die Rechtsträgerschaft auf rechtserzeugungsfähige Akteure zu beschränken. Hinzu kommt viertens, dass die Charakterisierung von Individuen als bloße Konsumenten des Völkerrechts dem tatsächlichen Bestand ihrer völkerrechtsgenerierenden Möglichkeiten nicht gerecht wird – trotz der Tatsache, dass Individuen keine völkerrechtlichen Verträge schließen können. Die von Staaten geschaffene internationale Rechtsposition (Rechte und Pfl ichten) natürlicher Personen ermöglicht den Einzelmenschen, ihrerseits neben Staaten an Prozessen der Völkerrechtserzeugung teilzunehmen. So besitzen transnationale Unternehmen, also juristische Personen des (nationalen) Privatrechts, nach neuerer Auffassung die Kompetenz, quasi-völkerrechtliche oder transnationalisierte Verträge mit Staaten zu schließen.93 Abgesehen von dieser Sondersituation, deren völkerrechtliche Qualifi kation sehr problematisch ist, ist die Teilnahme von Privaten an der Völkerrechtssetzung nur rudimentär. Sie geschieht mittels informeller und zum Teil formalisierter Beteiligung an der Erarbeitung von Völkerrechtsverträgen und dem Erlass von Sekundärnormen in internationalen Vertragsregimen. Ein weiterer Kanal der Einflussnahme auf die Völkerrechtserzeugung sind parlamentarische Versammlungen in internationalen Organisationen, welche die Bürger der Mitgliedstaaten entweder als direkte Repräsentanten (wie im EU-Parlament) oder als Angehörige des jeweiligen mitgliedstaatlichen Parlaments vertreten. Allerdings haben diese Versammlungen, mit der Ausnahme des EU-Parlaments, nur Konsultativbefugnisse. Und die mächtigsten internationalen Organisationen, nämlich die Vereinten Nationen (UN) und die WTO, besitzen gar keine parlamentarische Versammlung. Ein qualitativ wichtigerer Modus der Beteiligung natürlicher Personen an der Völkerrechtserzeugung neben den Staaten (die idealerweise ihrerseits ihre Bürger vertreten) geschieht über NGOs.94 Ferner gibt es sehr schwache Partizipationsformen von Minderheiten und indigenen Völkern, etwa nach Vorschriften der Weltbank und privater Finanzinstitutionen.95 Normativ bewerte ich diesen Vorgang als Fortschritt. Ich halte es für wünschenswert, dass der Trend zur Aufwertung von Individuen nicht nur als Völkerrechtsträger, sondern auch als Rechtserzeuger fortgeführt wird. Die juristische Vorgabe hierfür liefert das Menschenrecht auf Teilnahme an der politischen Willensbildung (Art. 25 IPBürg). Ähnlich wie bei dem sogleich zu disku93 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht (2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2002), Bd. I/3, 531; Matthias Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht (3. Aufl. München: Beck 2002), 234; Waldemar Hummer in: Hans-Peter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts (4. Aufl. Wien: Manz 2004), Bd. I, 238; Pierre-Marie Dupuy, Droit international public (7. Aufl. Paris: Dalloz 2004), 263; Karsten Nowrot, Normative Ordnungsstruktur und private Wirkungsmacht: Konsequenzen der Beteiligung transnationaler Unternehmen an den Rechtssetzungsprozessen im internationalen Wirtschaftssystem (Berliner Wissenschaftsverlag 2006), 562 – 595. 94 Hierzu Anne Peters, Membership in the Global Constitutional Community, in: dies./Jan Klabbers/Geir Ulfstein, The Constitutionalization of International Law (Oxford: OUP 2009), 153 – 262 (225 – 227). Man könnte selbst die stark intensivierten völkerrechtlichen Transparenzerfordernisse, die an die Völkerrechtserzeugung gestellt werden, als eine indirekte Legalisierung der Beteiligung Privater und Mitgliedern der globalen Zivilgesellschaft ansehen. Transparenz ermöglicht die öffentliche Kenntnisnahme von Rechtssetzungsvorhaben (z. B. Vertragsprojekten) und ist die Vorbedingung für öffentliche Kritik und Protest. Dies sind negative Formen der Mitwirkung an der Rechtsentwicklung. 95 Ibid., 159 – 161.

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tierenden Menschenrecht auf Rechtsfähigkeit kann man argumentieren, dass Art. 25, in einer Welt des immer intensiver werdenden globalen Regierens, auch im Sinne eines Rechts auf Teilnahme an der Erzeugung von Völkerrecht ausgelegt werden sollte. Insgesamt wird durch die international garantierten formalen Beteiligungsrechte nichtstaatlicher Akteure die Linie zwischen Rechtserzeugern und „nur“ Rechtsträgern verwischt. Die Rechte auf Beteiligung („participation“) liegen, könnte gesagt werden, auf halbem Weg zwischen der bloßen Inhaberschaft von Rechten und der Fähigkeit Recht zu setzen. Ein bereits ausgebildetes Vehikel einer rudimentären Völkerrechtserzeugungsmacht Einzelner liegt in den individuellen Klage- oder Beschwerdebefugnissen, mit denen Individuen internationale gerichtliche oder schiedsgerichtliche Verfahren, etwa vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof oder vor ICSID-Schiedsgerichten einleiten können. Derartige Beschwerden generieren einen Korpus von Richterrecht. Dieser entwickelt zum einen das Völkerrecht allgemein, und hat außerdem speziell die Rechte und Pfl ichten natürlicher Personen gestärkt und ausgeweitet.96 Weil die internationalen Richter und Schiedsrichter richterliche Unabhängigkeit genießen, fi ndet diese Rechtsfortbildung ohne direkte Regierungskontrolle statt. Die individuelle Klagebefugnis ist deshalb ein begrenzt funktionales Äquivalent zur Rechtserzeugungsmacht der Staaten. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass zum einen Privatpersonen empirisch ansatzweise in die internationale Rechtssetzung einbezogen werden, dass aber dogmatisch die Völkerrechtsfähigkeit ohnehin nicht mit der Völkerrechtssetzungskompetenz in eins gesetzt werden sollte. Die mangelnde Rechtssetzungskompetenz von Individuen steht also ihrer Völkerrechtssubjektivität nicht entgegen.

e) Rechtsgrundlage der Völkerrechtssubjektivität des Menschen In einem modernen Rechtssystem kann die Rechtsfähigkeit kaum transzendent aus der „Natur“ gewisser Akteure abgeleitet werden. Die Rechtsfähigkeit muss also in einem Rechtsakt vorgeschrieben oder zugelassen sein. Der Rechtssatz, der einem Akteur speziell die Völkerrechtsfähigkeit zuerkennt, muss seinerseits einer der anerkannten Völkerrechtsquellen zuordenbar sein. Eine Norm dahingehend, dass beispielsweise der Mensch völkerrechtsfähig ist, müsste also im Völkergewohnheitsrecht, in einer Völkervertragsvorschrift oder schließlich in einem allgemeinen Rechtsgrundsatz verkörpert sein (Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut).

aa) Vertrag Explizite vertragliche Vorschriften, die einem Akteur die Völkerrechtssubjektivität zusprechen, gibt es ersichtlich nur in Bezug auf internationale Organisationen. So lautet beispielsweise Art. 4 Abs. 1 Satz 1 des Statuts über den Internationalen Strafge96 Auch in (internationalen) Strafverfahren wirken die angeschuldigten Individuen als Katalysator der Entwicklung des internationalen Strafrechts.

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richtshof: „Der Gerichtshof besitzt Völkerrechtspersönlichkeit.“ Parallele Normen über die Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen, die diesem im Stil nationaler Gesetze wie § 1 des deutschen BGB oder Art. 11 des schweizerischen ZGB ausdrücklich die (Völker-)rechtsfähigkeit zusprechen würden, existieren nicht. Jedoch könnten völkerrechtliche Verträge eine implizite Aussage über die Völkerrechtspersönlichkeit einer Entität treffen. So verleihen die Gründungsverträge einiger internationaler Organisationen implizit der durch sie konstituierten Organisation die Völkerrechtspersönlichkeit. Bekanntlich hat der IGH im Reparations for Injuries-Fall die Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen (UN) daraus abgeleitet, dass den UN in der Charta bestimmte Funktionen zugewiesen wurden. Um diese zu erfüllen, benötigen die UN die Völkerrechtssubjektivität. Also ist diese der Organisation implizit durch die UN-Charta zugewiesen worden.97 Die Übertragung einer solchen funktionalistischen Argumentation auf den Menschen wäre allerdings mit dem Bild des Menschen als Zweck an sich selbst, das der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zugrunde liegt, kaum vereinbar. Eine andere, wohl üblichere Art der vertragsbezogenen Begründung der Völkerrechtsfähigkeit des Menschen ist der Rückschluss von der Einräumung eines Individualrechts auf die darin mitenthaltene implizite Norm, dass der Mensch auch fähig ist, dieses Recht innezuhaben. Ebenso wie das explizite Recht wäre auch die implizite Rechtsfähigkeit (als Vorbedingung des konkreten Rechts) in diesem Fall rein vertragsbasiert und dementsprechend punktuell. Es kommt dann darauf an, welche Vertragsvorschriften überhaupt Individualrechte einräumen. Bisher wurde der Vertragsauslegung eine unausgesprochene Präsumtion gegen Individualrechte zugrunde gelegt. Trotz der wörtlichen Einräumung von Rechten, etwa in den Genfer Abkommen zum humanitären Völkerrecht98 oder im eingangs genannten Sklavereiabkommen99 wurden völkervertragliche Rechte und Pfl ichten von Individuen in der Regel abgelehnt. 97 IGH, Advisory Opinion, Reparations for Injuries Suffered in the Servcie of the United Nations, ICJ Reports 1949, 174 – 220 (179 f.). 98 Unter anderem folgende Vorschriften nennen explizit „Rechte“, „Ansprüche“, „Freiheiten“ oder „Garantien“ zugunsten des Einzelnen: Art. 3, Art. 12, Art. 13, Art. 18, Art. 23 Abs. 1 lit. h), Art. 32 und Art. 46 Abs. 1 Haager Landkriegsordnung (1907); Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 14 Abs. 1, Art. 50 Abs. 2, Art. 54 Abs. 2, Art. 78 Abs. 1 und 2, Art. 84 Abs. 2, Art. 96 Abs. 4, Art. 105 Abs. 1, Art. 106, Art. 113 Abs. 1, Art. 129 Abs. 4 und Art. 130 Genfer Abkommen (GA) III von 1949; Art. 5 Abs. 3, Art. 7 Abs. 1, Art. 8, Art. 27 Abs. 1, Art. 35 Abs. 1 und 2, Art. 38, Art. 40 Abs. 4, Art. 43 Abs. 1, Art. 48, Art. 52 Abs. 1, Art. 72 Abs. 1, Art. 73, Art. 75 Abs. 1, Art. 76 Abs. 3, 6 und 7, Art. 78 Abs. 2, Art. 80, Art. 101 Abs. 1 und 2, Art. 146 Abs. 4 und Art. 147 GA IV; Art. 11 Abs. 5, Art. 32, Art. 44 Abs. 2, 5 und 6, Art. 45, Art. 56 Abs. 3, Art. 72, Art. 79 Abs. 2 und Art. 85 Abs. 4 lit. e) ZP I; Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 lit. e) und Art. 6 Abs. 2 lit. a) und e) und Abs. 3 ZP II. Ausserdem enthält Art. 75 ZP I eine Liste von Rechten und Verfahrensgarantien. Diese Rechte werden teilweise ausdrücklich als unverzichtbar bezeichnet „Die Kriegsgefangenen können in keinem Falle ... auf die Rechte verzichten, die ihnen das vorliegende Abkommen . . . verleiht.“ (Art. 7 des GA III; Hervorhebung der Verf., siehe die Parallelnormen Art. 7/7/8 in den anderen Abkommen). Nach Art. 6 des III. Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen darf „[e]ine Sondervereinbarung [der Hohen Vertragsparteien] ... weder die Lage der Kriegsgefangenen ... beeinträchtigen noch die Rechte beschränken, die ihnen das Abkommen verleiht.“ Nach Art. 11 ZP I dürfen selbst mit Zustimmung der betroffenen Person keine wissenschaftlichen Versuche vorgenommen oder Organe entfernt und ähnliche Handlungen vorgenommen werden. 99 Fn. 22.

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Eine derartige Vermutung gegen Individualrechte ist nicht mehr gerechtfertigt. Internationale Individualrechte und -pfl ichten sind nicht mehr die Ausnahme, die speziell nachgewiesen werden müsste. Ganz im Gegenteil begründet die heute anerkennte normative Zentralität des Menschen im Völkerrecht eher eine umgekehrte Vermutung. Das Anwachsen punktueller Individualrechte und Pfl ichten in Verbindung mit der Ausstrahlungswirkung der internationalen Menschenrechte und der immer stärkeren Ausrichtung des geltenden Völkerrechts auf das Individuum erlauben heute die Annahme, dass völkervertragsrechtliche Normen, welche die Interessen von natürlichen Personen unmittelbar tangieren, auch individualschützend sind, somit internationale subjektive Rechte enthalten und damit wiederum implizit die Rechtsfähigkeit des Individuums voraussetzen. Eine solche Vermutung kann sich auf das Prinzip der menschenrechtskonformen Auslegung von Völkervertragsrecht stützen. Sofern der Wortlaut einer Vertragsvorschrift nicht entgegensteht, ist eine Auslegung im Sinne eines Individualrechts systemkonform und teleologisch gerechtfertigt. Die „humanisierte“ Auslegung der Vorschrift des Art. 36 des WÜK, welcher der internationale Gerichtshof, gestützt auf den klaren Wortlaut des Abkommens und entgegen den travaux préparatoires Individualrechte entnahm,100 ist ein Beispiel für eine derart dynamische Interpretation eines Völkerrechtsvertrages. Dennoch bleibt der induktive Rückschluss von der Gewährung bestimmter Rechte auf die jeweilige (punktuelle) Rechtsfähigkeit unbefriedigend – selbst mit der Zuhilfenahme der Vermutung der Individualberechtigung. Denn die dogmatische Funktion des Konzepts der Rechtsfähigkeit ist es, eine allgemeine Voraussetzung der Rechtsträgerschaft darzustellen. Sie soll deshalb nicht lediglich von Fall zu Fall ad hoc aufgestellt werden. Es müsste also nach einer allgemeinen völkergewohnheitsrechtlichen Norm über die Völkerrechtsfähigkeit des Menschen gesucht werden.

bb) Völkergewohnheitsrecht Die Norm, dass der Mensch Völkerrechtssubjekt ist, fi ndet sich mittlerweile im Völkergewohnheitsrecht.101 Sie ist implizit enthalten in denjenigen Garantien des humanitären Völkerrechts und den zentralen Menschenrechten, die zum Bestand des ius cogens gehören und insofern nicht per Vertrag abgeschafft werden können. Diese Bestimmungen bilden die ausreichende Grundlage für ein „natürliches“ Recht von Individuen auf Völkerrechtspersönlichkeit.102 Hinzu kommt das neue Phänomen der massiven Ausweitung der internationalen Individualrechte und Pfl ichten jenseits der Menschenrechte.103 Die Rechte fl ießen beispielsweise aus Auslieferungsverträgen,

100

IGH, LaGrand Case (Fn. 83), Rn. 77. Higgins, Problems and Process (Fn. 43), 53 f. 102 Patrick Daillier/Allain Pellet, Droit international public (7. Aufl. Paris: LGDJ 2002), 650. 103 Dieses Phänomen ist im einzelnen beschrieben in Peters, Membership 2009 (Fn. 94), 153 – 262 (157 – 179). Siehe für die parallele, bereits weiter fortgeschrittene Herausbildung europarechtlich geschützter subjektiver Rechte „unterhalb der Verfassungsebene“ die Bestandsaufnahme von Stefan Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss (Tübingen: Mohr Siebeck 1999), 410 – 441. 101

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aus Freundschafts- und Niederlassungsverträgen,104 aus Doppelbesteuerungsabkommen, aus Verkehrsverträgen, aus Verträgen über das geistige Eigentum, aus Investitionsschutzverträgen oder aus Verträgen über die Rechtsstellung von Ausländern. Besonderes Aufsehen hat die bereits erwähnte Ableitung von Individualansprüchen aus dem WÜK, das nach der historischen Absicht der Vertragsschließenden primär zwischenstaatliche Beziehungen regeln sollte, durch den IGH erregt, nicht zuletzt, weil hier Individualrechte und neben die staatlichen Ansprüche aus dem Vertrag gestellt wurden.105 Diese bedeutende relativ neue Praxis der Berechtigung und Inpfl ichtnahme von Individuen darf als gewohnheitsrechtsgenerierende allgemeine und ausreichend dauernde Übung gelten. Die Ausführungen der internationalen und nationalen Gerichte und außenpolitischen Akteure zeigen auch, dass prinzipielle Einwände gegen eine Rechtspersönlichkeit des Einzelnen weitgehend irrelevant geworden sind. Die Rechtsüberzeugung mehrerer Staaten scheint somit in Richtung einer selbstverständlichen Akzeptanz einer nicht per se nur punktuellen Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen zu gehen. Hinzu kommt, dass völkerrechtliche Individualansprüche, vor allem viele Menschenrechte, auch gewohnheitsrechtlich fundiert sind.106 So argumentiert etwa Antonio Cassese, es sei „konsistent aus Sicht juristischer Logik, aber auch im Einklang mit den neuen Trends, die sich in der Weltgemeinschaft herausgebildet haben,“ völkergewohnheitsrechtliche Rechte anzunehmen, die direkt Individuen zukommen. „Sie haben Anspruch auf Respekt ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit, und ihrer Würde, somit haben sie ein Recht darauf, nicht Opfer von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Aggression, Folter und Terrorismus zu werden.“ 107 Zwar werden vereinzelt noch nicht einmal die Menschenrechte prinzipiell als Individualrechte anerkannt.108 Der These vom nur-objektiven Menschenrecht steht aber sowohl der Wortlaut der Menschenrechtsverträge als auch ihr Sinn und Zweck entgegen. „Wäre das Gebot, Menschenrechte zu beachten, nur objektives Recht, verlöre der Begriff unabdingbarer Menschenrechte seinen Sinn.“109 104 IGH, Case Concerning Ahmadou Sadio Diallo (Republik Guinea v. Demokratische Republik Kongo), Urteil vom 24. Mai 2007, Rn. 87. 105 IGH, LaGrand Case (Fn. 83), Rn. 77. 106 Siehe aber Albrecht Randelzhofer, der noch 1999 annahm, dass sämtliche völkerrechtlichen Individualansprüche letztlich vertragsbasiert seien, dass dem Individuum also kein einziger internationaler Anspruch kraft Völkergewohnheitsrecht zukomme (Albrecht Randelzhofer, The Legal Position of the Individual under Present International Law, in: Randelzhofer/Tomuschat, State Responsibility 1999 (Fn. 69), 231 – 242 (234)). 107 Antonio Cassese, International Law (2. Aufl. Oxford: OUP 2005), 145 (Übersetzung der Verf.). In diesem Sinne auch Christian Tomuschat für ein „persönliches Recht des Individuums, nicht Völkermord ausgesetzt zu sein“ (Christian Tomuschat, Individual Reparation Claims in Instances of Grave Human Rights Violations: The Position under General International Law, in: Randelzhofer/Tomuschat, State Responsibility 1999 (Fn. 69), 1 – 25 (13; Übersetzung der Verf.). 108 So Randelzhofer, Legal Position 1999 (Fn. 106), 235: Erst eine genaue Auslegung könne zeigen, ob eine konkrete Norm eines Menschenrechtsvertrages Individualrechte gewährt. 109 Doehring, Völkerrecht 2004 (Fn. 79), Rn. 249 (113). Eine Menschenrechtsverletzung ist nicht nur eine Verletzung der Rechte anderer Staaten bzw. aller Staaten im Sinne einer erga omnes bzw. Erga omnes

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Wenn wir also davon ausgehen, dass internationale Menschenrechte prinzipiell echte subjektive Rechte darstellen, und ferner akzeptieren, dass viele von ihnen, etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, als Völkergewohnheitsrecht gelten, dann ist auch die ihnen vorausgesetzte Völkerrechts- (konkret: Menschenrechts-)fähigkeit gewohnheitsrechtlich fundiert. Der nach dem Gesagten zum Teil vertraglich, zum Teil völkergewohnheitsrechtlich geknüpfte Teppich aus Individualberechtigungen wird immer dichter. Damit wird auch die darin liegende Zuerkennung der Individualrechtsfähigkeit immer mehr zum Normalfall.

cc) Menschenrecht Eine weitere Rechtsgrundlage der Völkerrechtssubjektivität des Menschen ist im menschenrechtlichen Recht auf Rechtspersönlichkeit zu finden. Nach Art. 6 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und Art. 16 Abs. 2 IPBürg hat jedermann „das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden“.110 Diese Kodifi kationen sind die historische Reaktion auf die Praxis totalitärer Regime, ihren politischen Gegnern alle Rechte abzuerkennen („bürgerlicher Tod“). Diese Vorschriften waren nach der ursprünglichen Intention der Verfasser auf die nationalstaatliche Ebene bezogen, als Garantie der Rechtsfähigkeit im nationalen Recht, vor allem im Zivilrecht. Die weltweite Verankerung des Prinzips der Rechtsfähigkeit natürlicher Personen in nationalen Rechtsordnungen und die Notstandfestigkeit dieses Menschenrechts nach Art. 4 Abs. 4 IPBürg deuten darauf hin, dass das Recht auf Rechtsfähigkeit sowohl als Völkergewohnheitsrecht als auch als allgemeiner Rechtsgrundsatz gilt, jedenfalls mit der traditionellen Reichweite. Der Wortlaut „überall“ erlaubt jedoch eine dynamische Auslegung dieser Texte. Teleologisch kann man argumentieren, dass die Garantie in Zeiten der Globalisierung und der Verquickung der nationalen und der internationalen Rechtssphäre entwertet würde, wenn die Rechtsfähigkeit weiterhin auf das nationale Recht begrenzt würde. Angesichts der Tatsache, dass internationales Recht das Leben von Menschen erheblich berührt, beträfe das Fehlen eines internationalen Rechtsstatus die Menschen in ähnlicher Weise wie das Fehlen eines innerstaatlichen Rechtsstatus in früheren Zeiten Sklaven und Vogelfreie betraf. Je mehr das Völkerrecht das Verhalten Einzelner reguliert, desto wichtiger werden völkerrechtlich relevante Individualrechte und Pfl ichten. Und desto praktisch bedeutsamer wird auch ein staatsunabhängiges „Recht auf Rechte“, das neben die Staatsangehörigkeit, dem klassischen „Recht auf Rechte“ im Sinne Hannah Arendts,111 tritt. Deshalb sollten die genannten Vorschriften dynamisch dahingehend ausgelegt werden, dass sie nicht auf die nationalrechtliche Ebene begrenzt sind, sondern auch partes-Konstruktion. In diesem Fall wäre der Betroffene rechtlich gesehen nicht einmal in der Lage, Notwehr auszuüben (ibid., Rn. 248 (112). 110 So Art. 16 IPBürg. Art. 6 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung lautet: „Jeder Mensch hat überall Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson“ (Hervorhebungen der Verf.). 111 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism (New York: Harcourt, Brace and Company 1951), 287 – 298, insb. 294.

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die völkerrechtliche Rechtsfähigkeit garantieren. Die historische Fokussierung auf die bürgerliche (also zivilrechtliche) Rechtsfähigkeit steht einer internationalisierten Auffassung nicht entgegen, denn das Völkerrecht ist weder Zivilrecht noch öffentliches Recht. Art. 6 Allgemeine Menschenrechtserklärung und Art. 16 Abs. 2 IPBürg gewähren, so interpretiert, ein Menschenrecht auf Völkerrechtssubjektivität. Damit wäre die Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen nicht mehr nur derivativ und partikulär, sondern originär. Sie wäre originär, weil sie nicht nur aus den in diversen Verträgen zuerkannten Rechten als deren implizite Vorbedingung rückgeschlossen wird, sondern ein Teil des Menschenrechts wäre. Als Menschenrecht kommt das Recht auf Rechte dem Menschen kraft seines Menschseins zu. Die rechtsphilosophische Begründung hierfür kann offen bleiben. Wenn die Rechtsfähigkeit des Menschen originär ist, ist sie auch nicht sachlich begrenzt. Jedoch fl ießen aus der Rechtsfähigkeit, die ein Potential ist, ohnehin keine konkreten Rechte oder Pfl ichten.112 Weil die Völkerrechtspersönlichkeit keinen festen Bestand an Rechten impliziert, passt somit die Kennzeichnung als „umfassend“ nicht, weder für den Menschen noch für Staaten.

f) Individualismus, Monismus und Dualismus Steht und fällt aber nicht die hier postulierte Völkerrechtsfähigkeit des Individuums mit der Antwort auf die allgemeinere Frage des Verhältnisses zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht? Der Schlüsselbegriff der „Mediatisierung“ des Individuums durch ihre Staaten verknüpft beide Fragen. Denn „mediatisiert“ heißt „vermittelt“. Dementsprechend wird der Erwerb eigener völkerrechtlicher Rechte als „Immediatisierung“ des Individuums in seinem Verhältnis zum Völkerrecht bezeichnet.113 Das verbreitete Verständnis von Völkerrechtssubjektivität als Völkerrechtsunmittelbarkeit114 schließt es definitorisch aus, dass Individuen Völkerrechtssubjekte sein können, solange das staatliche Recht und das nationale Recht als verschiedene Rechtsordnungen angesehen werden. Dementsprechend hat Gaetano Arangio-Ruiz die heutige Völkerrechtswissenschaft in zwei große Denkschulen eingeteilt, diejenigen, welche das Völkerrecht als „zwischen-staatliches System“ ansehen und die anderen, die das Völkerrecht als „interindividuelles System“ begreifen. Nach Arangio-Ruiz entsprechen diese Lager den früheren Schulen des Dualismus und des Monismus.115 Tatsächlich schien innerhalb des herkömmlichen konzeptionellen Gerüstes (Monismus versus Dualismus) die Völkerrechtssubjektivität des Individuums überhaupt nur nach monistischer Sichtweise möglich. Beispielsweise vertrat Hans Kelsen in seiner Haager Vorlesung zu den Systembeziehungen zwischen dem nationalen Recht 112

Siehe unten Teil II.3. Andreas Fischer-Lescano, Subjektivierung völkerrechtlicher Sekundärregeln, AVR 45 (2007), 299 – 381 (306). 114 So z. B. Albert Bleckmann, Völkerrecht (Baden-Baden: Nomos 2001), 46. 115 Gaetano Arangio-Ruiz, Dualism Revisited: International and Interindividual Law, Rivista di diritto internazionale 96 (2003), 909 – 999 (914 f.). 113

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und dem Völkerecht vehement die Auffassung, dass die Individuen die eigentlichen Subjekte des Völkerrechts seien.116 Im Gegensatz dazu leugneten die großen Dualisten die Völkerrechtssubjektivität des Individuums. Dionisio Anzilotti sprach von einer „offenkundigen Verwechslung der Völkerrechtsordnung mit einem angeblichen allgemeinen ‚Menschheitsrecht‘“, mit einer „nicht vorhandenen Rechtsordnung der Menschheit“.117 Nach Heinrich Triepel war es „vor allem unmöglich, dass ein Satz der einen Rechtsordnung in Konfl ikt käme mit einem aus der anderen. Das ist von größter Bedeutung nach mehreren Seiten. Einmal für alle Gesetzesunterthanen eines Staates. Sie werden … in keiner Hinsicht durch völkerrechtliche Normen beherrscht. Das Völkerrecht verleiht ihnen keinerlei Rechte und richtet keine Gebote, keine Verbote an ihre Adresse. So können, was das wichtigste ist, ihre Pfl ichten gegen ihren Staat oder ihre Mitbürger niemals in Widerstreit gerathen mit völkerrechtlichen Pfl ichten; denn solche haben sie nicht.“118 Letztlich ging es Triepel um die Loyalität der „Unterthanen“ womit seine Theorie einen zumindest latent antidemokratischen Impetus erhielt: „Darum ist die Gehorsamspfl icht des Staatsunterthanen dem Staatsgesetze gegenüber, gleichgültig wie sich dies zum Völkerrechte verhält, völlig unbedingt.“119 Die monistische Konstruktion des Verhältnisses von Völker- und Landesrecht ist aber nur dann eine Vorbedingung der Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen, wenn Völkerrechtssubjektivität als Völkerrechtsunmittelbarkeit in einem bestimmten Sinn, nämlich im Sinne der Regelung der Rechtsstellung des Individuums unmittelbar durch das Völkerrecht, aufgefasst wird. Denn nur aus monistischer Sicht wird die Rechtsstellung des Individuums unmittelbar durch das Völkerrecht geregelt. Demgegenüber ist in einer dualistischen Welt die Rechtsstellung des Individuums zwangsläufig nur eine über den Staat vermittelte („mediatisierte“). Besser erscheint es jedoch, die Frage der Völkerrechtspersönlichkeit des Einzelnen nicht mit der Frage des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu vermengen. Die Völkerrechtssubjektivität betrifft eine rechtliche Eigenschaft von Ak116 Siehe oben Kelsen, Les rapports 1926 (Fn. 4). Siehe zum zweiten grossen Monisten Georges Scelle oben Fn. 39 – 41. 117 Dionisio Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts (Berlin u.a.: Walter de Gruyter 1929), Übersetzung der 3. italienischen Aufl. von 1927), Bd. I, 97. „Die Gewohnheitsrechtsnormen oder die Verträge, die scheinbar den einzelnen Individuen Pfl ichten auferlegen, verpfl ichten in Wirklichkeit den Staat, gewisse Handlungen Einzelner zu verbieten und zu bestrafen oder ermächtigen ihn, es zu tun, wo es sonst verboten wäre. Die Verpfl ichtung für den Einzelnen besteht aber nur, wenn der Staat die betreffende Rechtsordnung erlassen hat; nullum crimen sine lege. Und die Normen, die scheinbar den Einzelnen Rechte gewähren, verpfl ichten oder ermächtigen in Wirklichkeit den Staat, diese Rechte zu gewähren. Der Einzelne hat diese Rechte nicht kraft der völkerrechtlichen, sondern der innerstaatlichen Norm.“ (98). 118 Triepel, Völkerrecht und Landesrecht 1899 (Fn. 24), 254. In diesem Raster ist es folgerichtig, dass das Individuum erst nach der Umsetzung des völkerrechtlichen Vertrages durch die Vertragspartei einen staatsinternen, also rein nationalrechtlichen Anspruch gegen den Staat haben kann, aber niemals einen völkerrechtlichen Anspruch. Die Nichterfüllung bzw. Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages könnte folglich vom Einzelnen nicht vor internationalen Instanzen gerügt werden. Ihm steht allein der nationale Rechtsweg offen. Auf der zwischenstaatlichen Ebene kann der Heimatstaat des nachteilig betroffenen Individuums dessen Rechte als „eigene“, also als staatliche Rechte wahrnehmen und diplomatischen Schutz zugunsten seines Staatsangehörigen ausüben. 119 Triepel, Völkerrecht und Landesrecht 1899 (Fn. 24), 261.

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teuren, wohingegen die Verhältnisfrage ein Strukturproblem ist.120 Die Unterscheidung beider Problemkreise ist mit der üblichen Rede von der Mediatisierung des Individuums vereinbar. Im Völkerrechtsdiskurs wird diese oft – anders als eben beschrieben – im Sinne einer prozeduralen Vermittlungstätigkeit des Staates verwendet. In dieser (abweichenden, aber ebenfalls üblichen) Begriffl ichkeit ist das Individuum dann nicht mediatisiert, wenn es selbst in direkten Kontakt zu völkerrechtlichen Institutionen treten kann (unabhängig von der theoretischen Bestimmung des Verhältnisses von Völker- und Landesrecht). So gesehen, kann das Individuum gleichzeitig Subjekt mehrerer Rechtsordnungen sein. In einer pluralistischen Welt, in der neben das staatliche Recht nicht nur das europäische und internationale, sondern auch vielfältige private und hybride Regime treten, ist eine solche mehrfache Unterworfenheit keine Besonderheit. Allerdings wird damit die Sorge der historischen Gegner der Völkerrechtssubjektivität des Einzelmenschen in Bezug über die mit der „Lockerung der absoluten Staatsunterworfenheit“ des Individuums121 verbundenen Schwächung der staatlichen Souveränität relevant. Die Souveränität wird nicht nur dann tangiert, wenn das Individuum Rechte gegen den Staat geltend macht, sondern schon dadurch, dass es mehreren Rechtsregimen unterliegt.122 Denn schon damit stellt sich die oben von Heinrich Triepel angesprochene Frage der Verhaltenspfl ichten des Individuums im Fall von widersprüchlichen Normbefehlen, die aus Vorschriften verschiedener Rechtsordnungen resultieren können.123 Solche Konfl ikte scheinen in der Gegenwart immer weniger unter Rekurs auf eine simple Normenhierarchie lösbar zu sein,124 aber dies ist ein anderes Problem. Nach dem eben Gesagten können die (ursprünglich völkerrechtlichen) Rechte des Individuums (und der vorgelagerte Rechtssatz, dass das Individuum solche Rechte 120

Die Verquickung beider Aspekte ist hier ähnlich verwirrend wie im Kontext des Problems der unmittelbaren Anwendbarkeit. Auch hier wird (vor allem in der anglo-amerikanischen Lehre und Praxis) die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit (bzw. des „self-executing“ Charakters) einer Völkerrechtsnorm mit derjenigen ihrer Inkorporation in das Landesrecht vermengt. Sinnvoller scheint es, die unmittelbare Anwendbarkeit, die sich nach dem Inhalt und der Struktur einer Vorschrift richtet, als eine Frage der Justiziabilität zu begreifen, die sich ähnlich bei staatlichen Normen stellt. 121 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht 1984 (Fn. 74), 39. 122 Eine typische Situation, in der diese Sorge auf kam, war die des bewaffneten Konfl ikts. In der Vergangenheit wehrten sich Staaten insbesondere gegen die Subjektstellung von Einzelpersonen im Bürgerkrieg, weil sie befürchteten, dass diese damit (durch die Anerkennung als „Kriegführende“) der Geltung der nationalen Rechtsordnung entzogen würden und damit ihre Bestrafung nach dem nationalen Strafrecht nicht mehr möglich wäre. Diese Konsequenz ist jedoch nicht zwingend und wird in der Praxis auch nicht gezogen. Die Bindung von Individuen an die völkerrechtlichen Normen des bewaffneten Konfl ikts (national oder international) entzieht diese nicht per se dem nationalen Recht. Jenseits der Kombattantenimmunität (die nur im internationalen bewaffneten Konfl ikt in Betracht kommt) bleiben die Individuen gleichzeitig dem nationalen Strafrecht des Territorialstaats unterworfen (vgl. Verfassungsgericht Kolumbien (Urteil Nr. C-225/95), Rn. 14 (abgedruckt in Marco Sassòli/Antoine A. Bouvier, How Does Law Protect in War? (2. Aufl. Genf: ICRC 2006), 1357 ff.)). 123 Vgl. Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2 (Berlin: De Gruyter 2002), 267: „Es besteht in dem Fall die Gefahr, dass der einzelne Mensch in unlösbare Konfl ikte gerät und den Weisungen der nationalen Staatsgewalt folgt, die ihm vielfach näher ist als die internationale Gemeinschaft …“. 124 Hierzu Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, Zeitschrift für öffentliches Recht 65 (2010), 3 – 63 (42 – 49).

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prinzipiell haben kann) also von Staaten in monistischer oder dualistischer Weise in ihre Rechtsordnung inkorporiert werden. Um praktische Wirksamkeit zu erlangen, müssen diese Rechtsfähigkeit und die konkreten Rechte in jedem Fall von Staaten respektiert werden. Es ist aber irrelevant, ob sie als „transformiert“ oder nicht anzusehen sind.

3. Fazit Die tour d’horizon hat gezeigt, dass die Beurteilung der Völkerrechtssubjektivität (Völkerrechtspersönlichkeit) des Individuums immer trendgeprägt gewesen ist. Sie ist Funktion des in einer jeweiligen Epoche herrschenden wissenschaftlichen Paradigmas. Dogmatisch betrachtet, steht und fällt die Bejahung oder Ablehnung einer Subjektstellung des Individuums mit dem zugrunde gelegten Begriff von Völkerrechtsfähigkeit. Hinzu kommt, dass sämtliche gängige Einschränkungen und Einteilungen der Völkerrechtssubjektivität die Unterscheidung zwischen Staaten und allen anderen Einheiten reflektieren und perpetuieren.125 Die Staaten erscheinen als der Prototyp des Völkerrechtssubjekts, und alle anderen internationalen Subjekte sind, gemessen an diesem Richtwert, defizitär. Nach Sichtung der multiplen historischen Begriffe der Völkerrechtspersönlichkeit scheint folgender Begriff rechtsdogmatisch zweckmäßig: Völkerrechtssubjektivität (oder -persönlichkeit) ist Völkerrechtsfähigkeit. Die Völkerrechtsfähigkeit liegt der Inhaberschaft von Rechten voraus. Sie wird mit spezifischen Rechten und/oder Pfl ichten ausgefüllt, aber nicht durch diese konstituiert. Vielmehr setzt die Zuschreibung eines konkreten Rechts (z. B. aus einem Menschenrechtspakt) oder einer Pfl icht an einen Akteur implizit voraus, dass dieser überhaupt rechtsfähig ist. Aus der Anerkennung der Rechtsfähigkeit folgen nicht automatisch bestimmte, konkrete Rechte oder Berechtigungen. Die Rechtsfähigkeit kann theoretisch gänzlich leer bzw. funktionslos bleiben, wenn keinerlei spezifischen Rechte verliehen werden. Damit sagt die Völkerrechtsfähigkeit über die reale Rechtsposition einer konkreten Einheit nichts aus. Die Völkerrechtsfähigkeit des Individuums wäre also ein Potential, aber ein für die Emanzipation des Menschen wesentliches. Die so verstandene Völkerrechtsfähigkeit des Individuums ist analytisch unabhängig von der Richtigkeit einer monistischen, dualistischen oder pluralistischen Theorie. Zusammengenommen stellen das Anwachsen der internationalen Individualrechte und -pfl ichten, die Vermutung des subjektivrechtlichen Gehalts völkerrechtlicher Normen sowie das teleologisch interpretierte Menschenrecht auf Rechtsfähigkeit die Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen auf eine neue Rechtsgrundlage.

125 In diesem Sinne auch Hélène Ruiz Fabri, Les catégories de sujet du droit international, in: Société française pour le droit international (Hrsg.), Colloque de Mans: Le sujet en droit international (Paris 2005), 55 – 71 (66).

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III. Das subjektive internationale Recht als Chiffre der originären Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen 1. These Der Begriff des subjektiven internationalen Rechts soll den qualitativen Sprung der Herausbildung einer im ethischen und dogmatischen Sinne originären (primären) Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen kennzeichnen. Rechtsempirisch existieren jenseits der Menschenrechte zahlreiche individuelle Völkerrechtspositionen. Diese Rechte und Pfl ichten setzen rechtslogisch die Völkerrechtspersönlichkeit des Einzelnen voraus. Die implizite Zuerkennung der Rechtssubjektivität des Einzelnen kann also aus den vertraglich eingeräumten Rechtspositionen erschlossen werden. Diese Vertragspraxis bildet gleichzeitig, wie oben dargelegt, eine völkergewohnheitsrechtsbegründende Übung.126 Die in Entstehung begriffene Völkergewohnheitsrechtsnorm der originären und umfassenden Völkerrechtspersönlichkeit des Einzelnen wird außerdem entscheidend durch die Neuinterpretation des Menschenrechts auf Rechtsfähigkeit gestützt. Dieses Menschenrecht ist gewohnheitsrechtlich beziehungsweise als allgemeiner Rechtsgrundsatz fundiert. Wie oben näher dargelegt,127 sollte in einer globalisierten Welt diese Norm teleologisch dahingehend erweiternd ausgelegt werden, dass das Menschenrecht auch eine internationale Rechtsfähigkeit gewährt, weil eine auf den nationalen Raum beschränkte Rechtsfähigkeit dem Menschen keinen ausreichenden Schutz vor der Willkür politischer Herrschaft bietet.

2. Sieben Einwände und ihre Entkräftung Gegen die These der Originärität der Völkerrechtspersönlichkeit des Einzelmenschen wird, erstens, eingewendet, dass diese dogmatisch unmöglich sei, da sie zwangsläufig staatsgewährt sei: „Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen“. Hierauf ist zu erwidern, dass die Originarität der Rechtsfähigkeit des Menschen im Völkerrecht nach denselben Kriterien wie die nationale Rechtsfähigkeit beurteilt werden sollte. Auch letztere wird in staatlichen Gesetzen normiert und dennoch als originär und nicht bloß derivativ anerkannt. So gilt seit der Auf klärung und dem Idealismus die Rechtspersönlichkeit als die Fähigkeit, subjektive Rechte zu haben, als „notwendiges Attribut des Menschen als sittlicher Person“.128 Dementsprechend 126

Siehe oben Teil II.2. e) bb). Siehe oben Teil II.2. e) cc). 128 Helmut Coing, Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorien der Menschenrechte, in: Ernst Wolff (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsforschung (Berlin und Tübingen: de Gruyter und Mohr 1950), 191, 201. So unterschied Kant zwischen Sachen und Personen: „ . . . dagegen [werden] vernünftige Wesen Personen genannt, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. etwas, das nicht bloss als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Wilhelm Weischedel, Werkausgabe Bd. 7 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp), 60 (Hervorhebung der Verf.). Folglich habe „[e]in jeder Mensch . . . rechtmässig Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, 127

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lautet der erste Satz von § 16 des österreichischen ABGB von 1811, der immer noch in Kraft steht: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten.“129 Nach diesem Verständnis kommt die allgemeine bürgerliche Rechtsfähigkeit grundsätzlich jedem Menschen in gleicher Weise zu. Der Mensch ist Träger natürlicher Rechte, daher Person, Rechtssubjekt. Diese Eigenschaft ist dem Menschen wesentlich. Sie ist nicht von der positiven Rechtsordnung abhängig, sondern ihr vorgegeben.130 Wie das Verständnis der Rechtsfähigkeit im nationalen Recht zeigt, hindert die Tatsache staatlicher Normierung der Rechtsfähigkeit (und damit auch die Möglichkeit ihrer Streichung aus dem positiven Recht) nicht das Verständnis als originäre und damit zu einem gewissen Grad staatsunabhängige menschliche Eigenschaft. Ferner kann der Einwand durch den Hinweis auf die ähnliche Debatte im deutschen Spätkonstitutionalismus relativiert werden. Damals befanden Kritiker, es könne kein subjektives öffentliches Recht geben, da es keine Rechte gegen den Staat geben könne bzw. diese notwendigerweise immer vom Staat selbst gewährt sein müssten. Diesem Einwand begegnete Georg Jellinek, in dem er das subjektive öffentliche Recht speziell aus der „freiwilligen“ Selbstverpfl ichtung des Staates herleitete.131 Auch im innerstaatlichen Bereich wurde (und wird) die Selbstbindung der öffentlichen Gewalt in den Formen des Rechts als die Essenz von Rechtsstaatlichkeit angesehen, und dann erst kann von Rechten die Rede sein. Dementsprechend wird im heutigen nationalen Recht aus der Tatsache der (bloßen) Selbstverpfl ichtung des Staates kein Einwand mehr gegen die Existenz von subjektiven (öffentlichen) Rechten hergeleitet. Dieser Einwand sollte auch in der völkerrechtlichen Dogmatik als überholt gelten. Auch hier ist die Idee der Selbstbindung oder – in der Rational choice-Terminologie – des „pre-commitment“ des Staates verbreitet, um die Funktionsweise des Völkervertragsrechts zu erklären.132 Weil der Staat unter der Herrschaft des Rechts die pound wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden.“ (Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. 8, 600). Hegel stellte fest: „Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechtes aus. Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hamburg: Felix Meiner Verlag 1995), § 36 (52)). 129 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch vom 1. Juni 1811, in Kraft seit 1. Januar 1812. 130 Mit § 16 ABGBG wurde under dem Einfluss Kants der Begriff der allgemeinen Rechtsfähigkeit des Menschen erstmalig in ein privatrechtliches Gesetzbuch übernommen. Siehe zum Einfluss Kants über die Umsetzung seiner Lehren in die Praxis des österreichischen Privatrechts durch den Wiener Naturrechtslehrer Franz A. Edler von Zeiller (1753 – 1828): Hermann Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (Karlsruhe: C. F. Müller 1956), 21 – 28. 131 Jellinek, System 1905 (Fn. 80), 85 f. Hierzu Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts: Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht (Berlin: Duncker & Humblot 1997), 63. 132 Allerdings behandelt diese Sichtweise die Staaten als „black box“ und vernachlässigt, dass die von ihnen eingegangenen Bindungen auf den Entscheidungen mehrerer (auch in zeitlicher Abfolge verschiedener) politischer Akteure beruht, so dass die Idee der „Selbst“-Bindung simplizistisch erscheint. Hierzu Anne Peters, Precommitment Theory Applied to International Law: Between Sovereignty and Triviality, University of Illinois Law Review (2008), 239 – 252. Siehe ausserdem die Erwägungen im Text nach Fn. 91.

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sitiven Normierungen der Individualrechte nicht ohne weiteres wieder rückgängig machen darf, und aufgrund des politischen „lock-in“ auch nicht kann, verfängt der Einwand „Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen“ gegen die Möglichkeit einer originären Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen letztlich nicht.133 Zweitens wird eingewendet, dass die Frage nach der Völkerrechtspersönlichkeit eines Akteurs eine theoretische Spielerei sei. Diese sei zum einen irrelevant, weil es praktisch auf die einzelnen Rechte und Pfl ichten ankomme, die wiederum rechtsempirisch nachgewiesen werden können. Nur diese konstituieren, so die pragmatische Sichtweise, den realen und wirksamen Rechtsstatus einer Entität, auch des Individuums.134 Die Suche nach der Rechtssubjektivität sei, so der noch weiter zugespitzte Einwand, sogar irreführend, weil die Etikettierung eines Akteurs als Rechtssubjekt suggerieren könnte, dass dieser Rechte und Befugnisse habe, die ihm gar nicht zukommen. Der gemeinsame Oberbegriff könnte außerdem die praktisch wichtigere Tatsache verdecken, dass die so genannten Völkerrechtssubjekte einen jeweils ganz unterschiedlichen Bestand an Rechten und Pfl ichten haben. 135 Dieser Einwand geht von der zutreffenden Einsicht aus, dass aus der Völkerrechtssubjektivität nicht auf einen Grundbestand an Rechten (z. B. der Vertragsschlussfähigkeit) geschlossen werden kann.136 Denn Völkerrechtspersönlichkeit heißt Völkerrechtsfähigkeit und nicht Völkerrechtsträgerschaft. Insofern ist die Völkerrechtssubjektivität ein reiner „Formalbegriff.“137 Dennoch ist es nicht überflüssig, die Rechtsfähigkeit gesondert zu benennen, weil nur die explizite Konzeptualisierung der Rechtsfähigkeit es erlaubt, einem Akteur neue Rechte, auch unabhängig von deren vertraglicher Einräumung, zuzuerkennen. Abgesehen von der darin liegenden dogmatischen Unschärfe138 führt die Gleichsetzung der Rechtspersönlichkeit mit dem Bestand an Rechten dazu, dass der Status des Rechtssubjekts gefangen ist im Stand des positiven Rechts. Hierin liegt auch der Unterschied zwischen einer nur vertraglich fundierten Rechtspersönlichkeit des Einzelnen und der in diesem Beitrag befürworteten menschenrechtlich und gewohnheitsrechtlich begründeten Rechtssubjektivität. Die unterschiedliche Ableitung hat einen unterschiedlichen Umfang der Rechtsfähigkeit zur Folge. Eine aus den vertraglich normierten Rechten und Pfl ichten rückgeschlossene Rechtsfähigkeit ist per se nur partiell, da sie sich nur auf die jeweils vertraglich 133 Daillier/Pellet, Droit international public 2002 (Fn. 102), 649 f.: Selbst wenn Individuen die Rechte und Pfl ichten anfänglich von Staaten verliehen worden sein mögen, so kommt es auf den Willen der Staaten, wie er sich im Stadium der Entstehung der Norm geäussert haben mag, im weiteren Verlauf nicht mehr an. Denn diese Normen können dem Staat dann entgegengehalten werden, ohne dass er nochmals zustimmen müsste. Eine eventelle Weigerung der ausdrücklichen Zustimmung kann dadurch „unwirksam“ gemacht werden. 134 Thilo Marauhn, Vorwort, in ders. (Hrsg.), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht (Tübingen: Mohr Siebeck 2003), V: „Genügt es aber, … dem Einzelnen Völkerrechtssubjektivität zu attestieren? Muss nicht vielmehr danach gefragt werden, wie sich diese ‚Statusveränderungen‘ konkret auswirken?“ 135 So etwa Brownlie, Principles 2008 (Fn. 74), 65: „to classify the individual as a ‚subject‘ of the law is unhelpful“. 136 Siehe oben Teil II.3. 137 Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht 2002, Bd. I/2 (Fn. 123), 267. 138 Dazu oben Teil II.3.

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eingeräumten punktuellen Rechte (und Pfl ichten) bezieht. Demgegenüber wäre eine gewohnheitsrechtlich fundierte Rechtsfähigkeit nicht nur punktuell, sondern ein a priori unbegrenztes Potential. Mit welchen Rechten sie ausgefüllt wird ist eine andere Frage, die zwar praktisch wichtig ist, aber rechtskonstruktiv sekundär.139 Stellt aber das hier propagierte Menschenrecht auf Rechte einen Münchhausentrick dar, mit dem neue völkerrechtliche Individualrechte erschlichen werden? Dies ist nicht der Fall, weil die analytische Trennung von Rechtsfähigkeit und Rechten den in der Literatur oft anzutreffenden Zirkel (Schluss von den Rechten auf die Subjektstellung und damit auf weitere Rechte) gerade durchbricht. Ein dritter (nur auf den ersten Blick gewichtiger) Einwand gegen das Konstrukt des subjektiven internationalen Rechts ist, dass dieses einer nationalen, nicht allgemein anerkannten oder rezipierten Rechtstradition entspringt. Selbst innerhalb Europas läuft es der traditionellen französischen Rechtsauffassung, in welcher der Einzelne als Wächter der Legalität vor den Verwaltungsgerichten das objektive öffentliche Recht durchsetzen soll, zuwider. Nicht von ungefähr bezeichnete der Romanist Michel Villey das subjektive Recht als eine „notion barbare et confuse“.140 Möglicherweise ist die Idee für andere, außereuropäische Rechtskulturen ebenfalls ungewohnt. Die Nichtuniversalität eines Rechtsbegriffs ist jedoch kein sachlicher Grund für seine Verwerfung, solange er universell anerkannte Funktionen erfüllt. Die neuen internationalen Normen und die Rechtsprechung zeigen, dass das Bedürfnis nach einer juristischen Positionierung des Individuums im Völkerrecht besteht und dass die Sprache des individuellen oder subjektiven Rechts in internationalen Foren Verwendung fi ndet.141 Das Konzept des subjektiven internationalen Rechts ist somit universalisierbar. Viertens könnte eingewendet werden, dass die Völkerrechtsfähigkeit des Menschen letztlich nur mit seiner Qualität als Mensch, damit naturrechtlich, begründet werden könne. Eine derart arme Rechtfertigung würde nicht die Standards einer wissenschaftlichen Theorie erfüllen. Jedoch verhält es sich mit der Begründung der Völkerrechtspersönlichkeit des Menschen nicht anders als mit den Menschenrechten. Auch deren Begründung ist philosophisch schwierig und läuft vielfach auf ein Trivialnaturrecht hinaus. Vielleicht müssen wir uns mit dem Verweis auf einen empirisch nachweisbaren diesbezüglichen universellen Wertekonsens begnügen.142 Ein solcher 139 Siehe IGH, Reparations for Injuries (Fn. 97), 178: „The subjects of law in any legal system are not necessarily identical … in the extent of their rights“. 140 Villey, Pensée juridique 1975 (Fn. 12), 236. 141 Siehe IGH, LaGrand Case (Fn. 83), Rn. 77; IGH, Case Concerning Avena and other Mexican Nationals (Mexico v. United States of America), ICJ Reports 2004, 12, Rn. 40; IGH, Ahmadou Sadio Diallo (Fn. 104), Rn. 87; Inter-Amerikanischer Gerichtshof, Advisory Opinion OC-16/99 „The Right to Information on Consular Assistance in the Framework of the Guarantees of the Due Process of Law“ (vom 1. Oktober 1999), Rn. 77 – 84; EuGH, Rs. 118/75, Lynne Watson, Slg. 1976, 1185, Leitsatz 1. 142 Möglicherweise gibt es einen anthropologisch „begründbaren“ Mindeststandard, der empirisch und ex post aus einer Analyse universeller Werturteile gewonnen werden könnte. Er steht nicht apriorisch fest, sondern stützt sich auf Beobachtungen und könnte dementsprechend auch wandelbar sein. Wenn man sich auf Werturteile und nicht auf faktische Bedürfnisse stützt, wird kein naturalistischer Fehlschluss begangen. Siehe für eine „Dynamisierung des Naturrechts“, d.h. die Trial-and error-Prüfung von Normen auf ihre Humanität hin Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt (Münster: Aschendorff 2008), 127.

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ist auch in Bezug auf die Völkerrechtspersönlichkeit des Einzelnen in Entstehung begriffen. Fünftens könnte das subjektive internationale Recht in rechtspolitischer Hinsicht kontraproduktiv sein. Beispielsweise kündigten die USA in Folge des LaGrand-Urteils, in dem der Staat wegen Verletzung des Wiener Konsularrechtsübereinkommens vom IGH verurteilt worden war, das Fakultativprotokoll zu jenem Übereinkommen, um sich für die Zukunft der Gerichtsbarkeit des IGH zu entziehen.143 Ein anderes Beispiel ist die Kündigung des Fakultativprotokolls zum IPBürg durch Trinidad und Tobago wegen der Kritik des UN-Menschenrechtsausschusses an der Todesstrafenpolitik (insbesondere des sehr langen Verbleibs der Häftlinge im Todestrakt) im Jahr 1998. Der Kleinstaat trat dem Protokoll, das die Möglichkeit von Individualbeschwerden einräumt, am selben Tag wieder bei, aber mit einem Vorbehalt, nach dem alle Beschwerden für Häftlinge bezüglich der Todesstrafe ausgeschlossen werden.144 Die Auf kündigung der Unterwerfung unter ein internationales Gericht durch einen Staat (insb. eine Großmacht) hat jedoch nicht speziell damit zu tun, dass die involvierten Interessen Einzelner als subjektive Rechte anerkannt werden. Die USA hatten bereits im Jahr 1986 nach ihrer Verurteilung wegen der Verletzung des Gewaltverbots, also einer zwischenstaatlichen Norm par exellence, ihre allgemeine Unterwerfungserklärung unter die Jurisdiktion des IGH zurückgezogen. Jedoch beeinflusst die Gefahr von Einzelklagen das Kosten-Nutzen-Kalkül eines Staates in Bezug auf seine Beteiligung an einem internationalen Regime, einschließlich der darin eingesetzten Kontrollorgane. Dies dürfte ein Grund sein, weshalb die USA zwar die Amerikanische Menschenrechtserklärung akzeptieren, jedoch nicht der AMRK beigetreten sind und damit die vertragsbasierten Zuständigkeiten der inter-amerikanischen Menschenrechtsschutzinstanzen nicht anerkennen. Auf den pragmatisch-realistischen Einwand der Nichtakzeptanz ist zu erwidern, dass Recht per definitionem kontrafaktisch ist und außerdem selbst eine realitätsprägende „faktische Kraft des Normativen“ besitzt. Eine antizipierende Resignation der Rechtswissenschaft angesichts politischer Widerstände wird diesem Wesen nicht gerecht. Jedoch dürfen die normativen Anforderungen an die Rechtsunterworfenen nicht überspannt werden, um Reaktionen wie die geschilderten, welche die normative Kraft des Völkerrechts insgesamt unterminieren, nicht zu provozieren.145 Meines Erachtens zeigt die Völkerrechtsentwicklung insgesamt, insbesondere die massive Zunahme der Individualrechte jenseits der Menschenrechte, dass die Zeit reif ist für die Konzeptionierung des subjektiven internationalen Rechts. Aber wird nicht, und dies ist ein sechster Einwand, mit dem Begriff des subjektiven internationalen Rechts die Sprache der „Rechte“ überstrapaziert? In ihrem Werk „Rights Talk“ fragt Mary Ann Glendon, „ob die undifferenzierte Rede von 143

Kündigungsschreiben der US Aussenministerin an den UN-Generalsekretär vom 7. März

2005. 144 UN-Menschenrechtsausschuss, Kennedy v. Trinidad and Tobago, Individualmitteilung Nr. 845/1998 (UN-Doc. CCPR/C/67/D/845/1999), Zulässigkeitsentscheidung vom 31. Dezember 1999, abgedr. in EuGRZ 27 (2000), 615. 145 Laurence R. Helfer, Overlegalizing Human Rights: International Relations Theory and the Commonwealth Caribbean Backlash against Human Rights Regimes, Columbia Law Review 102 (2002), 1832 – 1911.

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Rechten wirklich der beste Weg ist um die erstaunliche Vielfalt von Ungerechtigkeiten und Formen des Leidens, die in der Welt existieren, anzusprechen“.146 Wirkt es sich nicht nachteilig auf das Funktionieren der Gesellschaft aus, dass Anspruchsinhaber nicht mehr zuhören und keine Kompromisse mehr treffen müssen? Verkümmert durch die Fokussierung auf einklagbare Rechte der demokratische Politikprozess? Schwächt die Berufung auf Rechte die menschlichen Bindungen, vermindert sie das Vertrauen und verhindert persönliche Nähe? 147 Diese Gefahren mögen in nationalen Gesellschaften und im Rahmen eines ausgereiften, hochdifferenzierten und stark rechtsbasierten nationalen Rechtssystems drohen. Sie betreffen vor allem private Rechte gegen Privatpersonen und damit die zwischenmenschlichen Beziehungen, weniger aber staatsgerichtete subjektive öffentliche Rechte. Hinzu kommt eine weitere Problemverschiebung auf der internationalen Ebene. Im internationalen Diskurs ist eine Proliferation speziell von Menschenrechtsbehauptungen zu verzeichnen. Diese führt tendenziell zu einer Abwertung der Menschenrechte. Die Zuerkennung eines Menschenrechts-Etiketts befördert unbeabsichtigt ihre Trivialisierung. Im Gegensatz dazu trägt es zur Wahrung der Hochwertigkeit der Menschenrechte bei, wenn das Siegel eines Menschenrechts denjenigen Rechten vorbehalten wird, die für die menschliche Entfaltung essentiell sind. Somit könnte die Herausbildung individueller Rechte „unter“ der Normstufe der Menschenrechte und auch das Konzept des „einfachen“ subjektiven internationalen Rechts die normative Kraft der Menschenrechte stärken, weil sie ihrer Inflation gegensteuert. Schließlich könnte siebtens durch die (vertragliche und richterrechtliche) Schaffung und mit der wissenschaftlichen Begründung von Individualrechten, die nicht international durchgesetzt werden, ein Verlust der Wirksamkeit des Völkerrechts allgemein drohen.148 Um diesen Einwand zu würdigen, muss an die Ratio der überkommenen These von der Koppelung des materiellen Individualrechts mit seiner prozessualen Durchsetzbarkeit erinnert werden. Sie liegt im völkerrechtlichen Effektivitätsprinzip. Nach diesem erfordern viele völkerrechtliche Rechtsinstitute schon als Tatbestandsmerkmal die Übereinstimmung der Norm mit den realen Verhältnissen.149 Das heißt, die Effektivität ist zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung eines völkerrechtlichen Anspruchs. Der Sinn des Effektivitätsprinzips ist es, das Auseinanderklaffen von Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit zu verhindern. Weil die völkerrechtlichen Ansprüche entwertet würden, wenn sie nicht realisierbar wären, so die Überlegung, ist es besser, nicht-durchsetzbare, also nichteffektive Titel gar nicht erst als Recht anzuerkennen. Das Effektivitätsprinzip spielt im Völkerrecht eine größere Rolle als im nationalen Recht, weil das Völkerrecht verwundbarer ist. Es steht keine zentrale, mit Gewaltmonopol ausgestattete Macht hinter dem Recht, die in allgemeiner Weise die Wirksamkeit des Völkerrechts garantieren würde, und deshalb ist Mikro-Effektivitätsmanagement wichtig. 146 Mary Ann Glendon, Rights Talk: The Impoverishment of the Political Discourse (New York: The Free Press 1991), 16 (Übersetzung der Verf.). 147 So Wiktor Osiatyn´ski, Human Rights and Their Limits (Cambridge: CUP 2009), insb. 187 f. 148 Grzeszick, Rechte des Einzelnen 2005 (Fn. 91), 342. 149 Die Existenz eines völkergewohnheitsrechtlichen Satzes setzt eine entsprechende Praxis voraus, die Existenz eines Staates als Völkerrechtssubjekt setzt eine effektive Regierung voraus, etc.

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Demgegenüber scheint das nicht per se auf internationaler Ebene vom Individuum selbst einklagbare subjektive internationale Recht nicht automatisch effektiv zu sein. Jedoch kann mit der dezentralen Durchsetzung der Individualrechte durch nationale Institutionen auf der Grundlage einer großzügigeren Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit individualschützender Völkerrechsnormen (hierzu Teil III.3.a)) die Effektivität der subjektiven internationalen Rechte gesteigert werden.

3. Rechtsfolgen des subjektiven internationalen Rechts Die Anerkennung des subjektiven internationalen Rechts hat fassbare juristische Konsequenzen und birgt eine Reihe dogmatischer, systemischer und rechtspolitischer Vorzüge.

a) Rechtsschutz Das subjektive internationale Recht legitimiert die politische Forderung nach Individualrechtsschutz gegen die nationale Hoheitsgewalt150 (und gegen die internationale, hierzu später). Zwar ist mit der Qualifizierung einer Völkerrechtsnorm als Individualrecht keine automatische internationale Durchsetzbarkeit verbunden. Gleichzeitig ist die grundsätzliche Möglichkeit von individuellem Rechtsschutz auf der internationalen Ebene längst anerkannt und wird auch jenseits des Menschenrechtsschutzes praktiziert, beispielsweise durch ICSID-Schiedsgerichte. Man könnte also einwenden, dass die Rechtsfolge der internationalen Durchsetzbarkeit von Völkerrecht durch Einzelpersonen unabhängig von der Existenz eines subjektiven internationalen Rechts sei. Jedoch ist Rechtsschutz eine naheliegende (wenn auch nicht zwingende) Konsequenz des subjektiven Rechts. Somit verschafft die Theorie des subjektiven internationalen Rechts der bereits existierenden Individualdurchsetzungspraxis eine theoretische Grundlage und kann damit zugleich das geistige Fundament für ihre Ausweitung legen. Hier wäre die kritische Überlegung anzufügen, dass es im Völkerrecht in Ermangelung einer obligatorischen Gerichtsbarkeit selbst für Staaten keinen automatischen Zugang zu Rechtsschutz gibt. Wieso soll ein solcher für Individuen gewährt werden? Die Antwort muss von der Einsicht ausgehen, dass nur Individuen Rechte um ihrer selbst willen haben. Demgegenüber haben Staaten Befugnisse oder Kompetenzen, die ihnen die Aufgabenerfüllung im Interesse von Menschen ermöglichen. Der Staat ist eine (Menschen) dienende Institution, kein Selbstzweck.151 Völkerrechtlicher 150 Auch diese Legitimationsfunktion kann mit der des Jellinek’schen subjektiven öffentlichen Rechts im deutschen Spätkonstitutionalismus verglichen werden. Dazu Masing, Mobilisierung des Bürgers 1997 (Fn. 131), 65 f. mit Fn. 47. 151 Diese Erwägung stellte für die Völkerrechtslehrer der Zwischenkriegszeit, die für die Anerkennug der Völkerrechtssubjektivität des Individuums stritten, ein Hauptargument dar. „Depuis que le dogme de la souveraineté absolue a été ébranlé depuis que l’État a été dépouillé de toute personification mystique, enfi n que la conviction se fait jour que l’État n’est pas une fin en soi, mais simplement un moyen de satisfaction de besoins individuels on commence à se rappeler que tout droit – par conséquent le droit

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Rechtsschutz für Staaten ist dementsprechend anders motiviert als der völkerrechtliche Rechtsschutz für Individuen. Ersterer ist nur funktional und nicht existenziell begründbar. Die durch die staatliche Souveränität verhinderte internationale obligatorische Gerichtsbarkeit und die ebenfalls aus Souveränitätsgründen gewährte Immunität von Staaten, die ihre Aburteilung durch fremdstaatliche Gerichte verhindert, kann die Begrenzung von Rechtsschutz für die Sicherung internationaler Individualrechte nicht ohne weiteres rechtfertigen. Der Rechtsschutz für das Individuum wird allerdings vor allem durch die staatlichen Institutionen realisiert. Die internationalen subjektiven Rechte werden und sollen primär durch nationale Institutionen durchgesetzt werden.152 Insofern beinhaltet das subjektive internationale Recht ein Recht auf Abhilfe auf nationaler Ebene, ein „right to a local remedy“. Aus der Qualifi kation einer völkerrechtlichen Norm als individualrechtsschützend folgt also ein individueller völkerrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung innerstaatlicher Durchsetzungsmechanismen. Die prinzipielle Möglichkeit eines solchen völkerrechtlichen Anspruchs auf die innerstaatliche Abhilfe bei Verletzung der Normen des Völkerrechts durch den Staat ist im geltenden Völkerrecht gut verankert. „Local remedies“ ist ein alter fremdenrechtlicher Grundsatz in dem Sinne, dass die durch einen fremden Staat geschädigte Privatperson vor der Beanspruchung des diplomatischen Schutzes ihres Heimatstaates erst den staatlichen Rechtsweg im Schädigerstaat selbst durchlaufen muss. Dieses Institut dient in herkömmlicher Perspektive vor allem dem Schutz der Souveränität des Gaststaates, weil ihm dadurch die Chance gegeben wird, das Problem selbst und ohne Einmischung einer internationalen Instanz zu beheben. Es sind heute jedoch Ausnahmen vom Erschöpfungserfordernis zugunsten des Einzelnen anerkannt, und im Einzelfall wird eine Abwägung zwischen staatlicher Souveränität und individuellem Rechtsschutzinteresse verlangt.153 Der neue völkerrechtliche Trend der stärkeren Berücksichtigung der Individualinteressen des Geschädigten kann nicht nur durch das Absehen vom Erfordernis des Durchlaufens des nationalen Rechtswegs, sondern umgekehrt, und unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips folgerichtig, mit Hilfe einer Pfl icht des Gaststaates zur Bereitstellung der „local remedies“ realisiert werden. Diese Pfl icht ergibt sich erstens aus der Indienstnahme der nationalen Gerichte für die effektive und faire Beilegung eines Streitfalles, die im Interes-

des gens lui-même − n’existe en dernière analyse que pour la protection des individus.“ Jean Spiropoulos, L’individu et le droit international, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 30 (1929/V), 191 – 270 (197; Hervorhebung der Verf.); in diesem Sinne auch Politis, Nouvelles tendances 1927 (Fn. 4), 76. Die Befürworter der Völkerrechtspersönlichkeit des Individuums stellten sich damit gegen die Hegel’sche Erhebung des Staates zum Selbstzweck. Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. I: Einleitung – Die Vernunft in der Geschichte (hrsg. von Georg Lasson) (Leipzig: Felix Meiner Verlag 1920), 91: „Der Staat ist nicht um der Bürger willen da; man könnte sagen, er ist der Zweck, und sie sind seine Werkzeuge.“ 152 Vgl. IGH, Avena (Fn. 141). Hier bejahte der IGH ein internationales individuelles Recht aus dem WÜK, forderte aber dennoch, dass dieses in erster Linie im Rechtssystem der Vereinigten Staaten durchgesetzt werden solle (Rn. 40). 153 Felix Chittarajan Amerasinghe, Diplomatic Protection (Oxford: OUP 2008), 142 – 190 (insb. 189 f.).

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se der internationalen Gemeinschaft liegt.154 Die Bereitstellungspfl icht ergibt sich auch aus der funktionalen Verklammerung: Wenn die Erschöpfung des nationalen Rechts eine Zulässigkeitsvoraussetzung ist, dann muss auch eine korrespondierende völkerrechtliche Pfl icht zur Bereitstellung einer Abhilfemöglichkeit bestehen, andernfalls wäre die Voraussetzung sinnlos. Denn der diplomatische Schutz (und die internationalen Menschenrechtsschutzinstanzen, deren Anrufung ebenfalls die Rechtswegerschöpfung voraussetzt155), liefen ansonsten leer.156 Somit hat die Auslegung einer völkerrechtlichen Regelung als Individualrecht die greif bare und praktische Rechtsfolge, dass über den daraus fl ießenden Anspruch des Einzelnen auf Zugang zu nationalen Individualrechtsschutzverfahren der verfahrensrechtliche Schutz des Einzelnen in Bezug auf die völkerrechtliche Regelung im verpfl ichteten Staat verbessert wird.157 Daneben (und nur scheinbar paradox) wird durch das subjektive internationale Recht die Rolle des Einzelnen als „Funktionär“ oder Sachwalter, als „gardien“ der völkerrechtlichen Legalität gestärkt. Diese Rolle ist in einem dezentral zu vollziehenden System wie dem internationalen besonders wichtig für die Sicherung seiner Wirksamkeit. Mit der Zuweisung dieser Wächterrolle ist keine menschenverachtende Instrumentalisierung des Einzelnen verbunden. Zwar gab und gibt es internationale Verträge und Regime, die den Menschen in den Dienst nehmen. Beispielsweise ist das in der Aarhuskonvention garantierte individuelle Zugangsrecht zu Umweltinformationen „ – im Unterschied zu den ‚reinen Menschenrechten‘ – nicht nur um den Schutz von Rechtsgütern der Einzelnen, sondern auch um die Fruchtbarmachung der Rolle des Einzelnen für die Verfolgung bestimmter Interessen des Allgemeinwohls“ gewährt.158 Ein bekannter Fall sind auch die frühen Versionen der europäischen Integrationsverträge, in denen der Mensch als „Marktbürger“ erschien, der durch die Wahrnehmung seiner Grundfreiheiten die europäische Integration vorantreiben sollte.159 Insbesondere die Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit europäischer Richtlinien durch nationale Gerichte wurde unter dem Gesichtspunkt der (potentiell verwerfl ichen) Instrumentalisierung des Bürgers kritisiert.160 Tatsächlich sind die EU-Grundfreiheiten, im Gegensatz zu Menschenrechten, an grenzüberschreitende Aktivitäten geknüpft, und sie sind dienend zur Schaffung eines Gemeinsamen Markts.

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Felix Chittarajan Amerasinghe, Local Remedies in International Law (2. Aufl. Cambridge: CUP 2004), 62 f. und 427. 155 Siehe unten Fn. 166. 156 AJP Tammes, The Obligation to Provide Local Remedies, in Volkenrechtelijke Opstellen – Aangeboden aan Profesor Dr Gesina HJ van der Molen (1962), 152 – 168. 157 Grzeszick, Rechte des Einzelnen 2005 (Fn. 91), 337. 158 Astrid Epiney/Martin Scheyli, Die Aarhus-Konvention: Rechtliche Tragweite und Implikationen für das schweizerische Recht (Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag 2000), 94. 159 Vgl. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (26) – Van Gend & Loos: „die Wachsamkeit der an der Wahrnehmung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten […] ausgeübte Kontrolle ergänzt.“ 160 Kritisch Masing, Mobilisierung des Bürgers 1997 (Fn. 131), insb. 176 – 181. Siehe für eine grundsätzliche Erwiderung Martin Nettesheim, Subjektive Rechte im Unionsrecht, AöR 132 (2007), 333 – 392 (insb. 355).

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Jedoch wird heute diesen Grundfreiheiten ein immer stärkerer grundrechtsähnlicher, d. h. der menschlichen Entfaltung und Würde dienender Zweck zugesprochen.161 Und der dezentrale Vollzug des EU-Rechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte dient letztlich ebenfalls den Rechten der Einzelnen.162 Eine solche Doppelfunktion des dezentralen Vollzugs des Völkerrechts ist ebenfalls anzunehmen. In der Ära der internationalen Menschenrechte geht das Menschenbild der gegenwärtigen internationalen Ordnung dahin, dass Menschen Selbstzweck sind und wegen ihres Menschseins vom Völkerrecht respektiert, geschützt, und ermächtigt werden sollen. Die Mobilisierung ihres Eigeninteresses für den Vollzug des Völkerrechts steht dem nicht entgegen, sondern dient gleichermaßen diesem Ziel. Eine „nur“ staatliche Durchsetzungsmöglichkeit einer individualschützenden internationalen Norm ist kein Hinderungsgrund, diese als echtes subjektives internationales Recht zu qualifizieren.163 Denn in einem Mehrebenensystem sind die staatlichen Gerichte ein funktionales Äquivalent zu internationalen Gerichten und Schiedsinstanzen („dédoublement fonctionnel“).164 Diese Funktion wird den staatlichen Gerichten nicht nur vom Völkerrecht zugewiesen, sondern kann parallel auch vom nationalen Recht angeordnet werden. So geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass „das Grundgesetz die Staatsorgane mittelbar in den Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts stellt“.165 Die staatlichen Gerichte sind sogar mehr als ein Äquivalent der internationalen Durchsetzungsinstanzen. Sowohl das Subsidiaritätsprinzip als auch praktische Erwägungen gebieten die Anerkennung der nationalen Institutionen nicht nur als gleichwertiges, sondern als vorrangiges Forum. Diese Rangfolge ist vor allem in der Menschenrechtspraxis etabliert. Hier sind die internationalen Institutionen (Menschenrechtsausschüsse und regionale Gerichtshöfe) nur die letzte Instanz und fungieren als Notanker nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs.166 In Bezug auf das internationale Strafrecht ist die Spruchtätigkeit der nationalen Strafgerichte, insbesondere in 161 Vgl. Thorsten Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts (Berlin: Duncker & Humblot 1999); Alexander Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV (Berlin: Duncker & Humblot 2005). 162 Siehe zur Anruf barkeit von Richtlinien durch Einzelne vor den nationalen Gerichten EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovic, Slg. 1991-I, 5357, Rn. 32: Die nationalen Gerichte müssen „die volle Wirkung dieser Bestimmungen [des Unionsrechts] schützen und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsunionsrecht dem einzelnen verleiht“ (Hervorhebung der Verf.). Aus der Literatur Kadelbach, Verwaltungsrecht 1999 (Fn. 103), 77: Der Schutz von Individualinteressen ist neben dem Gebot der einheitlichen Wirksamkeit des Unionsrechts ein gleichwertiger Beweggrund für die Direktwirkung von Richtlinien. 163 Evelyne Lagrange, L’efficacité dans l’ordre juridique interne des normes internationales concernant la situation des personnes privées, Recueil des cours: Collected Courses of the Hague Academy of International Law (2010) (i.E.), Kapitel 1 (MS 15): „[L]a réalisation d’un droit subjectif international ou la sanction d’une obligation internationale pesant sur une personne privée peuvent être recherchées dans plus d’un ordre juridique étatique.“ 164 Georges Scelle, Le phénomène juridique du dédoublement fonctionnel, in: Walter Schätzel/HansJürgen Schlochauer (Hrsg.), Rechtsfragen der internationalen Organisation: Festschrift für Hans Wehberg zu seinem 70. Geburtstag (Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1956), 324 – 342. 165 BVerfG, Erste Kammer des 2. Senats, 2 BvR 2115/01, vom 19. September 2006, Rn. 58. Abgedr. in NJW (2007), 499 = EuGRZ 33 (2006), 684 ff. 166 Rechtswegerschöpfungserfordernis z. B. nach Art. 41 Abs. 1 lit. c) IPBürg; Art. 34 EMRK. Vgl. Paolo G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of Human Rights Law, AJIL 97 (2003), 38 – 79.

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Lateinamerika, kürzlich als quantitativ und qualitativ herausragender Faktor der Umsetzung und Weiterentwicklung dieses Völkerrechtszweiges nachgewiesen worden.167 Allerdings ist der dezentrale Vollzug des Völkerrechts kein Allheilmittel. Zwar ist er idealerweise nach dem Subsidiaritätsprinzip und bei Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze sowohl legitimer als auch effektiver als der zentrale Vollzug durch internationale Instanzen, deren Legitimität und Effektivität prekär sind. Andererseits ist in praxi der Rechtsschutz in vielen Staaten, gemessen an völkerrechtlichen Mindestvorgaben, defizitär. Selbsternannte Wächter einer dubiosen Legitimität können in unfairen Verfahren die anzuwendenden Völkerrechtsnormen divergierend auslegen.168 Dieser Gefahr begegnet das Komplementaritätsprinzip,169 nach dem die internationalen Instanzen nur dann eintreten dürfen und müssen, wenn der nationale Völkerrechtsvollzug ineffektiv oder illegitim ist. Gegen die Möglichkeit der individuellen Durchsetzung völkerrechtlicher Ansprüche vor staatlichen Gerichten werden oft Praktikabilitätserwägungen angeführt. Vor allem im Bereich des Rechts des bewaffneten Konfl ikts drohen Klagefluten, wenn einzelnen Opfern von Kriegsverbrechen und anderen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, die typischerweise ein Massenphänomen sind, Klagebefugnisse eingeräumt würden. Gerade die in einer Post-Konfl ikt-Situation fragilen Staaten könnten mit Massenklagen überfordert werden, womit das Ziel der Befriedung gefährdet würde. Hier müssen Kompromisse gefunden werden, um die Ziele der Individualgerechtigkeit und der Stabilisierung zu einem Ausgleich zu bringen, etwa durch die Zulassung der Einrede des Staatsnotstandes. Aus der Qualifi kation einer völkerrechtlichen Norm als internationales subjektives Recht folgt nicht notwendig auch ihr Charakter als subjektives öffentliches Recht im Sinne des Grundgesetzes, mit der Konsequenz der Anwendbarkeit der Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG, die einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Rechtsschutz gibt, der mit der Verfassungsbeschwerde einklagbar ist. Denn diese Qualifi kation richtet sich nach den Kriterien des deutschen Verwaltungs- und Verfassungsrechts.170 Jedoch kann eine Parallelität aus der verfassungsgestützten Pfl icht zur Berücksichtigung völkerrechtlicher Normen in der Auslegung, die ein internationales Gericht vornimmt, erwachsen.171 Diese Pfl icht deutscher Gerichte, „die einschlägige Judikatur der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen“ 172 ergibt sich „aus dem Grundsatz der Völkerrechts167 Kathryn Sikkink, The Justice Cascade: Human Rights Prosecutions and World Politics (New York: W. W. Norton 2011, i.E.). Bereits Hans Kelsen bezeichnete die staatlichen Strafgerichte als Organe der internationalen Gemeinschaft, die gleichzeitig nationales Recht und Völkerrecht anwenden (Kelsen, Principles of International Law 1966 (Fn. 4), 205 f. und 210). 168 Vgl. Kritisch IGH, Arrest Warrant (Democratic Republic of Congo v. Belgium), ICJ Reports 2002, 3 ff., Sondervotum von Präsident Guillaume, Rn. 15: Die uneingeschränkte Einräumung universeller Jurisdiktion an staatliche Gerichte „würde die Willkür erhöhen, zum Nutzen der Mächtigen, die als angebliche Vertreter einer unbestimmten ‚internationalen Gemeinschaft‘ handeln würden.“ (Übersetzung der Verf.). 169 Art. 17 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998. 170 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig 2010 (Fn. 2), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 152. 171 BVerfGE 111, 307 (2004), Rn. 30 – Görgülü. 172 BVerfG vom 19. September 2006 (Fn. 165), Rn. 53.

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freundlichkeit des Grundgesetzes in Verbindung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 59 Abs. 3 GG), welche die Entscheidungen eines völkerrechtlich ins Leben gerufenen internationalen Gerichts nach Maßgabe des Inhalts des inkorporierten völkerrechtlichen Vertrags umfasst“.173 Die Berücksichtigungspfl icht ist eine „verfassungsunmittelbare“ Pfl icht,174 und deshalb ist ihre Missachtung mit der Verfassungsbeschwerde rügbar. Auch solche Urteile des internationalen Gerichts, die in Verfahren gegen andere Staaten ergingen, entfalten eine „normative Leitfunktion“ und „Orientierungswirkung“ für deutsche Gerichte.175 Wenn ein deutsches Gericht eine Völkerrechtsnorm (in der Auslegung, die ihr das zuständige internationale Gericht gab) nicht ausreichend berücksichtigt, liegt darin eine Verletzung des thematisch einschlägigen Grundrechts des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.176 Nachdem also der IGH, um noch einmal den prominentesten Fall zu nennen, das Recht eines ausländischen Inhaftierten auf Belehrung über seinen Anspruch auf Kontakt mit seinem Heimatkonsulat als völkerrechtliches Individualrecht qualifi zierte, mussten aufgrund der Berücksichtigungspfl icht die deutschen Gerichte im Ergebnis ebenfalls ein subjektives Recht annehmen, dessen Verletzung im Strafprozess revisibel war.177

b) Adressaten Eine zentrale Frage ist die nach den Bindungsadressaten (Verpfl ichteten). Gegen wen ist das subjektive internationale Recht gerichtet? Subjektive Rechte sind eine Begleiterscheinung des Aufstieges des souveränen Staates. Die Ideologie des Individualismus im Sinne eines Bewusstseins von moralischen und juridischen Rechten des Individuums entstand parallel zur Konsolidierung des neuzeitlichen souveränen Staates.178 Durch die Zurückdrängung anderer Institutionen (Zünfte, lokale Herrscher, Kirche) trat die Einzelperson in ein unmittelbares Rechtsverhältnis zum Staat. Ihre Rechte sind vielfach Rechte gegen den Staat.179 Der Bindungsadressat des subjektiven internationalen Rechts ist demgegenüber keine einzelne Obrigkeit. Entsprechend der dezentralen Struktur des Völkerrechts ist das subjektive internationale Recht gegen eine Mehrzahl von Akteuren gerichtet. 173

Ibid., Rn. 58. Ibid., Rn. 54. 175 Ibid., Rn. 55 und 61 f.; das BVerfG spricht auch von einer „faktischen Präzedenzwirkung“. 176 Grundlegend BVerfG, Görgülü (Fn. 171), Rn. 63. 177 BVerfG vom 19. September 2006 (Fn. 165). 178 Diese Entwicklung wurde durch das mathematisch-quantitative Denken der Naturrechtslehrer des 17. Jahrhunderts begünstigt, weil „die Reduktion des Rechts auf das Individuum eine der Mathematik analoge Abstraktion der Rechtssubstrate zum ‚kleinsten notwendigen Teilchen‘“ war (Dieter von Stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht: Der Einfluß von Naturwissenschaften und Mathematik auf das Rechtsdenken und Rechtswissenschaft in zweieinhalb Jahrtausenden. Ein historischer Grundriß (Berlin: de Gruyter 1970), 70 f.). Ob der Aufstieg des Staates kausal für den Individualismus und die Konzeptionierung subjektiver Rechte war, ist umstritten und soll hier nicht entschieden werden. Kritisch Antony Black, Individuals, Groups and States: A Comparative Overview, in: Janet Coleman (Hrsg.), The Individual in Political Theory and Practice (Oxford: Clarendon 1996), 329 – 340 (330). 179 Cosnard, Rapport introductif 2005 (Fn. 85), 23. 174

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Verpfl ichtet sind in aller erster Linie Staaten. Sofern die von den Staaten geschlossenen Völkerrechtsverträge Individualrechte einräumen, was durch Auslegung zu ermitteln ist, haben die begünstigten Individuen einen echten, internationalen Anspruch gegen die Vertragsstaaten auf deren Einhaltung. Allerdings stellt sich angesichts des Wandels der Staatlichkeit durch Globalisierung, der Entgrenzung der Märkte und dem damit einhergehenden Machtzuwachs transnationaler Wirtschaftsunternehmen sowie der wachsenden Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsmacht internationaler Organisationen und Institutionen die Frage, ob die Fokussierung der Wissenschaft vom öffentlichen Recht auf subjektive Rechte, die vom Staat anerkannt werden und gegen diesen gerichtet sind, noch zeitgemäß ist.180 Eine diesbezüglich noch offene Diskussion betrifft die Bindung transnationaler Unternehmen an internationale Menschenrechte. Der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs über Menschenrechte und transnationale Gesellschaften und andere Wirtschaftsunternehmen postuliert, dass den Unternehmen, nachrangig nach den Staaten, eine „Verantwortung“, aber keine „Pfl icht“ obliegt. Diese Verantwortung soll nicht direkt aus völkerrechtlichen Menschenrechtsverträgen, sondern aus dem staatlichen Recht und den freiwilligen Selbstverpfl ichtungen und Verhaltenskodices der Unternehmen fl ießen.181 Damit wird sinngemäß nur eine Art mittelbare, aber keine unmittelbare Drittwirkung der Menschenrechtsverträge angenommen.182 Das subjektive internationale Recht richtet sich also bisher nicht gegen private Akteure.183 Anders als Wirtschaftsunternehmen üben internationale Organisationen Hoheitsgewalt aus und sind nicht selber Träger von Menschenrechten. Ihre Regierungstätigkeit hat ein immer größeres Potential zur Beeinträchtigung der Rechte einzelner. Subjektive internationale Rechte sollten deshalb auch gegen sie richtbar sein. Tatsächlich geht die Diskussion um die Bindung internationaler Organisationen an Menschenrechte diesen Weg.184 Konsequenterweise müssten dann auch Individualklagemöglichkeiten gegen die Organisationen eingeräumt werden. Solche Klagen waren bisher nur in einem sehr eingeschränkten Umfang gegen die EU möglich.185 Symptomatischerweise sind aber Direktklagen Einzelner gegen die EU-Organe nur unter engeren Voraussetzungen zulässig als gegen die Mitgliedstaaten, wenn diese EU-Recht ausführen.186 Diese Diskrepanz zwischen der Rechtskontrolle der EU180 Catherine Colliot-Thélène, Après la souveraineté: que reste-t-il des droits subjectifs ?, Jus Politicum: Revue de droit politique 2008 (http://www.juspoliticum.com/). 181 Report of the Special Representative of the Secretary-General on the Issue of Human Rights and Transnational Corporations and Other Business Enterprises, John Ruggie, 9. April 2010 (UN-Doc. A/ HRC/14/27 (2010), Rn. 55. 182 In diesem Sinne auch John H. Knox, Horizontal Human Rights Law, AJIL 102 (2008), 1 – 47. 183 Auch das von Antonio Cassese postulierte völkerrechtliche Individualrecht, nicht Opfer von Völkerrechtsverbrechen zu werden (siehe oben Text mit Fn. 107), dürfte keinen individualgerichteten Anspruch darstellen, sondern einen Schutzanspruch gegen den Staat und die internationalen Strafverfolgungsbehörden. 184 Hierzu Anne Peters, The Constitutionalization of International Organizations, in: Neil Walker (Hrsg.), Europe’s Constitutional Mosaic within a Global Constitutional Order (Oxford: Hart 2010, i.E.) mwN. 185 Individualklage (Direktklage) zum EuGH auf Nichtigerklärung eines Aktes der Organe der EU nach Art. 263 Abs. 4 AEUV. 186 In der Individualklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV muss keine Rechtsverletzung geltend ge-

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Eigenverwaltung und der dezentralen Verwaltung durch die Mitgliedstaaten soll die Funktionsfähigkeit ersterer schützen, scheint aber unter Rule of law-Gesichtspunkten nicht gerechtfertigt.

c) Systemkonformität Desweiteren muss der Einwand des Systembruchs durch die Anerkennung des subjektiven internationalen Rechts diskutiert werden. Laut Rainer Wahl ist der Einzelne „auf der dritten Ebene nicht selbst Rechtsinhaber und nicht potentieller Klageberechtigter, aber seine Interessen und Rechte sind im internationalen Bereich vertreten und repräsentiert durch den Staat als Treuhänder seiner Rechte und zugleich als der ihm im staatsrechtlichen Grundverhältnis Verpfl ichtete.“187 Nach jener (in diesem Beitrag widerlegten) Ansicht ist „[d]ie Asymmetrie objektiver völkerrechtlicher Regelungen zugunsten der Einzelnen einerseits und fehlender Rechtssubjektivität und Klagbarkeit andererseits ... kein struktureller Mangel und keine Fehlkonstruktion“. Die Stellung des Einzelnen sei „eine dem Komplementärverhältnis von Völkerrecht und Staatsrecht entsprechende zusammengesetzte Rechtsposition.“188 Hierauf ist zu erwidern, dass die Repräsentation der Einzelnen auf der internationalen Ebene durch ihre Staaten aus praktischen und systemischen Gründen nur eingeschränkt funktioniert.189 Die „Treuhänderstellung“ des Staates ist de facto oft eine Vormundschaft, entweder weil der Staat keine Demokratie ist, oder weil außenpolitische, ökonomische oder fiskalische Erwägungen, kurz die Staatsraison, sein Engagement für die Interessen eines Einzelnen verhindern. Allerdings bleibt das subjektive internationale Recht auf Akzeptanz durch die Staaten angewiesen. Die Staaten bleiben unverzichtbar als Durchsetzer der internationalen Rechte und Pfl ichten von Einzelpersonen. Sie sind unentbehrlich nicht nur als Bereitsteller der nationalen Gerichtsbarkeit, vor der sich Einzelne auf ihre internationalen Rechte berufen können, sondern auch als Herren der internationalen macht werden, es reicht die faktische Tangierung von Individualinteressen. Dennoch sind die Voraussetzungen eng. Nach der sogenannten Plaumannformel „kann, wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis der übrigen Personen heraushebenden Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“ (EuGH, Rs. 25/62, Firma Plaumann & Co. v. Kommission, Slg. 1963, 211 ff. (238); entgegen dem Antrag des Generalanwalts auf Ausweitung der Klagebefugnis bestätigt in EuGH, Rs. C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36). Zwar hat der Lissabonner Vertrag die Vorschrift leicht textlich erweitert. Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV wird neu Rechtsschutz gegen alle „Handlungen“ (nicht mehr nur gegen „Entscheidungen“) gewährt, soweit sie eine Person unmittelbar und individuell betreffen „sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmassnahmen nach sich ziehen.“ Diese Textänderung stellt keine Änderung der Sache dar, sondern passt nur den Vertragswortlaut an die Rechtsprechung an. 187 So Rainer Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, in: ders./Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt: Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Ernst-Wolfgang Böckenförde (Berlin: Duncker & Humblot 2002), 59 – 109 (64; Hervorhebung der Verf.). 188 Ibid., 72. 189 Anne Peters, Dual Democracy, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein, The Constitutionalization of International Law (Oxford: OUP 2009), 263 – 241 (286 – 296).

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Durchsetzungsmechanismen. Wenn ein Staat seine Unterwerfung unter eine internationale Kontrollinstanz zurückzieht, sind die Individuen insofern wieder schutzlos gestellt.

d) Keine citoyenneté Rechtspolitisch betrachtet ist das subjektive internationale Recht ein Vehikel der ansatzweise Emanzipation des Menschen vom Staat. Der Mensch, Träger subjektiver internationaler Rechte, genießt im geltenden Völkerrecht den Status eines globalen bourgeois im doppelten Sinne eines Wirtschaftsakteurs und Trägers „unpolitischer“ internationaler Rechte, die seine persönliche Freiheit und Entfaltung absichern.190 Demgegenüber sind internationale individuelle Rechte auf Beteiligung an der Völkerrechtserzeugung kaum entwickelt und nur punktuell vorhanden.191 Die aus dem subjektiven internationalen Recht fl ießende Einklagbarkeit des Völkerrechts ist in einem sehr bescheidenen Sinne eine Alternative zur demokratischen Mitwirkung an der Völkerrechtserzeugung, die noch unterentwickelt ist.192 Allerdings ist die Rechenschaftspfl ichtigkeit der öffentlichen Gewalt, die dieser durch Gerichte auferlegt wird, nur eine ex-post „accountability“ und nicht vorausschauend. Die Einhegung öffentlicher Gewalt durch die Justiz ist rechtsbasiert und kann nicht solche Interessen berücksichtigen, die keine rechtliche Grundlage haben. Sie betrifft Einzelfälle und nicht die Allgemeinheit. Somit sind Klage- und Beschwerdemöglichkeiten auf der internationalen und nationalen Ebene kein volles funktionales Äquivalent zu demokratischen völkerrechtlichen Rechtssetzungsverfahren. Die Rolle des internationalen citoyen als „(ein wesentlicher) Teil der Umwandlung der internationalen Rechtsordnung von einem Vattel’schen zwischenstaatlichen System in eine universelle konstitutionelle Demokratie, in der dem Individuum nicht nur universelle Rechte und Pfl ichten zugerechnet werden, sondern in dem es (unmittelbar) repräsentiert ist und in dem es an den internationalen Institutionen, die das internationale Recht erzeugen und anwenden, beteiligt wird“,193 ist also noch entfernt.

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Vgl. Manfred Riedel, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosellek (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (5. Aufl. Stuttgart: Clett-Cotta 1997), Bd. I: A-D, 672 – 725 (692, 707, 714). Verfassungshistorisch gedacht, ähnelt ihr Status dem der Bürger im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, denen gewisse Grundrechte (Eigentum und Freiheit) eingeräumt waren, jedoch kein allgemeines demokratisches Mitspracherecht. 191 Siehe oben Teil II.2.d). 192 Auch hier kann ein Vergleich mit dem deutschen Spätkonstitutionalismus, in dem Volksvertretungen keine allgemeine Befugnis zur demokratischen Gesetzgebung hatten, gezogen werden. Das subjektive öffentliche Recht erlaubte gerade nicht die Einklagbarkeit von Allgemeinbelangen, sondern nur der „privaten“ Interessen, so wie auch die Volksvertretung auf eine Mitverantwortung in „politischen“ Fragen verzichtete (Masing, Mobilisierung des Bürgers 1997 (Fn. 131), 66 f.). 193 Nijman, International Legal Personality 2004 (Fn. 5), 424 (Übersetzung und Hervorhebung der Verf.).

Das subjektive internationale Recht

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e) Humanisierung des Völkerrechts Das subjektive internationale Recht hat im Ergebnis eine systemprägende Bedeutung für das gesamte Völkerrecht.194 Erst dadurch wird der Einzelne in der internationalen Gemeinschaft als vollwertiges, also primäres, originäres, Erga omnes-Subjekt anerkannt. Denn trotz der verbalen Verbannung der völkerrechtspositivistischen Objektlehre aus dem aktuellen Diskurs bliebe es ohne die Zuerkennung des subjektiven internationalen Rechts bei einer Objektstellung des Menschen im Völkerrecht. Seine Qualifizierung als „derivatives“, „partielles“ und „partikuläres“ Völkerrechtssubjekt ist in Wirklichkeit nur eine Verbrämung seiner Lage als Gegenstand des staatlichen und zwischenstaatlichen Handelns. Diese Entwicklung könnte mit dem historischen Effekt der Herausbildung des subjektiven Rechts im (deutschen) nationalen Recht verglichen werden. Auch hier war das subjektive öffentliche Recht ein maßgebliches Vehikel der Entwicklung vom Untertan zum Bürger.195 Bereits mit der Konturierung des subjektiven (privaten) Rechts durch die Pandektistik des 19. Jahrhunderts war die Idee der individuellen Freiheit als Ratio des Privatrechts anerkannt worden.196 Die zeitlich nachfolgende Konstruktion des subjektiven öffentlichen Rechts war ein zentraler Faktor der Zurückdrängung des (deutschen) Obrigkeitsstaates und der Herausbildung eines modernen, freiheitlichen Staates.197 Das subjektive internationale Recht, Chiffre der neuen völkerrechtlichen Stellung des Menschen, ist ethischer Ausdruck eines normativen Individualismus.198 Es ist gleichzeitig Überwindung der Hegel’schen Auffassung, nach welcher der Einzelne frei und ein Rechtssubjekt nur im und durch den Staat sein könne.199 Das subjektive 194 Evelyne Lagrange bezeichnete die immer dichter werdende Subjektstellung des Individuums im Völkerrecht als „le véritable changement“ des gegenwärtigen Völkerrechts (Lagrange, L’efficacité 2010 (Fn. 163), Kapitel 1, Teil 1a) (MS 5). Bereits die prinzipielle Anerkennung des Individuums als einer völkerrechtsfähigen Wirkungseinheit (unabhängig von der theoretischen Begründung) stellte einen „Durchbruch“ dar, der es erlaubt, die wachsende Rolle nichtstaatlicher Wirkungseinheiten (also auch etwa NGOs) von Beginn an völkerrechtlich-ordnend zu begleiten (Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht 2002, Bd. I/2 (Fn. 123), 267). 195 Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (München: Beck 2009), § 8 Rn. 4 (165): „Ohne eigene Rechte wäre der einzelne dagegen bloß Untertan und Objekt staatlichen Handelns. Die Gewährleistung subjektiver Rechte ist eine der Grundbedingungen eines freiheitlichen, demokratischen, sozialen und rechtstaatlich orientierten Staatswesens. Deshalb hat das subjektive Recht auch nach Erlaß des Grundgesetzes eine weitgehende Aufwertung erfahren.“ 196 „Der Gedanke des subjektiven Rechts hält die Auffassung lebendig, dass die individuelle Freiheit eine der grundlegenden Ideen ist, um derentwillen das Privatrecht existiert.“ (Coing, Begriff „subjektives Recht“ 1959 (Fn. 12), 23. 197 Masing, Mobilisierung des Bürgers 1997 (Fn. 131), 56 und 62. 198 Fernando Tesón defi niert als normativen Individualismus das Beharren darauf, „dass unsere moralischen Konzepte letztlich auf individuelle Rechte und Interessen rückbezogen werden sollen“ (Fernando Tesón, A Philosophy of International Law (Boulder, Col: Westlake 1998), 27; Übersetzung der Verf.). 199 Siehe Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 1920 (Fn. 151), 89 – 90: „Dies Wesentliche nun, die Einheit des subjektiven Willens und des Allgemeinen, ist das sittliche Ganze und in seiner konkreten Gestalt der Staat. Er ist die Wirklichkeit, in der das Individuum seine Freiheit hat und geniesst, .... Im Staat allein hat der Mensch eine vernünftige Existenz. Alle Erziehung geht dahin, dass das Individuum nicht ein Subjektives bleibe, sondern sich im Staate objektiv werde. ... Alles was der

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internationale Recht ist ein Element des „jus cosmopoliticum“ in einem Kant’schen Sinne.200 Schließlich fundiert seine Anerkennung den Humanisierungstopos201 dogmatisch. Das subjektive internationale Recht ist ein Baustein der Humanisierung des Völkerrechts.

Mensch ist, verdankt er dem Staat; er hat nur darin sein Wesen. Allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat.“ Ibid., 97: „Gesellschaft und Staat sind diese Zustände, in welchen die Freiheit vielmehr verwirklicht wird.“ Siehe auch Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung: zur Dogmatik des Art. 1 GG (Tübingen: Mohr Siebeck 1997), 243: „Wer als frei anerkannt sein will, muss in den staatlichen Zustand treten: Nur dort ist er Person, Rechtssubjekt“ (zu Hegel). 200 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden (Stuttgart: Reclam 1984 (orig. 1795)), Abschnitt II, Dritter Defi nitivartikel. Siehe auch ders., Die Metaphysik der Sitten, erster Theil, metaphysische Anfänge der Rechtslehre (orig. Königsberg 1798) in: ders., Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe (3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, hrsg. von Weischedel), Bd. VIII § 62, 476 zum „jus cosmopoliticum“ (das Kant nicht als Recht auf politische Beteiligung auffasste). 201 Siehe oben Text mit Fn. 11.

Antrittsvorlesungen

Vom Wesen der Verfassung Europas Die Freiheit der Unionsbürger als europäisches Legitimationsfundament von

Prof. Dr. Ulrich Hufeld* Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Wenn ein staatsrechtlicher Text das Wort „Verfassung“ mit dem Wort „Wesen“ kombiniert, so tritt Ferdinand Lassalle auf den Plan. Das ist guter Brauch in der Zunft der Staatsrechtslehrer seit bald 150 Jahren. Jede Generation hat sich der Herausforderung Lassalles aufs neue gestellt, seinem Berliner Vortrag „Über Verfassungswesen“1 vom 16. April 1862. Die rechtliche Verfassung sei nur „das Blatt Papier“, die wirkliche Verfassung aber setze sich zusammen aus tatsächlichen Machtverhältnissen 2 : aus Exekutivmacht und Kanonen, aus der Macht der „großen Industriellen“; „die Börse überhaupt – das ist ein Stück Verfassung“. Immerhin, „in gewissen Grenzen ist das allgemeine Bewußtsein, die allgemeine Bildung gleichfalls ein Stück Verfassung“3. Knapp 100 Jahre nach diesem Vortrag – vor 50 Jahren – trat Konrad Hesse in seiner Freiburger Antrittsvorlesung gegen Lassalle an. Hesse widersetzte sich der „Leugnung des Verfassungsrechts und [der] darin beschlossene[n] Leugnung des Wertes der Staatsrechtswissenschaft“4. Er hielt seine Anti-Lassalle-Vorlesung unter der Überschrift: „Die normative Kraft der Verfassung“ – ein Klassikertext des bundesrepublikanischen Staatsrechts. Doch just zu dieser Zeit, in den 1950er Jahren, beginnt der Auf bau europäischer Organisationen, die den Verdacht auf sich ziehen, den Gespenstern der Macht neue Schlösser zu bauen. Bis heute dauert das Bemühen an, „die * Diese Antrittsvorlesung wurde am 20. November 2009 an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg gehalten. 1 F. Lassalle, Über Verfassungswesen (1862), mit einem Essay von E. Krippendorff, 1993. Vgl. die Bezugnahme bei H. Hofmann, Vom Wesen der Verfassung, JöR 51 (2003), S. 1 (4 f.); U. Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), S. 57 (59 f.). 2 F. Lassalle aaO. (o. Fn. 1), S. 15 ff. 3 F. Lassalle aaO. (o. Fn. 1), S. 22. Vgl. zur normativen Bildungsverfassung in Europa u. im Text bei Fn. 48 ff. 4 K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), in: K. Hesse, Ausgewählte Schriften, hrsgg. von P. Häberle/A. Hollerbach, 1984, S. 3 (5).

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Union von dem Geruch einer elitären, kapitalistischen Veranstaltung zu befreien“5. Die wahren Machthaber, so ein Standard-Reflex auf der Linie Lassalles, voran das Finanzkapital, der militärisch-industrielle Komplex und „dessen“ Regierungen, abgeschirmt in geheimen Räten und Fachbruderschaften, bauten sich eine Welt der supranationalen Realpolitik: oberhalb der Staaten und oberhalb des Staatsrechts. Sie entzögen sich vor allem der demokratischen Verfassung 6 und der verfassungsnormativen Gebundenheit. In dieser Perspektive ergibt auch das streng herrschaftsarithmetische Lissabon-Urteil vom 30. Juni 20097 einen Sinn: Angetrieben von Gauweiler, Gysi und Lafontaine, restauriert Karlsruhe 50 Jahre nach Konrad Hesse noch einmal die normative Kraft der Verfassung gegen europäische, „halbdemokratische“8 Machtentfaltung. Oder doch gegen eine „rechtliche Verfassung im materiellen Sinne“9?

I. Bürgerfreiheit als Verfassungskriterium Das Lissabon-Urteil macht semantisch Zugeständnisse, spricht von einer Verfassung Europas „im funktionellen Sinne“10, dann auch von der „Verfassung Europas“, dies freilich in dementierenden Anführungszeichen. Denn der „Unionsgewalt“ fehle das eigenständige, vom fremden Willen unabhängige Legitimationssubjekt; Souveränität und „Unabhängigkeit von fremdem Willen“ gelten als Verfassungskriterien11. Dagegen fragt ein ‚anspruchsvoller‘ Verfassungsbegriff, ob die Unionsgewalt, die „auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt“12, der ‚Politik im Recht‘ und damit Menschenrechten und Bürgerfreiheit verpfl ichtet bleibt13. Wo Hoheitsgewalt ist, muss auch Verfassung sein, und Bürgerfreiheit ist das notwendige Verfassungskriterium. Auf dieser Grundlage eröffnet „Verfassung“ die Chance, Freiheit zu vergrößern, Freiheitsräume zu erstrecken, in gestufte, föderale Ordnungen mit mehreren Hoheitsgewalten. Verfassung im funktionellen Sinne – das ist ein aufgeputzter alter Hut. Das ist der Europabegriff der 1970er und 1980er Jahre, die Beschreibung der Gemeinschaft als Zweckverband14. Der Auf bau einer Freihandelszone, einer Zollunion und eines Gemeinsamen Marktes war nur möglich mit der Kraft funktionaler Verrechtlichung. 5 Th. Kingreen, Grundrechtsverbund oder Grundrechtsunion? Zur Entwicklung der subjektiv-öffentlichen Rechte im europäischen Unionsrecht, EuR 2010, S. 338 (361). 6 Vgl. etwa das Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte), 2007, sub III 8; Entwurf 2010, sub II. Vgl. auch Bürgerrechte & Polizei/CILIP 2006, Heft 2. 7 BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 8 Pendant der „volldemokratisch organisierten Mitgliedstaaten“, Wendung aus BVerfGE 123, 267 (381) – Lissabon. 9 Affi rmativ H. Hofmann aaO. (o. Fn. 1), S. 9, allerdings mit dem Vorbehalt, dass „ein allumfassender, Homogenität stiftender Ursprungsmythos“ fehle (S. 9 f.). 10 BVerfGE 123, 267 (349) – Lissabon. 11 BVerfGE 123, 267 (349) – Lissabon. 12 BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon. 13 Näher zum „anspruchsvollen“ Verfassungsbegriff: U. Hufeld, Europäische Verfassunggebung zwischen Völker- und Europarecht, in: K. Beckmann/J. Dieringer/U. Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2. Aufl. 2005, S. 473 (473–477). 14 Repräsentativ für die Phase des Übergangs 1986–1992 der Beitrag von H. P. Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR

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Die Vorteile protektionistischer Wirtschaftspolitik sind eher kurzfristig zu haben und deshalb eine Versuchung für die Demokratie, die in kurzen Perioden atmet. Die Vorteile des Freihandels lassen sich nur in Kontinuität und längerfristig ernten – und wenn mehrere Staaten mit je eigener politischer Dynamik Freihandel wollen, sind sie gut beraten, Verfassung einzusetzen: als Instrument der Verrechtlichung, der Stabilisierung, der Entpolitisierung. Demokratische Staaten zahlen dann freilich den Preis der objektiven Entdemokratisierung. Das Entdemokratisierungs-Problem verschärft sich, wenn und weil ein tief integrierter Gemeinsamer Markt nicht ohne Eigenproduktion von Recht auskommt. Wenn der Zweckverband seinerseits das Wirtschaftsrecht harmonisieren und Sekundärrecht produzieren muss, dabei aber Zweckverband bleiben soll und kein demokratischer Oberstaat werden darf, kann seine Gesetzgebung nicht „volldemokratisch“ sein. Das ist das Europa-Dilemma, das uns seit Jahrzehnten beschäftigt: Je tiefer die Integration, desto größer das Demokratieproblem. Das Lissabon-Urteil bietet noch einmal die ganze Autorität des Bundesverfassungsgerichts auf und vermeidet mit odysseischer Kraft die Kollision nach beiden Seiten – vermeidet die Abkehr von Europa, vermeidet Renationalisierung, und baut zugleich Barrieren auf gegen unaufhaltsame Entdemokratisierung. Doch anders als Odysseus strebt das Gericht nicht nach neuen Erfolgen und segelt weiter auf dem Meer der demokratischen Staatsbehauptung. Die Sirenen will es nicht hören, nicht einmal in Augenschein nehmen. Man muss aber über das Europa der funktionalen Integration hinausdenken, um zum Wesen der Verfassung Europas vorzudringen. Dann erweist sich, dass die Sirenen reizende Geschöpfe sein können, wenn wir es wollen.

II. Europäische Bürgerfreiheit Der Verfassungsstaat lebt nicht von Demokratie allein. Die Demokratie ist nicht einmal das wichtigste im demokratischen Staat. Demokratie ist ein Modus staatlicher Herrschaft. Der Verfassungsstaat interessiert sich aber in erster Linie für die Abwesenheit von Herrschaft. Sein Hauptthema ist der Primat der Freiheit, die Abwehr von herrschaftlichen Eingriffen. Demokratie ist ein Sekundärprinzip, dem wir uns behelfsweise anvertrauen, wenn die gleich Freien in Konfl ikt geraten. Freiheit ist Selbstzweck, Demokratie ist Mittel zum Zweck im Staat, der organisierten Allgemeinheit. Demokratie macht den Primärraum der Freiheit wahrscheinlicher. Wir brauchen den Herrschaftsmodus, um Freiheit zu begünstigen und im allgemeinen Gesetz Privatautonomie zu ermöglichen15 – Privatautonomie hier verstanden als Raum privater Willensherrschaft, als Grundrecht auf private Normschöpfung im Vertragswege, auf Selbstgesetzgebung16. Der demokratische Staat beruht auf dieser Bd. VII, 1992, § 181 Rn. 40 („Einzel- und Mehrzweck-Verbände“), Rn. 50 („Politisierung der Wirtschaftsintegration“), Rn. 51 ff. („Neue Integrationsaufgaben“). 15 J. Isensee, Privatautonomie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 74 ff. 16 A. von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 126 ff. (136), zur staatlichen Anerkennung von Autonomie und gegen die Vorstellung, die private Handlung sei dem Staat zuzurechnen, „nur weil dieser eine rechtliche Grundordnung der Gesellschaft geschaffen hat“.

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wechselbezüglichen, aber doch polaren Legitimationsgrundlage17 in dieser Reihenfolge: private Willensherrschaft vor Staatsgewalt, Personalität18 und Freiheit vor Demokratie.

1. „Grundrechte“ – Rückanknüpfung an die leges fundamentales Wer von Verfassung redet, muss von beiden Räumen reden, dem der Herrschaft und dem der Freiheit – und von beiden Räumen gleichzeitig, weil die Größe des einen von der Größe des anderen abhängt. Freiheit muss sich gegen Herrschaft behaupten können. Deshalb kann von Konstitutionalisierung erst die Rede sein, wenn vormals rückholbare und deshalb gefährdete Ansprüche gegen den Staat befestigt und verfasst werden – kurz: wenn sich Toleranzen in Rechte verwandeln19. Verfassungsfeste Menschen- und Bürgerrechte sind relativ verlässliche Rechte. Toleranzen in dem bezeichneten polemischen Sinn sind absolut unzuverlässig, bestenfalls Rechte zweiter Klasse. Sie müssen nicht, sie können zugestanden werden. Sie werden geduldet oder zurückgenommen. Ihre Geltungsallgemeinheit ist immer prekär. Sie werden suspendiert und individuell durchbrochen. Politik sei unser Schicksal, heißt es. Das ist ein Satz der Ungewissheit, die nicht selten umschlägt in Schrecken und Hoffnungslosigkeit dort, wo es allenfalls Toleranzen gibt, aber keine Rechte in konstitutioneller Sicherheit20. Wir können den Verfassungsbegriff vom Staat abkoppeln, niemals aber von der Idee der leges fundamentales, jenem Teil des Rechts, den der Herrscher nicht einseitig ändern kann: „Der Ausdruck ‚Grundrechte‘ wendet den alten Terminus ‚Grundgesetze‘ ins Subjektive.“21 Wir müssen den Verfassungsbegriff vom Staat wieder22 abkoppeln, wenn wir das Prinzip der rechtlichen Freiheit ausdehnen wollen, befestigen können in der Union der Staaten, die selbst kein Staat ist. Als Unionsbürger sind wir „Bürger über unsere Staaten hinaus“23, leben wir in Freiheit 17 Grundlegend zum polaren Legitimationsschema: J. Isensee, Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen (1981), in: J. Isensee, Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 13–32. 18 U. Palm, Die Person als ethische Rechtsgrundlage der Verfassungsordnung, Der Staat 47 (2008), S. 41. 19 M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, S. 106 ff. 20 Zum verblichenen Glanz der Menschenrechteerklärung von 1948 B. Fassbender, Menschenrechteerklärung, 2009, S. 1 (23 f.). 21 H. Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949–1989, NJW 1989, S. 3177 (3179). Zum eigenständigen Beitrag der älteren deutschen Staatsrechtslehre A. Frhr. v. Campenhausen, Grundrechte als europäische Leitvorstellung, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 136 Rn. 89 ff. (Nachw.). 22 H. Hofmann aaO. (o. Fn. 1), S. 6 f., 10 zum Begriff der Verfassung vor der „heute mitunter betonte(n) Abhängigkeit des Verfassungs- vom Staatsbegriff “ und „vordergründigen Zusammenhang der Begriffe Verfassung und Staat“. 23 Schlussanträge GA M. Poiares Maduro v. 30. 9. 2009, Rs. C-135/08 – Rottmann, Rn. 23 (Klammerzusätze im Original): „Die Europabürgerschaft stellt mehr dar als ein Bündel von Rechten, die als solche auch denjenigen verliehen werden könnten, die die Unionsbürgerschaft nicht besitzen. Sie setzt das Bestehen eines Bandes politischer Natur zwischen den Bürgern Europas voraus, obwohl es sich nicht um ein Band der Zugehörigkeit zu einem Volk handelt. Dieses politische Band eint vielmehr die Völker Europas. Es beruht auf der von ihnen eingegangenen gegenseitigen Verpfl ichtung, ihr jeweiliges politisches Gemeinwesen den anderen europäischen Bürgern zu öffnen und eine neue Form der bür-

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über unsere Staaten hinaus, setzen die europäische Freiheit gegen unsere Staaten durch. Die europäische Integrationsgeschichte ist eine Geschichte der Konstitutionalisierung, seit die Freiheitsräume der Marktbürger und vollends seit die Freiheit der Unionsbürger nicht mehr von Toleranzen abhängig sind; seit die Marktbürgerschaft die Grundfreiheiten als Rechte in Anspruch nehmen und gegen alle Mitgliedstaaten verteidigen kann; seit die Marktbürgerschaft über sich hinauswächst und als Unionsbürgerschaft nicht mehr nur Marktgrundfreiheiten für sich reklamieren kann, sondern eine allgemeine Grundfreiheit – mit und ohne Konnex zum Binnenmarkt24. Die Freiheit, die ich meine, ist eine genuin europäische. Freiheit in Europa will nicht nur das defensive Äquivalent, das zweite Abwehrrecht gegen Behördenwillkür, diesmal gegen europäische Behörden und europäische Rechtsakte. Das ist wichtig genug. Wenn sich Hoheitsgewalt verdoppelt, muss sich auch der Grundrechtsschutz verdoppeln. – Die Freiheit, die ich meine, ist die genuin europäische: die Freiheit des Händlers, Schranken der Diskriminierung und des Protektionismus niederzulegen; die Freiheit des französischen Unternehmers, in Deutschland eine Zweigniederlassung einzurichten; die Freiheit der deutschen Aktiengesellschaft, in Prag eine Tochtergesellschaft zu gründen; auch die Freiheitschance des Arbeitslosen, europaweit Arbeit zu suchen; die Freiheit des BAFöG-Empfängers, europaweit zu studieren; die Freiheit der Hamburgischen Stiftung und des Münchner Mäzens, partikulares Gemeinnützigkeitsrecht zu überwinden, zwischen Kultur-, Forschungs- und Bildungseinrichtungen in Hamburg, München, Wien, Budapest und Krakau nicht mehr unterscheiden zu müssen. Diese Freiheit ist die genuin europäische, die es in einer Union der Staaten nur integrationsverfassungsrechtlich gibt. Wenn Freiheit das Recht ist, sich von anderen zu unterscheiden, dann eröffnet Freiheit in ihrer europäischen Fasson märchenhafte Unterscheidungsvielfalt, einen Reichtum, der so vielgestaltig ist wie Europa. Den Verächtern des regulatorischen Europa, die ein historisches Europa gegen den in Brüssel vermuteten Eurokratismus ausspielen, sei gesagt: Euer historisches Europa hat viel zu selten Toleranzedikte hervorgebracht. Besinnt Euch auf Art. 16 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung: „Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung.“

gerschaftlichen und politischen Verbundenheit auf europäischer Ebene zu schaffen. Es setzt nicht ein bestehendes Volk voraus, sondern beruht auf dem Vorhandensein eines europäischen politischen Raums, aus dem Rechte und Pfl ichten erwachsen. [. . .] Darin liegt das Wunder der Unionsbürgerschaft: Sie verstärkt die Bindungen an unsere Staaten (soweit wir eben deshalb Unionsbürger sind, weil wir Angehörige unserer Staaten sind), und zugleich emanzipiert sie uns von ihnen (soweit wir nunmehr Bürger über unsere Staaten hinaus sind).“ 24 R. Streinz, Vom Marktbürger zum Unionsbürger, in: M. Breuer (Hrsg.), Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft, 2009, S. 63.

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2. Von der Sach- zur Rechtsträgergarantie, von der Markt- zur Unionsbürgerschaft, von sektoralen Toleranzen zu universalen Rechten Im Lissabon-Urteil fi ndet sich eine Art Flugzeug-Handy-Internet-Rechtfertigung für Integration: „Gestaltenden Einfluss auf eine zunehmend mobile und grenzüberschreitend vernetzte Gesellschaft können demokratische Verfassungsstaaten nur gewinnen durch sinnvolles, ihr Eigeninteresse wie ihr Gemeininteresse wahrendes Zusammenwirken.“25 Der folgende Dreischritt handelt nicht vom Zusammenwirken der Staaten, deren Einfluss und „Handlungsmöglichkeiten, um die Bedingungen einer freien Gesellschaft auch künftig verantwortlich gestalten zu können“26. Der folgende Dreischritt verweist auf Integration von unten, auf die Handlungsmöglichkeiten der freien Gesellschaft, ihre Angelegenheiten verantwortlich selbst zu gestalten und 28 Hoheitsträger auf das freiheitliche Legitimationsfundament der Europäischen Union zu verpfl ichten. Das Lissabon-Urteil – konzipiert als Legitimationsurteil – hätte nicht hinweggehen dürfen über rechtliche Bürgerfreiheit als Grund der europäischen Verfassung.

a) Das grundfreiheitliche Subjektivierungsprojekt Wann hat dieser Prozess begonnen, wann haben sich im europäischen Gemeinschaftsrecht Programmsätze in Rechte verwandelt? Den Anfang kann man sehr genau datieren: auf den 5. Februar 1963. An diesem Tag hat der Europäische Gerichtshof in der Entscheidung van Gend & Loos27 einen – womöglich nur staatenadressierten – Verpfl ichtungssatz in ein subjektives Recht überführt28, die Sachgarantie Warenverkehrsfreiheit umgeformt in eine Rechtsträgergarantie. Seit diesem Tag interessiert nicht mehr nur der Wohlstandseffekt des Freihandels, sondern auch der Freiheitsstatus der berechtigten Marktakteure. Der Grundfreiheitsberechtigte wird vom Integrationsmittel zum Integrationszweck, steigt zum Marktbürger auf. Seit dem 5. Februar 1963 figurieren die Mitgliedstaaten nicht mehr als toleranzgewährende Gestalter einer wirtschaftspolitischen Integration von oben, sondern als rechtsgebundene Begleiter und Unterstützer einer Wirtschaftsintegration von unten 29. Das große Subjektivierungsprojekt hat hier seinen Ursprung. Doch erst vierzig Jahre später gelingt dem EuGH der freiheitliche Durchbruch. Nach 1989 und noch im Jahre 2000 deutete zu wenig darauf hin, dass die Marktfreiheit im dogmatischen Zuschnitt der Grundfreiheit das Muster einer allgemeinen Bürgerfreiheit in Europa sein könnte. Im Gegenteil zog die robuste MarktfreiheitenRechtsprechung Fundamentalkritik auf sich – den sehr berechtigten Zweifel, ob man 25

BVerfGE 123, 267 (345) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (345) – Lissabon. 27 EuGH v. 5. 2. 1963, Rs. 26/62 – van Gend & Loos, EuGH Slg. 1963, 1. 28 C. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 1 Rn. 44. 29 A. Hatje, Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 801 (811 ff.); J.-M. Luczak, Die Europäische Wirtschaftsverfassung als Legitimationselement europäischer Integration, 2009, S. 151 ff. 26

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„politische Integration über das Gesellschaftsmodell eines benevolenten Hedonismus“30 ins Werk setzen kann31. Zehn Jahre später liegen die „Grundrechtsgehalte“ der Grundfreiheiten offen zutage32. Der Europäische Gerichtshof hat das Subjektivierungsprojekt 40 Jahre nach der Grundlegung von 1963 in Etappen vollendet. Den Durchbruch brachte die Universalisierung des grundfreiheitlichen Musters, seine Rückbindung in der Unionsbürgerschaft, die Verankerung der europäischen Bürgerfreiheit im „grundlegenden Status“33. Die alten Zweifel wirken nach, werden als Argument bemüht auf dem Weg, das Spektrum der sozialen Grundrechte sekundärrechtlich anzureichern (Art. 19 AEUV). Das freilich hat die Union gar nicht nötig34, und sie gefährdet nur ihre Mission, wenn sie verfassungsstaatlich hinreichend geschützte Freiheit verdoppelt. Sie soll nicht dem Europarat nacheifern. Ihr Proprium ist die Grundfreiheit, die es integrationsrechtlich gibt oder nicht gibt. Die Universalisierung des vormals „nur“ marktfreiheitlichen Musters rechtfertigt den Kollektivsingular „Bürgerfreiheit“. Dass mit der universalen Grundfreiheit eine Fundamentalkategorie mit konstitutiver Kraft in Rede steht, erkennt man an der neuen, größeren Reichweite35, vor allem aber daran, dass sie die alte Marktfreiheit „auf hebt“ und neubegründet, einschmilzt und auf eine höhere Stufe hebt (u. c).

b) Universalität der (Grund-)Freiheit Die Europäische Union hat sich die klassische leges-fundamentales-Funktion anverwandelt: Sie schützt Freiheitsräume vor Hoheitsgewalt. Dieses „vor“ meint den Schutz der Freiheit „vor“ hoheitlichen Eingriffen und den Primat der Bürgerfreiheit „vor“ Herrschaft, auch vor demokratischer Herrschaft. Das ist die alte Idee des Verfassungsstaates – der Staat als Schutzmacht vor sich selbst – in supraverfassungsstaatlicher Fasson. Diese Schutzmacht-Funktion nimmt die Union für Europa wahr, 30 A. von Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht. Europäisierung als Gefährdung des gesellschaftlichen Grundkonsenses?, Der Staat 39 (2000), S. 163 (172). 31 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 536 ff.; A. von Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht (o. Fn. 30), S. 172 ff. (173: „Die Freiheiten des Binnenmarktes und die Wettbewerbsvorschriften stehen nicht auf einer Stufe mit den Gewährleistungen, die nach üblicher Auffassung einen Wertkonsens ausdrücken, sondern sind instrumentelle, unter Politikvorbehalt stehende Normen.“) – Anders aber jetzt A. von Bogdandy, Grundprinzipien, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 13 (56 f.). 32 M. Kotzur, Die Grundfreiheiten, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung – Handbuch zur Europäischen Verfassung –, 2010, S. 469 (471); M. Nettesheim, Die Unionsbürgerschaft: Mehr als ein Status des Bourgeois?, in: M. Breuer (Hrsg.), Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft, 2009, S. 87 (92); R. Streinz, Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 151. Zustimmung verdient die Kritik bei Streinz (Rn. 11 ff.) an Versuchen, die Grundfreiheit als (subalternes) Institut vom Grundrecht fernzuhalten. Soweit sich aber diese Kritik auf ältere Texte bezieht (so insbesondere auf A. von Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht [o. Fn. 30]), ist deren Zeitgebundenheit zu bedenken. 33 Zuletzt EuGH v. 2. 3. 2010, Rs. C-135/08 – Rottmann, Rn. 43: „Wie der Gerichtshof mehrfach hervorgehoben hat, ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“. 34 Vorzügliche Analyse: Th. Kingreen aaO. (o. Fn. 5), S. 352 ff. 35 F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007.

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wenn sie Bürgerfreiheit – neue, raumgreifende Freiheitszuwächse – nicht nur vor eigener Hoheitsgewalt, sondern auch und vor allem gegen Staaten verteidigt. Freiheit wird in Europa in vier Dimensionen abgeschirmt: (1) herkömmlich verfassungsstaatlich, der Staat garantiert Rechtsschutz gegen seine eigenen Eingriffe; (2) zusätzlich völkerrechtlich, der Staat unterwirft sich der EMRK; (3) notwendig supranational, wenn und weil die supranationale Hoheitsgewalt selbst zum Widersacher der Freiheit werden kann (unionsgrundrechtlicher Schutz gegen unionsrechtlich veranlasste Eingriffe); (4) erweitert supranational, indem die EU neue transnationale Freiheiten etabliert und durchsetzt – Grundfreiheiten –, auch gegen staatliche Herrschaftsgewalt. Auf die vierte Dimension kommt es an. Wer fragt, ob es sich lohnt, für Europa auf die Barrikaden zu gehen, muss über diese große und voraussetzungsvolle EuropaFreiheit nachdenken. Der Steuerstaat etwa ist wie der Sozialstaat nicht (mehr) Nationalstaat, aber (noch) Territorialstaat 36. Den privaten, den unternehmerischen Erfolg, auf den er angewiesen ist, kann er auf dem Staatsterritorium stimulieren, aber nicht aus eigener Kraft in größere Räume erstrecken. Auch die steuerlich-fiskalische Teilhabe am bürgerschaftlichen Erfolg kann er nur auf dem Staatsgebiet dosieren; abgestimmter Schutz des „Welteinkommens“ gelingt nur im Konsens mit DBA-Vertragspartnern. Dem Binnenmarkt liegt ein thematisch umfassender multilateraler Konsens zugrunde, der den Primat der Freiheit zum Raum-Programm erhebt. Der Unionsvertrag steigert das staatliche Angebot, grundrechtlich geschützte Markt-Erfolge zu erzielen, und ermöglicht mit einem äquivalenten supranationalen Angebot grundfreiheitlich geschützte Binnenmarkt-Erfolge. Aus dem Angebot erwachsen Rechte, die mit der Kraft des Vorrangs staatliches Partikularrecht (auch DBA-Recht) beiseite schieben, jedenfalls aber das partikularinteressierte Schrankengesetz unter Rechtfertigungsdruck setzen37. Das ist ein Netto-Freiheitsgewinn. Der Vertrag erschließt neue, suprastaatliche Freiheitsräume. Die genuin europäische, raumgreifende Freiheit heißt „Grundfreiheit“. Der ökonomischen Entwicklungslogik folgt die klassische Reihung „Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital“ (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Die Charta der Grundrechte denkt primär personal (vgl. Art. 1) und postuliert „den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit“ (Präambel). Sie alle gehören zum Typus. Die Berechtigten figurieren nicht als Funktionäre einer Freihandelsidee, sondern als „Marktbürger“ – die Marktfreiheit emanzipiert sich von einer nützlichen Funktion hin zu einer Freiheit um ihrer selbst willen. Der neue EUVertrag stellt folgerichtig – auf der Linie der EuGH-Rechtsprechung, die einen grundfreiheitlichen Bürgerstatus ausgeformt und die Marktfreiheiten als spezielle Grundfreiheiten ausgewiesen hat – den freien Personenverkehr im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ voran (Art. 3 Abs. 2) und verweist im Anschluss auf den 36 Für den Steuerstaat: U. Hufeld, Steuerstaat als Staatsform in Europa, FS Isensee, 2007, S. 857 (862 ff.). Für den Sozialstaat: Kingreen aaO. (o. Fn. 5), S. 349. 37 R. Wernsmann, Europäisches Steuerrecht, in: R. Schulze/M. Zuleeg/S. Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 30; M. Eisenbarth/U. Hufeld, Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung in der Konsolidierungsphase – Das Verfahren „X Holding“ und die Grenzen der negativen Integration, IStR 2010, S. 309 ff. (Nachw.).

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Binnenmarkt (Art. 3 Abs. 3). Europäische Bürgerfreiheit wird nicht mehr nur toleriert, sondern garantiert, gegen staatliche Souveränität. Hauptwidersacher der Grundfreiheiten sind die Mitgliedstaaten. Daraus ergibt sich eine integrationsprägende Konfiguration: Der Unionsbürger mobilisiert im Raum der Union („grenzüberschreitend“) eine Ware, eine Dienstleistung, Kapital oder sich selbst (als Student, Arbeitsuchender, Dienstleister, Unternehmensgründer) und stößt auf ein Hindernis im Herkunfts- oder im Zielstaat, nicht selten ein nationales (mitgliedstaatliches) Gesetz: Gegen alle Hindernisse bringt er Grundfreiheiten – subjektive öffentliche Rechte – in Stellung, die alle Staaten der Union verpfl ichten, seiner (Bewegungs-, Ex- und Import-, Investitions-)Freiheit Raum zu geben. Der Unionsbürger bietet materielle Unionsrechte und institutionell den Gerichtshof der Union als Schutzmacht gegen die Staaten auf. Ein einzelnes Gericht mit 27 Richtern (Art. 19 Abs. 2 EUV) wäre überfordert, wollte es die Rechte der 500 Millionen Unionsbürger gegen 27 Staaten alleine durchsetzen. Der EuGH beansprucht das letzte Wort in einem großen Justizbündnis, das er mit allen mitgliedstaatlichen Gerichten gebildet hat. Dreh- und Angelpunkt in diesem Justizbündnis ist die „Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts“ (Art. 19 Abs. 3 lit. b EUV, Art. 267 AEUV). Wenn die Inpfl ichtnahme der Staaten durch berechtigte Unionsbürger die integrationsprägende Konfiguration ist, so ist das Vorabentscheidungsverfahren die integrationsprägende Mechanik, die den EuGH „vorabentscheidend“ in einen Prozess vor dem mitgliedstaatlichen Gericht einschaltet. Dort verteidigt der Bürger auch seine europäische Freiheit. Entscheidend ist nun: Der Freiheit in der vierten Dimension, von der hier die Rede ist, muss auch verfassungspolitisch, rhetorisch und rechtsdogmatisch der Rang zugewiesen werden, den sie normenhierarchisch innehat: Ebenbürtigkeit im Höchstrang. Die Charta der Grundrechte hat die Spitzenstellung bekräftigt (Präambel) und die Konvergenz von Grundfreiheiten und Grundrechten bestätigt (Art. 15 Abs. 2). In der Systembildung müssen wir uns verabschieden von funktionalistischer Abwertung38 und der Entgegensetzung „transnationale Integration – supranationale Legitimation“39. Diese Entgegensetzung profi liert verdienstvoll die unbestreitbaren Unterschiede zwischen Grundfreiheit und Grundrecht, zahlt dafür aber einen zu hohen Preis. Sie verschleiert die legitimatorische Kraft der Grundfreiheit. Man müsste das „funktionalistische Paradigma“ nicht auflösen, nicht unterscheiden zwischen einer „binnenmarktbezogenen Sicht“ und einer „eher grundrechtlichen Sicht, die die Grundfreiheiten insgesamt als ökonomische Freiheitsrechte interpretiert“40, um der Grundfreiheit bereits für ihren historischen Kern – Verkopplung von Freizügigkeit und Diskriminierungsverbot – die Kraft substanzhaltiger Freiheit zuzuschreiben. Offenkundig aber ist die konstitutive Substanz der universalen Grundfreiheit. Jene Entgegensetzung (transnationale Integration – supranationale Legitimation) bremst die verfassungspolitische Mission, europäische Bürgerfreiheit ins Zentrum der Integration zu stellen. Sie betont zu einseitig die überkommene Funktion der Grundfrei38

C. Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 2010, S. 88 f. Repräsentativ Th. Kingreen, Grundfreiheiten, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 705 (725 f.); noch auf dieser Linie, aber bereits vermittelnd und relativierend M. Kotzur aaO. (o. Fn. 32), S. 471, 477. 40 Befund und Analyse der EuGH-Rechtsprechung: Th. Kingreen aaO. (o. Fn. 5), S. 355 f. 39

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heiten (Abbau föderaler Gefährdungslagen), fördert den Verdacht, die Ausschöpfung ihres freiheitlichen Potentials sei rechtsschöpferischer, integrationspolitischer Exzess. Sie verarbeitet zwar die „Emanzipation sozialer Rechte aus dem ökonomischen Kontext“ und die Entwicklung vom Binnenmarkt zur politischen Union41, hält aber in der Kontrastbegriffl ichkeit ausgerechnet die konstitutive Leistung von „Legitimation“ fern. Freiheitliches Verfassungsrechtsdenken begreift die konsequente Fortentwicklung der Grundfreiheiten – von sektoralen Toleranzen (Freiverkehrsbereiche in einer Freihandelszone) zu universalen Rechten (europäischer Bürgerstatus) – als schlechthin konstituierend. Wohl wahr: „Der Vertrag von Lissabon führt nicht auf eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie.“42 Aber gewiss führt das Europäische Verfassungsrecht auf eine neue Stufe der Freiheit, verfestigt ein eigentümlich europarechtliches, staatsrechtlich ermöglichtes43 und doch emanzipatorisches Format der rechtlichen Freiheit: – Personalisierung. Die Grundfreiheiten sind nicht nur Vehikel objektiver Zweckhaftigkeit, sondern subjektive Rechte um ihrer selbst willen. – Liberalisierung. Sie realisieren nicht nur ein Anti-Diskriminierungskonzept und „Kästchengleichheit“ in Teilräumen (Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote), sondern ein Liberalisierungskonzept (Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote) im „Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts“. – Universalisierung. Sie brechen Souveränität nicht nur in 26 Zielstaaten, sondern auch im Herkunftsstaat des Berechtigten; sie wirken als primärrechtliche Maßstabsnormen nicht nur in den Bereichen und Materien, die der europäischen Hoheitsgewalt sekundär-kompetentiell zugänglich sind, sondern auch und gerade dort, wo die Mitgliedstaaten zuständig geblieben sind; sie berechtigen nicht mehr nur „Marktbürger“, sondern alle Unionsbürger.

c) Partikularität der Marktfreiheit Die kategoriale Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten schadet nicht, wenn sie nicht auf Hierarchisierung zielt. In Rede stehen zwei gleichrangige Kategorien der Freiheit, in Kollisionsfällen gilt das Prinzip der praktischen Konkordanz44. An der Unterscheidung muss nicht festgehalten werden, um einen unionsbürgerschaftlich gedachten „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ vor der funktionalen Logik der Binnenmarkt-Grundfreiheiten zu schützen45. Diese Sorge hat sich ebenso erledigt wie der Befund, dass „den ökonomischen Aspekten der Freiheit pfadabhängig weiter eine größere Bedeutung“ zukomme als im staatlichen Kontext46. Neuere, wegweisende Entscheidungen des EuGH am Maßstab der Markt41

Th. Kingreen aaO. (o. Fn. 5), S. 348–350. BVerfGE 123, 267 (379) – Lissabon. 43 U. Hufeld, Europas Verfassungsgemeinschaft – Staatsrechtliche Perspektive, in: U. Hufeld/A. Epiney (Hrsg.), Textsammlung Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2010, S. 33. 44 R. Streinz, Grundrechte und Grundfreiheiten, aaO. (o. Fn. 32), Rn. 28–31. 45 So aber C. Franzius, Verfassungsrechtsdenken, aaO. (o. Fn. 38), S. 88 f. 46 A. von Bogdandy, Grundprinzipien, aaO. (o. Fn. 38), S. 57. 42

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freiheiten sind verständlich und haltbar nur, weil sie der Unionsbürgerschaft verpfl ichtet sind, dem „grundlegenden“ europäischen Bürgerstatus, der allgemeinen Freiheitslogik, nicht mehr einer binnenmarktlichen Eigenlogik. Als leges speciales tragen die Marktfreiheiten nur mehr ein herausgehobenes, nicht mehr jedoch eigengewichtiges Integrationsprojekt47. Die Entprivilegierung der Marktbürger erkennt man in der Austauschbarkeit und Wechselwirkung von allgemeiner und spezieller Freiheit. Der europäische Schüler (1) und der europäische Mäzen (2) leben europäische Bürgerfreiheit „ohne Markt“ – auch im Schutzbereich der Dienstleistungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit. (1) Bildungsfreiheit im und ohne Markt. Bildung ist ein nicht-ökonomischer Sachverhalt. Dass Bildung berufl ichen Erfolg und materiellen Ertrag ermöglicht, auch eine Binnenmarktdividende einträgt48, ändert daran nichts. Art. 165 Abs. 2 AEUV formuliert Ziele, keine Mittel, wenn er auf die „Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen“ und die „Förderung der Mobilität von Lernenden und Lehrenden“ ausgeht. Die Zielbestimmung kann aber partikular dimensionierte Anreizund Begünstigungspolitik, etwa im Steuerrecht der Mitgliedstaaten49, nicht aus eigener Kraft brechen. Sie entfaltet Wirkung erst auf Rechtfertigungsebene, wenn sich das staatliche Schrankengesetz gegen den Primat der Freiheit behaupten muss. Diese Freiheit ist die allgemeine, raumgreifende Schulbesuchs- und Studierfreiheit „über unsere Staaten hinaus“50. Die „neue Form der bürgerschaftlichen und politischen Verbundenheit auf europäischer Ebene“51 gewährleistet nicht nur die transnationale Bildungsreise an sich, sondern auch die Erstreckung einer Begünstigung, die sich auf den staatlichen Partikularraum beschränkt, nationale Förderpolitik betreibt und die europäische Dimension im Bildungswesen dementiert. Im Fall Schwarz und Gootjes-Schwarz hat der EuGH ein starkes Zeichen gesetzt – ein „Schul-Fall“ im doppelten Sinne: Eine Beschränkung der steuerlichen Unterstützung (Schulgeld als Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit) auf Inlandsschulen muss der Unionsbürger nicht hinnehmen: weder als Arbeitnehmer oder Selbstständiger, der den Geltungsbereich der Fördernorm im Zielstaat betritt, das Schulkind jedoch im Her-

47 M. Nettesheim, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, EuR 2009, S. 24 (29 ff.), zur „Umstellung der Integrationsteleologie auf den ‚Status des Unionsbürgers‘“; P.-C. Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, EuR 2009, Beiheft 1, S. 105 (125 f.), für ein zweidimensionales Verständnis des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als einem „aus binnenmarktlichem und unionsbürgerlichem Freiheitsraum konstituierten und intensivierten, rechtlich befriedeten Freiheitsraum“. 48 U. Hufeld, Der freie Verkehr von Wissen: Europas „fünfte Grundfreiheit“ ist nicht die fünfte Marktfreiheit!, GPR 2009, S. 121 (124 f.). 49 Paradigmatisch der Kampf um den „Schulgeld-Paragraphen“ 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG (a. F., heute gilt er „europäisiert“ i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2009 v. 19. 12. 2008, BGBl. I S. 2794): A. Schmehl, Das Gemeinschaftsrecht und die steuerliche Verbilligung von Schulgeldzahlungen an Privatschulen, EuR 2010, S. 386 ff. (Nachw.); R. P. Schenke, JZ 2005, S. 946 ff. (Anm. zu BFH, Urt. v. 14. 12. 2004); U. Hufeld aaO. (o. Fn. 48), S. 123 f. 50 Zitat: Schlussanträge GA M. Poiares Maduro v. 30. 9. 2009, Rs. C-135/08 – Rottmann, Rn. 23. Europäische Bildungsfreiheit: EuGH v. 18. 11. 2008, Rs. C-158/07 – Förster, Rn. 36–38; EuGH v. 13. 4. 2010, Rs. C-73/08 – Bressol, Rn. 31–33. S. Jørgensen, The right to cross-border education in the European Union, Common Market Law Review 2009, p. 1567. 51 Schlussanträge GA M. Poiares Maduro v. 30. 9. 2009, Rs. C-135/08 – Rottmann, Rn. 23.

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kunftsstaat zurücklässt52, noch als passiver Dienstleistungsempfänger oder aktiver Dienstleister und Betreiber einer Unternehmerschule53 – noch als Unionsbürger, der seine Kinder ohne jeden Markt-Konnex54 von Deutschland in die spezialisierte Schule nach Schottland schickt und auf die Erstreckung der gleichheitswidrig versagten Begünstigung drängt. Der nicht-ökonomische Sachverhalt mag akzidentiell eine ökonomische Komponente anbieten oder nicht – in allen Varianten trägt „der Unionsbürgerstatus“ als „der grundlegende Status“55 die gleiche Bildungsfreiheit der gleich Freien. Der unionsbürgerschaftliche Status fundamentiert das Zugangsrecht auf Bildung in Europa, fungiert als Auffangtatbestand und profi liert die Marktfreiheiten als schlichte Ausprägungen einer allgemein-bürgerschaftlichen Logik. Die Marktteilnahme ist kein Privileg mehr. (2) Kapitalverkehrsfreiheit ohne Markt. Der Schul-Fall setzt einen förderpolitisch gewollten Tatbestand voraus56, der Fall „Persche“ hingegen europäisiert ein verfassungsfestes subjektives Bürgerrecht, das Grundrecht auf private Gemeinwohlfinanzierung. Ein Markt-Konnex fehlt. Es geht um europäisches Gemeinwohl57, auf bürgerlichfreiheitlicher Basis. Die gemeinnützige Bürgerspende ist rechtsnaturgemäß uneigennütziger Kapitaltransfer. Sie realisiert i. S. des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG den anderen „Gebrauch“, den nicht-eigennützigen: jenes „zugleich“ (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG), das den Kapitaleigentümer anhält, auch Citoyen zu sein, auch dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen. Art. 14 GG garantiert in erster Linie die Privatnützigkeit des Eigentums und dessen frei verantwortete Gemeinnützigkeit, in zweiter Linie Grund und Grenze der steuerlichen Zwangsabgabe58, der öffentlichen Gemeinwohlfi nanzierung durch Steuern. Darin gründet die institutionelle Verfassungsgarantie der privaten Gemeinwohlfi nanzierung – und ein Primat mit der Folge, dass die fremdnützige Spende die steuerliche Leistungsfähigkeit reduziert59. Unter diesen Vorzeichen erweist sich das europäische Grundrecht auf private Gemeinwohlfinanzierung als paradigmatischer Grundtatbestand der unionsbürgerschaftlichen Integration von unten. Dessen Reichweite wird freilich erst erkennbar, wenn man das steuerliche Gemeinnützig-

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EuGH v. 11. 9. 2007, Rs. C-318/05 – Kommission gegen Deutschland (Parallelverfahren zu Schwarz und Gootjes-Schwarz), Rn. 114–117. 53 EuGH v. 11. 9. 2007, Rs. C-76/05 – Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rn. 66 f. 54 EuGH v. 11. 9. 2007, Rs. C-76/05 – Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rn. 34 f., 86–93; Rn. 90 rekurriert auf das Freizügigkeitsrecht der Kinder; Rn. 92 sieht im Herkunftsstaat nur „die Kinder eigener Staatsangehöriger“ benachteiligt, in Wahrheit benachteiligte § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a. F. die Kinder aller ansässigen Unionsbürger, die Schulgeld für den Besuch einer EU-Auslandsschule auf brachten. 55 Beide Zitate: EuGH v. 11. 9. 2007, Rs. C-76/05 – Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rn. 86. 56 Die Erstreckung eines Vorteils in den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ knüpft an den innerstaatlich bestehenden Vorteil an; dazu A. Schmehl aaO. (o. Fn. 49), S. 398 f.: der Mitgliedstaat ist nicht unionsrechtlich verpfl ichtet, kann aber verfassungsrechtlich gehalten sein, die Förderung des Privatschulbesuchs auf die Förderung des Besuchs staatlicher Schulen zu erweitern. 57 P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl?, FS Steinberger, 2002, S. 1153. 58 P. Kirchhof, Die Steuern, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 124: „Die Eigentumsgarantie fordert deshalb die Staatsfi nanzierung durch Steuern, wehrt sie nicht ab, verlangt allerdings die eigentumsgerechte Ausgestaltung der Besteuerung.“ 59 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 832 f.; S. Geserich, Das Spendenrecht, in: M. Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, 2003, S. 245 (246–249), mit Rückhalt im Subsidiaritätsprinzip, ohne Rekurs auf Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG.

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keitsrecht vom Rechtfertigungstopos der „Staatsentlastung“60 befreit und komplementär denkt. Das Budget der privaten Gemeinwohlfi nanciers könnte der Staat schon im Umfang schwerlich, aber gewiss nicht ausgabenpolitisch-qualitativ, in seiner Eigenwilligkeit, Breitenwirkung und Zielgenauigkeit übernehmen. Der Staatshaushalt wird wohl partiell entlastet. Vor allem aber zeichnet den gemeinwohldienlichen „Nebenhaushalt“ der Kleinspender und Großmäzene eine dezentrale Verteilungswirksamkeit im Zeichen grundrechtlicher Subsidiarität aus, die der demokratische Haushaltsgesetzgeber anderer Prioritäten wegen, aber auch mangels Wissen61 niemals gewährleisten kann. Der EuGH hat die Kapitalverkehrsfreiheit unausgesprochen in diesen Kontext gestellt62. Soweit Gemeinwohlanliegen nicht mehr auf die staatsterritoriale Allgemeinheit beschränkt werden können – das gilt vor allem für Forschung 63, Bildung 64 und Kultur65 (Art. 165, 167, 179 AEUV) –, fi ndet die staatsbürgerliche Kapitalverwendungsfreiheit ihre Fortsetzung in der unionsbürgerschaftlichen Kapitalverkehrsfreiheit. Die Europäisierung des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts ist kein Vorgang der Entstaatlichung66. „Es geht überhaupt nicht um Staatsaufgaben, sondern um Aufgaben der Bürger: sich die Sache der Allgemeinheit zu eigen zu machen und Leistungen zu erbringen, die das Gemeinwohl erfordert.“67 Wie der Katalog des § 52 Abs. 2 AO, so steht auch die europäische Sache der Allgemeinheit individualrechtlich nicht zur Disposition. Private Gemeinwohlfi nanzierung folgt den demokratisch vordefinierten Zielen. In diesem Rahmen aber ist der Wohltäter frei, staatsbürgerlich frei (Art. 14 GG) und unionsbürgerlich frei (Art. 63 AEUV). Niemand wird gegenrechnen, dass der Mäzen seine steuerliche Leistungsfähigkeit mindert zu Lasten des staatlichen Steuerauf kommens, mit der grenzüberschreitenden Spende indessen seltener eine Staatsleistung substituiert. Denn dieser Verlusteffekt spiegelt nur den Netto-Freiheitsgewinn des Kapitaleigentümers, der sich entschieden hat, nicht nur Staatsbürger, sondern auch Unionsbürger zu sein.

60 Gegen das Missverständnis, „dass eine steuerliche Förderung nur in solchen Bereichen gerechtfertigt wäre, in denen der Staat anderenfalls selbst tätig werden müsste“, auch R. Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, Rn. 80–84 (81); A. Leisner-Egensperger, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Vor §§ 51–58 AO, Rn. 38 (Stand: November 2008). 61 Zum Wissen der Mäzene – und Unternehmer – in der privaten Gemeinwohlfi nanzierung U. Hufeld aaO. (o. Fn. 48), S. 125 ff. Grundsätzlich E. Schmidt-Aßmann, Die Ambivalenz des Wissens und die Ordnungsaufgaben des Rechts, Die Verwaltung Beiheft 9 (2010), S. 39 (45): „Die rechtliche Ordnung des Wissens hat vom Primat gesellschaftlichen Wissens auszugehen.“ 62 EuGH v. 27. 1. 2009, Rs. C-318/07 – Persche, Rn. 23–30. 63 EuGH v. 10. 3. 2005, Rs. C-39/04 – Laboratoires Fournier, Rn. 22 f.; S. Unger, Steuerbegünstigung grenzüberschreitender Gemeinnützigkeit im Binnenmarkt, DStZ 2010, S. 154 (161 f.). 64 EuGH v. 18. 12. 2007, Rs. C-281/06 – Jundt; U. Hufeld aaO. (o. Fn. 48), S. 122 f. 65 U. Hufeld, Deutsches Steuerrecht und europäische Gemeinnützigkeit, FS R. Mußgnug, 2005, S. 255 (266 ff.). 66 A. A. P. Fischer, Das EuGH-Urteil Persche zu Auslandsspenden – die Entstaatlichung des Steuerstaates geht weiter, FR 2009, S. 249; dagegen U. Hufeld aaO. (o. Fn. 48), S. 126 f. 67 J. Isensee, Gemeinnützigkeit und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: M. Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, 2003, S. 93 (99).

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3. Europäische Bürgerfreiheit als Legitimationsressource Mit europäischer Freiheit wächst dem integrierten Europa Legitimation zu, ein eigenes Legitimationsfundament. Polare Legitimation im europäischen Zuschnitt68. Es ist ein Unterschied, ob Mitgliedstaaten ihre Kompetenzen auf „halbdemokratische“ Organe in Brüssel übertragen – oder Kompetenzen aufgeben zugunsten freier Unionsbürger. Der Kompetenztransfer nach Brüssel ist für die staatliche Demokratie legitimatorisch ein Verlustgeschäft – und das Lissabon-Urteil fragt mit Recht, ob der Demokratie die Insolvenz droht. Dagegen trägt der Kompetenzverzicht im Zeichen europäischer Bürgerfreiheit Legitimationsgewinne ein. Die Europäische Union europäischer Staaten erklärt sich nicht allein aus der „Verlagerung von politischer Herrschaft“69. Im Zentrum der Union steht eine „Übertragung“ von Kompetenzen, die nicht beim supranationalen Hoheitsträger ankommen, sondern bei den Unionsbürgern in Gestalt verfasster Grundfreiheiten. Hier geht es nicht um die Verlagerung, sondern um die Reduktion politischer Herrschaft; nicht um europäischen Grundrechtsschutz gegen den europäischen Hoheitsträger, sondern um europäischen Freiheitsschutz gegen Staaten; nicht um staatlich-demokratische Mehrheitsherrschaft, sondern um die Freiheit der Unionsbürger; nicht um die Legitimationskraft der Demokratie im Staat, sondern um die Legitimationskraft der Freiheit in Europa. Mit einem Wort: Die Umstellung der Integration auf subjektive Rechte hat der Europäischen Union originäre Verfassungslegitimation erschlossen. Im Raum der transnationalen Privatautonomie konstituiert sich die europäische Privatrechtsgesellschaft70. Sie bestimmt über die Tiefe der Integration. Die Frage nach der Finalität der Integration erledigt sich. Sie kann ohnehin kein Thema politischer Dezision sein. Die Gesellschaft entscheidet autonom über den Grad der Europäisierung. Sie entscheidet über die Balance zwischen europäischer Gesellschaft und demokratischen Staaten. „Die Balance folgt dem Prinzip der Subsidiarität: dass den Individuen und den gesellschaftlichen Potenzen der Handlungsvorrang in der Verwirklichung des Gemeinwohls zukommt und dass sich das Gemeinwesen aus Aktivitäten von unten nach oben auf baut.“71 Jeder Unionsbürger dimensioniert seine private, ökonomische und politische Existenz nach seiner Fasson – lokal, national und europäisch. Er ist sogar frei genug, als Mäzen europäisches Gemeinwohl zu denken, sich auch als Citoyen Europas zu verstehen und die Grenzen der Demokratie zu überschreiten.

68 Zur demokratischen Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt C. D. Classen, Demokratische Legitimation im offenen Rechtsstaat, 2009, S. 87 ff. 69 BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon. 70 P.-C. Müller-Graff, Die europäische Privatrechtsgesellschaft in der Verfassung der Europäischen Union, in: Müller-Graff/Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, 2000, S. 271. 71 J. Isensee, Privatautonomie, aaO. (o. Fn. 15) Rn. 2 – dort bezogen auf den innerstaatlichen Kontext, auf „die vertikale Balance zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Macht“ in Abhängigkeit vom Gewicht der Privatautonomie.

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III. Freiheit und Demokratie Wer die polare Legitimationsstruktur der demokratischen Verfassung vor Augen hat, kann die Leerstelle im Karlsruher Lissabon-Urteil nicht übersehen. Über die europäische Verfassung der Individualrechte und Grundfreiheiten liest man kein Wort72. Die erste und tragende Legitimationsgrundlage gerät damit aus dem Blick. Das Urteil macht eine Legitimationsbilanz auf und stellt das Kapital der europäischen Bürgerfreiheit nicht ein. Das ist Bilanzverfälschung.

1. Auf dem Weg in die „Halbdemokratie“? Das Grundgesetz will die Freiheit der Bürger und demokratische Herrschaft. Freiheit und Demokratie gegeneinander auszuspielen, liegt ihm fern. Es kennt auch keine Kompensationsmechanik derart, dass Freiheitszugewinne Demokratieverluste ausgleichen könnten. Die Grundrechte drängen allerdings dahin, demokratische Mehrheitsherrschaft auf das notwendige und verhältnismäßige Maß zu beschränken. Art. 1 Abs. 3 GG setzt dem demokratischen Schrankengesetz Schranken-Schranken entgegen. In diesem Kontrollmodus wird Demokratie nicht gewogen, sondern zurückgewiesen, und in der Konkurrenz der Freiheiten erwarten wir vom demokratischen Gesetz die Herstellung praktischer Konkordanz. Als Schranke der europäischen (Grund-)Freiheit sieht sich das staatlich-demokratische Gesetz dem gleichen Rechtfertigungsdruck unterworfen und muss zurückstehen, wenn es dieser Freiheit nicht mehr entgegensetzen kann als den Willen der Mehrheit. Dem Primat der Freiheit korrespondiert verfassungsrechtlich ein natürlicher – nicht rechtfertigungsbedürftiger – „Demokratiebegrenzungsdruck“. Die freiheitsinduzierte Entdemokratisierung gehört zum Wesen auch der europäischen Verfassung. Sie hat nichts zu tun mit der demokratischen Insuffizienz der europäischen Institutionen. All das kann nicht gemeint sein, wenn das Lissabon-Urteil die Sentenz meißelt: „Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig“73. Der Satz zielt ersichtlich auf den Raum der Herrschaft, soweit er sich gegen den Primat der Freiheit behaupten kann. Zu den Erstaunlichkeiten des Urteils gehört, dass die große, apodiktische Sentenz sogleich dementiert und das „volldemokratische“74 Staatsrecht in einer Abwägung aufgebrochen wird75 – diese aber, noch erstaunlicher, ein demokratisches Insich-Geschäft sein soll: Das Demokratieprinzip sei offen für eine nicht-kongruente, lediglich „angemessene demokratische Ausgestaltung“76 in der Europäischen Union, „um gleichbleibende Wirksamkeit unter geänderten Umständen zu bewahren“77.

72 Kritik an der „Geringschätzung der Unionsbürgerschaft“: P. Häberle, Das retrospektive LissabonUrteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 (333 f.). 73 BVerfGE 123, 267 (343) – Lissabon. 74 Vgl. BVerfGE 123, 267 (381) – Lissabon. 75 BVerfGE 123, 267 (365 f.) – Lissabon. 76 BVerfGE 123, 267 (365) – Lissabon. 77 BVerfGE 123, 267 (366) – Lissabon.

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Abgesehen von ihrer Aporie, legt diese Begründung wieder78 ein Integrationsverständnis nahe, das die Union als Reaktion auf unausweichliches Zusammenrücken im globalen Dorf begreift. Der Maßstab, auf den es ankommt79, Art. 79 Abs. 3 GG, erheischt dagegen eine anspruchsvolle normative Begründung für jene „Sonderlagen“, in denen die unveränderlichen Grundsätze „aus sachgerechten Gründen modifiziert werden“ dürfen80. Die These, dass die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfest seien, aber nicht durchbrechungsimmun81, steht in der Europäisierung vor ihrer größten Bewährungsprobe. Mit Recht bekräftigt das Lissabon-Urteil, dass die demokratiedefizitäre Ausnahme die demokratische Regel nicht überwältigen darf 82. Aber auch diesseits der „Schwelle zum Bundesstaat“83 steht und fällt die Abkehr von „volldemokratisch“ organisierter Staatlichkeit84 mit einer Begründung, die vor Art. 79 Abs. 3 GG Bestand hat. Allein der Freiheitszugewinn in der Europäischen Union begründet politisch und verfassungsrechtlich die Bereitschaft demokratischer Staaten, einen identitätsprägenden Grundsatz „sachgerecht zu modifizieren“85. Niemand plädiert für einen Rückzug in die „Volldemokratie“, aus einer verfassten Union der Staaten mit der Folge, dass sich Freiheitsrechte in Toleranzen zurückverwandeln. Integrationsverantwortliche Europapolitik bedenkt die „Verlagerung von politischer Herrschaft“86 in ihrer Ambivalenz: nicht nur als „andere Gestaltung politischer Willensbildung“87, sondern auch als andere Gestaltung privatautonomer Willensbildung; als Konkurrenz der Hoheitsträger, die auf die Union der Bürger bezogen sein muss und politisch sinnfällig sein kann als Vorgang der Reduktion von Herrschaft88. Aus europäischer Bürgerfreiheit kann wiederum europäischer Regulierungsbedarf erwachsen; auch der supranationale Grundrechteingriff erweist sich nicht selten als Konsequenz der ausgreifenden Raum-Ziele. Im engen, nicht für Änderungen, nur für begründete Durchbrechungen offenen Konzept des Art. 79 Abs. 3 GG – im Nebeneinander der Grundsätze Freiheit und Demokratie, in der polaren Legitimationsbegründung – ist das demokratische Prinzip politisch (Art. 23 Abs. 1 GG) abwägungsfähig. Oder geht es dem Bundesverfassungsgericht um eine Abkehr von dieser traditionellen Linie, die dem Verfassungsgesetzgeber „Modifi kationen“ im Schutzbereich 78

Vgl. BVerfGE 123, 267 (345) – Lissabon (dazu o. im Text bei Fn. 25). Kritik am Umgang des Lissabon-Urteils mit den Kontrollmaßstäben: M. Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah?, Der Staat 2009, S. 497. 80 St. Rspr.: BVerfGE 30, 1 (24 f.) – Abhörurteil; E 84, 90 (121) – Bodenreform; E 89, 155 (209) – Maastricht; E 94, 12 (34) – Bodenreform II; E 94, 49 (103) – Sichere Drittstaaten. 81 U. Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung, 1997, S. 215, 219, 244 ff.; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 79; a. A. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 242: Art. 79 Abs. 3 GG verbiete auch einen „Erosionsprozeß“, enthalte ein „Verfassungsprinzipiendurchbrechungsverbot“. 82 BVerfGE 123, 267 (364 f.) – Lissabon. Verfassungsrechtsvergleichend zum staatlichen Souveränitätsvorbehalt in der EU U. Hufeld aaO. (o. Fn. 43), S. 49 ff. 83 BVerfGE 123, 267 (364) – Lissabon. 84 BVerfGE 123, 267 (381) – Lissabon. 85 Wendung im Anschluss an die o. Fn. 80 nachgewiesene Rechtsprechungslinie. 86 BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon. 87 BVerfGE 123, 267 (344) – Lissabon. 88 S. o. im Text bei Fn. 8 f. 79

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des Art. 79 Abs. 3 GG offenhält? Dann ist das Abwägungsverbot an den verfassungsändernden Integrationsgesetzgeber adressiert – und steht die Balance zwischen staatlicher Voll- und europäischer Halbdemokratie seit dem 30. Juni 2009 unter der Alleinkontrolle des Gerichts. Dann dient die Sentenz – das demokratische Prinzip sei nicht abwägungsfähig – der Entpolitisierung der Integration und ihrer Unterwerfung unter eine verfassungsgerichtliche Vollkontrolle, die nicht mehr politische, sondern allenfalls noch verfassungsinterpretatorische Modifi kationen der Demokratie anerkennt. So wird auch verständlich, warum die Demokratie mit der Würde des Menschen in Verbindung gebracht und damit gleichsam verabsolutiert wird89.

2. Menschenwürde und „politischer Primärraum“ Die konsequent einseitige, demokratisch-herrschaftsarithmetische Linie des Lissabon-Urteils gipfelt in der Verknüpfung von Menschenwürde und Herrschaft. „Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert.“90 Der Rekurs auf Art. 1 Abs. 1 GG befestigt den Legitimationspol Demokratie. Der Grundsatz der Grundsätze kommt als Anker der politischen Freiheit, nicht aber als Basisnorm der ganzen Freiheit in Betracht. Keine Rede davon, dass öffentliche Gewalt in ihrer Verpfl ichtung auf Freiheit eine relative Größe ist, in ihrer Reichweite vom Raum der Freiheit abhängt; dass der Menschenwürdesatz zuallererst auf das Prinzip personaler Freiheit verweist und auf das Primärrecht des Bürgers, seine Angelegenheiten unter seinesgleichen privatautonom zu regulieren; dass die europäischen Individualrechte diesem Primäranspruch in europäischer Freiheit größeren Raum geben. Das Bundesverfassungsgericht hatte kein Interesse, aus Art. 1 GG europafreundlich Funken zu schlagen. Art. 1 Abs. 3 GG steht in semantischer Nähe zum Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit, der im Kontext des Europarechts das subjektive Recht markiert91. Art. 1 Abs. 2 GG korrespondiert mit dem historisch bedeutsamen Gemeinschaftsbegriff, indem er feststellt, dass sich das Deutsche Volk zu den Menschenrechten als Grundlage „jeder menschlichen Gemeinschaft“ bekennt. Und über Art. 1 Abs. 1 GG hätte sich der „Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt“92 in Verbindung bringen lassen mit dem bürgerlich-politischen Interesse an europäisch dimensionierter Freiheit. Hier allein findet sich die Legitimationsgrundlage für eine transnationale Gemeinschaft, die als Staatenunion den Demokratie-Standards des Grundgesetzes nicht genügen, aber Räume öffnen kann für mehr Freiheit.

89 Dagegen P. Häberle, aaO. (o. Fn. 72), S. 327 (Hervorhebungen dort): „Auch steht Art. 1 GG über dem Demokratieprinzip. Die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, die Demokratie eine organisatorische Konsequenz.“ 90 BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon. 91 D. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 7 Rn. 7; C. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, S. 285 m. w. N. 92 BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon.

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Zu einer Bürgerschaft gehört die ganze Freiheit93. Deshalb haben sich die Bürgerschaften der europäischen Staaten entschieden, die staatliche Demokratie nicht preiszugeben, aber doch zu modifizieren, um ihren Freiheitsstatus in einer Unionsbürgerschaft auszubauen. Diese Entscheidung haben sie im „politische(n) Primärraum ihrer jeweiligen Gemeinwesen“94 getroffen – aber nicht nur „zum Schutz des . . . demokratischen Primärraums“95, sondern auch zum Schutz einer europäischen Verfassung der Freiheit. Man will nicht wahrhaben, dass Karlsruhes Zweiter Senat das polare Legitimationsschema für Europa verweigern, den Citoyen einsam triumphieren lassen und jene Souveränität will, die europäische Freiheit nur tolerieren kann. Der politische Primärraum – unter dem Grundgesetz und in der Verfassung Europas – ist der Raum der Freiheit. Er ist herrschaftsarithmetisch nicht zu fassen.

3. Freiheit und EU-Mitgliedschaft Die Unwucht im Lissabon-Urteil führt unausweichlich zu einer apodiktischen Antwort auf die Frage nach der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Es handle sich nicht um Sezession, sondern „um den Austritt aus einem auf dem Prinzip der umkehrbaren Selbstbindung beruhenden Staatenverbund“96. Art. 50 EUV mache das Austrittsrecht sichtbar, unterstreiche damit die Souveränität der Mitgliedstaaten97. Ein Husarenstück der Verfassungsrechtsprechung: Wahlrecht, „souveräne Staatlichkeit Deutschlands“ und Austritt werden urteilsdramaturgisch in einen direkten Zusammenhang gebracht98 – das Austrittsrecht avanciert zum Individualgrundrecht, verankert im Recht auf Demokratie. Hätte das Bundesverfassungsgericht den ganzen Raum der Freiheit als politischen Primärraum des Grundgesetzes identifiziert, hätte es feststellen müssen: Unter den heutigen Bedingungen wäre der Austritt ein eklatanter Eingriff in die Freiheit, in die Sicherheit und in das Eigentum der Bürger. Wie im Verfassungsstaat, so haben sich auch in der Europäischen Union Toleranzen in Rechte verwandelt. Deshalb erhebt sich die Frage, ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ohne weiteres Verfügungsmasse in einer Parlaments- oder Volksabstimmung sein könnte. Die Frage nach der Herrschaft der Toten über die Lebenden99 führt im Zeichen polarer Legitimation keineswegs selbstverständlich zur totalen Revisibilität und Tagesmehrheitsherrschaft, auch nicht zum kollektiven Selbstbestimmungsrecht jeder neuen Generation100, gewiss nicht zum beliebigen Vorgriff auf die Grundrechte der folgenden Generationen, etwa durch Verschuldung. Zu fragen ist immer auch nach der Herrschaft 93 Eindringlich M. Nettesheim aaO. (o. Fn. 32), S. 91, mit der Warnung, die Unionsbürgerschaft einseitig auf Freiheit und Gleichheit zu konzentrieren. 94 BVerfGE 123, 267 (382) – Lissabon. 95 BVerfGE 123, 267 (411) – Lissabon. 96 BVerfGE 123, 267 (350) – Lissabon. 97 BVerfGE 123, 267 (395) – Lissabon. 98 BVerfGE 123, 267 (340, 343, 381, 395 f.) – Lissabon. 99 H. Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 28 ff. 100 P. Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: A. von Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 1009 (1020): „Die verfassunggebende ist eher eine verfassungweitergebende Gewalt.“

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der Lebenden über die noch Ungeborenen. Das demokratische Prinzip ist abwägungsfähig. Die Lebenden müssen ihre Abstimmungsrechte zurücknehmen, wenn Freiheit auf dem Spiel steht: die Freiheit der gegenwärtig und der zukünftig Lebenden. Die EU-Mitgliedschaft ist nicht Spielball einer Abstimmungslaune. Das Grundgesetz verpfl ichtet jede Generation neu, die Europäische Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten. Das Austrittsrecht steht zur Verfügung als Notrecht, wenn die Union für europäische Bürgerfreiheit nicht mehr einstehen kann. Die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union steht legitimatorisch unter dem Gesetz der Freiheit.

Sozialstaatlichkeit und europäische Integration: Eine aktuelle Positionsbestimmung von

Prof. Dr. Margarete Schuler-Harms* Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

I. Einleitung Eine der europäischen Wirtschaftsordnung vergleichbare unionsweite Sozialordnung existiert bekanntermaßen nicht, und selbst die europäische Koordinierung im Bereich des Sozialen war lange Zeit vergleichsweise schwach ausgeprägt. Im Vertrag von Lissabon wurden sozialpolitische Ziele, soziale Grundsätze und Grundrechte und hierauf bezogene Kompetenzen fortgeschrieben. Das Bundesverfassungsgericht sah sich in seiner Entscheidung vom 30. Juni 2009 auch zu Feststellungen über die Zuordnung der Aufgabe zur politischen Gestaltung der sozialen Lebensverhältnisse veranlasst.1 Das wiederum gibt Anlass, sich des Verhältnisses von nationaler Sozialstaatlichkeit und europäischer Integration erneut zu versichern. Nach einem Blick in die Urteilsgründe (II.) wird behandelt, wie sich Sozialstaat und Europäische Union auf dem Gebiet der Sozialpolitik zueinander verhalten (III.), ob das Grundgesetz der europäischen Integration auf dem Gebiet der Sozialpolitik eine Grenze setzt (IV) und auf welchen (hier ausgewählten) Pfaden die soziale Dimension der Union sich in Zukunft entfalten könnte (V.).

II. Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialpolitik Das BVerfG führt das bisherige Bild der Rechtsprechung von einer Vertragsunion fort, in der den souveränen Mitgliedstaaten ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben

* Diese Antrittsvorlesung wurde am 20. November 2009 an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg gehalten. 1 Vom 30. Juni 2009, BVerfGE 123, 267.

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muss.2 Es leitet aus dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 23 Abs. 1 GG nicht allein den staatlichen Auftrag zur Sorge für eine gerechte Sozialordnung und die Beschränkung auf eine Mitwirkung am Integrationsprozess ab, in dem die Europäische Union auf soziale Grundsätze verpfl ichtet ist. Art. 23 Abs. 1 GG wird außerdem die Bindung der Union selbst „an die Sozialverantwortung“ entnommen und dies darauf zurückgeführt, dass ihr Aufgaben „übertragen“ worden seien.3 Auch die hieraus gezogenen Konsequenzen begründet das Gericht für beide Ebenen. Die Sorge für eine gerechte Sozialordnung zählt es zu den für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates besonders sensiblen Sachbereichen, weshalb die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der deutschen Gesetzgebungsorgane getroffen werden müssten.4 Namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen müsse weiterhin primäre Aufgabe der Mitgliedsstaaten bleiben, auch wenn eine Koordinierung bis hin zur allmählichen Angleichung nicht ausgeschlossen sei.5 Dies, so das Gericht weiter, korrespondiere mit den rechtlich wie faktisch begrenzten Möglichkeiten der Europäischen Union zur Ausformung sozialstaatlicher Strukturen.6 Beim Argument des faktisch begrenzten Möglichkeitsraums mag dem Gericht die Schwierigkeit vor Augen gestanden haben, die Sozialordnungen von 27 Mitgliedstaaten mit ihren unterschiedlichen Institutionen, Systemen, Leistungsarten und Leistungsniveaus zu integrieren. Das Argument der rechtlichen Begrenzung fußt offenbar auf Art. 23 Abs. 1 GG. Zur Frage, wie sich diese Bindung der Europäischen Union durch das deutsche Grundgesetz zu den anderen mitgliedstaatlichen Verfassungen verhält, äußert sich die Entscheidung nicht. Zum Vertrag selbst stellt das Gericht wenig überraschend fest, dass das Sozialstaatsprinzip auf nationaler wie Unionsebene notwendig die politische und rechtliche Konkretisierung voraussetzt, um wirken zu können,7 und kann – folgerichtig – auch keinen Verfassungsverstoß entdecken. Hierbei überprüft es freilich nur, ob der „Gestaltungsfreiraum, der in sozialen Fragen auf europäischer Ebene besteht“, nicht überschritten und ob die „Souveränität“ der Mitgliedstaaten ausreichend gewahrt wurde.8 Dies wird bejaht und eine das Sozialstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG) beeinträchtigende, demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindernde Beschränkung der sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages verneint.9 2

BVerfGE 37, 271 – Solange I, BVerfGE 73, 339 – Solange II; BVerfGE 89, 155 (LS 2, 3 und 186 f.) – Maastricht. Zur Linie dieser Rechtsprechung vgl. Joseph H. H. Weiler, Der Staat über alles: Demos, Telos und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JöR 44 (1996), S. 91 ff.; Peter Häberle, Der Pluralismus der Rechtsquellen in Europa – nach Maastricht, JöR 47 (1999), S. 79 ff.; aus politikwissenschaftlicher Sicht Roland Lhotta/Jörn Ketelhut, Integrationsverantwortung und parlamentarische Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht als Agent des „verfassten politischen Primärraums“, ZParl 40 (2009), S. 864 ff. 3 BVerfGE 123, 267 (362). 4 Ausführlich BVerfGE 123, 267 (Leitsatz 3, 358 f.). 5 BVerfGE 123, 267 (362 f.). 6 BVerfGE 123, 267 (363). 7 BVerfGE 123, 267 (362). 8 BVerfGE 123, 267 (430). 9 Vgl. BVerfGE 123, 267 (426 ff.).

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Nicht weiter gewürdigt wird die „Ermöglichungsfunktion“ des Art. 23 Abs. 1 GG für eine fortschreitende Integration und ihre soziale Dimension.10 Dies ist doppelt erstaunlich, denn das Gericht hatte eine Bindung der Union an das (deutsche) Sozialstaatsprinzip eigens ausgeführt, und auch die vom Gericht selbst referierte Kritik einiger Beschwerdeführer hatte gelautet, dass die sozialpolitische Integration mit der wirtschaftspolitischen nicht in ausreichendem Maße Schritt halte.11 Die Relevanz der Ausführungen zur gegenwärtigen und künftigen Kompetenzverteilung auf dem Gebiet der Sozialpolitik wird im kommentierenden Schrifttum bezweifelt,12 und auch die verfassungsrechtliche Begründung ist nach Ansicht vieler Kommentatoren schwach ausgefallen.13 Doch weder die Einordnung als obiter dictum14 noch die Kritik an den Gründen werden die Wirkung dieser Entscheidungspassagen in der Zukunft hindern. Das Verhältnis von Mitgliedstaaten und Europäischer Union auf dem Gebiet der Sozialpolitik gilt es daher auch unter Einbeziehung der Reformverträge und dieser Entscheidung neu15 zu vermessen.

10 Differenzierung der Funktionen des Art. 23 Abs. 1 GG bei Hans Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 532 f. 11 BVerfGE 123, 267 (311 f.). 12 Zweifel und Kritik insoweit bei Christoph Schönberger, Die Europäische Union zwischen Demokratiedefi zit und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), S. 535 (553 ff.); angedeutet auch bei Rainer Wahl, Die Schwebelage von Europäischer Union und Mitgliedstaaten. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 587 (613). Gründe aus der Genese des Vertrags aber bei Matthias Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, S. 1197 f. Das BVerfG selbst bezieht sich auf entsprechende Rügen einiger Beschwerdeführer, BVerfGE 123, 267 (311 f.). 13 Bestandsaufnahme der Besprechungen bei Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah? Verfassungshandwerkliche Anfragen an das Lissabon-Urteil des BVerfG, Der Staat 48 (2009), S. 497 Fn. 2; Schönberger, Der Staat 48 (2009), S. 535 Fn. 1; Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, Der Staat 48 (2009), S. 475 ff.; Jo Eric Khushal Murkens, Identity trumps Integration, Der Staat 48 (2009), S. 517 ff.; Daniel Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit, Der Staat 48 (2009), S. 559 ff.; Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 ff. 14 Grimm, Der Staat 48 (2009), S. 475 (490). 15 Gründliche Vermessungen im Laufe der Zeit durch die Beiträge in: Ebsen, Ingwer (Hrsg.), Europarechtliche Gestaltungsvorgaben für das deutsche Sozialrecht, 2000; Hans F.Zacher, Wird es einen europäischen Sozialstaat geben? EuR 2002, S. 147 (152 ff.); Thorsten Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003; Heinig, (Fn. 10), S. 535 ff. m.w.Nw.; Beiträge in: Sozialrecht in Europa, SDSRV 59 (2010); Bernd Schulte, Allgemeine Regeln des internationalen Sozialrechts, – supranationales Recht, in: von Maydell, Bernd/Ruland, Franz/Becker, Ulrich (Hrsg.), Handbuch des Sozialrechts, 4. Aufl age 2008, § 33; ders., Das „Europäische Sozialmodell“ zwischen Realität und Normativität, in: Becker, Ulrich/Hockerts, Hans Günter/Tenfelde, Klaus (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland – Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Ritter, 2010, S. 171 ff.; Ulrich Becker, Der Sozialstaat der europäischen Union, a.a.O., S. 313 ff., jeweils m.w.Nw.

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III. Status Quo: Soziale Gestaltung im „Vertragsverbund souveräner Staaten“ oder „Sozialpolitik als Mehrebenenpolitik“? 1. Die Mitgliedstaaten als souveräne Träger der Sozialpolitik a) Verhältnis von Union und Mitgliedsstaaten auf dem Feld der Sozialpolitik Ist das Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten auf dem Feld der Sozialpolitik wirklich so beschaffen, wie das Gericht es nahelegt? Im bekannten Bild16 des BVerfG von der Europäischen Union als Vertragsverbund souveräner Staaten17 sind die Verträge „abgeleitete Grundordnung“18 und bleibt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ein Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung.19 Auch in Grundrechtsfragen eignet der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit weiterhin und ungeachtet der nun in Kraft gesetzten europäischen Grundrechte eine „verfassungsrechtlich gebotene Reservekompetenz.“20 Die Bundesrepublik Deutschland fügt sich ein in die „Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten“, bleibt aber als „Staat“ (der die Europäische Union nicht ist) weiterhin „souverän“, d. h. berechtigt, „über die grundsätzlichen Fragen der eigenen Identität konstitutiv zu entscheiden“.21 Die staatliche Souveränität gilt es also zur Erhaltung der eigenen „Identität“ zu bewahren. Die Kompetenzverteilung zwischen Deutschland und der EU im Bereich der Sozialpolitik misst das Bundesverfassungsgericht ebenfalls an diesem Ziel des Identitätserhalts. b) Gerade im Bereich des Sozialen findet diese Leitvorstellung ihre Entsprechung im Gemeinschaftsrecht. Das Bild des „souveränen“ Sozialstaats prägte lange Zeit – und anders als etwa in der Wirtschaftspolitik 22 – nicht nur eine Seite der Medaille. Sozialpolitische Aufträge und Zuständigkeiten übertragen die Vertragsstaaten nur mit großer Zurückhaltung. Die Ursprünge dieser Zurückhaltung reichen bis in die Verhandlungen um die Gründungsverträge zurück, in denen schon um das Verhältnis zwischen der Errichtung des Binnenmarktes und der Entwicklung des sozialen Gleichgewichts gerungen wurde.23 Frankreich vermochte sich bekanntermaßen mit seinem Wunsch nach einer Harmonisierung der Sozialpolitik aus Gründen des Wett1718

16 Bilder als Grundlage von Ordnungsideen bei Andreas Vosskuhle, Der „Dienstleistungsstaat“. Über Nutzen und Gefahren von Staatsbildern, Der Staat 40 (2001), S. 495 f.; als Grundlage von Vorverständnissen, vgl. Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 f., zur „Macht der Bilder“ S. 592. Den Wert des Wissens um Bilder betont Susanne Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel des Rechts und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann, Eberhard/Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 223 (248). 17 Nw. s.o. Fn. 13; Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 (593 f.), auch zum folgenden. 18 BVerfGE 123, 267 (349). 19 Vgl. BVerfGE 123, 267 (349). 20 Begriff in BVerfGE 123, 267 (401). 21 BVerfGE 123, 267 (400). 22 Skizze des Konzepts bei Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 (592 f.) m.Nw. zu grundlegenden Entscheidungen des EuGH. Vgl. a. Schulte, (Fn. 15), § 33 Rn. 1 ff. m.w.Nw. 23 Ausführlich Monika Schlachter, in: Schulze, Bernd/Zuleeg, Manfred (Hrsg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006, § 39 Rn. 1 ff.; Roland Bieber/Astrid Epiney/Marcel Haag, Die Europäische Union – Europarecht und Politik, 8. Aufl age 2009, § 22 Rn. 2 f.; aus der politikwissenschaftlichen Literatur Ketelhut, Der EuGH und die deutschen Arbeitsgerichte – Strategische Interakti-

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bewerbs im Gemeinsamen Markt (heute Binnenmarkt) und nach Schaffung umfassender Sozialkompetenzen der Gemeinschaft nicht durchzusetzen. Statt folgten die Vertragsstaaten dem ursprünglich (auch) von Deutschland favorisierten Konzept, wonach eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes einher gehen würde. Der EWG-Vertrag enthielt deshalb keine Handlungsermächtigung zur Harmonisierung der nationalen Standards24 und nur wenige punktuelle sozialpolitische Ziele, vor allem den Grundsatz der Entgeltgleichheit für Frauen und Männer.25 Zusätzlich wurde – als Kompromiss – vereinbart, die gemeinschaftsrechtlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in sozialpolitischer Absicht zu nutzen.26 Dieses Konzept formuliert noch heute in Teilen Art. 151 Abs. 3 AEUV. Die Einrichtung des Sozialfonds 1960, die Betonung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Stärkung des Arbeitsschutzes in den 1970er Jahren, vor allem aber die 1989 verabschiedete Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und das sie begleitende Aktionsprogramm stärkten die soziale Dimension des europäischen Primärrechts.27 Die heute in Art. 151 AEUV geregelte gemeinsame Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten für die Verfolgung sozialer Ziele wurde Ende der 1980er Jahre begründet. Der Ausbau sozialpolitischer Kompetenzen der EU im Vertrag von Maastricht scheiterte zwar erneut, dieses Mal am Widerstand des Vereinten Königreichs. Die verbleibenden elf Mitgliedstaaten einigten sich aber auf ein Sozialprotokoll, das dem Vertrag angefügt und die heute in Art. 151 – 161 AEUV normierten Festlegungen enthielt.28 Die Sozialpolitik der Union war damit aus dem engen Verbund mit der Wettbewerbspolitik gelöst und hatte eine neue Qualität erhalten. Gleichwohl blieben weiterhin die Mitgliedsstaaten Träger der Sozialpolitik und zeichneten sich auf Unionsebene Konturen eines „europäischen Sozialmodells“ nur vage ab. c) Der Vertrag von Lissabon schreibt die soziale Dimension der Integration fort.29 Im Zielkatalog des Art. 3 EUV n.F. sind nunmehr sozialpolitische Handlungsaufträge enthalten (Abs. 3 UAbs. 2) und eine „nachhaltige Entwicklung Europas“ auf der Grundlage einer sozialen Marktwirtschaft in Aussicht genommen, die unter anderem auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt (Abs. 3 UAbs. 1). Der wirtschaftspolitische Grundsatz der freien Marktwirtschaft mit unverfälschtem Wettbewerb wurde in das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb ausgelaonen in komplexen Entscheidungskontexten. eine politikwissenschaftliche Analyse judizieller Governance im EU-Mehrebenensystem, 2010, S. 123 ff. 24 Art. 117 – 122 EWGV. 25 Die soziale Dimension der Union umfasst immer auch die hier nicht behandelte Beschäftigungspolitik und reicht damit begriffl ich über den verfassungsrechtlichen Begriff des Sozialen hinaus. 26 Art. 117 Abs. 2, 119 EWGV. 27 Schulte, (Fn. 15), § 33 Rn. 8. 28 Vgl. Robert Rebhahn/Michael Reiner, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), 2. Aufl age 2009, Art. 136 EGV Rn. 4. 29 Bestandsaufnahmen bei BVerfGE 123, 267 (428 ff.); Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag vom Lissabon zur Reform der EU, 2. Aufl age 2008, S. 65; Rainer Pitschas, Sozial- und Gesundheitsrechtsverbund „Europa“ – Gemeinsame soziale Verantwortung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten durch „geteilte Zuständigkeit“ nach dem Vertrag von Lissabon, in: Sozialrecht in Europa, SDSRV 59 (2010), S. 7 (11 ff.).

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gert.30 Sozialer und Gesundheitsschutz sowie Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung bilden Ziele der Union bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik (Art. 9 AEUV). Mit der Verbindung von Unionsbürgerschaft und sozialen Rechten und der hierauf gerichteten Rechtsetzungskompetenz des Rates (Art. 21 Abs. 3 AEUV), der Inkraftsetzung der Grundrechtscharta und dem Beitritt zur EMRK (Art. 6 EUV n.F.) ist außerdem ein veritabler Satz sozialer Gewährleistungen in Kraft getreten31 und in der Präambel zum EUV n.F. neben der Gemeinschaftscharta von 1989 auch die Sozialcharta von 1961 in Bezug genommen worden. Die Präambeln beider Verträge betonen den Auftrag zur Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts der Staaten und das Bemühen um stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Völker. Auch die Kompetenzordnung hat der Vertrag von Lissabon modifiziert.32 Art. 4 Abs. 2 lit. b) und c) AEUV begründen für die Sozialpolitik eine geteilte Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten hinsichtlich der im Vertrag genannten Aspekte sowie für den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt. Koordinierende Funktionen sind der Union für die Beschäftigungspolitik zwingend, für die Sozialpolitik fakultativ zugewiesen (Art. 5 Abs. 2, 3 AEUV). Auch auf dem Feld der Gesundheitspolitik weist der Vertrag der Union Kompetenzen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung zu (Art. 6 AEUV). Die bereits im bisherigen Recht normierten Instrumente der Europäischen Beschäftigungsstrategie und der „Offenen Methode der Koordinierung“ wurden fortgeschrieben, die Kompetenzen der Kommission im Bereich der letzteren sogar gestärkt (Art. 156 AEUV). Neu ist auch die Kompetenz des Rates, zur Förderung der Freizügigkeit einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zu erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen (Art. 21 Abs. 3 EUV). Die Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten bleibt aber vor allem im hier behandelten engeren Bereich des Sozialen weitgehend erhalten. Weiterhin kann und muss dort die Aufgabe der Existenzsicherung wahrgenommen, soziale Gleichheit gefördert, soziale Sicherheit gegenüber „Wechselfällen des Lebens“ gewährleistet und soziale Entschädigung organisiert werden.33 Die Ansprüche, die das europäische Recht für grenzüberschreitende Sachverhalte koordiniert, werden im nationalen Sozialrecht begründet werden. Die Verträge stützen damit weiterhin die Leitvorstellung von einer nationalstaatlichen Sozialpolitik.

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Anders noch Art. 3 Abs. 1 lit. g) EGV a.F. Vgl. nur Art. 27 – 38 GRC, unter Einbeziehung von Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz. 32 Zur Entwicklung Streinz, Sozialpolitische Zuständigkeit der EU im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung, in: Offene Methode der Koordinierung, SDSRV 53 (2005), S. 29 (36 ff.) m.w.Nw. 33 Elemente der Sozialstaatlichkeit werden aufgeführt bei Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR II, 3. Aufl age 2004, § 28 Rn. 32 ff.; als „engerer Bereich“ bei Manfred Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland – Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 3. Aufl age 2005, S. 247; vgl. a. Markus Kotzur, Der nachhaltige Sozialstaat, BayVBl. 2007, S. 257 (260, Fn. 46). 31

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2. Die sozialpolitische Kompetenz der Union Die Idee von der Union als reinem „Vertragsverbund“ und den Verträgen als „abgeleiteter Grundordnung“ überzeugt hingegen weder im Grundsatz (a), noch stimmt das Bild für die Sozialpolitik (b). a) Nach Gründen für die beharrliche Rückführung des Unionsrechts auf nationale Hoheitsakte soll hier nicht gesucht werden.34 Für die vorliegende Fragestellung ist festzuhalten, dass sich die Gemeinschaftsdimension des Unionsrechts im Wege der Verfassungsinterpretation nicht mit letzter Gültigkeit erfassen lässt.35 In der Zusammenschau der beiden Ebenen bestätigt sich weder die reine Idee einer „abgeleiteten Grundordnung“ des Unionsprimärrechts noch dessen Autonomie und Eigenständigkeit.36 Die Mitgliedstaaten sind „Herren“ der Verträge und werden doch auch durch sie und das auf ihrer Grundlage gesetzte Recht supranational begrenzt. Die Union ist gleichermaßen an die fortgesetzte Legitimation durch die Mitgliedstaaten gebunden und aus eigener Kraft entwicklungsfähig. Diese Spannungslage wird aus deutscher Sicht durch die Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG ausgeprägt und spiegelt sich zugleich in den unionsrechtlichen Zielen, Grundsätzen und Kompetenzen.37 b) Selbst für die soziale Dimension des Unionsrechts bedarf das Bild von der abgeleiteten Legitimation der Korrektur. Der hierauf gerichtete Kompetenzumfang der Union ist zwar noch schmal, die Rechtsetzung dem Einstimmigkeitsprinzip unterworfen und auf Koordinierung der mitgliedstaatlichen Sozialpolitik konzentriert. Der Bereich des Sozialen reicht aber über diese Kompetenzen weit hinaus.38 Neben den hier nicht behandelten Bereichen der Beschäftigungs- und Verbraucherschutzpolitik sowie des Antidiskriminierungsrechts hat sich auch das europäische Wirtschaftsrecht als Motor der Integration im Bereich des Sozialen erwiesen, und zwar sowohl im Bereich der Grundfreiheiten (aa) als auch im Bereich des europäischen Kartell-, Wettbewerbs- und Beihilfenrechts (bb). Mit der Unionsbürgerschaft hat die soziale Dimension einen neuen, über die Wirtschaftsordnung hinaus reichenden Bezugspunkt gefunden (cc). aa) Die Gewährleistung grenzüberschreitender Mobilität zum Zwecke der Erwerbstätigkeit erfordert im Binnenmarkt den Erhalt sozialer Sicherungsansprüche beim Wechsel des Beschäftigungslandes. Hier liegen die Grundlagen des koordinie34

Vgl. nur Schönberger, Der Staat 48 (2009), S. 535 (536 ff.). Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 (599); grundlegend Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), S. 81 ff. 36 Ausführlich, auch zum Diskussionsstand, Stefan Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: v. Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl age 2009, S. 73 (81 ff.); Christoph Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, a.a.O., S. 227 (240 ff., insbes. 247 ff.). 37 Insbesondere Art. 23 Abs. 1 GG wird durch das BVerfG nicht hinreichend konkretisiert, vgl. Jestaedt, Der Staat 48 (2009), S. 497 (509 ff.); Schönberger, Der Staat 48 (2009), S. 535 (551 ff.) Aber auch Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (90 ff.), und Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 (601 ff.), führen das Verhältnis der von ihnen ins Spiel gebrachten „Grundnorm“ als einheitlicher Legitimationsquelle einerseits und Art. 23 Abs. 1 GG sowie Art. 3 EUV (neu) andererseits nicht näher aus, vgl. dagegen Kingreen, (Fn. 15), S. 389. Kritisch zur Konstruktion der „Grundnorm“ Möllers, (Fn. 36), S. 227 (243) m.w.Nw. 38 Differenzierung von Kompetenzen und Einwirkungen bei Streinz, SDSRV 53 (2005), S. 29 f. 35

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renden Sozialrechts, das als das überkommene und zentrale Gebiet der „sozialen Dimension“ Europas39 die nationalen Sozialrechtsordnungen ergänzt. Auch wenn es gerade nicht auf Harmonisierung angelegt ist, beeinflusst es die sozialstaatliche Gestalt der Mitgliedstaaten doch auch nicht nur peripher.40 Die mitgliedstaatliche Gesetzgebung ist dabei freilich wenig gefordert. Die Ansprüche ergeben sich aus nationalem Recht, die maßgeblichen Koordinierungsregeln aus unmittelbar gültigen Verordnungen,41 deren Anwendung den mitgliedstaatlichen Gerichten aufgegeben ist. Deutsche Sozialgerichte entscheiden seit vielen Jahrzehnten über die Koordinierung des Sozialrechts, und zwar mit beachtlicher Häufigkeit und Tiefe.42 Der Umgang mit grenzüberschreitenden Sachverhalten ist ihnen seit langem selbstverständlich. Längst zeigt gerade die Sozialrichterschaft eine große Expertise auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts, einen offenen Blick über die Grenzen und eine Gewöhnung an den EuGH als oberste Instanz. Die enge Orientierung der Sozialgerichtsbarkeit am Gemeinschaftsrecht und auch der zwischen dem EuGH und den Gerichten der Mitgliedstaaten stattfindende „Dialog“ über seine Auslegung wird in der Leitvorstellung einer „Vertragsunion souveräner Staaten“ nicht angemessen abgebildet. In dieser Kommunikationsbeziehung sind die mitgliedsstaatlichen Gerichte weder Herren noch Exekutoren. Gerade das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) versetzt sie in die Lage, ihrerseits mit dem EuGH zu kommunizieren, gegebenenfalls Kritik zu üben und um Auf klärung nachzusuchen. In den Politikwissenschaften wird dieser Prozess unter dem Stichwort der „judiziellen(n) Governance im Mehrebenensystem“ analysiert und sichtbar gemacht,43 für die auch das Lissabon-Urteil des BVerfG einen geeigneten Forschungsgegenstand abgäbe. Denn auch wenn das Gericht in den einschlägigen Passagen den EuGH eher beiläufig erwähnt, bleibt der Eindruck nicht aus, dass die eingangs zitierte sprachlich starke, aber wenig folgenreiche Botschaft (s.u. III.) zumindest auch an den anderen Gerichtshof adressiert worden ist.44 Auch Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit haben sich dem Bereich der Sozialleistungen geöffnet. Sie prägen die Spielräume mitgliedstaatlicher Sozialpolitik und entfalten integrierende Wirkung. Der EuGH leitet aus ihnen Rechte zur Beschaffung von Sozialleistungen im Ausland und ggf. Kostenerstattungsansprüche im Inland ab, ohne auf die Ausgestaltung der nationalen Sozialleistungssysteme große Rücksicht zu nehmen. Es reicht ihm aus, dass eine entsprechende, im Inland in An39

Stephanie Trinkl, Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001, S. 29, 33. 40 So aber Heinig, (Fn. 10), S. 535 f. 41 Aktuelle Fassungen mit Fundstellen abgedruckt bei Maximilian Fuchs/Jan Horn (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, Textsammlung, 2010. Systematischer Überblick bei Heinz-Dietrich Steinmeyer, Sozialrecht, in: Schulze, Reiner/Zuleeg, Manfred (Hrsg.), Europarecht – Handbuch für die europäische Rechtspraxis, 2. Aufl age 2010, § 40 Rn. 23 ff.; zur Entwicklungsgeschichte Schulte, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung – Die Verordnungen (EG) 883/10 und Nr. 987/09 –, ZESAR 2010, S. 143 ff., 202 ff. 42 Einen Überblick geben die jährlichen Tätigkeitsberichte der Sozialgerichte, für das BSG z. B. abruf bar unter http://www.bsg.bund.de, sowie die zahlreichen Berichte im Jahrbuch des Sozialrechts, hrsg. v. Peter Udsching/Christian Rolfs. 43 Ketelhut, (Fn. 23), passim. 44 So auch Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 (612).

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spruch genommene Dienst- oder Sachleistung dort erstattungsfähig wäre.45 Mitgliedsstaatliche Genehmigungsvorbehalte wären mit den Grundfreiheiten nicht vereinbar. Lediglich für stationäre Behandlungen im Ausland hat der EuGH Genehmigungsvorbehalte der Mitgliedstaaten mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, nämlich dem Planungsbedürfnis der Mitgliedstaaten, gerechtfertigt.46 Diese Spruchpraxis fand vor allem im sozialrechtlichen Schrifttum ein kritisches Echo. Es zeigt sich aber, dass die Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedsstaaten durch diese Aktivierung der Grundfreiheiten in den Bereich des Sozialen hinein nicht in Gefahr geraten sind. Die grenzüberschreitenden Aktivitäten der Unionsbürger bleiben zahlenmäßig überschaubar. Vielfach reicht es aus, im nationalen Recht den besonderen Erfordernissen grenzüberschreitender Leistungserbringung Rechnung durch wenige Normen zu tragen.47 bb) Zu bemerkenswerten, in ihrer Tragweite nur schwer auszulotenden Verschränkungen von nationaler Sozial- und europäischer Wirtschaftsordnung kommt es im Bereich des Kartell-, Wettbewerbs- und Beihilfenrechts.48 Die Annäherung erfolgt von beiden Seiten. Im Beitragsrecht der Sozialversicherung tendiert der Gesetzgeber zur Schwächung des Solidarprinzips zugunsten einer stärkeren Beitrags-Leistungs-Äquivalenz mit der Folge, dass die Sozialversicherungen in die Nähe des funktional verstandenen unionsrechtlichen Unternehmensbegriffs und damit in den Sog des europäischen Wirtschaftsrechts (Art. 101 – 109 AEUV) geraten. Der EuGH handhabt zwar mit Rücksicht auf die mitgliedstaatliche Organisationshoheit den Unternehmensbegriff in Bezug auf soziale Sicherungssysteme zurückhaltend.49 Nationale Sozialreformen bleiben gleichwohl riskant.50 Mit weiterer Schwächung des solidarischen Elements könnte sich die Beurteilung des EuGHs ändern mit der Folge, dass die Allein- oder Vorzugsstellung der Sozialversicherung gefährdet wäre und das Sozialsystem dem strengen gemeinschaftsrechtlichen Beihilfenregime unterworfen würde. Bei aller Zurückhaltung gegenüber der sozialpolitischen Kompetenz der Mitgliedstaaten in den Fragen der Organisation hat der EuGH solche Fälle bereits entschieden.51 Leider hat er dabei die Kriterien des Unternehmensbegriffs im Hinblick auf Sozialversicherungen noch nicht hinreichend präzisiert und die Mitgliedstaaten beim notwendigen Umbau der Systeme im Ungewissen gelassen.52 45 Überblick bei Rainer Schlegel, Gesetzliche Krankenversicherung im Europäischen Kontext – ein Überblick –, SGb 2007, S. 700 (704 ff.). 46 EuGH, Urteil vom 16.5.2006 – Rs C-372/04 Slg 2006 I-04325 (Watts). 47 Für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen, die nach deutschem Krankenversicherungsrecht erstattungsfähig wären, § 13 Abs. 4, 5 SGB V. § 140 e SGB V ermächtigt die Krankenkassen außerdem zu Verträgen mit Leistungserbringern in anderen Mitgliedstaaten. 48 Ausführlich Siegbert Alber, Dienstleistungen im Gesundheitsbereich unter besonderer Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung, in: Festschrift für Günter Hirsch, 2008, S. 3 ff.; Stephan Rixen, Die Bedeutung des EU-Wirtschaftsrechts für die Erbringung von Sozialleistungen, in: Sozialrecht in Europa, SDSRV 59, S. 53 (57 ff.). 49 Seit EuGH, Slg, 1991, I-1979 Höfner und Elser ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt EuGH NJW 2009, 1325 Kattner Stahlbau-GmbH/Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft. 50 Vgl. Anne Lenze, Europa- und verfassungsrechtliche Aspekte der Neugestaltung der sozialen Sicherung, NZS 2006, S. 456 (460 ff.). 51 Für das Arbeitsvermittlungsmonopol EuGH NJW 1991, 2891 Höfner und Elser. 52 Statt vieler Ralph Peter Schenke, Die Wettbewerbsposition der gesetzlichen Krankenversicherung

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Ebenfalls auf Kostenreduktion richten sich Bestrebungen, die soziale Daseinsvorsorge auf den Modus des Wettbewerbs einzustellen und dem Staat eine wirtschaftsrechtliche Regulierungsfunktion zuzuschreiben.53 Die soziale Daseinsvorsorge wird in Deutschland teils privatisiert, teils in ihren öffentlichen Strukturen auf den Modus des Wettbewerbs umgestellt; im Gesundheitswesen etwa nähert das deutsche Recht die Krankenkassen gar immer stärker dem Leitbild des Wirtschaftsunternehmens (oder zumindest eines Marktteilnehmers) an.54 Entsprechende Entwicklungen lassen sich auch bei der Gesundheitsversorgung, in der Jugendfürsorge oder bei den freiwilligen Leistungen der Arbeitslosenversicherung beobachten. Parallelen zur Privatisierung anderer Sektoren der Daseinsvorsorge und zum Regulierungsverwaltungsrecht sind unübersehbar. Folglich liegt es nahe, die Instrumente des europäischen Wettbewerbs- und Vergaberechts für diese Prozesse nutzbar zu machen. Unionsweite wettbewerbs- und vergaberechtliche Bindungen bewirken zumeist keinen unmittelbaren Verlust der mitgliedstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Das Unionsrecht belegt aber bestimmte mitgliedstaatliche Entscheidungen wegen des beschriebenen „Sogs“ mit den Risiken und „Kosten“ einer Vereinnahmung. In der Leitvorstellung eines Vertragsverbunds souveräner Staaten werden auch solche Wirkungen mitgliedstaatlicher Sozialpolitik nicht angemessen abgebildet. cc) Im fortschreitenden Prozess der Integration löst sich die soziale Dimension von den Marktfreiheiten und dem ursprünglichen Binnenmarktbezug. Diskriminierungsverbot, Freizügigkeit und soziale Schutzrechte werden heute von der Erwerbstätigkeit entkoppelt und an die Unionsbürgerschaft gebunden.55 Der EuGH56 tendiert im Spiegel des Europarechts, in: Schmehl, Arndt/Wallrabenstein, Astrid (Hrsg.), Steuerungsinstrumente im Rechts des Gesundheitswesens, Band 1: Wettbewerb, 2006, S. 77 (84 ff.). 53 Den Bedarf für konzeptionell anspruchsvolle legislative Maßnahmen im Sinne einer „regulativen Marktorganisation“ sieht bereits Jens-Peter Schneider, Verwaltungsrechtliche Instrumente des Sozialstaats, VVDStRL 64 (2005), S. 238 (248); vgl. seitdem Hinnerk Wissmann, Kooperation im Wettbewerb: Soziale Dienstleistungen als Herausforderung staatlicher Regulierung, in: v. Arnauld, Andreas/ Musil, Andreas (Hrsg.), Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, S. 139 ff.; Beiträge in: Andreas Krautscheid (Hrsg.), Die Daseinsvorsorge im Spannungsfeld von europäischem Wettbewerb und Gemeinwohl – Eine sektorspezifi sche Betrachtung, 2009; eine inspirierende Kraft für die Soziarechtsdogmatik andeutend Rixen, SDSRV 59, S. 53 (84 f.). Für das Gesundheitswesen Kingreen, Das Sozialvergaberecht, SGb 2008, S. 437 (439 ff.); Schuler-Harms, Soziale Infrastruktur im Gesundheitswesen – der ambulante Sektor, in: Fehling, Michael/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, S. 788 ff.; Ansgar Hense, Soziale Infrastruktur im Gesundheitswesen – der stationäre Sektor, a.a.O., S. 863 ff. 54 Überblick über die jüngere Rechtsentwicklung bei Ebsen, Krankenversicherung, in: v. Maydell/ Ruland/Becker, (Fn. 15), § 15 Rn. 18 ff. Der EuGH scheint nun eher zur Einordnung als öffentliche Auftraggeber denn als Unternehmen zu tendieren, vgl. Urteil vom 11. 6. 2009, Rs. C-300/07 Hans & Christophorus Oymanns; im Ganzen ist hier die Tendenz noch nicht ausgemacht, vgl. Schuler-Harms, (Fn. 52), Rn. 115 ff.; Kingreen, Die Entscheidung des EuGH zur Bindung der Krankenkassen an das Vergaberecht, NJW 2009, S. 2417 ff. 55 Für erstere vgl. Art. 18, 19 AEUV, für letztere zur Entwicklung Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 349 ff.; ders., Die Unionsbürgerschaft als Sozialbürgerschaft, ZAR 2006, S. 226 f.; Haltern, Europarecht – Dogmatik im Kontext, 2. Aufl. 2007, S. 606 ff.; v. Bogdandy/Stephan Bittner, Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot, in: Charlotte Gaitanides, Stefan Kadelbach, Gil Carlos Rodrigues Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, Festschrift für Zuleeg, 2007, S. 309 ff. 56 Die Grundsätze dieser Rechtsprechung sind heute in der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, kodifi ziert, vgl. ABl. L 158 vom 30. 4. 2004, S. 77, berichtigt in ABl. L 229 vom 29. 6. 2004, S. 35, und ABl. L 204 vom

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sichtlich zu extensiver Auslegung dieser Schutzrechte und zum Ausbau in Richtung von Bürgerrechten.57 Was dies bedeutet, lässt sich am Fall eines nicht sesshaften, in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Unionsbürgers illustrieren. Der EuGH hat den Aufenthaltsstaat zur Gewährung von Sozialhilfe verpfl ichtet und ihm damit die Kosten für den Grenzgänger aufgebürdet. Allzu dramatisch sind die Folgen dieser Rechtsprechung nicht,58 denn die Inanspruchnahme der Sozialhilfe führt zum Verlust des Aufenthaltsrechts, weil es an der Fähigkeit zur Sicherung der eigenen materiellen Existenz fehlt. Den Verlust des Aufenthaltsrechts bindet der EuGH jedoch an gewisse Anforderungen und verlangt insbesondere eine Einzelfallentscheidung, in der alle Belange für und gegen die Aufenthaltsberechtigung des Sozialhilfeempfängers sorgfältig abgewogen werden. Auch moderate Autoren äußerten im deutschen Schrifttum die Sorge, der EuGH könnte die Anforderungen an den Verlust des Aufenthaltsrechts künftig noch weiter verschärfen, den Mitgliedstaaten damit ein wichtiges Instrument zur Feinsteuerung ihrer Politik der Mindestsicherung aus der Hand schlagen und überdies der europäischen Integration einen allzu raschen Spin verleihen.59 Das BVerfG sieht im Beschluss zum Lissaboner Vertrag diese Gefahr offenbar nicht. Der Gerichtshof verstehe, so das BVerfG, die Unionsbürgerschaft seit einigen Jahren als „Nukleus einer europäischen Solidarität“.60 Diese Rechtsprechungslinie, stehe für den Versuch, eine europäische soziale Identität zu stiften, indem die Teilhabe der Unionsbürger an den jeweiligen Sozialsystemen der Mitgliedstaaten gefördert werde. „Europäische Solidarität“ und mehr noch „europäische soziale Identität“ wollen freilich zum Bild vom Vertragsverbund souveräner Staaten und vom abgeleiteten Gemeinschaftsrecht nicht recht passen. e) Die wenigen Schlaglichter verdeutlichen: Auch wenn die Union nur über punktuelle sozialpolitische Kompetenzen verfügt, der Schwerpunkt beim koordinierenden Sozialrecht liegt, die Union nach wie vor keine „Europäische Sozialunion“61 und ein grundlegender Wandel nicht zu konstatieren ist,62 sind die Verträge doch mehr als 4. 8. 2007, S. 28; vollständig zitiert und abgedruckt bei Fuchs/Horn, (Fn. 41). Vgl. außerdem Art. 21 Abs. 3 AEUV. 57 Vgl. Fuchs, Einführung, in: Fuchs/Horn, (Fn. 41), Rn. 70, 98. 58 Entgegen der harschen Kritik etwa durch Kay Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, S. 2185 ff.; ders., Unionsbürgerschaft und Zugang zu den Sozialsystemen, JZ 2005, S. 1138 (1139 ff.). 59 Etwa Schönberger, ZAR 2006, S. 226 (230 f.); Becker, Migration und soziale Sicherheit – die Unionsbürgerschaft im Kontext, in: Becker/Hatje (Hrsg.), Unionsbürgerschaft, EuR Beiheft 1, 2007, S. 95 (108 ff.); weniger kritisch Kingreen, Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsverbund, a.a.O., S. 43 (57 ff., 74); Stefan Kadelbach, Unionsbürgerrechte, in: Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl age 2009, § 19 Rn. 88 m.w.Nw. zum Streitstand. 60 BVerfGE 123, 267 (427 f.). 61 Schulte, (Fn. 15), § 33 Rn. 8, vgl. a. Rn. 221: Kein gemeinsames Sozialstaatsmodell. 62 Sebastian Krebber, in: Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), EUV/EGV Kommentar, 3. Aufl age 2007, Art. 136 Rn. 6; Ebenso Roland Bieber/Astrid Epiney/Marcel Haag, Die Europäische Union – Europarecht und Politik, 8. Aufl age 2009, § 22 Rn. 4. Andere Einschätzung wohl bei Pitschas, Sozial- und Gesundheitsrechtsverbund „Europa“ – Gemeinsame Soziale Verantwortung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten durch „geteilte Zuständigkeit“ nach dem Vertrag von Lissabon, SDSRV 59 (2010), S. 7 ff., der einen „Paradigmawandel“ durch den Vertrag von Lissabon beobachtet,

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„abgeleitete Grundordnung“ und hat die Integration auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik eine Gestalt angenommen, mit der die Leitvorstellung des „Vertragsverbunds“ nicht angemessen reflektiert wird. Die sozialen Anstrengungen der Mitgliedstaaten sind in einen unionsrechtlichen Rahmen eingebunden und die Aktivitäten von Union und Mitgliedstaaten vielfältig verschränkt. Die Leitvorstellung vom Vertragsverbund souveräner Staaten ist deshalb zu ergänzen um ein Bild autonomer europäischer Sozialpolitik und einer engen Verwobenheit von Wirtschafts- und Sozialrecht einer- sowie mitgliedstaatlichen und unionalen Handlungsmöglichkeiten andererseits.

IV. Das deutsche Sozialstaatsprinzip als „absolute Grenze“ der Integration? Ergibt sich nun aus Art. 23 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG – nur das Grundgesetz bildet ja den Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle – eine absolute Grenze, jenseits der der deutsche Gesetzgeber künftig gehindert wäre, an der sozialen Dimension der europäischen Integration weiter mitzuwirken? Die Ausführungen des Gerichts zur defensiven, zuständigkeitsbewahrenden Funktion des Sozialstaatsprinzips63 legen dieses zumindest nahe. Welches aber wären die „konzeptionellen“ sozialpolitischen Entscheidungen, die in den „demokratischen Primärräumen“ der Mitgliedstaaten getroffen werden müssten? 64 Und an welchem Punkt wären jenen die für konzeptionelle Entscheidungen notwendigen Handlungsmöglichkeiten genommen? Die Frage nach dem Gehalt des Sozialstaatsprinzips wurde so oft gestellt und beantwortet, dass hier einige wenige Bemerkungen genügen sollen. Was, so lautet die berühmte Frage Hans Zachers, können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen? 65 Heinig stellt, bezogen auf den Sozialstaat, fest: Wir wissen stets zu wenig und zu viel über ihn.66 „Dunkel“ nennt Denninger Normtext und die Zukunft des „Sozialstaats“ in der Wirklichkeit,67 und auch Ladeur meldet unbekanntes Terrain.68 Den Sozialstaat zu defi nieren, so sagt Zacher, ist ein politisches Geschäft.69 Und er führt aus: „Das Sozialstaatsprinzip ist eine Brücke, die den Ersatz politischer Entscheidungen dort erleichtern soll, wo diese Rechtsschöpfung Gerichten und Behörden übertragen ist, die darS. 14.; bereits früher bei Wolfgang Kahl, Freiheitsprinzip und Sozialprinzip in der Europäischen Union, in: Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 75 (76 ff.). 63 BVerfGE 123, 267 (430). 64 BVerfGE 123, 267 (430). 65 Zacher, Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, FS H.P. Ipsen, 1977, 207 ff.; ders., Der Deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Leibfried/Wagschal (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat, 2000, S. 53 ff.; aufgenommen auch bei Friedrich Schnapp, Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, JuS 1998, S. 873 ff. 66 Heinig, (Fn. 10), S. 4. 67 Erhard Denninger, Das soziale Staatsziel – zwischen Recht und Politik, in: Hufen, Friedhelm (Hrsg.), Verfassungen – zwischen Recht und Politik, Festschrift für Hans-Peter Schneider, 2008, 57. 68 Karlheinz Ladeur, Risiko Sozialstaat – Expansion des Sozialstaats ohne verfassungsrechtliche Schranken. Der Staat 46 (2007), S. 61: „Hic sunt leones“. 69 Hierzu und zum folgenden Zacher, FS (Fn. 65), S. 266 f.

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auf verwiesen und daran gewöhnt sind, ihre Entscheidung als rechtlich notwendig oder doch zulässig zu verstehen und auszugeben, und zwar auch dann, wenn sie dabei die originär politischen Autoritäten vertreten.“

Ein verfassungsrechtliches Prüfprogramm ergibt sich auch hieraus freilich nicht, denn Zacher fährt fort: „Die Verantwortung der Politik für den Sozialstaat kann und darf das nicht mindern.“70 Damit muss die Antwort auf unsere zweite Frage lauten: Eine absolute Grenze des Sozialstaatsprinzips im Sinne eines materiellen Kerngehalts mag es geben. Weder sie selbst noch die Wege dorthin lassen sich durch Verfassungsinterpretation erschließen. Einen materiellen Kern des Sozialstaatsprinzips hat das deutsche Verfassungsgericht bislang nicht herausgearbeitet und für die Staatsaufgabe der Mindestsicherung, die einen solchen Kern nach deutschem Verfassungsrecht am ehesten bildet, eine allmähliche Angleichung der Mitgliedsstaaten nicht ausgeschlossen.71 Das Sozialstaatsprinzip enthält damit keine Antwort auf die Frage, ob und welcher Gestaltungsmöglichkeiten es auf dem Gebiet der Sozialpolitik zur Erhaltung der „Souveränität“ Deutschlands bedarf. Seine gestaltende Kraft entfaltet das Sozialstaatsprinzip zugunsten, nicht zu Lasten der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess.72 Der auf die Integration unmittelbar bezogene Art. 23 Abs. 1 GG ist nicht nur zukunftsgerichtete Öffnungsklausel und Maßstab für die Zulässigkeit von Kompetenzübertragungen, sondern enthält auch die Verpfl ichtung der Union zur Achtung der Sozialstaatlichkeit der Mitgliedstaaten und die Verpfl ichtung von Union und Mitgliedstaaten zur Abstimmung supranationaler Freiheit mit sozialer Staatlichkeit.73 Im Hinblick auf soziale Ziele der Union sind die Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG im Übrigen denkbar weit. Das Soziale ist gerade im Integrationsprozess mehr „Ziel“ als „Struktur“.74 Diese muss sich über die Verfassungsprinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und der Subsidiarität entfalten. Für die politische Mitgestaltung einer „Sozialunion“ eröffnet das Grundgesetz einen breiten verfassungsrechtlichen Korridor,75 ohne sie zu fordern76 und ohne sie zu verbieten. An einer europäischen Sozialunion, die rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen Rechnung trägt, würde die Integration am Ende nicht scheitern.

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Ähnlich, und zwar für Deutschland als Mitgliedstaat wie für die Union, BVerfGE 123, 267 (262). 71 BVerfGE 123, 267 (363). Art. 79 Abs. 3 GG wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, vgl. a. Ruffert, DVBl. 2009, S. 1197 (1204). 72 Mit dieser Tendenz auch die Ausführungen in BVerfGE 123, 267 (426 ff.), die aber mit einer anderen Frage eingeleitet und mit einer anderen Antwort beschlossen werden. 73 Claus Dieter Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG Kommentar, Art. 23 Rn. 42; Kingreen, (Fn. 15), S. 392. 74 Für das deutsche Sozialstaatsprinzip Denninger, (Fn. 67), S. 61 f.; prägnant der Titel des Beitrags von Zacher, HStR II, § 12. Für den Integrationsprozess ist der Zielcharakter im Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 GG angelegt. 75 So insbes. Ruffert, DVBl. 2009, S. 1197 (1204). 76 Vgl. nur Ingolf Pernice, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 23 GG Rn. 64; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg), Art. 23 GG Rn. 40; Heinig, (Fn. 10), S. 531.

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V. Pfade zur weiteren Integration Dies führt zu der letzten Frage, wie sich nämlich die in Art. 23 Abs. 1 GG und den Verträgen bereits angelegte soziale Verantwortung der Union unter Schonung der Souveränität der Mitgliedstaaten und mit hinreichender Legitimation weiterhin aktualisieren wird. Den Mitgliedstaaten sind über das Einstimmigkeitsprinzip77 und die Kompetenz zur Anhaltung eines Gesetzgebungsverfahrens gem. Art. 48 Abs. 2 AEUV („Notbremse“)78 eher Bremsfunktionen an die Hand gegeben, und auch die Verfassungsgerichte hegen sichtlich eher die mitgliedstaatliche Eigenständigkeit und Souveränität. Die Antriebskräfte für eine wünschenswerte und erwünschte79 soziale Integration liegen eher bei der Union, die aber wiederum weder über Finanzen noch autonome Kraft zur Organisation von Einrichtungen und Dienstleistungen verfügt. Als „Treiber“ erweisen sich bislang die Regeln des Binnenmarktes (s. o. III. 2.), die Rechtsprechung des EuGH unter Ausschöpfung dieser Regeln (1.) und das Verfahren der offenen Koordinierung unter Führung der Kommission (2.).80

1. Der EuGH als Treiber europäischer Sozialpolitik Der EuGH erweist sich gerade auf dem Feld der Sozialpolitik als machtvoller Akteur, der das „Veto“ der Mitgliedstaaten kaum fürchten muss.81 Das primär- und sekundärrechtliche Regelwerk ist nur locker gewebt, die Divergenz der nationalen Sozialmodelle nach der Erweiterung der EU größer denn je, und Orientierung weisende Pfadabhängigkeiten gibt es wenige. Vor allem dem EuGH scheinen die Mittel gegeben, die soziale Dimension der Integration voranzutreiben. Seine Bereitschaft dazu zeigt sich in kontinuierlichen und stringenten Rechtsprechungslinien etwa in Bereichen der Antidiskriminierung oder der Freizügigkeit. Die Erweiterung der Grundfreiheiten auf die grenzüberschreitende Erbringung und Inanspruchnahme von Sozialleistungen geht ebenso auf ihn zurück wie die Lockerung des Bezugs von Freizügigkeit und Erwerbstätigkeit im Geltungsbereich des koordinierenden Sozialrechts. Die Kehrseite dieser integrationsfreundlichen Rechtsprechung sind die oft beschriebenen, in der Art der gerichtlichen Spruchpraxis gründenden Akzeptanz- und

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Z. B. gem. § 25 Abs. 2 AEUV bei der Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft. Für zur Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit notwendige Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit. 79 Vgl. a. BVerfGE 123, 267 (428 ff.); zum Ansatz einer transnationalen Verfassungspolitik vgl. Andreas Fischer-Lescano, Europäische Rechtspolitik als transnationale Verfassungspolitik, ZERP-Diskussionspapier 2/2010. 80 Prägnant Obinger, Herbert/Leibfried, Stephan/Castles, Francis G., Beipässe für ein „soziales Europa“: Lehren aus der Geschichte des westlichen Föderalismus. Der Staat 2005, S. 505 (522 ff.). 81 Zu den Gründen und Strukturen Markus Höreth, Der Europäische Gerichtshof: Verfassungsgericht oder nur ein Agent der Mitgliedstaaten?, In: Decker, Frank/Höreth, Marcus (Hrsg.), Die Verfassung Europas. Perspektiven eines Integrationsprojekts 2009, S. 165 ff. Auch das BVerfG nimmt auf die Stärkung des sozialen Anliegens in der Rechtsprechung des EuGH Bezug, BVerfGE 123, 267 (428, 429 f.). 78

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Legitimationsdefizite.82 Der Gerichtshof steht hier gar im Verdacht „kontingenter politischer Opportunität“.83 Dies ist im Bereich der Sozialpolitik besonders problematisch, denn die Beziehung zwischen dem (vorwiegend wirtschafts- und wettbewerbsrechtlich geprägten) Gemeinschaftsrecht und der (vorwiegend nationalen) Sozialpolitik ist prekär und nicht zuletzt wegen der erforderlichen Umbauten der sozialen Sicherungssysteme besonders beweglich. Mit der weiteren Entwicklung der sozialen Dimension im Vertrag von Lissabon werden diese Unsicherheiten und Unwägbarkeiten eher fortschreiten als abgebaut. Eine zwischen den Ebenen ausbalancierte Sozialpolitik erfordert deshalb in besonderem Maße juristisch präzise argumentierte, methodisch gut abgesicherte und Berechenbarkeit schaffende Entscheidungen auf der Basis einer schlüssigen und auch für die mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeiten nachvollziehbaren Dogmatik.84

2. Die Offene Methode der Koordinierung als „Beipass“ zur Fortentwicklung des europäischen Sozialmodells Als weiterer Treiber wurde die „Offene Methode der Koordinierung“ im Vertrag von Lissabon bekräftigt und ausbuchstabiert und die Steuerungsfunktion der Kommission dabei gestärkt (Art. 156 AEUV). Das Verfahren zielt auf soziale Integration über die Mitgliedstaaten, die Methode jedenfalls im Ansatz auf Lernen. a) Lernprozessen kommt in der Sozialpolitik eine wichtige und gegenüber anderen Politikfeldern besondere Funktion zu. Staaten handeln hierbei unter Bedingungen besonderer Komplexität, wozu der Prozess der europäischen Integration einen eigenen Beitrag leistet. Ohnehin diffuse Interessenlagen werden durch die Regeln zum Leistungsexport noch verstärkt, die gemeinschaftsrechtlichen Auswirkungen mitgliedstaatlicher Entscheidungen über Organisation und Arbeitsweise sozialer Einrichtungen verstehen auch in der Rechtswissenschaft nur noch die Spezialisten,85 und das dogmatische Instrumentarium, das zum deutschen Sozial(verfassungs)recht entwickelt wurde, gerät beim Versuch, die gemeinschafts(primär)rechtlichen Setzungen zu erschließen, an neue Grenzen.86 82 Wahl, Der Staat 48 (2009), S. 587 (610 ff.); Joachim Wieland, Der EuGH im Spannungsverhältnis zwischen Rechtsprechung und Rechtsgestaltung, NJW 2009, S. 1841. Defi zite bei der Herausbildung dogmatischer Regeln konstatiert auch Becker, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht, in: ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht I, 2010, S. 11 (46 f.). Bereichsspezifi sch Streinz, SDSRV 53 (2005), S. 29 (32) zur Unionsbürgerschaft. 83 Vgl. Heinig, (Fn. 10), S. 541; in der Sache auch Roman Herzog/Lüder Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ vom 8. 9. 2008. 84 Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, S. 929 (933); Wieland, NJW 2009, S. 1841 ff. Ein ‚Desiderat einer europäischen Methodenlehre‘ konstatiert Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – nationalverfassungsstaatlich und regionaleuropäisch sowie die Frage: „Wer entwickelt das Völkerrecht“?, in: Ders., Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2010, S. 209 (228 f.) 85 Die Idee einer „Sozial(rechts)politik als Möglichkeitsraum einer europäischen Wirtschaftspolitik“ bei Rixen, SDSRV 59, S. 53 (82), mag zutreffen. Aber welcher Politiker verfügt angesichts der hohen Komplexität der Verflechtung über das zur Entscheidung und zur Einschätzung der politischen und rechtlichen Folgen erforderliche Wissen? 86 Vgl. beispielhaft die Ausführungen Kingreens, Soziale Grundrechte, in: Ehlers, Europäische

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Auch der europäische Integrationsprozess wird in der Sozialen Dimension derzeit vornehmlich durch die Organisation von Wissen vorangetrieben. Auf Ebene der Union verbindet er sich mit Steuerungsstrategien der Koordinierung und Angleichung mitgliedstaatlicher Aktivitäten, auf horizontaler Ebene mit Strategien der gegenseitigen Beobachtung. Diese Strategien verzichten auf einen „ordnungsstiftenden Masterplan“87 und zielten vor allem an ihrem Beginn auf „politisches Lernen“.88 Nun sind sozialstaatliche Strategien und Entscheidungen, so Ladeur, ohnehin keine „Optimierungsentscheidungen ex ante“ und sollten als in einen „evolutionären Plan“ eingebettet konzipiert werden. Gefordert sei systematische Wissensorganisation in Form einer Evaluationsstrategie, die produktiv mit Ungewissheit operiere und mit unerwünschten Nebenfolgen rechne.89 Demokratisch legitimierte Gesetzgebung bedarf nach dieser Auffassung der Anreicherung um eine Abschätzung der Gesetzesfolgen, die sowohl die Abschätzung der Wirksamkeit und Effizienz von Maßnahmen und Strategien ex ante als auch die Evaluation ex post umfasst. b) Im offenen Sozialstaat stehen für dieses Wissensmanagement besondere Instrumente zur Verfügung, die sich auf horizontaler Ebene als Strategien des Systemwettbewerbs und -vergleichs, auf vertikaler Ebene als Strategie der Koordinierung oder Harmonisierung präsentieren.90 Der Vergleich von Systemen und Institutionen – auch in der Form des Rechtsvergleichs91 – bietet eine Lernstrategie zur Bewältigung von Veränderungen, etwa zur Verarbeitung des demografischen Wandels, des technischen Fortschritts auf dem Gebiet der Gesundheit oder auch der Entgrenzung der Arbeitswelt.92 Eine Kopie ausländischer Institutionen ist als Ergebnis des Vergleichs weder erwünscht noch zu erwarGrundrechte und Grunfreiheiten, § 18, S. 640 ff. zur Differenzierung von „Grundrechten“ und Grundsätzen“, zum gemeinschaftsrechtlichen Begriff der „sozialen Grundrechte“ und zur Konkretisierung der Art. 27 – 34 Grundrechtscharta. 87 Begriff bei v. Bogdandy, Information und Kommunikation in der Europäischen Union: föderale Strukturen im supranationalen Umfeld, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang/Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 133 (193). 88 Für die Gemeinschaft Obiger/Leibfried/Castles, Der Staat 2005, S. 505 (538). Für das Mehrebenensystem (als politikwissenschaftliche Kategorie) Anna-Bettina Kaiser, Wissensmanagement im Mehrebenensystem, in: Schuppert, Gunnar Folke/Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008, S. 217 (223) zur Bedeutung komplexer institutioneller Stukturen der EU als Bedingung ihrer Problemlösungsfähigkeit; vgl. außerdem Martin Eifert, Europäischer Verwaltungsverbund als Lernverbund, in: Collin, Peter/Spieker genannt Döhmann, Indra (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 159 ff. 89 Ladeur, Der Staat 46 (2007), S. 85. Verbindungen zwischen Wissenschaft und Politik sind hier bereits vielfach institutionalisiert, etwa in Forschungsnetzwerken (z. B.Forschungsnetzwerk Alterssicherung bei der Deutschen Rentenversicherung) oder – in anderer Form – bei Vorhaben einer „wissenschaftliche(n) Evaluation der familienbezogenen Leistungen und Vorlage entsprechender Vorschläge mit dem Ziel, die Leistungen wirksamer und effi zienter zu gestalten und zu bündeln“, vgl. Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP 17. Legislaturperiode, Okt. 2009, S. 61. 90 Zur analytischen Differenzierung in Bezug auf Wissensmanagement Kaiser, (Fn. 88), S. 217 (223 ff.). 91 Zum Bedarf und zu Ansätzen für eine rechtsvergleichende Sozialrechtsdogmatik Becker, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht, in: ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht I, 2010, S. 11 ff. 92 Exemplarisch genannt seien die Beiträge in Zacher (Hrsg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, 1991, v. Maydell/Pitschas/Pörtner/Schulte (Hrsg.), Politik und Recht für Menschen mit Behinderungen

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ten. Vielmehr ermöglicht die Methode, Potentiale der eigenen Institutionen durch Beobachtung der ausländischen Erfahrungen und Lösungskonzepte auszuloten und Wahrscheinlichkeits- und Modellannahmen, die häufig die Grundlage sozialstaatlicher Regulierung bilden (müssen), durch empirische Beobachtungen anderer Sozialstaatsmodelle sinnvoll zu ergänzen.93 Gefordert ist der methodisch reflektierte Vergleich, das Wissen um die Institutionen, Rahmensetzungen, Pfadabhängigkeiten und Dogmatiken in den jeweiligen Ländern, ohne die sich konkrete Konzepte, Strategien oder Maßnahmen nicht verstehen und bewerten lassen.94 Ein wichtiges Instrument der Wissensgenerierung im Sozialstaat und auch einer von Ladeur beschriebenen Evaluationsstrategie ist das internationale, auf „best practice“ ausgerichtete Benchmarking.95 Die „Offene Methode der Koordinierung“ wurde im Zuge des Vertrags von Maastricht eingeführt. Die Kommission hatte zunächst die Aufgabe, die Erreichung der sozialen Gemeinschaftsziele durch die Organisation von Konsultationsprozessen mit den Mitgliedstaaten zu fördern und die Abstimmung ihres Vorgehens in den Bereichen der Sozialpolitik zu erleichtern. Der Vertrag von Lissabon hat die Aufgabenzuschreibung an die Koordinierungspraxis der Kommission angepasst – und das heißt: erweitert. Die Methode umfasst idealiter vier Schritte. Im ersten gilt es Ziele und Leitlinien festzulegen und einen Fahrplan zur Zielverwirklichung zu formulieren; im zweiten werden die Systeme anhand quantitativer und qualitativer Indikatoren und sog. „Benchmarks“ auf die bewährtesten Praktiken untersucht. Die europäischen Leitlinien sollen anschließend unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten umgesetzt und die nationalen Reformbemühungen regelmäßig überwacht, bewertet und mit Hilfe sog. „Peer-Group-Reviews“ laufend evaluiert werden. Die Kommission leitet diesen Prozess in enger Verbindung mit den Mitgliedsstaaten durch Untersuchungen, Stellungnahmen und die Durchführung von Konsultationen an.96 Angewandt wurde die Methode bereits für die Bereiche der Armutsbekämpfung und der Alterssicherung, und zwar mit Bezug auf die Aufgaben „Bekämpfung sozialer Ausgrenzung“ und „Modernisierung des Sozialschutzes“. Obwohl die Methode keine förmlichen Entscheidungen auf Unionsebene generiert, sondern auf Strukturentwicklung und einen Konvergenzprozess aus den Mitgliedstaaten zielt, bewirkt diese Strategie keinen offenen Prozess der Wissensgenerierung, sondern zielt unterschwellig auf Harmonisierung.97 Gefestigt wird diese Harmonisierung zum einen mittels der Berichte, zu denen die Kommission nach Art. 159, in Europa und Asien – Unter den Bedingungen des kulturellen Wandels – kulturelle Voraussetzungen und Erklärungshypothesen, 2010; Becker (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich I. 93 Kaiser, (Fn. 88), S. 217 (224). 94 Für Reflexion auch im Rahmen der Offene Methode der Koordinierung für den Bereich der Alterssicherung Volker Schmitt, Die Offene Methode der Koordinierung im Bereich der Alterssicherung: Über Ziele zu Gemeinsamkeiten, in: Devetzi, Stamatia/Platzer, Hans W. (Hrsg.), Offene Methode der Koordinierung und Europäisches Sozialmodell – Interdisziplinäre Perspektiven, 2009, S. 321 (328 ff.). 95 Ladeur, Der Staat 46 (2007), S. 85. 96 Beschreibung bei Streinz, SDSRV 53, S. 29 (44 f.), der sich allerdings noch auf die Vorfassung des Art. 140 EGV („Vorbereitung von Beratungen“ anstelle der „Durchführung von Konsultationen“) bezieht. 97 Kaiser, (Fn. 88), S. 228 f.

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161 AEUV verpfl ichtet ist, zum anderen in der fortlaufenden Evaluation der nationalen, an den wiederum zentral gesetzten Standards ausgerichteten Reformbemühungen. Die Kommission scheut sich auch nicht, dieses Instrumentarium der Koordinierung in bereits etablierte Strategien der Harmonisierung einzufügen oder zu überführen. Das Grünbuch der Kommission zur angemessenen nachhaltigen und sicheren Gestaltung der Altersvorsorge98 steht hierfür ebenso wie die Richtlinie zur Ausübung von Patientenrechten in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, die die Rechtsprechung des EuGH (s.o. III.2.a) kodifizieren wird. 99 Parallel hierzu befi nden sich Gesundheitswesen und Altenpflege in der „offenen Koordinierung“. Die Kommission selbst spricht von „Governance der Vorsorgepolitik auf EUEbene“ durch einen Prozess des Überwachens, Koordinierens und VoneinanderLernens.100 Die Legitimation der „Offenen Methode der Koordinierung“ fällt deshalb nicht leicht.101 Das Moment vertikaler Steuerung, die zentrale Funktion der Kommission und ein gewisser Mangel an Ergebnisoffenheit der Koordinierungsprozesse erfordern demokratische und rechtsstaatliche Absicherung. Eine Unterrichtung des Europäischen Parlaments „in vollem Umfang“ ist nun immerhin erforderlich geworden (Art. 156 AEUV). Hingegen fehlt es – vom BVerfG nur moderat moniert102 – an einer Einordnung der Kompetenz in die neuen Kompetenzkategorien. Andererseits bleibt der Akteursstatus der Mitgliedstaaten und ihre Möglichkeit zur sozialen Gestaltung der Integration erhalten.103 Im günstigen Fall vermag die „Offene Methode“ die Staaten für den horizontalen Systemvergleich zu öffnen und die Ausbildung geeigneter Methoden zur wechselseitigen Beobachtung anzustoßen. Die Chancen für koordinierte und teilweise „orchestrierte“ Lernprozesse sind hoch. Mag sich die Methode auch selbst noch in der Entwicklung befinden: Gerade sie steht nicht für eine Europäische Union als „Vertragsverbund souveräner Staaten“, sondern für eine Verflechtung von Politiken in einem System mehrerer Ebenen nach der Idee des Verbundes.104

98 Die Koordinierung der Altersvorsorge hat bereits das Stadium traditioneller Informations- und Harmonisierungspolitik erreicht, vgl. Grünbuch der Kommission „Angemessene, nachhaltige und sichere Pensions- und Rentensysteme“ vom 7. Juli 2010, KOM(2010)365 endg. 99 COM (2008) 414; der Richtlinienentwurf befi ndet sich in der Abstimmung zwischen Rat und Parlament. 100 Grünbuch, S. 19 ff. 101 Nachweise bei Kahl, FS Schmidt, S. 75 (101) Fn. 170, 171. Kahl selbst bescheinigt der Methode mangelnde Konturenschärfe und den Charakter eines (system-)wettbewerbsfeindlichen und zentralistischen Verfahrens. 102 BVerfGE 123, 267 (382 f.). 103 Als Form der „milderen Integration“ bezeichnet die Methode Leibfried, Europäische Sozialpolitik – Richtern und Märkten überlassen?, WSI Mitteilungen 2006, S. 523. 104 Zur Weite des Phänomens und zur Vielfalt seiner Erscheinungsformen statt vieler Obinger/Leibfried/Castles, Der Staat 44, (2005), S. 505 ff.; Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 ff. Zu den möglichen Konstruktionen Ruffert, DVBl. 2009, S. 1197 (1198 f.). Vgl. a. den auf die Verflechtung der Rechtsebenen bezogenen Begriff der Interlegalität bei Rixen, SDSRV 59 (2010), S. 53 (85 f.).

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V. Schluss Sowohl die Dynamik des Sozialstaats als auch der Charakter der Integration als Prozess verlangen nach einer theoretischen und dogmatischen Konzeption des Sozialstaatsprinzips, die weniger seine Offenheit und stärker seine Elastizität betont, die Weiterentwicklungen ermöglicht, ohne konkrete Grenzen zu benennen, die aber auch „Züge“ formuliert, um ein Auseinanderlaufen oder Auseinanderfallen des Prinzips zu verhindern. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Konzeption im Lissabon-Urteil nicht zu leisten. Käme es auf sie jedoch maßgeblich an, so wären die Antworten nicht in der Abgrenzung von nationalem Sozialstaat und europäischer Gestaltung, sondern in ihrer Bezugsetzung zu fi nden, wäre Sozialpolitik stärker als Mehrebenenpolitik zu konturieren und wären in diesem Verhältnis nicht nur demokratische, sondern auch rechtsstaatliche Anforderungen zu akzentuieren, etwa die einer rationalen Rechtsprechung oder die eines schlüssigen, zumindest gemeinschaftsrechtlich abgesicherten Koordinierungskonzepts. Das europäische Sozialmodell ist entwicklungsoffen. An seinem idealen Endpunkt wird mehr und anderes stehen als „Angleichung“.

Die Rückkehr des Bürgers: Paradigmenwechsel im Europäischen und Internationalen Verwaltungsrecht? von

Prof. Dr. Andreas von Arnauld* Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

I. Zwischen Konstitutionalisierung und Transnationalisierung des Verwaltungsrechts Zu den „großen Erzählungen“ der bundesdeutschen Verwaltungsrechtswissenschaft gehört, dass nach 1949 eine Phase der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts einsetzte.1 Schon der Übergang von der monarchischen zur demokratischen Verwaltung unter der Weimarer Reichsverfassung hatte ein Umdenken erforderlich gemacht, weil der Bürger nicht länger Untertan, sondern Legitimation stiftender Teil des Demos war; unter dem Grundgesetz ging es nun zusätzlich darum, den Grundrechten gegenüber der staatlichen Verwaltung zur Geltung zu verhelfen. Die Verhältnismäßigkeit allen Staatshandelns gegenüber dem Bürger2, der Vertrauens* Diese Antrittsvorlesung wurde am 20. November 2009 an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg gehalten. 1 Ch. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in Deutschland, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 (109 ff.); R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 16 ff.; M. Stolleis, Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 2 Rn. 106 ff.; R. Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, S. 53 ff. Narratologische Einordnung „großer Erzählungen“ in der Wissenschaft bei A. v. Arnauld, „Was war, was ist – und was sein soll“: Erzählen im juristischen Diskurs, in: Ch. Klein/M. Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen: Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, S. 14 (21). 2 Grundlegend P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961. Zu den historischen Wurzeln B. Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995. Zur Diffusion des Grundsatzes auf europäischer Ebene und zu Rückwirkungen auf die Rechts- und Staatsverständnisse der EU-Mitgliedstaaten A. v. Arnauld, Theorie und Methode des Grundrechtsschutzes in Europa – am Beispiel des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, EuR 2008, Beiheft 1, S. 41 ff.

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schutz3, die Entdeckung von Grundrechtsschutz durch Verfahren4, die Überwindung der Lehre vom sog. besonderen Gewaltverhältnis, wonach im Binnenbereich staatlicher Verwaltung (z. B. in der Schule oder im Militär) Grundrechte nicht gelten5, der gerichtliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt6 – all dies sind wichtige Entwicklungen, die das Verhältnis von Verwaltung und Bürger unter dem Grundgesetz neu justiert haben. Durch das Zusammenwirken von Gesetzgeber, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft wurde die Verwaltung rechtsstaatlich domestiziert. Neue Rechtsinstitute wurden geschaffen, überkommene in einem neuen Licht interpretiert. Verwaltungsrecht präsentiert sich seither als „konkretisiertes Verfassungsrecht“7. Seit längerem schon ist das Verwaltungsrecht in eine zweite Phase getreten, die kaum weniger Prägekraft besitzt als die erste: Zunehmend wird Verwaltungshandeln von Rechtsnormen bestimmt, die ihren Ursprung im Recht der EU oder im Völkerrecht fi nden.8 Diese Phase der Transnationalisierung darf nicht als Ablösung der 3 Statt vieler K.-H. Lenz, Das Vertrauensschutz-Prinzip, 1968; G. Kisker und G. Püttner, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32 (1974), S. 149 ff., 200 ff. Im zeithistorischen Rückblick K.A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 97 ff. 4 Dazu insbes. BVerfGE 53, 30 (65) sowie abw. Votum H. Simon/H. Heußner (69/71 ff.); 69, 315 (354 ff.); K. Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 (434 ff.); H. Bethge, Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, 1 ff. Vertiefend H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; P. M. Huber, Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren als Kompetenzproblem in der Gewaltenteilung und im Bundesstaat, 1989. 5 Z. B. H. Krüger und C. H. Ule, Das besondere Gewaltverhältnis, VVDStRL 15 (1957), S. 109 ff., 133 ff.; I. v. Münch, Freie Meinungsäußerung und besonderes Gewaltverhältnis, 1957; W. Leisner, Die schutzwürdigen Rechte im Besonderen Gewaltverhältnis, DVBl. 1960, S. 617 ff.; W. Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982. Zur historischen Dimension L. Wenninger, Geschichte der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis, 1982, auf S. 219 ff. zur Entwicklung nach 1945. 6 Aus der Gründungsphase E. Friesenhahn, Justiz und Verwaltungsrechtsschutz, in: Justiz und Verfassung, 1948, S. 103 ff. Siehe außerdem F. Klein, Tragweite der Generalklausel im Art. 19 Abs. 4 des Bonner Grundgesetzes, VVDStRL 8 (1950), S. 67 ff.; E. Becker und H. Rumpf, Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung, VVDStRL 14 (1956), S. 96 ff., 136 ff.; R. Wahl, Herausforderungen und Antworten (Fn. 1), S. 34 f., 39 f. 7 So die klassische Wendung von F. Werner, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“, DVBl. 1959, S. 527 ff. 8 Dazu insbes. R. Wahl, Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland: die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Der Staat 38 (1999), S. 495 ff.; ders., Herausforderungen und Antworten (Fn. 1), S. 94 ff.; Ch. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik (Fn. 1), S. 112 ff.; R. Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel (Fn. 1), S. 123 ff. – Demgegenüber ist die Diskussion um ein internationales (und internationalisiertes) Verwaltungsrecht jüngeren Datums. Hierzu u. a. Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001; B. Kingsbury, Omnilateralism and Partial International Communities: Contributions of the Emerging Global Administrative Law, Journal of International Law and Diplomacy 104 (2005), S. 98 ff.; ders./N. Krisch/R. B. Stewart, The Emergence of Global Administrative Law, Law & Contemporary Problems (Law & Contemp. Probl.) 68 (2005), S. 15 ff.; S. Cassese, Administrative Law Without the State?, New York University Journal of International Law & Politics (NYU J. of Int’l Law & Pol.) 37 (2005), S. 663 ff.; D. C. Esty, Good Governance at the Supranational Scale: Globalizing Administrative Law, Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 ff.; Ch. Möllers/A. Voßkuhle/Ch. Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007; A. v. Bogdandy/R. Wolfrum/J. v. Bernstorff/Ph. Dann/M. Goldmann (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions, German Law Journal 9 (2008), Heft 11 (S. 1573–2080); C. D.

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Konstitutionalisierungsphase begriffen werden: Die Verfassung ist ein mit Leben zu füllendes Gebilde, das in einer auch in zeitlicher Hinsicht offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten immer wieder neu ausgedeutet und auch geändert wird.9 Der sich wandelnden Leitstimme des Verfassungsrechts muss das Verwaltungsrecht beständig in Engführung folgen. So hat das BVerfG in den letzten Jahren dem Grundgesetz z. B. neue Vorgaben für die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden entnommen, denkt man nur an die „Auffi ndung“ des „Computer-Grundrechts“ im Urteil über Online-Durchsuchungen.10 Die Rede von einer „zweiten Phase“11 markiert damit zunächst einmal einen neuen Fokus, eine Aufmerksamkeitsverschiebung; sie markiert aber auch, dass weitere Rechtsordnungen Anpassungsdruck auf das Verwaltungsrecht ausüben. Zwischen diesen verschiedenen Anforderungen, zwischen denen des Verfassungsrechts einerseits und denen des europäischen und internationalen Rechts andererseits, kann es zu Konfl ikten kommen. Ein zentraler Konfl iktpunkt betrifft dabei die Stellung des Bürgers: Dieser wurde nach 1949 in den Mittelpunkt des deutschen Verwaltungsrechts gerückt12 – getreu der Formulierung in Art. 1 HChE, dass der Staat für den Menschen und nicht der Mensch für den Staat da sei. Durch die zunehmende Europäisierung und Internationalisierung verwaltungsrechtlicher Maßstäbe und Verfahren droht der Bürger dagegen etwas aus dem Blick zu geraten. Warum dies der Fall ist und wie und wo er zurückkehrt bzw. zurückkehren sollte, soll im Folgenden skizziert werden.

Classen und G. Biaggini, Die Entwicklung eines Internationalen Verwaltungsrechts als Aufgabe der Rechtswissenschaft, VVDStRL 67 (2008), S. 365 ff., 413 ff. 9 Vgl. als modernen Klassikertext P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten: ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation, JZ 1975, S. 297 ff. Speziell zur zeitlichen Offenheit des Prozesses ders., Zeit und Verfassung – Prolegomena zu einem „zeit-gerechten“ Verfassungsverständnis, Zeitschrift für Politik 21 (1974), S. 111 ff. 10 BVerfGE 120, 274 ff. Dazu Th. Böckenförde, Auf dem Weg zur elektronischen Privatsphäre, JZ 2008, S. 925 ff.; G. Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme: Einige Fragen zu einem „neuen Grundrecht“, DÖV 2008, S. 411 ff.; M. Eifert, Informationelle Selbstbestimmung im Internet: Das BVerfG und die Online-Durchsuchungen, NVwZ 2008, S. 521 ff.; M. Kutscha, Mehr Schutz von Computerdaten durch ein neues Grundrecht?, NJW 2008, S. 1042 ff.; U. Volkmann, Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften des Verfassungsschutzgesetzes von Nordrhein-Westfalen zur OnlineDurchsuchung und zur Internet-Auf klärung, DVBl. 2008, S. 590 ff. Zu diesem und anderen Urteilen des BVerfG im Bereich der jüngeren Sicherheitsgesetzgebung W. Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit, in: A. v. Arnauld/M. Staack (Hrsg.), Sicherheit versus Freiheit?, 2009, S. 117 (121 ff.); A. v. Arnauld/M. Staack, Sicherheit versus Freiheit?, ebd., S. 9 (26 ff.). 11 R. Wahl (Fn. 8), Der Staat 38 (1999), S. 495 (495). 12 R.-U. Kunze, Reconsidered: „Der Mensch ist nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da“: Der Parlamentarische Rat und die Entstehung des Grundgesetzes, Der Staat 40 (2001), S. 383 ff.; R. Wahl, Herausforderungen und Antworten (Fn. 1), S. 20 ff. Allgemein P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, 2. Aufl. 2001. Vgl. – gewissermaßen als Seitenstück dazu – den semantischen Übergang von einer „Sicherheit durch Recht“ zu einer „Sicherheit des Rechts“: A. v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 89 ff., 109 ff.

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II. Eigenarten des Europäischen und des Internationalen Verwaltungsrechts 1. Europäisches Verwaltungsrecht a) Der Europäische Verwaltungsverbund Will man das heutige Europäische Verwaltungsrecht charakterisieren, so fällt zunächst die Vielfalt der Vollzugs- und Implementierungsmodelle auf.13 In Ermangelung einer etablierten unionseinheitlichen Verwaltungskultur sind Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren weit stärker durch Sachfragen als durch vorgegebene Strukturen determiniert. Die Akteure und Akteurskonstellationen finden sich so in den diversen Sekundär- und Tertiärrechtsakten je nach Sachbereich kaleidoskopartig arrangiert. Verstärkt wird diese hochgradige Differenziertheit vor allem dadurch, dass das überkommene Trennungsmodell weitgehend obsolet geworden ist.14 Diesem Modell zufolge war der Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts Sache der Mitgliedstaaten und erfolgte weitestgehend nach den Regeln des jeweiligen nationalen Verwaltungsrechts. Nur ausnahmsweise besaß die EG eigene Vollzugskompetenzen.15 Dieses Trennungsmodell dürfte inzwischen weitgehend überholt sein. Europäische Verwaltung präsentiert sich heute als ein Verwaltungsverbund, der 13

Th. v. Danwitz, Systemgedanken eines Rechts der Verwaltungskooperation, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 171 (174); C. Koch, Gemeinschaftsrechtliches Verfahrensrecht für die Integrationsverwaltung, ZÖR 59 (2004), S. 233 (242 ff.); R. Pitschas, Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht und Handlungsformen der gemeinschaftlichen Verwaltungskooperation, in: H. Hill/R. Pitschas (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, 2004, S. 301 (324 ff.); J. Gundel, Verwaltung, in: M. Schulze/M. Zuleeg (Hrsg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006, § 3 Rn. 1, 3 ff.; A. v. Arnauld, Zum Status quo des europäischen Verwaltungsrechts, in: J. Ph. Terhechte (Hrsg.): Verwaltungsrecht der Europäischen Union: Zur Ausdifferenzierung und Globalisierung der europäischen Verwaltungsrechtsordnung, 2010, § 2 Rn. 4, 11 ff., 14 ff. 14 E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 7 Rn. 6 ff.; G. della Cananea, The European Union’s Mixed Administration, Law & Contemp. Probl. 68 (2004), S. 197 (197 f.); M. P. Chiti, Forms of European Administrative Action, ebd., S. 37 (37 f.); J.-P. Schneider, Vollzug des Europäischen Wirtschaftsrechts zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung – Bilanz und Ausblick, in: ders./P.-Ch. Müller-Graff/J. Schwarze (Hrsg.), Vollzug des Europäischen Wirtschaftsrechts zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung, EuR 2005, Beiheft 2, S. 141 (141); J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. CI ff.; W. Weiß, Schnittstellenprobleme des europäischen Mehrebenenverwaltungsrechts, Verwaltung 38 (2005), S. 517 (520 f.); G. Sydow, Vollzug des europäischen Unionsrechts im Wege der Kooperation nationaler und europäischer Behörden, DÖV 2006, S. 66 (66); H. Hofmann/A. Türk, The Development of Integrated Administration in the EU and its Consequences, ELJ 13 (2007), S. 253 (253 f., 270); A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 7. 15 Dazu etwa H.-W. Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 202 (205 f.); S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 18; E. Schmidt-Aßmann, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts: einleitende Problemskizze, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts (Fn. 13), S. 17 ff.; ders. (Fn. 14), Kap. 7 Rn. 7; S. Hegels, EG-Eigenverwaltungsrecht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht, 2001, S. 26 ff.; J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht (Fn. 14), S. 25 ff., 33 ff.

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durch intensive Kooperationsbeziehungen zwischen Kommission und mitgliedstaatlichen Behörden gekennzeichnet ist.16 Als Beispiel mag hier das dezentrale Verfahren der Arzneimittelzulassung dienen.17 (Der Begriff deutet schon an, dass es für bestimmte Arzneimittel daneben auch ein zentrales und ein nationales Zulassungsverfahren gibt.) Die einschlägige Richtlinie sieht eine Referenzzulassung durch einen Mitgliedstaat vor, die von den übrigen Mitgliedstaaten anerkannt wird. Ist innerhalb von 90 Tagen nach Übermittlung des Antrags auf Anerkennung (der zentral beim Ausschuss für Humanarzneimittel – einem Organ der Europäischen Arzneimittel-Agentur – zu stellen ist) ein Mitgliedstaat der Ansicht, dass eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit vorliegt, ist eine Einigung mit allen betroffenen Mitgliedstaaten zu suchen; der Antragsteller ist anzuhören. Unterbleibt eine Einigung, tritt die Unionsebene auf den Plan. Nach erneuter Anhörung des Antragstellers erstellt der Ausschuss für Humanarzneimittel ein Gutachten. Auf Grundlage dieses Gutachtens trifft die Kommission die Entscheidung unter Beteiligung eines Ständigen Ausschusses im Komitologieverfahren. Auch wem sich dieser Verfahrensgang nicht sogleich erschlossen haben sollte, wird bemerkt haben: nach einem Modell getrennter Kompetenzräume – Regelung auf europäischer, Vollzug auf nationaler Ebene – klingt dieses verschlungene Verfahren nicht. Eine wesentliche Ursache für diese Entwicklung ist im europäischen Mehrebenensystem zu fi nden: Wo eine übergeordnete Ebene Recht setzt, das von der nachgeordneten Ebene zu vollziehen ist, besteht die Gefahr, dass auf dem Weg durch die Institutionen das zu vollziehende Recht versickert, also gewissermaßen „wegverwaltet“ wird.18 Um dies zu verhindern, können der übergeordneten Ebene Aufsichtsrechte eingeräumt werden:19 Mit Hilfe der Rechtsaufsicht kann sie rechtswidrige Vollzugsakte auf heben, mit Hilfe der Fachaufsicht kann sie darüber hinaus die Auswahl zwischen mehreren rechtmäßigen Handlungsoptionen steuern. In den deutschen Bundesstaat ist diese Aufsicht leichter integrierbar als in die Europäische Verbundverfassung. Im Unterschied zu den Bundesländern sind die Mitglieder der EU souveräne Staaten, die sich an solchen Aufsichtsmaßnahmen stärker reiben. Folgerichtig ist auf Ebene der EU die Rechtsaufsicht über Vollzugsakte der Mitgliedstaaten primär gerichtlich ausgestaltet:20 die Kommission kann gegen einen „ausscherenden“ 16 Zu diesem Verbundmodell grundlegend E. Schmidt-Aßmann, Europäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, in: Festschrift H. Steinberger, 2002, S. 1375 (1381 ff.). Siehe auch M. Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, DÖV 2007, S. 761 (766 f.); A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 13. 17 RL 2001/83/EG v. 6. 11. 2001, ABl. EG Nr. 311/67 bzw. VO (EG) Nr. 726/2004 v. 31. 3. 2004, ABl. EU Nr. L 136/1; dazu auch G. della Cananea, Law & Contemp. Probl.68 (2004), S. 197 (204 f.); A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 22. 18 M. Eekhoff, Die Verbundaufsicht, 2006, S. 1 ff.; G. Sydow (Fn. 14), DÖV 2006, S. 66 (67); A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 6. Allgemein auch G. Biaggini (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 413 (429 f.). 19 Für das föderalistische Mehrebenensystem in Deutschland K. Wegrich, Steuerung im Mehrebenensystem der Länder: Governance-Formen zwischen Hierarchie, Kooperation und Management, 2006, S. 39 ff., passim. Zu Formen der Kontrolle europäischer Verwaltung A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 154 ff.; S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 15), S. 205 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 14), Kap. 4 Rn. 86 ff. Monographisch M. Eekhoff, Die Verbundaufsicht (Fn. 18). 20 S. Kadelbach, Verwaltungskontrollen im Mehrebenensystem der Europäischen Gemeinschaft, in:

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Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH einleiten; eine Fachaufsicht hingegen lässt sich allenfalls eingeschränkt verwirklichen.21 Ist nun aber die nachträgliche Korrektur durch eine Intervention der EU nur mühsam zu realisieren, liegt es nahe, Abweichungen von vornherein dadurch zu unterbinden, dass die Kommission als Vetospieler22 in das Verwaltungsverfahren integriert wird.23 Die Kommission kann dann schon vor Erlass der Maßnahme „mitreden“. Oft wird zudem zusätzliches Expertenwissen durch Europäische Agenturen in das Verfahren eingespeist.24 Zugleich muss immer wieder gesichert werden, dass auch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen nicht übergangen werden. Auf diese Weise kommt es zu jener verbundtypischen Mischverwaltung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, die das heutige Europäische Verwaltungsrecht charakterisiert.

b) Nachteile für den Bürger Aus Sicht der beteiligten europäischen und nationalen Institutionen bringt diese Verbundverwaltung also Vorteile. Wie aber sieht es mit dem Bürger aus? Für diesen gehen solche hyperkomplexen Verfahren mit einem deutlichen Verlust an Transparenz einher; Anträge drohen in dem undurchdringlichen Intestinaltrakt des administrativen Körpers zu verschwinden.25 Eine prekäre Folge ist zudem, dass Verantwortung sich auflöst: Es fällt immer schwerer zu sagen, wer was entschieden hat, weil verschiedene Stellen an der Entscheidung mitgewirkt haben.26 Wo solche MitwirE. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S. 205 (223 ff.); M. Eekhoff, Die Verbundaufsicht (Fn. 18), S. 4 (zu anderen Formen der Berichtigung ebd., S. 127 ff.); J. Gundel, Verwaltung (Fn. 13), § 3 Rn. 123 ff.; A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 7. 21 Vgl. M. Eekhoff, Die Verbundaufsicht (Fn. 18), S. 176 ff.; J. Gundel, Verwaltung (Fn. 13), § 3 Rn. 119 ff. 22 Zur Rolle von Vetospielern grundlegend G. Tsebelis, Decision Making in Political Systems: Veto Players in Presidentialism, Parliamentarism, Multicameralism, and Multipartyism, British Journal of Political Science 25 (1995), S. 289 ff. Siehe auch A. Kaiser, Vetopunkte der Demokratie. Eine Kritik neuerer Ansätze der Demokratietypologie und ein Alternativvorschlag, ZParl 1998, S. 525 (537 ff.); M. Stoiber, Politische Führung und Vetospieler: Einschränkungen exekutiver Regierungsmacht, in: E. Holtmann/W. J. Patzelt (Hrsg.), Führen Regierungen tatsächlich? Zur Praxis gouvernementalen Handelns, 2008, S. 35 ff. 23 Eingehend zu den Modellen und Verfahren M. Eekhoff, Die Verbundaufsicht (Fn. 18), S. 144 ff. 24 Näher zur Einbeziehung von Agenturen in die EU-Verbundverwaltung D. Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999; R. Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen des öffentlichen Rechts, AöR 125 (2000), S. 551 ff.; E. Chiti, Administrative Proceedings Involving European Agencies, Law & Contemp. Probl. 68 (2004), S. 219 ff.; ders., Decentralisation and Integration into the Community Administrations: A New Perspective on European Agencies, European Law Journal 10 (2004), S. 402 ff.; Th. Groß, Die Kooperation zwischen europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, S. 54 ff.; A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 17. 25 S. Boysen, Transparenz im Europäischen Verwaltungsverbund, Die Verwaltung 42 (2009), S. 215 (239 ff.); A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 29. Zur Transparenz als Element der Berechenbarkeit von Rechtshandeln ders., Rechtssicherheit (Fn. 12), S. 460 ff. 26 E. Schmidt-Aßmann, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts (Fn. 15), S. 28; ders., Strukturen Europäischer Verwaltung und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: Liber Amicorum für P. Häberle, 2004, S. 395 (403 f.); M. Vaerini Jensen, Exécution du droit communautaire par les états membres, 2007, S. 235 ff.; A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 29.

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kungsakte informellen Charakter besitzen – etwa in Form von Stellungnahmen, die lediglich „zu berücksichtigen“ oder vielleicht „maßgeblich“ zu berücksichtigen sind – drohen sie gar, einer Steuerung durch das Recht gänzlich zu entschlüpfen. Vor allem der gerichtliche Rechtsschutz kann hier leerlaufen.27 Ein klassischer (und noch relativ einfach gelagerter) Fall ist der Fall Oleifi cio Borelli, den der EuGH 1992 zu entscheiden hatte:28 Dort hatte ein italienischer Olivenölproduzent bei der EG-Kommission Agrarbeihilfen beantragt. Die Kommission durfte nach der damaligen Rechtslage einen solchen Antrag nur bewilligen, wenn die zuständige Behörde des Heimatstaates den Antrag in einer Stellungnahme gegenüber der Kommission befürwortete. Dies geschah nicht, und der Antrag wurde abgelehnt. Vor den italienischen Gerichten konnte der Antragsteller nicht klagen, da die behördliche Stellungnahme nach italienischem Recht als eine bloß vorbereitende verwaltungsinterne Maßnahme angesehen wurde; vor dem EuGH blieb die Klage erfolglos, weil zwar formal die Kommission entschieden hatte, die eigentliche Sachentscheidung aber von der italienischen Behörde getroffen wurde. Der EuGH verwies den Kläger an die italienischen Gerichte zurück.29 Zwar befand der Gerichtshof in einem obiter dictum, dass die Anfechtbarkeit vor den nationalen Gerichten aus Gründen des (vorrangigen) Gemeinschaftsrechts auch dann garantiert sein müsse, wenn das nationale Prozessrecht eine Anfechtung von internen behördlichen Mitwirkungsakten nicht vorsehe;30 für den Betroffenen ist dies aber nur bedingt hilfreich: Ganz abgesehen von der Dauer des Rechtsschutzverfahrens im konkreten Fall – der Betroffene trägt hier das Risiko, präjudiziell bedeutsame interne Verfahrenshandlungen31 als solche zu identifizieren und vor den zuständigen Gerichten anzufechten. Ansonsten läuft er Gefahr, dass die betreffende Teilentscheidung unanfechtbar wird und sein Rechtsschutzbegehren leerläuft.32 Das Beispiel macht ein strukturelles Problem deutlich: Während das Verwaltungsverfahren sich längst vom Trennungsmodell verabschiedet hat, ist der gerichtliche Rechtsschutz in weiten Teilen noch immer diesem Modell verpfl ichtet.33 Die typischen Charakteristika eines Verwaltungsverbundes, intern gestufte Verfahren mit 27

Eingehend J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, 2004. EuGH, Rs. C-97/91 (Oleificio Borelli), Slg. 1992, I-6313, Rn. 13 ff. Dazu E. García de Enterría, The Extension of the Jurisdiction of National Administrative Courts by Community Law, Yearbook of European Law 13 (1993), S. 19 ff.; H. P. Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung: eine Studie gemeinschaftsrechtlicher Verfahrensgrundsätze unter besonderer Berücksichtigung „mehrstufiger“ Verwaltungsverfahren, 2002, S. 432 ff; E. Schmidt-Aßmann, Die Europäisierung des Verwaltungsverfahrens, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 487 (505 f.); G. della Cananea, Law & Contemp. Probl. 68 (2004), S. 197 (201 f.). 29 R. Caranta, Judicial Protection against Member States: A New Jus Commune Takes Shape, Common Market Law Review 32 (1995), S. 703 (715 f.) spricht treffend von einer „‚Catch 22‘ situation“. 30 EuGH, Rs. C-97/91 (Fn. 28), Rn. 13. 31 Begriff nach J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung (Fn. 27), S. 242 ff. 32 So die Konsequenz aus EuGH, Rs. C-188/92 (Textilwerke Deggendorf ), Slg. 1994, I-833 ff. Kritisch dazu G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 286; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, in: E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 353 (370 f.). 33 G. Sydow, Verwaltungskooperation (Fn. 32), S. 280 ff.; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung (Fn. 32), S. 359; A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 30. Zu ersten, sektoralen Ansätzen eines Zurechnungs- und Einheitsdenkens H. P. Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren (Fn. 28), S. 413 ff. 28

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verschiedenen, teilweise bloß informellen und vorbereitenden Mitwirkungsakten, können allenfalls mit Mühe eingefangen werden.34 Diese asynchrone Entwicklung zwischen Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Rechtsschutz droht den Bürger ins Abseits zu manövrieren.

2. Internationales Verwaltungsrecht a) Vielfalt der Erscheinungsformen Auch im Internationalen Verwaltungsrecht ist die Bürgerperspektive alles andere als dominant. Allerdings sind hier verallgemeinernde Aussagen kaum möglich, weil sich unter dem schillernden Begriff des „Internationalen Verwaltungsrechts“ ganz verschiedene Phänomene versammeln:35 von der Verwaltung ehemaliger Konfl iktgebiete durch die Vereinten Nationen oder die Sperrung von Konten Terrorverdächtiger durch den UN-Sicherheitsrat über die Tätigkeit von Behördennetzwerken wie den Basler Ausschuss für die Bankenaufsicht bis hin zur Registrierung von InternetAdressen durch eine halb-private Institution wie die ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers). Dabei scheint die Begriffsbildung nach wie vor nicht abgeschlossen: Während teilweise der Begriff des „Internationalen Verwaltungsrechts“ in Anlehnung an den Terminus des Internationalen Privatrechts als nationales Kollisionsrecht in verwaltungsrechtlichen Konstellationen mit Auslandsbezug verstanden wird,36 beansprucht namentlich Schmidt-Aßmann den Begriff für das im Völkerrecht begründete Verwaltungsrecht, d. h. für die Regeln internationaler Verwaltungseinheiten ebenso wie für die völkerrechtlichen Einflüsse auf das nationale Verwaltungsrecht sowie Regeln, die sich auf beide Ebenen beziehen und damit ein Verbundsystem in nuce erahnen lassen.37 Weitgehend synonym begegnet einem teilweise auch der – unschöne: wer verwaltet hier wen? – Begriff des „Völkerverwaltungsrechts“.38 Vor allem im US-ame34

Eine Parallele besteht hier zu der aus dem deutschen öffentlichen Recht vertrauten Anfechtungsproblematik bei Mitwirkungsakten in gestuften Verwaltungsverfahren. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden näher S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 15), 333 ff. 35 A. v. Bogdandy/Ph. Dann/M. Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities, German Law Journal 9 (2008), S. 1375 (1395 f.). Näher S. Cassese (Fn. 8), NYU J. of Int’l Law & Pol. 37 (2005), S. 663 (670 ff.); B. Kingsbury/ N. Krisch/R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (20 ff.); K.-H. Ladeur, Die Internationalisierung des Verwaltungsrechts: Versuch einer Synthese, in: Ch. Möllers/A. Vosskuhle/Ch. Walter, Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 8), S. 375 (379 ff.); C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (369 ff.). 36 Dazu m. w. N. Ch. Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 2 ff., der hier selbst zur Vermeidung von Missverständnissen von „öffentlichem Kollisionsrecht“ spricht. Zum Kollisionsrecht als Ausdruck horizontaler Internationalisierung C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (394 ff.). 37 E. Schmidt-Aßmann, Überlegungen zu Begriff und Funktionskreisen des Internationalen Verwaltungsrechts, in: Festschrift für H. Siedentopf, 2008, S. 101 ff.; ders., The Internationalization of Administrative Relations as a Challenge for Administrative Law Scholarship, German Law Journal 9 (2008), S. 2061 (2076 ff.). Zustimmend G. Biaggini (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 413 (418 ff.). 38 Ch. Möllers, Transnationale Behördenkooperation: Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme

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rikanischen Schrifttum fi ndet sich der Begriff des „Global Administrative Law“, der allerdings die Perspektive enger fasst: einmal, indem er die nationale Ebene weitgehend ausblendet, einmal, indem er über das „Globale“ regionale oder bilaterale Phänomene ausschließt.39 Da es im Folgenden primär um Entscheidungen durch Verwaltungseinheiten auf internationaler Ebene gehen soll, braucht die terminologische Frage an dieser Stelle nicht entschieden zu werden.40 Es ist Kennzeichen der sog. Globalisierung, dass immer mehr Problemen in internationaler Kooperation begegnet werden muss und soll.41 Folge ist eine zunehmende Regelung vormals national geregelter Sachverhalte auf internationaler Ebene. Dies geht mit einer fortschreitenden „Vervölkerrechtlichung“ der Politik einher, ist aber auf dieses Phänomen nicht beschränkt: Oft bleibt die internationale Kooperation unterhalb der Schwelle der völkerrechtlichen Bindung im Bereich „weicher“ Abreden42 und netzwerkartig-fluider Kooperationsstrukturen.43 Wie auch im Europäischen Verwaltungsrecht ist gerade Informalität eines der Kennzeichen heutiger zwischenstaatlicher Kooperation.44 Ein weiteres Kennzeichen ist, dass mit zunehmender Verdichtung der Kooperationsbeziehungen auch solche Fragen „internationalisiert“ werden, die eher45 administrativer Natur sind: Zulassungs- und Lizenzverfahren, Aufsicht und Regulierung, individualwirksame Sanktionen.46 transnationaler administrativer Steuerung, ZaöRV 65 (2005), S. 351 (384) in Anlehnung an Alfred Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl. 1964, S. 590: „völkerrechtliches Verwaltungsrecht“. Kritisch wegen der zu geringen Betonung der Rolle auch des nationalen Rechts G. Biaggini (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 413 (419 f.). 39 Kritisch E. Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), S. 315 (317). Der Begriff ist damit „paradoxerweise zu eng“: G. Biaggini (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 413 (419). 40 Vgl. eingehend zur Verortung von „international public authority“ in den derzeitigen terminologischen Diskursen A. v. Bogdandy/Ph. Dann/M. Goldmann (Fn. 35), German Law Journal 9 (2008), S. 1375 (1381 ff.). 41 D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1500 ff.). 42 Vgl. dazu z. B. § 72 Abs. 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien: „Vor der Ausarbeitung und dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge (Staatsverträge, Regierungsübereinkünfte, Ressortabkommen, Noten- und Briefwechsel) hat das federführende Bundesministerium stets zu prüfen, ob eine völkervertragliche Regelung unabweisbar ist oder ob der verfolgte Zweck auch mit anderen Mitteln erreicht werden kann, insbesondere auch mit Absprachen unterhalb der Schwelle eines völkerrechtlichen Vertrags.“ 43 S. Cassese (Fn. 8), NYU J. of Int’l Law & Pol. 37 (2005), S. 663 (679). Siehe auch S. Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, darin insbes. M. Goldmann, Der Widerspenstigen Zähmung oder: Netzwerke dogmatisch gedacht, S. 225 ff.; A. v. Bogdandy/Ph. Dann, International Composite Administration: Conceptualizing Multi-Level and Network Aspects in the Exercise of International Public Authority, German Law Journal (2008), S. 2013 ff. 44 Näher Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8), S. 626 ff.; E. Benvenisti, Coalitions of the Willing and the Evolution of Informal International Law, in: Ch. Calliess/G. Nolte/P.-T. Stoll (Hrsg.), Coalitions of the Willing: Avantgarde or Threat?, 2007, S. 1 ff. Siehe auch D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1538). 45 Eine klare Abgrenzung gelingt im internationalen Kontext nicht: I. Venzke, International Bureaucracies from a Political Science Perspective – Agency, Authority and International Institutional Law, German Law Journal 9 (2008), S. 1401 (1426). Zu vergleichbaren Kategorisierungsproblemen im Europäischen Verwaltungsrecht A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 1. 46 B. Kingsbury/N. Krisch/R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (16 ff.). Für die Bundesrepublik Deutschland Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8), S. 149 f.,

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b) Der Bürger in der Mediatisierungsfalle Dies ist vor allem dort problematisch, wo solche administrativen Akte in die Rechte Einzelner eingreifen.47 Da, anders als das Recht der Europäischen Union, das Völkerrecht zumindest im deutschen Recht weder Vorrang noch unmittelbare Geltung beanspruchen kann, kommt es zwar nicht unmittelbar zu einem Zugriff auf individuelle Rechtspositionen; wohl aber ist der Staat zur Erfüllung seiner internationalen Verpfl ichtungen völkerrechtlich – und auch verfassungsrechtlich48 – verpfl ichtet; dies gilt namentlich für Pfl ichten aus der UN-Charta, die zudem gemäß Art. 103 der Charta Vorrang vor allen anderen völkerrechtlichen Verpfl ichtungen der Mitgliedstaaten haben.49 Paradigmatisch ist hier die Familie der neuen sog. targeted sanctions des UN-Sicherheitsrates, mit denen dieser im Zuge der Bekämpfung des internationalen Terrorismus erstmals Wirtschaftssanktionen unmittelbar gegen Privatpersonen und -unternehmen verhängt hat (statt gegen Staaten).50 Aber auch wo – wie z. B. in BosnienHerzegowina oder im Kosovo – die internationale Gemeinschaft vorübergehend in die Staatsfunktionen eintritt, kommt es zu solchen unmittelbaren Zugriffen auf die Rechtssphäre des Einzelnen.51 Zu nennen ist schließlich auch das Beispiel des UNFlüchtlingshochkommissariats, das verschiedentlich menschenrechtsrelevante administrative Aufgaben übernimmt, z. B. im Rahmen der Leitung von Flüchtlingslagern

278 ff., passim, mit instruktiver Kategorisierung der völkerrechtlichen Abkommen im Anhang II (S. 686 ff.). 47 K. Schmitz, Durchgriffswirkung von Maßnahmen der UN und ihrer Sonderorganisationen unter besonderer Berücksichtigung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, 2003, S. 210 ff.; J. v. Bernstorff, Procedures of Decision-Making and the Role of Law in International Organizations, German Law Journal 9 (2008), S. 1939 (1948 f.); C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (385 ff.). Siehe auch B. Kingsbury/N. Krisch/R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (45 ff.). 48 Für Deutschland BVerfGE 109, 13 (24); 109, 38 (50); 112, 1 (24 ff.); BVerfG, NJW 2007, S. 499 ff. Näher M. Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, JöR 57 (2009), S. 465 ff. 49 C. Feinäugle, The UN Security Council Al-Qaida and Taliban Sanctions Committee: Emerging Principles of International Institutional Law for the Protection of Individuals?, German Law Journal 9 (2008), S. 1513 (1520 f.). Zu Verschleifungen zwischen monistischen und dualistischen Modellen in der Praxis der Verwaltungskooperation näher Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8), 640 ff. 50 Speziell zur menschenrechtlichen Dimension dieser Maßnahmen G. Biehler, Individuelle Sanktionen der Vereinten Nationen und Grundrechte, AVR 41 (2003), S. 169 ff.; C. Olivier, Human Rights Law and the International Fight Against Terrorism, Nordic JIL 73 (2004), S. 399 ff.; B. Fassbender, Targeted Sanctions Imposed By the UN Security Council and Due Process Rights, International Organizations Law Review 3 (2006), S. 437 ff.; J. A. Frowein, The UN Anti-Terrorism Administration and the Rule of Law, in: Festschrift für C. Tomuschat, 2006, S. 785 ff.; J. Matam Farrall, United Nations Sanctions and the Rule of Law, 2007, S. 183 ff., 219 ff.; Th. Meerpohl, Individualsanktionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, 2008; G. Nolte, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVDStRL 67 (2008), S. 129 (132 ff.). 51 Dazu u. a. E. Abraham, The Sins of the Savior: Holding the United Nations Accountable to International Human Rights Standards for Executive Order Detentions in its Mission in Kosovo, American University Law Review 52 (2003), S. 1291 ff.; J. Tielsch, UN-Verwaltung und Menschenrechte, 2006; S. Wollenberg, Die Regierung von Konfl iktgebieten durch die Vereinten Nationen, 2007, insbes. S. 216 ff.; H. F. Kiderlen, Von Triest nach Osttimor, 2008, insbes. S. 312 ff.; C. Stahn, The Law and Practice of International Territorial Administration, 2008, insbes. S. 479 ff., 579 ff.

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oder bei der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft 52 – einer Aufgabe, die in manchen Staaten auf das Hochkommissariat delegiert ist.53 Die Rechtsstellung des Individuums ist im Völkerrecht nach wie vor schwach.54 Auf internationaler Ebene stehen ihm nur wenige geeignete Institutionen zur Verfügung, über die er seine Rechte durchsetzen kann. Das Völkerrecht sieht den Einzelnen traditionell mediatisiert, d. h. nur als Glied seines Heimatstaates. Dem Heimatstaat obliegt es, sich auf internationalem Parkett im Wege diplomatischen Schutzes für seine Staatsangehörigen zu verwenden.55 In dieser Tradition sah das ursprüngliche De-listing-Verfahren des UN-Sanktionskomitees für mutmaßliche Unterstützer der afghanischen Taliban und der Terrororganisation Al-Qaida (das sog. 1267er-Komitee) vor, dass nur die Heimatstaaten von Verdächtigen die Streichung von der Liste und damit die Auf hebung der verhängten Kontensperrungen beantragen konnten.56 Eine solche einseitige Durchbrechung der Mediatisierung führt das Völkerrechtssystem in eine Schieflage: Der Mediatisierung wegen hat der Einzelne zwar auf internationaler Ebene keine Stimme; dies ist aber auch nicht nötig, da diese Ebene nicht unmittelbar in seine Rechtssphäre eingreifen kann. Dies kann nur ein Staat, von dem er, wenn dieser ein Rechtsstaat ist, die Achtung seiner Rechte einfordern kann. Wo nun das zwischenstaatliche Paradigma durchbrochen wird, indem der Durchgriff internationaler bzw. internationalisierter Akteure auf den Einzelnen erfolgt, droht dieser Einzelne zugleich die Abwehr- und Verteidigungsrechte, die er gegenüber einem staatlichen Akteur hätte, zu verlieren.

III. Gemeinsamkeiten von Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsrechts Jenseits einer Vielfalt der Erscheinungsformen scheinen Europäisches und Internationales Verwaltungsrecht wenig gemeinsam zu haben. Von einem Verwaltungsverbund kann angesichts der punktuellen und nicht von einem einheitlichen Verfassungsrahmen überwölbten Konstellationen im Bereich Internationaler Verwaltung nicht die Rede sein.57 Das Problem der Mediatisierung scheint dagegen im Unionsrecht fehl am Platz. Allein in der zu geringen Berücksichtigung des Bürgers scheint im Ergebnis eine Übereinstimmung feststellbar. 52 Dazu näher M. Smrkolj, International Institutions and Individualized Decision-Making: An Example of UNHCR’s Refugee Status Determination, German Law Journal 9 (2008), S. 1779 ff. Allgemein zu den Verwaltungsaufgaben des UNHCR auch M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World: International Organizations in Global Politics, 2004, S. 73 ff. 53 Weitere Beispiele bei K. Schmitz, Durchgriffswirkung (Fn. 47), S. 99 ff. 54 Vertiefend, statt vieler, V. Epping, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 7. 55 Zum diplomatischen Schutz u. a. V. Epping/C. Gloria, in: K. Ipsen, Völkerrecht (Fn. 54), § 24 Rn. 31 ff. 56 Security Council Committee Established Pursuant to Resolution 1267 (1999) Concerning AlQaida and the Taliban and Associated Individuals and Entities, Guidelines vom 7. 11. 2002, zuletzt geändert am 29. 11. 2006, http://www.un.org/Docs/sc/committees/1267/1267_guidelines.pdf. Das De-listing-Verfahren wird in Ziffer 8 geregelt. 57 Vgl. N. Krisch, The Pluralism of Global Administrative Law, EJIL 17 (2006), S. 247 ff.

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1. Durchbrechung bürgerschützender Strukturprinzipien Tritt man jedoch einen Schritt zurück, wird ein struktureller Zusammenhang deutlich: In beiden Fällen fi ndet eine Verlagerung von Verwaltungsaufgaben auf eine über- bzw. zwischenstaatliche Ebene statt. Dies droht nicht nur bürgerschützende Institutionen des nationalen Verwaltungsrechts zu unterlaufen; es bricht auch mit bis dahin tragenden Grundsätzen der überstaatlichen bzw. zwischenstaatlichen Ebene selbst: Internationale Verwaltung durchbricht dort, wo sie unmittelbar den Bürger betrifft, die Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht; Europäische Verbundverwaltung bricht mit dem Trennungsprinzip, wonach die Vollzugsaufgabe primär Sache der Mitgliedstaaten ist. Beide Prinzipien sind nicht bloß Ausdruck staatlicher Souveränität; sie bewirken zugleich, dass das Verwaltungsrechtsverhältnis auf die Ebene Staat-Bürger beschränkt bleibt. Nicht transnationale Stellen handeln gegenüber dem Bürger, sondern staatliche Behörden. Auf diese Weise ist garantiert, dass die nationalen Rechtsschutzinstitutionen greifen können. Werden diese Prinzipien durchbrochen, wird auch der Rechtsschutzzusammenhang durchbrochen. Rechtsschutz aber ist Bürgerschutz. Auf europäischer wie auf internationaler Ebene lässt sich beobachten, dass der Bürgerschutz der Transnationalisierung von Verwaltungsaufgaben „nachhinkt“.

2. „Bürokratisierung“ der Entscheidungen Dieses „Nachhinken“ kommt nicht von ungefähr. Dass im Europäischen wie auch im Internationalen Verwaltungsrecht der Bürger aus dem Blick geraten ist, hat eine Ursache darin, wie hier Entscheidungen getroffen werden. Mit der Verlagerung von Entscheidungen administrativen Charakters auf eine überstaatliche oder zwischenstaatliche Ebene fi ndet nicht nur inhaltlich ein Übergang von der „hohen Politik“ zu Verwaltungsfragen statt, sondern auch personell ein Wechsel der Akteure. Die Entscheidungen werden allenfalls noch formal von Mitgliedern der beteiligten Regierungen getroffen; zunehmend werden sie in Expertenausschüsse verwiesen.58 Für die EU spricht Joseph Weiler hier von „infranationaler“ Rechtsetzung:59 „Infranationalism [. . .] is based on the realization that increasingly large sectors of Community norm creation are done at a meso-level of governance. The actors involved are middle-range officials of the Community and Member States in combination with a variety of private and semi-public players. [. . .] Infranationalism is not constitutional or unconstitutional. It is outside the constitution.“

Einen Großteil der Sekundärrechtsakte der EU handelt heute eine „Pendelbürokratie“ mitgliedstaatlicher Ministerialbeamter mit Beamten der Europäischen Büro-

58 J. v. Bernstorff (Fn. 47), German Law Journal 9 (2008), S. 1939 (1947 ff., 1954 ff.), der treffend von vertauschten Rollen spricht (aaO., S. 1947), weil die Entscheidung letztlich nicht von denen getroffen wird, die sie formal verantworten. 59 J. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 98 f. Eingehend zu diesen Phänomenen M. Bach, Die Bürokratisierung Europas, 1999.

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kratie und beteiligten Interessenten- und Lobbygruppen aus.60 Auch auf internationaler Ebene werden viele Entscheidungen auf der Arbeitsebene getroffen – sei es in Verfahren, die von vornherein als Behördenkooperation angelegt sind,61 sei es in Verfahren, in denen die politischen Entscheidungsträger die Beschlüsse von Experten lediglich „ratifizieren“.62 So gehören z. B. dem 1267er-Komitee zur Überwachung der Finanzsanktionen gegen mutmaßliche Unterstützer von Taliban und AlQaida zwar sämtliche Mitglieder des UN-Sicherheitsrates an; 63 in der Praxis jedoch spielen im Listing-Verfahren die Geheimdienste, vor allem die der USA, eine entscheidende Rolle.64 Solche Fachbürokratien bilden epistemische Gemeinschaften (epistemic communities), Gruppen, die durch fachliche Spezialisierung und eine gewisse déformation professionnelle übereinstimmende Muster der Beschreibung und Lösung von Problemen entwickelt haben.65 Dies führt zu einer einseitigen Fixierung auf die möglichst effiziente Erfüllung der übertragenen Aufgaben; im bürokratiesoziologischen Schrifttum ist von einer „managerialen und technokratischen ‚Problemlösungsphilosophie‘ bzw. -ideologie“ die Rede.66 Aus einer solchen Perspektive erscheinen Verfahren vorzugswürdig, die in „informellen und intransparenten Kleingruppengremien“67 ablaufen und sich externer Steuerung und Kontrolle möglichst entziehen.68

60 W. Wessels, Die Öffnung des Staates: Modelle und Wirklichkeit grenzüberschreitender Verwaltungspraxis 1960–1995, 2000, S. 195 ff., 355 ff., 365 ff.; M. Bach, Die Bürokratisierung Europas (Fn. 59), S. 22 ff., 51 ff., 68 ff., 72 ff. (S. 27: „expertokratische transnationale Fusionsbürokratie“); ders., Europa als bürokratische Herrschaft, in: G. F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 575 (596 ff.). 61 Hierzu eingehend Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8). Siehe auch Ch. Möllers (Fn. 38), ZaöRV 65 (2005), S. 351 ff.; C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (398 ff.). 62 Allgemein Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8), S. 163 f., 659. 63 Auch hier sind es die ständigen Vertreter der betreffenden Staaten bei den Vereinten Nationen und damit Ministerialbeamte, nicht die politischen Spitzen, die an den Komiteesitzungen teilnehmen. 64 I. Venzke (Fn. 45), German Law Journal 9 (2008), S. 1401 (1407, 1421). Näher E. Rosand, The Security Council’s Efforts to Monitor the Implementation of Al Qaeda/Taliban Sanctions, AJIL 98 (2004), S. 745 (748 ff.). 65 Grundlegend P. M. Haas, Epistemic Communities and International Policy Coordination, International Organizations 46 (1992), S. 1 ff. (3): „An epistemic community is a network of professionals with recognized expertise and competence in a particular domain and an authoritative claim to policyrelevant knowledge within that domain or issue-area.“. Näher auch E. B. Haas, When Knowledge Is Power: Three Models of Change in International Organizations, 1990, S. 40 ff.; M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World (Fn. 52), S. 17 ff., 29 ff.; I. Venzke (Fn. 45), German Law Journal 9 (2008), S. 1401 (1412 ff., 1416). Vgl. auch C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (375) „Fachbruderschaften“. 66 M. Bach, Europa als bürokratische Herrschaft (Fn. 60), S. 605. M. Ruffert, Perspektiven des Internationalen Verwaltungsrechts, in: Ch. Möllers/A. Vosskuhle/Ch. Walter, Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 8), S. 395 (407): „Internationale organisatorische Verflechtungen [. . .] sind technokratielastig“. 67 M. Bach, Europa als bürokratische Herrschaft (Fn. 60), S. 605. 68 M. Bach, Die Bürokratisierung Europas (Fn. 59), S. 51 ff., 65 ff.; M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World (Fn. 52), S. 20 ff., 27 ff., 34 ff., 170 ff.; I. Venzke (Fn. 45), German Law Journal 9 (2008), S. 1401 (1417 ff.); J. v. Bernstorff (Fn. 47), ebd., S. 1939 (1944 ff., 1947 ff.).

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Da rechtsstaatliche Bindungen immer Reibungen erzeugen,69 geraten Rechte und Interessen des Bürgers als „Störfaktoren“ einer effizienten Problemlösung leicht aus dem Blick. Auch die scheinbare Entpolitisierung, die mit der Verlagerung von Entscheidungen in expertokratische Zirkel einhergeht,70 leistet diesem Ausblenden der Bürgerperspektive Vorschub. Eindringlich hat Martti Koskenniemi die Aufgabe des internationalen Rechts formuliert, solchen technokratisch-funktionalen Konstruktionen sozialer Wirklichkeit entgegenzutreten:71 „[I]nternational law is not only about governing things: [. . .] It is also – and perhaps above all – about constructing a public space within which also groups whose interests are not well respresented in governance bodies receive a voice. It enables those groups to articulate their claims not as claims of special interest but as the interest of the (international) society.“

Aufgabe des Völkerrechts muss es also sein, dem Bürger auch in internationalen Verwaltungszusammenhängen wieder eine Stimme zu geben.72

IV. Integration des Bürgerparadigmas 1. Wider einen neuen Nationalismus Die hier vorgenommene Analyse soll nicht als Fundamentalkritik an den beschriebenen Prozessen missverstanden werden. Um ein Zurück in die vermeintlich heile Welt hermetisch verschlossener Nationalstaaten kann es nicht gehen. Die Probleme unserer Zeit erfordern eine enge zwischenstaatliche Kooperation, und auch die Europäische Integration ist politisch alternativlos. Damit aber sind auch die beschriebenen Entwicklungen (abgesehen von Randkorrekturen) unvermeidlich: Die Verabschiedung des Trennungsmodells Europäischer Verwaltung und der Übergang zum Verwaltungsverbund sind ebenso Ausdruck zwangsläufiger Prozesse73 wie die Übernahme administrativer Funktionen durch internationale Stellen74. Auch die Auslage69

Vgl. A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 223 f.; ders., Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 (277 f.). 70 Dazu kritisch P. M. Haas (Fn. 65), International Organizations 46 (1992), S. 1 ff. (11 f.); M. Bach, Die Bürokratisierung Europas (Fn. 59), S. 56 ff.; ders., Europa als bürokratische Herrschaft (Fn. 60), S. 603 f.; M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World (Fn. 52), S. S. 24 f.; I. Venzke (Fn. 45), German Law Journal 9 (2008), S. 1401 (1411 f., 1416, 1421 f.); A. v. Bogdandy/Ph. Dann (Fn. 43), ebd., S. 2013 (2024 f.). 71 M. Koskenniemi, Global Governance and Public International Law, Kritische Justiz 37 (2004), S. 241 (253). 72 In dem Anliegen, die Stimmen der „Ausgeschlossenen“ hörbar zu machen, lässt sich eine Brücke zu Strömungen feministischer Theorie schlagen, vgl. A. v. Arnauld, Feministische Theorien und Völkerrecht, in: B. Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht, S. 13 (40 ff.). Dass es sich um einen strukturellen, nicht um einen akzidentellen Zusammenhang handelt, kann auch für die Suche nach Lösungen fruchtbar gemacht werden (aaO., S. 44 f.). 73 Hierzu näher A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 45. 74 D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1560 ff.); I. Venzke (Fn. 45), German Law Journal 9 (2008), S. 1401 (1427), zu den Gründen für die Übertragung von Hoheitsrechten ebd., S. 1405 ff. Überblick über verschiedene sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze bei Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8), S. 152 ff.

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rung von Entscheidungen in Expertengruppen lässt sich nicht vermeiden, wenn die auf supra- oder internationaler Ebene zu entscheidenden Sachfragen immer zahlreicher und immer spezieller werden.75 Es kann daher nur um die Abmilderung von Nebenwirkungen und um den Einbau von Korrektiven in das System gehen.

2. Vom Nachhinken zum Aufholen Wird der Bürger zunehmend unmittelbar mit den Entscheidungen supra- und internationaler Stellen und Verbünde konfrontiert, ohne dass die Souveränität seines Heimatstaates ihm „mediatisierenden“ Schutz bieten könnte, muss gewährleistet sein, dass die bürgerschützenden Institutionen der Dynamik des Verwaltungsrechts nicht länger „nachhinken“, sondern „auf holen“. Dies gilt für Maßstäbe, Organisation und Verfahren ebenso wie für den Rechtsschutz. Einige Gedanken hierzu müssen genügen:

a) Maßstäbe des Verwaltungshandelns Hinsichtlich der Verwaltungsmaßstäbe spielen für die EU die bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze eine zentrale Rolle, die der EuGH entwickelt hat und die sich zum großen Teil in der EU-Grundrechte-Charta kodifi ziert fi nden: allen voran die Unionsgrundrechte, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit76 und Vertrauensschutz.77 Diese Grundsätze sind für alle Akteure der Verbundverwaltung gleichermaßen verbindlich.78 Auch für Akteure des Internationalen Verwaltungsrechts lassen sich vor allem aus den Menschenrechtsstandards allgemeine rechtsstaatliche Verwaltungsgrundsätze entwickeln.79 Bedenkt man allerdings, dass in manchen Kreisen noch immer bestritten wird, dass der UN-Sicherheitsrat überhaupt an die Beachtung der Menschen75

B. Kingsbury/N. Krisch/R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (16); D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1503). 76 Dazu eingehend A. v. Arnauld, Rechtssicherheit (Fn. 12), S. 495 ff. Siehe auch A. Hatje, Rechtssicherheit im europäischen Verwaltungsverbund, in: Festschrift für H.-W. Rengeling, 2008, S. 249 ff. 77 Ausführlich T. Tridimas, The General Principles of EU Law, 2. Aufl. 2007. Vertiefend auch Th. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3 ff.; G. Gornig/C. Trüe, Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG zum Europäischen Verwaltungsrecht, JZ 2000, S. 395 ff., 446 ff., 501 ff.; J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht (Fn. 14), S. LVI ff.; A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 36 ff. Zum dynamischen Potenzial allgemeiner Rechtsgrundsätze A. v. Arnauld, Rechtsangleichung durch allgemeine Rechtsgrundsätze?, in: K. Riesenhuber/K. Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung, 2006, S. 247 ff. 78 A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 36. 79 S. Cassese (Fn. 8), NYU J. of Int’l Law & Pol. 37 (2005), S. 663 (689 ff.); B. Kingsbury/N. Krisch/ R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (40 f.); A. v. Bogdandy, General Principles of International Public Authority: Sketching a Research Field, German Law Journal 9 (2008), S. 1909 (1936/1937 ff.); J. v. Bernstorff (Fn. 47), ebd., S. 1939 (1961 ff.); E. Schmidt-Aßmann (Fn. 37), ebd., S. 2061 (2075 f.). Siehe auch C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (387 ff.). Zu den Verbindungen zwischen Rechtsstaat und Menschenrechten A. v. Arnauld, Rechtsstaat, in: O. Depenheuer/Ch. Gra-

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rechte gebunden ist,80 ist hier noch ein weiter Weg zu gehen. Statt eines allgemeinen Verweises auf eine Achtung der Menschenrechte wäre allerdings eine bereichsspezifische Konkretisierung dieser Grundsätze nötig, um den Verwaltungsakteuren Handlungssicherheit, dem Bürger Orientierungssicherheit zu geben. Zu warnen ist dabei vor einer undifferenzierten Übernahme von Standards aus dem nationalen Verfassungs- und Verwaltungsrecht.81 Die – im Kern zutreffende – Rede von der Konstitutionalisierung des Völkerrechts darf nicht im Sinne einer Projektion von Instituten europäischen (und insbesondere deutschen) Verfassungsdenkens auf die internationale Ebene missverstanden werden. Diese Konstitutionalisierung, die Prozess und Auftrag zugleich ist, ist eher als eine Denkhaltung zu begreifen,82 die im Vergleich internationaler und nationaler Institutionen Anleitung gibt, wo auf Ebene des Völkerrechts Korrekturbedarf besteht.83 Hier gilt es in erster Linie, die „offenen“ Elemente der jeweiligen völkerrechtlichen Regime für eine Einstrahlung menschenrechtlicher Gehalte und allgemeiner Rechtsgrundsätze zu nutzen und diese dadurch gewissermaßen von innen heraus zur Entfaltung zu bringen.84 benwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 22 Rn. 27 ff. Zur Übertragbarkeit des nomokratischen Prinzips auf die supra- und internationale Ebene ebd., Rn. 57 ff. 80 So z. B. H. Kelsen, The Law of the United Nations, 1951, S. 294 f.; S. Schwebel, diss. op. zu IGH, Urteil vom 27. Februar 1998 (Lockerbie II), ICJ Rep. 1998, S. 9 (64/73 ff.); A. Vradenburgh, The Chapter VII Powers of the United Nations Charter: Do They „Trump“ Human Rights Law?, Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Journal 14 (1991), S. 175 ff.; G. Oosthuizen, Playing the Devil’s Advocate: the United Nations Security Council is Unbound by Law, Leiden Journal of International Law 12 (1999), S. 549 ff. Zu Recht a. A. M. Reisman, The Constitutional Crisis of the United Nations, AJIL 87 (1993), S. 83 ff.; M. Bedjaoui, The New World Order and the Security Council, 1994, S. 31 ff.; M. Herdegen, Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates: Aufgeklärter Absolutismus im Völkerrecht?, 1998, insbes. S. 25 ff.; B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 154 ff., 281 f., passim; ders., The Security Council, the International Court and Judicial Review: What Lessons from Lockerbie?, EJIL 10 (1999), S. 517 (534 ff., 544 ff.); E. de Wet, The Chapter VII Powers of the United Nations Security Council, 2004, S. 198 ff., 219 ff., 322 ff. Zu der Diskussion B. Fassbender, Quis judicabit? The Security Council, Its Powers and Its Legal Control, EJIL 11 (2000), S. 219 ff.; A. Reinisch, Developing Human Rights and Humanitarian Law Accountability of the Security Council fort he Imposition of Economic Sanctions, AJIL 95 (2001), S. 851 (853 ff.). 81 Vgl. zu kontextbezogenen Differenzen bei der Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze in verschiedenen Rechtsordnungen allgemein A. v. Arnauld, Rechtsstaat (Fn. 79), Rn. 32 ff. sowie M. Kötter/ G. F. Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen: Rechtsbegriffe, Normenkollisionen und Rule of Law in Kontexten dies- und jenseits des Staates, 2009, darin insbes. Beiträge von G. F. Schuppert (Zum Umgang mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Rule of Law als Anwendungsfall normativer Pluralität), S. 210 ff. und S. Martini (Die Pluralität von Rule-of-Law-Konzeptionen in Europa und das Prinzip einer europäischen Rule of Law), S. 303 ff. 82 M. Koskenniemi, Constitutionalism as Mindset: Reflections on Kantian Themes About International Law and Globalization, Theoretical Inquiries in Law 8 (2007), S. 9 ff. 83 A. v. Bogdandy/Ph. Dann/M. Goldmann (Fn. 35), German Law Journal 9 (2008), S. 1375 (1390 ff.). Näher A. v. Bogdandy (Fn. 79), ebd., S. 1909 (1914 ff.). 84 Vgl. das überzeugende Plädoyer für eine Defragmentierung des Völkerrechts (am Beispiel des internationalen Investitionsschutzrechts) von A. van Aaken, Fragmentation of International Law: The Case of International Investment Protection, Finnish Yearbook of International Law 17 (2006), S. 91 ff. Als Ansatzpunkt kann ganz allgemein die Regel in Art. 31 Abs. 3 lit. c der Wiener Vertragsrechts-Konvention (BGBl. 1985 II S. 927) dienen, wonach bei der Interpretation völkerrechtlicher Verträge „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ zu berücksichtigen ist. Zu dem verwandten Ansatz einer „internen“ Konstitutionalisierung näher A. v. Bogdandy (Fn. 79), German Law Journal 9 (2008), S. 1909 (1925 ff.).

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b) Organisation und Verfahren „Bürokratische Verwaltung ist ihrer Tendenz nach stets Verwaltung mit Ausschluß der Öffentlichkeit“, schreibt Max Weber.85 Schon wegen der Natur inneradministrativer Vorgänge ist Intransparenz also ein Kennzeichen transnationaler Behördenkooperation.86 Wo dies möglich ist, kann die aktive Schaffung größerer Transparenz, z. B. durch Information oder durch die Beteiligung Betroffener am Verfahren, als Korrektiv wirken.87 Ausgewogene Beteiligungsmöglichkeiten und Anhörungen können darüber hinaus im Vorfeld dazu beitragen, die Qualität einer Maßnahme zu erhöhen und die Inanspruchnahme nachgelagerter Kontrollen zu vermeiden.88 Eine wichtige Scharnierfunktion zwischen interner und externer Kontrolle erfüllen zudem Begründungspfl ichten: Die Verpfl ichtung, Entscheidungen den Betroffenen gegenüber nachvollziehbar zu begründen, steigert Rationalität und Transparenz und bildet eine wichtige Voraussetzung für die effektive Überprüfung ebenso wie für eine verbesserte Akzeptanz von Entscheidungen.89 Ein interessantes Modell, um der Intransparenz europäischer Verwaltungsverfahren entgegenzuwirken, verfolgt der Unionsgesetzgeber mit der Figur des einheitlichen Ansprechpartners.90 Hier steht dem Bürger, ungeachtet interner Mitwirkungsakte, für das gesamte Verfahren ein Ansprechpartner zur Verfügung, der als Verteilerstelle für die Kommunikation des Bürgers mit der Verbundverwaltung fungiert. Ein solches Modell versucht nicht, die Komplexität der Verfahren verwaltungsintern zu verringern, leistet aber einen wichtigen Beitrag zu deren Reduktion im Außenverhältnis.91 Ein Funktionsäquivalent auf internationaler Ebene stellt z. B. der focal point dar, den der UN-Sicherheitsrat mittlerweile eingerichtet hat, damit sich Betroffene direkt (und nicht auf dem Umweg über ihre Heimatstaaten) an das Taliban- und Al-Qaida-Sanktionskomitee wenden können, um ihre Streichung von der bereits

85 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22), Lizenzausgabe 2005, Kap. IX, 2. Abschnitt (S. 730). 86 Ch. Möllers (Fn. 38), ZaöRV 65 (2005), S. 351 (379); D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1537 f.); E. Benvenisti, Coalitions of the Willing and the Evolution of Informal International Law (Fn. 44), S. 16 f. Für die Organe und Unterorgane der Vereinten Nationen J. Matam Farrall, United Nations Sanctions (Fn. 50), S. 185 ff. Pointiert A. v. Bogdandy/Ph. Dann/M. Goldmann (Fn. 35), German Law Journal 9 (2008), S. 1375 (1390): „International institutions remain opaque.“ 87 B. Kingsbury/N. Krisch/R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (37 ff.); D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (2006), S. 1490 (1527 ff., 1530 ff.). 88 Vgl. A. v. Arnauld, Rechtssicherheit (Fn. 12), S. 458 ff. 89 B. Kingsbury/N. Krisch/R. B. Stewart (Fn. 8), Law & Contemp. Probl. 68 (2005), S. 15 (39). Zu den Funktionen von Begründungen im Recht J. Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 37 ff.; U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 39 ff. Rhetorische Analyse von Begründungsstrukturen bei A. v. Arnauld, Zur Rhetorik der Verhältnismäßigkeit, in: M. Jestaedt/O. Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2010 (i.E.). 90 V.a. RL 2006/123/EG v. 12. 12. 2006, ABl. EU Nr. L 376/36 (Dienstleistungs-Richtlinie). Dazu u. a. A. Windoffer, Einheitliche Ansprechpartner nach der EU-Dienstleistungsrichtlinie, DVBl. 2006, 1210 ff. Siehe auch U. Schliesky, Von der Realisierung des Binnenmarkts über die Verwaltungsreform zu einem gemeineuropäischen Verwaltungsrecht?, DVBl. 2005, S. 887 (891). A. v. Arnauld, Zum Status (Fn. 13), Rn. 24. 91 A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 24.

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erwähnten Liste zu beantragen.92 Derartige Kontaktstellen sind gewiss sinnvoll, ohne Vetomacht bleibt ihre Wirkung jedoch eine rein kommunikative.93 Um zu verhindern, dass eine Expertokratie in diskreter Kleingruppenarbeit die Rechte des Bürgers aus dem Blick verliert, kann sich schließlich empfehlen, den „Tunnelblick“94 der epistemischen Gemeinschaften durch organisatorische bzw. prozedurale Vorkehrungen zu korrigieren. Sinnvoll könnte hierfür sein, in die Gremien Vertreter einzubinden, die für eine Berücksichtigung der Bürgerperspektive Sorge tragen. Hierdurch ließe sich die Aufgabe eines grundrechtlichen mainstreaming auch institutionell verstärken.95 Auf europäischer Ebene könnte hier etwa die neue Grundrechte-Agentur eine größere Rolle spielen.96

c) Rechtsschutz Unerlässlich für die Rückkehr des Bürgers in das Europäische und Internationale Verwaltungsrecht freilich ist die Lösung des Rechtsschutzproblems. Hier gibt es, wie bereits angesprochen, selbst auf Ebene der EU noch Defizite, wo es um Entscheidungen geht, die im Verbund verschiedener Akteure getroffen wurden.97 Hier sind weitere Schritte auf dem Weg zu einem Rechtsschutzverbund nötig.98 Dies betrifft zunächst Verbesserungen hinsichtlich der Rechtswegklarheit: Der Betroffene muss wissen, gegen welchen Akt oder Teilakt er wo klagen kann. Dies lässt sich z. B. durch Rechtsbehelfsbelehrungen erreichen, die auf die Verbundproble92 S/RES/1730 vom 19. 12. 2006. Darstellung bei C. Feinäugle (Fn. 49), German Law Journal 9 (2008), S. 1513 (1528 ff.). 93 Zu Recht skeptisch C. Feinäugle, Die Terroristenlisten des Sicherheitsrates – Endlich Rechtsschutz des Einzelnen gegen die Vereinten Nationen?, ZRP 2007, S. 75 (77 f.); ders. (Fn. 49), German Law Journal 9 (2008), S. 1513 (1530 f.); E. de Wet, Holding International Institutions Accountable: The Complementary Role of Non-Juducial Oversight Mechanisms and Judicial Review, ebd., S. 1987 (1999 f.). 94 M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World (Fn. 52), S. 8, 38 f. 95 Vgl. A. v. Bogdandy, Grundrechtsschutz durch die Europäische Grundrechteagentur, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 6/1 (HbGR VI/1), 2010, § 166 Rn. 52 f. Instruktiv zu den innerorganisatorischen Defi ziten der Weltbank ist die empirische Analyse von G. A. Sarfati, Why Culture Matters in International Institutions: The Marginality of Human Rights at the World Bank, AJIL 103 (2009), S. 647 ff. 96 VO (EG) Nr. 168/2007 vom 15. Februar 2007 zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, ABl. EU Nr. L 53/1. Nach Art. 4 Abs. 2 der VO darf die Agentur de lege lata Gutachten in laufenden Beschlussverfahren nur auf Antrag eines beteiligten Organs erstatten. Kritisch daher G. Toggenburg, Die Grundrechteagentur der Europäischen Union, MenschenRechtsMagazin 2007, S. 86 (96). Zur Agentur allgemein I. Härtel, Die Europäische Grundrechteagentur: unnötige Bürokratie oder gesteigerter Grundrechtsschutz?, EuR 2008, S. 489 ff.; J. F. Lindner, Was ist und wozu braucht man die EU-Grundrechteagentur?, BayVBl. 2008, S. 129 ff.; A. v. Bogdandy, HbGR VI/1 (Fn. 95), § 166. 97 Hier geht es allein um diese Defi zite. Daneben gibt es natürlich auch Verbesserungen durch das Unionsrecht bei Rechtsschutz und Verfahrensbeteiligung, namentlich im Bereich des Umweltrechts. Dazu m. w. N. W. Durner, Internationales Umweltverwaltungsrecht, in: Ch. Möllers/A. Vosskuhle/Ch. Walter, Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 8), S. 121 (132 ff., 151 ff., 157 ff.). 98 So etwa auch G. Sydow, Verwaltungskooperation (Fn. 32), S. 279 ff. Weitere Nachweise bei A. v. Arnauld, Zum Status quo (Fn. 13), Rn. 30.

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matik abgestimmt sind;99 besser noch wäre es, beim Erlass von Sekundärrechtsakten künftig das Rechtsschutzproblem stärker in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls mitzuregeln (natürlich unter Beachtung der EU-Kompetenzordnung). Die effektivste Stärkung des Verbundgedankens wäre sicherlich, auch den Rechtsschutz auf die Prinzipien von Zurechnung und gegenseitiger Anerkennung zu gründen, die bereits Grundlage des Verwaltungsverbundes sind.100 Dies setzt freilich eine größere Bereitschaft der Mitgliedstaaten voraus, den eigenen Verfahrensbeitrag von den Unionsgerichten oder den Gerichten eines anderen Mitgliedstaates überprüfen zu lassen.101 Soweit diese Bereitschaft nicht besteht, könnte es immerhin einer Verbesserung der Verfahrensökonomie dienen, beschleunigte Vorlageverfahren einzuführen, die verhindern, dass der Bürger wegen eines aus seiner Sicht einheitlichen Verwaltungsvorgangs gegen verschiedene Stellen vor verschiedenen Gerichten klagen muss.102 Hier könnte der einheitliche Ansprechpartner im Verwaltungsverfahren ein Vorbild auch für den Rechtsschutz sein. Dies alles sind nur Andeutungen. Schwarze Löcher des Rechtsschutzes jedenfalls darf es nicht länger geben.103 Keine Lösung bestehender Rechtsschutzdefizite, wohl aber Impulse für eine solche Lösung dürfte der geplante Beitritt der EU zur EMRK mit sich bringen. Schon aus Kapazitätsgründen wird der EGMR nicht in der Lage sein, hier in die Bresche zu springen. Wo strukturelle Rechtsschutzdefizite existieren – namentlich bei überlangen und überkomplexen Verfahren –, hat der Gerichtshof schon in der Vergangenheit die Vertragsparteien aufgefordert, ihr nationales Verfahrensrecht am Maßstab des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus Art. 6 EMRK zu reformieren.104 Es dürfte zu erwarten sein, dass sich nach einem Beitritt zur Konvention über kurz oder lang auch die EU mit einem solchen Ansinnen auseinanderzusetzen haben wird. Auf völkerrechtlicher Ebene scheiden mangels eines Verwaltungsverbundes105 vergleichbare Verbundlösungen für den Rechtsschutz aus.106 Wegen der Verschiedenheit der Phänomene müssen Antworten hier zudem für jede Erscheinungsform internati99

J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung (Fn. 32), S. 373 f. In diese Richtung H. P. Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren (Fn. 28), S. 436 ff. 101 Zu insoweit bestehenden Problemen beispielhaft A. v. Arnauld, Die Europäisierung des Rechts der inneren Sicherheit, JA 2008, S. 327 (333). Dass eine verfassungsrechtliche Pfl icht besteht, Rechtsschutz durch deutsche Gerichte auch gegenüber transnational wirksamen Verwaltungsakten anderer Staaten zu gewährleisten (hierzu S. Burbaum, Rechtsschutz gegen transnationales Verwaltungshandeln, 2003, S. 84 ff., 127 ff., 149 ff.), wird man angesichts der Einbettung des Grundgesetzes in die völkerrechtliche Ordnung eher bezweifeln dürfen. 102 J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung (Fn. 32), S. 374 f. Vgl. auch G. Sydow, Verwaltungskooperation (Fn. 32), S. 292 ff. 103 Unklar bleibt, wo D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1535, 1539) hier Kompensationsmöglichkeiten durch Verfahrensgestaltung sieht. Gegen solche „Verrechnungsmodelle“ zutreffend A. v. Bogdandy/Ph. Dann/M. Goldmann (Fn. 35), German Law Journal 9 (2008), S. 1375 (1389 f.); E. de Wet (Fn. 93), ebd., S. 1987 (1990 ff.). 104 Jüngst Urteil vom 8. 6. 2006, Nr. 75529/01 (Sürmeli/Deutschland), NJW 2006, S. 2389 ff., §§ 97 ff. 105 Zu Ansätzen allerdings Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Fn. 8), S. 640 ff.; A. v. Bogdandy/Ph. Dann (Fn. 43), German Law Journal 9 (2008), S. 2013 (2013 ff.). 106 A. v. Bogdandy (Fn. 79), German Law Journal 9 (2008), S. 1909 (1937). In Rechtsschutzlücken sieht M. Ruffert, Perspektiven (Fn. 66), S. 395 (409) ein allgemeines Kennzeichnen internationaler Verwaltung. 100

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onaler Verwaltung gesondert gefunden werden.107 Individualbeschwerdemöglichkeiten sind sicherlich nur dort unerlässlich, wo der unmittelbare Zugriff auf die Rechtssphäre des Einzelnen erfolgt. Hier lautet die Schlüsselfrage sodann, ob Rechtsschutz zentral oder dezentral gewährleistet wird.108 Mit dem zentralen Rechtsschutz sieht es derzeit nicht gut aus. Solange insbesondere die Vereinten Nationen sich als keinem Gericht unterworfen betrachten, führt an einer Selbstermächtigung nationaler oder anderer Gerichte kein Weg vorbei.109 In der Rechtssache Behrami und Saramati hat sich der EGMR hier 2007 vorschnell aus der Verantwortung gezogen. In seinem Beschluss hat er in einem ersten Schritt die Verantwortlichkeit für das Verhalten von UNMIK und KFOR im Kosovo der UNO zugeschrieben, gestützt auf eine „ultimate authority and control“ – und damit auf eine weitgehend theoretisch bleibende politische Letztverantwortung des UNSicherheitsrates;110 damit ist der Gerichtshof ohne Not von dem ganz überwiegend vertretenen Zurechnungskriterium einer „effektiven Kontrolle“ über die konkrete Operation111 abgewichen, das zumindest in Bezug auf KFOR zu einem anderen Ergebnis hätte führen müssen. In einem zweiten Schritt hat er sodann die „einzigartige“ Verantwortung des UN-Sicherheitsrates für den Frieden und die internationale Sicherheit betont und angedeutet, dass er zumindest bei Maßnahmen, die auf Kapitel VII der UN-Charta gestützt sind, eine Überprüfung am Maßstab der EMRK nicht in Betracht ziehen würde.112 Zu Recht ist dieser Beschluss ganz überwiegend auf Kritik gestoßen.113 107

S. Cassese (Fn. 8), NYU J. of Int’l Law & Pol. 37 (2005), S. 663 (692 f.); D. C. Esty (Fn. 8), Yale Law Journal 115 (2006), S. 1490 (1561); A. v. Bogdandy (Fn. 79), German Law Journal 9 (2008), S. 1909 (1918 ff.). 108 A. v. Bogdandy (Fn. 79), German Law Journal 9 (2008), S. 1909 (1927 f.). 109 D. Dyzenhaus, The Rule of (Administrative) Law in International Law, Law and Contemporary Problems 68 (2005), S. 127 (164); M. Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, ZaöRV 66 (2006), S. 41 (57 ff.); C. D. Classen (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 365 (390); C. Feinäugle (Fn. 49), German Law Journal 9 (2008), S. 1513 (1531 ff., 1539); E. de Wet (Fn. 93), ebd., S. 1987 (2000 ff., insbes. 2003 ff.); R. Poscher, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVDStRL 67 (2008), S. 160 (195). 110 EGMR (Große Kammer), Beschluss vom 2. 5. 2007, Nr. 71412/01 und 78166/01, EuGRZ 2007, S. 522 ff. (§§ 133 ff.). 111 Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr. 31: The Nature of the Legal Obligation Imposed on State Parties to the Covenant, vom 29. 3. 2004, CCPR/C/21/Rev.1/Add.13, § 10 („power and effective control“); Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, Coard u. a. v. USA, Nr. 10.951, Bericht 86/99 vom 29. 9. 1999, § 37; Alejandre Jr. u. a. v. Cuba, Nr. 11.589 („Brothers to the Rescue“), ebd., §§ 23, 25; Detainees at Guantánamo Bay, Entscheidung über vorläufige Maßnahmen vom 12./13. 3. 2002 („authority and control“);Bericht der UN-Völkerrechtskommission, 56. Sitzung (2004), UN Doc. A/59/10 (Supp.), S. 113, Anm. 6 f. zu Art. 5 m. w. N. Zur früheren Rechtsprechung des EGMR selbst D. Lorenz, Der territoriale Anwendungsbereich der Grund- und Menschenrechte, 2005, S. 8 ff., insbes. 15 ff., 19 ff. 112 EGMR (Fn. 110), §§ 146 ff. 113 P. Klein, Responsabilité pour les faits commis dans le cadre d’opérations de paix et étendue du pouvoir de contrôle de la Cour européenne des droits de l’homme, Annuaire français de droit international 53 (2007), S. 43 ff.; A. v. Arnauld, Das (Menschen-)Recht im Auslandseinsatz, in: D. Weingärtner (Hrsg.), Streitkräfte und Menschenrechte, 2008, S. 61 (64 ff.); G. Hafner, The ECHR torn between the United Nations and the States, in: Festschrift für für M. Bothe, 2008, S. 103 ff.; A. Sari, Jurisdiction and International Responsibility in Peace Support Operations, Human Rights Law Review 8 (2008), S. 151 ff.; K. William Watson, Behrami v. France: Constructive Blue Helmets Protect KFOR Nations

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Mutiger war das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina in einem richtungweisenden Urteil aus dem Jahr 2000. Zwar erklärte es das von dem Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft erlassene Gesetz über den Schutz der Staatsgrenzen im Ergebnis für verfassungskonform; es nahm aber für sich in Anspruch, Rechtsakte des Hohen Repräsentanten an der Verfassung zu überprüfen, sofern dieser de facto als Staatsorgan für Bosnien-Herzegowina und nicht als internationaler Amtsträger handle.114 Noch entschiedener schließlich ist im September 2008 der EuGH in der Rechtssache Kadi aufgetreten, in der es um die Überprüfung von EG-Verordnungen ging, mit welchen die mehrfach erwähnten Finanzsanktionen des UN-Sicherheitsrates gegen mutmaßliche Unterstützer von Taliban und Al-Qaida „eins zu eins“ umgesetzt wurden. In der ersten Instanz hatte das EuG hier die Überprüfung noch auf den Korpus zwingenden Völkerrechts beschränkt, weil dieser die Grenze jeder völkerrechtlichen Verpfl ichtung markiere.115 Obschon das kaf kaeske Verfahren von listing und de-listing gute Gründe gegeben hätte, einen Verstoß gegen das ius cogens anzunehmen,116 schien dem Gericht noch der Mut zum letzten Schritt zu fehlen. Der Gerichtshof erklärte in zweiter Instanz die fraglichen Verordnungen für nichtig und beanspruchte ganz offen das Recht für sich, mittelbar auch Akte der Vereinten Nationen an den Unionsgrundrechten zu überprüfen, solange auf UN-Ebene selbst kein adäquater Grundrechtsschutz zur Verfügung stehe.117 form Accountability, Tulane Journal of International and Comparative Law 16 (2007/08), S. 575 ff.; A. Breitegger, Sacrificing the Effectiveness of the European Convention on Human Rights on the Altar of the Effective Functioning of Peace Support Operations, International Community Law Review 11 (2009), S. 155 ff.; M. Milanovic´/T. Papic´, As Bad As It Gets: The European Court of Human Rights’s Behrami and Saramati Decision and General International Law, ICLQ 58 (2009), S. 267 ff. 114 Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowina, Urteil v. 3. 11. 2000, U 9/00, §§ 5 ff., abzurufen unter http://www.ccbh.ba/eng/ (besucht am 8. 7. 2010). Näher C. Stahn, International Territorial Administration in the Former Yugoslavia: Origins, Developments and Challenges Ahead, ZaöRV 61 (2001), S. 107 (166 ff.); A. Rehs, Gerichtliche Kontrolle internationaler Verwaltung: das Beispiel Bosnien und Herzegowina, 2006, S. 119 ff. – Nicht von ungefähr drängt sich hier Georges Scelles Konzept eines dédoublement fonctionelle auf: G. Scelle, Précis de Droit des Gens, Deuxième Partie: Droit Constitutionnel International, 1934, S. 10 ff. 115 EuG, Urt. v. 21. 9. 2005, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649 (Kadi/Rat und Kommission) sowie EuG, Urt. v. 21. 9. 2005, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf u. a./Rat und Kommission). Dazu A. v. Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, AVR 44 (2006), S. 201 ff.; S. Hörmann, Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft? Zu den rechtlichen Folgen einer Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch die EG, ebd., S. 267 ff. M. Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft, EuGRZ 2006, S. 19 ff.; Ch. Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, EuR 2006, S. 426 ff.; Ch. Ohler, Die Verhängung von „smart sanctions“ durch den UN-Sicherheitsrat – eine Herausforderung für das Gemeinschaftsrecht, EuR 2006, S. 848 ff.; U. Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, JZ 2007, 537; J. A. Kämmerer, Die Urteile „Kadi“ und „Yusuf “ des EuG und ihre Folgen, EuR 2008, Beiheft 1, S. 65 ff. 116 A. v. Arnauld (Fn. 115), AVR 44 (2006), S. 201 (211 f.). 117 EuGH, Urt. v. 3. 9. 2008, C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, §§ 279 ff., insbes. § 326. Dazu M. Kotzur, Kooperativer Grundrechtsschutz in der Völkergemeinschaft, EuGRZ 2008, S. 673 ff.; Ch. Ohler, Gemeinschaftsrechtlicher Rechtsschutz gegen personengerichtete Sanktionen des UN-Sicherheitsrats, EuZW 2008, S. 630 ff.; H. Sauer, Rechtsschutz gegen völkerrechtsdeterminiertes Gemeinschaftsrecht? – Die Terroristenlisten vor dem EuGH, NJW 2008, S. 3685 ff.; J. A. Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall „Kadi“: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR

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Ein solcher Ungehorsam riskiert natürlich, das transnationale Projekt zu destabilisieren. Daher ist vor übertriebenem Aktionismus nationaler und regionaler Gerichte zu warnen.118 Ihrer Residualverantwortung für den Schutz des Bürgers auch gegenüber Akteuren und Institutionen transnationaler Verwaltung119 aber müssen diese Gerichte gerecht werden – selbst wenn der UN-Sicherheitsrat zum Schutz des Friedens und der internationalen Sicherheit auf Grundlage von Kapitel VII der UNCharta tätig wird. Generalanwalt Poiares Maduro hat dies in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kadi so gefasst:120 „In der mündlichen Verhandlung hat der Rat die Ansicht vertreten, durch Ausübung seiner Rechtsprechungstätigkeit bezüglich Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane, die sich aus Resolutionen des Sicherheitsrats herleiteten, gehe der Gerichtshof über die ihm zugewiesene Aufgabe hinaus und ‚spreche im Namen der Völkergemeinschaft‘. Diese Aussage geht jedoch eindeutig zu weit. Selbstverständlich hätte eine Entscheidung des Gerichtshofs dahin, dass die angefochtene Verordnung in der Gemeinschaftsrechtsordnung keine Anwendung fi nden könne, wohl bestimmte Auswirkungen auf internationaler Ebene. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Auswirkungen nicht unbedingt negativ sein müssen. Sie sind unmittelbare Folge der Tatsache, dass so, wie die Funktionsweise der Vereinten Nationen derzeit geregelt ist, dem Einzelnen, der eine unabhängige Instanz anrufen will, um angemessenen Schutz seiner Grundrechte zu erwirken, als einziger Weg die Anfechtung innerstaatlicher Umsetzungsmaßnahmen bei einem nationalen Gericht offensteht. Die Möglichkeit einer erfolgreichen Anfechtung dürfte den Sicherheitsrat übrigens kaum überraschen, wurde sie doch vom Analytical Support and Sanctions Monitoring Team des Sanktionsausschusses ausdrücklich in Betracht gezogen.“

Eine solche Inanspruchnahme residualer Kontrollkompetenzen kann, gerade weil sie sich als widerständiger Akt gibt, zugleich die notwendigen Impulse für eine weitere Stärkung der Menschen- und Bürgerrechte auf Ebene der internationalen Verwaltung selbst geben.121

3. Vom Fragezeichen zum Ausrufezeichen Der Bürger kehrt also – wenn auch langsam – zurück. Ob diese Anzeichen schon ausreichen, den Paradigmenwechsel von technokratischer Effizienz hin zur Bürgerperspektive auszurufen, wird man angesichts bestehender Defizite einstweilen noch mit einem Fragezeichen versehen müssen. Bedenkt man, dass die internationalen und europäischen Rechtsgrundlagen zum gegenwärtigen Anti-Pirateneinsatz vor 2009, S. 114 ff.; K. Schmalenbach, Bedingt kooperationsbereit: Der Kontrollanspruch des EuGH bei gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen, JZ 2009 S. 35 ff.; B. Fassbender, Triepel in Luxemburg – Die dualistische Sicht des Verhältnisses zwischen Europa- und Völkerrecht in der „Kadi-Rechtsprechung“ des EuGH als Problem des Selbstverständnisses der Europäischen Union, DÖV 2010, S. 333 ff.; U. Hufeld, Europas Verfassungsgemeinschaft – Staatsrechtliche Perspektive, in: ders./A. Epiney (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2010, S. 33 (52 ff.). 118 A. v. Arnauld (Fn. 115), AVR 44 (2006), S. 201 (209 f.); G. Nolte (Fn. 50), VVDStRL 67 (2008), S. 129 (134). 119 A. v. Arnauld, Rechtsstaat (Fn. 79), § 22 Rn. 63. 120 Schlussanträge v. 16. 1. 2008, Rs. C-402/05 P, Kadi gegen Rat und Kommission, § 38. 121 Vgl. R. Poscher (Fn. 109), VVDStRL 67 (2008), S. 160 (195 f.).

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dem Horn von Afrika organisatorische und militärische Fragen z. T. mit Liebe zum Detail regeln, menschenrechtliche Fragen aber weitgehend aussparen (über eine justizielle Komponente der Mission scheint noch nicht einmal nachgedacht worden zu sein)122 – dann ist noch einiges an Weg zurückzulegen. Umso wichtiger ist es deshalb – und hier weicht das Fragezeichen einem Ausrufezeichen – den Paradigmenwechsel als Auftrag zu begreifen: Es gilt, die erste und zweite Phase der Verwaltungsrechtsentwicklung miteinander zu versöhnen.123 Will man die Errungenschaften der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts – und das heißt: seine rechtsstaatliche „Zähmung“ – nicht aufgeben, ist es notwendig, das Bürgerparadigma in das Europäische und Internationale Verwaltungsrecht zu integrieren.

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Dazu kritisch A. v. Arnauld, Die moderne Piraterie und das Völkerrecht, AVR 47 (2009), S. 454 (471 ff.) m. w. N. 123 In dieselbe Richtung zielt die Aufforderung von G. Biaggini (Fn. 8), VVDStRL 67 (2008), S. 413 (421 ff.), nach einem Ordnungsrahmen für das Internationale Verwaltungsrecht zu suchen.

Richterbilder

Hans Brox Verfassungsrichter – Hochschullehrer – Autor – Mensch1 von

Prof. Dr. Bernd Rüthers, Konstanz I. Ein Fremdling im JöR? Hans Brox war in seiner ersten Berufsphase Richter aus Leidenschaft am Landgericht in Dortmund, und zwar in Zivilkammern wie in Straf kammern. Als Jurist und Richter war er ein „Allrounder“. Auf seiner ersten Professorenstelle in Mainz 1961 (a. o. Professor für Zivil- und Zivilprozeßrecht) konnte er – zum Erstaunen mancher Kollegen – kurzfristig vom Ausfall bedrohte strafrechtliche Lehrveranstaltungen übernehmen. Er hatte 1949 in Bonn mit einer strafrechtlichen Arbeit („Die arglistige Verleitung zur Eheschließung“) promoviert. Im Herzen war er vor allem Zivil- und Zivilprozeßrechtler. Warum also ein „Richterbild“ von ihm im ‚Jahrbuch des öffentlichen Rechts‘? Die vordergründige Erklärung könnte der Hinweis auf sein langes Wirken als Richter am Bundes- und einem Landesverfassungsgericht sein. Sie ist zu einfach. Der eigentliche Grund liegt tiefer. Er war überzeugt von der inneren „Einheit der Rechtsordnung“ als einer notwendigen, leitenden Idee juristischen Handelns. Diese Einheit war für ihn aber nicht, wie oft gelehrt wird, eine vorhandene, gleichsam anwendungsbereite Realität. Er sah sie als eine hermeneutische Daueraufgabe für den Rechtsanwender an. Sie konnte bei der Lösung von Einzelfällen, insbesondere im Bereich der Rechtslücken, nicht gefunden, sondern sie mußte jeweils neu erfunden, also interpretativ hergestellt werden. Für ihn war sie ein Gemeinschaftsprodukt von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Früher als viele andere hatte er erkannt, daß mit dem Vorrang der Grundrechte („Drittwirkungslehre“) und mit den normsetzenden Wirkungen der Rechtspre1 Hans Brox ist im Laufe seines Lebens vielfach gewürdigt und geehrt worden. Zahlreiche Gratulationen, Ehrungen und Nachrufe haben seine Persönlichkeit und sein umfangreiches Lebenswerk gewürdigt. Zur Übersicht verweise ich nur auf die umfassende Darstellung seiner Persönlichkeit und seines Lebenswerkes durch Wilfried Schlüter, auf die ich mich im Folgenden vielfältig stütze: „Bundesverfassungsrichter a. D. Prof. Dr. Hans Brox“ in: Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler. Eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, Band 1, hrsg. v. Stefan Grundmann u. Karl Riesenhuber, Berlin 2007, S. 340–353 mit zahlreichen Nachweisen.

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chung des Bundesverfassungsgerichts als letzter Instanz ein neuer Stufenbau der Rechtsordnung errichtet worden war, der das Zivilrecht aus seiner historisch gewachsenen Vorrangstellung verdrängt hatte. So war es wohl kein Zufall, sondern es entsprach seinem Verständnis vom ‚inneren System‘ des Rechts als einer Wertordnung, daß die bisher gültige Trennung zwischen den Teildisziplinen des Rechts neu durchdacht werden mußte. Darum ist er 1967 seiner Wahl an das Bundesverfassungsgericht gern gefolgt. Die Entscheidung fiel ihm gleichwohl nicht leicht, weil er seine Aufgaben an der Universität liebte und weil er seine westfälische Heimat ungern verließ. Sein Hauptwohnsitz war und blieb Münster.

II. Herkunft und Ausbildung Hans Brox wurde am 9. August 1920 in Dortmund geboren. Seine überzeugt katholische Familie, der Vater war Angestellter in einem großen Industrieunternehmen, das Arbeiterviertel, in dem die Familie wohnte und seine westfälische Herkunft haben ihn nachhaltig geprägt. In diesem Milieu ging er zur „Volksschule“ und zum „Hindenburg-Realgymnasium“. Hier begegnete er dem Religionslehrer Lorenz Jäger, dem späteren Erzbischof und Kardinal in Paderborn, dem er lebenslang freundschaftlich verbunden blieb. Er erlebte die Entwicklung der jungen Weimarer Republik, die Notjahre der Weltwirtschaftskrise nach 1929 mit großer Not ringsum, das Auf kommen und die Machtübernahme der Nationalsozialisten bereits mit wachen Augen in der Perspektive seines tiefgläubigen Elternhauses. Werner Bergengruen hat in seinen Erinnerungen 2 vermutet, in den Lebensgeschichten der geistig Tätigen würden regelmäßig die Wertprägungen der Kindertage fortgeschrieben. Hans Brox bestätigt diese These. Nach dem Abitur 1938 – das achtjährige Gymnasium war die Regel und dem vorgeschriebenen Jahr im „Reichsarbeitsdienst“ studierte er 1939 in Paderborn zwei Semester Theologie und bestand das „Philosophicum“ mit „sehr gut“. 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Obwohl Theologiestudent kam er als „Melder“ zur Infanterie, wurde bald schwer verwundet und war in der Folge als Sanitäter im Lazarettdienst eingesetzt. Das führte zu seiner frühen Entlassung aus der englischen Kriegsgefangenschaft, so daß er schon 1945 mit dem Jurastudium in Bonn beginnen konnte. Die Universität Bonn war – anders als in Köln und Münster – weitgehend unzerstört geblieben und eröffnete als erste. Brox gehörte zu jener „Studentengeneration“ heimgekehrter Kriegsgefangener in fortgeschrittenem Alter, die ohne Lehrbücher und bei karger Verpflegung in den abgetragenen und von Hoheitszeichen befreiten „Uniformklamotten“ die Hörsäle füllte. Auch die Wahl des Jurastudiums war nicht zufällig, sondern aus dem Bedürfnis erwachsen, nach den 12 Jahren einer verbrecherischen Diktatur am Auf bau einer neuen, freiheitlichen und toleranten Staats- und Gesellschaftsordnung mitzuwirken. Die Stimmung an den Universitäten jener Jahre ist heute schwer nachfühlbar. Wer trotz des großen Andrangs das Glück hatte, zugelassen zu werden, genoss es, frei von 2

W. Bergengruen, „Dichtergehäuse“, Zürich 1966.

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staatlicher Bevormundung studieren und wissenschaftlich arbeiten zu können. Die gemeinsame materielle Not schuf eine eigenartige Gemeinsamkeit unter den Lehrenden und Lernenden. Die kümmerlichen Lebensumstände beschleunigten das Studium. Schon nach sechs Semestern legte Hans Brox trotz der für heutige Begriffe katastrophalen Studienbedingungen die Erste Juristische Staatsprüfung mit der Note „ausgezeichnet“ ab. Seine Examensarbeit erschien, was auch damals ein einmaliger Vorgang war, auf Betreiben der Prüfer als Monographie.3 Während seiner Referendarzeit, die er von 1948–1950 im Oberlandesgerichtsbezirk Hamm ableistete, promovierte er in Bonn im Strafrecht mit der Note „magna cum laude“.4 Die Große Juristische Staatsprüfung bestand er 1950 mit der damals selten vergebenen Note „gut“.

III. Richter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit Damit war der Weg frei für die erstrebte Richterkarriere. Wenige Tage nach dem Examen wurde er Gerichtsassessor beim Landgericht Dortmund und bereits 1952 zum Landgerichtsrat, schon fünf Jahre später zum Oberlandesgerichtsrat am Oberlandesgericht Hamm ernannt. Dazwischen lag ein „Abwerbeversuch“. Während der Referendarzeit hatte er zusammen mit einem Freund bei einer Privatbank in Dortmund „gejobbt“, wie man heute sagen würde, war dem kinderlosen Eigentümer der Bank aufgefallen, und dieser hatte den beiden cleveren jungen Leuten die Chefnachfolge in der Bank angeboten. Beide schlugen dieses ungemein lukrative Angebot aus. Beide suchten nicht „das große Geld“. Brox wurde 1954 zusammen mit dem Bonner Privatrechtler F. W. Bosch, Mitherausgeber der Zeitschrift „Ehe und Familie – Zeitschrift für das gesamte Familienrecht“, in der er fortan regelmäßig Aufsätze zum Zivilrecht und Prozessrecht veröffentlichte.5 1953 bekam er am LG Dortmund die die Leitung einer Referendar-Arbeitsgemeinschaft übertragen. Seine didaktische Begabung, die er auch in den straf- und zivilrechtlichen Verhandlungsterminen unter Beweis stellte, war nicht verborgen geblieben. Nach seiner Ernennung zum Oberlandesgerichtsrat behielt er die Leitung einer Arbeitsgemeinschaft; außerdem wurde ihm die Referendarbetreuung im gesamten Oberlandesgerichtsbezirk Hamm übertragen. Mehrere Generationen lernten ihn als gerechten und verständnisvollen „Referendar-Vater“ schätzen. Schon während sei-

3

Brox, Die Einrede des nichterfüllten Vertrages beim Kauf (1948). Brox, Die arglistige Verleitung zur Eheschließung (1949). 5 Brox, Abänderungsklage (§ 323 ZPO) oder Klage auf zusätzliche wiederkehrende Leistungen, FamRZ 1954, 237–240; ders., Welche Einwendungen kann der Beklagte im Abänderungsrechtsstreit gemäß § 323 geltend machen?, FamRZ 1955, 66–68; nochmals: ders., Probleme der Abänderungsklage (§ 323 ZPO) und der „Unterhalts-Zusatzklage“ (§ 258 ZPO) FamRZ 1955, 320–326; ders., Die Vinkulierung des Vermögens im ganzen sowie der Haushaltsgegenstände und ihre Auswirkungen im Zivilprozeß, FamRZ 1961, 281–287. 4

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ner Tätigkeit als Richter veröffentlichte er mehrere Aufsätze zum Zivilrecht und Prozessrecht.6 Seit 1954 war er für mehr als drei Jahrzehnte Mitglied des Justizprüfungsamts für die Erste Juristische Staatsprüfung in Hamm und seit 1956 Mitglied des Prüfungsamts für die Große Juristische Staatsprüfung. Obwohl er an die Prüfl inge hohe Anforderungen stellte, war er wegen seiner fairen und klaren Prüfungsmethode sehr geschätzt. Durch seine Tätigkeit im Justizprüfungsamt lernte er Prof. Dr. Harry Westermann näher kennen, der ihn ermunterte, sich bei ihm zu habilitieren. Westermann war früher Repetitor in Göttingen gewesen, also „Quereinsteiger“ in der akademischen Lauf bahn.

IV. Der universitäre Quereinsteiger Das Angebot reizte Brox trotz der vor ihm liegenden Perspektive einer glänzenden Justizkarriere wegen seiner ausgeprägten wissenschaftlichen Interessen und seiner Freude am akademischen Unterricht. Nach kurzer Überlegung griff er die Anregung auf. Die normale Dauer einer Habilitation lag damals in Münster – und nicht nur dort – zwischen vier und acht Jahren. Das schied für ihn aus. Zur Verwunderung vieler Kollegen ließ er sich 1958 für ganze sechs (!) Monate ohne Bezüge von der Justiz beurlauben. Der gewählte Zeitraum erschien ihnen als vermessen. Brox kehrte pünktlich in sein Richteramt zurück. Kurz darauf legte er der Fakultät in Münster seine noch heute zu Recht beachtete Habilitationsschrift „Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung“ vor,7 mit der er 1959 für Zivilrecht und Zivilprozeßrecht habilitiert wurde. Brox lieferte mit diesem Werk nicht nur eine dogmatisch fundierte Untersuchung über den Zusammenhang von Irrtum, Geschäftsgrundlage und Mängelhaftung. Er bot gleichzeitig eine grundlegend neue, umfassende Sicht gemeinsamer Kriterien der Auslegung von Willenserklärungen und Gesetzen an. Das deutete bereits der Untertitel „Ein Beitrag zur Lehre von der Willenserklärung und deren Auslegung“ an.8 1961 folgte Brox einem Ruf auf ein Extraordinariat für Zivilrecht an der JohannesGutenberg-Universität in Mainz. Ein Jahr später wurde er als ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht an die Westfälische Wilhelms-Universität auf den Lehrstuhl berufen, auf dem vor ihm Alfred Hueck, Rolf Dietz und Wolfgang Hefermehl gelehrt und geforscht hatten. Gleichzeitig wurde er zum geschäftsführenden Direktor des Instituts für Arbeitsund Wirtschaftsrecht (später Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht Abt. I) bestellt. Trotz mehrerer auswärtiger Rufe hat er seiner Universität bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1985 die Treue gehalten. „Lehren aus Leidenschaft“ war ein Lebensprinzip von Hans Brox. Seine Lehrveranstaltungen galten unter den Studenten als legendär. Seine Sprache war auch bei komplizierten Rechtsfragen einfach und für jedermann verständlich. Seine ein6 7 8

Siehe Fn. 5. Brox, Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung, Karlsruhe 1960. Vgl. auch Brox, Fragen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, JZ 1967, 761–767.

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gestreuten praktischen Beispiele, die er oft aus dem Alltag und seiner richterlichen Praxiserfahrung entnahm, förderten die Anschaulichkeit, sein Humor und seine große didaktische Begabung machten die Mitarbeit zum Vergnügen. Das Duo Westermann-Brox machte das Studium des Zivilrechts in Münster zu einem bundesweit bekannten Anziehungspunkt. Aus dem gemeinsamen Seminar ging eine ganze Reihe namhafter Zivilrechtslehrer der Bundesrepublik hervor. Für Hans Brox war die Ausbildung der Studierenden und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses die zentrale Aufgabe. Das spürten die Generationen seiner Hörer und seine zahlreichen Assistenten. Der herausragende Lehrer zog Schüler an. Seinen fünf Habilitanden9 hat er viel Freiheit gelassen und sie vor und nach der Habilitation nach Kräften gefördert. Sie durften und sollten andere Meinungen vertreten als er. Er hat keine „Schule“ begründet aber durch sein Vorbild Verhaltensweisen geprägt. Die Methoden Philipp Hecks und der Wertungsjurisprudenz gewannen von hier aus erneute Bedeutung in der Bundesrepublik, auch wenn das öffentliche Recht und die Obergerichte den methodischen Lippenbekenntnissen des Bundesverfassungsgerichts zur angeblich „objektiven Auslegung“ lange Zeit unreflektiert und kritiklos folgte. Seine Lehraufgaben waren ihm „heilig“. Er ließ sich, auch in Stresssituationen der Doppelexistenz zwischen Karlsruhe und Münster, nie von Mitarbeitern vertreten. Seine Lehre setzte er auch nach der Emeritierung mit großem Erfolg noch 12 (!) Jahre fort. Seinem Mentor Harry Westermann blieb Hans Brox bis zu dessen Tod 1986 freundschaftlich verbunden. Sie hatten methodisch, didaktisch und menschlich viele Gemeinsamkeiten. Schon in seiner erwähnten Habilitationsschrift hatte Brox sich als entschiedener Vertreter der maßgeblich von Philipp Heck begründeten Interessenjurisprudenz erwiesen. Diese Methode bestimmte seine sämtlichen späteren Publikationen. Das gilt in besonderem Maße für seine Lehrbücher, in denen er die Überzeugungskraft dieses rechtstheoretisch-methodischen Ansatzes in den verschiedenen Teilgebieten des Zivilrechts nachwies und in zahlreichen lebensnahen Beispielen plastisch vor Augen stellte. Der Interessenjurisprudenz forderte unter der Führung von Ph. Heck10 jenseits der idealistischen Rechtstheorien des 19. Jahrhunderts die Hinwendung der Rechtswissenschaft zu einem Primat der Lebensforschung und Lebenswertung“. Dieser Grundposition hing mit gleicher Entschiedenheit auch der Mentor von Brox Harry Westermann an.11 Westermann entwickelte die Lehre von Philipp Heck durch die Unterscheidung von „Interesse“ und „gesetzlicher Wertung“ zu noch größerer begriffl icher Klarheit fort im Sinne einer „Wertungsjurisprudenz“.12 Vor dem Hintergrund der 9

Bernd Rüthers, Wilhelm Dütz, Wilfried Schlüter, Friedrich Jülicher und Wolf-Dietrich Walker. Ph. Heck, Begriffsbildung und Intersssenjurisprudenz, Tübingen 1932, S. 17 ff. und passim. 11 Vgl. nur H. Westermann, Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, S. 347. 12 Zuerst H. Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, Münster 1955, S. 14 ff.; ders., Interessenkollisionen und ihre richterliche Wertung bei den Sicherungsrechten an Fahrnis und Forderungen, Karlsruhe 1954, S. 4 ff.; zu Unrecht wird in der Literatur dieser Schritt von der Interessen zur Wertungsjurisprudenz gelegentlich fälschlich K. Larenz zugeschrieben, der insoweit nur zögernd an Westermann angeknüpft hat: K. Larenz, Methodenlehre, 1. Aufl. 1960, S. 123; 6. Aufl. 1991, S. 117 ff. 10

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Lage der deutschen Rechtswissenschaft nach dem Zusammenbruch 1945 und der damals verbreiteten Scheu gegenüber der juristischen Methodengeschichte in Justiz und Jurisprudenz zwischen 1933 und 1945 war das eine brisante Thematik. Historische Methodenfragen wurden in den Fakultäten generell gemieden. Im Kanon der Pfl ichtfächer der Juristenausbildung kam die Juristische Methodenlehre nicht vor. Selbst in Tübingen, dem ‚Geburtsort‘ der Interessenjurisprudenz (Heck/Müller-Erzbach/Rümelin/Stoll), erinnerte man sich kaum der großen Tradition der früheren „Tübinger Schule“.13 Ganz anders in Münster. Auf die Initiative von Hans Brox, unterstützt von Harry Westermann, wurden zwei nichthabilitierte, fachlich herausragende Richter berufen, die zum wissenschaftlichen Ansehen der Münsteraner Fakultät in Forschung und Lehre maßgeblich beigetragen haben, nämlich die des Richters am Bundesgerichtshof Dietrich Reinicke und des Oberlandesgerichtsrates Johannes Wessels. Beide waren überzeugte Anhänger der Interessenjurisprudenz. Dieses Münsteraner Autorengespann (Harry Westermann, Hans Brox, Dietrich Reinicke, Johannes Wessels) brachte in der Folge ein breites Spektrum von juristischen Lehrbüchern in verschiedenen Rechtsgebieten heraus, die durchgehend nach der interessenjuristischen Methode aufgebaut waren. Sie nehmen teilweise bis heute Spitzenstellungen in der Ausbildungsliteratur ein. Das rechtstheoretische Erbe des großen Methodikers Philipp Heck wurde so weit über Münster hinaus in der Lehre wach gehalten. In der Justiz dagegen setzte sich die angeblich „objektive“ Methode der Gesetzesauslegung und Rechtsanwendung durch. Sie hatte sich in der Zeit der „völkischen Rechtserneuerung“ als besonders geeignet erwiesen, wenn es darum ging, neue Wertvorstellungen ohne Eingriffe des Gesetzgebers bei unverändertem Gesetzeswortlaut als „geltendes Recht“ zu verkünden. Das bedeutet die schleichende Auf hebung der richterlichen Gesetzesbindung. Unter der Führung des Bundesverfassungsgerichts14 übernahmen alle obersten Bundesgerichte diese Methode als theoretisches Leitbild ihrer Auslegungspraxis. Seine frühen Vertreter beim Kitzeberger Lager 1935 (Larenz, Michaelis, Siebert, Maunz)15 konnten methodisch auf gleichem Kurs bleiben. Das wirkt bis heute als Tarnmantel für verdeckte richterliche Normsetzungen ohne offene rechtpolitische Begründungen. Bis in die jüngste Zeit hinein sind die fortgesetzten methodischen Blindflüge der Vertreter der „objektiven Methode“ in Theorie und Praxis zu beobachten.

13

Dazu H. Schoppmeyer, Methodenlehre als Lebensaufgabe, Tübingen 2001. BVerfGE 1, 299 (312), std. Rspr., vgl. B. Rüthers, Rechtstheorie, 5. Aufl., Rdnr. 799 ff. 15 Vgl. K. Larenz (Hrsg.) Grundlagen der neuen Rechtswissenschaft, 1935. Dazu B. Rüthers, Entartetes Recht, 3. Aufl. 1994, S. 41–54. Die obersten Bundesgerichte zitieren in Methodenfragen seither die „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ (1960, 6. Aufl. 1991) als die wissenschaftliche Stütze ihrer Praxis. Larenz war der theoretische Lehrmeister der völkischen Rechtserneuerung mit genau dieser Methode. Vgl. dazu nur K. Larenz, Lage und Aufgabe der deutschen Privatrechtswissenschaft, Tübingen 1937; ders. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935; ders., Über Gegenstand und Methode völkischen Rechtsdenkens, Tübingen 1938. 14

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V. Das wissenschaftliche Lebenswerk Der Autor Hans Brox ist eine fast singuläre Erscheinung. Sein Kennzeichen ist die Breite der von ihm aufgegriffenen Themen und Rechtsgebiete. In seinen Monographien und zahlreichen Aufsätzen, Festschriftbeiträgen und Urteilsanmerkungen hat er sich nicht auf einzelne Spezialgebiete beschränkt. In nahezu allen wichtigen Bereichen des Zivilrechts und des Prozeßrechts hat er wegweisende Spuren hinterlassen. Das gilt für alle Bereiche des Bürgerlichen Rechts, für das Arbeitsrecht, das Handels-, Gesellschafts- und Wertpapierrecht und nicht zuletzt für das Zivilprozessrecht. In das für ihn neue Gebiet des Arbeitsrechts arbeitete er sich unmittelbar nach seiner Berufung nach Münster schnell ein. Als erstes großes Werk dazu veröffentlichte er schon 1965, kurz nach seiner Ernennung zum Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, zusammen mit dem Verf. ein Handbuch zum „Arbeitskampfrecht“16 (damals ein neuer Begriff ), das zunächst konkurrenzlos war. Es behandelte das trotz seiner großen sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung gesetzlich nicht geregelte Rechtsgebiet erstmals systematisch in allen materiell- und verfahrensrechtlichen Facetten. Dieses Handbuch erschien 1982 in wesentlich erweiterter zweiter Auflage. Trotz der Fortentwicklung des Arbeitskampfrechts, vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, gilt es auch heute noch als grundlegend. Bereits 1967 erschien die erste Auflage des schon erwähnten Arbeitsrechtslehrbuchs, das bei den Studierenden von Anfang an großen Anklang fand. Abgesehen davon hat sich Brox in zahlreichen weiteren Beiträgen und kritischen Anmerkungen zu höchstrichterlichen Entscheidungen mit Fragen des kollektiven und individuellen Arbeitsrechts befasst, damit die arbeitsrechtliche Rechtsprechung wesentlich beeinflusst und die Entwicklung dieses Rechtsgebiets gefördert. Bei allen seinen wissenschaftlichen Arbeiten orientierte Brox sich immer an seinen Erfahrungen in der Rechtspraxis. Die „reine Theorie“ war ihm gleichgültig bis suspekt. In der freimütigen Diskussion, die er bei seinen Assistenten zur Eignungsbedingung machte, konnte er immer wieder bohrend fragen: Welche Bedeutung hat das für die Praxis? Längere „Konstruktionskontroversen“ erschienen ihm müßig, wenn sie das Ergebnis unberührt ließen. Das führte ihn zu einem kritischen Verhältnis gegenüber dogmatischen Überspitzungen. Mit Ph. Heck war er der Überzeugung, die Jurisprudenz habe dem „Leben“ den realen Bedürfnissen der das Recht suchenden Bürger, nicht den juristischen Dogmen zu dienen. Die Aufgabe der Rechtsdogmatik sah er darin, den Rechtsstoff so aufzubereiten und zu ordnen, dass der Rechtspraxis eine dem Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung ermöglicht und erleichtert wird. Dazu gehörte für ihn primär die sorgfältige Erkundung der Lebens- und der Rechtswirklichkeit. Die praktischen Probleme im Alltag der Rechtsanwendung kannte er aus seiner langjährigen Tätigkeit als Richter im Zivilrecht, im Strafrecht und in der Gerichtsverwaltung am Landgericht und am Oberlandesgericht, später in der Verfassungsgerichtsbarkeit, aus eigener Erfahrung. Er leitete daraus ein tiefes Mißtrauen gegen die 16

Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Ein Handbuch für die Praxis, Stuttgart 1965.

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Besetzung hoher Richterämter allein unter parteistrategischen Gesichtspunkten ab; etwa als in seinem Heimatland Nordrhein-Westfalen ein Präsidentenposten an einem LAG ausschreibungswidrig an eine Person vergeben werden sollte, die noch keinen Tag als Richterin tätig gewesen war. Seine wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen in verschiedenen Rechtsgebieten verwertete er in seinen Publikationen dazu, die Zusammenhänge mit anderen Rechtsdisziplinen aufzuzeigen und deren Erkenntnisse als fernwirkende Wertungen für die konkrete Problemlösung nutzbar zu machen. Eine andere Eigenschaft, die ihn als Autor wie als Hochschullehrer auszeichnete, war seine fast geniale Begabung zur einfachen Darstellung komplizierter Zusammenhänge und Problemverschränkungen. Diese natürliche Fähigkeit zur „Reduktion von Komplexität“ war sein Markenzeichen in der Forschung wie in der Lehre. Er teilte sie in bemerkenswerter Weise mit seinem Mentor Harry Westermann, der schon vor ihm ganze Generationen des juristischen Nachwuchses damit fasziniert hatte, schwierigste und komplizierte Rechtsprobleme ohne Genauigkeitsverlust in einer einfachen und gemeinverständlichen Sprache mit lebensnahen Beispielen darzustellen und auf die zugrundeliegenden Kernfragen zurückzuführen. Überflüssiger Fachjargon war im verhaßt. Die von ihm dann entwickelten Lösungsmuster waren verständlich und durchsichtig. „Geht’s nicht einfacher?“ war seine regelmäßige kritische Frage an Assistenten und Doktoranden. „Was man nicht klar und einfach ausdrücken kann, hat man selber noch nicht verstanden!“ lautete eine seiner didaktischen Grundthesen. Hier liegt u. a. die Ursache für den beispiellosen Erfolg seiner zahlreichen, in ungewöhnlich hohen Auflagen erschienenen Lehrbücher. Generationen junger Juristen haben bundesweit danach gelernt. Der Weg dahin war für ihn selbst eine Entdeckungsreise. Nach seiner Berufung nach Münster lockte es ihn, sich als Autor von Lehrbüchern zu versuchen. Das schien in dem wachsenden Angebot von Lehrmitteln der 60er Jahre nicht ohne Risiko zu sein. Aber seine Lehrbücher, beginnend mit dem Allgemeinen und Besonderen Schuldrecht, wurden von Anfang an von den Studierenden wegen ihrer klaren Sprache und Konzeption sowie der Konzentration auf den wesentlichen Lernstoff breit angenommen. Sie erreichten ganz ungewöhnliche Absatzzahlen und Auflagenhöhen. Das Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs erschien in mehr als dreißig (!) Auflagen. Die Grundrisse zum Allgemeinen und Besonderen Schuldrecht haben ähnliche Rekorde erreicht. Das Lehrbuch zum Erbrecht ist in der 23. Auflage, das zum Handels- und Wertpapierrechts in der 20. Auflage erschienen. Auch das Lehrbuch zum Arbeitsrecht hat inzwischen (zusammen mit Coautoren) 17 Auflagen erreicht. Das erst nach der Emeritierung zusammen mit seinem Schüler Walker verfasste Lehrbuch zum Zwangsvollstreckungsrecht ist in der 7. Auflage erschienen. Hans Brox hat bis 2006 insgesamt 152 Auflagen seiner Bücher allein bearbeitet. Die darin steckende Leistung wird bewußt, wenn man bedenkt, daß manche Fakultäten mit allen Mitgliedern zusammen eine solche Produktivität kaum erreichen. Bis zum Alter von 85 Jahren arbeitete er, zuletzt ohne personellen und technischen Hilfsapparat und trotz geschwächter Schaffenskraft, mit eiserner Energie noch allein an den Neuauflagen einiger seiner Bücher. Eher beiläufig und absichtslos wurde der

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unermüdlich Arbeitende bundesweit zum erfolgreichsten und auflagenstärksten juristischen Lehrbuchautor seiner Epoche. Konkurrierende Kollegen mit weniger Charisma und Erfolg als Lehrer wie als Autoren reagierten gelegentlich irritiert, manchmal auch unverhohlen neidisch und abschätzig. Seine pädagogische Urbegabung blieb auch außerhalb der Universität nicht verborgen. Nach einer eher zufälligen ersten Einladung wurde er zu einer juristischen Standardautorität in der ZDF-Sendung „Wie würden Sie entscheiden?“ Über Jahre hin erläuterte er in insgesamt 24 Sendungen einem Millionenpublikum Rechtsfälle des Alltags. Sein unbestechlicher Blick für Realität und Gerechtigkeit, seine Überzeugungskraft, nicht zuletzt auch sein ebenso trockener wie souveräner Humor, verschafften ihm hohe Einschaltquoten sowie die Zuneigung der Zuschauer. Er machte auch unverständlich erscheinende Gesetze und Entscheidungen durchsichtig.

VI. Der Verfassungsrichter 1. Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (1964–1994) 1964 wurde Hans Brox zum Richter („Wahlmitglied“) am Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen gewählt. Er blieb es bei vierfacher Wiederwahl bis 1994, also 30 Jahre lang. Zahlreiche, auch politisch brisante Entscheidungen hat er unter wechselnden Präsidenten und Richterkollegen als der zuletzt dienstälteste Richter mitgestaltet, darunter die zur kommunalen Gebietsreform in den siebziger Jahren. Sehr schnell erwarb sich der „Zivilrechtler“ Brox auch in den Verfassungsstreitigkeiten und bei den „Öffentlichrechtlern“ durch seine Fachkompetenz, seine innere wie parteipolitische Unabhängigkeit, seine Offenheit und seine Kollegialität auch in kontroversen Fragen höchstes Ansehen. Er lernte schnell die Besonderheit der Bearbeitung politisch aufgeheizter Materien in einem überwiegend politisch besetzten Spruchkörper zu durchschauen und damit umzugehen. Besonders reizvoll und anregend empfand er die Zusammenarbeit mit den öffentlich-rechtlichen Kollegen Klaus Stern und Martin Kriele. Ein literarisches Produkt aus dieser Zeit ist sein Beitrag über die „Rechtskraft und Gesetzeskraft von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs“.17

2. Bundesverfassungsgericht (1967–1975) a) Entscheidungen in seiner Amtszeit Als parteiloser, in der Öffentlichkeit unbekannter Professor des Zivilrechts wurde Hans Brox im Herbst 1967 auch für ihn völlig überraschend zum Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt. Als der Verf. ihm diese Nachricht spät abends – ich 17 H. Brox, in: Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes für das Land Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, in: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 149–152.

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hatte sie von dem persönlichen Referenten des Bundestagspräsidenten unmittelbar nach der Entscheidung des Richterwahlausschusses erhalten – telefonisch mitteilte, verbat er sich irritiert solche nächtlichen Scherze. Brox war Richter im Ersten Senat, der für Verfassungsbeschwerden von Bürgern sowie für Normenkontrollverfahren zuständig ist, in denen die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht wird. Sein Dezernat hatte den Schwerpunkt Sozialrecht. Nach kurzer Einarbeitungszeit gelang es ihm, die vorhandenen Rückstände aufzuarbeiten. Bald war er auch für die kurze Bearbeitungszeit der neu eingehenden Verfahren bekannt. Während seiner Zeit in Karlsruhe fällte der Erste Senat unter der Präsidentschaft von Gebhard Müller (bis 1971) und Ernst Benda zahlreiche grundlegende und richtungweisende Entscheidungen, die das staatliche und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik nachhaltig, zum Teil bis heute, gesteuert haben. Als besonders wichtig seien hervorgehoben: – der „Mephisto-Beschluss“ zum Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und postmortalem Persönlichkeitsschutz18 ; – der „Soraya-Beschluss“ über den Ersatz immaterieller Schäden bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.19 Fundamental bedeutsam erschienen ihm auch – das „numerus clausus-Urteil“20 und – das Hochschulurteil über die „Gruppenuniversität“21. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht unter maßgeblicher Mitwirkung von Hans Brox die Hochschulen davor bewahrt, zu einem Tummelplatz beliebiger politisch-ideologischer Konfl ikte zu werden und ihren Charakter als Stätten freier Forschung und Lehre zu verlieren. Ein besonderes Anliegen war für Brox das erste Abtreibungsurteil seines Senats vom 25. Februar 1975.22 Es ging um den Schutz des werdenden Lebens, dem er sich aus Gewissensgründen streng verpfl ichtet fühlte. Zugleich äußerte der Senat seine Auffassung über den Einfluß des Wandels von Wertvorstellungen in der Bevölkerung auf die Schutzgarantie der nach Art. 1 und 79 Abs. 3 des Grundgesetzes absolut geschützten Grundsätze. Die Begründung des Urteils endet mit Sätzen, die Hans Brox besonders am Herzen lagen: „Dem Grundgesetz liegen Prinzipien der Staatsgestaltung zugrunde, die sich nur aus der geschichtlichen Erfahrung und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen System des 18

BVerfGE 30, 173. BVerfGE 34, 269. Diese beiden Beschlüsse legten die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die den Ausbau und die Dogmatik des Persönlichkeitsrechtes in allen Teilgebieten des Rechts bis heute. 20 BVerfGE 33, 303. 21 BVerfGE 35, 79. Durch das Hochschulurteil wurde das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vom 26. Oktober 1971 für verfassungswidrig erklärt, nicht weil hierdurch die Gruppenuniversität eingeführt wurde, sondern weil es Hochschullehrern, Wissenschaftlichen Mitarbeitern und Studenten in verschiedenen Universitätsgremien den gleichen Stimmanteil einräumte. Damit konnten die Hochschullehrer auch in Fragen von Forschung und Lehre von den anderen Gruppen überstimmt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat derartige Regelungen mit der durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützten Wissenschaftsfreiheit für unvereinbar erklärt. Damit war geklärt, dass die von Teilen der Studierenden vertretene Forderung nach einer „Viertelparität“ mit Art. 5 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren ist. 22 BVerfGE 39,1. 19

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Nationalsozialismus erklären lassen. Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaft über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auch auf das Leben des Einzelnen grundsätzlich nichts bedeutete, hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits früh ausgesprochen hat (BVerfGE 2, 1 [12]), die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen, auch dem scheinbar sozial „wertlosen“, unabdingbar fordert und der es deshalb ausschließt, solches Leben ohne rechtfertigenden Grund zu vernichten. Diese Grundentscheidung der Verfassung bestimmt Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechtsordnung. Auch der Gesetzgeber ist ihr gegenüber nicht frei; gesellschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden (BVerfGE 1, 14 [36]). Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen – falls er überhaupt festzustellen wäre – würde daran nichts ändern können . . .“ 23

Die Entscheidung war im Senat umstritten und erging mit einem Sondervotum der Mitglieder Rupp-von Brünneck und Dr. Simon.24 Das zweite Abtreibungsurteil, das vom Zweiten Senat entschieden wurde, hat in Begründung und Ergebnis diese Aussagen relativiert.25 Gleichwohl ist das Urteil von 1975 nach wie vor nicht nur für den Schutz des werdenden Lebens und für die rechtliche Regelung der künstlichen Befruchtung bedeutsam. Es grenzt vor allem die Bedeutung des schwankenden Wandels flüchtiger, oft medial inszenierter gesellschaftlicher Wertvorstellungen auf die Schutzgarantien unveränderbarer Grundwerte der Verfassung ganz in der Intention von Hans Brox angemessen ein.

b) Sein Richterverständnis 1970 wurde in § 30 Abs. 2 BVerfGG den Mitgliedern des jeweiligen Senats Möglichkeit eines Sondervotums eingeräumt. Seitdem kann den Entscheidungen des BVerfG ein Minderheitsvotum mit der Signatur der abweichenden Richterstimmen beigefügt werden. Die Zahl und Bedeutung der Minderheitsvoten des BVerfG hat inzwischen zugenommen.26 Dabei lassen sich Koalitionen bestimmter Sondervotanten beobachten, wie etwa zwischen H. Simon und W. Rupp-v. Brünneck nicht nur im Abtreibungsurteil.27 Für sein Verständnis der Rolle als Richter am Bundesverfassungsgericht ist es kennzeichnend, dass Hans Brox während seiner Zugehörigkeit zum Ersten Senat nie ein „dissenting vote“ abgegeben hat, wenn er mit Entscheidungen der Senatsmehrheit nicht einverstanden war. „Der Richter redet im Urteil“, war seine Devise. Ein Grund war seine ausgeprägte Bescheidenheit. Er mied die öffentliche Selbstdarstellung. In einem kollegialen Spruchkörper überstimmt zu werden, 23

BVerfGE 39, 67 f. (Hervorhebung vom Verf.). BVerfGE 39, 69 ff. 25 BVerfGE 88, 203. Es erging am 28. Mai 1993, also nach der Wiedervereinigung und unter einschneidend veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. In der DDR war die Abtreibung in den ersten drei Monaten straffrei gewesen. 26 Vgl. Oliver Lembcke, Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2007. 27 O. Lembcke wie vorige Fußnote S. 381 ff. 24

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war für ihn eine geläufige richterliche Erfahrung. Zugleich hatte er die Autorität des Gerichts im Blick. Für ihn war es befremdlich zu sehen, daß es Richterkollegen gab, die sich öffentlich zu bereits ergangenen Entscheidungen ihres Senats äußerten, manchmal sogar noch Begründungen nachzuschieben versuchten, von denen im Text des Urteils nichts zu finden war. Erst Recht fand er es unpassend bis ungehörig, wenn Richter, wie es immer häufiger geschah, in den Medien, etwa in SPIEGELArtikeln, zu noch ausstehenden Streitfragen in ihrem Zuständigkeitsbereich Stellung nahmen oder ungefragt rechtpolitische Forderungen an die Gesetzgebung erhoben. Mit Befremden erlebte er, daß in den 90er Jahren die amtierende Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Vorträge hielt, in denen sie für eine kleine Umdeutung des Begriffs der Familie in Art. 6 Grundgesetz eintrat: Sie wollte im Wege der Verfassungsauslegung die Gleichstellung nichtehelicher Lebensabschnittspartnerschaften mit der Ehe ermöglichen. Der nachfolgende Präsident ist überzeugt: „. . . man erwartet also von mir, daß ich mich als Präsident . . . zu Grundsatzfragen der Verfassungspolitik (!) äußere. All dies dient der Präsenz und dem Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit.“28 Daran wird man zweifeln dürfen. Wen wundert es noch, daß der Erste Senat jetzt den Art. 6 Abs. 1 GG neu gefaßt hat: Die Ehe steht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften stehen unter dem gleichen Schutz.29 Das verfassungsgesetzlich vorgeschriebene Abstandsgebot zwischen der Ehe und anderen Formen der Partnerschaft wurde richterrechtlich liquidiert. Brox sah im Bundesverfassungsgericht einen Hüter der Verfassung, nicht ein Instrument der Richter zu eigenmächtigen Verfassungsänderungen. Diese Form des „Richterstaates“ hielt er für eine Verirrung. Seine Erfahrungen und Einsichten aus der Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht faßte er in drei Festschriftbeiträgen zusammen. Sie behandeln die Zulässigkeit der erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht 30, Probleme der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde31 und Rechtsproblemen bei richterlichen Abstimmungen32.

VII. Der Mensch Als Richter wie als Rechtslehrer war Hans Brox eine singuläre Erscheinung. Weder seine außergewöhnlichen berufl ichen Erfolge, noch die vielfachen Ehrungen und Auszeichnungen haben seine Bescheidenheit, seine Liebenswürdigkeit und seine 28 29

H.-J. Papier in FAZ vom 19. 1. 2010, S. 3. BVerfG, Beschluß vom 7. 7. 2009 – 1 BvR 1164/07, JZ 2010, 37 mit Anm. Chr. Hillgruber JZ 2010,

41. 30 Brox, Zur Zulässigkeit einer erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht, in: Leibholz/Faller u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, 1974, S. 809–826. 31 Brox, Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Auslegungsschwierigkeiten bei § 90 I BVerfGG, in: Wilke/Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein (1977), S. 75–88. 32 Rechtsprobleme bei Abstimmungen beim Bundesverfassungsgericht, in: Ritterspach/Geiger (Hrsg.), Festschrift für Gebhard Müller (1970), S. 1–20.

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christlich geprägte Menschlichkeit verändert. Festschriften hat er sich mehrfach entschieden verbeten. Seine Besonnenheit und Sachlichkeit sicherten ihm den Respekt auch dort, wo er in Sachfragen überzeugt und unbeirrt an abweichenden Meinungen festhielt. Die kollegialen Beziehungen litten darunter regelmäßig nicht, weil ihm jede Überheblichkeit oder Rechthaberei fremd waren. Die Studierenden haben ihn auch in den stürmischen Jahren nach 1967 immer respektiert und geschätzt, auch wenn sie nicht selten anderer Meinung waren. Hans Brox hat sich, anders als viele Kollegen im universitären und gesellschaftlichen Umfeld, nie aus Opportunismus den wechselnden Zeitströmungen angepasst. Für ein offenes Gespräch hatte er immer Zeit. Zu allem war er ein heiterer, humorvoller Gesellschafter. Er liebte ein Glas Wein und eine Zigarre in fröhlicher Runde, spielte gern Skat mit Kollegen und Assistenten, erheiterte sich, wenn ein Gerichtspräsident ungern verlor. Er las gern und viel theologische Neuerscheinungen und Romane der Zeit. Daneben war er an den heimatlichen Dortmunder Sportarten, Fußball und Sechs-Tage-Rennen, mit überraschender Sachkenntnis interessiert. Aus Mainz brachte er das Vergnügen am politisch-kritischen Karneval mit. Sein gastliches Haus, von der Gattin Ida-Maria liebevoll geführt, war für viele Ratsuchende, Schüler und Freunde stets offen, ein Ort der Hilfsbereitschaft, der Zuwendung und Ermunterung. Die zunehmenden Altersbeschwerden und Krankheiten der letzten Jahre ertrug er klaglos. Seinem Wunsch gemäß starb er, umsorgt von seiner Frau, im eigenen Haus. Seine Kollegen und Freunde, seine zahllosen Schüler aus mehreren Generationen werden ihn vermissen. Ihnen und zahllosen anderen, die ihm begegneten, bleibt er in seiner unerschütterlichen Grundsatztreue, seiner warmherzigen Zuwendung und Hilfsbereitschaft unvergessen. Und zu alldem: Er war einer der Großen der deutschen Rechtswissenschaft und Justiz.

Die Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen

Mein Leben als Jurist von

Prof. Dr. Dres. h.c. Karl Doehring, Universität Heidelberg Meine Lebenserinnerungen („Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union“, WJS-Verlag, Berlin, 2008) beschreiben die Phasen meines nun mehr als 90 Jahre währenden Lebens, die Jugend unter der Weimarer Verfassung, die Zeit des Nationalsozialismus, den Krieg, die lange Kriegsgefangenschaft, das Studium und die wissenschaftliche Arbeit als Hochschullehrer. Das alles ist nachzulesen, aber hier nun soll es speziell um meinen Lebensweg als Jurist gehen. Der Entschluss, die Rechtswissenschaft zu meinem Lebensinhalt zu machen, kam relativ spät. Mit 18 Jahren, im Jahr 1937 wurde ich Soldat, denn ich wollte die damals zweijährige Dienstzeit sobald als möglich absolvieren, um dann zu studieren. Welches Fach ich wählen würde, war damals noch völlig unklar. Meine Eltern dachten an Theologie, ich selbst neigte vielleicht ein wenig zur Medizin. 1945, zur Zeit der Kapitulation des Deutschen Reiches, befand ich mich als Offizier der Rommel-Armee in einem Kriegsgefangenenlager in der ägyptischen Wüste, nunmehr 26 Jahre alt. Obwohl wir erst drei Jahre später (1948) in die Heimat entlassen wurden, war uns klar, dass wir nun konkret daran denken mussten, was für einen Beruf wir ergreifen wollten. Nach vielen Gesprächen mit Offizierskameraden, die als Reservisten im Zivilberuf Juristen waren, entschloss ich mich, auch diesen Weg einzuschlagen, wenn ich nach Hause käme. Mein Vater war Jurist gewesen, ebenso wie mein väterlicher Großvater. Mein Vater war in der nationalsozialistischen Zeit zunächst als Regimegegner im Konzentrationslager Oranienburg eingesperrt und später in vielen politischen Prozessen gegen das Regime tätig gewesen. Seine aufrechte rechtsstaatliche Gesinnung war mir bis heute ein Vorbild. Mein späterer Freund und Kollege, Prof. Ulrich Scupin, richtete im Gefangenenlager rechtswissenschaftliche Kurse ein, unterstützt von Reserveoffizieren, die vor dem Kriege als Richter, als Anwälte oder juristische Verwaltungsbeamte tätig gewesen waren. Sie alle waren bereit, Unterricht zu erteilen und zwar gemäß ihren früheren Tätigkeiten. Die britische Gewahrsamsmacht ließ es zu, dass wir – wenn auch spärlich – deutsche Gesetzestexte bekamen, die von Deutschland mit Gefangenenpost übersandt wurden. Ulrich Scupin lehrte Staats- und Völkerrecht, wie ich selbst später auch als Hochschullehrer. Die Praktiker lehrten Zivilrecht, Strafrecht und Verwaltungsrecht in den Grundzügen, aber doch recht intensiv. Dieses „Studi-

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um“ in der Wüste wurde später auf Antrag Scupins von den deutschen Hochschulen anerkannt. Er gab uns Bescheinigungen über unsere Leistungen in der Gefangenschaft mit auf den Weg, und so ausgerüstet begann ich mein ordentliches Studium in Heidelberg, was dann nur fünf Semester dauerte, da mein „Wüstenstudium“ angerechnet wurde. Als ich 1948/49 in Heidelberg immatrikuliert wurde und so mein dortiges Studium begann – nunmehr fast 30 Jahre alt – war ich selbst erstaunt, was ich schon alles „wusste“. So intensiv war das Studium in der Gefangenschaft gewesen. Die Heidelberger Fakultät bestand damals aus etwa 10 Professoren, die in den von Kriegsteilnehmern überfüllten Räumen ihre Vorlesungen, Übungen und Seminare abhielten. Das Zivilrecht beherrschte ich bald recht gut, und auch das Verwaltungsrecht, aber mein besonderes Interesse galt damals dem Strafrecht und der Rechtsphilosophie, vertreten durch Eberhard Schmidt und Karl Engisch. Vor allem waren es die menschliche Nähe und die menschlichen Grundfragen dieser Disziplin, die mich anzogen. Die beiden Professoren – Schmitt und Engisch – waren in Klarheit und auch in Hintergründigkeit ihrer Darstellung kaum zu übertreffen. Ihnen verdanke ich wohl, dass ich als einer der Spitzenkandidaten das erste Staatsexamen 1951 ablegte. Das öffentliche Recht, dem ich mich später widmete, lehrte Walter Jellinek, brav und bieder, sicher auch besonders solide, aber doch ohne Faszination. Ernst Forsthoff lernte ich erst in der letzten Phase meines Studiums kennen, als er wieder in seinen Lehrstuhl eingesetzt wurde. Diese Begegnung war so eindrucksvoll, dass ich mich nun ganz dem öffentlichen Recht, vor allem dem Verfassungsrecht zuwandte. Das Grundgesetz war gerade in Kraft getreten und Forsthoff richtete ein Privatseminar ein, dessen Bedeutung für meine eigene spätere Arbeit ausschlaggebend wurde, vielleicht nicht so sehr im Hinblick auf Wertungs- und Denkergebnisse, aber jedenfalls in Bezug auf die Methode unabhängigen Nachdenkens. Häufig waren wir nicht der gleichen Auffassung, aber die Art der Auseinandersetzung war vom gegenseitigen Respekt, Vertrauen und hoher geistiger Partnerschaft geprägt. Mir war oft unklar, warum Forsthoff so stark an seinem Doktorvater Carl Schmitt hing und ihn zu bewundern schien, waren doch seine eigenen Gedanken über Staat, Gesellschaft und Soziologie weiter gespannt als die seines nur an Machtfragen interessierten Lehrers. Ich habe diese merkwürdige Anhänglichkeit zu ergründen versucht, aber doch nie ganz begriffen. Forsthoff ging es um den Staat als menschliche Schicksalsgemeinschaft, Carl Schmitt hingegen ging es um die Macht im Staat. Forsthoff ging es um den Wert des Staates, seine kulturelle Eigenart, seine Bedeutung für den Bürger, aber Carl Schmitt ging es um den Machthaber und nicht um Sinn und Zweck seiner Position. Je mehr ich aber über Carl Schmitt las, desto unverständlicher wurde mir diese „Kumpanei“ zweier Gelehrter. Forsthoff vermied es auch, soweit er konnte, Begegnungen zwischen Carl Schmitt und mir selbst zu fördern, denn er kannte die Lebensgeschichte meiner Familie und befürchtete wohl persönliche Auseinandersetzungen. Noch vor dem Referendarexamen empfahl Forsthoff seinem Kollegen Karl Bilfi nger, mich als Assistenten am wiedererrichteten Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht anzustellen. Dieses Institut war noch im Auf bau, und ich musste meine Arbeit zwischen Referendariat und Assistenz aufteilen, weshalb sich auch meine Promotion hinauszog, sodass ich sie erst nach dem zweiten Staatsexamen (1953) im Jahre 1956 fertig stellen konnte. Als Dissertationsthema hat-

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te ich Forsthoff vorgeschlagen, über die „Pfl icht des Staates zur diplomatischen Protektion“ zu schreiben. Noch davor publizierte ich zusammen mit dem nun amtierenden Institutsdirektor, Hermann Mosler, eine Abhandlung über die Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland, die ich deshalb ausarbeiten konnte, weil Mosler als vormaliger Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes durch Hallstein Zugang zu den entsprechenden Akten hatte. Das Dissertationsthema schlug ich Forsthoff vor, weil die Fragestellung nahezu nirgends behandelt worden war. Die Arbeit erschien 1957 und ist bis heute aktuell und viel benutzt. Sie gilt als Standardwerk für die in ihr enthaltenen Fragestellungen. Die Untersuchung war breit rechtsvergleichend angelegt und ihr Ergebnis klärte eine Rechtsfrage, die, etwa im berühmten Eichmann-Prozess, immer wieder eine Rolle spielte. Nach meiner und auch dann später von der Gerichtsbarkeit übernommenen Auffassung besteht kein subjektives Recht auf Schutz durch den Heimatstaat, durchaus aber ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Bald nach dem zweiten Staatsexamen erhielt ich vom Auswärtigen Amt das Angebot, dass ich als Vortragender Legationsrat dort eintreten könne, ohne Karriereausbildung. Hermann Mosler hatte mich empfohlen, da diese Stelle in der Rechtsabteilung zu besetzen war. Ich besprach dieses Angebot mit Ernst Forsthoff, der mir dann aber anbot, die Betreuung einer Habilitationsarbeit zu übernehmen, und ich folgte seiner Aufforderung, blieb als Referent am Max-Planck-Institut, dessen Verwaltung ich dann später auch übernahm. Wieder hatte ich meine Arbeit aufzuteilen zwischen Forschung am Institut und Habilitation an der Fakultät. Als Habilitationsthema schlug ich Forsthoff vor, über die Auslegung des Artikels 25 des Grundgesetzes zu schreiben (Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht), und wieder war die Untersuchung eine solche, die bisher nicht vorgenommen worden war. Die Arbeit war die Grundlage für alle späteren Untersuchungen über die Auswirkung der Übernahme des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts in die deutsche Verfassung. Als ich im Jahre 1962 habilitiert wurde, erhielt ich im gleichen Jahr einen Ruf an die Universität Göttingen. Die Heidelberger Fakultät ließ mich wissen, dass ich im Falle der Ablehnung sogleich einen Ruf nach Heidelberg erhalten würde, da so eine Hausberufung nicht vorlag. Doch ich lehnte beide Rufe ab, denn ich hatte damals das Gefühl, dass ich noch eingehender in der Forschung der Max-Planck-Gesellschaft arbeiten sollte, ehe ich die volle Verantwortung für einen Lehrstuhl übernehme. Die langen Jahre im Krieg und der Kriegsgefangenschaft waren noch aufzuholen. Ich besprach meine Lage mit dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Adolf Butenandt, der mir anbot, ich könne doch zunächst als wissenschaftliches Mitglied bei der Gesellschaft bleiben. Diese Ernennung wurde vollzogen und gleichzeitig diejenige als Honorarprofessor an der Fakultät. In den folgenden Jahren lehrte ich an der Fakultät deutsches Staatsrecht, allgemeine Staatslehre, Verwaltungsprozessrecht und Völkerrecht, während ich gleichzeitig Forschungsarbeiten am Max-Planck-Institut durchführte. Als im Jahr 1967 Ernst Forsthoff in den Ruhestand treten wollte, bat mich die Heidelberger Fakultät, seine Nachfolge anzutreten. Gleichzeitig eröffnete mir Hermann Mosler, dass ich auch in der Position eines Co-Direktors am Institut bleiben könne, allerdings wolle er die erste Direktorstelle und so die Letztverantwortung für das Institut doch behalten. Ich nahm dann den Ruf an die Fakultät als ordentlicher

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Professor und Nachfolger Forsthoffs an, blieb aber gleichzeitig wissenschaftliches Mitglied des Instituts. So hatte ich nun in völliger wissenschaftlicher Unabhängigkeit alle Arbeitsmöglichkeiten an der Fakultät und auch natürlich volle acht Stunden Lehre zu übernehmen. Doch blieb so auch die Forschungsmöglichkeit an dem MaxPlanck-Institut im vollen Umfang erhalten. Allerdings veränderte ich inhaltlich das Arbeitsprogramm von Forsthoff insoweit als nunmehr mein wissenschaftlicher Schwerpunkt nicht im Verwaltungsrecht lag, sondern verstärkt im Staatsrecht und vor allem im Völkerrecht, denn Mosler, der bisher das Völkerrecht vertreten hatte, wechselte als Richter an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Im Jahr 1980 übernahm ich zusammen mit Jochen Frowein und Rudolf Bernhardt das Direktorium des Max-Planck-Instituts, behielt aber meinen Lehrstuhl in der Fakultät im vollen Umfange. Dort war ich dann zweimal als Dekan tätig und für lange Jahre Mitglied des kleinen Senats der Universität. Bevor ich näher auf den wissenschaftlichen Ertrag meiner Arbeiten eingehe, komme ich nochmals zurück auf die erste Nachkriegszeit und auf die wissenschaftlichen Probleme, die damals herrschten. Noch heute denke ich oftmals darüber nach, warum die Hochschullehrer in ihren Vorlesungen die NS-Zeit und das damals herrschende Rechtssystem kaum erwähnten. Die meisten von ihnen waren Parteimitglieder gewesen, hatten in der NS-Zeit das damals geltende Recht gelehrt und kannten also die Wende von der Weimarer Verfassung zur nationalsozialistischen Verfassung. Aber sie lehrten doch so als ob die Rechtswissenschaft mit 1945 und insbesondere mit Erlass des Grundgesetzes begonnen hätte. Niemals hörte man in den Vorlesungen ein Wort darüber, wie es denn zum nationalsozialistischen Staat gekommen sei. War das der Ausdruck einer Art von Beschämung oder des schlechten Gewissens? Das wäre nicht nötig gewesen, denn ich hatte selbst erlebt, wie die Rechtsordnung in der Weimarer Republik hineinglitt in das NS-Regime, wie – zunächst – viele guten Glaubens waren und sein konnten, dass es mit Deutschland nun aufwärts gehen werde. Zwar war ich, wie ich in meinen Lebenserinnerungen geschrieben habe, belehrt durch das Schicksal meiner eigenen Familie, die Inhaftierung meines Vaters und die bis zum Kriegsende dauernde politische Verfolgung, aber ich hatte auch erlebt, wie 1933 zunächst eine begeisterte Erleichterung in großen Teilen des Volkes empfunden wurde, und wie man hoffte, schwere Zeiten der Weimarer Republik überwunden zu haben. Aber kaum einer dieser „Transitprofessoren“ sprach darüber, obwohl das gerade sie glaubwürdig gemacht hätte. Ich habe so viele von Ihnen persönlich kennengelernt, dass ich meine, das so behaupten zu können. Sie alle lehrten nun – exzellent – das „neue“ Recht, aber meist ohne genügend Kontakt zur Vergangenheit. Viele kamen auf die Weimarer Verfassung zurück, aber dann führten sie gleich ein in einen Neubeginn der Staatsordnung von 1949. Die Gründe für dieses Verhalten lassen sich aufzeigen, aber ich will das hier nicht wiederholen, was ich darüber in meinen Lebenserinnerungen geschrieben habe, sondern nur nochmals bedauern. Die jüngeren Professoren hatten es leichter, wie etwa Klaus Stern, Roman Herzog, Günter Dürig und andere, insbesondere diejenigen, die wie ich so spät aus dem Krieg kamen. Vielleicht – und viele haben das so gesehen – war dieses Verschweigen der NS-Zeit einer der Gründe für die seit 1967 beginnenden Studentenunruhen. Aber auch die Studenten fragten nicht danach, wie es einmal war und wie es dazu kam. Ich habe in meinen Vorlesungen ab 1962 diese Fragen nie ausgelassen

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und hatte es auch nicht nötig angesichts meiner Vergangenheit. Ich will daher auch keine Anklage erheben, sondern nur feststellen, dass es besser gewesen wäre, die Zeitzeugen wären offener gewesen, besser für die Rechtswissenschaft und damit für unser Volk. Etwa 1967 begannen die Unruhen an der Heidelberger Universität. Ihre Gründe wurden of behandelt und auch von mir dargestellt (vgl. Meine Lebenserinnerungen), sodass ich darauf nicht noch einmal eingehen will, nur ihre Wirkung auf die wissenschaftliche Arbeit soll erwähnt sein. Die Kritik der revolutionierenden Studenten – letztlich nur eine kleine Gruppe – richtete sich nicht allein gegen den „Muff von 100 Jahren“, sondern es wurde auch angemerkt, dass die Ordinarien auch wissenschaftlich nichts als nur Kümmerliches zu bieten hätten. Ich war in dieser Zeit auch Dekan und fühlte mich für die Fakultät und ihre Reputation mit verantwortlich. Daher vertrat ich den Standpunkt, dass man gerne unsere hochschulpolitische Haltung kritisieren möge, dass aber ein berechtigter Vorwurf des Nachlassens unserer wissenschaftlichen Arbeit nicht solle erhoben werden können. Trotz aller Turbulenzen, die viel Arbeitskraft aufzehrten, begann ich damals die erste Auflage meines Lehrbuchs über das deutsche Staatsrecht zu schreiben, die dann 1976 publiziert wurde (3. Aufl. 1984). Wegen meiner Arbeiten am Max-Planck-Institut wurde dieses Lehrbuch reichhaltig mit Ausführungen über die Verbindung von Völkerrecht und Verfassungsrecht und also Rechtsvergleichung ausgestaltet. Hans-Peter Ipsen bemerkte dann in einer alle damaligen Lehrbücher über das Verfassungsrecht behandelten Ausarbeitung mein Buch sei das vielleicht nicht vollständigste, aber doch wohl geistreichste, ein Lob, das, wie man sich denken kann, mich zu weiteren Monographien anspornte. Eine Fortsetzung dieses Lehrbuchs über das Verfassungsrecht nahm ich nicht mehr vor als die Wiedervereinigung Deutschlands sich vollzog. Ich hätte es doch in mancherlei Hinsicht ganz neu bearbeiten müssen, aber da Hermann Mosler als Richter an den Internationalen Gerichtshof berufen wurde und so in der Fakultät nicht mehr tätig war, oblag mir die volle Lehre im internationalen Recht, aus der später mein Lehrbuch über das Völkerrecht (2. Aufl. 2004) hervorging. Gleichzeitig publizierte ich drei Auflagen der Allgemeinen Staatslehre (3. Aufl. 2004), da ich die Verbindung zur Rechtsvergleichung nicht aufgeben wollte. So habe ich im Laufe meiner Lehrtätigkeit auf allen drei Gebieten, denen ich meine Lehre widmen konnte und musste, jeweils ein Lehrbuch geschrieben. Alle diese Monographien sind aus einer Hand und ohne Mitarbeiter konzipiert, was den Vorteil hatte, dass sie auch keine Widersprüche in sich selbst aufweisen, wie ich sie manchmal in Sammelwerken fand. Die Allgemeine Staatslehre wurde dann in die türkische und auch in Brasilien in die portugiesische Sprache übersetzt. Diese Lehrbücher entstanden und wurden fortgeführt nach meiner Emeritierung im Jahre 1987. Im Laufe meiner aktiven Vorlesungszeit, die allerdings erst mit meinem 80. Lebensjahr endete, und also erst 12 Jahre nach meiner Emeritierung – ich hielt noch nicht nur in Heidelberg, sondern auch in Mannheim und Saarbrücken Lehrveranstaltungen ab – fiel mir gerade in den letzten Jahren auf, dass manche jüngere Wissenschaftler im juristischen Problemdenken kritikloser wurden als das vorher der Fall war. Man neigte dazu, höchstrichterliche Entscheidungen, wie diejenigen des Bundesverfassungsgerichts oder des Internationalen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs, als eine Art von Evangelium zu werten, jenseits dessen eine Diskussion

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sich erübrige. Dagegen habe ich immer angekämpft, etwa wenn im Kreise jüngerer Mitarbeiter geäußert wurde, im Europarecht sei eine problematische Frage noch ungeklärt, da der Europäische Gerichtshof noch nicht entschieden habe, dass aber nach einer solchen Entscheidung der Fall „erledigt“ sei. Oft wurde ich dabei wissenschaftlich ärgerlich und wies auf die Freiheit der Wissenschaft hin, der Kritik geradezu obliege. Ich hoffe, dass diese Einstellung sich wieder ändern wird, und die Art der Diskussionen sich wieder beleben kann. Auch als ich nach meiner Emeritierung in den USA (Atlanta, Emory University) für kurze Zeit einen Lehrstuhl innehatte, machte ich eine ähnliche Erfahrung. Die juristische Lehre, die sich am System des case-law entwickelt hatte, verleitete die Studenten gerade dazu, den „Fall“ mit der Gerichtsentscheidung als erledigt anzusehen, aber nicht diese Entscheidung dogmatisch und methodisch zu kritisieren. Ich war dann sehr erfreut, wie offen und ermutigt die amerikanischen Studenten sich in dieser Richtung beeinflussen ließen. Meine Forschungsarbeiten in den langen Jahren meiner Tätigkeit waren weitgehend geprägt von dem Umstand, dass ich schon 1971 zum Mitglied des Institut de Droit International gewählt wurde. Die im Völkerrecht wohl bedeutendsten Juristen gehörten diesem Institut damals weltweit an. Die zu dieser Zeit dort als deutsche Mitglieder tätigen Kollegen waren: Wilhelm Wengler, Friedrich August von der Heydte, Hermann Mosler, Fritz Münch, Erich Kaufmann. Mit 3 gegen 2 Stimmen wurde ich von der deutschen Gruppe als sechstes Mitglied zur Wahl vorgeschlagen, die dann in Zagreb vollzogen wurde. Heute bin ich dort noch als Membre Honoraire tätig. Leider hat die Bedeutung dieser internationalen „Akademie“ doch etwas abgenommen, da die International Law Commission der Vereinten Nationen ihre wissenschaftliche Arbeit, wenn auch durch Staatsvertreter, weitgehend übernommen hat. In den langen Jahren war ich im Institut de Droit International recht aktiv tätig, so auch als Berichterstatter in Fragen des Auslieferungsrechts (1983, Cambridge GB). Die Arbeiten der Rechtsvergleichung brachte es mit sich, dass ich aktiv an der Verfassungsausarbeitung einer Reihe von fremden Staaten teilnahm. So habe ich Anfang der 90er Jahre die Verfassung von Südafrika halb offi ziell mitberaten, und ebenso die Verfassung von Namibia. In beiden Fällen war es offensichtlich, dass es den Verfassungsgebern schwer fiel, gleichzeitig die Verfassungskonzeption kontinental-europäischer Staaten mit Vorstellungen aus dem common law zu verbinden, so dass in gewisser Weise Mischformen entstanden, deren Probleme in einem nicht immer glücklichen Methodensynkretismus bestanden, was sich zum Teil in einer unklaren Auffassung von der Gewaltenteilung und auch in der Bestandeskraft der Grundrechte zeigte. Im Auftrag des Europarats nahm ich an den Beratungen zur Verfassungsgebung in Rumänien teil, und im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung beriet ich mit anderen die Regierungen von Israel und Jordanien. Ich habe immer bedauert, dass bis heute an den deutschen Universitäten die Rechtsvergleichung gerade im öffentlichen Recht eine zu geringe Rolle spielt, worunter die intellektuelle Beurteilung gerade auch in Fragen der Globalisierung – ob man sie wünscht oder nicht – in der Rechtserkenntnis litt. Das war und ist auch für das Völkerrecht ein Mangel, der sich darin zeigt, dass etwa über Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat ständig gesprochen wird, aber sich keine gemeinsame und allgemein vertretbare Begriffsbildung entwickelt hat. Ich selbst hatte diese Art von

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Rechtsvergleichung versucht in Vorlesungen und literarischen Arbeiten in die allgemeine Staatslehre einzubeziehen. Sehr bedaure ich auch, dass die bisherige Entwicklung des Europarechts unter Begriffsverwirrungen leidet, was darin liegt, dass die Promotoren dieses Rechtsgebiets sich in ihrer Einschätzung der Endziele des staatsund völkerrechtlichen Verständnisses der Europäischen Union nicht einig werden. Ein Bundesstaat sollte dieses Rechtsgebilde Europa nicht sein oder werden, aber es sollte auch kein Staatenbund bleiben. Die Formel des „Staatenverbundes“ ist für mich bis heute eine Verlegenheitsdefi nition, weil die Kontroverse über die Rechtsnatur der Europäischen Union doch immer wieder schwankt zwischen Ausweitung von Zuständigkeiten und gleichzeitig der Sorge vor ihnen. Was die Entwicklung des Völkerrechts in den langen Jahren meiner wissenschaftlichen Tätigkeit betrifft, kann ich feststellen, dass letztlich an den Grundzügen der Staatenverbindungen sich kaum etwas geändert hat. Trotz aller Rufe und Beschwörungen, die eine Änderung des Souveränitätsbegriffs und der Nationalstaaten betreffen, sind es, wenn es zu Spannungen in der Staatenwelt kommt, doch immer noch die überkommenen Theorien, auf die man sich beruft. Oft hatte ich das Gefühl, dass bei der jüngeren Generation das Grundlagenwissen und die Geschichtskenntnisse zu gering ausgebildet sind. Die jüngeren und vor allem mit der Philosophie und der Soziologie befassten Juristen meinen oft Phänomene neu zu entdecken, die im Grunde schon immer bekannt waren. So wie etwa in der Philosophie es Denker gibt, gerade auch in der amerikanischen, die den kategorischen Imperativ neu zu „entdecken“ meinten, aber Kant offensichtlich nicht eingehend studiert haben. Oder man meint, induktive und objektive Methoden neu zu entdecken, weil man von Aristoteles und Platon nichts weiß. Was die Wissenschaft neu im Völkerrecht zu behandeln hat, sind vorwiegend solche Fragen, die sich auf den technischen Fortschritt beziehen. Daher spricht man von einer „Fragmentierung“ im Völkerrecht, die aber dann auch nur beherrschbar wird, wenn man sie in überkommene Kategorien einreiht. Diese „Fragmentierungen“ der modernen Wissenschaft sind im Grunde nur neue Begriffsbezeichnungen, leider oftmals unter Weglassung notwendiger Defi nitionen. Die tiefer liegenden und problematischen Fragen, gerade auch im Hinblick auf technischen Fortschritt, sind nicht mit rationalen Überlegungen zu lösen, denn sie bedürfen der sich der ratio entziehenden Wertung. Es sind diese Fragen, die heute gerade auch im Völkerrecht und Staatsrecht relevant bleiben und – beispielhaft – das Spannungsverhältnis zwischen Individualrecht und Allgemeininteresse betreffen. Hier stehen sich in den internationalen Beziehungen der Schutz der Menschenrechte und derjenige des Gemeinwesens gegenüber. Was dann höheren Schutz genießen soll, ist keine Frage der ratio, sondern eine Frage der Wertung im Sinne von Glaubenssätzen. Der Wissenschaftler kann nur die Folgen aufzeigen, die sich ergeben, wenn man den einen oder anderen „Glauben“ hat. Immer ist auch hier die Prämisse entscheidend, nach deren Feststellung erst logische Schlussfolgerungen einsetzen können. Gefährlich sind allemal Argumente, die bei genauerem Hinsehen sich als Postulate erweisen. Unter dieser Gefahr leiden heute die Geisteswissenschaften stärker als die Naturwissenschaften. Letztere werden nur dann unglaubhaft, wenn sie objektive Erkenntnisse und Wertungen nicht unterscheiden. Die Wertungen aber, ohne die die Geisteswissenschaften letztlich nicht auskommen, entspringen einer Kulturordnung, die sich sicherlich auch

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wandeln kann und sich immer gewandelt hat. Sie beruhen auf der „praktischen“ Vernunft im Gegensatz zur „reinen“ Vernunft. Wer diese Kantische Erkenntnis vergisst, argumentiert ohne Plattform. In dieser Gefahr ist auch die neuere Jurisprudenz. Wer die Prämisse, unter der er Schlussfolgerungen zieht, nicht aufdeckt, wird von anderen, die andere Prämissen zum Ausgangspunkt ihrer Schlussfolgerungen machen, nicht verstanden. Diese Gefahr war immer groß, aber ist heute vielleicht besonders ausgeprägt. Die Schwerpunkte meiner wissenschaftlichen Arbeit seien hier in Kürze charakterisiert. Es ging, mit gewisser Selbstverständlichkeit, in der ersten Zeit meiner Arbeiten, im Wesentlichen um die Fragen der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Lösung sah ich immer – und das hat sich bestätigt – in der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung der DDR. So war auch dieses Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen einer der Hauptgegenstände, denen ich mich in der Forschung widmete und besonders intensiv bearbeitete. Ich war wohl der erste Referent der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Forschungsgegenstand machte. Später ging es mir dann sehr wesentlich um das internationale Fremdenrecht, den diplomatischen Schutz in seinen vielen Ausprägungen und um die humanitäre Intervention, wobei ich gerade in dieser Hinsicht wohl immer und auch bis heute eine der herrschenden Lehre nicht folgende Position einnahm. Sehr eingehend habe ich mich auch immer wieder der Kritik an den Entscheidungen des Bundesverfassungerichts gewidmet. Bis heute ist die staatsrechtliche Stellung dieses Gerichts letztlich ungeklärt, wenn man die Maßstäbe eines überkommenen Demokratiebegriffs und die Grundsätze der Gewaltenteilung für wesentlich hält. Vor allem das Problem der Richterauswahl hat mich immer beschäftigt und ich halte sie bis heute für bedenklich, denn die Richterbestellung allein durch die politischen Parteien, vertreten durch die Fraktion im Bundestag, macht das Gericht doch letztlich zu einem politischen Staatsorgan. Weiter entfernen kann man sich von den Lehren des Klassikers Montesquieu wohl kaum. Über den Erfolg meiner wissenschaftlichen Arbeit mag man streiten. Ich bin in vielen Fragen der sog. herrschenden Lehre nicht gefolgt, aber war immer für jede Auseinadersetzung offen. Ein Teil meiner Arbeit als Hochschullehrer aber ist wohl völlig unstreitig besonders erfolgreich gewesen, nämlich die Förderung und Betreuung meiner Doktoranden, vor allem aber der sechs Habilitanden, denen einige Bemerkungen hier gewidmet seien. Georg Ress, in Wien schon promoviert, war der erste dieser Juniorpartner und guten Freunde. Er war dann Ordinarius in Saarbrücken, Leiter des dortigen Europa-Instituts und später Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Kay Hailbronner „entdeckte“ ich schon als Studenten und wurde auf ihn aufmerksam, weil er mir als besonders eigenständiger Denker erschien. Er wurde Ordinarius in Konstanz und ist der wohl bedeutendste deutsche Spezialist in Fragen des Fremdenrechts und des Asylrechts. Seine literarischen Arbeiten auf diesen Gebieten und auch im Europarecht sind bemerkenswert. Torsten Stein arbeitete mit mir zusammen ebenso wie Ress und Hailbronner an der Fakultät und am Max-Planck-Institut. Alle drei unterstützten mich nachhaltig und aufopferungsbereit auch in hochschulpolitischen Fragen. Stein war dann zusammen mit Ress Ordinarius und Direktor des Europa-Instituts in Saarbrücken. Er setzte dann das Völkerrechtslehrbuch von Seidl-Hohenveldern fort. Heute ist er Präsident

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der deutschen Gruppe der International Law Association. Rudolf Dolzer, als vierter Habilitand, engagierte sich stark in der Rechtsvergleichung und im Wirtschaftsrecht, promovierte dann nochmals in Harvard (USA), war einige Zeit Ministerialdirigent und hatte dann Ordinariate in Mannheim und zuletzt in Bonn inne. Seine Hauptgebiete waren der Investitionsschutz und Fragen der Rechtsvergleichung. Auch Matthias Herdegen lernte ich sehr früh kennen und betreute seine Promotion und Habilitation. Er hatte dann einen Lehrstuhl in Konstanz inne, wechselte nach Bonn und verfasste in hohen Auflagen Lehrbücher im Völkerrecht, Europarecht und im Wirtschaftsrecht. Seine Mitarbeit am Kommentar von Maunz-Dürig wurde besonders in der wissenschaftlichen Welt beachtet. Dann promovierte und habilitierte sich unter meiner Betreuung Juliane Kokott, später Inhaberin von Lehrstühlen in Düsseldorf und in St. Gallen. Sie ist nun seit einigen Jahren Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Sie hat einen zweiten Doktorgrad in Harvard (USA) erworben, wobei bemerkenswert ist, dass ihre Arbeit in den USA alsbald publiziert wurde. Zusammen mit Thomas Buergenthal, heute Richter am Internationalen Gerichtshof, verfassten wir dann ein Lehrbuch des Völkerrechts. Mit einem gewissen Stolz kann ich bekunden, dass ich bei Auswahl dieser „Schüler“ mich in keinem Fall wissenschaftlich oder menschlich geirrt habe, sondern mit Genugtuung ihre Eigenständigkeit und vor allem ihre geistige Unkorrumpierbarkeit bewunderte – auch mir gegenüber. In dieser Feststellung vor allem liegt die tiefer liegende Befriedigung über meine wissenschaftliche Tätigkeit in nunmehr über 50 Jahren. Es sei noch vermerkt, dass ich ohne die aufopfernde Hilfe meiner Frau, Dr. Eva-Maria Doehring, die Last dieser Jahre nicht hätte tragen können. Was mich in den letzten Jahren besonders beschäftigt hat, ist die weltweite Spannung, die unter den Kulturen sich entwickelt hat. Den tieferen Sinn des Europarechts, der ehemals wohl in der Abwehr des Marxismus lag, scheint mir heute darin zu bestehen, dass es dieser Union gelingen möge, die Wertordnung des sog. christlichen Abendlandes zu schützen. Aber auch hier ist es wieder die Mischung zwischen Liberalität und Gemeinsinn, deren ausgewogene Balance die schwierigste Aufgabe der Rechtswissenschaft ist. Nur solange in diesem Sinne Homogenität in Europa erhalten bleibt, werden die Errungenschaften Europas geschützt bleiben.

Recht und Politik von

Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Herbert Schambeck Präsident des östereichischen Bundesrates, i. R., Wien

Die Entsprechung der ehrenden, wiederholt ausgesprochenen Einladung zur Selbstdarstellung verlangt dem Betreffenden die Befähigung ab, vom eigenen Subjekt zum beschreibbaren Objekt zu werden sowie den Lebensweg im Zeitenlauf zu betrachten. Eigene Befähigung und persönliches Unvermögen, sich ergebende und nicht genützte Möglichkeiten wechseln sich ab; sie lassen erfreuliche Fügungen und versäumte Gelegenheiten bedenken, Schicksal werden sie genannt. Das Schicksal eines jeden ist zeit- und ortsbestimmt, nämlich von wem, wann und wo sowie unter welchen Umständen jemand geboren wird und was er imstande ist, aus diesem seinen Leben machen zu können.

I. Mein Leben verdanke ich Eltern, die mich am 12. Juli 1934 in Baden bei Wien das Licht der Welt erblicken ließen. Mein Vater, der dem Jahrgang 1897 angehörte, fast 90 wurde, studierte noch an der Exportakademie in Wien, nahm an beiden Weltkriegen als Offizier teil, war viele Jahrzehnte als Industriekaufmann Leiter eines Unternehmens der Metallindustrie, was mir eine behütete, sorgenfreie Jugend ermöglichte; er hatte ein für mich beispielgebendes Pfl ichtbewusstsein und ein Sozialverständnis für seine Belegschaft. Meine Mutter war Hausfrau und bot meiner Schwester sowie mir ein frohes Zuhause in unserem Eigenheim. Sie engagierte sich oft helfend für Mitmenschen und erreichte mit 82 ein hohes Lebensalter, wodurch mein Vater nur eineinhalb Jahre Witwer war und ihm mein Schicksal erspart geblieben ist, da ich schon mit 56 auf Grund eines plötzlich auftretenden schweren Leidens meine Frau Elisabeth, geborene Hartmann verloren habe, der ich viel an Verständnis und unsere Tochter Ruth, die mir mit ihrem Mann Thomas Wulf und deren Tochter Fiona eine besondere Freude ist, verdanke und die mir täglich schmerzlich fehlt. Prägend für mich war meine Heimatstadt Baden, in der ich die Volks- und Mittelschule besuchte, nämlich zunächst die Unterstufe der Realschule und nach meinem

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Herbert Schambeck

freiwilligen Übertritt wegen meines Wunsches Latein und Griechisch lernen zu können, die Oberstufe des Bundesgymnasiums in Baden, wo ich 1953 u. a. mit Philosophie als Prüfungsfach maturierte. In dieser Mittelschule beeindruckte mich beispielgebend Viktor Wallner als Professor für Deutsch und Geschichte, sowohl was und wie er unterrichtete. Sein Vorbild als Akademiker und Pädagoge begleitete mich später ebenso wie sein Beispiel in der Politik als Bürgermeister von Baden und Abgeordneter zum niederösterreichischen Landtag. Die Zusammenarbeit mit ihm war mir in den Jahrzehnten unserer Aufgaben im heimatlichen öffentlichen Leben eine bereichernde Freude. In diese Schulzeit fällt auch mein erstes politisches Bekenntnis. Ich war nämlich nach der 4. Klasse Volksschule in Baden mit anderen ausgesuchten Gleichaltrigen, ohne gefragt zu werden, zur Aufnahmeprüfung in die nationalsozialistische Erziehungsanstalt nach dem benachbarten Traiskirchen entsendet worden, wo ich nach deren Bestehen mich weigerte zu bleiben, was sanktionslos zur Kenntnis genommen wurde. Baden ist eine alte Stadt römischen Ursprungs mit reicher Geschichte. So verbrachte hier Kaiser Franz, auf den die Ausrufung des österreichischen Kaiserreiches und später die Niederlegung der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zurückgeht, ferial viele Jahre und Kaiser Karl die letzte Zeit des 1. Weltkrieges und seiner Regierungszeit in Baden, wo ihn Hans Kelsen als damaliger Verfassungsrechtsexperte besuchte, was er mir später während meiner ersten Lehrtätigkeit in den USA am Karfreitag 1967 bei unserer Begegnung im kalifornischen Berkeley erzählte. In Baden erlebte ich selbst auch Zeitgeschichte, als 1945 in Nachbarschaft zu meinem Elternhaus die Kommandantur der sowjetischen Besatzungsmacht zehn Jahre ihr österreichisches Hauptquartier hatte und einige Zeit in unserem Haus, das einmal auch Marschall Iwan Konjew besuchte, russische Soldaten logierten. Der Klang der Sowjethymne war damals Tagesabschluss, an den ich mich später bei offiziellen Besuchen in Moskau immer erinnerte. Als Junge hätte ich mir in dieser Zeit nie gedacht, einmal nach Moskau in den Unionssowjet der UDSSR und hernach in den Föderationsrat der Russischen Republik auch zu einer Rede vor den Gouverneuren eingeladen zu werden. Die Geschichtsträchtigkeit Badens begleitete mich nicht nur politisch, sondern auch musikalisch, da in Baden Wolfgang Amadeus Mozart 1791 das Ave Verum komponierte und in unserer Pfarrkirche, in der ich auch getauft wurde und in welcher der Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., in Conzelebration mit seinem Bruder Domkapellmeister Prälat Georg Ratzinger, die als meine Gäste in unserer Stadt am 4. August 1991 weilten, zu diesen himmlischen Klängen, gleich Kardinalstaatssekretär Agostino Kardinal Casaroli einige Jahre vorher, Gottesdienst feierte. In Baden komponierte auch Ludwig van Beethoven, der viele Jahre hier verbrachte, u. a. seine IX. Symphonie, deren Hymne an die Freude Europahymne wurde, zu deren Jubiläum ich die damalige Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Leni Fischer 1997 nach Baden in das Haus, in dem van Beethoven diese Symphonie schuf, einlud. Viele Kollegen aus der Politik und der Wissenschaft, auch aus dem Ausland, konnte ich wie Karl Carstens, Amintore Fanfani, Roman Herzog, Detlef Merten, Damiano Nocilla, Walter Schmitt-Glaeser, Giovanni Spadolini und Klaus Stern mit ihren Frauen sowie anlässlich einer Tagung über Parlamentarismus und europäische Integration 1992

Recht und Politik

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Präsidenten europäischer Länderkammern und Senate in Baden begrüßen. Der Weg zu diesem Grenzen überschreitenden Miteinander eröffnete sich für mich mit meinem Studium, das ich nach der Gymnasialmatura in Baden 1953 an der Rechtsfakultät der Universität Wien begann und 1958 mit der Promotion an dieser beendete und zwar als Student, nicht aber als Jurist, dem es nämlich aufgegeben ist, sich nach den Sicherheitsbedürfnissen der Menschen und Ordnungsnotwendigkeiten der Zeit ständig weiterzubilden. Treffend drückte dies einmal Karl Wolff, Ordinarius des Privatrechts an der Universität und Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes in Wien, aus, als er damals schon betagt auf seine von ihm an einen jungen Mann gerichtete Frage, was er von Beruf sei, die Antwort bekam: „Ich bin Jurist“, und diesem erwiderte: „Ich beglückwünsche sie dazu, dass sie es schon sind, ich bemühe mich nämlich mein ganzes Leben, es zu werden!“

II. Dieses Bemühen, ein Jurist zu werden, begann ich in Wien über Empfehlung meines Vaters, der gerne einen Rechtsanwalt mit mir in der Familie gehabt hätte. Ich dachte am Ende meiner Gymnasialzeit damals mehr Mittelschullehrer aus Deutsch und Geschichte, Kunsthistoriker oder Bibliothekar zu werden. Die Liebe zum Buch begleitete mich zeitlebens. Adolf Merkl, mein einstiger Lehrer im öffentlichen Recht, der mich zur akademischen Lauf bahn als sein Assistent 1958 einlud, hat gegen Ende seiner Tage in einer Abhandlung über mich geschrieben, „es wäre ihm in seiner mehr als fünfzigjährigen Tätigkeit keine zweite Persönlichkeit begegnet, die mit gleicher Unermüdlichkeit, ja geradezu Besessenheit, vom wissenschaftlichen Buch fasziniert gewesen ist“, wie ich. Rückblickend bin ich meinem Vater, der sehr wirklichkeitsnah war, dankbar, dass er mich anregte, Jus zu studieren. Dieses Gebiet ermöglicht im Studium und Fortsetzung Geschichtsbetrachtung, Gegenwartsverantwortung und Zukunftserwartung vereinend zum Tragen zu bringen; später trat auf meinem Lebens- und Berufungsweg die Beziehung von Recht und Politik hinzu. Dem Studium der Rechtswissenschaft kam ich auf zwei Wegen nach, einerseits besuchte ich in allen Studienabschnitten den Rechtskurs Dr. Richter, der den Stoff umfassend mit übersichtlichen sowie fundierten Skripten von in Theorie und Praxis erfahrenen Juristen vermittelte, was mir später in meinem akademischen Unterricht beispielgebend zu Gute kam, und andererseits ging ich vor allem in die vorgeschriebenen Hauptvorlesungen und Pfl ichtübungen, die an der Wiener Rechtsfakultät angeboten waren. Der Lehrkörper der Wiener juristischen Fakultät war geprägt von Gelehrten, von denen einige in ihrem Lebens- und Berufsweg besondere Bezüge zur Geschichte Österreichs hatten. So wie ich ihn miterleben konnte, hatte der schon zitierte Karl Wolff noch in der Monarchie das Doktorat sub auspiciis Imperatoris erworben und begann seine Professorenlauf bahn an der Universität Czernowitz, die damals zur Habsburgermonarchie gehörte. Adolf Merkl und Alfred Verdross begannen in Wien ihre wissenschaftliche Tätigkeit auch noch in der Monarchie und setzten sie nach Ausrufung der Republik fort, in der jeder seinen Beitrag leistete. So war Merkl noch im staatsrechtlichen Büro des k.u.k. Ministerratspräsidiums beim letzten Ministerpräsidenten der Monarchie, Heinrich Lammasch tätig und war hernach in dieser

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Funktion auch beim Staatskanzler der ausgerufenen Republik Deutschösterreich Dr. Karl Renner in Verwendung; ähnlichen Tätigkeiten ging Verdross im auswärtigen Dienst nach, der 1918 im k.u.k. Ministerium des Äußeren der Monarchie begann und Jahrzehnte später u. a. Mitglied der International Law Commission der UNO wurde; beide hatten nach der Besetzung Österreichs durch Hitlerdeutschland Unbilligkeiten erfahren, Verdross eine Beschränkung seiner Lehrbefugnis und Merkl einen Verlust seines Lehrstuhls; er war der erste so genannte „Märzgefallene“ 1938 seiner Fakultät und kam nach vorübergehender Lehrtätigkeit an der Universität Tübingen als Letzter erst 1950 wieder auf seinen Lehrstuhl nach Wien zurück. Dem Wiener Professorenkollegium gehörten zu meiner Studienzeit auch Persönlichkeiten an, die erst nach dem 2. Weltkrieg ihre akademische Lauf bahn begannen und Bleibendes zur Staats- und Rechtsordnung Österreichs leisteten, wie der langjährige Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Ordinarius des öffentlichen Rechts Walter Antoniolli und der Ordinarius des römischen und bürgerlichen Rechts Fritz Schwind, der wegweisend auch für das internationale Privatrecht in Österreich war. Die Vorlesungen dieser Gelehrten waren nicht nur, was ihren Inhalt anbelangte, sondern auch pädagogisch didaktisch beeindruckend. Von den drei Studienabschnitten, dem rechtshistorischen, judiziellen und staatswissenschaftlichen, faszinierte mich der Historische und fesselte mich mit vielen Interessen der Letztgenannte bis heute. Der dritte Studienabschnitt wurde für mich schicksalhaft, besonders interessierten mich die Vorlesungen aus Allgemeiner Staatslehre, Österreichischem Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Rechtsphilosophie, Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik einschließlich der Dogmengeschichte. In diesen Zusammenhängen habe ich Walter Antoniolli, Ernst Hellbling, Alexander Mahr, Adolf Merkl, Theodor Pütz, Alfred Verdross und Günther Winkler zu nennen. Das Lehrbuch Volkswirtschaftslehre von Mahr war mir in seiner Stoffvermittlung, Gliederung und seinem Inhaltsverzeichnis später Vorbild für eigene Publikationen geworden. Tief beeindruckt hat mich schon zu Beginn meines Jusstudiums Verdross in seiner am Nachmittag des Mittwochs im Auditorium Maximum gehaltenen Einführungsvorlesung in „Grundbegriffe von Staat und Recht“ wie später seine Hauptvorlesung aus Rechtsphilosophie mit seiner Hinführung zum abendländischen Rechtsdenken. In Philosophie hatte ich schon maturiert und während meines Jusstudiums philosophische Abhandlungen veröffentlicht; die Erste 1954 über „Das Sein in Lichte christlicher Existenzphilosophie“, in der ich auf Gabriel Marcels Werk „Das Geheimnis des Seins“ näher einging. Dieser Erstpublikation folgten 1955 „Die Tragik des cartesianischen Gedankens“ und „Gabriel Marcel und Jean Paul Sartre“, sowie 1956 „Blaise Pascal – ein Denker an der Wende einer Gedankenrichtung“ und „Martin Heidegger“.

III. Entscheidend für meinen weiteren Lebens- und Berufsweg war meine Teilnahme am Seminar von Merkl über „Freiheit und Gerechtigkeit“. Wiederholt behandelte er dabei Fragen des Widerstandes. Nicht vergessen habe ich seine Worte: „Es kann Zeiten geben, in denen es ehrenwerter ist, durch den Staat als für den Staat zu sterben“. Ich

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selbst hatte meine Seminararbeit dem damals noch nicht anerkannten Konkordat 1934 gewidmet, für den Heiligen Stuhl unterzeichnet vom Kardinalstaatssekretär Eugenio Kardinal Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. Die Arbeit, in der ich mich für die Anerkennung des Konkordats einsetzte, fiel offenbar Merkl positiv auf. Er bot mir, wie ich annehme, auch über Empfehlung seiner damaligen Assistentin Dorothea Mayer-Maly, seine Assistentenstelle an, die ich 1959 besetzen konnte. In diesen letzten Wochen meines Studiums kam Merkl öfters in die Bibliothek für Rechtswissenschaft, um mit mir am Gang gehend Gespräche zu führen. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihm von meinen ersten Publikationen, die ich ihm hernach vorlegte und die er Verdross zeigte, was dazu führte, dass mir Merkl schon vor meiner Promotion und später auch Verdross die Anregung gab, mich zu habilitieren. In der Zeit zwischen Studienabschluss und Antritt der Assistentenstelle am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien am 1. April 1959 war ich neun Monate Rechtspraktikant am Bezirksgericht in Baden und am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien. In dieser Zeit vertiefte ich mich schon vermehrt in die Werke zur Allgemeinen Staatslehre, dem österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht von Ludwig Adamovich, Walter Antoniolli, Georg Jellinek sowie Rechtsphilosophie von Helmut Coing und Verdross, vor allem aber auch in das umfangreiche Schrifttum von Merkl selbst und das von Kelsen sowie der Wiener Rechtstheoretischen Schule, die mich in den Jahrzehnten meiner akademischen Arbeiten begleitete, mit der ich mich bis heute auseinandersetze und auf die ich fast ständig bei allen Gastvorlesungen weltweit immer angesprochen werde. Als Assistent von Merkl hatte ich ihm bei seinen Pfl ichtübungen und Seminaren zur Seite zu stehen und, wenn es sein lebenslanges Herzleiden verlangte, auch zu vertreten und schriftliche Arbeiten sowie staatswissenschaftliche Dissertationen vorzubegutachten. All diese Aufgaben verlangten eine genaue Zeiteinteilung, die Wochenenden und Ferialzeiten eingeschlossen, was meine Freude und mein Interesse an der Arbeit nicht schmälerte. Neben diesen akademischen Aufgaben an der Universität wurde ich bereits veranlasst, am öffentlichen Leben insofern teilzunehmen, als mich auch mit 1. April 1959 der damalige Arbeitsrecht- und Sozialversicherungsexperte der ÖVP, Nationalrat Dr. Karl Kummer zur Mitarbeit an dem von ihm geleiteten Institut für Sozialpolitik und Sozialreform in Wien einlud. Auf diese Weise lernte ich geradezu gleichzeitig das öffentliche Leben in Theorie und Praxis, nämlich namhafte Rechtsgelehrte des Inund Auslands durch Merkl und Politiker durch Kummer kennen; einen möchte ich besonders nennen, nämlich den damaligen Rektor und Staatsrechtslehrer an der Universität Köln Hans Peters. Er kam 1938 nach Wien, um die Wiener Kollegen vor Adolf Hitler zu warnen. Nach Kenntnis meiner ersten Publikationen zeigte er sich an mir interessiert und als er mit der Vorbereitung der Gründung der Universität Bochum mit beauftragt war, zog er mich für eine allfällige Berufung in Erwägung, zu der es aber dann nicht kam, da ich zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht habilitiert war. Sein Interesse an mir beflügelte mich sehr und sein plötzlicher Heimgang 1966 war ein großer Verlust. Das Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien bestand zu meiner Zeit aus vier Dienstposten, zwei Ordinarien, nämlich Merkl als Vorstand und Anto-

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niolli, der gleichzeitig Präsident des Verfassungsgerichtshofes war und daneben während des Studienjahres regelmäßig seine Lehrveranstaltungen hielt. Mit seinem Lehrbuch „Allgemeines Verwaltungsrecht“ hat er vielen Juristen für Studium und Beruf eine tragfähige Grundlage geboten. In meinem Leben habe ich selten eine Persönlichkeit erfahren, die, wie er, hohe Verantwortung im Staat mit persönlicher Bescheidenheit verbunden hat. Besonders an seinem Lebensabend, den er mit seiner Frau und seiner Schwester in seinem Geburtsort St. Pölten verbrachte, konnte ich ihn näher erleben, von dem mir letzte Briefe und Gespräche kostbare Erinnerungen sind. Während meiner Assistentenzeit hat mir Merkl neben seinen Vorlesungsunterlagen viele seiner zahlreichen Publikationen, die damals noch nicht gesammelt waren, zugänglich gemacht sowie Wertvolles von seinem Staats- und Verfassungsverständnis des alten sowie neuen Österreichs vermittelt, vor allem auch in Bezug auf die Dezemberverfassung 1867, war Merkl doch noch ein Hörer von Adolf Menzl und Eduard Bernatzik gewesen und hat sich im Übergang von der Monarchie zur Republik über deren erste Verfassung habilitiert. Die Bedeutung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920, an deren Entwurf er mitgearbeitet hatte, und seiner Novellen, seine Kritik an der Verfassung 1934, seine Ablehnung des NS-Regimes, seine Verfolgung durch dieses und die Zeit nach 1945 mit dem neuen Parteien- und Verbändestaat Österreich waren vor allem Themen vieler Gespräche mit ihm. Merkl zählte mit Verdross zu den Mitbegründern der auf Kelsen zurückgehenden Wiener Rechtstheoretischen Schule, zu der er mit seiner Lehre vom „Stufenbau der Rechtsordnung“ einen dynamischen Beitrag leistete, den Kelsen selbst immer anerkannte. Unter dem Eindruck des NS-Regimes und seiner Opfer hat sich Merkl, wie er selbst oft betonte, schon in meiner Zeit dafür ausgesprochen, die Rechtsformenlehre mit einer Rechtsinhaltsbetrachtung zu ergänzen, und auf die Bedeutung der Rechtsethik hingewiesen. Sicher hat dazu seine Zeit als Rechtslehrer an der Universität Tübingen bis 1950 und seine Beachtung des Bonner Grundgesetzes 1949 beigetragen. In Österreich setzte sich Merkl für das auch materiale Verfassungsverständnis ein, vor allem durch seine Lehre von den Baugesetzen der österreichischen Bundesverfassung, zu der er mir seine Vorlesungsunterlage gab, die später veröffentlicht wurde. In dieser Zeit zog mich auch Verdross auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie immer mehr heran, was mich sehr freute, so zum Korrekturlesen der 2. Auflage seiner Abendländischen Rechtsphilosophie und als Herausgeber der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht, in welcher er mir mit der Einladung zu Beiträgen für die Festnummer dieser Zeitschrift für Merkl und Josef Kunz 1960 und für Kelsen 1961 erste Möglichkeiten bot, in einer Fachzeitschrift zu publizieren. Gleichsam als Ergänzung zu meinen Aufgaben am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht bei Merkl, welches auf das positive öffentliche Recht sowie die Staats- und Verwaltungslehre bezogen war, und zu meiner Mitarbeit aus Rechtsphilosophie bei Verdross trat der Kontakt zu dem Professor für Ethik und Sozialwissenschaften an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät Johannes Messner, der sich nach einer Tagung der Katholischen Sozialakademie in Wien ergeben hat und mit diesem wegweisenden Vertreter der Naturrechtslehre bis zu seinem Heimgang 1984 durch Jahrzehnte fortbestand; dieser Kontakt ist heute noch auch mit seinem Nachfolger am Lehrstuhl, Rudolf Weiler, aufrecht; beiden hat die Naturrechtslehre viel zu danken.

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IV. In dieser meiner Assistentenzeit galt neben meinen Aufgaben bei Merkl meine ganze Zeit dem Studium der Fachliteratur, vor allem der Wiener Rechtstheoretischen Schule mit Kelsen, Merkl und Verdross sowie dazu von Messner, wobei ich zunehmend bemüht war, das Studium der Einrichtungen des Staates und der Rechtserzeugung mit einer Rechtsinhaltsbetrachtung zu ergänzen. Diese Ergänzung, die Merkl ein Anliegen war, verlangt in Österreich vor allem zweierlei, einerseits das Staatsrecht mit der Staatswirklichkeit, nämlich die Verfassungsrechtsordnung mit dem öffentlichen Leben, seinen Faktoren und Einrichtungen zu konfrontieren, die 1920 im Text des B-VG nicht in der Bedeutung genannt wurden, der ihnen in der politischen Wirklichkeit zukommt, vor allem was die Parteien und Interessenverbände sowie die Sozialpartnerschaft betrifft. Auf diesem Gebiet öffnete sich in Österreich ein neuer Bereich für die Staats- und Verfassungslehre sowie für ein Gebiet, das in den USA und Deutschland schon Tradition hatte, aber in Österreich noch im Anfangsstadium steckte und als politische Wissenschaft oder Wissenschaft von der Politik im deutschen Sprachraum bezeichnet wird. Neben der Bezogenheit von Staatsrecht und Politik war es die von Staatsrecht und Reiner Rechtslehre, die mich von Beginn meiner akademischen Tätigkeit an begleitete. Die Reine Rechtslehre Kelsens sieht eine Auslegung des positiven Rechts nur im normativen Sinn vor und drückt so einen Wertneutralismus aus, der auch einen Gesinnungsindifferentismus nicht verhindert. Der Rahmen und die Gegebenheiten des B-VG 1920, dessen Entwurf auf Kelsen zurückgeht, haben Merkl diese Verfassungsrechtsordnung als eine Rechtswegeverfassung bezeichnen lassen, die expressis verbis keine Wertaussagen enthält. So enthält das B-VG anders als das Grundgesetz ausdrücklich keine Angaben der Staatszwecke, verwendet nicht Begriffe wie Rechts- und Gesetzesstaat, Grundrecht, Freiheit und Würde des Menschen. Das B-VG beinhaltet auch keinen eigenen Grundrechtskatalog, sondern hat diesen, nämlich das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, 1920 in Art. 149 Bundes-Verfassungsgesetz durch Rezeption ergänzend aus dem Staatsrecht der Monarchie, nämlich aus der sogenannten Dezemberverfassung 1867, in das Verfassungsrecht der Republik übernommen. Der Grundrechtskatalog von 1867 ist bis heute die wichtigste Rechtsgrundlage der Grundrechte geblieben, die durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sowie weitere Bundesverfassungsrechtsvorschriften und internationale Abkommen, insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention, eine Ergänzung erfuhr. Neben den Grundrechten war auch das System der Rechtsstaatlichkeit mit seiner Behördenstruktur und die Kompetenzverteilung des zur Zeit der Monarchie bestehenden dezentralisierten Einheitsstaates Österreich, der sich „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ nannte, allgemein anerkannt aus dem Staatsrecht des österreichischen Teils der habsburgischen Doppelmonarchie in das Verfassungsrecht der neuen Republik übernommen worden. Diese Republik nannte sich zunächst Republik Deutschösterreich und war auch dem Inhalt des damaligen Verfassungsrechtes nach, wie Merkl erklärte, „ein nicht akzeptiertes Offert an die Weimarer Republik“. Da das österreichische Bundesverfassungsrecht auch in der Folgezeit, von einigen Novellen abgesehen, seine Grundstruktur beibehielt, enthält es heute mehr Geist der Weimarer Verfassung als das Verfassungsrecht Deutschlands mit dem Grundgesetz!

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Durch die in Österreich allgemein anerkannte Kompromisshaftigkeit des Bundes-Verfassungsgesetzes und die Wertneutralität des Rechtspositivismus der Reinen Rechtslehre Kelsens hat sich Österreich nach der Ausrufung der Republik und vor der Beschlussfassung des B-VG eine Wertediskussion erspart und diese, von Ausnahmen abgesehen, bis heute auch nicht nachgeholt! Die Bemühungen in den Jahren 2003 bis 2005 um eine Verfassungsreform im Rahmen des Verfassungskonvents brachten zwar beachtenswerte Reformvorschläge, aber keine Beschlüsse auf parlamentarischer Ebene. Die Tagespolitik, vor allem mit ihren Wirtschafts- und Sozialfragen, beschäftigte die Verantwortlichen in Gesetzgebung und Regierung stets in einem Maß, welches für die Beantwortung von Grundsatzfragen kaum genügend Zeit übrig ließ! Ich selbst nahm auf meinem Lebens-, Bildungs- und Berufsweg die Hektik auch der Politik wahr, vor allem als ich immer mehr schon in meiner Assistentenzeit veranlasst war, in das öffentliche Leben zu treten. Ich beschäftigte mich aber selbst auch zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeiten mit Grundsatzproblemen; dazu gab mir Verdross Gelegenheit, als er mich 1960 aufforderte, einen Beitrag zu der von ihm herausgegebenen Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht in einer Festnummer für Merkl und Josef Kunz zu leisten. Als Thema wählte ich „Der Begriff der Natur der Sache“, nämlich die Frage nach den Realfaktoren des positiven Rechts. Die Anregung zu diesem rechtsontologischen Problem hatte ich in den Ferien nach meiner Promotion durch die Rechtsphilosophie von Helmut Coing erhalten. Leider hatte es sich nie ergeben, dass ich ihn, dessen Schrifttum mir auch später so viel gegeben hat, auch einmal persönlich kennenlernen konnte. Der Festnummer – Beitrag bewirkte zu meiner Überraschung, dass mich Arthur Kaufmann einlud, diesen in dem von ihm als Herausgeber für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt geplanten Sammelband „Die ontologische Begründung des Rechts“ ein zweites Mal zu veröffentlichen. Diese unveränderte Zweitveröffentlichung erlaubte aber der die ÖZöR herausgebende Verlag Springer nicht und sagte mir für die Absage den Druck einer etwaigen späteren Habilitationsschrift ohne den sonst üblichen Druckkostenbeitrag zu. Darauf hin tat ich beides; ich behandelte das Thema meines Erstbeitrages in einer Neufassung für den Sammelband, der 1965 erschien, und, was mir eine besondere Ehre war, mit Klassikern der Rechtsphilosophie u. a. Gustav Radbruch, Max Gutzwiller, Helmut Coing, Norberto Bobbio und Karl Engisch und konnte schon ein Jahr vorher, nämlich 1964 im Springer Verlag ohne Subvention meine Habilitationsschrift unter dem Titel „Der Begriff der ‚Natur der Sache‘, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung“ publizieren. Neben der Rechtsontologie und damit den Realfaktoren des Rechts habe ich mich insoferne auch mit weiteren Grundproblemen der Rechtsordnung beschäftigt, als ich 1961 in der Festnummer der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht für Kelsen in meinem Beitrag „Ordnung und Geltung“ auf den Zusammenhang von Geltung, Wirksamkeit und Verbindlichkeit als Ordnungsansprüche und damit auch auf das Verhältnis von Sein und Sollen einging. Diese Gedanken habe ich später in meinem Beitrag zur in Madrid 1985 erschienenen Festschrift für Luis Legaz y Lacambra über „Geltung und Autorität“ auch in Bezug auf den Widerstand und das positive Recht weitergeführt. Dieser Problemkreis wurde aktualisiert durch den Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes, der diese Form des positivierten Widerstandes zum Verfassungsschutz nutzt, den ich 1971 bereits in meinem Beitrag zur Festschrift für Messner behandelte.

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V. Diese Grenzfragen des Rechts führten mich zu dem Problemkreis des Naturrechts, den Verdross schon in seiner Abendländischen Rechtsphilosophie behandelt hat. In meinen Arbeiten dazu, wie bereits in der Festschrift für Messner 1961, ging es mir um die Unterscheidung der Idee des Naturrechts, die in den Bereich der Metaphysik gehört, von den Lehren des Naturrechts, die erkenntnistheoretisch verschieden begründet sind, und dem Begriff des Naturrechts, der im formellen Sinn die Summe der Normen beinhaltet, die ausdrücklich präpositiv als Naturrecht bezeichnet sind, oder Naturrecht im materiellen Sinn als Summe der Normen, die sich aus der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen, wie Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Rangordnung der Werte und übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze einerseits und der Natur der Sache andererseits ergeben. Das Naturrecht zeigt sich ausdrücklich oder in konkludenten Werten in Grundrechten als Teil des Staatsrechts anerkannt und fand besonders seine Bestätigung in den Vorgängen, die zur sogenannten politischen Wende, nämlich zum Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa und der Einheit Deutschlands führten. Die Menschen sind nämlich damals, bewusst oder nicht, auf die Straße gegangen für das Naturrecht als ein Recht, von dem sie überzeugt waren, dass es ihnen angeboren sei, und nicht für das positive Recht; dieses positive Recht hätte es ihnen untersagt, sich für ihr natürliches Recht einzusetzen. Meine Probevorlesung im Rahmen des Habilitationsverfahrens war „Anselm Desings Kritik an der Vernunftsrechtslehre der Neuzeit“, also nach dem rechtsphilosophisch dogmatischen Thema der Habilitationsschrift einem solchen der Rechtsphilosophiegeschichte gewidmet, das ich 1971 in der Festschrift für Verdross veröffentlichte. Neben diesen rechtsphilosophischen Grundfragen beschäftigten mich damals schon der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen, besonders des Pontifi kats Papst Pius XII., dem als Autor meine Schrift „Pius XII. und der Weg der Kirche“ 1979 und als Herausgeber die Sammelbände „Pius XII. zum Gedächtnis“ 1977 und „Pius XII. – Friede durch Gerechtigkeit“ 1986 gewidmet waren und Themen des öffentlichen Rechts Österreichs sowie seiner politischen Ordnung. Auf die katholische Soziallehre mit ihrem rechtsphilosophischen und staatsrechtlichen Gehalt bin ich durch Veröffentlichungen von Merkl schon zur Enzyklika „Quadragesimo anno“ 1931 und solchen von Verdross hingeführt worden; dazu traten Anregungen vor allem durch meine Mitarbeit am Institut für Sozialpolitik und Sozialreform zu aktuellen Fragen, meine Einladung, am Österreichischen Katholikentag in Salzburg 1962 über „Die Verantwortung für den Staat – die Grenzen des Staates“ sowie am Deutschen Katholikentag 1974 über „Von der Freiheit, die wir meinen“ in Mönchengladbach zu reden. In späteren Jahren trat ich dadurch in konkreten Kontakt zur Katholischen Kirche, dass ich über Einladung des Heiligen Stuhls 1970 bis 1997 der Delegation des Heiligen Stuhls bei der Generalversammlung der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien, 1976 in Rio de Janeiro und 1979 in New Delhi angehörte, in dieser Delegation mehrere Jahre zusammen mit Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank und die ganze Zeit mit Heribert F. Köck, der in Wien habilitierte, später mein Kollege in Linz wurde und mit dem sich eine Jahrzehnte lange auch wissenschaftlich wertvolle Zusammenarbeit ergab.

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Der Kontakt zum Heiligen Stuhl erweiterte sich durch Einladungen von Seiten des päpstlichen Staatssekretariats zu Kommentaren betreffend päpstliche Sozialenzykliken und päpstlichen Weltfriedensbotschaften sowie durch Papst Johannes Paul II. mit der Ernennung zum Gentiluomo di Sua Santita 1990 und 1993 zum Konsultor des Päpstlichen Rates für die Familie, dem ich bis 2009 angehörte, und 1994 bei deren Gründung zum Mitglied der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften im Vatikan. Daneben war ich jeweils als Vortragender auch vom Päpstlichen Rat für die Kultur zu Konferenzen im Vatikan, Bukarest und Moskau sowie vom Päpstlichen Rat für die Familie zum Internationalen Pastoraltheologischen Kongress und dem Weltfamilientreffen mit Papst Johannes Paul II. 1997 nach Rio de Janeiro eingeladen. Dieses Pontifi kat war auch Anlass zu zahlreichen Veröffentlichungen, von denen ich nur den Beitrag „Zur Lehre Papst Johannes Paul II. von der Demokratie“ in der Festschrift zum 25. Jubiläum des Pontifi kats Papst Johannes Pauls II. erwähnen möchte. Auch das Pontifi kat Papst Benedikt XVI. gab Anlässe zu Publikationen, wie 2006 meine an der Päpstlichen Katholisch Theologischen Fakultät Wroclaw/Breslau, wo Kardinal Joseph Ratzinger zwei Jahre vor mir, 2000, das Ehrendoktorat der katholischen Theologie erhalten hatte, publizierte Gastvorlesung über „Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus – ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikts XVI.“ und „Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens sowie des Rechtes. Gedanken zur Enzyklika von Papst Benedikt XVI. ‚Deus Caritas est‘“ 2007, der im gleichen Jahr die Veröffentlichung meines in der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau bei einer internationalen Konferenz, die zusammen vom Heiligen Stuhl und dem Patriarchat organisiert war, gehaltenen Vortrags über „Die Verantwortung des Christen in der Politik“ folgte. Schon 1997 war ich von Josef Clemens eingeladen, zur Festschrift anlässlich des 70. Geburtstages vom Kardinal Joseph Ratzinger einen Beitrag zu leisten, den ich „Fede, Stato e democrazia: un contributo sul confronto tra il cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen“ widmete. Die katholische Soziallehre verlangt in Eigenverantwortung des Laien ihre Anwendung in Theorie und Praxis; dazu hatte ich auf akademischem Boden durch meine universitäre Tätigkeit und später im politischen Leben Gelegenheit. „Die Entwicklung des österreichischen Verwaltungsrechts“ anlässlich des internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Kongresses in Wien 1962, „Verwaltungsrecht im Dienste der Wirtschaft, Rechtsfragen zu den Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung in Österreich“ 1969, „Österreichs Wirtschaftsstaat und seine Kontrolle“ 1971 sowie „Wirtschaftsverfassung und Verfassungsrecht“ in der Festschrift für Franz Korinek 1972 waren Themen meiner Publikationen zu aktuellen Fragen; zu diesen sind meine Studien über die Interessenverbände getreten, wie 1965 auf einer Tagung des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform über „Die Verbände und ihr Ordnungsanspruch“. Als weitere Faktoren der Politik, die anders als im Grundgesetz 1949 im B-VG 1920 nicht ihrer Bedeutung entsprechend positiviert waren und von denen Kelsen mir auf meine Frage nach dem Grund ihrer ausdrücklichen Nichterwähnung sagte, er hätte sie „bloß vorausgesetzt“, war die Stellung der politischen Parteien nur eine Frage von mehreren. Nach einem Zeitschriftenartikel „Parteiadelsrepublik Österreich“ 1965 habe ich diesen Problemkreis nach der Stellung der politischen Parteien im österrei-

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chischen Verfassungsrecht in meinen Beiträgen zu den Festschriften für Ferdinand Alois Hermens 1976 und Robert Walter 1991 näher behandelt.

VI. Nach meiner Habilitation 1964 suchte ich nach einer beruflichen Verwendung, die außeruniversitär näher dem praktischen Rechtsleben war; diese ergab sich für mich in Wien als Rechtskonsulent in der wissenschaftlichen Abteilung der österreichischen Bundeswirtschaftskammer, dessen Präsident Rudolf Sallinger meine Veröffentlichungen über die Interessenverbände und dessen Generalsekretär Franz Korinek, der auch Finanzminister und rechtsphilosophisch interessiert war, auch meine Habilitationsschrift gelesen hatte. Während dieser Zeit erhielt ich im Sommersemester 1966 einen Lehrauftrag für österreichisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Rechtsfakultät der Universität Innsbruck, der im gleichen Jahr die Berufung als ao. Professor für die Wissenschaft von der Politik und das österreichische Verfassungs- und Verwaltungsrecht mit Ernennung vom 1. August 1966 folgte. Meine Antrittsvorlesung am 2. Dezember 1966 widmete ich dem „Bild und Recht des Menschen in der europäischen Sozialcharta“, ein Thema, das ich später vor der Juristischen Gesellschaft am Sitz des Bundesarbeits- und Bundessozialgerichtes in Kassel auch behandelt habe und Anlass zu meiner Schrift „Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur europäischen Sozialcharta“ wurde, die 1969 als Band 88 der Schriften zum öffentlichen Recht im Verlag Duncker und Humblot erschienen ist. Mit diesem Verlag, mit dessen früherem Inhaber Johannes Broermann und seinem Nachfolger Norbert Simon, hat sich in der Folge neben persönlicher Verbundenheit eine verständnisvolle Zusammenarbeit ergeben, die mir durch Jahrzehnte als Autor und Herausgeber vieler Eigenpublikationen und Sammelbände sehr zugute gekommen ist und mir viel bedeutet. Schon vor meiner Berufung nach Innsbruck hatte ich über Empfehlung von Ferdinand Alois Hermens von der Universität Köln eine Einladung zu einer Gastprofessur an der University of Notre Dame, Indiana, in die USA, erhalten, die ich für das Sommersemester 1967 annehmen konnte. Meine Vorlesungen hielt ich am Departement of Government and International Studies der University of Notre Dame. Ich las über vergleichendes europäisches Verfassungsrecht, politische Systeme und Ideologien in Europa. Während dieses Aufenthaltes wurde ich mit meiner Frau Elisabeth am Karfreitag 1967 von Kelsen und seiner Frau Margarete zu einem Besuch in ihr Haus in Berkeley, Los Angeles Avenue 2126, eingeladen. Das damals geführte Gespräch bleibt unvergesslich und setzte sich in einem längeren Briefwechsel sowie nach seinem Heimgang in einem Kontakt zu seiner Tochter Maria Feder fort. Den Abschluss dieses Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten bildeten zum Ende des Sommersemesters Tage in Washington D. C. und New York mit verschiedenen Begegnungen und Gesprächen. Damals kam mir der Gedanke zur näheren Kenntnis des Verfassungsrechtes und des politischen Systems der USA sowie ihrer Entwicklung die Initiative zu einem Sammelband zu ergreifen, den ich später unter dem Titel „Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“ gemeinsam mit Hilfe der sprach- und kenntnisreichen Mitarbeit von Helmut Widder und Marcus Bergmann in gemeinsamer

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verständnisvoller Herausgeberschaft 1993 in erster und 2007 erweitert in zweiter Auflage im Verlag Duncker und Humblot publizieren konnte. Als ich im Mai 1966 nach Innsbruck zurückkehrte, erwartete mich die Mitteilung der inzwischen von der Innsbrucker Rechtsfakultät beantragten Hebung meines Lehrstuhls auf ein Ordinariat und die Berufung auf ein Ordinariat für öffentliches Recht und politische Wissenschaften an die damals sich in Gründung befi ndende heutige Universität Linz, welche ich annahm, worauf meine Ernennung 1967 erfolgte; eine Professur, die ich später auch für Rechtsphilosophie bis zu meiner Emeritierung 2002 ausübte. Der Abgang von Innsbruck fiel mir nicht leicht, da ich von der Fakultät unter Dekan Clemens August Andreae, der leider 1991 durch einen Flugzeugabsturz tragisch ums Leben kam, freundlich aufgenommen war. Es war mir auch eine Ehre, einer Fakultät u. a. mit Nikolaus Grass, Franz Gschnitzer, Hans Klecatsky und Ernst Kolb anzugehören. Kolb war mir schon in meiner Mittelschul- und Studentenzeit das Vorbild eines christlichen Politikers, der seine praktische Erfahrung aus der Bundesregierung als Handels- und Unterrichtsminister sowie aus der Landesverwaltung als Landesstatthalter Vorarlbergs einbrachte, während Klecatsky mich bereits als Student in seinem Wirken im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes und hernach als Höchstrichter im Verwaltungsgerichtshof beeindruckte. Er gehörte zu meiner Innsbrucker Zeit als Justizminister der Bundesregierung an. Da ich selbst damals bereits durch Funktionen in der ÖVP im politischen Leben stand, schrieb in dieser meiner Innsbrucker Zeit eine Zeitung über uns drei Professoren am Institut für Staatsrecht und Politik, der eine war Minister, der andere ist es und der dritte hat die Chance, es zu werden. Diese Zeitung hat mich nicht genug gekannt, da ich an einer solchen zwar ehrenvollen Tätigkeit, die aber mit nachweislicher Beschäftigung auf Zeit meine akademische Arbeit unterbrochen hätte, nie interessiert war!

VII. Der Weg in die Politik auf Dauer führte mich 1969 durch Entsendung des Landtags meines Heimatlandes Niederösterreich in die Länderkammer der österreichischen Gesetzgebung, den Bundesrat, dem ich von 1969 bis 1997 28 Jahre und ab 1975, also 22 Jahre, in Präsidentenfunktionen und als Vorsitzender der ÖVP-Fraktion des Bundesrates angehörte. Auf diese Weise erlebte ich die Politik in Theorie und Praxis und das intensiv, da ich in dieser Zeit trotz einer dreifachen Funktion in der Länderkammer, nämlich als Mandatar, Fraktionsvorsitzender und einer der Präsidenten meiner vollen Lehr- und Prüfungsverpflichtungen in Linz ohne früher möglichen Kürzung und ohne je ein Frei- oder Forschungssemester in Anspruch zu nehmen nachgekommen bin. Dazu kam noch für mich die politische Betreuung von 30 Orten einschließlich einiger Städte in meinem heimatlichen Verwaltungsbezirk Baden, was sehr anstrengend und zeitraubend ist, aber Bürger- und Lebensnähe vermittelt. Ich habe daher nicht nur über Subsidiarität gesprochen und geschrieben, sondern diese ständig und vielfach auf Orts-, Bezirks-, Landes-, Bundes-, Europa- und Weltebene erlebt, was sich in Aktivitäten und Publikationen dokumentiert, deren Zahl nach der Teilnahme Österreichs an der Integration Europas zunahm. Diesen Ruf in die Politik sowie in das Parlament hatte ich gerne angenommen, weil er die willkommene Legitimation gab, für Mitmenschen da zu

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sein und an der Staatswillensbildung im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen mitzuwirken! Während der 28 Jahre meiner Zugehörigkeit zum Bundesrat habe ich in der Bundesregierung alle Konstellationen erlebt, nämlich Alleinregierung von ÖVP und SPÖ sowie Koalitionen verschiedener Parteien, mit welchen ich mich besonders als Fraktionsvorsitzender der ÖVP auch in Oppositionssituation auseinanderzusetzen hatte. In dieser Zeit war ich bemüht, das mir Mögliche zur Vertretung der Standpunkte meiner politischen Gesinnungsgemeinschaft und der Interessen der Länder in der laufenden Gesetzgebung zu leisten, dazu aber auch die Stellung des Bundesrates zu verbessern. Dies wurde mir sogar möglich, als die ÖVP in der Opposition war, und zwar durch die von mir initiierte neue Geschäftsordnung des Bundesrates 1984 und die sie begleitende Bundes-Verfassungsgesetznovelle. Durch diese Reform erfolgte die Einführung des Teilnahme- und Rederechts der Landeshauptleute im Bundesrat, des Rechtes auf Abhaltung von Enqueten und der Ausbau der Fragestunde; 1988 wurde auch für ein Drittel des Bundesrates das Recht zur Gesetzesanfechtung beim Verfassungsgerichtshof vorgesehen und 1992 als weiteres parlamentarisches Minderheitenrecht für ein solches Drittel das Gesetzesinitiativrecht an den Nationalrat. Besonders beachtenswert ist bei dieser Bundesratsreform 1984 das Zustimmungsrecht des Bundesrates bei Änderung der Kompetenzen zu Lasten der Länder, welches das wichtigste Recht einer Länderkammer ist; was im B-VG 1920 nach dem auf Kelsen zurückgegangenen Entwurf undenkbar gewesen war! Durch dieses absolute Veto des Bundesrates hatten die Bundesländer mit ihren Landeshauptleuten eine starke Stellung anlässlich der Verhandlungen der Länder mit dem Bund über die Teilnahme Österreichs an der europäischen Integration erhalten. Fragen zur Entwicklung der europäischen Integration allgemein und der EU im Besonderen haben mich, der ich auf Grund meiner Bundesratsfunktionen an der Vorbereitung der heutigen EU-Mitgliedschaft Österreichs beteiligt war, in Kontakt mit zahlreichen anderen europäischen Parlamenten gebracht und sie waren in zunehmenden Maße in letzter Zeit auch Themen für Gastvorlesungen an Universitäten, wie in Wroclaw/ Breslau, Opeln, Lublin, Cluj/Klausenburg, Alba Julia, Craiova sowie mit Beteiligung am Erasmus- und Monnet-Programm in Pitesti. Eine besondere Brückenfunktion übte für mich und mit mir auch für andere Boguslaw Banaszak von der Universität Wroclaw/Breslau aus, der den von mir 1986 in Berlin herausgegebenen Sammelband „Österreichs Parlamentarismus – Werden und System“ 1997 in polnischer Übersetzung in Warschau publizierte und in der Folge mit vielen Einladungen zu Gastvorlesungen zu aktuellen verfassungs- und europarechtlichen Fragen mir eine akademische Präsenz an seiner Universität bot; dieser Kontakt setzte sich später an anderen Universitäten in Mittel- und Osteuropa fort. Auf diese Weise erlebte ich nach der Wende die neue Ordnung des sich integrierenden Europas auch als Rechtsund Wertegemeinschaft, besonders in den neuen Demokratien postkommunistischer Staaten, öfters mit Banaszak, in der Folge auch gemeinsam mit Köck, der sich sehr in und mit der Internationalen Vereinigung für Europarecht engagierte. In dieser Sicht war es mir eine Ehre und Freude mit Stern gemeinsam am 1. Mai 2004 in der Aula Leopoldina der Universität Wroclaw/Breslau einen Festvortrag anlässlich der Aufnahme Polens in die EU zu halten.

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Näheren Kontakt hatte ich vom Bundesrat aus mit dem Bundesrat Deutschlands, vor allem auch mit Johannes Rau, den ich unvergesslich in Bonn im Bundesrat, später in Düsseldorf als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und als Bundespräsident in Berlin erlebte, und seinerzeit als Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Bundesratspräsident mit Erwin Teufel bis heute, weiters mit den Senaten Chiles, Frankreichs, Japans, Italiens, Polens, Spaniens und, solange es ihn gab, Bayerns. Dabei sind über die damaligen Funktionen hinaus kollegiale Kontakte öfter auch zu persönlichen Verbundenheiten geworden, wie mit dem früheren Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, mit dem ehemaligen Präsidenten des Bayerischen Senats Walter Schmitt-Glaeser, dem einstigen Generalsekretär des Senats Italiens Damiano Nocilla und zusammen mit ihm in Rom zu Stelio und Agatha Mangiameli. Die akademischen und parlamentarischen Kontakte begleiteten mich achtundzwanzig Jahre neben meinen Aufgaben in Linz, die ich ab 1966 alle wahrnahm, als ich bereits mit der Gründung der heutigen Universität neben Innsbruck schon ab dem ersten Semester in Linz 1966 als Lehrbeauftragter und ab 1967 als Ordinarius unterrichtet habe.

VIII. In Linz erwartete mich in meinen Fächern Ludwig Fröhler, der aus Bayern kam und ein praxisnaher Staats- und Verwaltungsrechtslehrer mit besonderen Kenntnissen des Wirtschaftsrechts war, ein freundlicher Kollege mit dem gleich den Kollegen vorher in Innsbruck die Zusammenarbeit verständnisvoll war. Als Gründungsrektor leistete Fröhler Richtunggebendes. Die personellen, räumlichen und sonstigen Bedingungen für meine neue Tätigkeit und Aufgaben in Linz, die sich neben der Staats- und Verwaltungslehre, dem österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie den politischen Wissenschaften auch auf die Rechtsphilosophie bezogen hatten, waren optimal. Eine Freude war auch, das Werden dieser Universität in einem fächerübergreifenden Miteinander zu erleben. 1977 gründete ich das Institut für Staatsrecht und politische Wissenschaften. Von 1968 bis 1993 war ich auch wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Instituts für Arbeitsmarktpolitik an der Universität Linz. Diese akademischen Aufgaben erfüllte ich bis zu meiner Emeritierung am Ende des Sommersemesters 2002. Auf diesem meinen akademischen Weg von Wien über Innsbruck nach und in Linz begleitete mich in kollegialer Verbundenheit Helmut Widder, der schon mein Hörer bei meiner ersten Vorlesung 1964 in Wien war, auch bei Merkl und Verdross studierte, und Assistent bei mir in Innsbruck und hernach in Linz wurde, wo er sich habilitierte und Professor für Staatsrecht und politische Wissenschaften wurde. In gleicher Weise war auch in Linz Johannes Hengstschläger einer meiner Hörer und Assistenten, habilitierte sich, wurde Professor für öffentliches Recht, nach mir Vorstand unseres Instituts, Dekan der Rechtsfakultät, Rektor der Universität Linz sowie Vorsitzender der österreichischen Rektorenkonferenz und Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofes. Erwähnen will ich auch einen Studierenden an der Universität Innsbruck, der mir dort schon bald in einer Lehrveranstaltung aus Verwaltungsrecht aufgefallen war und

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den ich eingeladen hatte, die akademische Lauf bahn zu ergreifen und einer meiner Assistenten zu werden, nämlich Bruno Simma, der heute Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag ist. Nach seiner Mitarbeit bei mir im Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Innsbruck empfahl ich ihm, mit mir nicht nach Linz zu gehen, sondern den Weg zum Völkerrecht einzuschlagen, was er auch tat, sich aus Völkerrecht in Innsbruck habilitierte und dann in seinem Fach Professor in München wurde. Aus dem Kreis meiner Mitarbeiter und Assistenten in Linz habilitierte sich ebenfalls aus Völkerrecht Manfred Rotter, der auch Professor in Linz wurde. Neben der Freude über den Weg von akademischen Mitarbeitern war mir eine solche der Kontakt zu Persönlichkeiten des Rechtslebens auch im Ausland, der sich in Tokio zu José Llompart in Rechtsphilosophie und in Madrid zu dem Verfassungsrichter und Völkerrechtslehrer Antonio Truyol y Serra aus Einladungen ergab, sowie am Beginn der siebziger Jahre in die Juristischen Gesellschaften am damaligen Sitz der deutschen Höchstgerichte, nämlich in die Juristische Studiengesellschaft in Karlsruhe, der Juristischen Gesellschaft zu Berlin und in Kassel. Diese Vorträge führten auch zu Publikationen in jeweiligen Schriftenreihen, nämlich 1970 in Berlin „Vom Sinnwandel des Rechtsstaates“ und 1971 in Karlsruhe „Die Ministerverantwortlichkeit“. Meine Verbundenheit zu Deutschland konnte ich, der ich Mitglied der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer unter Stern als Vorsitzendem wurde, mit verfassungsrechtsvergleichenden Studien und Vorträgen zu 30 Jahre Grundgesetz 1979 in Speyer, zu 40 Jahre 1989 in Bonn sowie zum 60 Jahr-Jubiläum des Grundgesetzes 2009 in Berlin bekunden. Neben den Einladungen zu Vorlesungen an Universitäten in Deutschland hatte ich auch solche in verschiedene anderen Staaten inner- und außerhalb Europas, so insbesondere in die USA, Chile, Brasilien, Thailand, Japan und Südafrika. Themen dieser Vorträge waren vor allem Fragen des Parlamentarismus, besonders des Zweikammersystems, des parlamentarischen Regierungssystems, Aufgaben der Parlamente, der Landtage und Gemeinden, Föderalismus und Regionalismus im Zeitalter europäischer Integration, Möglichkeiten und Grenzen des Föderalismus, Richter und Politik, die Sozialpartnerschaft, die Wiener Rechtstheoretische Schule, vergleichendes öffentliches Recht, das österreichische Verfassungssystem und die Verfassungsgerichtsbarkeit. Besondere Anlässe gaben Einladungen zu Vorträgen vor dem Zentralverband der Juristischen Gesellschaften Jugoslawiens in Belgrad, dem Kongress der Spanischen Vereinigung für politische Wissenschaften in Sevilla, der Internationalen Juristenkommission in Venedig und Stockholm, vor der Industriellenvereinigung Kankeiren in Osaka, vor der Akademie der Wissenschaften in Padua, Madrid, Düsseldorf, Budapest und im Vatikan, zu 150 Jahre schweizerischer Bundesstaat in Zürich sowie zur 35-Jahrfeier des Polnischen Legislativrates in Warschau. Politische Anlässe veranlassten mich im Parlament in Wien zu Reden auf der gemeinsamen Sitzung von National- und Bundesrat aus Anlass der Gründung der Zweiten Republik Österreich am 27. April 1985, anlässlich der Gedenkkundgebung aus Anlass der Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung unter den Abgeordneten und Bundesräten der Republik Österreich am 11. März 1988, weiters zur Eröffnung der Konferenz der Präsidenten der europäischen parlamentarischen Versammlungen im Bundeshaus von Bern am 24. Juni 1988, zur Verabschiedung von Bundespräsident Dr. Kurt Waldheim und als Vorsitzen-

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der der 14. Bundesversammlung aus Anlass der Angelobung des neugewählten Bundespräsidenten Dr. Thomas Klestil im Parlament in Wien am 8. Juli 1992, zum 25. Jahrestag des Inkrafttretens des Südtiroler Autonomiestatuts im Rahmen der Europäischen Akademie am 31. Jänner 1997 in Bozen, im Ungarischen Parlament in Budapest am 24. April 1997, vor Präsidenten der Länderkammern und Senate Europas am 3. Mai 1997 in Venedig und 28. Juni 2002 in Laibach, vor dem Niederösterreichischen Landtag in St. Pölten anlässlich dessen 1. Sitzung im neuen Landhaus am 21. Mai 1997, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg am 27. Juni 1997, bei der Fünfzigjahrfeier des Tiroler Gemeindebundes in Innsbruck am 7. Oktober 1997 sowie im Russischen Föderationsrat in Moskau am 10. Juni 1997, 17. Oktober 2002 und 20. Feber 2004. Die Stellung Österreichs in der Völkergemeinschaft, Österreichs Neutralität und die Einigung Europas, die Bundesstaatlichkeit sowie Ethik und Staat waren Themen, zu welchen ich 1980 in die Aus- und Fortbildungsstätte des Auswärtigen Amtes Deutschlands in Bonn, in das Institut für Internationale Politik des Außenministeriums Thailands in Bangkok 1990, Russlands in Moskau 1992, Chinas 1995 in Peking und Indiens schon 1990 in New Delhi sowie zur Bajaj-Preisverleihung in Bombay über „Mahatma Gandhi und seine Bedeutung in unserer Zeit“ eingeladen war. Die zahlreichen Auslandseinladungen ermöglichten Gedankenaustausch und Begegnungen mit Kollegen aus dem akademischen und in vielen Fällen auch aus dem politischen Leben, mit gewählten und geborenen Repräsentanten von Staaten, und das vor und nach dem Ende des Kommunismus. So war ich aus Anlass eines offiziellen Besuches am Tag des Endes der Kulturrevolution, nämlich am 19. August 1977, ebenso in Peking, wo ich ein Gespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsident und späteren Staatspräsidenten Li Hsien-nien hatte, wie im Oktober 1992 als Erster der Präsidenten aus dem österreichischen Parlament zum offiziellen Besuch in Deutschland, der mich von Dresden, Berlin, Köln nach Bonn führte, wo mich u. a. Bundespräsident Richard von Weizsäcker empfi ng, den ich schon als Regierenden Bürgermeister von Berlin 1982 kennenlernte und mit dem ich bis heute die Ehre und Freude habe, in Kontakt zu stehen. Nicht unerwähnt lassen möchte ich eine besondere Begegnung, nämlich erstmalig am 9. 12. 1979 in Kalkutta mit Mutter Teresa, die ich später in Wien und Kalkutta wieder sehen konnte und die ihre Friedensnobelpreisrede meiner Frau Elisabeth zur Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche übergab und die 1980 in der von mir herausgegebenen Festschrift „Apostolat und Familie“ für Kardinal Opilio Rossi veröffentlicht werden konnte. Themen meiner Arbeiten, die zu Veröffentlichungen führten, waren bestimmt durch Aktualitäten und Anlassfälle, die sachlich oder persönlich begründet waren. Sie wurden Inhalt von selbständigen Publikationen oder Beiträgen in Fachzeitschriften, Sammelbänden, wie es Festschriften zu einem Jubiläum oder zu einem Thema sind. Als selbständige Publikationen von mir als Autor seien u. a. „Das Volksbegehren“ 1971, „Richteramt und Ethik“ 1982, Ethik und Staat“ 1986, „Kirche, Staat und Demokratie 1992, „Regierung und Kontrolle in Österreich“ 1997, von den Sammelbänden, die ich herausgegeben habe „Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung 1980, „Österreichs Parlamentarismus – Werden und System“ 1986, „Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, Entwicklung und

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Gegenwartsprobleme“ 1993, 2 Bände, sowie „Bundesstaat und Bundesrat in Österreich“ 1997, 2. Aufl. 2003, genannt. Einladungen zu Gastvorlesungen an Universitäten führten zu selbständigen Publikationen wie „Demokracie a federalismus v Europe zitrka“, Prag 1992, „L’Austria e l’Europa“, Milano 1992, „Über die akademische und europäische Verantwortung“, Budapest 2004 sowie „Zur Entwicklung der europäischen Integration – im Miteinander von Österreich und Ungarn – ein Beitrag auch zu einer Rechts- und Wertegemeinschaft“, Budapest 2004. Veröffentlichungen gingen auch auf Vorträge in Akademien der Wissenschaften zurück, in die ich gewählt wurde, wie „Die Geschichte der politischen Tugenden und die Situation des Staates heute“, Padua 1984, „Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung in der Gegenwart“, Madrid 1990, „Das österreichische Regierungssystem – ein Verfassungsvergleich“ Düsseldorf-Opladen 1995, sowie „Politische und rechtliche Entwicklungstendenzen der europäischen Integration“, Düsseldorf-Wiesbaden 2000. Zwei frühere verständnisvolle langjährige Mitarbeiter und spätere Kollegen als Professoren haben mich aus besonderen Anlässen mit Sammlungen meiner Abhandlungen bedacht, nämlich Johannes Hengstschläger im Verlag Österreich in Wien aus Anlass meiner Emeritierung 2002 mit „Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht“ in über 790 Seiten mit Abschnitten über Grundlagen der Staatsrechtsordnung, die Grundrechte, die Demokratie, der Föderalismus, das Regierungssystem, der Beamte und der Richter, Parteien und Interessenvertretungen, die Kontrolle, Öffentlichkeit und Medien sowie Persönlichkeiten, und Helmut Widder im Neuen Wissenschaftsverlag in Wien zu meinem 70. Geburtstag 2004 mit einer Sammlung meiner Beiträge aus dem Bereich der politischen Wissenschaften in über 450 Seiten unter dem Titel „Politik in Theorie und Praxis“ mit Kapiteln: Politik im modernen Staat, Politik und persönliche Verantwortung, Verantwortung in Bund und Ländern, Vollziehung und Politik, Parteien und Interessenverbände, die Entwicklung zum Wirtschafts- und Sozialstaat, Politische Bildung und Kultur sowie nationale und internationale Politik. Vor diesen Sammelbänden, die von akademischer Seite mit Beiträgen von mir herausgegeben wurden, sind aus dem öffentlichen Leben initiiert von Hans Walther Kaluza, Johann Penz, Martin Strimitzer und Jürgen Weiss 1994 zu meinem 60. Geburtstag in 1. Auflage und 1997 in 4. Auflage herausgegeben ein Sammelband „Recht-GlaubeStaat“ sowie auf Initiative des damaligen Nationalratspräsidenten und heutigen Bundespräsidenten Heinz Fischer 1999 zu meinem 65. Geburtstag eine Sammlung unter dem Titel „Zu Politik und Recht. Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge“, herausgegeben von den Präsidenten des Nationalrates und Präsidenten des Bundesrates in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft, erschienen. Ich selbst hatte Gelegenheit auf Grund von Vortragseinladungen Beiträge zur Schriftenreihe der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft über „Europäische Integration und österreichischer Föderalismus“ 1993 und „Entwicklungstendenzen der Demokratie und des Rechtsstaates heute“ 1994 zu leisten.

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IX. Ein ständiges Anliegen war es mir, zum Andenken meines Lehrers und Wegweiser meiner akademischen Lauf bahn Adolf Merkl beizutragen. Das konnte ich mit meinem Vortrag 1990 vor der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft über „Leben und Wirken von Adolf Julius Merkl“, der als Beitrag in ihrer Schriftenreihe erschien und 1991 mit einer Gastvorlesung an der Universität Bologna tun. Ein besonderes Gedenken war für das Schrifttum von Merkl, dessen umfangreicher Nachlass testamentarisch von ihm verfügt an mich übergegangen war, dadurch möglich geworden, als Dorothea Mayer-Maly, die schon 1960 das erste Schriftenverzeichnis von Merkl erstellte, und Wolf-Dietrich Grussmann, der bereits 1989 nach eingehendem Studium des Nachlasses von Merkl, die Schrift „Adolf Julius Merkl – Leben und Werk“ publizierte, mit mir die gesammelten Schriften von Merkl gegliedert in 6 Bänden, Grundlagen des Rechts, Verfassungsrecht-Völkerrecht, Zeitgenossen und Gedanken, im Verlag Duncker und Humblot in Berlin veröffentlichten. Alfred Verdross konnte ich meine besondere Verbundenheit zuletzt 2009 auch in der Festschrift für Köck in meiner Abhandlung „Alfred Verdross als Rechtsphilosoph und die Wiener Rechtstheorethische Schule“ bekunden. Wenngleich ich nach meiner Habilitation auf Grund meiner Berufungen sowie Einladungen zu Gastvorlesungen im In- und Ausland oft auch außerhalb von Wien war, hat mich die Wiener Rechtstheoretische Schule in Lehre und Forschung immer begleitet, wurde ich auf sie angesprochen und über sie vorzutragen eingeladen, z. B. auch über Kelsen u. a. in Wroclaw/Breslau, Tokio wie in Valpareiso. Diese Verbundenheit war für mich auch nach meiner Berufung nach Innsbruck während meiner ersten Professur Grund, dass ich die Initiative zur Herausgabe einer Auswahl wichtigster Publikationen von Kelsen, Merkl und Verdross ergriff und Hans Klecatsky sowie René Marcic zur Mitherausgeberschaft einlud. Das Buch erschien 1968 im Europa Verlag und als Neudruck 2010 im Verlag Österreich in Wien. Dankbarkeit konnte nicht nur ich im Rahmen des Möglichen anderen, vor allem meinen Lehrern bekunden, sondern habe ich selbst an Wertschätzung erfahren, so durch das Ehrendoktorat der Rechtswissenschaften der Katholischen Universität von Chile in Santiago de Chile (1992), der Katholischen Universität von Amerika in Washington D. C. (1995), der Karls-Universität in Prag (1998), der Universität Wroclaw/Breslau (2000) sowie der Universität Pitesti (2006), der Philosophie der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein (2001), wie der Theologie der Päpstlichen Theologischen Fakultät Wroclaw/Breslau (2002) und der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia (2010). Eine Ehre war es mir auch, dass mich die Accademia Gallileiana di Scienze Lettere ed Arti in Padua, die Real Academia de Ciencias Morales y Politicas in Madrid, die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf und das Instituto Lombardo der Accademia di Scienze e Lettere in Mailand zum Mitglied sowie die Tschechische Gelehrte Gesellschaft in Prag zum Ehrenmitglied wählten. Ausgezeichnet wurde ich u. a. mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich, weiters von allen österreichischen Bundesländern, mit dem Großkreuz des Verdienstordens Deutschlands, dem Verdienstorden Bayerns und von Staaten in- und außerhalb Europas.

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Besondere Wertschätzung wurde mir literarisch durch Festschriften erwiesen; die Erste 1994 zu meinem 60. Geburtstag von Hengstschläger, Köck, Stern und Truyol Serra im Verlag Duncker und Humblot in Berlin herausgegeben; im Umfang von 1097 Seiten beinhaltete sie Beiträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsgeschichte, allgemeine Staatslehre, allgemeines Verfassungsrecht, österreichisches Verfassungsrecht, ausländisches Verfassungsrecht, Völkerrecht und internationale Beziehungen sowie europäische Integration. Zu meinem 75. Geburtstag hatten in Wroclaw/Breslau Banaszak von der Rechtsfakultät der Universität und Jerzy Machnacz von der Päpstlichen Katholischen Theologischen Fakultät 2009 unter dem Titel „Lex divina et civitatis“ einen Sammelband mit Beiträgen zu Recht und Theologie von Priestern und Gelehrten Polens herausgegeben. Schriften, die man entweder selbst als Autor oder Herausgeber veröffentlicht, sind an Mitmenschen gerichtete Einladungen zum Lesen und genau so die durch Widmung selbst erhaltenen Veröffentlichungen. In beiden Richtungen wird der Dialog auf literarischen Wegen gesucht. Das Wort kann dadurch Verantwortung ausdrücken, wobei Verantwortung tragen Antwort geben verlangt und dieses das Verstehen des Wortes sowie durch dieses das Zeitverständnis voraussetzt. Dieses Zeitverständnis hat der Jurist mit Verstehen der Geschichte, den Erfordernissen der Gegenwart und den Erwartungen der Zukunft zu verbinden. Wissen und Gewissen sollen dabei wechselseitig bezogen sein. Wenn ein Jurist diesen Aufgaben als Wissenschaftler nachzugehen hat, kann er Entwicklungszusammenhänge darstellen und im Rahmen des ihm Möglichen auch Vorschläge zur Rechtssetzung sowie Rechtsvollziehung erstatten; die Verantwortung für die Ausführungen dieser rechtswissenschaftlichen Wegweisungen hat der Politiker zu tragen; er entscheidet im Rahmen seiner jeweiligen Kompetenz über das Akzeptieren oder Negieren von Vorschlägen und Initiativen, soweit solche vorliegen, andernfalls kann und soll er selbst aktiv werden. Der Wissenschaftler kann sich die Bereiche seiner Verantwortung und die Aufgaben seiner Sachgebiete aussuchen. Der Politiker ist in die Entwicklung der Zeit mit ihren Erfordernissen und Notwendigkeiten, die er sich nicht auswählen kann, hineingestellt. Während der Wissenschaftler von Sachlichkeit begleitet wird und die objektive Beurteilung seiner Leistungen möglich ist, ist dies bei dem Politiker nicht immer gegeben. Oberflächlichkeiten und Zufälligkeiten können auch bestimmend sein, darum kann Österreichs einstigen Bundeskanzler Julius Raab nur zugestimmt werden: „Im Leben eines Politikers sind das Hosianna und Kruzifi xe oft dicht nebeneinander.“ Wissenschaft und Politik begründen jeweils eigene Verantwortungen, die oft getrennt eigenständig entstehen, sich aber bisweilen auch ergänzen können, so wenn der Wissenschaftler ein Zeitproblem sachgerecht zu lösen sich bemüht und der Politiker dabei willens und fähig ist, seine Autorität zu deren Lösung einzusetzen. Dies gilt allgemein für Wissenschaft und Politik, aber auch besonders für die Beziehung des Rechtswissenschaftlers zur Politik. Der Rechtswissenschaftler kann im Rahmen seines Faches sein Bemühen selbst bestimmen, der Politiker hingegen ist auf der Ebene seiner Verantwortung – kontrolliert ständig von der Öffentlichkeit – von der Aktualität zum Handeln aufgerufen. Das gilt für sachliche Anliegen wie für persönliche Begegnungen, für welche der Satz seine Richtigkeit hat, den mir der frühere österreichische Vizekanzler und Außenminister Alois Mock einmal sagte: „Man kann sich nicht immer aussuchen, wem man nach dem Protokoll die Hand geben muss.“

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Wem diese Verantwortung im Rahmen von Recht und Politik aufgetragen ist, sollte sich bemühen, der Legalität mit Humanität zu dienen und dem Rechtsstaat menschliche Züge zu geben. Das verlangt nichts von Anderen zu fordern, was man nicht selbst zu tun bereit ist, was Glaubwürdigkeit begründet, und jede anderen auferlegte Aufgabe, Belastung und Pfl icht zu begründen. Die Politik in der Demokratie verlangt nämlich die Beantwortung der Frage nach dem Warum und Wozu! Gerade in einer Demokratie, in der das Recht vom Volk ausgeht, soll nicht empfunden werden, es wäre am Volk ausgegangen! Dieser zeitnotwenigen Verantwortung suchte ich als Rechtswissenschaftler und Politiker nachzugehen: mit Ernst und auch, wo es möglich war, mit Heiterkeit. Aus diesem Grund hatte ich die Einladung von Dr. Gottfried Heindl angenommen und 1979 in erster Auflage, der später mehrere folgten, das „Juristen-Brevier – Juristen in Geschichten und Anekdoten“ mit ihm herausgegeben. Den Ernst der Verantwortung hatte ich sowohl als akademischer Lehrer als auch als Parlamentarier auf verschiedenen Ebenen des öffentlichen Lebens zu Tragen zu bringen, besonders deutlich als Vorsitzender der 14. Bundesversammlung, die in Österreich von Nationalrat und Bundesrat gebildet wird, als ich am 8. Juli 1992 nach meiner Mitwirkung an der Verabschiedung von Dr. Kurt Waldheim die Angelobung des neu gewählten Bundespräsidenten Dr. Thomas Klestil vorzunehmen hatte. Bei dieser Gelegenheit erinnerte ich an das mitmenschliche Gebot in der Politik, als ich in meiner Rede zu diesem festlichen Anlass sagte: „Es interessierte niemand, wer mit wem streitet, sondern vielmehr, an wen einer sich wenden kann, wenn er Sorgen hat und Hilfe benötigt“. In diesem Sinne sollten in der Ordnung eines Staates durch die Juristen und durch das Bemühen in der Politik persönliche Anliegen, öffentliche Interessen der Gesellschaft und Zwecke des Staates aufeinander abgestimmt zum Tragen kommen, damit menschengerecht die Politik dem Recht und dieses dem Staat dient. Darum habe ich mich im Rahmen des mir Möglichen stets bemüht.

Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum

Die Institution der politischen Partei im Königreich Spanien* von

Prof. Dr. José María Porras Ramírez Lehrstuhl für Verfassungsrechts, Universität Granada

Inhalt 1. Teil: Der historische, gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Rahmen der Parteien in Spanien . . . . A. Epochen in der Verfassungsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bekämpfung (bis 1833) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ignorierung (1834–1868) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Legalisierung (1869–1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verfassungsrechtliche Anerkennung (ab 1931 bis heute). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Versuch Republik (1931–1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ein-Parteien-System (1936–1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Übergang zur Parteiendemokratie (1975–1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Stellung der politischen Parteien in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Teil: Die politischen Parteien als Instrumente der Bildung und des Ausdrucks des Willens des Volks . A. Politische Teilnahme und politische Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Politische Repräsentation und politische Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Freiheit der Gründung und Errichtung von Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Errichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Registrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Richterliche Aufhebung und Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teil: Finanzierung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Allgemeines und Gesetzesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Mittel der Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Grenze der Wahlausgaben und Kontrollsytem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Teil: Parteien und ihre Mitglieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Innere Struktur und demokratische Aufbau. Rechte und Pflichten der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . B. Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *

Übersetzung von Dr. jur. Stefan Riechert, München.

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1. Teil: Der historische, gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Rahmen der Parteien in Spanien A. Epochen in der Verfassungsgeschichte Nach dem theoretischen und jetzt schon klassischem Modell von H. Triepel sind bei den Beziehungen zwischen Staat und den politischen Parteien in Westeuropa vier geschichtliche Epochen zu unterscheiden. Die erste Epoche ist gekennzeichnet von einer offenen staatlichen Bekämpfung, Vereinigungen in irgendeiner Form zu akzeptieren oder anzuerkennen. Das gleiche gilt während der Herrschaft sowohl des sog. „Absolutistischen Staats (16.–18. Jhd.) wie auch in den Anfängen des „Rechtsstaats“, der mit deutlichen individuellen Merkmalen aus den ersten liberalen Revolutionen gegen Ende des 18.Jhd. und Beginn des 19. Jhd. hervorging. Ein zweite Epoche, die schon neutraler oder ohne Wertung gegenüber „Vereinigungen“ war, beinhaltete die formale „Ignorierung“ einiger bestimmter und bestehender Gruppierungen durch den Staat. Sie bildeten und äußerten später den politischen Willen des Staats. Sie waren die aktiven Vertreter eines politischen Lebens. Diese Epoche entspricht der höchsten Entwicklungsstufe des Liberalstaats in der Mitte des 19. Jhd. Danach schließt sich eine dritte Epoche an, in der engültig eine „Legalisierung“ und dementsprechend die formal-rechtliche Anerkennung der Existenz der politischen Parteien stattfand, wenn auch nur als gesetzlicher Entwurf, zumindest ausdrücklich in der Verfassung durch das Recht auf Vereinigung. Diese Epoche umfasst ungefähr das letzte Drittel des 19. Jhds. und Teile der Zwischenkriegszeit. Schließlich gibt es eine vierte Epoche, in der wir uns jetzt befi nden, einer Epoche der Anerkennung oder „Inkorporierung“ der Parteien in die Verfassungen, was teils schon vor dem 2. Weltkrieg begann, aber sich danach erst vollständig entwickelte und zeigte1. Dieses Modell, das mit kleineren Variationen auf den größten Teil der europäischen Kontinentalstaaten anwendbar ist, kann man perfekt auf Spanien übertragen, das im Laufe seiner zweihundertjährigen Verfassungsgeschichte damit experimentierte. Dies läßt sich im folgenden kurz darstellen2.

I. Bekämpfung (bis 1833) Die erste Epoche fällt mit den zwei politischen Formen oder Modellen des Staats zusammen, die sich radikal gegen die Idee von Vereinigungen im Allgemeinen und politischen Parteien im Besonderen wendeten. Die grundlegenden Merkmale der absolutistischen Staatstheorie, in Spanien zwischen dem 16. und 18. Jhd., bilden den sog. „Obrigkeitsstaat“, der von oben herab in einer vertikalen Form gestaltet ist und 1

H. Triepel, „Die Staatsverfassung und die politischen Partei“, Berlin, 1928, S. 12. Siehe dazu die sehr gute Zusammenstellung, die dies zu Ende führt von J. A. Portero Molina, „La constitucionalización de los partidos políticos en la historia constitucional española“, in Revista Española de Investigaciones Sociológicas, n 1, 1978, S. 251–279. Und J. M. Porras Ramírez, „Regimen juridico de los partidos políticos en la historica constitucional española“, en M. L. Balaguer Calleyion (ed.), „XXV aniversario de la Constitución española. Propuestas de reformas“, Malaga, 2004, S. 335–351. 2

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der auf der Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam beruht. Er konzentriert und integriert alle legitim anerkannte Macht, sowohl die externe als auch interne Macht, in einer einzigen Instanz, ist Ursprung und Souverän der Macht, die unteilbar ist und keiner rechtlich oder politisch institutionalisierten Kontrolle unterliegt. Monarchie und Staat decken sich vollständig. Der absolute Staat, der wie ein institutioneller Apparat konzipiert ist und an dessen Spitze der König als öffentlicher und aktiver Repräsentant der Macht steht, unterscheidet sich so von dem in die verschiedenen Stände eingeteilten Staat. Demgegenüber steht die Gesellschaft außerhalb der Staatsmacht, sie bleibt gegenüber der Macht passiv und privat 3. Die Spannung zwischen der neuen sozialen Wirklichkeit und dem formalen Staatsauf bau läßt eine dialektische Situation entstehen. Dieser Widerspruch ist am schärfsten dadurch geworden, dass keine friedlich Evolution der veralteten Rechtsstrukturen stattfand. Dies führte zu Revolutionen, die die Hindernisse beseitigten, die den Zugang oder zumindest die Teilhabe an der Macht des Bürgertums verhinderten4. So kommt der Verfasssungsstaat, der in gewisser Weise wie A. de Toqueville meint die Spitze dieser Tendenzen ist, die in der soziopolitischen Dynamik des absolutistischen Staats vorhanden waren5, auch wenn sie jetzt auf anderen theoretisch-politischen Voraussetzungen beruhen. Der neue Staat ist von jeder Art von „Vermittlern“ frei, die an das System der staatlichen Privilegien des „Alten Regimes“ gebunden waren. Durch die politische Philosophie von J. J. Rousseau inspiriert, die formal die Gleichheit betont, durch den „volonté générale“6 und durch das neue Konzept einer einheitlichen Souveränität der Nation, nach dem jeder Abgeordnete die Nation direkt vertritt und ohne Mittler ihr voll unterworfen ist, wurde jede Art von Vereinigung oder Gruppe abgeschafft. Gleichzeitig bereinigte man auf der anderen Seite die Beziehung Individuum-Staat, die nicht durch eine Vereinigung, Gruppe oder irgendein Kollektiv beherrscht werden sollte7. Die „Cortes von Cádiz“ bestanden darauf, dass diese „vermittelnden Gruppierungen“ außen vor bleiben sollten. Sowohl die Verfassung von 1812 als auch die umfassenden Regelungen jener Zeit, die sich in ihren zahlreichen Dekreten und Generalverordnungen bemerkbar machte, zeigen diese Realität. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist das „Dekret LIV vom 21. Oktober 1820“, das eine Antwort auf eine parlamentarische Vorlage eines Abgeordneten ist. Darin wird festgestellt, dass dem Kongress keine Petition, keine Vorlage und kein Bittschreiben welcher Art auch immer vorgelegt werden kann außer von Körperschaften oder Personen mit öffentlichen Ämtern oder Privatpersonen8. Man versuchte die Möglichkeit auszuschließen, die der Artikel 373 der Verfassung von Cádiz von 1812 eröffnete, nach dem „jeder 3 J. A. Maravall Casesnoves, „Estado moderno y mentalidad social (Siglos XV–XVII)“. (1972), Madrid, Revista de Occidente, 2. Ausgabe, 1986, Band II, S. 408 ff. Auch J. M. Porras Ramírez, „Principio democrático y función regia en la Constitución normativa“, Madrid, Tecnos, 1995, S. 160– 163. 4 L. Sanchez Agesta, „El pensamiento político del despotismo ilustrado“, Madrid, Instituto de Estudios Políticos, 1953, passim. Auch M. Garcia Pelayo, „Derecho constitucional comparado“. (1950), Madrid, Alianza, 1986, S. 147–148. 5 A. de Toqueville, „L’Ancien Régime et la Révolution“. (1856), Livre I, passim. 6 J. J. Rousseau, „Du contrat social“. (1762), Livre II, Chap. III. 7 J. Varela Suanzes, „La teoría del Estado en los orígenes del constitucionalismo hispánico. (Las Cortes de Cádiz)“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1983, S. 98 ff. und S. 197 ff. 8 Diario de Sesiones de las Cortes, de 28 de julio de 1820.

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Spanier das Recht hat, bei den Cortes oder beim König eine Petition einzureichen, um die Einhaltung der Verfassung einzufodern“. Diese Vorschrift wurde verwendet durch die sog. „patriotischen Gruppen“, die der Ursprung der politischen Parteien in der Zukunft waren. Sie versuchten durch kollektive Petitionen ihre Meinungen, häufig kritische Anmerkungen zu allgemeinen politischen Fragen, der Regierung zu übermitteln, um die Politik zu beeinflussen. Das zitierte Dekret verbietet so jede Möglichkeit der Legalisierung derartiger Gruppierungen. Man hielt sie deshalb für subversiv und verbot ihnen – als illegitim angesehen –, sich als institutionalisierte Instrumente der öffentlichen Vertretung zu bilden. So sagt Artikel 1 dieses Dekrets: „Für die Ausübung der Freiheit der öffentlichen Angelegenheiten sind selbst verfasste und selbst bestimmte individuelle Versammlungen unter dem Namen von Vereinigungen, Konföderationen, patriotischen Zusammenkünften oder unter welchem Namen auch immer ohne öffentliche Anerkennung nicht notwendig. Daher sind diese Vereinigungen von jetzt ab laut Gesetz verboten.“ Darüber hinaus unterwirft Art. 2 die Versammlungsfreiheit mit politischen oder kulturellen Zielen einer strengen Vorabkontrolle durch die Regierung. Danach „können Individuen, die in der Zukunft regelmäßig Versammlungen an irgendeinem Ort abhalten möchten, um über Politik zu diskutieren und an einem Meinungsaustausch teilnehmen wollen, dies nur mit der vorherigen Kenntnis der lokalen Verwaltung machen, die für den Mißbrauch verantwortlich ist und die die Maßnahmen ergreifen kann, die sie für geeignet hält, unter Einschluss der Auf hebung der Versammlung“. Art. 3 endet mit der Feststellung, dass „die Individuen, die sich so versammelt haben, niemals sich als Vereinigung betrachten dürfen, und weder als solche Petitionen einreichen noch als Stimme des Volkes sprechen dürfen, noch mit anderen gleichartigen Gruppierungen in Beziehung treten dürfen“9. Man bekämpfte daher jede Form einer Gruppierung oder Vereinigung, die Ideen, politische Kritik oder irgendwelche Ansprüche freiheitlich einforderte, um Petitionen oder Ratschläge an die Cortes und dem König zu übermitteln10. Es widerspricht dem Geist und dem Text der Verfassung, die einen individuellen Charakter aufweist, da sie nur Menschen- und Bürgerrechte anerkennt. Dieses Verbot der Vereinigungsfreiheit nahm das Strafgesetzbuch von 1822 auf gem. Art. 317, 318 und 319 in Kapitel IV des Titels III unter „Delikte gegen die innere Sicherheit des Staates und gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung“.11

9

Siehe in „Colección de los Decretos y Ordenes Generales de la Primera Legislatura de las Cortes Ordinarias de 1820 y 1821, desde 6 de julio hasta 9 de noviembre de 1820, mandada publicar por orden de las mismas“, Madrid, Imprenta Nacional, Tomo VI, 1821, S. 229–230. 10 Das Decreto LXVIII, de 12 de febrero de 1822, besteht darauf die „gerechten Schranken des Petitionsrechts“ festzulegen. Siehe in der „Colección de los Decretos y Ordenes Generales, expedidos por las Cortes extraordinarias, que comprende desde 22 de septiembre de 1821 hasta 14 de febrero de 1822, impresa de orden de las mismas“, Madrid, Imprenta Nacional, Tomo VIII, 1822, S. 263–265. 11 Siehe M. Artola Gallego, „Partidos y programas políticos (1808–1936)“, Volumen I: „Los partidos políticos“. (1974), Madrid, Alianza, 1991, S. 161–162.

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II. Ignorierung (1834–1868) Die zweite Epoche ist dadurch gekennzeichnet, dass der Staat gegenüber den politischen Vereinigungen neutral ist, die, obwohl sie bereits existieren, offiziell durch den Staat nicht anerkannt werden. Der Zeitraum der Epoche erstreckt sich von 1834, in der das Estatuto Real verabschiedet wurde bis zum Ende des Königtums von Isabel II im Jahr 1868. Diese Zeit wird von einer „toleranten Indifferenz“charakterisiert, in der nicht eine aktive Opposition gegen die Aktivitäten der politischen Parteien in Spanien herrschte. Es entspricht der Tatsache, dass diese Vereinigungen sich schon als unausweichliche Realität zeigen, die mit ihren Aktivitäten das politische Leben im Staat bestimmten. Trotzdem ist die Vereinigungsfreiheit formal nicht anerkannt12. Das zitierte „Estatuto Real“ hebt aber trotzdem stillschweigend in der Präambel die Bedeutung und soziale Existenz der Parteien als organisierte Kollektive hervor, die die politischen Interessen verteidigen. Trotzdem betrachtet es die Parteien noch als außerhalb des Gesetzes stehend, weil sie unerwünschte Fraktionen der Nation und des Staates und mögliche Feinde der Regierung und der anderen Institutionen sind. Gem. dem Estatuto Real müssen die Cortes, um ihren Einfluss zu mindern, eine erforderliche Sitzung abhalten, um größeren Zusammenhalt des Staats um die Krone herum zu erzielen13. Die Verfassung von 1837 übergeht auch jeglichen Bezug auf die Versammlungsfreiheit. Trotzdem erkennt ihre wichtige Reform von 1845 am Rande die Parteien als Subjekte der politischen Aktivitätat und ihren bedeutenden Beitrag zur Stabilität der Verfassung an. Sie nimmt in dem Vorbericht ausdrücklich auf sie Bezug, ohne sie negativ zu charakterisieren, um an „die allgemeine Freude zu erinnern, die sich bei ihrer Verabschiedung bei allen Parteien zeigte“14. Trotzdem betrachtet das Strafgesetzbuch von 1848, zusammengestellt 1850, in Bezug auf die Arbeiterbewegung stillschweigend die Bildung von geheimen und ungesetzlichen Vereinigungen als Delikt. „Versammlungen von mehr als 20 Personen . . . um Angelegenheiten jeglicher Art zu besprechen . . . ohne Kenntnis der öffentlichen Verwaltung“ stellen Delikte dar. Trotz allem und trotz des Schweigens der Verfassung und einer repressiven Gesetzgebung tolerierte und akzeptierte die Politik in der Praxis in dieser Zeit die Existenz der Parteien im politischen Leben des Staates als normal15.

III. Legalisierung (1869–1931) In der dritten Epoche sind die Parteien vollständig legalisiert worden. Sie umfasst den Zeitraum von 1868 bis 1931. Die öffentliche Forderung, sowohl nach allgmeinem und freiem Wahlrecht als auch nach dem Recht zur Vereinigung, sorgte dafür, dass 12

J. A. Portero Molina, „La constitucionalización de los partidos . . .“, a.a.O, S. 260–261. Siehe dazu allgemein, J. Tomas Villarroya, „El sistema político del Estatuto Real (1834–1836)“, Madrid, Instituto de Estudios Políticos, 1968. 14 Siehe D. Sevilla Andres, „Dictamen de la Comisión sobre la reforma de la Constitución“, in „Constituciones y otras leyes y proyectos políticos de España“, Madrid, Editora Nacional, Tomo I, 1969, S. 359 ff. 15 M. Artola Gallego, „Partidos y programas políticos (1808–1936)“, Volumen I, a.a.O., S. 162– 164. 13

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man schnell ausdrücklich diese Freiheit zusammen mit der Vereinigungsfreiheit anerkannte. So veröffentlichte man am 20. November 1868 ein Dekret, dass den Inhalt der Verfassung von 1869 vorwegnahm. Der Artikel 17 der Verfassung erklärt endlich, „das Recht sich zu vereinigen für alle Lebensziele, die nicht der öffentlichen Moral widersprechen“. In den Diskussionen, die darüber vor seiner Ausarbeitung stattfanden, erkannte man die enorme Bedeutung der Parteien für das politische Leben, da sie die öffentliche Meinung formen, die Gesellschaft ordnen und ihre Forderungen kanalisieren. Die volle Konsolidierung der verschiedenen politischen Gruppen und ihre wichtige soziale Rolle sorgten für eine sehr positive Bewertung16. Die Verfassung von 1876, beeinflusst von Cánovas, erklärt formell im Art. 13, das Recht „sich zu vereinigen für alle Lebensziele“. Das Gesetzbuch von 1870, das das allgemeine restriktive Konzept seiner Vorgänger überwand, behielt trotzdem die Schranke der öffentlichen Moral bei, um die Gesetzlichkeit oder Ungesetzlichkeit der Vereinigungen zu bestimmen. Diese Einschränkung wendete man gem. dem Obersten Gerichtshof an, um die radikalsten Arbeitervereinigungen und die sog. „revolutionären Arbeiterparteien“ zu bekämpfen. Trotzdem entwickelte das sehr wichtige Vereinigungsgesetz von 188717, beeinflusst duch die Regierung von Sagasta, endlich auch das Recht sich zu vereinigen, das innerhalb seines Wirkungsbereichs die „Vereinigungen für politische Ziele“ (Art. 1) beinhaltete. Der Art. 4 ermöglicht dem Chef der Provinzregierung die Vorabkontrolle der Gesetzmäßigkeit der Vereinigung gemäß ihren Bestimmungen. Danach ist er aber trotzdem dazu verpfl ichtet, dem zuständigen Richter den Fall vorzulegen, wenn es Anzeichen für ein strafrechtliches Delikt gibt. Dieser Chef kann zeitweise die Aktivitäten der Vereinigung einstellen lassen, was aber endgültig nur das Gericht vermag. Dies ist die wirkungsvollste Garantie, die in dem Gesetz zugunsten der Veinigungsfreiheit vorgesehen ist18. Durch verschiedene Umstände, darunter die Teilauf hebung der Ausübung der Vereinigungsfreiheit während der Diktatur des Generals Primo de Rivera (1923–1930), blieb diese Norm mit der positiven Einstellung gegenüber der Feiheit gültig bis zum Ende der Königstums von Alfonso XIII im Jahre 1931.

IV. Verfassungsrechtliche Anerkennung (ab 1931 bis heute) 1. Der Versuch Republik (1931–1936) Die vierte Entwicklungsepoche stellt eine Konstitutionalisierung der Parteien in Spanien dar. Sie beginnt mit der vorübergehenden Errichtung der Republik (1931– 1936), was als sog. „Quasi-Konstitutionalisierung der politischen Parteien“19 bekannt ist. Es ist ein weiteres Merkmal des Prozesses der Rationalisierung der Macht, die für 16

M. Artola Gallego, „Partidos y programas políticos (1808–1936)“, Volumen I, a.a.O, S. 164–

165. 17 18

B. Olías de Lima, „La libertad de asociación en España (1868–1974)“, Madrid, 1977, S. 250 ff. M. Artola Gallego, „Partidos y programas políticos (1808–1936)“, Volumen I, a.a.O, S. 166–

168. 19

J. A. Portero Molina, „La constitucionalización de los partidos . . .“, a.a.O., S. 266–272.

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diesen Zeitraum charakteristisch ist20. Ihre Neuerung liegt nicht im Bezug auf die Vereinigungsfreiheit, die der Art. 39 der Verfassung von 1931 erklärt, wie im übrigen auch nicht die vorgehende Verfassung eine Neuerung enthielt, die sowohl das Vereinigungsgesetz vom 1887 als auch den gleichen Deliktsbegriff, der auf die Vereinigungen angewendet wird, in dem neuen Strafgesetzbuch von 1932 beibehält21. Ihr Hauptbeitrag besteht in dem Beginn der Diskussion über die Notwendigkeit die Parteien zu konstitutionalisieren. Sie hat Formen der Kontrolle der Strukturen und der tatsächlich demokratischen Funktionen der Parteien eingeführt, um auf der einen Seite den Staat zu verteidigen und auf der anderen Seite die Mitglieder der Parteien zu schützen 22. Auch kann man ihr die Neuerung zuschreiben, dass sie die Diskussion über die mögliche Bewertung der politischen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts eröffnet hat, weil sie wichtige und entscheidende Teilhaber an der Politik des Staats und „konstituierte Elemente der Gesellschaft“ sind 23. Letztendlich erinnerte die Verfassung, weil es eine Opposition gab, die diese Initiativen begannen, an die herausragende Rolle der Parteien in der Entwicklung der parlamentarischen Tätigkeit und verwies auf die Regelungen, die in dem Verfahren der Cortes vorgesehen waren. Dieses Verfahren, in der provisorischen Fassung von 1931, vor der eigentlichen Verfassung, erkannte zum ersten Mal die Parteien und ihre Funktionen an. Sie bezeichnet ihren Titel III als „die Fraktionen oder parlamentarischen Gruppen“, die in der Kammer sind. Danach gab das Verfahren der Cortes von 1934 ihrer Rolle noch eine größere Bedeutung, weil sie auf die Notwendigkeit der Parteien bei der Bestimmung der Zusammensetzung der verschiedenen Organe im Parlament und auf ihre Rechte und Pfl ichten verwies24.

2. Das Ein-Parteien-System (1936–1975) Spanien einen der modernsten Staaten in Europa gemacht hatten, wenn man die schnelle Anerkennung und gesetzliche Regulierung des „quasi-konstitutionellen“ Charakters der Parteien betrachtet. So hat das totalitäre Regime, das die Grundprinzipien des Konstitutionalismus negierte, durch ein Dekret vom 13. September 1936 die Vereinigungsfreiheit und die daraus folgende Möglichkeit Parteien frei zu gründen, unterdrückt und die bestehenden Parteien, die sich gegen die neue politische Staatsform wendeten, verboten. Ein anderes das vorhergende ergänzende Dekret vom 25. September 1936 schloss jegliche politische Aktivität einer Partei aus. Und am Ende errichtete das Dekret vom 19. April 1937 eine einzige Partei, die „alle nationalen Kräfte dem Dienst des Staates“ sammelte, „wie in anderen Staaten mit einem totalitären Regime“. Man ahmte damit die in dieser Zeit grundlegenden Modelle in Italien und Deutschland nach. Diese Einheitspartei heißt gem. Art. 1 „Falange Española Tradicionalista y de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista“ besser bekannt 20 B. Mirkine-Guetzévitch, „Nouvelles tendences du Droit constitutionnel“. (1928). Trad. esp., Madrid, Reus, 1934. 21 M. Artola Gallego, „Partidos y programas políticos (1808–1936)“, a.a.O., S. 168. 22 Diario de Sesiones de las Cortes, de 1 de octubre de 1931. 23 Diario de Sesiones de las Cortes de 1 de octubre de 1931. 24 N. Pérez Serrano, „Tratado de Derecho político“, Madrid, Cívitas, 1976, S. 332 ff.

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unter dem Kürzel „Movimiento Nacional“. Dieser Partei hat als „Hauptaufgabe“, „dem Staat die Kraft des Volkes zu geben und dem Volk das Denken des Staates näherzubringen, durch das die politisch-moralischen Tugenden in einem hierarchischen Dienst und in einer Bruderschaft sich entwickeln“25. Diese charakteristischen Merkmale, d. h. das „Ein-Parteien-System“ und das Verbot der übrigen bestand während der gesamten Zeit der Diktatur. Ihre größte normative Rechtfertigung erreichte sie als man sie in sog. „Leyes Fundamentales del Estado“ einfügte. Logische Folge war, dass das Strafgesetzbuch von 1944 alle verfaßten Vereinigungen als rechtswidrig einstufte und unter Strafe stellte. Dem sehr restriktiven Vereinigungsgesetz von 1974, verabschiedet am Ende des Regimes, und mit dem theoretischen Ziel vor der öffentlichen Meinung, sowohl intern als auch international, als Regime bestehen zu können, fehlte jegliche praktische Bedeutung und es scheiterte in seinen zu ängstlichen und engen Absichten.

3. Der Übergang zur Parteiendemokratie (1975–1978) Restaurator der konstitutionellen und parlamentarischen Demokratie, um die Überwindung der langen Periode des politischen Rückschritts, die Spanien erlitt, einzuleiten und die Kontinuität in der Verfassungstradition im europäischen Kontext wiederaufzunehmen 26. So verabschiedet man am 14. Juni 1976 ein Gesetz mit einer provisorischen Regelung der Vereinigungsfreiheit. Es stellt die wesentlichen Ziele von Parteien dar, d. h. „in einem demokratischen Verfahren die nationale Politik zu bestimmen und die Bildung des politischen Willens der Bürger wie auch ihre Teilhabe in den repräsentativen Institutionen mit politischem Charakter zu fördern durch die Gestaltung der Programme, die Präsentation und Unterstützung der Kandidaten in den entsprechenden Wahlen und alles zu tun, was notwendig ist, um diese Ziele zu erreichen“. Das Gesetz schaffte auch einige Kontrollinstrumente gegenüber den externen Handlungen der Parteien, den internen Verfahren und ihrer Ideologie. Dadurch schränkte man erheblich die Vereinigungsfreiheit ein. Aufgrund der Proteste, die sich dagegen erhoben, hat man die Begrenzungen weiter gefasst. Das Real Decreto Ley von 9. Februar 1977 reduzierte die bestehende Beliebigkeit der Regierung, die Parteien zuzulassen als Voraussetzung ihrer Anerkennung27. Aufgrund der „Zweifel der Verfassungsmäßigkeit“, die die Vorlage der Legalisierung der Spanischen Kommunistischen Partei hervorrief, erklärte sich der Oberste Gerichtshof für nicht zuständig, weil er keine Entscheidungsbefugnis darüber hatte. Es ergab sich eine Situation des Stillstands, den die Regierung aufzulösen hatte. Sie ordnete schließlich an, dass die Parteien sich für ihre Zulassung registrieren lassen müssen. So konnte man die strafrechtliche Anklage dieser Partei übergehen. Auf diese Weise konnten 25 Siehe D. Sevilla Andres, „Constituciones y otras leyes y proyectos políticos de España“, Tomo II, a.a.O., S. 340–342 und 378 ff. 26 J. Jiménez Campo, „Crisis política y transición al pluralismo en España (1975–1978)“, in A. Predieri y E. Garcia de Enterria (eds.), „La Constitución española de 1978. Estudio sistemático“, Madrid, Cívitas, 1980, S. 45–94. 27 A. Rodriguez Diaz, „Transición política y consolidación constitucional de los partidos políticos“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1989, S. 121 ff.

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alle Parteien an den ersten Wahlen am 14. Juni 1977 teilnehmen 28. Aus diesen Wahlen gingen die konstituierenden Kammern hervor, die die Verfassung von 1978 verabschiedeten, die zum ersten Mal ausdrücklich in der spanischen Verfassungsgeschichte die Stellung der politischen Parteien anerkannte. Das Gesetz 54/1978 vom 4. Dezember war der erste Versuch, Verfassungsbestimmungen über den Bereich der Parteien zu entwickeln. Dies dauerte bis 2002. Trotzdem hat es noch einen vorkonstitutionellen Charakter, es ähnelt eher dem restriktiven Gesetz von 1976 und trägt nicht den Geist der Verfassung. Das aktuelle Ley Orgánica 6/2002 vom 27. Juni hat es in einer auch nicht sehr glücklichen Form ersetzt. Auf alle Fälle gipfelt darin ein zweihundertjähriger Prozess, in dem Spanien einer der herausragendsten historischen Rollen spielte.

B. Die Stellung der politischen Parteien in der Verfassung Die Spanische Verfassung von 1978 integriert tendenziell insbesondere die italienischen, französischen und portugiesischen Verfassungen. Sie erwähnt die politischen Parteien in Art. 6 in ihrem Vortitel. Dieses Vorschrift garantiert ihre Existenz. Danach sind sowohl „ihre Bildung“ als auch „ihre Aktivitäten frei innhalb der Verfassung und des Gesetzes“. Auch hebt sie ihre wichtigsten institutionellen Ziele hervor, die sich auf ihre erforderliche Teilhabe bei der Errichtung und Entwicklung einer echten konstitutionellen Demokratie beziehen. Die Parteien „drücken den politischen Pluralismus aus, haben an der Bildung und der Darstellung des öffentlichen Willens Teilhabe und sie sind grundlegende Instrumente der politischen Beteiligung“, da sie allgemein in der Organisation und dem Funktionieren des Staats eine entscheidende Rolle spielen und im besonderen bei seinen repräsentativen Institutionen 29. Die Vorschrift hat eine besondere systematische Position in der Verfassung. Trotzdem besteht darin nur der Sinn, dass sie darin die relevante Präsenz der Parteien und ihre herausragende Rolle ausdrücken möchte, die diese Organisationen innerhalb des Verfassungssystems haben, weil sie öffentliche Wirkung durch ihre Aufgaben erlangen, die ihnen die Verfassung zuschreibt (STC 56/1995). Der daraus folgende Verfassungsauftrag der internen Demokratie in Struktur und Aktivität der Partei sucht wie durch eine zusätzliche Garantie ihre volle Unterwerfung und Integrierung in die bestehende Verfassungsordnung zu sichern (STC 101/1983). Aber diese Norm außerhalb dieses Auftrags des internen demokratischen Mandats stehend hat einen mehr beschreibenden als vorschreibenden Charakter und nimmt deshalb keine über-

28 F. Rubio Llorente y M. Aragon Reyes, „La legalización del PCE y su incidencia en el estatuto jurídico de los partidos en España“, in P. de Vega (ed.), „Teoría y práctica de los partidos políticos“, Madrid, Edicusa, 1977, S. 219–237; und M. Aragon Reyes, „La sentencia del Tribunal Supremo sobre la legalización del PCE. Un caso de control judicial de la constitucionalidad de las leyes“, in Revista Española de Derecho Administrativo, n 14, 1977, S. 507–523. 29 F. J. Bastida Freijedo, „Notas sobre la naturaleza jurídica de los partidos políticos y su reconocimiento constitucional“, in VVAA, „Jornadas de estudio sobre el Título Preliminar de la Constitución“, Madrid, Dirección General del Servicio Jurídico del Estado, 1988, Vol. III, S. 1647–1688.

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geordnete hierarchische Stellung über die anderen Normen zu den Parteien ein. Man muss Art. 6 daher vollständig nach der Einheit der Verfassung interpretieren30. So versteht das Verfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung unter dem effektiven Schutz der Freiheit der Parteien, dass zuerst die allgemeine Garantie des Vereinigungsrechts gilt iSd Art. 22 der Spanischen Verfassung, weil es nicht innerhalb seines Anwendungs- und Geltungsbereichs politische Ziele ausschließt (STC 3/1981). Sicherlich sind Parteien auch nichts anderers als Vereinigungen, auch wenn man sie für etwas Eigenes hält, weil sie einen besonderen Auftrag wahrnehmen31. Der Wille, sie dem Privatrecht der Vereine zu unterwerfen, auch wenn dieses Recht ihrer komplexen und besonderen Natur nicht ausreichend gerecht wird, versucht einen höchsten Grad von Freiheit und Unabhängigkeit zu sichern. Auf diese Weise ist es möglich, die Kontrollen und jegliche Art eines staatlichen Eingriffs einzuschränken, der sie betreffen könnte (STC 85/1986)32. Deshalb muss man die Artikel 6 und 22 Spanische Verfassung (SV), die eine institutionelle Garantie und ein Grundrecht ausdrücken, zusammen und systematisch interpretieren ohne künstliche Trennung (STC 56/1995) 33. Daher ist herrschende Meinung, dass die politischen Parteien vor allem freiwillige Zusammenschlüsse von Personen sind. Daraus folgt, dass nicht nur ein freiheitliches Recht besteht, sie zu bilden und freiwillig sich zu Gruppen zusammenzuschließen, sondern auch das implizierte Recht der Selbstverwaltung, um einen Bereich zu gewährleisten, in dem sie ohne Einwirkung der öffentlichen Gewalt agieren können (STC 193/1998). Trotzdem ist dieser Bereich nicht absolut und ohne Regelungen, weil die Parteien eine besondere Position in der Verfassung einnehmen, was eine direkte Folge der Aktivitäten und Ziele ist, die sie erreichen sollen. Durch öffentliche Verfahren nehmen sie an der Bildung und Ausdruck des öffentlichen Willens teil. Daher gibt es eine ausdrückliche Schranke eines Verfassungsauftrags der Organisation und der inneren demokratischen Struktur und ihrer Aktivität iSd Art. 6 SV. Daraus leiten sich eine Reihe von Rechten ab, die integriert in den Inhalt des Vereinigungsgrundrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit unterliegen, so dass sie bevorzugt und schnellstmöglichst vom Richter beurteilt und ggf. vor dem Verfassungsgericht entschieden werden. Es handelt sich vor allem um die Rechte der Parteimitglieder an den internen Organen der Partei teilzunehmen, insbesondere bei der Wahl des Parteivorstands, in dem sie direkt oder durch Vertreter handeln können und der Ausübung des Wahlrechts, um die für die Partei und für sie wichtigsten Entscheidungen vornehmen zu können. Darunter z. B. konkret das Recht die Leitungsorgane der Partei zu wählen, wie auch das wichtige Recht, die Einhaltung der internen Parteistatuten einzufordern, das Recht auf Rede in der Partei, das Recht auf Information über die Parteiaktivitäten und das Recht in der Partei freiwillig zu bleiben, solange kein gesetzlicher 30 J. Jiménez Campo, „Sobre el régimen jurídico constitucional de los partidos políticos“, in Revista de Derecho Político, 1988, n 26, 1988, S. 1–26; insbesondere S. 16. 31 I. de Otto y Pardo, „Defensa de la Constitución y partidos políticos“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1985, S. 65. 32 J. Jiménez Campo, „La intervención estatal del pluralismo“, in Revista Española de Derecho Constitucional, n 1, 1981, S. 161 ff. 33 A. Rodriguez Diaz, „El art. 6 de la Constitución: los partidos políticos“, in Revista de Derecho Político, n 36, 1992, S. 49–64.

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Grund oder ein Verstoß gegen Parteistatute besteht, der ein Parteiausschluss erlaubt (STC 56/1995) 34. Es handelt sich aber um einen internen Demokratieauftrag des Art. 6, der sich in den Inhalt des Vereinigungsrechts integriert, eine zusätzliche Garantie gegenüber den politischen Parteien, aber gerade nicht die ursprünglichen und allgemeinen Garantien des Art. 22 ersetzend. Die Garantie des Art. 6 ist auf jeden Fall gerechtfertigt aufgrund der Aktivitäten und institutionellen Ziele im Rahmen ihrer öffentlichen Relevanz. Ihre Aufgaben bestehen darin, die Teilhabe und die politische Repräsentation zu kanalisieren. Es bedeutet, dass sie anders behandelt werden und in gewisser Weise durch den Staat privilegiert sind, auch wenn sie keine Organe des Staates sind. Daher gibt man ihnen z. B. das Recht bei Wahlen die Kommunikationsmedien kostenlos zu nutzen, öffentliche Subventionen ebenfalls bei Wahlen zu erhalten und eine weitreichende Freiheit bei dem Prozess der öffentlichen politischen Willensbildung (STC 3/1981) 35. Bildung, Organisation und die Tätigkeit der Parteien überläßt man so dem freien Willen der Mitglieder ohne materielle Kontrolle durch die Verwaltung, aber innerhalb der Verfassung und des Gesetzes. Sie müssen aber die verfassungsrechtlichen Erfordernisse erfüllen, was normalerweiese die anderen Vereinigungen nicht müssen, außer Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen. Es handelt sich um bestimmte „auferlegte Pfl ichten“ (STC 56/1995) bei der internen Struktur und ihrer Tätigkeit, die auf jeden Fall nachweislich demokratisch sein müssen (STC 85/1986). Man möchte so ein „Plus“ an Verfassungsbindung sichern, weil die Parteien besondere Aufgabe gem. der Verfassung und den Gesetzen wahrnehemen. Es bedeutet aber nicht eine ideologische Bindung und auch nicht eine Gleichstellung mit dem gesamten Inhalt der Verfassung (STC 101/1983). Dieses „Plus“, wie schon F. Rubio Llorente warnte, eröffnet bestimte Risiken einer Vorabkontrolle der Parteien, die das Vereinigungsrecht schwächen aufgrund des Effekts der institutionellen Garantie der Parteien, die diese „auferlegte Pfl ichten“ enthält und ausdrückt 36. Wie wir später noch darlegen, scheinen diese Risiken sich zu verwirklichen, insbesondere bei der Verabschiedung des Organgesetzes 6/2002 vom 27 Juni über politische Parteien, das in STC 48/2003 vom 22. März trotzdem für voll verfassungskonform erklärt wurde, sofern man das Gesetz gemäß der Argumentation dieses Urteils interpretiert. Die politischen Parteien sind daher „Vereinigungen besonders qualifi ziert durch die konstitutionelle Relevanz ihrer Funktionen“, was sie aber nicht in Vertreter der öffentlichen Gewalt oder Organe des Staates umwandelt, weil sie ein Verein bleiben und ihre Natur sich nicht verändert, obwohl ihre institutionellen Aufgaben öffentliche Bedeutung haben (STC18/1984). Diese Aufgaben „faßt man in der Art zusam34 Siehe J. I. Navarro Méndez, „Partidos políticos y democracia interna“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1999, S. 238 ff. 35 In diesem Sinn ohne abschließend zu sein, ein Katalog von diesen „Parteienprivilegien“, die ihre zentralle Rolle im politschen System darstellen, R. Blanco Valdés, „Los partidos políticos“, Madrid, Tecnos, 1990, S. 134–135. 36 So F. Rubio Llorente, „La Constitución como fuente del Derecho“, in VVAA, „La Constitución española y las fuentes del Derecho“, Madrid, Dirección General de lo Contencioso del Estado, 1979, Volumen I, S. 53–74; insbesondere S. 69–70.

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men, direkt oder indirekt die Organe der öffentlichen Gewalten durch Wahlverfahren zu integrieren“. Trotzdem üben sie keine öffentlichen Funktionen aus, im eigentlichen und engeren Sinn“, sondern „sie sorgen dafür, dass über sie die Staatsorgane diese Funktionen ausüben. Diese Organe wandeln den Willen des Volkes, den die Parteien geholfen haben durch Vermittlung der Wünsche und besondere Interessen in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft zu kanalisieren und darzulegen, in den Willen des Staates um“ (STC 48/2003). Man festigt so den instrumentellen Charakter der Parteien in Zusammenhang mit ihrer „reinen Anerkennung in der Verfassung“37 mittels der Technik der institutionellen Garantie in Verbindung mit dem Grundrecht der Vereinigung. Der besondere Normbereich in der Verfassung ermöglicht und begrenzt gleichzeitig die Gesetze über Parteien, da notwendige Bedingungen formuliert werden können, dass eine Vereinigung als Partei anerkannt wird und so ihre eigenen „Aktivitäten“ ausüben kann. Diese bestehen darin, effektiv Politik zu betreiben, etwas vorzuschlagen und allgemeine Projekte für die Gemeinschaft zu realisieren, die im Staat organisiert werden. Der Wille, diese Aufgaben wahrzunehmen, die die Verfassung den Parteien zuerkennt, wandelt sich so in ein Maßstab um, nach dem eine Vereinigung eine Partei darstellt. Eine Partei liegt nur dann vor, wenn ihr „Gesellschaftsziel“ in der Tätigkeit an den öffentlichen Verfahren der politischen Teilhabe und Repräsentation liegt. Der Gesetzgeber ist so an die institutionellen Garantie der politischen Parteien gebunden, die in direkter Beziehung mit dem Vereinigungsgrundrecht steht, weil seine „vis atractiva“ vorhanden ist. Damit ist der Wesensgehalt des Grundrechts für die Parteien bestimmbar, aus dem sich die Bedingungen für die Wahrnehmung des Grundrechts ergeben38. Auf der einen Seite gibt es eine positive Bindung für den Gesetzgeber, der die Aktivität der Parteien als Instrumente für die politische Teilhabe fördern soll, weil die Parteien notwendige Subjekte des Wahlverfahrens sind und man ihnen die Möglichkeit der Kandidatenaufstellung und das Recht auf Repräsentanz der Bürger gibt. Auf der anderen Seite gibt es eine negative Bindung für den Gesetzgeber, d. h. er darf sich nicht in den Parteienpluralismus einmischen oder ihn ersetzen. Es ist der Kern der institutionellen Garantie. Der Gesetzgeber darf keine Unterschiede schaffen, die dem Prinzip der Gleichheit widersprechen, sofern sie nicht objektiv und sachlich gerechtfertigt sind im Rahmen des verfolgten Ziels39. Trotz der Bedeutung der Parteien betrachtet daher die Verfassung die Parteien formell nicht als Grundelemente des Staates. Sie hat daher nicht einen „Parteienstaat “geschaffen, weil eine Gewaltenteilung vorhanden ist. Danach sollen bestimmte institutionelle Bereiche von Parteien frei sein wie z. B. die Judikative (STC 108/1986). 37

Über diese Unterschiede zwischen „Anerkennung in der Verfassung“ und „Inkorportation in die Verfassung“ der politischen Parteien siehe M. A. Presno Linera, „Los partidos políticos en el sistema constitucional español. Prontuario de jurisprudencia constitucional (1980–1999)“, Pamplona, Aranzadi, 1999, S. 25–28. 38 A. Rodriguez Diaz, „La garantía institucional del Estado de partidos en la Constitución española“, in VVAA, „Jornadas de estudio sobre el Título Preliminar de la Constitución española“, Madrid, Dirección General del Servicio Jurídico del Estado, 1988, Vol. III, S. 1906–1930; insbesondere S. 1911. 39 J. Jiménez Campo, „Sobre el régimen jurídico constitucional de los partidos políticos“, a.a.O, S. 17.

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Wir haben daher eine „Parteiendemokratie“, was etwas völlig anderes ist. Es zeigt sich insbesondere im Wahlgesetz und in der Organisation und der Tätigkeit der repräsentativen Institutionen40. Die Bedeutung der Parteien liegt in ihrer Aktivität bei der Entwicklung der öffentlichen Institutionen gemäß den bestehenden Verfahren mit dem Ziel, ihre Programme in Recht umzuwandeln. Ihre Rechtserheblichkeit ist damit abhängig von ihrer Tätigkeiten gem. Art. 6 SV. Außerhalb dieser Tätigkeiten ist ihre Bedeutung nicht größer als bei jeder anderen Vereinigung. Die repräsentativen Institutionen geben tatsächlich der Handlung der Parteien den konstitutionellen Sinn, von dem Moment an, in dem die Partei die Zusammensetzung und die Tätigkeit der Institutionen festlegt. Auf diese Weise bestimmen sie das demokratische Leben des Staates41. Nachdem wir die Merkmale der Parteien untersucht haben, die ihre Vorkommen in der Verfassung, ihre Stellung, ihre Ziele und Grenzen charakterisieren, analysieren wir im folgenden ihren gesetzlichen Status.

2. Teil: Die politischen Parteien als Instrumente der Bildung und des Ausdrucks des Willens des Volks A. Politische Teilnahme und politische Parteien Nach Art. 6 SV ermöglichen die politischen Parteien die Bildung und den Ausdruck des Willens des Volkes. Sie verwirklichen das demokratische Prinzip ohne Schranken zu unterliegen außer den absolut notwendigen, um die Freiheiten der Bürger zu schützen. Damit sie als Mittel der Teilhabe der Bürger an politischen Angelegenheiten fungieren können, erkennt man ihnen vor allem eine Aufgabe bei der Wahl zu, um so die Organe der politischen Repräsentation des Staates bilden zu können. Auf diese Weise drückt sich die intensive Bindung aus die zwischen der institutionellen Garantie der politischen Parteienfreiheit gem. Art. 6 SV und dem Grundrecht auf Wahl, sowohl aktiv als auch passiv, der Bürger gem. Art. 23 SV besteht. Die Parteien fungieren als Mittel der Ausübung dieser Grundrechte, weniger „direkt“, sondern normalerweise indirekt, d. h. „durch Vertreter, die frei, regelmäßig und durch eine allgemeine Wahl bestimmt werden“ (Art. 23 SV). Die Parteien nehmen öffentlich so an Wahlverfahren für die repräsentativen Institutionen teil, in denen die Bürger die Abgeordneten, die Senatoren und die Kommunalräte wählen können, die im Namen der Bürgern handeln42.

40

Siehe M. Garcia Pelayo, „El Estado de partidos“, Madrid, Alianza, 1986, S. 85 ff. Dieser Umstand bestimmt es, dass man die Parteien nicht für „private Vereinigungen halten kann, die öffentliche Funktionen wahrnehmen“, J. Jiménez Campo, „Diez tesis sobre la posición de los partidos políticos en el ordenamiento español“, in VVAA, „Régimen jurídico de los partidos y Constitución. Debate celebrado en el Centro de Estudios Constitucionales, el 14 de febrero de 1994“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1994, S. 33–48; insbesonder, S. 34–37 y 48. 42 M. A. Presno Linera, „Los partidos políticos y las distorsiones jurídicas de la democracia“, Barcelona, Ariel, 2000, S. 41 ff. 41

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Zuerst leitet sich die herausragende Rolle der Parteien aus einer besonderen Regelung der Kandidatenaufstellung der Partei und der Parteienbündnisse ab. Sie ist anders als bei der von parteifreien Kandidaten (Art. 44 LOREG). Bei der Auswahl der Kandidaten in dem Wahlverfahren für die Wahl als Volksvertreter wird die Aufstellung der Kandidaten, außer bei Senatswahlen, durch eine „geschlossene Blockliste“ vorgenommen. Dadurch haben die Parteien die äußerst wichtige Bedeutung bei der Darstellung des Wählerwillens. Auf diese Weise iSd Gesetzes werden die Sitze auf die Wahlliste verteilt und die Sitze werden auf die bestehenden Kandidaten verteilt, die auf der Liste genannt sind gem. der Position auf der Wahlliste43. Die Wahllisten entsprechen dem Willen der Partei ohne dass es zu Verwechslungen kommen darf, garantiert für den Wähler und die Partei selbst, die sie aufgestellt hat (STC 69/1986). In der Kandidatenliste wird daneben die Bezeichnung, das Kürzel und das Symbol der Partei genannt (Art. 46.4 LOREG). Die herausragende Bedeutung der Parteien drückt sich auch in der Organisation und der Entwicklung der Wahlkampagne aus gem. der Verfassung und der speziellen Gesetzesregelungen. Ziel ist es, den Willen des Wählers zu beeinflussen, um seine Stimme zu erhalten. Deshalb ist die Garantie für die Parteien notwendig, dass sie ihre Botschaften und politische Ziele unter gleichen Bedingungen mitteilen können, „damit der Bürger seinen Willen frei bilden kann und verantwortlich an politischen Angelegenheiten teilhaben kann“ (STC 157/1996). Das Gesetz sieht für die Parteien, Parteienbündnisse und Koalitionen ein besonderes Verfahren vor, das die Vorfi nanzierung bei ihren Wahlausgaben regelt (Art. 127.2 LOREG), die Wahlpropaganda und alles, was für die Wahlkampagne notwendig ist (Art. 55 LOREG), die Werbezeiten in den öffentlichen Medien für die Kampagnen (Art. 64 LOREG) und das Recht auf Gegendarstellung bei Informationen über Kandidaten und ihren Leitungsorganen, die von den Medien verbreitet werden und nicht der Wahrheit entsprechen und nachteilig sind (Art. 68 LOREG)44. Die Parteien haben auch eine wichtige Rolle bei den Kontrollen der Wahl, weil sie die demokratische Verfahren des Wahlprozesses der politischen Vertreter überprüfen. Es ist grundsätzlich erforderlich, um die Wahrung der Verfassung zu garantieren. Die Parteien können die Garantien einfordern, um so die Transparenz und den Pluralismus des Wahlprozesses zu stärken. Sie erlangen damit eine höhere Legititmät, da durch die Parteien die Gesellschaft in ihrer Staatsfunktion verwirklicht wird. Die Parteien können Wahlbeschwerde einlegen und sich gegen andere Parteien wenden gem. Art. 110 LOREG, obwohl sie nicht Prozessvertreter der Kandidaten sind, weil das Wahlgesetz gem. Art. 43 die Figur einer Vertretung einer Wahlliste vorsieht45. Die Entscheidung STC 25/1990 rechtfertigt es, dass die Parteien ein ausreichendes subjektiv legitimiertes Interesse haben, um die Einhaltung der Wahlgesetze zu for43 L. M. Diez-Picazo Giménez, „Los criterios de representación proporcional del art. 68.3 de la Constitución: su alcance y proyección a efectos distintos de la elección para el Congreso de los Diputados“, in VVAA, „Estudios sobre la Constitución española. Homenaje al Prof. Eduardo García de Enterría“, Madrid, Cívitas, 1990, Vol. III, S. 2057 ff. 44 J. A. Portero Molina, „Elecciones, partidos y representación política“, in J. J. Gonzalez Encinar (ed.), „Derecho de partidos“, Madrid, Espasa, 1992, S. 133 ff. 45 A. Rallo Lombarte, „Garantías electorales y Constitución“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1997.

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dern. Das Verfassungsgericht leitet dieses Interesse aus der Teilnahme an den Wahlen ab gem. Art. 6 SV. Sowohl die gewöhnlichen als auch außergewöhnlichen Wahlbeschwerden sollen trotzdem nicht jede Illegalität angreifen können, die die Parteien entdecken, sondern sie garantieren nur die Rechtmäßigkeit der Aufstellung der Kandidaten, um jede Verletzung des Grundrechts in letzter Instanz gem. Art. 23.2 SV zu vermeiden, d. h. die Wahrnehmung von öffentlichen Ämtern unter dem Grundsatz der Gleichheit (STC 160/1989)46. Zum Schluss ist zu der Bedeutung der Parteien zu bemerken, dass sie sehr von der Formel oder dem Wahlsystem abhängig sind. Es ist das Instrument, durch das der Wählerwille, der sich in der Wahl ausdrückt, in den Willen des Volkes transformiert wird. Das Wahlsystem wandelt die Kandidaten in Gewählte um, d. h. die Wählerstimmen in Sitze. Die Verfassung möchte, dass dieses System allgemein folgendes Prinzip beachtet: Verhältniswahlrecht bei den Wahlen des Abgeordnetenkongresses und den Parlamenten der Autonomiegemeinschaften gem. Art. 68.3 und 152.1 SV, weil nach der Verfassung so der Wählerwille den Pluralismus und den Willen des Volkes ausdrückt. Tatsächlich bevorzugt dieses System die Parteien, weil es das Wahlverfahren entpersonifiziert. Es bedeutet, dass die Wahl auf jeder Ebene verschiedene Kandidaten voraussetzt gem. dem konkreten Proportionalsystem nach dem sog. D’Hondtschen Verfahren, das sowohl bei den Abgeordnetenwahlen (Art. 163 LOREG) als auch den Senatoren der Autonomiegemeinschaften (Art. 69.5 „in fine“ SV) angewandt wird47. Auf alle Fälle muss die Vertretung durch die Parteien Ausdruck des Pluralismus sein, deshalb muss ein gewisses Minimum überschritten werden, um die Aufgabe der Interessenwahrnehmung, die die Parteien haben, effektiv erfüllen zu können (STC 75/1985). Daher ist es gerechtfertigt, dass das Gesetz Wahlhürden aufstellt. Wenn sie nicht übersprungen werden, stellen sie kein echtes Instrument der politischen Teilhabe dar. In den Wahlen zum Kongress werden daher die Wahllisten nicht berücksichtigt, die weniger als 3% der gültigen Wählerstimmen auf sich vereinigt haben (Art. 163.1 LOREG). Die Entscheidung STC 75/1985 sagt, dass der Zweck mit der Einführung dieser Schrankenklausel der Wählerstimmen ist, dass „die Verhälnismäßigkeit in der Wahl damit vereinbar ist, dass die Wählerrepräsentation in den Kammern nicht zu sehr aufgesplittert wird und deshalb nur die bedeutenden Parteien politische Repräsentation fi nden“. Die größten Parteien werden dadurch bevorzugt und erleichtern die Regierungsbildung und -arbeit. Man vermeidet die exzessive Aufsplitterung der Repräsentation und man ermöglicht die Bildung des parlamentarischen Willens (STC 193/1989). Diese Wahlhürde, auch wenn man sie kritisieren kann, weil sie das reine Verhältnismäßigkeitswahlrecht und den Pluralismus und das Prinzip der Gleichheit bei der Bedeutung der Wählerstimmen verletzt, hat in Spanien keine große Bedeutung bei den Wahlen zum Abgeordnetenkongress, d. h. weil eine Hürde von nur 3% besteht und auch nicht bei den Wahlen zum Parlament der 46 F. Caamaño Dominguez, „Elecciones y Tribunal Constitucional: ‚una intersección no deseada‘“, in Revista de las Cortes Generales, núm. 41, 1997, S. 91 ff. 47 L. M. Diez-Picazo Giménez, „Los criterios de representación proporcional . . .“, op. cit., 2057 y ss.; y R. Punset Blanco, „El Senado y las Comunidades Autónomas“, Madrid, Tecnos, 1987, S. 128 ff.

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Autonomiegemeinschaften (in Höhe von 5% oder 6% gem. der dort bestehenden Gesetzeslage). Diese Schranke, wenn man sie auf der Ebene der Provinz sieht, die größtenteils nur kleine oder nur eine durchschnittliche Anzahl von Sitzen zu vergeben haben, d. h. zwischen 3 und 10 Sitzen, bedeutet, dass sie nicht besonders funktionell ist, weil sie kein ausreichendes Kriterium ist.48.

B. Politische Repräsentation und politische Parteien Die politischen Parteien haben nicht nur eine bestimmte Rolle bei der politischen Teilhabe, weil sie als Mittel den Willen des Volkes in den verschiedenen Wahlverfahren ausdrücken, sondern sie ermöglichen auch die politische Repräsentation, weil sie durch die Staatsorgane, diesen Willen des Volkes darstellen. Wie das Verfassungsgericht in ständiger Rspr. sagt, ist der Träger der politischen Amtes, trotzdem der Bürger, der in freien, regelmäßigen und allgemeinen Wahlen gewählt wird. Er ist derjenige, der normalerweise formal die dem Amt entsprechenden Funktionen ausübt und so das den Bürgern, aber nicht den Parteien gewährte Grundrecht verwirklicht, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzuhaben (Art. 23 SV), (STC 5/1983). So behält man die liberale Theorie der politischen Repräsentation bei, die heute zum Teil nur eine reine juristische Fiktion ist. Nach ihr gibt es nur eine repräsentative Beziehung zwischen Vertretenen und Vertreter, ohne dass die Stellung der Partei als Mittler anerkannt wird, aus deren Wahllisten die späteren gewählten politischen Amtsinhaber hervorgehen. Die Vertreter als Einzelpersonen, aber gerade nicht die Parteien, können daher die direkte politische Repräsentation für sich in Anspruch nehmen, die so das gesamte Wahlvolk im Gesamten sind. Man garantiert den Vertretern, dass sie ihre Aufgaben während der Wahlperiode frei ausüben können, um den unwiderrufl ichen Auftrag der Nation erfüllen zu können (SSTC 119/190 und 214/1998 vor allem)49. Aber wie wir wissen, haben sich die Hauptmerkmale der repräsentativen Beziehung in der Praxis des demokratischen Rechtsstaats sehr gewandelt. Diese herkömmliche Auffassung ist daher auf normativer Ebene zu ändern, weil die bestehenden Regelungen noch zu sehr mit der liberalen Theorie der politischen Repräsentation verbunden sind, d. h. das Mandat ist „national“, „frei von imperativen Befehlen“ und „nicht verantwortlich (gegenüber Dritten) und unwiderrufl ich“ (Art. 67.2 SV). Der Wandel ist eine grundsätzliche Folge des plötzlichen Erscheinens eines Akteurs im politischen System, der in der traditionellen Lehre nicht vorhanden war, d. h. der politische Partei. Sie übernahm das Zentrum des politischen Systems, was bedeutet, dass man das Verständnis des repräsentativen Mandats überdenken muss, trotz, dass die Verfassung dem klassischen Modell treu folgt50. Die Wirklichkeit zeigt aber, dass 48

M. A. Presno Linera, „Los partidos políticos . . .“, a.a.O., S. 47–52. Für eine erste Annäherung dazu, F. Rubio Llorente, „El Parlamento y la representación política“, in seinem Buch „La forma del poder. (Estudios sobre la Constitución)“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1993, S. 221–240. 50 F. J. Bastida Freijedo, „Derecho de participación a través de representantes y función constitucional de los partidos políticos“, in Revista Española de Derecho Constitucional, núm. 21, 1987, S. 199– 227. J. A. Portero Molina, „Sobre la representación política“, in Revista del Centro de Estudios Cons49

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die Parteien die notwendigen Mittler der repräsentativen Beziehung sind, weil sie erst diese Beziehung ermöglichen. Sie sind die tatsächlichen Träger des Wahlprozesses und bilden den Willen des Volkes durch die Auswahl der Kandidatenlisten, die die verschiedenen ideologischen Positionen integrieren. Daher sind sie Objekt des Wahlrechts der Bürger. In der Praxis haben die Parteien auch ein Monopol der daraus folgenden politischen Repräsentation. Sie wandeln die politischen repräsentativen Ämter mehr von Vertretern der Wähler in Vertreter ihrer Parteien um, weil sie ihnen ihre Existenz verdanken und weil sie praktisch mit ihnen durch eine neue Form verbunden sind, d. h. durch ein „imperatives Mandat“51. Die Rspr. des Verfassungsgerichts hat bis heute diese vollständige Verbindung, die das demokratische Prinzip über das repräsentative Mandats hervorruft, nicht beachtet und deshalb auch nicht dessen klassisches Verständnis verändert. Vor allem hat es die Eigenschaft „national“ des Mandats nur wenig modifiziert und bemerkt, obwohl die Gewählten „Repräsentanten des gesamten Volkes sind“, dass man nicht vergessen darf, dass sie „auch, aber in anderem Sinne, Repräsentanten des konkreten Wählers sind“, d. h. Instrumente, um im Leben der Institutionen den Willen derjenigen, die sie gewählt haben, auszudrücken“ (STC 32/1985 und auch gleichermaßen SSTC 141/1990 und 163/1991). Auch hat das Verfassungsgericht den „freien“ Charakter der Repräsentation präzisiert, weil es annimmt, das der Vertreter mit dem Wähler eine bestimmte „Treuepfl icht einer politischen Übereinkunft“ einhalten muss. „Dazwischen kann es keine Hindernisse geben, was Dritte respektieren müssen“. (STC 119/1990). Man muss deshalb die „rechtliche Bedeutung und nicht nur die politische Bedeutung“ der besonderen Aspekte der repräsentativen Beziehung anerkennen. Diese Aspekte ermöglichen eine bestimmte Verbindung des Vertreters und der politischen Partei, die von den Vertretenen gewählt wurden (STC 32/1985) 52. Aber die konkrete Reichweite dieser juristischen Beziehung ist bis heute nicht genau definiert. Das Verfassungsgericht besteht in seiner Argumentation auf dem Recht der Bürger, in ihren konkreten politischen Meinung gem. Art. 23.1 SV repräsentiert zu werden. Besser wäre es das Recht gegenüber jeder Verletzung zu schützen, welcher Art auch immer sie ist. Aber die Lösung ist komplexer und das Verfassungsgericht hat nicht alle Konsequenzen aus seiner Position gezogen, wie z. B., wenn der Vertreter oder der Amtsinhaber der einer Partei angehörte und sich von ihr aufstellen ließ, sich von ihr trennt, und damit das Recht der Vertretenen verletzt. Das Verfassungsgericht scheint seltsamerweise einen Rückschritt zu machen und es besteht auf dem freien Charakter des repräsentativen Mandats. Es verbietet dem Wähler, irgendeine Klage gegen den Gewählten einzureichen, weil es der Auffassung ist, dass eine Beschwertitucionales, 1991, S. 89–119; insbesondere, S. 108 y ss. R. Chueca Rodriguez, „Sobre la irreductible dificultad de la representación política“, in Revista Española de Derecho Constitucional, n 21, 1987, S. 177–197; insbesondere, S. 184 ff. 51 R. Chueca Rodriguez, „Mandato libre y mandato de partidos“, in VVAA, „Jornadas de estudio sobre el Título Preliminar de la Constitución“, op. cit., S. 1707–1734; insbesondere S. 1723 ff. A. Garrorena Morales, „Representación política y Constitución democrática“, Madrid, Cívitas, 1991, S. 65 ff. 52 J. Jiménez Campo, „Los partidos políticos en la jurisprudencia constitucional“, in J. J. Gonzales Encinar (coord.), „Derecho de partidos“, op. cit., S. 201 y ss. Más críticamente, M. A. Aparicio Pérez, „Los partidos políticos en la jurisprudencia del Tribunal constitucional . . .“, a.a.O., S. 132 ff.

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demöglichkeit bereits ausdrücklich in Art. 67.2 SV genannt ist, die auch gerade den Widerspruch zum Verbot des imperativen Mandats ausdrückt. Aber das Fehlen der Kontrolle, die in der allgemeinen Handlungsfreiheit des Gewählten liegt, darf nicht bedeuten, dass diese Handlungsfreiheit völlig frei ist. Insbesondere wenn diese Handlungen einen totalen Betrug an der Partei und deren Wahlprogramm bedeuten, die der Wähler gewählt hat und in deren Kandidatenliste der Vertreter sich wiederfindet. In diesem Fall müßte das demokratische Prinzip gelten, d. h. eine allgemeine Treuepfl icht der Vertreter gegenüber den Vertretenen. Die Pfl icht wird dadurch verletzt, wenn der Vertreter die Partei verläßt, die der Wähler gewählt hat. Das Verfassungsgericht ist in seinen Entscheidungen 5 und 10/1983, auch wenn es klar bestimmt, dass das Mandat nicht der Partei gehört, vielleicht zu weit gegangen, als es die Vorschrift für verfassungswidrig erklärt hat, die den Verlust des Mandats erklärte, wenn der Inhaber des Mandats die Partei freiwillig verläßt, in deren Wahlliste er für diese Wahl aufgestellt war und gewählt wurde. Besser wäre es gewesen eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen, die die Parteiendemokratie mehr geachtet hätte, was den notwendigen Zusammenhang mit den Mechanismen der politischen Repräsentation im heutigen demokratischen Staatswesen aufzeigt. Dies hätte die vorgesehene Sanktion im Gesetz, den Verlust des Mandats, gerechtfertigt. Es liegt in der schweren Verletzung der Treuepfl icht des Gewählten gegenüber dem Wähler. Davon ist die Treuepfl icht gegenüber der Partei zu unterscheiden, die davon nicht geschützt wird, weil es einen anderen Mißbrauch darstellt. Vielleicht ist es besser die Sitze an die Wahllisten zu binden und nicht an die Person oder an die Parteien. Auf diese Weise könnte der Abgeordnete das Wahlrecht des Bürgers in seiner Form als politischer Wille nicht mehr mißbrauchen, weil ihm bei einem Mißbrauch der Sitz per Gesetz und parlamatarischer Geschäftsordnung entzogen werden kann. Vollziehen könnte es zum einen der Präsident des Abgeordnetenkongresses oder zum anderen die Wahlverwaltungsbehörde. Man vermeidet damit die Tendenz eines Parteienmandats, die die Verfassung tatsächlich nicht vorsieht gem. STC 167/199153. Auf der anderen Seite hat die Demokratisierung des Systems der poltischen Rerpäsentanz rechtliche Bedeutung der parteipolitischen Bindung der Vertreter im Parlament gegeben. Diese Bindung wird durch die Regelungen im Parlament durch die Geschäftsordnung über Auf bau und Struktur bestimmt. Es betrifft die Entscheidungen, die das Organ normalerweise in Selbstverwaltung trifft (STC 32/1985). Die rechtliche Bedeutung der parteipolitischen Bindung hat Relevanz in der Organisation der Parlamentsarbeit, die die Gewählten vornehmen. Deshalb integrieren sie sich in „politischen Gruppen mit parlamentarischer Repräsentation“ gem. Art. 99.1 SV. Diese Gruppen bilden sich normalerweise nach gleichen politischen Auffassungen, weil sie eine logische Folge der Parteien sind, aber sie unterscheiden sich von den Parteien in ihrer juristischen Persönlichkeit. Mitglieder von verschiedenen politischen Parteien können ausnahmsweise auch eine einzige parlamentarische Gruppe 53 In diesem Sinn A. Garrorena Morales, „Representación política, elecciones generales y procesos de confi anza en la España actual“, Madrid, Instituto de Estudios Económicos, 1994, S. 29–37. Und siehe J. M. Porras Ramírez, „Los partidos políticos como instrumentos al servicio de la formación y manifestación de la voluntad popular“, en M. A. García Herrera (ed.), „Constitución y Democracia. XXV años de Constitución democratica en España“, Madrid, 2006, Band I, S. 425–432.

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formen (STC 36/1990). Sie nehmen die parlamentarische Arbeit wahr, bestimmen die Zusammensetzung der verschiedenen inneren Organe der Kammern wie „diputaciones permanentes“ und die Ausschüsse und vor allem treten sie im Plenum des Parlaments auf und entscheiden über die Tagesordnung durch die Sprecherversammlung. Für die Bildung der Gruppe im Kongress sind 15 Abgeordnete notwendig oder eine Minimum von 5 Abgeordneten, wenn sie 15% der abgegebenen Wählerstimmen des Wahlbezirks, den sie vertreten, erhalten haben oder 5% der Stimmen im gesamten Staat. Die Abgeordneten, die die Voraussetzung für eine eigene parlamentarische Gruppe nicht erfüllen, integrieren sich in der vorher beschriebenen Mischgruppe. Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses und des Senats verstärken die Bindung zwischen den Gruppen und den Parteien, weil sie verbieten, dass Abgeordnete von einer Partei sich in verschiedenen Gruppen integrieren können gem. Art. 23.2 RCD und 27.3 RS. Sie dürfen auch nicht aus politischen Organisationen, die nicht an den Wahlen teilgenommen haben, eine Gruppe bilden. Auf alle Fälle nehmen die Gruppen als Folge der von der Geschäftsordnung zuerkannten Kompetenzen, eine Vorrangstellung ein, die immer mehr zunimmt. Dies geht gleichzeitig zulasten der Kompetenzen des einzelnen Abgeordneten. Dies ist eine weitere Folge der wachsenden Bedeutung der politischen Parteien im Parlament 54. Zuletzt sollte man kurz die Wirkung der Repräsentaten der Parteien bei der Zusammenstellung und der Funktion der Staatsorgane beschreiben. Anders gesagt bei der Ausbreitung auf Bereiche, die außerhalb der parlamentarischen Funktion liegen, neben dem logischen Charakter der Ausstrahlung auf andere repräsentative Organe, die die politische Macht im weiteren Sinn ausüben55. Es ist auch heute festzustellen, dass manchmal diese Repräsentanz auf andere Insitutionen übertragen werden, dies aber aufgrund ihrer Funktionen und gem. der heutigen Auffassung des Prinzips der Gewaltenteilung nicht geschehen dürfte. Es äußert sich in dem sog. Phänomen der „Parteienquoten“, die normalerweise keine funktionelle Grundlage haben. Davon ist die Iudikative betroffen, z. B. bei der Wahl im Parlament des Generalrats der Iudikative („Consejo General del Poder Juidicial“). Auf der Ebene der öffentlichen Verwaltung, in der Praxis durch bestimmte Punkte eines „spoils system“, d. h. die Besetzung der Leitungsorgane der Verwaltung mit Parteimitgliedern, einschließlich auf der Ebene der sozialen Einrichtungen, die keine politische Macht ausüben, die aber ab und zu von Parteien beeinflusst werden, weil ein enormer Wunsch der Parteien besteht, die Gesellschaft nach ihrem Willen zu bilden und zu formen. Sie praktizieren dort „parteifreundschaftliche Verbindungen“, die nicht immer öffentlich gemacht werden, weil sie illegitim erscheinen. Auf alle Fälle brauchen sie eine stärkere Eingrenzung und eine bessere und wirkungsvollere Kontrolle56.

54 Ausführlich J. L. Garcia Guerrero, „Democracia representativa de partidos y grupos parlamentarios“, Madrid, Congreso de los Diputados, 1996. 55 J. M. Porras Ramírez, „Der Bereich der Regierung in der spanischen Verfassungsordnung“, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 50, 2002, S. 389–413. 56 Über das Phänomen siehe M. A. Presno Linera, „Los partidos políticos . . .“, a.a.O., S. 175–190.

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C. Freiheit der Gründung und Errichtung von Parteien I. Errichtung Das aktuelle Organgesetz 6/2002 vom 27. Juni über die politischen Parteien (LOPP) führt praktisch in einem Akt die Gründung und die Errichtung der Parteien als Vereinigungen zusammen, wie auch das vorgehende Gesetz 54/1978 vom 4. Dezember, das vor der Verfassung erlassen wurde. Danach ist die Bildung einer politischen Partei frei gem Art. 6 SV. Sie erfolgt in dem gleichen Verfahren wie bei der garantierten Freiheit des Vereinigungsgrundrechts gemäß Art. 22 SV (STC 85/1986). Diesen Gründungsakt betrachtet man als subjektives öffentliches Recht, das spanischen Bürgern vorbehalten ist (Art. 1.1 LOPP) und Ausländern deshalb nicht gewährt wird. So ergibt sich eine unterschiedliche Behandlungsweise bei der Regulierung des Vereinigungsgrundrechts. Dieses Grundrecht erkennt aber die Verfassung trotzdem gegenüber „allen“ (Art. 22.1) an. Dies wiederholt natürlich das Organgesetz 1/2002 vom 22. März, das dieses Grundrecht ausgestaltet, und dass dieses Grundrecht „allen Personen“ in seinem Art. 2.1 gewährt. Gem. dem Organgesetz 4/2000 vom 11. Januar über Rechte und Freiheiten der Ausländer wird daher den Ausländern auch das Vereinigungsgrundrecht gewährt iSd Art. 8 „gemäß den Gesetzen, die das (Vereinigungsgrundrecht) für die spanischen Bürger reguliert und das die Ausländer ausüben können, wenn sie eine Aufenthaltgenehmigung oder einen legalen Wohnsitz in Spanien haben“. Trotzdem hat das Verfassungsgericht in STC 48/2003 den Unterschiede zwischen Spaniern und Ausländern gerechtfertigt und gesagt, dass wie „Wahlorganisationen“ die „politischen Parteien privilegierte Instrumente der polititischen Teilhabe sind, was eine Aktivität ist, die in einem Grundrecht festgelegt ist, garantiert durch Art. 23 SV, das als Grundrechtsträger nur die spanischen Bürger vorsieht iVm Art. 13.2 SV . . . mit der Ausnahme, dass für einige Wahlen (Kommunalwahlen und zum Europäischen Parlament) man das Wahlrecht für Ausländer unter bestimmten Bedingungen anerkennen kann“. Nach dem Verfassungsgericht „betrifft die Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten einzig die spanischen Bürger, weil mit dieser Aktivität man die Integration der repräsentativen Organe verfolgt, die die direkt von der Verfassung und den Autonomiestatuten gewährten Kompetenzen tragen. Diese Kompetenzen sind mit dem Trägerschaft der Souveränität durch das spanische Volk verbunden“ (Erklärung vom Verfassungsgericht vom 1. Juli 1992 zum Maastricht-Vertrag). Es handelt sich um eine Schranke, die man im engeren Sinn zu verstehen hat, dass nur die spanischen Bürger die Gründung und Errichtung einer politischen Partei vornehmen können. Aber dies gilt nicht für Ausländer, als sie insofern das gleiche Recht wie die Spanier haben als Mitglieder von Vereinigungen, d. h. von bereits bestehenden Parteien. In diesem Sinn haben die Ausländer die gleichen Rechte und Pfl ichten wie die Spanier (Art. 1.2 und 8.1 LOPP). Die Ausländer haben wie die Spanier das gleiche Recht, klar abgeleitet von dem Vereinigungsgrundrecht, dass sie nicht verpfl ichtet sind sich gegen ihren Willen in eine bestimmte Partei eingliedern zu müssen oder dort zu bleiben (Art. 1.3 LOPP). Im Übrigen können die politischen Parteien Bündnisse, Konförderationen und feste Verbindungen mit anderen Parteien eingehen und registrieren lassen (Art. 1.3 LOPP und

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44.1 LOREG). Jede einzelne Partei kann in diesen ihre eigene Rechtspersönlichkeit beibehalten (STC 168/1989) 57. In Bezug auf die Errichtung im engeren Sinne der politischen Parteien, sieht Art. 2.1 LOPP vor, dass „Voraussetzungen“ erfüllt sein müssen, um eine Partei errichten zu können: Neben der Eigenschaft Spanier zu sein (gem. Art. 1.1 LOPP), muss man natürliche Person und volljährig sein und die volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit haben ohne jegliche gesetzliche Einschränkung und man darf auch nicht strafrechtlich verfolgt worden sein im Sinne einer „besonderen Rechtsunfähigkeit“ (STC 48/2003) wie illegale Vereinigungen oder Straftaten gegen die Verfassung, gegen die öffentliche Ordnung, Hochverrat, gegen den Frieden oder die Unabhängigkeit des Staates, gegen die nationale Sicherheit und gegen die internationale Völkergemeinschaft mit Ausnahme einer gerichtlichen Rehabilitation. Nach Art. 3.1 LOPP muss die Gründung durch einen formalisierten Errichtungsakt erfolgen, der in einem öffentlichen Dokument dargelegt sein muss und die persönliche Identität der Gründer, den Namen der Partei, die provisorischen Leitungsorgane der Vertreter, den Sitz und die Parteistatuten für die Gründung enthalten muss. Gemäß dem letzten Abschnitt des Gesetze kann die Regierung mittels Verordnung diese Punkte regeln. Bei der Identifizierung der Partei hat der Gesetzgeber sehr die Verfassungsrechtsprechung und die Rspr. des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte übernommen (SSTC 69/1986, 85/1986 und STEDH 1998,1). Art. 3.1 II LOPP verpfl ichtet strikt, dass die Bezeichnung der Partei nicht Begriffe oder Ausdrücke enthalten darf, die Zweifel oder Fehler über ihre Identität hervorrufen oder die gegen die Gesetze oder Menschenrechte verstoßen. Dies wird dadurch nach dem Verfassungsgericht sichergestellt, dass es „klar, offensichtlich und zweifelsfrei sein muss, d. h. dass die Verwaltung keinen Auslegungsspielraum haben darf (STC 48/2003). Auch darf diese Bezeichnung nicht einer anderen Partei, auch nicht phonetisch, entsprechen, die vorher schon registriert wurde oder durch richterlichen Beschluss für illegal erklärt, aufgelöst oder aufgehoben wurde. Auch darf die Bezeichnung nicht mit dem Namen einer natürlichen Person oder mit der Bezeichnung für einen bereits existierenden Verein oder einer registrierten Marke zusammenfallen. Man möchte so betrügerische Stellvertretung vermeiden, um „das Recht auf Namen“ rechtlich zu schützen, das alle Parteien haben, weil es ein Element ist, das wesentlich für ihre individuelle Erkennung und ihre Selbstgestaltung ist und vor allem für die klare und differenzierte Unterscheidung der Partei duch die Wähler sorgt. Es ist auch gerechtfertigt, da die Möglichkeit besteht, dass eine Ideologie verschiedene Ausrichtungen in Parteien haben kann mit Namen, die teilweise gleich sind, was nicht sein darf, da die Wähler getäuscht werden können, die davor geschützt werden sollen wie auch die bestehenden Parteien, die dadurch betroffen sein können.

57 M. A. Aparicio Pérez, „Los partidos políticos en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional. (Algunos comentarios marginales)“, in Anuario de Derecho Constitucional y Parlamentario, n 11, 1999, S. 119–144; insbesondere, S. 128–129. Und siehe J. M. Porras Ramírez, „Comentarios acerca del estatus constitucional de los partidos políticos y de en desarrollo en la Ley Orgánica 6/2002“, en Revista de las Cortes Generales, no 57, 2002, S. 7–35.

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II. Die Registrierung Die Registrierung ist erforderlich, um zu zeigen, dass die Vereinigung existiert, auch wenn sie tatsächlich schon vorhanden ist und anerkannt werden möchte. Damit wird die Vereinigung auch öffentlich bekannt (Art. 22.3 SV). Aber diese gesetzliche vorgeschriebene Einschreibung hat auch konstitutive Folgen, weil sie Rechtspersönlichkeit verleiht. Sie zeigt, dass die Gruppe, die eine Partei gründen möchte, die notwendigen Defi nitionsmerkmale einer Partei gemäß Art. 6 SV erfüllt. Diese Elemente überprüft man durch den Akt der Registrierung. Die Verwaltung kann zu dieser Zeit nicht darüber hinaus etwas bestätigen58. So bestimmt Art. 3.2 LOPP, dass „ die politischen Parteien Rechtspersönlichkeit durch die Einschreibung in das Register für politische Parteien erlangen, dass im Innenministerium niedergelegt ist. Es ist notwendig für die Registrierung, dass die Gründer diesen Gründungsakt vorlegen in Verbindung mit den erforderlichen Dokumenten, die darlegen, dass die vorgesehenen Voraussetzugen in dem „Organgesetz“ erfüllt sind. Es gibt eine Vermutung „iuris tantum“ über die Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Dokumente gemäß Art. 4.3 LOPP. Es besteht daneben die Garantie, dass innerhalb von 20 Tagen die Einschreibung vorgenommen wird. Die 20 Tage stellen eine nicht verlängerbare Frist dar innerhalb der das Innenministerium die Einschreibung vornimmt. Damit wird die Rechtspersönlichkeit verliehen ohne zeitliche Einschränkung und mit jeglicher Verbindlichkeit, außer in den Fällen der Auf hebung der Frist, wenn man Unregelmäßigkeiten annimmt, auf die sich das Gesetz bezieht. So handelt es sich um eine geregelte Einschreibung, weil das Prüfungsrecht der Verwaltung nur formalen (SSTC 3/1981, 85/198659 und 291/1993) und nicht materiellen Charakter hat. Wenn ein Ermessensspielraum bestünde, würde die Freiheit, eine politische Partei zu gründen und zu errichten, verletzt gemäß Art. 6 und 22 SV. Deshalb ist die Entscheidung der Verwaltung die Partei nicht einzuschreiben als eine Art Vorabbeschränkung des Vereinigungsgrundrechts nur dann möglich, wenn die Vorlage in dem Register nicht offensichtlich den Erfordernissen des Programms und den Statuten entspricht, auf das sich die Verfassungsdefinition von einer politischen Partei bezieht oder man formale Fehler in dem Gründungsakt und in der entsprechenden Dokumenten erkennt oder man feststellt, dass die Gründer nicht geeignet sind60 (STC 48/2003). In diesen Fällen setzt das Innenministerium die Günder in Kenntnis, damit sie die Fehler korrigieren können. In diesen Fällen wird die Frist unterbrochen. Wenn die Fehler korrigiert wurden, beginnt erneut die Frist zu laufen (Art. 5.1 LOPP) Trotzdem kann die Auf hebung der Frist auch ausnahmsweise durch das Innenministerium selbst erfolgen, wenn begründete Anzeichen einer Straftat in der vorgelegten Dokumentation vorhanden sind. Davon muss das Innenministerium die Gründer und den Generalstaatsanwalt benachrichtigen innerhalb des Zeitraums von 20 Tagen durch einen 58 J. Jiménez Campo, „La intervención estatal del pluralismo“, op. cit., S. 179–182. Auch J. A. Montilla Martos, „La inscripción registral de las asociaciones“, in Revista de Estudios Políticos, n 92, 1996, S. 175–206; insbesondere, S. 186–193. 59 G. Fernandez Farreres, „El Registro de partidos políticos: su significación jurídica según la jurisprudencia del Tribunal Constitucional“, in VVAA, „Jornadas de estudio . . .“, a.a.O., S. 1751 ff. 60 J. Jiménez Campo, „Diez tesis sobre la posición de los partidos políticos en el ordenamiento español“, a.a.O, S. 39–40.

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formellen mit den Beweisen begründeten Akt, der vor dem Verwaltungsgericht angreif bar ist (Art. 5.1 LOPP). Dann entscheidet der Generalstaatsanwalt innerhalb der Frist von 20 Tagen, gerechnet ab der Inkenntnissetzung durch das Innenministerium, ob eine entsprechende Anklage vor dem Strafgericht erhoben wird, oder ob es zum Innenministerium zurückgeschickt wird, damit das Ministerium die Partei einschreiben läßt (Art. 5.3 LOPP). In diesem Zeitraum hebt man die Frist für die Einschreibung auf bis der Strafrichter über das Verfahren der Einschreibung entscheidet oder als Kautionsmittel vorläufig die Frist wieder laufen läßt (Art. 22.4 SV und 5.4 LOPP). Es handelt sich hier um eine richterliche Vorabkontrolle über die Rechtmäßigkeit einer noch nicht bestehenden Partei. Der Richter wendet das Strafrecht an, um darüber zu entscheiden, dass zwar noch kein Delikt begangen wurde, aber dass zukünftig ein mögliches Delikt begangen werden kann, durch jemanden, der noch nicht als politische Partei vorhanden ist. Dies scheint nicht der Auslegung zu entsprechen, die man bei den Art. 6 und 22.3 SV vornimmt61.

D. Richterliche Aufhebung und Auflösung I. Gründe Gem. Art. 10 LOPP kann die Auflösung einer politischen Partei durch zwei Gründe erfolgen. Der erste Grund ist gewöhnlich und intern. Er liegt dann vor, wenn die Mitglieder, die Partei nach einer formalen Entscheidung gem. den Gründen und Verfahren auflösen wollen, was in den Statuten festgelegt ist wie bei jeder anderen Vereinigung. Der zweite Grund ist außergewöhnlich und extern. Danach muss eine richterliche Entscheidung ergehen gem. Art. 22.4 CE, der diese Auflösung oder in diesem Fall ihre Auf hebung bestimmt gem. den gesetzlich vorgesehenen Garantien. In beiden Fällen zieht die Löschung der Eintragung in das politische Parteienregister Folgen nach sich. In dem einen Fall hat die Löschung zuvor die Partei anzuzeigen und in dem andern Fall wird sie so vor der Löschung von dem zuständigen Richter informiert (Art. 10.1 LOPP). Diese außergewöhnliche Auflösung erfolgt in folgenden Fällen: Erstens, wenn der zuständige Strafrichter entscheidet, dass eine politische Partei unter den typifizierten Voraussetzungen als rechtswidrige Vereinigung im Strafgesetzbuch zu betrachten ist (Art. 22.2 und 22.4 SV, 520 Strafgesetz (SG) und 10.2 a) und 10.4 LOPP). Diese Vorgehensweise ist nicht zu kritisieren, da sie sich direkt aus der Verfassung ergibt. Zweitens, wenn die Spezialkammer des Obersten Gerichts zum Schluss kommt, dass eine Partei ständig, wiederholt und nachhaltig die Erfordernisse der inneren Struktur und des demokratischen Auf baus verletzt gem. Art. 6 SV, 7, 8, 10.2 b) und 10.5 LOPP. Dieser Auflösungsgrund kann kaum überprüft werden, weil der demokratische Charakter der Statuten untersucht wird und man vor allem feststellen muss, dass sich besondere Handlungen verwirklichen, die zwar die volle Teilnahme und 61 Dieses System folgt in diesem Punkt in gleicher Weise der Vorschrift des vorhergehenden Gesetzes 54/1978 über politische Parteien, das sehr stark von der Lehre und Rechtsprechung angegriffen wurde. Siehe J. Jiménez Campo, „La intervención estatal del pluralismo“, a.a.O, S. 171.

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die Rechte der Mitglieder schwächen, aber nicht dazu reichen, Strafdelikte zu begehen. Die gewünschte richterliche Kontrolle ist in diesem Fall normalerweise sehr schwierig, weil die Parteien eine oligarchische Tendenz haben, die gewöhnlich die Parteiarbeit kennzeichnet. Der Auf bau und die Funktion sind kaum transparent und nach außen hin nur sehr eingeschränkt erkennbar. Vielleicht ist die effizienteste Sanktionsmaßnahme nicht, die politische Partei aufzuheben oder aufzulösen, sondern wie J. Jiménez Campo sagt, ihr im politischen Parteiregister ihre Eigenschaft als Partei zu nehmen, aber diesen Zusammenschluss weiterhin als Vereinigung bestehen zu lassen62. Drittens bestimmt sich gem. dem Gesetz die Auflösung einer Partei durch Beschluss der gleichen Spezialkammer des Obersten Gerichts, wenn wiederholt und nachhaltig die Partei gegen die demokratischen Prinzipien verstößt oder sie versucht das freiheitliche und demokratische System zu zerstören durch Handlungen iSd Art. 9 LOPP (Art. 10.2 c) und10.5 LOPP). Dieser Grund läßt sich zusammenfassend aus den zuvor genannten Gründen in der Verfassung fi nden, die die Ideologie der Parteien nicht einschränkt (sie müssen aber zumindest stillschweigend in ihren Statuten die Menschenwürde anerkennen gem. Art. 10.1 SV) und auch nicht den politischen Pluralismus in irgendeiner Form bedingt. Diesen dritten Auflösungsgrund subsumiert man unter den ersten Auflösungsgrund, wenn die Handlungen Anhaltspunkte für typifizierte Straftaten geben, worauf der zuständige Strafrichter die Auflösung der Vereinigung in ihrer Eigenschaft als Partei bestimmen kann. Wenn man diese Subsumtion nicht durchführen kann, ist dieser dritte Auflösungsgrund nicht verfassungskonform, weil man nicht akzeptieren kann, dass Ziele und Aktivitäten, die zwar dem materiellen Inhalt der Verfassung widersprechen, überprüft und für rechtswidrig erklärt werden können. Es gibt daher keine gesetzliche Schranke für Parteien außerhalb der verfassungsrechtlichen Grundlage in Art. 22.2 SV63. Die Neuerung des Gestzes liegt darin, dass es andere Maßstäbe geschaffen hat, die anders als die in den Strafgesetzen sind, um diese Auf hebung oder Auflösung vornehmen zu können. Dies paßt nicht mit der richterlichen Kompetenz bei der Kontrolle des Vereinigungsgrundrechts zusammen, da Art. 22.2 SV und 520 SG diesen Kriterien gerade widersprechen. Trotzdem und gem. dem in Art. 10.2 c) LOPP genannten Auflösungsgrund hat der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 27. März vom 2003 erklärt, dass die Parteien Herri Batasuna, Euskal Herritarrok und Batasuna illegal sind. Meiner Meinung nach wäre der Grund für eine Auflösung schon in Art. 10.2 a) LOPP gegeben gewesen, da bereits vor diesem Gesetz es ausreichend begründet in der Verfassung war, um zur gleichen Entscheidung der Auflösung zu gelangen.

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J. Jiménez Campo, „La intervención estatal del pluralismo“, a.a.O., S. 179. Für eine andere Auslegung, die hier dargestellt wurde, und dem Gesetzgeber folgt, siehe E. Virgala Foruria, „Los partidos políticos ilícitos tras la L. O. 6/2002“, in Teoría y Realidad constitucional, ns. 10–11, 2003, S. 203–261; insbesondere S. 219 ff. 63

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II. Verfahren In Bezug auf die zwei neuen gesetzlichen Gründe, legitimiert Art. 11.1 LOPP die Regierung und den Generalstaatsanwalt, um die Rechtswidrigkeit einer politischen Partei festzustellen und ihre daraus folgende Auflösung, gem Abschnitt b) und c) Art. 10.2 LOPP. Die beiden Kammern der Cortes Generales, d. h. der Kongress der Abgeordneten und der Senat, können auch eine Vorlage bei der Regierung einlegen. Sie ist dann verpfl ichtet diese Vorlage, nach der die Partei für rechtswidrig erklärt werden soll, zu formalisieren. Die Anklage beginnt durch eine Anklageschrift vor der Spezialkammer des Obersten Gerichtshofs gem. Art. 61 des Organgesetzes der Iudikative64. Trotzdem wäre es besser gewesen und hätte eine Garantie geschaffen, wenn dem Verfassungsgericht diese Kompetenz zuerkannt worden wäre, dadurch hätte man ein Parteienprivileg geschaffen, entsprechend in Art. 21.2 GG. An die Anklageschrift hängt man die Dokumente an, die die Rechtswidrigkeit darlegen (Art. 11.2 LOPP). Diese Spezialkammer übergibt der Partei die Anklageschrift und stellt ihr eine Frist, dass sie innerhalb von 8 Tagen vor Gericht erscheinen soll. Danach prüft die Spezialkammer die Zulässigkeit und kann die Anklageschrift abweisen, wenn sie feststellt, dass die vorlegende Person nicht partei- oder prozessfähig ist oder wenn die Voraussetzungen für die Anklage formell nicht vorliegen oder wenn die Anklage offensichtlich keinen Grund hat. Die Gründe für die Abweisung der Klage werden innerhalb von 10 Tagen den Parteien mitgeteilt, damit sie die Anklage neu formulieren können (Art. 11.3 LOPP). Wenn die Klage zulässig ist, gibt man der beklagten Partei eine Frist von 20 Tagen (Art. 11.4 LOPP). Wenn Kläger und Beklagter vorschlagen oder die Kammer es für notwendig erachtet, wird ein weiterer Zeitraum für die Untersuchung gewährt (Art. 11.5 LOPP). Von den Ergebnissen der Untersuchung werden beide in Kenntnis gesetzt, damit sie weitere Gründe anführen können innerhalb von 20 Tagen. Wenn dieser Zeitraum verstrichen ist, muss die Entscheidung innerhalb von 20 Tagen ergehen (Art. 11.6 LOPP). Diese Entscheidung kann vollzogen werden, sobald sie Kläger und Beklagtem zugestellt wurde. Sie ist nicht beschwerdefähig, außer vor dem Verfassungsgericht durch Verfassungsbeschwerde (Art. 43, 44 LOTC). Die Entscheidung erklärt, dass die Vorlage zulässig und begründet ist und dass die Partei aufgelöst wird; bei Ablehnung wird die Rechtmäßigkeit der Partei erklärt. Bei Auflösung ordnet die Kammer an, dass die Einschreibung in das Register gelöscht wird. Wenn nicht, kann die gleiche Anklage nur dann wiederholt werden, wenn vor dem Obersten Gerichtshof neue Tatsachen vorgetragen werden, die die Aktivitäten der Partei als rechtswidrig erscheinen lassen (Art. 11.7 LOPP). Während des Prozesses, kann die Kammer, selbst oder auf Vorlage beider Seiten, die im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen ergreifen, insbesondere kann sie die Aktivitäten der Partei vorläufig einstellen lassen mit der Wirkung und der Folge, die sie für erforderlich und geeignet hält. Sie kann ihre vorläufige Löschung im Register anordnen bis die Entscheidung ergeht (Art. 11.8 LOPP).

64 Die Kammer setzt sich aus dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, dem Kammerpräsidenten und dem ältesten und jüngst berufenen Richter jeder einzelnen Kammer zusammen.

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III. Folgen Die richterliche Auflösung einer politischen Partei zieht gem. Art. 12.1 LOPP folgende Konsequenzen nach sich: Nach dem die Entscheidung zugestellt wurde, wird sofort die Aktivität der aufgelösten politischen Partei beendet, andernfalls ist sie strafrechtlich dafür verantwortlich. Rechtsbrüche oder der Mißbrauch der Rechtspersönlichkeit kann dies nicht verhindern und es ist nicht möglich, eine neue politische Partei zu gründen oder eine andere zu benützen, die schon im Parteienregister eingeschrieben ist, um die Aktivität einer anderen Partei fortzuführen oder nachzuverfolgen, die für rechtswidrig und aufgelöst erklärt wurde. Die Auflösung bestimmt die Eröffnung eines Prozesses über das Parteivermögen, die drei Liquidatoren durchführen, die von der Kammer benannt werden. Das Parteivermögen wird über die Staatskasse sozialen oder humanitären Einrichtungen zugeführt. Die Spruchkammer sichert, dass diese Folgen, die in dem Gesetz vorgesehen sind, beachtet werden, wenn die Entscheidung erlassen wird (Art. 12.2 LOPP). Auch erklärt die Kammer, dass ein Fortführen oder eine Nachfolge einer aufgelösten Partei nicht erlaubt ist. Es darf keine wesentliche Ähnlichkeit beider politischer Parteien bestehen wie auch nicht in ihren Strukturen, ihrer Organisation und ihrem Auf bau, in den Personen, die Mitglied sind, die eine Leitungsposition haben, ihren Vertretern oder ihrer Verwaltungsangestellter, in der Herkunft der Finanzierungsmittel oder der materiellen Güter, oder jedem anderen relevanten anderen Aspekte wie ihre Bereitschaft Gewalt oder Terrorismus zu unterstützen, so dass eine Fortführung oder die Nachfolge einer Partei feststellbar ist. Diese Folge vergleicht man mit den Daten und Dokumenten, die in dem Prozess verwendet wurden, in dem die Rechtswidrigkeit und Auflösung der Partei erklärt wurde. Diese neue Entscheidung der Kammer können Kläger, Beklagter, das Innenministerium und der Generalstaatsanwalt verlangen (Art. 12.3 LOPP) In Bezug auf diese betrügerische Stellvertretung, fügt die Zusatzvorschrift 2 des Gesetzes einen neuen Abschnitt 4 des Art. 44 des Organgesetzes 5/1985 vom 19. Juni des allgemeinen Wahlsystems (LOREG) hinzu. Gem. diesem Abschnitt ist verboten, dass Wahlgruppierungen Kandidaten aufstellen, die tatsächlich die Aktivität einer politschen Partei, die für rechtswidrig und aufgelöst erklärt wurde, fortführen oder ihr nachfolgen. Um diese betrügerische Absicht nachzuweisen, sind dieselben Merkmale anzuwenden, die für eine politische Partei gelten. Und der neue Abschnitt 5 des Art. 49 des erwähnten Organgesetzes legt fest, dass Wahlbeschwerde in den Fällen der Aufstellung oder dem Ausschluss der Kandidaten, die von den Wahlgruppierungen vorgeschlagen wurden, eingelegt werden kann gem. Art. 44.4 LOREG mit der Besonderheit, dass sie vor der Spezialkammer des Obersten Gerichtshofs vorgelegt wird iSd Art. 61 des Organgesetzes über die Judikative (LOPJ). Bei der Anwendung dieser Normen bestimmte die Spezialkammer des Obersten Gerichtshofs durch Entscheidungen vom 3. Mai 2003, dass teilweise die Wahlbeschwerden begründet sind, die durch den Volksanwalt und den Staatsanwalt gegen verschiedene Entscheidungen über Kandidatatenaufstellungen von den Wahlleitern der Provinzen Alava,

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Vizcaya, Guipúzcoa und Navarra durchgeführt wurden. Diese Wahlgruppierungen und einige Kandidaten, legten dagegen wiederum vor dem Verfassungsgericht Beschwerde ein. Sie führten grundsätzlich an, dass sie nicht nur in ihrem Recht auf richterliches Gehör, in seinen verschiedenen Varianten (Art. 24.1 und 24.2 SV) verletzt wurden, sondern auch in ihren Rechten auf politische Teilhabe (Art. 23 SV), Freiheit der Ideologie (Art. 16 SV), dem Vereinigungsgrundrecht (Art. 22 SV), dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 14 SV) und dem Verbot der Rückwirkung von Normen mit Sanktionscharakter (Art. 25.1 SV). Aber das Verfassungsgericht hat zum größten Teil dieser Beschwerden abgewiesen und so die angegriffenen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Es hat festgestellt, dass nicht nur die Grundrechte nicht verletzt wurden, sondern auch dass diese Kandidaten tatsächlich für eine bereits verbotene und aufgelöste Partei aufgestellt wurden und sie fortführten (STC 85/2003). Auf diese Weise verhinderte man ihre Teilnahme an den Kommunal- und Provinizialwahlen, die am 25. Mai 2003 durchgeführt wurden.

3. Teil: Finanzierung der Parteien A. Allgemeines und Gesetzesordnung Die Finanzierung der politischen Partei ist eine weitere Folge ihrer Anerkennung in der Verfassung. In der Epoche der Neutralität war man der Auffassung, dass keine staatliche Kontrolle bei der internen Organisation und den Einnahmen und Ausgaben der Parteien stattfi nden darf, einzig bestand nur ein Rahmen von Verboten und Einschränkungen von Beiträgen und Kosten; danach kam eine neue historische Epoche, in der der Staat regulierend mittels positiven Maßnahmen eingriff mit dem Zweck die Parteien und Kandidaten direkt oder indirekt aus öffentlichen Mitteln zu fi nanzieren. Dem lag die Philosophie zugrunde, dass der Staat, sofern möglich, die Chancengleichheit aller Parteien in ihren institutionellen Tätigkeiten gewährleisten soll. Gleichzeitig garantiert er auch ihre Unabhängigkeit und schützt sie vor externen Einflüssen, denen sie unausweichlich ausgesetzt sind, weil sie fi nanzielle Mittel benötigen. Das spanische Modell der Parteienfi nanzierung ist nur eine Variante des Modells, das hauptsächlich in Südeuropa vorherrscht. In diesem Modell verpfl ichtet sich der Staat durch Gesetz sowohl die außergewöhnlichen Aktivitäten der Parteien bei Wahlen als auch die gewöhnlichen Aktivitäten außerhalb der Wahlen zu finanzieren. Man möchte damit den Parteien ausreichende Finanzmittel zur Verfügung stellen, um zu vermeiden, dass sie alternative und irreguläre Finanzquellen für die Wahrnehmung ihrer wichtigsten Ausgaben suchen, die sie normalerweise tätigen müssen. Trotzdem führt der Anstieg dieser Kosten zu einem Scheitern des Modells, sowohl bei den außergewöhnlichen als auch gewöhnlichen Kosten, weil sich der Wettstreit der Parteien in der modernen „Informationsgesellschaft“ erheblich verteuert hat und die Ausgaben sich vervielfacht haben. Dieses Modell ist nicht dazu geeignet, die Finanzierung zu gewährleisten, die immer schwieriger wird, so dass die Parteien von Klientelgruppen Geld erhalten, was aufgrund der anormalen Natur nicht transparent ist und auch nicht kontrolliert werden kann.

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B. Die Mittel der Finanzierung Daher hat das Organgesetz 8/2007 vom 4 Juli zur Finanzierung der politischen Parteien die vorhergehende Geseztgebung ersetzt, die nicht angemessen die Hinlänglichkeit, die Regelung, die Transparenz und die effektive Kontrolle ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit garantierte. Auf diese Weise, auch wenn das Mischsystem der öffentlichen und privaten Finanzierung der politischen Parteien beibehalten wurde, das schon die vorhergehende Gesetzgebung aufnahm, intensviert das neue Gesetz die Kontrollen der privaten Spenden und sieht Sanktionen vor, die sich aus den Verantwortlichkeiten ergeben, die man aus der fehlenden Erfüllung ihrer Vorschriften ableiten kann.65 Art. 2 des genannten Organgesetzes bestimmt daher, dass die wirtschaftlichen Mittel der politischen Parteien sowohl aus der öffentlichen als auch der privaten Finanzierung stammen. Folglich: Die laufenden Mittel der öffentlichen Finanzierung setzen sich zusammen aus: 1. Zuschüsse für Wahlausgaben 2. Staatliche jährliche Zuschüsse für den laufenden Betrieb 3. Die jährlichen Zuschüsse, die die Autonomiegemeinschaften, die Gemeinden und im jeweiligen Fall die örtlichen Gebietskörperschaften gewähren. 4. Die außerplanmäßigen Zuschüsse, um Wahlkämpfe vor einem Referendum bestreiten zu können. 5. Und die Zuschüsse, die die politischen Parteien im jeweiligen Fall von den parlamentarischen Gruppen der Parlamente erhalten, der gesetzgebenden Kammern der Autonomiegemeinschaften, der Generalversammlung des historischen Baskenlandes und der Repräsentanten der Gebietskörperschaften (Art. 21). Das Gesetz bleibt dabei, dass die jährlichen Zuschüsse entsprechend dem staatlichen Haushaltsplan den politischen Parteien, die im Parlament vertreten sind, bedingungslos gewährt werden, um ihre normalen Ausgaben für ihre Tätigkeiten und ihrer Sicherheit bestreiten zu können. Die Berechnungsgrundlage bilden die Anzahl der Sitze und der Wählerstimmen, die sie in den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus erhalten haben. Ebenso sieht das Gesetz vor, dass die Autonmiegemeinschaften und die Generalversammlung des historischen Baskenlandes in analoger Form verfahren können. Man hat kritisiert, dass diese direkte Subventionierung die Parteien benachteiligt, die nicht im Parlament vorhanden sind, aber auf der anderen Seite sehr die Parteien bevorzugt, die die Mehrheiten stellen. Auf diese Weise fi ndet eine Kristallisierung des bestehenden Parteiensystems statt. Insgesamt wandelt diese Technik, die eigentlich nur formal die Parteien subventionieren sollte und die Chancengleichheit der Parteien stärkt, sich in eine politische Entscheidung um, die den dynamischen Parteienwettstreit erheblich beeinflusst. Die Wahlsubventionen sind im Organgesetz über das Wahlsystem (LOREG) reguliert. Ihm liegt gem. Art. 127 ein allgemeines Prinzip66 zugrunde. Es konkretisiert 65

Siehe G. Ariño Ortiz, „La financiación de los partidos políticos“, Pamplona, 2009, passim. „Der Staat subventioniert gem den im Gesetz betehenden Regelungen, die Einnahmen der Parteien, Bündnisse, Koalitionen und Wahlgruppierungen, die zu den Wahlen des Abgeordnetenkongresses, des Senats, des Europäischen Parlaments und bei Kommunalwahlen antreten. Keinesfalls darf die Subvention die tatsächlichen Ausgaben für diese Wahl übersteigen, die der Rechnungshof in seinen Kontrollen festgelegt hat.“ 66

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für jede Wahl (national, kommunal und auf europäischer Ebene) ein System von öffentlichen Subventionen. Dieses System besteht darin, den Parteien, die gewählt wurden, eine bestimmte Geldsumme für jeden Abgeordnetensitz oder Sitz im Gemeinderat zu geben und eine weitere Geldsumme für jede erhaltene Stimme. Das System wird durch die Regelungen in jeder Autonomiegemeinschaft über die Einnahmen bei Autonomiewahlen (Autonomiegemeinschaften entsprechen den Ländern in Deutschland, haben jedoch weitergehende Rechte) vervollständigt. Es folgt den gleichen Kriterien, die zuvor dargestellt wurden (SSTC 3/1981 und 63/1987). Bei den Geldmitteln, die die Parteien als Fraktion im Parlament erhalten, sind die Regelungen des Abgeordnetenkongresses und des Senats und der Parlamente der Autonomiegemeinschaften zu beachten, die das Recht der öffentlichen Parteisubventionierung im Rahmen der Haushaltspläne der Kammern vorsehen. Sie bestehen darin, einen festen und einen variablen Anteil zu verteilen, der sich nach der Anzahl ihrer Parlamentsmitglieder richtet (Art. 28.1 RCD und 34 RS). Das Problem besteht darin, dass die Fraktionen diese Geldmittel als ständige Quelle für die Finanzierung der Partei selbst benutzen. Dieses Geld ist aber zweckgebunden und völlig verschieden von dem Geld für die Partei, da die Fraktionen im Parlament eine eigene Rechtspersönlichkeit haben und einen unabhängigen Willen von der Partei. Dadurch wird die Parlamentsarbeit erheblich benachteiligt und eingeschränkt (STC 214/1990). Diese Möglichkeit der Quersubventionierung sollte daher verboten werden. Alle diese öffentlichen Zuschüsse sind unvereinbar mit jeglicher anderer wirtschaftlicher oder fi nanzieller Unterstützung, die im staatlichen Haushaltsplan, in den Haushaltsplänen der Autonomiegemeinschaften oder der Generalversammlung des historischen Baskenlandes vorgesehen ist, sofern diese anderen außerplanmäßigen Hilfen nicht dem Gesetz entsprechen. Für diesen Teil enthält das Wahlgesetz die wichtigsten Instrumente der indirekten öffentlichen Finanzierung. Darunter fi ndet sich die Regel in den Art. 59 bis 67 LOREG. Danach ist Wahlwerbung für die Wahlkampagnen in öffentlichen Medien frei. In diesem Sinn in einer sehr genauen Regelung ergeben sich zwei grundlegende Prinzipien: Erstens das Prinzip des Verbots Wahlwerbung in öffentlichen Medien zu bezahlen gem. Art. 60.1 LOREG. Zweitens das Prinzip, dass während einer Wahlkampagne die Parteien, Bündnisse, Koalitionen und Wahlgruppierungen, die an den Wahlen teilnehmen, das Recht haben, kostenlos Werbung für die Propaganda im öffentlichen Fernsehen und Hörfunk zu schalten gem. Art. 70.2 LOREG. Diese kostenlosen Werbezeit wird entsprechend der Anzahl der Wählerstimmen in den gleichen vorhergehenden Wahlen für die Parteien, Bündnisse und Koalitonen gem. Art. 61 LOREG verteilt. Dieses Prinzip konkretisiert sich gem. den verschiedenen Ebenen der Wahlen. Es scheint nicht in besonderem Maß dem Prinzip der Chancengleichheit der Parteien zu entsprechen, weil es wiederum die bereits bestehenden Parteien bevorzugt und die anderen Parteien benachteiligt. Eine andere wichtige indirekte öffentliche Finanzierung stellt die Subventionierung der Parteien bei Ausgaben der Parteien dar, die durch Direktmailing oder durch Wahlprospekte an Wähler entstehen, da dies aufgrund der hohen Kosten nicht durchführbar wäre. Auch sieht das Wahlgesetz vor, dass die Gemeinden öffentlichen Raum für Plakate kostenlos zur Verfügung stellen müssen und den Parteien für ihre Wahlveranstaltungen Säle und Plätze ebenfalls kostenlos geben müssen gem. Art. 55.2 LOREG. Das Ver-

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fahen, nach dem die Gemeinden vorgehen müssen, ist formal geregelt gem. Art. 56 und 57 LOREG. Zuletzt sind durch Ministeranordnung die Preise für Wahlwerbung per Brief bestimmt gem. Art. 59 LOREG. Das Recht der Vertreter jedes Kandidaten, die Daten der Volksabstimmung einsehen zu können, erfolgt nach gesetzlicher Regelung gem. 41.5 LOREG. Trotzdem sagt man nichts über die Notwendigkeit, den Mißbrauch einzuschränken, der sich bei öffentlichen Kampagnen der Regierung ergibt, ständig über die Vorzüge ihrer Arbeit zu sprechen, was zeitlich genau nach dem Aufruf zur Wahl erfolgt, aber noch vor der gesetzlichen Frist für den Beginn der Wahlkampagne. Dies unterläuft die gesetzliche vorgesehene indirekte öffentliche Finanzierung der Parteien. Die laufenden Mittel der privaten Finanzierung setzen sich zusammen aus: 1. Den Beiträgen und Zuschüssen ihrer Mitglieder, Helfer und Sympathisanten. 2. Den Produkten, die sich aus der Parteitätigkeit selbst ergeben und den laufenden Erträgen, die unter ihrem Namen erbracht werden, den laufenden Zuwendungen aus Werbemaßnahmen und denjenigen, die sich aus den Dienstleistungen im Rahmen ihrer besonderen Zielsetzung gewinnen lassen. 3. Die Barspenden oder die sie auf andere Weise erhalten entsprechend dem Gesetz. 4. Die laufenden Beträge aus Darlehen oder Krediten, die sie gewährten. 5. Die Erbschaften oder Nachlässe, die sie erhalten (Art. 22). Insbesondere die privaten Spenden an die politischen Parteien waren das Ziel einer strikten, wenn auch nicht voll befriedigenden, weil unvollständig, normativen Regelung mit dem Zweck, es zu vermeiden, dass sie sich wie es immer mehr passierte, in eine Quelle der illegalen Finanzierung umwandeln. Art. 4.2 des Gesetzes bestimmt, „Die politischen Parteien können zweckfreie und auflagenungebundene Spenden in bar oder in anderer Form erhalten von natürlichen oder juristischen Personen, innerhalb der Grenzen entsprechend den Bestimmungen und Bedingungen, die in diesem Gesetz niedergelegt sind“. Diese Spenden, die unwiderrufl ich sind, müssen dem Zweck dienen, den politischen Parteien ihre Arbeit zu ermöglichen. Daneben ist festgelegt, dass diese Spenden, wenn sie von juristischen Personen stammen, immer der Zustimmung des jeweils zuständigen Organs bedürfen, was ausdrücklich erklärt sein muss. Auf jeden Fall verbietet das Gesetz, dass die politischen Parteien direkt oder indirekt Spenden von öffentlichen Organisationen, Einrichtungen oder Unternehmen erhalten. Auch nicht von privaten Unternehmen, die durch einen gültigen Vertrag Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung, öffentlichen Organisationen oder Unternehmen, deren Kapital mehrheitlich in öffentlicher Hand ist, anbieten oder ausführen. Um es transparenter zu gestalten und ihre Kontrolle zu erleichtern, müssen die Spenden an die politischen Parteien per Rechnungsschrift von Kreditinstituten angewiesen werden, die allein dafür bestimmt sind. So muss das Einzahlungsdatum, die Geldsumme und der Name und die Steuernummer des Spenders genannt sein, der von dem Kreditinsitut ein beglaubigtes Dokument erhält, das dieses bestätigt. Ausländer, immer dann wenn sie nicht Regierungen, Organisationen, Einrichtungen oder Unternehmen der öffentlichen Hand sind oder direkt oder indirekt mit ihnen verbunden sind, können zweckfrei an politische Parteien spenden innerhalb der gleichen Grenzen und Vorschriften, die die Inländer betreffen, wenn sie etwas privat zuwenden. Zu diesen Anforderungen kommt die Verpfl ichtung hinzu, die

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geltende Norm zur Kontrolle von Kapitalbewegungen- und veränderungen zu erfüllen. Auf jeden Fall können die politischen Parteien direkt oder indirekt nicht von Dritten die tatsächliche Übernahme von Kosten für Güter, Arbeiten oder Dienstleistungen oder jegliche anderer Ausgaben annehmen, die für ihre Tätigkeiten anfallen. Auch verbietet man anonyme Spenden und solche, die von der gleichen natürlichen oder juristischen Person stammen, die größer ist als 100.000 EUR jährlich, sofern es sich nicht um Spenden handelt in Form von Immobilien, unter der Voraussetzung, dass sie durch eine Quittung bestätigt werden, die die politische Partei als Annehmender ausstellt. Trotzdem ist man der Meinung, dass das Gesetz den grundlegenden normativen Rahmen der Tätigkeit der politischen Parteien in den mit ihnen verbundenen Grundlagen gemäß den Prinzipien der Transparenz und Öffentlichkeit unzureichend regelt. Bei der privaten Finanzierung der Parteien für Wahlzwecke, bestimmt Art. 126 LOREG, dass diejenigen, die den Parteien auf Wahlkonten Geld spenden, ihren Namen, ihren Wohnsitz und die Nummer des Personalausweises mitteilen müssen; und diejenigen, die Stellvertreter einer natürlichen oder juristischen Person sind, müssen den Namen des Stellvertretenen nennen. Man besteht daher in jedem Fall auf dem Verbot einer anonymen Spende. In jedem Fall darf eine natürliche oder juristische Person nicht mehr als 6.000 EURO auf das Konto einer gleichen Partei, einem Parteienbund, einer Koalition oder eine Wahlgruppierung spenden, um Wahlfonds bei Wahlen zu füllen (Art. 129 LOREG).

C. Grenze der Wahlausgaben und Kontrollsystem Zuletzt ist zu sagen, dass das Organgesetz zum allgemeinen Wahlsystem (LOREG) allgemein bestimmt, dass „keine Partei, kein Bündniss, keine Koalition oder Wahlgruppierung Wahlausgaben vornehmen darf, die die Grenzen übersteigen, die in dem besonderen Abschnitt dieses Gesetzes vorhanden sind“ (Art. 131.1 LOREG). Das Gesetz präzsiert diese Grenzen für die verschiedenen Ebenen der Wahlen, d. h. Wahlen auf nationaler Ebene gem. Art. 175.2, auf kommunaler Ebene gem. Art. 193.2 oder auf europäischer Ebene gem. Art. 227.2. LOREG. Die Wahlgesetze der Autonomiegemeinschaften enthalten das gleiche Kriterium. In allen Fällen ergibt sich der Höchstbetrag durch eine mathematische Formel. Die Anzahl der Einwohner wird mit den Anzahl der Wahlberechtigten multipliziert mit dem Faktor einer bestimmten Geldmenge, dazu wird eine weitere Geldsumme addiert gem. der Anzahl der Wähler, die in den Wählerverzeichnissen eingetragen sind, wo diese Partei auftritt. Daneben schränken ein und verbieten andere Normen die Spenden, die die Parteien erhalten können. Art. 128 LOREG verbietet, Spenden bei Wahlen durch die öffentliche Hand und mit Ausnahmen auch von Ausländern oder durch ausländische Organisationen. Auf der anderen Seite sagt Art. 129 LOREG, dass keine natürliche oder juristische Person mehr als 6.000 EURO auf das Wahlkonto einer Partei, einem Bündniss, einer Koalition oder einer Wahlgruppierung spenden darf.

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Bei der Buchhaltung und Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben der Parteien besteht die allgemeine Regelung gem. Art. 121 bis 125, 132 bis 134, 174, 192 und 226 LOREG. Bezugnehmend auf das Gesetz zur Parteienfi nanzierung, erhalten diese das, was für die Einrichtungen ohne Gewinnerzielungsabsicht vorgesehen ist. Deshalb sind sie von der Unternehmenssteuer für Zinserträge freigestellt, die sie zur Finanzierung ihrer Tätigkeit erhalten, die das besondere Ziel oder den Zweck begründen. Ausgenommen sind Zinserträge, die mehr als 25% betragen. Bei den steuerlichen Vergünstigungen werden die an die politischen Parteien gemachten Zuwendungen von der Besteuerungsgrundlage der Ertragssteuer für natürliche Personen abgezogen mit einer Grenze von 600 EUR jährlich, sofern es begründet ist. Bei den Parteispenden, die durch eine Spendenquittung ausgewiesen sind, zieht man das ab, was in dem Finanzierungsgesetz für öffentliche Einrichtungen ohne Gewinnerzielungsabsicht und Steuervergünstigung für Spender vorgesehen sind. So reguliert die gültige Gesetzgebung die aufgezählten Verpfl ichtungen der politischen Parteien, um es transparenter zu machen. Daher wird bestimmt, dass sie Bilanzbücher führen müssen, die es erlauben, dass jederzeit ihre Finanz- und Vermögenssituation und die Erfüllung der im Gesetz vorgesehenen Verpfl ichtungen erkennbar ist. Diese Bücher listen jährlich ihre Wirtschaftsgüter auf, den Betrag der Einkünfte nach Bilanzposten und das Kapital nach Krediten oder Darlehen, nach Geldanlagen und Schulden und Verpfl ichtungen. Das höchste Direktionsorgan jeder politischen Partei muss die jährlichen Buchpositionen zu jeder Wirtschaftshandlung dem Königlichen Rechnungshof vor dem 30. Juni des auf das Wirtschaftsjahr folgenden Jahres präsentieren. In diesen jährlichen Buchpositionen werden detailliert die Einkünfte und Ausgaben erklärt, die von einer Erklärungsschrift begleitet sind, in der ausführlich die öffentlichen Subventionen und die privaten Spenden aufgelistet sind, die von natürlichen oder juristischen Personen gewährt wurden und in der die Spender und der erhaltene Gelbetrag genannt sind. Auch erläutert diese Schrift einzeln die Vertragsbedingungen der Kredite und Darlehen, die die politischen Parteien mit den Krditinstituten vereinbart haben. So läßt sich der Kreditgeber identifizieren, der erteilte Kreditbetrag, der Zinssatz, die Laufzeit des Kredits oder des Darlehens, zusätzlich die noch ausstehende Schuld am Ende des Wirtschaftsjahres. Wenn diese Buchpositionen die parlamentarischen Gruppen betrifft, dann wird dies in den Verordnungen des Staats oder der Autonomiegemeinschaften der entsprechenden parlamentarischen Kammern oder in den gemeindlichen Geschäftsordnungen dargestellt. In Übereinstimmung mit diesen Buchführungsvorschriften hebt das Gesetz zur Parteienefi nanzierung nachdrücklich die Wichtigkeit der internen und externen Kontrolle der fi nanzwirtschaftlichen Aktivitäten der politischen Parteien hervor. Diese zweite Form der Kontrolle obliegt dem Königlichen Rechnungshof vorbehaltlich der Arbeit, die die jeweiligen Rechnungshöfe der Autonomiegemeinschaften ausführen. Diese Kontrolle wird auf die Legalität der öffentlichen und privaten Mittel der Parteien erweitert so wie auch auf die regelgemäße Buchführung ihrer finanzwirtschaftlichen Aktivitäten. Der Rechnungshof hat 6 Monate Zeit, um dies zu prüfen ab Erhalt der Dokumentation, die die Parteien vorlegen müssen. Der Bericht,

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der erstellt wird, wird zu seiner Billigung gemäß dem Verfahren an das Parlament versendet und später im Offiziellen Staatsanzeiger veröffentlicht. Wenn der Rechnungshof ggf. in seinem Bericht glaubhaft feststellt, dass eine politische Partei Rechtsverletzungen begangen hat oder irregulär gehandelt hat, beschließt das Plenarorgan, dass ein Strafverfahren eröffnet wird, an dessen Schluss erklärt wird, ob oder ob nicht eine Verantwortlichkeit besteht. Wenn sie besteht, werden gegenüber der gesetzesverletzenden Partei Geldstrafen verhängt gemäß dem Gesetz, unbeachtlich der gesetzlichen Verantwortlichkeiten, die sich bei deratigen Verstößen aus der Gesetzesordnung ergeben. Insbesondere verhängt der Rechnungshof gemäß dem Gesetz gegenüber der Partei: 1) wenn es sich zeigt, dass sie Spenden erhalten hat, die die Grenzen und Voraussetzungen überschreitet, die das Gesetz vorsieht. Vorgesehen ist eine Strafe, deren Höhe dem Doppelten des illegal Erhaltenen entspricht, was von dem folgenden jährlichen Zuschuss für den laufenden Betrieb abgezogen wird. 2) Und man verhängt auch Sanktionen gegenüber einer politischen Partei, wenn sie nicht ohne trifftigen Grund, die Bilanzbücher zum letzten Geschäftsjahr vorlegt oder auch wenn sie so unvollständig sind, dass der Rechnungshof nicht seine Finanzprüfung bis zum Ende durchführen kann. In diesem Fall ist vorgesehen, dass die jährlichen Zuschüsse für den laufenden Betrieb nicht freigegeben werden. Trotzdem besitzt der Rechnungshof als Hilfsorgan des Parlament bedauerlicherweise einzig eine Möglichkeit der Sanktionierung, weil es das Parlament ist, dem die Berichte zugerechnet werden und so die Sanktionen erst verhängen kann. Dasselbe passiert bei den Autonomiegebieten. Dabei ist das politische Element dem juristischen vorgelagert, was es so in der Praxis neutralisiert. Deshalb kann man beobachten, dass die Bericht des Rechnungshofs sich darauf beschränken die von den politischen Parteien begangenen Rechtsverletzungen festzustellen, ohne dass daraus sich ergibt, dem Parlament irgendeine Sanktion vorzuschlagen. In der Zusammenfassung werden gegenüber den Parteien, dem Parlament und dem Gesetzgeber Empfehlungen ausgesprochen, Ermahnungen erteilt und Ratschläge gegeben, damit diese Fehler behoben werden, auf das sich das Parlament darauf beschränkt dies anzunehmen, ohne dass sich irgendeine Konsequenz daraus ergibt.

4. Teil: Parteien und ihre Mitglieder A. Innere Struktur und demokratischer Aufbau. Rechte und Pflichten der Mitglieder Gem. Art. 6 LOPP müssen als Vereinigungen mit Verfassungscharkater, „die politischen Parteien in ihrer Organistion, Auf bau und Aktivitäten den demokratischen Prinzipien und den Vorgaben der Verfassung und der Gesetze entsprechen“. Dieser Auftrag ist eine Folge der politischen Bedeutung ihrer „Funktionen“ (STC 10/1983). Er drückt wie wir bereits festgestellt haben ein „Plus“ der Bindung an die Verfassungsordnung aus. Daraus leiten sich die besonderen Rechte und Pfl ichten ab. So ergibt sich aus der Generalklausel zuerst das Mandat iSd Art. 6 SV, nach dem „die innere Strukur und der Auf bau der Parteien demokratisch sein müssen“ (Art. 7.1

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LOPP) 67. Um dies effektiv gewährleisten zu können, müssen laut Gesetz eine Reihe von unabdingbaren Garantien verpfl ichtend in die Statute eingefügt werden. Sie drücken die „innere Selbstorganisation“ der Partei aus, sie präzisieren sie oder erweitern sie ggf. (STC 56/1995) 68. Mindestens ist erforderlich, dass eine „allgemeine Parteiversammlung aller Mitglieder“ abgehalten werden muss, die als „höchstes Leitungsorgan“ der Partei agiert, die die wichtigsten Entscheidungen trifft, einschließlich ihrer Auflösung (Art. 7.2 LOPP), daneben „Exekutivorgane der Parteien“, die gemäß den Statuten mittels freier und geheimer Wahl bestimmt werden (Art. 7.3 LOPP), dann eine Frist für die Wahleinladung, die ausreichend für die Zusammenkunft ihrer Kollegialorgane sein muss, um die Diskussionspunkte vorzubereiten, auch ein notwendiges Minimum von Mitgliedern, die für den Einbezug der Diskussionspunkte in die Tagesordnung erforderlich sind, Regeln für die Debatte und den Meinungsaustausch und welche Mehrheit notwendig ist, um eine Entscheidung vornehmen zu können, die in der Regel durch einfache Mehrheit der Anwesenden oder Stellvertreter getroffen wird (Art. 7.4 LOPP). Zum Schluss besteht die gesetzliche Verpfl ichtung, dass die Statuten ein Verfahren der demokratischen Kontrolle der gewählten Vertreter vorsehen müssen (Art. 7.5 LOPP). Danach fordert das Gesetz bestimmte Rechte und Pfl ichten der Mitglieder, die minimal vorhanden sein müssen und ebenfalls unabdingbar sind. Eine genaue Liste dieser Rechte und Pfl ichten muss in die entsprechenden Statuten eingfügt sein. Die gesetzlichen Rechte garantieren die Teilhabe und die demokratische Kontrolle als Teil des wesentlichen Inhalt des Vereinigungsgrundrechts in seiner Variante als Partei. Daher besteht gerichtlicher Schutz, sowohl ordentlich vor der allgemeinen Gerichtsbarkeit als auch außerordentlich vor dem Verfassungsgericht. Die anderen Rechte, die in den Statuten bestimmt sind und die deshalb einen anderen Rang haben, genießen nur einen ordentlichen Rechtsschutz im Sinne einer Rechtmäßigkeitskontrolle (STC 56/1995) 69. Nach Art. 8.2 LOPP bestehen folgende Rechte: die Mitglieder dürfen bei den Aktivitäten der Partei und in ihren Leitungs- und Repräsentativorganen teilnehmen, sie können das Wahlrecht ausüben und an der Parteiversammlung anwesend sein entsprechend den Statuten, sie können Wähler sein und sich zur Wahl für Ämter stellen, sie haben das Recht darüber informiert zu werden, was die Organisation, den Auf bau, die Aktivitäten und die wirtschaftliche Situation der Partei betrifft, und sie können gegen die Entscheidungen der Parteiorgane vorgehen, ob sie dem Gesetz oder den Statuten entsprechen. Zuletzt sagt das Gesetz, dass der Ausschluss und die übrigen Sanktionsmittel, die die Rechte der Mitglieder aufheben, nur in einem ordnungsgemäßen Verfahren stattfi nden können unter Wahrung eines Informations- und Anhörungsrechts des Betroffenen. Das Verfahren muss vor der Sanktion selbst vorgenommen werden. Auch haben die Mitglieder das Recht 67 Siehe J. I. Navarro Méndez, „Partidos políticos y democracia interna“, Madrid, Centro de Estudios Constitucionales, 1999, S. 229 ff. 68 Kommentar dazu von I. Gutiérrez Gutiérrez, „Democracia en los partidos y derechos de los afi liados. (Nota sobre la STC 56/1995)“, in J. Asensi Sabater (ed.), „Ciudadanos e instituciones en el constitucionalismo actual“, Valencia, Tirant lo Blanch, 1997, S. 347 ff. 69 Siehe E. Vírgala Foruria, „Ejercicio de derechos por los afi liados y control judicial de las sanciones impuestas por los partidos políticos“, in Teoría y Realidad constitucional, núm. 6, 2000, S. 83– 108.

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auf Begründung der Sanktion, gegen die sie ein internes Beschwerderecht haben (Art. 8.3 LOPP). Unter den ebenfalls unabdingbaren Pfl ichten finden sich folgende sehr wichtige: Mitwirkung und Mitarbeit an den Zielen der Partei, Beachtung der Statuten und der Gesetze, Anerkenntnis der Entscheidungen und Erfüllung von ihnen, die gültig durch die Exekutivorgane der Partei getroffen wurden, Zahlung der Mitgliedsbeiträge und anderer Geldbeträge, die jeder gemäß den Statuten zu entrichten hat (Art. 8.4 LOPP).

B. Aktivitäten Es ist bemerkenswert, dass das Gesetz sich auf die „Aktivitäten“ der Parteien bezieht, wie schon das Vorgängergesetz. Aber dieses Gesetz ist enger bei der Kontrolle der Aktivitäten der Parteien. Fraglich ist zuerst, ob es eine verfassungsrechtliche Grundlage dafür gibt gem. der systematischen Auslegung der Art. 6 und 22 SV. Gerade dies scheint aber nicht der Fall zu sein, weil diese Normen nur ein „Plus“ ausdrücken oder das Erfordernis einer demokratischen Ausrichtung der Struktur und dem internen Auf bau der Partei, aber nicht gegenüber ihren Zielen und ihrer Aktivitäten, die frei sind (Art. 6 SV). Die ausdrückliche Schranke liegt in dem Begehen eines Delikts (Art. 22.2 SV). Der komplexe und kontroverse Art. 9 LOPP beschäftigt sich mit dieser Frage und ruft erhebliche Zweifel bei der Auslegung hervor. Es ist zu klären, ob die Kritik der Lehre an diesem Artikel zu bestätigen oder zu verneinen ist. Er ist zusammen mit den folgenden Normen auszulegen, die sich auf die richterlichen Auf hebung und den richterlichen Ausschluss der Partei beziehen (Art. 10,11,12 LOPP). Sie schaffen ein Modell der „streitbaren Demokratie“. Dieses Modell ist nicht gewollt und auch nicht durch die gegenwärtige Verfassung erlaubt70. So beinhalte Art. 9.1 LOPP zuerst, dass „die politischen Parteien frei ihre Aktivitäten ausüben können“, aber er fügt an, dass „sie dabei die Verfassungswerte beachten müssen, die sich in den demokratischen Prinzipien und in den Menschenrechten finden. Sie müssen Tätigkeiten entwickeln, die gemäß der Verfassung in demokratischer Art und Weise zu erfolgen und voll den Pluralismus zu beachten haben“. Daher hat man in dieser Norm die Absicht gesehen, Art. 9.1 LOPP als einen gesetzlichen Maßstab der Aktivitäten der Parteien zu entwickeln, weil sie ein zusätzliches und unabhängiges Erfordernis vorsieht, um eine positive Bindung der Partei an die Verfassung zu schaffen. Es ist mehr als die Beachtung der Verfassung, weil es eine ausdrückliche Gleichstellung mit dem materiellem Inhalt der Verfassung fordert als ob es sich bei den Parteien um Staatsorgane handeln würde, obwohl sie tatsächlich nur besondere Vereinigungen aufgrund ihrer öffentlichen Bedeutung ihrer institutionellen Ziele sind71. Daher kann man schwierig davon sprechen, dass diese gesetzliche Vorschrift verfassungsgemäß ist, weil es auch der Präambel des Gesetzes widerspricht. Danach „sind 70

Gegenüberstellung des spanischen und deutschen Verfassungsmodells von I. de Otto y Pardo, „Defensa de la Constitución y partidos políticos“, a.a.O, S. 19 ff. 71 So auch analog Art. 5.2 b) de la Ley de Partidos de 1978, J. Jiménez Campo, „La intervención estatal del pluralismo“, a.a.O., S. 177.

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einzig die Ziele verboten, die ein Delikt bedeuten“ (Art. 22.2 SV), so „versteht man jede Absicht oder jedes Ziel für mit der Verfassung vereinbar . . .“, weil die Verfassung keine Ewigkeitsklauseln hat, d. h. sie kann vollständig reformiert werden. Die Verfassung fordert nichts anderes als die Achtung vor dem Recht und Gesetz gemäß der allgemeinen Vorschrift des Art. 9.1 SV und sie wiederholt es für die politischen Parteien in Art. 6 SV 72, „immer dann, wenn sie (diese Absicht und Ziele) durch ihre Aktivitäten nicht den demokratischen Prinzipien oder den Grundrechten der Bürger widersprechen73. So kann man bei dem Normbereich des Art. 9 LOPP, der systematisch ausgelegt werden muss, einzig die „Aktivitäten“, typifi ziert als Delikte gem. Art. 6 und 22 SV, als verboten ansehen, aber nicht die „Ziele“, die in dem Programm der Parteien enthalten sind und nicht als strafrechtlich relevant betrachtet werden, weil sie mit der Verfassung übereinstimmen. Aber sicher ist, dass Art. 9.2 LOPP diese wohlwollende Auslegung, die meiner Meinung nach die einzig verfassungsgemäße ist, nicht zu ermöglichen scheint, weil er nach seinem Wortlaut zielorientiert ist. Er entspricht gerade nicht ausdrücklich dem Strafgesetz, sondern geht über dessen Inhalt hinaus. Diese Vorschrift besagt, dass „eine politische Partei für rechtswidrig erklärt wird, wenn ihre Aktivität die demokratischen Prinzipien verletzt, insbesondere wenn durch sie die freiheitliche Ordnung zerstört oder vermindert werden soll oder das demokratische System beseitigt oder aufgehoben werden soll“. Diese Norm, die in ihrem Wortlaut an Art. 21.2 GG erinnert, fi ndet aber in keiner Weise eine Grundlage oder einen Anhaltspunkt in der Spanischen Verfassung. Die Verfassung sieht keine Kontrolle der Ziele der politischen Parteien vor mit Ausnahe von strafrechtlich relevanten Zielen wie wir festgestellt haben (Art. 22.2 SV). Man muss darauf bestehen, dass Art. 6 SV nur „die Ausübung der Aktivitäten der Parteien“ der „Verfassung und dem Gesetz“ unterwirft. Die Aktivität ist gerade „frei“ ohne zusätzliche Bindung an die demokratischen Prinzipien mit Ausnahme der Struktur und dem internen Auf bau74. Aber dies sagt das Gesetz nicht, es zwingt vielmehr die Parteien dazu die „Verfassungswerte, die in den demokratischen Prinzipien und den Menschenrechten ausgedrückt sind“ zu beachten und zwingt sie ebenfalls „ihre Tätigkeiten“ in „demokratischer Form und unter voller Beachtung des Pluralismus“ (Art. 9.1 LOPP) zu vollziehen. Man kann daher diese unglückliche Norm nur in Zusammenhang mit den Aktivitäten für verfassungskonform erklären, die regelmäßig und nachhaltig stattfi nden und die katalogmäßig aufgezählt sind, die tatsächlich ein Delikt darstellen. Diese Aktivitäten ergeben sich aus den Voraussetzungen der jeweilig bestehenden Strafgesetze. Auch wenn damit ggf. nur das Strafgesetz wiederholt wird, besteht in diesem Fall kein Risiko, dass das Gesetz mit einem konkurrierenden Grundrecht kollidiert, insbesondere mit den möglichen davon betroffenen ideologischen Freiheiten, der politischen Anteilnahme, der persönlichen Redefreiheit und der Pressefreiheit.

72

I. de Otto y Pardo, „Defensa de la Constitución . . .“, a.a.O., S. 25. Nach STC 11/1981, „die Verfassung ist ein Rahmen für die Ideen, der ausreichend groß genug ist für politische Ansichten, die sehr unterschiedlich sein können“. 74 Gleichfalls A. Rodriguez Diaz, „El artículo 6 de la Constitución: los partidos políticos“, a.a.O., S. 59–62. 73

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Die Handlungen, die das Gesetz nennt, beziehen sich alle auf Terrorismus und Gewaltdelikte und beinhalten die systematische Verletzung der Freiheiten und Grundrechte. Sie bewahren, rechtfertigen oder entschuldigen Attentate gegen das Leben oder die Integrität von Personen, sie schließen aus oder verfolgen Menschen aufgrund ihrer Ideologie, Religion, des Glaubens, der Nationalität, der Herkunft, Geschlecht oder der sexuellen Orientierung (Abschnitt a); sie ermöglichen oder legitimieren Gewalt, um politische Ziele zu erreichen oder um die notwendigen Bedingungen für die Ausübung der Demokratie des Pluralismus und der politischen Freiheiten beseitigen zu können (Abschnitt b); und sie ergänzen und unterstützen politisch die terroristischen Organisationen, um damit die Verfassungsordnung zu ändern oder den Frieden zu zerstören, indem sie die öffentlichen Gewalten, bestimmte Personen oder soziale Gruppen oder das Volk im allgemeinen terrorisieren oder die terroristische Gewalt und die Angst und dadurch entstehende Furcht verstärken (Abschnitt c). Danach beschreibt der auch vielleicht unnötige und technisch noch schlechtere Art. 9.3 LOPP, ob die Partei wiederholt oder im Einzelfall diese Handlungen, die ausdrücklich in neun Abschnitten erwähnt sind, aktiv fördert. Sie sind schon in gewisser Weise in Art. 9.2 genannt und man muss sie notwendigerweise zusammen mit ihnen interpretieren. Sie wollen konkretisieren und präzisieren, aber nicht immer besonders glücklich, um die entsprechende richterliche Kontrolle zu erleichtern (STC 48/2003). So spricht dieser Artikel manchmal in unbestimmter Weise von Aktivitäten, die darin bestehen, den Terrorismus, ausdrücklich oder stillschweigend, politisch zu unterstützen, seine Aktionen zu legitimieren, zu entschuldigen oder ihre Bedeutung herunterzuspielen (lit. a); die Gewalthandlung durch Programme und Handlungen mitzutragen, die den zivilen Kampf und die zivile Konfrontation tragen in Verbindung mit den terroristischen Aktivitäten oder von dem Versuch die Gegner einzuschüchtern, zu demoralisieren, neutralisieren oder sie sozial zu isolieren und sie dadurch an der Wahrnehmung ihrer Rechte zu hindern, insbesondere daran, in öffentlichen Angelegenheiten ihre Meinung kundzutun und daran frei und demokratisch teilzunehmen (lit. b); weiter spricht dieser Artikel davon, dass sie in ihren Leitungsorganen und Wahllisten Personen aufnehmen, die aufgrund von Terrorakten verurteilt wurden, die nicht die Mittel und Ziele des Terrorismus von sich gewiesen haben oder dass sie unter ihren Mitgliedern Personen haben, die selbst wieder Mitglieder in Organisationen sind, die in Verbindung mit dem Terrorismus stehen (lit. c), oder dass sie Symbole, Programme oder andere Elemente verwenden, die den Terrorismsus oder seine damit verbundenen Handlungsweisen repräsentieren oder sich mit ihm identifizieren lassen (lit. d); oder dass den Terroristen Rechte und Privilegien gewährt werden, die das Wahlgesetz den Parteien gibt (lit. e); oder dass gelegentlich mit Gruppen oder Einheiten in Verbindung mit terroristischen Organisationen zusammengearbeitet wird oder den Terrorismus zu verteidigen (lit. f ), oder dass sie von Institutionen ausgehen, in denen sie regieren, mit administrativen, wirtschaftlichen oder welcher Art auch immer derartige Einheiten sie unterstützen (lit. g), oder dass sie Aktivitäten fördern, ihnen Schutz geben oder daran teilnehmen mit dem Ziel die terroristischen Aktionen zu belohnen, zu ehren oder in ihrer Bedeutung zu heben oder das gleiche zu vollziehen bei den Personen, die die Aktivitäten begehen oder daran mitwirken (lit. h); und dass sie den Handelnden gegen die Ordnung, Furcht

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oder der sozialen Mitarbeit, die mit dem Terrorismus oder der Gewalt verbunden sind, Schutz geben (lit. i). Der Art. 9.4 LOPP beinhaltet damit das Risiko einer bloßen Vermutung der Einschätzung und Bewertung der ständigen, wiederholt und nachhaltig begangenen Handlungen durch die Resolutionen, Dokumente, Verlautbarungen, öffentlichen Bekanntmachungen, öffentliche Aufrufe, Manifestationen, Vorschläge und die Haltung der Partei und ihrer Mitglieder und Kandidaten. Auch sind die administrativen Sanktionen und die strafrechtlichen Verurteilungen zu betrachten, die gegenüber ihren Leitern, Kandidaten, gewählten Vertretern oder den Mitgliedern verhängt wurden aufgrund von im Strafgesetzbuch ausdrücklich genannten Delikten, d. h. in Titel XXI bis XXIV, ohne dass sie deshalb aus der Partei ausgeschlossen wurden.

Verfassungsentwicklung im Baskenland (2000–2009) von

Prof. Dr. Xabier Arzoz, Bilbao* Universität des Baskenlandes

„Den Vasken zeichnet Sprache, Verfassung, Sitte, Gesichtsbildung, alles mit einem Wort, was ihn umgiebt, den Anblick seines Landes selbst nicht ausgenommen, als einen reinen und abgeschiedenen Völkerstamm aus. [. . .] Es entstehen daher zwei wichtige Fragen, eine historische und eine politische: [. . .] und wie soll die Spanische Monarchie (denn für die Französische Republik können ihre Vaskischen Districte nur eine sehr geringe Wichtigkeit haben) die Vaskische Nation behandeln, um ihre Kräfte und ihren Fleiss für Spanien so erspriesslich, als möglich, zu machen? [. . .] Diese zweite Frage hat ein höheres praktisches Interesse, und das um so mehr, als gerade jetzt der Fall häufiger wird, dass verschiedene Völkerstämme in denselben Staat vereinigt haben. Man muss aber frei gestehen, dass man bisher wohl immer mehr daran gedacht hat, nur die Schwierigkeiten hinwegzuräumen, welche die Verschiedenheit entgegengesetzt, als das Gute zu benutzen, das die Eigenthumlichkeit mit sich führt.“ Wilhelm von Humboldt: Die Vasken (1801), in Werke in fünf Bänden, Bd 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken. Stuttgart (4. Aufl age, 1986), S. 426 f.

Das Thema dieses Beitrags ist die Verfassungsentwicklung im oder mit Bezug auf das Baskenland: die Verfassungsentwicklung im Spiegel des Baskenlandes und die Entwicklung des Baskenlandes im Spiegel der Verfassung. Eine Verfassung ist nicht statisch, sondern immer dynamisch. Sie ist ein in steter Veränderung begriffenes rechtliches und tatsächliches Gesamtgefüge. Die Betrachtung der Verfassungsentwicklung darf sich deshalb nicht auf die Erörterung der Gesetze von Verfassungsrang und der ihnen gebotenen Einrichtungen beschränken, sondern muss einen breiteren Ansatz wählen. Die moderne Verfassungslehre begreift Verfassung ja auch dynamisch, als öffentlichen Prozess sogar. Jedoch tendiert sie im Allgemeinen dazu davon auszugehen, dass die Nation den Staat ganz ausfüllt oder mit ihm identifizierbar ist. Bei einer polyethnischen oder multinationalen Staatsorganisation kommt Verfassungsentwicklung dagegen eher einem polyphonen Werk gleich. *

Dr. iur., LL.M. (Saarbrücken), Wirtschaftsjurist (Universität Deusto), Professor für Verwaltungsund EU-Recht an der Universität des Baskenlandes (UPV/EHU). Email: [email protected]. Für seine wertvolle Hilfe bei der sprachlichen Bereinigung dieses Beitrages danke ich Herrn Dr. Heiko F. Marten (Tallinn).

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Im folgenden Beitrag werden die letzten rund 10 Jahre der Verfassungsentwicklung im Baskenland behandelt. Der Zeitraum von 2000 bis 2009 ist konfl iktreich gewesen. Beide Zeitpunkte sind nicht willkürlich gewählt: 2000 begann die zweite Amtsperiode der Volkspartei in der spanischen Regierung und 2009 wurde die erste völlig nicht-nationalistische Regierung im Baskenland seit 30 Jahren gebildet. Beide Jahre signalisieren somit wichtige verfassungspolitische Momente. Eine Verfassungsentwicklung dieses Zeitraumes muss vielerlei Entwicklungen beachten. Sie kann das, wenn ihr nur ein beschränkter Raum zur Verfügung steht, nur durch die Konzentration auf die wesentlichen Punkte erreichen; alle anderen Fragen müssen ganz oder weitgehend zurücktreten. So soll in der Folge vornehmlich auf das Problem der verfassungsmäßigen Akkommodation des Baskenlandes im Rahmen des spanischen Autonomiestaates geblickt werden.

I. Das Bakenland im Spiegel der spanischen Verfassung 1. Die Identität des Baskenlandes Der Begriff „Baskenland“ ist ein zweideutiger Ausdruck. Er kann sowohl eine ethnolinguistische als auch eine verwaltungsmäßige Bedeutung bezeichnen. Zunächst ist er ein kultur-geographischer Begriff: das Land der Basken. Als solcher bezieht er sich auf eine auf sieben historischen Gebietseinheiten aufgeteilte Region (bask. Euskal Herria). Dieses Gebiet umfasst 20.644 km 2 mit etwa 3 Millionen Bewohnern: davon sind etwa 670.000 baskischsprachig und weitere 250.000 können das Baskische verstehen. Drei dieser sieben historischen Gebietseinheiten liegen im französischen Département Pyrénées Atlantiques.1 Die übrigen vier Gebiete liegen in Spanien, aber sie sind verwaltungsmäßig in zwei verschiedene autonome Gemeinschaften eingeteilt: während Alava (Araba), Vizcaya (Bizkaia) und Guipúzcoa (Gipuzkoa) in der autonomen Gemeinschaft Euskadi / País Vasco zusammengefasst sind, konstituierte sich Navarra als eigene autonome Gemeinschaft. Auf der verwaltungsmäßigen Ebene bekommt der Terminus „Baskenland“ in Spanien daher eine viel beschränktere Bedeutung, denn es gibt ansonsten keinerlei staatsrechtliche Bindung zwischen den verschiedenen Provinzen südlich der Pyrenäen: Der Terminus bezieht sich infolgedessen nur auf die autonome Gemeinschaft Euskadi oder des Baskenlandes.2 Die Identität des Baskenlandes hat wichtige historische Wurzeln – wie das Zitat Wilhelm von Humboldts am Anfang dieses Beitrags deutlich macht.3 Sie hat aller1

Labourd (Laburdi), Bassenavarre (Nafarroa Beherea) und Soule (Zuberoa). Das Autonomiestatut des Baskenlandes benutzt eine Doppelbezeichnung für die autonome Gemeinschaft: sie kann sowohl als Euskadi wie als País Vasco (das Baskenland) bezeichnet werden (Art. 1). 3 Eine geschichtswissenschaftliche Bestandaufnahme der baskischen Autonomie 1808–2008 fi ndet sich bei Luis Castells/Arturo Cajal (Hrsg.), La autonomia vasca en la España contemporánea (1808–2008), Madrid 2009. Zur Einführung in die baskische Geschichte siehe in deutscher Sprache Michael Kasper/ Walther L. Bernecker, Baskische Geschichte in Grundzügen, 2. Aufl., Darmstadt 2008; Ingo Niebel, Das Baskenland – Geschichte und Gegenwart eines politischen Konfl ikts, Wien 2009. Eine deutschsprachige baskische Bibliografie ist von David Lindemann jüngst erarbeitet und auf der Web-Seite der baskischen Stiftung „Sancho el Sabio“ 2010 allgemein zugänglich gemacht. Sie ist einsehbar unter folgendem Link: http://www.pol-pol.org/Bibliografi a_Alemana/Publicaciones_Aleman.html. 2

Verfassungsentwicklung im Baskenland (2000–2009)

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dings immer mehr kulturelle Bedeutung als staatsrechtliche Substanz gehabt. Wie immer ist sie auch heute ein dynamischer Prozess der Entwicklung und Veränderung. Eine wesentliche Ursache dieser Dynamik ist die langzeitige nationalstaatliche und staatsrechtliche Trennung der Landesteile (heutzutage die autonomen Gemeinschaften Baskenland und Navarra in Spanien einerseits und die drei kleinen baskischen Gebiete in Frankreich andererseits) in unterschiedliche Systeme mit eigenen gesellschaftlichen, politischen und staatsrechtlichen Grundlagen.4 Die Identität des „ganzen Baskenlandes“ kann daher nur als ein Komplex von unterschiedlichen gebietskörperschaftlichen Autonomien beschrieben werden, zwischen denen es einige rechtliche und kulturelle Verbindungen gibt (die beiden 1918 gegründeten Vereinigungen, die Königliche Baskische Sprachakademie und die Gesellschaft für Baskische Studien), die auf den kulturellen und ethnischen Gemeinsamkeiten der Bevölkerung dieser Landesteile beruhen. Im Vergleich mit der Dynamik der eigenen Identität der Landesteile haben diese integrierenden Elemente aber viel weniger Kraft.5 Die spanische Verfassung sieht zwar ein Verfahren zur Eingliederung von Navarra in die Autonome Gemeinschaft Baskenland vor, aber die sich seit 1978 getrennt entwickelnde baskische und navarrische Selbstständigkeit haben die Aussichten einer Eingliederung bzw. einer Vereinigung immer schwieriger gemacht. Auch das Projekt einer rechtlichen Institutionalisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Landesteile in einer „Europaregion Aquitaine-Baskenland-Navarra“ trägt bisher wenig zur Integration der Landesteile bei.6 Das Abkommen zur Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Spanien und Frankreich (in Kraft seit 1997) trägt zwar den Namen einer französischen baskischen Stadt (Bayonne), aber es hat wenig zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der baskischen Landesteile beigetragen.7 Hauptursache dafür ist gewiss, dass sozialen, wirtschaftlichen und staatsrechtlichen Bedingungen auf beiden Seiten der Staats4 Ähnlich wie im geteilten Tirol. Siehe hierzu Peter Pernthaler, Die Identität Tirols in Europa, Wien 2007, insbes. S. IX. 5 Zur Identität Navarras siehe Miguel José Izu Belloso, Navarra como problema. Nación y nacionalismo en Navarra, Madrid 2001; A. García-Sanz Marcotegui/Iñaki Iriarte/Fernando Mikelarena, Historia del navarrismo (1841–1936). Sus relaciones con el vasquismo, Pamplona 2002. Auf die Identität der baskischsprachigen Navarren sind mehrere Bücher jüngst eingegangen: Xabier Zabaltza, Gu, nafarrok [Wir Navarren], Irun 2007; Santi Leoné, Euskal Herri imaginario baten alde [Für ein imaginiertes Baskenland], San Sebastian 2008. Zur Identität des sog. „Nordbaskenlandes“ (d. h. der französischen baskischen Provinzen) siehe Igor Ahedo, Entre la frustración y la esperanza. Políticas de desarrollo e institucionalización en Iparralde, Oñati 2003. 6 Es gibt wenig institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen der Autonomen Gemeinschaft Baskenland und der französischen Region Aquitanien. Die bekannteste Initiative ist die sogenannte „Eurocité Basque“, welche die städtische Konurbation San Sebastián-Bayonne einschließt; das Abkommen wurde vom Historischen Gebiet Gipuzkoa einerseits und vom französischen Verwaltungsdistrikt Bayonne-Anglet-Biarritz (BAB) andererseits 1993 unterzeichnet. Der jüngste baskisch-aquitanische Projekt ist die Schaffung einer gemeinsamen „Logistische Plattform“ für das Verkehrswesen. 7 Im Zeitraum 1997–2010 hat die Autonome Gemeinschaft Baskenland 11 Abkommen auf Grund des Bayonne-Vertrages zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unterzeichnet und Navarra 7. Diese Abkommen sind sowohl zwischen Gemeinden und Regionen als auch gemischt von beiden Arten an Gebietskörperschaften unterzeichnet worden. Das einzige grenzüberschreitende Abkommen, das sowohl die AG Baskenland als auch Navarra einschließt, ist das Abkommen zur Errichtung der Arbeitsgemeinschaft der Pyrenäen: allerdings nehmen alle vier spanischen autonomen Gemeinschaften daran teil, die an Frankreich grenzen. Zur Zusammenarbeit zwischen dem Baskenland und Navarra siehe Juan

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grenze nicht vergleichbar sind. Die räumlich und bevölkerungsmäßig viel kleineren französischen baskischen Gebiete stellen keine Rechtssubjekte bzw. keine Gebietskörperschaften dar, welche mit den Landesteilen auf der anderen Grenzseite rechtlich zusammenarbeiten könnten.8

2. Die Vorgänge im 19. und 20. Jahrhundert Die Bausteine des spanischen Nationalstaates wurden erst im 19. Jahrhundert gelegt.9 Die Entstehung und Konsolidierung der konstitutionellen Monarchie und die Schaffung des Nationalstaats (durch die Errichtung einer zentralisierten Verwaltung und die gleichförmige Gliederung des Staatsgebiets in Provinzen, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch die Pfl ichtalphabetisierung in der kastilischen Sprache) gelten als derselbe historische Prozess. Ideologisch bestand jedoch während des durch einen unitarisch angelegten Liberalismus geprägten 19. Jahrhundert immer eine „regionale“ oder „territoriale“ Frage in der einen oder anderen Form. Der Anlass für eine Reihe von bürgerkriegsartigen Konfl ikten im 19. Jahrhundert (sog „Karlistenkriege“) war wieder dynastisch, aber der Grund war noch einmal der Zusammenstoß zwei verschiedener Visionen über Spanien: einerseits der zentralisierungswillige Liberalismus, andererseits der politisch rückwärts gewandte Traditionalismus. Der Konfl ikt hatte auch einen regionalen Akzent. Denn Tradition bedeutete für viele Leute die Erhaltung vertrauter Gebräuche und Lebensformen und volksnaher selbstverwaltender Strukturen (Stichwort: „Fueros“). Die aufeinanderfolgenden Niederlagen nahmen den baskischen und navarrischen Gebieten ihre vorkonstitutionelle Selbstständigkeit und brachten die umfassende Integration als einfache Provinzen ins spanische Verwaltungssystem. In Abweichung vom allgemeinen System konnten sich Navarra (ab 1841) und die baskischen Provinzen (ab 1876) allerdings als Provinzen mit Sonderstatus durchsetzen, so dass ihnen weiterhin gewisse fi nanz- und organisationsrechtliche Besonderheiten gewährt wurden. Traditionalisten und gemäßigte Liberale begannen unterdessen, die abgeschafften traditionellen Selbstverwaltungsrechte („Fueros“) in der historischen Literatur zu idealisieren.10 Vor dem Hintergrund eines sprachlich geprägten Romantizismus entwickelte sich aufgrund der politischen Unzufriedenheit der katalanischen Eliten mit dem von 1875 an einsetzenden politischen Systems und aufgrund des jüngst geschehenen Verlustes der baskischen traditionellen Selbstverwaltungsrechte verbunden mit einer einsetzenden regional stark konzentrierenden Industrialisierung allmählich eine „natioCruz Alli Aranguren, La cooperación entre la Comunidad Autónoma del País Vasco y la Comunidad Foral de Navarra, San Sebastián 2004. 8 Trotz der staatsrechtlichen Asymmetrien hat es einige interessante Initiativen gegeben: siehe vorige Fußnote. Für eine politikwissenschaftliche Studie des Ringens um ein eigenes Départment für die französischen baskischen Provinzen siehe Jean-Daniel Chaussier, Quel territoire pour le Pays Basque? Les cartes de l’identité, Paris 1996. 9 Grundlegend José Alvarez Junco, Mater Dolorosa. La idea de España en el siglo XIX, Madrid 2001. 10 Siehe hierzu Jon Juaristi, El linaje de Aitor. La invención de la tradición vasca, Madrid 1987.

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nale“ Frage bei den nicht-kastilischen Sprachgruppen. Am klarsten war dieses bei den Katalanen und Basken am Ende des 19. Jahrhunderts ausgeprägt. Auf der anderen Seite war der endgültige Verlust der Überreste des Kolonialreiches (Kuba, Puerto Rico und die Philippinischen Inseln), der mit der militärischen Niederlage von 1898 zusammenhing, Anlass für eine nationalistisch gesinnte Geschichtsschreibung und Dichtung, die sich zur moralischen Neugründung des Nationalstaates auf der Grundlage Kastiliens bekannten.11 Der spanische Nationalismus und die peripheren Nationalismen wurden so konkurrierende Ideologien – und sie sind es bis heute geblieben.12 Die Verfassung der Zweiten Republik (1931–1939) sah eine administrative Dezentralisierung vor. Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde ein Entwurf eines Autonomiestatuts für beide in Spanien vorliegenden Landesteile (die drei baskischen Provinzen und Navarra) von der Gesellschaft für Baskische Studien erarbeitet. Eine aus Delegierten vieler baskischen und navarrischen Gemeinden in Estella zusammengesetzte Versammlung sollte es annehmen: die baskisch-navarrische Autonomie scheiterte allerdings, als eine knappe Mehrheit der navarrischen Delegierten dagegen stimmte.13 Entgegenstehende, zugleich republikanische wie antirepublikanische Gründe standen hinter dieser Abweisung. Dies war ein entscheidender Augenblick in den geschichtlichen Versuchen einer gemeinsamen baskisch-navarrischen Autonomie. Das lange Zeit verschobene baskische Autonomiestatut wurde erst am 4. Oktober 1936 gebilligt, als der Bürgerkrieg bereits ausgebrochen war, und blieb so nur auf einem sehr geschrumpften Gebiet für nur einige Monate in Kraft. Der erste Statutsentwurf (1931) war gescheitert, weil die spanische Linke das im Statutsentwurf vorgesehene Befugnis der baskischen Einrichtungen, mit dem Vatikan Konkordate zu schließen, als Verstoß gegen die laizistischen Grundlagen der spanischen Republik betrachtete. Fünf Jahre später war die Lage anders. Die Loyalität der baskischen katholischen Nationalisten gegenüber der verfassungsmäßigen republikanischen Regierung sollte gerade durch die Gewährung des Autonomiestatuts gesichert werden.14 Der republikanische Verfassungsversuch eines nicht-unitären Modells scheiterte an einem militärischen Putsch. Der militärische Putsch und der blutige Bürgerkrieg 11

Zum Einfluss der sog. „Generation von 1898“ siehe Fox 1997; Sánchez Illán 2002. Zur Entstehung und Entwicklung des baskischen Nationalismus siehe Santiago de Pablo/Ludger Mees/José A. Rodríguez Ranz, El péndulo patriótico. Historia del Partido Nacionalista Vasco, Madrid 1999/2001, 2 Bde. Vgl. auch in deutscher Sprache Ludger Mees, Der spanische „Sonderweg“. Staat und Nation(en) in Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, Archiv für Sozialgeschichte, 40 (2000), S. 29–66. 13 Siehe Victor Manuel Arbeloa, Navarra ante los Estatutos 1916–1932, Pamplona 1978 (mit Dokumentationsanhang), insbes. S. 41 ff. 14 Grundlegend zur Geschichte des Baskenlands während der Zweiten Republik: José Luis de la Granja Sainz, El oasis vasco. El nacimiento de Euskadi en la República y la guerra civil, Madrid 2007. Der Originaltext des Autonomiestatuts für das Baskenland vom 6. Oktober 1936 fi ndet sich in Theodor Veiter, Nationale Autonomie, Wien 1938, S. 256–265. Der Österreicher Veiter, eine sozialpolitisch sehr konservative und katholische Person, aber gleichzeitig ein im Volksgruppenrecht und der Frage nationaler Autonomien lebenslang engagierter Gelehrter, konnte sein Unbehagen nicht verdecken: „Die baskische Autonomie ist zwar nur kurze Zeit und nur teilweise wirksam geworden. Ihre Bedeutung ist aber keineswegs gering einzuschätzen. Wir sehen hiebei davon ab, dass die rote Regierung von Madrid plötzlich ihre Liebe zu den Basken entdeckte, als diese ihren politischen Zielen Schützenhilfe leisten sollten“ (S. 167). 12

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(1936–1939), die nicht weniger blutige Nachkriegszeit und insgesamt die Härte der 40 Jahre dauernden Franco-Diktatur trugen zur neuen Legitimation des spezifischen Bestrebens nach politischer und sprachkultureller Autonomie neben dem allgemeinen Bestreben nach Freiheit in der persönlichen und sozialen Sphäre bei.

3. Die Verabschiedung der Verfassung von 1978 Nach dem Tod Francos wandelte sich das autoritäre System durch mehrere kontrollierte legislatorische Etappen (1975–1978) in ein demokratisches. Im Übergang von der Diktatur zur parlamentarischen Monarchie wurde keine einzige Behörde (König, Ministerialverwaltung, Polizei, Jurisdiktion, Armee, Universität usw.) aufgehoben noch wurden sie später zur Verantwortung gezogen. Die Eliten des Spätfrankismus leiteten die spanische Transition, um wenig der Improvisation zu überlassen. Als Leitmotiv des ganzen Prozesses galt der Konsens: Eine neue Grundlage für das friedliche Zusammenleben „zweier Spaniens“, die im Bürgerkrieg miteinander gefochten hatten, sollte geschaffen werden. Jene Grundlage musste unbedingt das Streben nach Konsens, nach einem Verfassungspakt sein. Der Konsensbedarf führte jedoch zu einer Beschränkung der Verfassungsdebatte, denn was den Konsens zu brechen drohte, wurde tabuisiert (wie z. B. die Aufarbeitung der Vergangenheit) oder von der Diskussion ausgeklammert. Der Verfassungs“pakt“ beruhte infolgedessen auf einer Fülle von politischen und territorialen Zweideutigkeiten, die Stoff für spätere divergierende Interpretationen und Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie liefern würden.15 Am 6. Dezember 1978 fand die Volksabstimmung über die Verfassung statt. Die baskischen nationalistischen Parteien riefen zum Boykott der Volksabstimmung oder zur Ablehnung der Verfassung auf. Die Mehrheit der baskischen Bevölkerung nahm daher an der Volksabstimmung nicht teil. Besonders die Bewohner von Gipuzkoa und Bizkaia traten der Verfassung entgegen. Nur 27,8% bzw. 30,9% des Wahlzensus stimmten in Gipuzkoa und Bizkaia für die Annahme der Verfassung. Stimmenthaltung und Ablehnung dürfen zwar mit einander nicht gleichgesetzt werden. Jedoch ist es klar, dass es der Verfassung am Anfang an genügender Unterstützung durch die baskische Bevölkerung mangelte. Auf der Grundlage der Verfassung von 1978 wurde ein zentralistischer Staat in weniger als fünf Jahren in einen sehr dezentralisierten umgestaltet. Die Ablehnung der Verfassung hinderte die Baskische Nationalistische Partei dabei nicht, an der Ausarbeitung des baskischen Autonomiestatuts mitzuarbeiten. Das Baskenland war die erste autonome Gemeinschaft, die 1979 ihr Autonomiestatut erlangte.16 Durch Verabschiedung ihrer entsprechenden Autonomiestatute waren bereits im Jahr 1983 alle siebzehn Autonomen Gemeinschaften errichtet. Man brauchte allerdings eine 15 Vgl Jordi Solé Tura, Das politische Modell des Staates Autonomer Gebietskörperschaften, in Antonio López Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht. Ein Handbuch, Heidelberg 1993, S. 249 ff. Als kommunistischer Abgeordneter gehörte Solé Tura zum Sieben-Mitglieder-Referentenausschuss, welcher entscheidend zur Schaffung des Konsenses und zur Erarbeitung des Verfassungsvorentwurfes beitrug. 16 Das baskische Autonomiestatut wurde durch Organgesetz 3/1979 verabschiedet. Katalonien erlangte seine Autonomie nachfolgend im selben Jahr durch Organgesetz 4/1979.

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längere Zeit, etwa bis zum Ende der 90er Jahre, um den Autonomiestaat zu verwirklichen, denn die bestehenden Staatsstrukturen mussten erst angepasst und die eigenständigen Einrichtungen erst etabliert werden.

4. Das spanische Autonomiemodell Der spanische Autonomiestaat liegt an der oberen Grenze des Regionalismus im Vorfeld des Bundesstaates: er ist ein Staat, der dazu neigt, wie die bisherigen Bundesstaaten zu funktionieren, und der mit Grundelementen des Föderalismus arbeitet.17 Der Unterschied zwischen dem spanischen Autonomiestaat und dem Föderalismus wird durch das Fehlen folgender Grundelemente deutlich: einer bundesstaatlichen Verfassung,18 der verfassungsgebenden Gewalt bzw. Verfassungsautonomie der Autonomen Gemeinschaften,19 eines substanziellen Mitwirkungsrechtes der Autonomen Gemeinschaften auf der gesamtstaatlichen Ebene20 und der kompetenziellen Ausgangsvermutung zugunsten der Autonomen Gemeinschaften.21 Territorialautonomie ist vom Föderalismus funktional dadurch zu unterscheiden, dass „neben der Autonomie- auch die Integrationsfunktion in die gesamtstaatliche Organstruktur und deren Entscheidungsprozesse erfüllt wird“.22 Der spanische Autonomiestaat baut, anders als die meisten Regional- und Bundesstaaten, auf einer eigenartigen Kombination von Homogenität und Differenzierung auf.23 Diese eigenartige Kombination entspricht der Spannung zwischen überkommenem Nationalstaatsgedanken und rechtlicher Anerkennung von Differenz.24 Die Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts erkannte früh an, dass die Kombination von Homogenität und Differenzierung ein Strukturgrundelement der spa17

Pedro Cruz Villalón, Die Neugliederung des Spanischen Staates durch die „Autonomen Gemeinschaften“, JöR 34 (1985), S. 240 (auch „eine Form des Präföderalismus“); Vlad Constantinesco, La Constitution Espagnole et le Fédéralisme, in Theodor Veiter (Hrsg.), Fédéralisme, régionalisme, et droits des groupes ethniques en Europe – Hommage à Guy Héraud, Wien 1989, S. 58, 68; Peter Häberle, Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, in ders., Europäische Rechtskultur, Frankfurt 1997, S. 216; und Peter Häberle, Die Vorbildlichkeit der Spanischen Verfassung von 1978 aus gemeineuropäischer Sicht, JöR 51 (2003), S. 594 f. („effektiver Regionalismus“), 604. 18 Cruz Villalón (Fn. 17), S. 240. 19 Die Autonomiestatuten werden nicht allein von den autonomen Einrichtungen verabschiedet, sondern durch ein komplexes Verfahren zwischen den autonomen Einrichtungen und den gesetzgebenden Kammern des Staates. Für ihre Novellierung gelten besondere, im jeweiligen Statut verankerte Bestimmungen. 20 Hansgeorg Frohn, Regionalismus und „Autonome Gemeinschaften“, ÖZÖR 34 (1983), S. 62 f.; Constantinesco (Fn. 17), S. 65 ff. 21 Frohn (Fn. 20), S. 61; Thomas Wiedmann, Die politische Erfi ndung des Autonomiestaates in Spanien, ZaöRV 57 (1997), S. 400. 22 Joseph Marko, Autonomie und Integration, Wien 1995, S. 530. 23 Enric Fossas, Asymmetry and Plurinationality in Spain, Barcelona 1999 (= Institut de Ciències Polítiques i Socials, Working Paper Nr. 167), S. 16; ähnlich in dieser Hinsicht Wiedmann (Fn. 22), S. 401 und Eliseo Aja, El Estado autonómico. Federalismo y hechos diferenciales, Madrid 2003, 2. Aufl., S. 51 ff., 95 ff. und 169 ff. 24 Siehe Xabier Arzoz, Spanien: Zwischen Nationalstaatsprinzip und rechtlicher Anerkennung von Differenz, Europa-Ethnica, Heft 1–2, 2006, S. 3 ff.

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nischen Verfassung von 1978 (SpVerf ) ist. Das grundlegende Urteil vom 5. 8. 1983 (Prüfung eines Gesetzes zur Harmonisierung des Autonomieprozesses) stellte folgendes fest:25 Das Autonomieregime zeichnet sich gerade durch einen Ausgleich zwischen Homogenität und Verschiedenheit in der öffentlichrechtlichen Stellung der Gebietskörperschaften aus, die es integrieren. Ohne die erstere bestünden weder Einheit noch Integration in den Gesamtstaat; ohne die letztere gäbe es weder echte Vielfalt noch Selbstregierungsfähigkeit: beide Elemente kennzeichnen den Autonomiestaat.

Der Verfassungstext eröffnet der Differenzierung allerdings mehr Raum als sie tatsächlich zu Tage getreten ist.26 Die einheitsstaatlichen Traditionen und das Bündnis der Konzertierungspraxis der zwei Hauptparteien (mittels der sog. „Autonomievereinbarungen“ von 1981 und von 1992) 27 mit einer zentralistischen Rechtstheorie28 haben jedoch zu einer weiteren Homogenität sowohl der Zuständigkeiten wie der politischen Natur aller Autonomen Gemeinschaften und zum Verschwinden oder zur weitgehenden Entschärfung der potenziell differenzierenden Elemente geführt.29 Allerdings verfügt das Baskenland kraft Verfassung über eine einzigartige Autonomie innerhalb eines sonst gleichförmigen regionalistischen Staates.30 Die Grundpfeiler jener einzigartigen Autonomie sind ihre interne Organisation, ihre Kompetenzen, insbesondere ihre historischen Rechte und ihre Finanzhoheit, und ihre identitätsbezogenen Aspekte. Die Grundlage dieser staatsrechtlichen Einzigartigkeit liefert die Erste Zusatzbestimmung der spanischen Verfassung: Die Verfassung schützt und achtet die historischen Rechte der Foralgebiete. Die allgemeine Anpassung dieser Foralordnung wird gegebenenfalls im Rahmen der Verfassung und der Autonomiestatuten vorgenommen. 25

Übersetzung des Verf. Der Rechtsprofessor und ehemalige Präsident des spanischen Verfassungsgerichts Tomás y Valiente erkennt die Wirklichkeit dieser Entwicklung ausdrücklich an: siehe Francisco Tomás y Valiente, Constitución: Escritos de introducción histórica. Madrid 1996, S. 205. Er will die vollständige Verfassungsmäßigkeit der Entwicklung allerdings unterstreichen. Ähnlich Roberto L. Blanco Valdés, Nacionalidades históricas y regiones sin historia, Madrid 2005, S. 109 ff. 27 Siehe hierzu Cruz Villalón (Fn. 17), S. 221 ff.; Solé Tura (Fn. 15), S. 271 ff.; Aja (Fn. 23), S. 74 ff. und 81 ff. 28 Welche theoretisch – ähnlich wie in Österreich (vgl. Peter Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat, Wien 1992, S. 46) – den Autonomiestaat im Sinne der Dezentralisationstheorie auslegte und praktisch die baskische und katalanische Autonomie als Quelle der Instabilität und eine Bedrohung für die Einheit Spaniens betrachtete. Was den theoretischen Auslegungsrahmen betrifft, ist hier auf den allgemein anerkannten Einfluss des Staatsrechtlers García de Enterría (siehe ders., Estudios sobre autonomías territoriales, Madrid 1985) hinzuweisen: vgl. Roland Schütz, Spanien auf dem Weg zum Autonomiestaat, Der Staat 22 (1983), S. 208 ff.; Cruz Villalón (Fn. 17), S. 222 ff.; kritisch hierzu Miguel Herrero de Miñón, Derechos históricos y Constitución, Madrid 1998, S. 54 ff. 29 Kritisch hierzu Enric Argullol, Desarrollar el autogobierno, Barcelona 2002, S. 36 ff. 30 Ausführlich dazu Javier Corcuera Atienza, La singularité basque au sein du système autonomique espagnol, JöR 1995, S. 541–558 (mit Textanhang, „Das Autonomie-Statut des Baskenlandes“, S. 558– 571). Vgl auch José Manuel Castells, El hecho diferencial vasco, Revista Vasca de Administración Pública, Heft 47-II, 1997, S. 113–126; Eusko Ikaskuntza (Hrsg.), Estado autonómico y hecho diferencial de Vasconia, San Sebastián 2000; Arzoz (Fn. 24), S. 7 ff.; Iñaki Agirreazkuenaga/Xabier Arzoz, La Administración de la Comunidad Autónoma del País Vasco, in Martín Bassols Coma (Hrsg.), La Administración Pública de las Comunidades Autónomas, Madrid 2004, S. 155 ff. 26

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II. Vom Feindstrafrecht zur streitbaren Demokratie 1. Verfassungspolitische Konfrontationen im Baskenland Die jüngste Verfassungsentwicklung im Baskenland kann man nicht verstehen, ohne vorher kurz die verfassungspolitischen Konfrontationen im und um das Baskenland von 2000 bis 2009 zu erläutern.31 Dabei soll zwischen Ursprüngen und Ausdrucksformen der Konfrontation unterschieden werden. 1998 verbanden sich sämtliche baskischen nationalistischen Parteien aller Richtungen im sog. Lizarra-Pakt, der angeblich auch einen Genehmigungsvermerk der Terrororganisation ETA gehabt haben soll. Der Lizarra-Pakt wurde von der nichtnationalistischen Seite als eine Art nationale Front betrachtet. Tatsächlich wollten die nationalistischen Parteien ihre politische Hegemonialposition in der baskischen Politik ausnutzen, um die Zukunft des Baskenlandes erneut zu bestimmen. Man hoffte auch darauf, der Gewalt der ETA ein Ende zu bereiten. Für die nicht-nationalistischen Parteien war dies eine Bedrohung, da die ETA auf der Seite des Lizarra-Paktes stand und nicht-nationalistische Politiker, Staatsdiener, Journalisten und Universitätsprofessoren das Ziel von ETA-Angriffen waren. Die Gewalt der ETA besteht seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Rahmen der von der ETA entwickelten „Vergesellschaftlichung des Konfl ikts“ wurde diese allerdings einerseits auf mehr und mehr gesellschaftliche Gruppen und Schichten ausgedehnt. Anderseits bewirkte die insbesondere seit 1995 entfolgte Ausdehnung der ETA-Gewalt (Ermordung, Anschläge, Bedrohung usw.) auf baskische Gemeinderäte der Volkspartei und der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens die Erodierung politisch grundlegender Grundrechte vieler nicht nationalistisch eingestellten Bürger wie der Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses, dem Recht auf freie Äußerung und Verbreitung von Gedanken und Meinungen, dem Recht an öffentlichen Angelegenheiten direkt oder durch Vertreter teilzunehmen usw. Damit entstand ein zweipoliges politisches System, in dem die baskischen Parteien, Gewerkschaften, Organisationen und Initiativen aller Art sich in zwei sich gegenüber stehende Blöcke spalteten: auf der einen Seite die Nationalisten, auf der anderen Seite die sich selbst so bezeichnenden „verfassungsgemäßen“ Kräfte. Damit ging der Zwang einher, entweder zur einen oder zur anderen Seite zu gehören. Differenzierungen wurden nicht gehört oder gelesen. Bestimmte Medien und Politiker entwickelten einen politischen Diskurs, der die politische Konfrontation zwischen Nationalisten und den „verfassungsgemäßen“ Kräften als einen „Todeskampf “ darstellt, der dazu führen sollte, die Nationalisten aus dem politischen Leben oder wenigstens aus ihrer Hegemonialposition hinauszuführen (historisch etwa vergleichbar mit dem „Todeskampf “ zwischen Kommunismus und Demokratie oder zwischen Slawentum und Deutschtum). Es muss dabei unterstrichen werden, dass die Baskische Nationalistische Partei (PNV) eine einhundertzehn Jahre alte demokratische Partei ist,32 die im 31

Zum geschichtlichen Hintergrund der Verfassungsentwicklung von 2000 bis 2009 siehe Antoni Segura, Euskadi. Crónica de una desesperanza, Madrid 2009; Virginia Tamayo Salaberria, Vasconia. La reivindicación política pendiente, San Sebastián 2008. 32 Siehe dazu die in Fn. 12 erwähnte Literatur.

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Bürgerkrieg auf der Seite der Republik und gegen den Faschismus kämpfte und unter deren Führung seit 1977 die meisten Einrichtungen des Baskenlandes standen. Die konservativen spanischen Regierungen (vor allem die zweite, von einer absoluten Mehrheit gestützte Regierungsamtszeit von 2000 bis 2004) zeichneten sich durch eine zähe politische und ideologische Konfrontation mit den peripheren Nationalismen aus.33 Der Höhepunkt der Konfrontation waren die baskischen Regionalwahlen 2001. Die baskischen Sektionen der Sozialistischen Arbeiterpartei und der Volkspartei schlossen sich praktisch zu einem antinationalistischen Kreuzzug zusammen, um die Baskische Nationalistische Partei aus der baskischen Regierung zu werfen, während die allgemeinen öffentlichen und privaten Medien ihre antinationalistischen Slogans und Meldungen vervielfachten, um den politischen Wandel hervorzurufen.34 Dieser politische und medienöffentliche Kreuzzug endete erst, als die Mehrheit der baskischen Wähler der derart belagerten Baskischen Nationalistischen Partei und an ihrer Spitze dem Ministerpräsidenten Ibarretxe bei der Wahl ihre Unterstützung ausgedrückt hatten. Der dabei ausgeübte Druck wurde so stark, dass er als Reaktion die Mobilisierung der nationalistischen Kräfte aller Richtungen bewirkte. Die angedeutete politische Konfrontation beschränkte sich nicht darauf, ein paar Schlagzeilen zu machen. Sie mündete in eine Reihe von verfassungsrechtlichen und -politischen Ausdrucksformen. Elemente des „Feindstrafrechts“, der „streitbaren Demokratie“ und des „Präventivstaates“ wurden eingeführt.35 Das „Feindstrafrecht“ ist gekennzeichnet durch eine Ausdehnung der Straf barkeit, eine grundsätzlich präventive Sichtweise, eine beträchtliche Verschärfung der Strafen und einen laxen Umgang oder gar eine Missachtung bestimmter prozessualer Garantien.36 Neben der „Feindstrafgesetzgebung“ im engeren Sinne hat sich auch ein „Feindstrafvollzug“ 33 Nur ein paar Beispiele des „vielseitigen“ Kampfes gegen den (peripheren) Nationalismus: 1) Die spanische Königliche Akademie für Geschichte veröffentlichte 2000 einen Bericht zum Geschichtsunterricht, der viele grobe Behauptungen über die „antinationale“ Haltung des Unterrichtswesens u. a. im Baskenland beinhaltete; die sozialistische Fraktion am spanischen Parlament kritisierte den Bericht, denn sie waren zehn Jahre lang für das Unterrichtswesen in der baskischen Regierung in Koalitionsregierungen zuständig gewesen. 2) Die spanische Bischofskonferenz wollte 2006 einen Hirtenbrief über die nationale Einheit Spaniens (!) ausarbeiten. Die spanische Kirche ist ein wichtiges Mittel im Kampf des spanischen Nationalismus gegen die Linke einerseits und gegen die peripheren Nationalismen andererseits gewesen: die Bischöfe haben mehrere Demonstrationen gegen die Politiken der sozialistischen Regierung veranstaltet, und baskische nationalistische Bischöfe wurden durch spanische oder nicht-nationalistische ultrakonservative Bischöfe ersetzt. Zur autoritären Ideologie der spanischen Konservativen siehe das Buch des bekannten Verfassungsrechtlers José Antonio González Casanova, La derecha contra el Estado. El liberalismo autoritario en España (1833–2008), Lleida 2009. 34 Nach dem ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten der Autonomen Gemeinschaft von Madrid Joaquín Leguina verhielten sich bestimmte spanische Medien in Bezug auf das Baskenland in jener Zeit als der „Panzerschrank“ des spanischen Nationalismus. Siehe Joaquín Leguina, „La División Acorazada“, Deia (bask. Tageszeitung), 31. 4. 2001. 35 Zum Begriff „Feindstrafrecht“ siehe Günther Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS), 3/2004, S. 88 ff.; vgl. auch unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Diskussion und Tendenzen in Spanien Eduardo Demetrio Crespo, Das „Feindstrafrecht“ darf nicht sein!, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), 9/2006, S. 413 ff. 36 Demetrio Crespo (Fn. 35), S. 417.

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entwickelt.37 Das bestehende Strafrecht wurde gezielt gegen politische Vergehen aktiviert, die keine Rechtsgüter verletzen. Eine von der Mehrheit der kritischen spanischen Strafrechtler zusammengesetzte und geschätzte „Kriminalpolitische Forschungsgruppe“ schloss in einem „Plädoyer für eine neue Kriminalpolitik im Bereich des Terrorismus“ (2005/06), dass „im demokratischen Staat die Strafgesetzgebung gegen den politischen Gegner, gegen den Systemfeind, nach wie vor benutzt wird; der letzte Begriff hat eine masslose Erweiterung erfahren, wobei die immer dünnere Trennlinie zwischen Terrorismus und Dissidenz verwischt wird“.38 Der Umfang der notwendigen Bemerkungen zu allen Rechtsentwicklungen würde den in diesem Beitrag zur Verfügung stehenden Raum überschreiten. Eine gründliche Untersuchung des spanischen vielschichtigen Feindstrafrechts sollte am besten einem mutigen Strafrechtler überlassen bleiben.39 So sei in der Folge vornehmlich auf die Ausdrucksformen der verfassungspolitischen Konfrontation im Baskenland geblickt.

2. Vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht: Massive Strafprozesse gegen Organisationen, denen summarisch eine Nähe zur ETA unterstellt wurde Während der Zeit der absoluten Mehrheit der spanischen Volkspartei (2000–2004) wurde der Gedanke medienöffentlich verbreitet, dass der Terrororganisation ETA nicht nur ihre tatsächlichen Mitglieder angehörten, sondern dass die Terrororganisation sozusagen „im Fachwerk baue“,40 dass sie ein Konglomerat an gesetzmäßigen Organisationen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führe, die im Hintergrund von der ETA geleitet würden. Darüber hinaus wurden auch Argumente der Effektivität (des Kampfes gegen den Terrorismus) und der Sicherheit benutzt. Die Folge war klar: Das ganze Konglomerat sollte mit sämtlichen rechtlichen und politischen Mitteln, einschliesslich des Strafrechts, bekämpft werden. Diese Idee gewann 37 Der Strafvollzug von terroristischen Verbrechen wurde durch Gesetzesnovellen und durch Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung beträchtlich verschärft. 38 „Manifiesto por una nueva política criminal en materia de terrorismo“ [Plädoyer für eine neue Kriminalpolitik im Bereich des Terrorismus], in Grupo de Estudios de Política Criminal (Hrsg.), Una alternativa a la actual política criminal sobre antiterrorismo, Malaga 2008 (http://www.gepc.es/docs/ gepc9.pdf ). Das Plädoyer wurde von mehr als fünfzig Strafrechtlern (Rechtsprofessoren und Richtern) unterzeichnet. 39 Die spanische Variante des Feindstrafrechts bezieht sich vor allem auf den Terrorismus. Die herrschende spanische strafrechtliche Lehre tritt der spanischen antiterroristischen Strafgesetzgebung seit langem krititisch entgegen. Zum Feindstrafrecht durch die Regelung der strafrechtlichen Verantwortung von Minderjährigen (2000) und zur Erhärtung des Strafvollzuges siehe die folgenden Beiträge von zwei Strafrechtlern: Manuel Cancio, Sobre el Derecho Penal de autor y el Derecho Penal de menores. Algunas consideraciones sobre el régimen de excepción de la disposición adicional cuarta de la Ley de Responsabilidad Penal de los Menores, und Jon Landa, En torno a las últimas reformas del régimen penitenciario, beide in Mariano Ferrer et al., Derechos, libertades y razón de Estado (1996–2005), Bilbao 2005, S. 21 ff. und 47 ff. 40 In der Öffentlichkeit verbreitete man den Gedankengang, nach dem viele soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Organisationen den „Dachstuhl“ der Terrorganisation darstellen würden, mit der Folge, dass sie mit ihr gleichgesetzt werden könnten, unabhängig davon, ob es genügend Beweise dafür gibt oder ob solche Organisationen strafrechtliche Taten überhaupt begangen hatten.

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mehr und mehr Vertreter in der Justiz. Damit wurde ein weiterer Schritt in Richtung des Feindstrafrechts gegangen, denn die Entscheidung darüber, wer als Feind anzusehen ist, wurde a priori gefällt. Viele Bürger und Bürgerinnen sind Mitglieder oder Mitarbeiter in vielen gesetzesgemäßen gesellschaftlichen Organisationen, die angeblich dem „gemeinsamen Gebäude“ der ETA-Gewalt angehörten. Dies führte in der Praxis zu massiven Strafprozessen gegen allerlei Organisationen, denen summarisch eine Nähe zur ETA unterstellt wurde. Eine der bekanntesten Strafuntersuchungen (Verfahren 18/98) richtete sich gegen mehr als zweihundert Personen und viele Rechtspersonen. Der Hauptprozess dauerte neun Jahre.41 47 Personen wurden im Dezember 2007 vom Oberstaatsgericht (Audiencia Nacional) verurteilt. Das Urteil des höchstrichterlichen Obersten Gerichts (Tribunal Supremo) wurde am 22. Mai 2009 gefällt. Es hob die strafrechtliche Auflösung von sechs Rechtspersonen auf und acht der Angeklagten wurden freigesprochen: Einige davon hatten bloß einer zum zivilen Ungehorsam aufrufenden Stiftung angehört oder mit ihr zusammengearbeitet.42

3. Die Schließung von Kommunikationsmedien als Sonderfall Die gerichtliche Schließung eines Kommunikationsmediums durch eine einstweilige Anordnung im Rahmen eines Strafprozesses ist eines der bedeutendsten Rechtsprobleme, die in der letzten Dekade in Bezug auf die Kommunikationsfreiheit in Spanien entstanden sind. Im Rahmen des gegen den vermeintlichen „Dachstuhl“ der ETA durchgeführten Kreuzzuges sind mehrere baskische Kommunikationsmedien Gegenstand einer gerichtlichen einstweiligen Schließung gewesen.43 Die spanische Verfassung besagt nichts zur einstweiligen Schließung eines Kommunikationsmediums. Artikel 20 proklamiert „das Recht auf freie und wahre Berichterstattung sowie deren Empfang über jedwedes Verbreitungsmedium“, verbiet die Zensur und besagt, dass „die Beschlagnahme von Veröffentlichungen, Tonaufnahmen und anderen Informationsträgern nur kraft richterlichen Beschlusses erfolgen“ darf. Seit 1995 sieht Artikel 129 des Strafgesetzbuches allerdings die zeitweilige Schließung eines Unternehmens und seiner Räumlichkeiten und die zeitweilige Unterbindung der Tätigkeiten einer Firma als mögliche akzessorische Folge einer Verurteilung bezüglich bestimmter Verbrechen vor: Unter jenen Verbrechen befi ndet sich auch die „Integrierung in eine bewaffneten Bande oder in eine terroristische Organisation oder Gruppe“. Diese Vorschrift ermächtigt die Richter, die benannten Maßnahmen auch 41 Es gibt keine rechtswissenschaftliche Literatur über diesen Megaprozess. Aus dem Gesichtspunkt der Rechtsanwälte der Verteidigung siehe Felix Cañada Vicinay, Reflexiones sobre mi experiencia como abogado en el sumario 18/98, und Jose Maria Elosua, Breves consideraciones jurídicas sobre el sumario 18/98, beide in Mariano Ferrer et al., Derechos, libertades y razón de Estado (1996–2005), Bilbao 2005, S. 89 ff. und 113 ff. 42 Oberstes Gericht (Strafrechtlicher Senat), Urteil vom 22. Mai 2009 (Nr. 480/2009), Fall „Ekin“. 43 Grundlegend dazu Iñigo Lazcano Brotons, El cierre judicial cautelar de periódicos en el País Vasco: problemas jurídicos, en Mariano Ferrer et al., Derechos, libertades y razón de Estado (1996–2005), Bilbao 2005, S. 139 ff.

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als einstweilige Anordnungen zu treffen. Diese Vorschrift bezieht sich auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Rechtspersonen. Die Frage ist es, ob die Anwendung jener Ermächtigung auf Kommunikationsmedien mit dem Grundrecht auf freie Kommunikation vereinbar ist. Am 14. und 15. Juli 1998 wurden die Tageszeitung Egin und der Radiosender Egin Irratia nach einer einstweiligen Anordnung eines Untersuchungsrichters des Oberstaatsgerichts (Audiencia Nacional) geschlossen.44 Es war der erste Fall, in dem der Artikel 129 des spanischen Strafgesetzbuches auf ein Kommunikationsmedium angewendet wurde. Der Untersuchungsrichter ging davon aus, dass die Kommunikationsmedien Instrument der terroristischen Strategie der ETA waren. Am 1. Oktober 1999 endete die Schließung, als der Untersuchungsrichter sie nicht mehr für notwendig erachtete. Allerdings blieb die Beschlagnahme des Vermögens beider Kommunikationsmedien weiter bestehen, denn dieses Vermögen sollte eine eventuelle strafrechtliche Haftung decken. Im Juli 2001 ließ das zuständige Gericht (Audiencia Nacional) die Anklage wegen der „Integration in eine bewaffnete Bande“ fallen, behielt jedoch die Anklagen gegen bestimmte angeklagte Personen bei. Ohne die zunächst erwähnte Anklage hätte der Untersuchungsrichter jedoch die einstweilige Anordnung auf Schließung gar nicht treffen dürfen. Die Kommunikationsmedien wurden somit auf der Grundlage einer Anklage geschlossen, die tatsächlich gar nicht bestanden hatte. Im Februar 2003 folgte ein anderer Untersuchungsrichter desselben Oberstaatsgerichts diesem Weg und schloss die baskischsprachige Tageszeitung Euskaldunon Egunkaria. In diesem Fall wurde nicht nur die alte Rhetorik in dem Sinne wiederholt, dass die Tageszeitung den Zielen der Strategie der ETA diene, sondern es wurde auch ein neuer einzigartiger Argumentationsgrund angeführt: Die Tageszeitung würde „dem Schutz und der Verbreitung terroristischer Anschauungen mit Hilfe der baskischen Sprache als kultureller Deckung“ dienen. Erst am 12. April 2010 (sieben Jahre nach der Schließung der Zeitung!) fällte das Oberstaatsgericht (Audiencia Nacional) sein Urteil in der Rechtssache Euskaldunon Egunkaria. Dieses verspätete Urteil ist immerhin der erste Lichtblick nach einer Dekade ideologisch belasteter Justiz. Das Urteil sprach nicht nur alle Angeklagten frei. Es stellte auf der anderen Seite auch fest, dass „die einstweilige Schließung von Euskaldunon Egunkaria, welche die einzige baskischsprachige Tageszeitung war, keine unmittelbare verfassungsrechtliche Rechtsgrundlage hatte und es an einer gesetzlichen ausdrücklichen Rechsnorm mangelte, die sie ermächtigte. Artikel 129 des Strafgesetzbuches ist dazu eine zu unsichere und ungenügende Grundlage, denn eine Tageszeitung kann nicht wie eine herkömmliche Firma behandelt werden. . . . Darüber hinaus zeigt eine Abwägung zwischen der geopferten oder punktuell abgeschafften Pressefreiheit einerseits und den behaupteten Präventionszielen bezüglich angeblicher wiederholter Verbrechen andererseits, dass die letzteren durch andere einstweilige Maßnahmen hätten erreicht werden können, ohne die Informationstätigkeit und Herstellung, Druck und Verbreitung der Tageszeitung unterzubrechen. Vor allem in dem Maße, wie die Beweise gezeigt haben, dass die Tageszeitung keine 44 Der Untersuchungsrichter war der weltweit geschätzte, aber in Spanien umstrittene Baltasar Garzón.

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Mittel zum Begehen von Verbrechen hatte oder als Plattform für irgendeine verbrecherische Tätigkeit diente“. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen baskischer Kultur und Gewalt (der von vielen Kommunikationsmedien und Politikern verfochten worden war) nahm das Urteil auch grundlegend Stellung: „Die enge und irrige Betrachtungsweise, nach der alles was mit der baskischen Sprache und Kultur zu tun hat, von der ETA gefördert und/oder kontrolliert sein müsse, führt im Strafprozess zu einer irrigen Bewertung der Daten und Tatsachen und zur Haltlosigkeit der Beschuldigung.“

4. Das Verbot politischer Parteien Um der Terrorgewalt die Flügel zu stutzen, einigten sich die zwei spanischen hegemonialen Parteien (die Volkspartei und die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens) am 12. Dezember 2000 auf einen Antiterrorismuspakt, der neben anderen Maßnahmen das Verbot jener politischen Parteien vorsah, die den Terroristen Unterstützung gewährten oder die Terrorgewalt nicht verdammten. Dazu wurde ein neues Parteiengesetz erarbeitet,45 das das alte Parteiengesetz vom 4. Dezember 1978 auf heben sollte. Es wurde mit den Stimmen der mit absoluter Mehrheit regierenden Volkspartei, der Sozialistischen Arbeiterpartei, der Coalición Canaria und der katalanischen Convergencia i Unió verabschiedet. Artikel 9 Abs. 2 des Parteiengesetzes bestimmt Folgendes: 46 „Eine politische Partei wird verboten, wenn ihre Tätigkeit die demokratischen Prinzipien verletzt, insbesondere wenn sie mit ihrer Tätigkeit anstrebt, das Freiheitssystem zu beschädigen oder zu zerstören oder das demokratische System zu verhindern oder zu beseitigen, und zwar durch folgendes wiederholte und schwerwiegende Verhalten: a) Die systematische Verletzung der Grundrechte durch Förderung, Rechtfertigung oder Entschuldigung von Anschlägen gegen das Leben oder die Integrität anderer Menschen, oder den Ausschluss oder die Verfolgung von Personen wegen ihrer Ideologie, Religion oder Anschauungen, ihrer Nationalität, ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. b) Die Förderung, Begünstigung oder Legitimierung von Gewalt als Methode zum Erreichen von politischen Zielen oder zur Vernichtung der für die Ausübung der Demokratie, des Pluralismus und der politischen Freiheiten notwendigen Bedingungen. c) Die Ergänzung und politische Unterstützung der Aktionen von terroristischen Organisationen zur Erreichung ihrer Ziele, die Verfassungsordnung umzustürzen oder den öffentlichen Frieden schwerwiegend zu beeinträchtigen. . .“

45

Gesetz 6/2002 vom 27. Juni 2002. Siehe hierzu Eduardo Vírgala Foruria, Los partidos políticos tras la LO 6/2002, Teoría y realidad constitucional, 10–11 (2003), S. 203 ff.; Fermín Javier Echarri Casi, Disolución y suspensión judicial de partidos políticos, Madrid 2003; Miguel Esparza Oroz, La ilegalización de Batasuna, Cizur Menor 2004; Javier Tajadura Tejada, Partidos políticos y Constitución, Madrid 2004; Jose Antonio Montilla Martos, La prohibición de partidos políticos, Almería 2004; Hèctor López Bofill, La democràcia cuirassada, Barcelona 2005, S. 128 ff.; María Holgado Gonzáles, La ilegalización de partidos políticos en España como instrumento de lucha contra el terrorismo, in Javier Pérez Royo (Hrsg.), Terrorismo, democracia y seguridad en perspectiva constitucional, Madrid 2010, S. 187 ff. 46 Übersetzung des Verf.

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Art. 9 Abs. 3 des Parteiengesetzes präzisiert ausführlich diejenigen Sachverhalte, die jene Verhaltensweisen ausdrücken. Die Ausführlichkeit der gesetzlichen Definition der die Auflösung begründenden Sachverhalte und das Erfordernis, dass die Verhaltensweisen „schwerwiegend und wiederholt“ sein müssen, bezwecken, die Vorwürfe der Unbestimmtheit und der Unverhältnismässigkeit des gesetzlichen Eingreifens zu umgehen.47 Einer der umstrittensten Sachverhalte bezieht sich auf die Integrierung von Personen in die Leitungsorgane oder Wahllisten einer politischen Partei, die wegen Terrorismus verurteilt worden sind und die terroristischen Zielen und Mitteln nicht öffentlich abgeschworen haben oder auf den Umstand, dass mehrere Mitglieder einer Partei auch Mitglieder von terroristischen oder gewaltsamen Organisationen oder Gruppen sind (sog. „doppelte Mitgliedschaft“), es sei denn, die Partei hat zu ihrer Ausweisung führende Disziplinarmaßnahmen unternommen. Ein anderes Verhalten, das ein Verbot ermöglicht, ist die ausdrückliche oder stillschweigende politische Unterstützung des Terrorismus durch Entschuldigung oder Kleinreden der Bedeutung von Gewalttaten.48 Dem Einzelnen werden im Ergebnis drei Aktivitäten, die vorher als Grundrechte besonders geschützt waren, durch das Parteiengesetz verwehrt: das Recht politische Parteien zu gründen, das Recht zu schweigen (um Gewalttaten politisch und/oder moralisch nicht zu verurteilen) so wie das Recht, mit Verhaltensweisen anderer einverstanden zu sein, die jemand nicht selbst ausgeführt hat und zu denen jemand auch nicht andere aufgefordert hat.49 Zwar war das neue Parteiengesetz eine allgemeine Gesetzgebung, ein guter Teil davon war aber gezielt auf einen spezifischen geschichtlichen Kontext gerichtet. Unmittelbar vom Parteiverbot bedroht waren nur die radikalen nationalistischen Parteien und ihre Anhänger. Die anderen baskischen und nicht-baskischen Nationalisten, die Gewalt als Mittel zum Erreichen politischer Ziele immer verworfen haben, betrachteten den Antiterrorismuspakt als ein Instrument nicht zum Schutz der Verfassung, sondern zur Durchsetzung eines bestimmten Konzeptes von Verfassung(spa triotismus). Dem Gesetz standen deshalb (und stehen auch immer noch) einige Parteien ablehnend gegenüber, darunter einige nationalistische Parteien (die baskischen PNV und EA und die katalanische ERC) und die Linke (IU). Das baskische Parlament verabschiedete eine Erklärung gegen das Parteiengesetz – mit den Gegenstimmen der baskischen parlamentarischen Fraktionen der Sozialistischen Arbeiterpartei und der Volkspartei. Dies lieferte den Stoff für den nächsten institutionellen Konfl ikt zwischen dem baskischen Parlament und der spanischen Regierung. Anders als das Grundgesetz sieht die spanische Verfassung das Verbot politischer Parteien nicht vor. Vor der Erarbeitung des neuen Parteiengesetzes galt die allgemein angenommene Auffassung, dass die spanische Verfassung von 1978 den mit der streit47

López Bofill (Fn. 45), S. 135 ff. Nach diesem Verfasser sei die Bestimmtheit des Eingreifens allerdings formell durch Wiederholung und Akkumulierung der Auflösungsgrunde und durch Benutzung von unbestimmten Rechtsbegriffen erreicht. Der Verfasser weist auf das Paradox hin, dass der Gesetzgeber die Verfassungsrechtswidrigkeit defi niert. 48 Kritisch dazu López Bofill (Fn. 45), S. 159 ff. 49 Montserrat Nebrera, Patriotismo y mutación constitucionales (En torno a la LO 6/2002 de partidos políticos y la STC 48/2003), Revista de Estudios Políticos, Heft 123, 2004, S. 248; ähnlich José Antonio Montilla, Algunos cambios en la concepción de los partidos. Comentario a la STC 48/2003, sobre la Ley Orgánica 6/2002, de Partidos Políticos, Teoría y Realidad Constitucional, 12–13 (2004), S. 584.

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baren Demokratie assoziierten Begriffen wie „Berufsverbot“, „Parteienverbot“, „Verfassungsschutz“ etc. zu einem guten Teil nicht gefolgt war.50 Allerdings scheint sich die Meinung vieler Staatsrechtler in der Zwischenzeit geändert zu haben – wahrscheinlich wegen des mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Terrorismus und der diesen betreffenden öffentlichen Meinung. Viele Staatsrechtlehrer anerkennen, dass die spanische Demokratie im Ergebnis eine Variante der streitbaren Demokratie kraft gesetzlicher Ermächtigung eingeführt und somit einen Verfassungswandel verwirklicht hat.51 Dabei wird meistens bloß kritisiert, dass weder der Gesetzgeber noch das Verfassungsgericht diesbezüglich klarstellende Worte gesprochen haben, etwa dass in Bezug auf „die neuen geschichtlichen Umstände“ der streitbaren Demokratie zu folgen ist.52 Umstritten ist jedoch, was für eine Variante der streitbaren Demokratie geschaffen worden ist. Für Montilla handelt es sich um eine abgeschwächte Variante der streitbaren Demokratie, weil nicht alle gegen die demokratischen Grundsätze gerichteten Verhaltensweisen pauschal verboten werden, sondern nur diejenigen, die im Parteiengesetz bestimmt worden sind, wobei dem Rechtsanwender kein Ermessensspielraum bleibt.53 Dagegen argumentiert López Bofill, dass die spanische Demokratie eine über die streitbare Demokratie hinausgehende Panzerdemokratie geworden sei, weil die verbotenen Parteien keine echte Chance haben, das politische System zu erobern und

50 Javier Jiménez Campo, La intervención estatal del pluralismo, Revista Española de Derecho Constitucional, 1 (1981), S. 173 f.; Ignacio de Otto, Defensa de la Constitución y partidos políticos, Madrid 1985, S. 20 ff.; Pedro Cruz Villalón, Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, in C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, Baden-Baden 1990, S. 218; López Bofill (Fn. 45), S. 53. 51 Hèctor López Bofill, Parteiverbot ohne Grundlage in der Verfassung?, in Verfassung im Diskurs der Welt – Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 393: „eine eindeutige Neigung zur Variante der streitbaren Demokratie“, „Wandel des Demokratieverständnisses“, „das spanische Demokratiemodell [hat] einen substantiellen Wandel erfahren“. Ähnlich Nebrera (Fn. 49), S. 243 ff.; Montilla (Fn. 49), S. 567. Nach Nebrera liege der Verfassungswandel in dem Umstand, dass, wenn eine Partei verboten und aufgelöst worden ist, Personen spanischer Staatsangehörigkeit ihr Recht auf Errichtung einer Partei genommen wird. Dies gilt auch dann, wenn jene Personen keine Verbindung mit der verbotenen Partei haben, in dem Maße, als dass angenommen wird, dass auf Grund von Verdachtsmomenten eines Rechtsbetrugs, die nur von einem besonderen Senat des Obersten Gerichts ausgewertet werden dürfen, die neue Partei eine betrügerische Nachfolge der alten sei. Die Verfasserin argumentiert, dass damit die mit der Sicherheit vorschnell gleichgesetzte Prävention als Verfassungsziel eine außerordentliche Bedeutung erfahren hat. Der Verfassungswandel nach dem deutschen Modell wird stillschweigend auch in Francisco Balaguer Callejón/Miguel Azpitarte Sánchez, Das Grundgesetz als ein Modell und sein Einfluss auf die spanische Verfassung von 1978, JöR 58 (2010), S. 27 anerkannt. Vgl. in diesem Sinne auch Enrique Alvarez Conde/Alexandre H. Català i Bas, La aplicación de la Ley Orgánica de Partidos Políticos. Crónica inacabada de la ilegalización de Herri Batasuna, Batasuna y Euskal Herritarrok, Foro – Nueva época, Heft 0, 2004, S. 14. 52 Nebrera (Fn. 49), S. 240. Nach López Bofill (Fn. 45), S. 49 und 71 wäre eine Verfassungsreform notwendig gewesen. 53 Montilla (Fn. 49), S. 568, 585.

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die Demokratie umzuwälzen,54 und weil in Spanien ein Zusammenhang zwischen Feindstrafrecht und streitbarer Demokratie besteht.55 Anders als in Deutschland ist es nicht Sache des Verfassungsgerichts, über das Verbot einer politischen Partei zu entscheiden. Aber es ist auch nicht Sache der Strafgerichtsbarkeit.56 Das Parteiengesetz hat ein neuartiges „verfassungsrechtliches“ Auflösungsrecht und -verfahren geschaffen. Für die von einer Partei begangenen gesetzeswidrigen Taten sind die strafrechtlichen Gerichte nach wie vor zuständig. Parteien werden nach wie vor nach den allgemeinen Grundsätzen aufgelöst, die für Vereine gelten. Dagegen knüpft das Parteiengesetz an Taten und Verhaltensweisen, die an sich nicht strafrechtswidrig sind, die Rechtsfolge der Auflösung, weil jene Taten und Verhaltensweisen als mit den demokratischen Grundsätzen unvereinbar gelten. Ein besonderer Senat des Obersten Gerichts hat die Kompetenz erhalten, auf der Grundlage des Parteiengesetzes die „demokratiewidrigen“ Tatbestände zu untersuchen und eine politische Partei zu verbieten.57 Antragsberechtigt sind sowohl die spanische Regierung als auch die Staatsanwaltschaft. Die beiden Kammern des Spanischen Parlaments (Kongress und Senat) dürfen die Regierung auffordern, den Antrag zu stellen.58 Das neue Gesetz kann auch auf vor Erlass des Gesetzes bestehende politische Parteien angewendet werden, aber nur bezüglich späterer Verhaltensweisen. Damit sollte das verfassungsrechtliche Verbot gegen die Rückwirkung von Bestimmungen, die 54 Und dies ist auch nicht ihr Wille: Es handelt sich dabei um Parteien und Organisationen, die die Unabhängigkeit des Baskenlandes anstreben, aber nicht für ein totalitäres oder die Menschenrechte verachtendes Regime eintreten. 55 López Bofill (Fn. 45), S. 125, 134. Der Verfasser will aber unterstreichen, dass die Störung der Demokratie durch die politische Tätigkeit bestimmter Organisationen real und beträchtlich ist. Nach dem Verfasser seien in Deutschland die Merkmale der streitbaren Demokratie vom Verfassungsrecht auf das Strafrecht übergetragen; in Spanien sei dies umgekehrt passiert – zunächst wurde der Weg des Feindstrafrechts ausgenutzt und anschließend wurden die Merkmale des Feindstrafrechts auf das Verfassungsrecht übertragen. 56 Es muss bemerkt werden, dass der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón die Zurechnungserfordernisse bezüglich der Integrierung der politischen Partei in die terroristische Gruppe ETA zu jener Zeit für gegeben betrachtet hatte. Siehe hierzu die einstweilige Anordnung vom 26. August 2002 des Untersuchungsgerichts Nr. 5 des Oberstaatsgerichts (Audiencia Nacional). Hier wurde die These der terroristischen Gewalt als „Fachwerkgebäude“ vertreten. Allerdings hatte sich der Gesetzgeber inzwischen entschlossen, den Weg der streitbaren Demokratie zu gehen; somit war der Weg der Flexibilisierung der Zurechnungserfordernisse (ein typisches Merkmal des Feindstrafrechts), den der Untersuchungsrichter Garzón versucht hatte einzuschlagen, nicht mehr notwendig. 57 Der im Artikel 61 der Gerichtsordnung (LOPJ) vorgesehene Senat ist besonders in dem Sinne, dass er einerseits von höheren Richtern aller Gerichtsbarkeiten zusammengesetzt ist (den Präsidenten des Obersten Gerichtes, den Senatspräsidenten in allen Gerichtsbarkeiten und den jeweils älteren und neueren Richter aller jener Senate) und andererseits seine „ordentlichen“ Aufgaben die Revisionsklagen gegen Urteile des Obersten Gerichts, Ablehnungsverfahren gegen Gerichts- und Senatspräsidenten des Obersten Gerichts oder gleichzeitig gegen zwei Richter des selben Senats, Haftungs- bzw. Straf klagen gegen Richter des Höchsten Gerichtes und Klagen zur Feststellung eines Justizirrtums eines der Senate des Obersten Gerichts sind. Nach López Bofill (Fn. 45), S. 132 sei diese besondere Gerichtsbarkeit gerade ein Merkmal der streitbaren Demokratie. 58 Es scheint der einzige Fall zu sein, in dem die Legislative als Staatsgewalt die anderen Staatsgewalten rechtlich auffordern kann, einen ihrer eigenen Gesetzgebungsakte zu vollziehen. Nach Negrera (Fn. 49), S. 242 sei die Gewaltentrennung und auch der Rechtsstaat damit beschädigt. Kritisch auch Montilla (Fn. 49), S. 575.

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sich ungünstig oder restriktiv auf die Rechte des Einzelnen auswirken (Art. 9 Abs. 3 SpVerf ) umgegangen werden. Allerdings sind nicht alle möglichen mit der Rechtswirkung assoziierten Probleme gelöst worden. Artikel 9 Abs. 4 ermächtigt einerseits den Rechtsanwender, die ganze Geschichte einer Partei, auch wenn sie ihren Namen geändert hat, zu berücksichtigen. Andererseits bestimmt die Übergangsbestimmung des Gesetzes, dass die Errichtung einer Partei kurz vor oder nach dem Erlass jenes Gesetzes, mit dem Ziel, die Anwendung des Gesetzes zu umgehen, als Rechtsbetrug zu betrachten ist.59 Kurz nach Veröffentlichung des Parteiengesetzes wurde auf Antrag der spanischen Regierung und der Staatsanwaltschaft ein Verfahren zum Verbot von einer Partei und ihren Vorgängern (Herri Batasuna, Euskal Herritarrok, Batasuna) eingeleitet, die die baskischen Independentisten bis dato genutzt hatten. Am 27. März 2003 fällte der besondere Senat des Obersten Gerichts sein Urteil: Diese drei politischen Parteien wurden verboten und aufgelöst.60 In der Zwischenzeit erhob die baskische Regierung Verfassungsklage gegen das Parteiengesetz. Das Verfassungsgericht fällte sein Urteil zeitgerecht in weniger als sechs Monaten, und damit sogar einige Tage vor dem Auflösungsurteil des besonderen Senats des Obersten Gerichts. Das Parteiengesetz wurde vom spanischen Verfassungsgericht für nicht verfassungswidrig gehalten.61 Das Urteil lieferte allerdings eine verfassungskonforme Auslegung vieler seiner Vorschriften.62 Es stellte allgemein fest, dass es im Rahmen der spanischen Verfassung keinen Raum für eine streitbare Demokratie gibt. Diese Behauptung wurde mit zwei Argumenten begründet: der Mangel der spanischen Verfassung an Ewigkeitsklauseln in der Art des deutschen Grundgesetzes, und die Unterscheidung zwischen Zielen und Tätigkeiten. Alles in der Verfassung dürfe verändert werden: „Alle Projekte sind mit der Verfassung in dem Maße vereinbar, in dem sie nicht durch eine Tätigkeit verteidigt werden, die die demokratischen Grundsätze und die Grundrechte verletzt“. Dass die spanische Verfassung keine Ewigkeitsklausel kennt, ist zwar richtig, aber das neue Parteiengesetz zielt gerade darauf, den Weg zu einer die demokratischen Prinzipien und die Grundrechte beschneidenden Verfassungsreform praktisch unmöglich zu machen. Darüber hinaus ist die theoretische Unterscheidung zwischen Zielen, die trotz ihrer Verfassungswidrigkeit zulässig sind, und Tätigkeiten, die nicht strafrechtswidrig aber we-

59 Für Nebrera (Fn. 49) S. 228 ff. enthält die Übergangsbestimmung keine echte rückwirkende Vorschrift. 60 Oberstes Gericht (besonder Senat des Art. 61 LOPJ), Urteil vom 27. März 2003 (RJ 2003/3072). Siehe hierzu Eduardo Vírgala Foruria, La STS de 27 de marzo de 2003 de ilegalización de Batasuna: el Estado de Derecho penetra en Euskadi, Teoría y realidad constitucional, 12/13 (2003), S. 609 ff.; und El recorrido jurisprudencial de la suspensión y disolución de Batasuna: agosto de 2003 a mayo de 2007, Revista Española de Derecho Constitucional, 81 (2007), S. 243 ff. 61 Urteil 48/2003 des Verfassungsgerichts. 62 Montilla (Fn. 49), S. 568 weist darauf hin, dass sich das Urteil des besonderen Senats des Obersten Gerichts zur Auflösung mehrerer Parteien eher an der dem Begriff der streitbaren Demokratie nahestehenden Rechtsprechung des EGMR orientiert hat als an der verfassungskonformen Auslegung des bloß fünfzehn Tage zuvor gefällten Urteils des spanischen Verfassungsgerichts zur Verfassungskonformität des Parteiengesetzes.

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gen ihrer Verfassungswidrigkeit unzulässig sind, wenig überzeugend, wenn es sich um politische Parteien handelt.63 Die Strategie der spanischen Regierung war somit durchaus erfolgreich: In nicht mehr als einem Jahr konnte sie die Auflösung der independentistischen Parteien verwirklichen, einschließlich der Schaffung der gesetzlichen Ermächtigung dazu, der Einleitung und Bearbeitung des Auflösungsverfahrens und der Urteilsfällung durch beide obersten Gerichte des Staates (des Obersten Gerichts und des Verfassungsgerichts). Die Rechtssachen waren damit jedoch keineswegs zu Ende. Die betroffenen Parteien reichten zunächst Verfassungsbeschwerde gegen ihr Verbot und danach Klagen vor dem EGMR ein. Das Verfassungsgericht beanwortete die Verfassungsbeschwerde im selben Sinne wie in der vorigen abstrakten Normenkontrolle.64 Die baskische Regierung und die betroffenen Parteien erhoben Klagen auch vor dem EGMR. Das EGMR ließ die Klage der baskischen Regierung nicht zu, mit der Begründung, dass die baskische Regierung nicht in die Kategorien von Betroffenen des Art. 34 EMRK hineinpasse. Die Klagen der betroffenen Parteien wurden 2009 zurückgewiesen65 und der späteren Appellation vor der Großen Kammer wurde nicht stattgegeben. Damit schien dieser Prozess am Ende einer Reise angekommen zu sein. Aktivitäten von vorbestehenden oder neu geschaffenen Parteien, die die Tätigkeit einer für gesetzeswidrig gehaltenen und aufgelösten Partei weiterverfolgen, sind nach Art. 12 Abs. 1 Litt. b des Parteiengesetzes als Rechtsbetrug zu betrachten; ähnliches gilt für Wählervereine, die als Instrument zur Fortsetzung und Wiederaktivierung einer gerichtlich aufgelösten Partei gebildet werden (Art. 44 Abs. 4 des Organgesetzes zur Wahlordnung). In der Praxis bedeutet dies, dass zu einer neuen Wahl auf dem Gebiet des Baskenlandes neue Parteien oder Wählervereine entstehen, um die Stimmen der verbotenen Parteien zu bekommen. Wenn ihre Wahllisten die Namen von ehemaligen Mitgliedern von verbotenenen Parteien einschließen, werden sie oft verboten und vom Wahlkampf ausgeschlossen.66 Die verbotenen bzw. ausgeschlossenen Parteien oder Wählervereinigungen erheben regelmäßig Klagen vor dem Verfassungsgericht, und einige von diesen Klagen sind auch angenommen worden.67 Die 63

Vgl. kritisch Montilla (Fn. 49), S. 567; Nebrera (Fn. 49), S. 240; López Bofill (Fn. 45), S. 64 ff. Urteile des Verfassungsgerichts: 5 und 6/2004. 65 EGMR, Urteile vom 30. Juni 2009, Herri Batasuna und Batasuna gegen Spanien, verb. Rs. 25803/04 und 25817/04; Etxeberria, Barrena, Arza, Nafarroako Autodeterminazio Bilgunea, Albako und andere gegen Spanien, verb. Rs. 35579/03, 35613/03 und 35634/03; Herritarren Zerrenda gegen Spanien, Rs. 43518/04. Siehe hierzu Mercedes Iglesias, La ley de partidos políticos y el test de convencionalidad europeo: el diálogo entre el Tribunal Constitucional y el Tribunal Europeo de Derechos Humanos en torno a la ilegalización de Herri Batasuna y Batasuna, Teoría y Realidad Constitucional, 25 (2010), S. 567 ff. 66 Siehe Oberstes Gericht (besonderer Senat), Urteil vom 22. September 2008 (Fall „ANV“). Hiermit wurde eine Partei verboten, die am Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurde und eine lange demokratische Geschichte hatte. 67 Siehe Urteile des Verfassungsgerichts: 85/2003 (Ametzak Amezketa), 176/2003 (Herri Taldea), 99/2004 (Herritarren Zerrenda), 68/2005 (Aukera Guztiak), 126/2009 (Iniciativa internacionalista – La solidaridad entre los pueblos). Zum Problem der Parteiensukzession durch Wählervereine siehe María Isabel Serrano Maíllo, Agrupaciones de electores y la posible continuidad de partidos políticos ilegalizados por parte de éstas, Teoría y Realidad Constitucional, 16, 2005, S. 435 ff.; Enrique Alvarez Conde/Alexandre H. Català i Bas, Los efectos directos y colaterales de la disolución de Herri Batasuna, Foro, Nueva época, Heft 2, 2005, S. 131 ff.; Eduardo Vírgala Foruria, La adminisión de Iniciativa Inter64

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spanische Regierung war jedoch nicht immer vom gleichen Verbotseifer besessen. In den Regionalwahlen 2005 (als die Sozialisten an die Macht gekommen waren) wurde die damalige Option der Independentisten (die Kommunistische Partei der Baskischen Länder) nicht beanstandet. Dagegen wurde sie bei den Regionalwahlen 2009 daran gehindert, als Tarnliste an den Wahlen teilzunehmen.

5. Das Feindstrafrecht bzw. die Aktivierung des Strafrechts gegen baskische Politiker Die Ideologie der in Madrid von 2000 bis 2004 mit absoluter Mehrheit regierenden Volkspartei setzte den (peripheren) Nationalismus stets mit Gewalt gleich. Viele Kommunikationsmedien verbreiteten jene Ideologie. Damit wurde der Boden bereit, gegen demokratisch gewählte Politiker mit strafrechtlichen Methoden zu Felde zu ziehen. Das Strafrecht wurde Instrument im Kampf gegen den politischen Gegner. Am 23. Dezember 2003 wurde ein neuer Tatbestand in das Strafgesetzbuch eingeführt.68 Nach Artikel 506 Bis des Strafgesetzbuches sollte diejenige Behörde, die, offenkundig ohne Befugnis dazu zu haben, eine allgemeine, regionale oder Kommunalwahl oder eine Volksbefragung im Sinne eines verfassungsmäßig vorgesehenen Referendums organisiert, mit 3 bis 5 Jahren Gefängnisstrafe und mit weiteren 3 bis 5 Jahren Verlust der Amtsfähigkeit und Wählbarkeit bestraft werden. Andere Strafbestimmungen sollten auch für diejenigen gelten, die den Wahl- oder Volksbefragunsprozess ermöglichen oder als Aufsichtpersonen daran teilnehmen. Diese Gesetzesnovelle war gegen die mehrmals geäußerte Absicht des baskischen Ministerpräsidenten gerichtet, das baskische Volk zu bestimmten Themen in der Zukunft direkt zu befragen. Die Straf barkeit eines Referendums zum politischen Wandel war die Vollendung der „Panzerdemokratie“.69 Die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens war dieses Mal gegen ein derart eklatantes „Feindstrafrecht“. Nach ihrem Sieg in den allgemeinen Wahlen 2004 hielten sie ihr Wort, und am 22. Juni 2005 wurde die erwähnte Gesetzesnovelle völlig aufgehoben.70 Der Präambel des Auf hebungsgesetzes argumentierte, dass „sich die aufzuhebenden Strafvorschriften auf ein Verhalten beziehen, das keine genügende Bedeutung besitzt, um einen strafrechtlichen Vorwurf und die dort vorgesehenen Gefängnisstrafen zu rechtfertigen. . . . In unserem Rechtssystem gibt es andere Wege als das Strafrecht, um die Gesetzesmäßigkeit zu kontrollieren“. Der besondere Senat des Obersten Gerichts hatte nicht nur die Auflösung gewisser Parteien, sondern auch die Auflösung ihrer parlamentarischen Fraktionen angeordnet. Der Vollzug dieser Anordnung stieß auf Widerstand im baskischen Parlament. Nach wiederholter Rechtsprechung des Verfassungsgerichts sind Parteien und ihre parlamentarischen Fraktionen getrennte Rechtswesen. Im Parteiengesetz war die nationalista a las elecciones europeas de 2009: el Tribunal Constitucional corrige acertadamente la decisión del Tribunal Supremo, Revista Española de Derecho Constitucional, 87 (2009), S. 315 ff. 68 Organgesetz 20/2003 vom 23. Dezember 2003. 69 López Bofill (Fn. 45), S. 182 ff. 70 Organgesetz 2/2005 vom 22. Juni 2005.

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Auflösung der parlamentarischen Fraktion als Folge der Auflösung einer Partei nicht vorgesehen. Das Schweigen eines so sorgfältig erarbeiteten Gesetzes war kein Irrtum oder Vergessen, sondern die stillschweigende Anerkennung der wiederholten Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Es ist klar, dass ein so gravierender Eingriff in den politischen Pluralismus, in die Autonomie eines Parlaments und in den Schutzbereich des Art. 23 Abs. 1 SpVerf 71 gesetzlich hätte vorgesehen werden müssen.72 Der besondere Senat des Obersten Gerichts ging davon aus, dass es allein dafür zuständig war, die Auflösung der parlamentarischen Fraktion einer verbotenen Partei anzuordnen, während dem baskischen Parlament bloß die Vollziehung jener Anordnung zustand. Das baskische Parlament berief sich dagegen auf die Trennung zwischen Legislative und Justiz und auf die interne Autonomie des Parlaments, um den Richterspruch nicht zu befolgen. Dieses führte zur Einleitung strafrechtlicher Prozesse gegen den Präsidenten des baskischen Parlaments und zwei weitere Mitglieder des Parlamentsvorstands. Die drei Politiker gehörten drei politischen Parteien an, die gegen das politische Parteiengesetz eingestellt waren. Das Oberlandesgericht für das Baskenland sprach 2006 alle Angeklagten frei, aber der strafrechtliche Senat des Obersten Gerichts verurteilte sie 2008 wegen Ungehorsams zu einer Verlust der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit.73 Es muss bemerkt werden, dass es nicht die Staatsanwaltschaft war, die die Anklage erhoben hatte, sondern eine private rechtsextremistische Organisation, die sich in den letzten Jahren verstärkt des Rechtssystems bedient, um sowohl gegen nationalistische wie gegen andere Erbfeinde des Rechtsextremismus Anklage zu erheben.74 Darüber hinaus wurden der baskische Ministerpräsident und andere baskische Politiker strafrechtlich verfolgt, als sie im Rahmen von Gesprächen, die einer neuen Waffenruhe der Terrorgewalt dienen sollten, mit Führern der verbotenen Parteien zusammengetroffen waren. Die Anklage wurde dabei erneut nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern lediglich von zwei privaten Vereinigungen erhoben. Das baskische Oberlandesgericht stellte den Strafprozess ein, weil die Anklage von privaten, nicht legitimierten Personen erhoben worden war. Allerdings beschloss das Oberste Gericht nach Einlegung von Rechtsmitteln gegen den Einstellungsbeschluss, dass die privaten Personen zwar berechtigt waren, die Anklage zu erheben, aber die Taten 71 „Die Bürger haben das Recht, an den öffentlichen Angelegenheiten direkt oder durch in periodischen, allgemeinen Wahlen frei gewählte Vertreter teilzunehmen.“ 72 Alvarez Conde/Català i Bas (Fn. 67), S. 142. Zum Thema siehe auch Fernando Santaolalla López, Parlamento y persecución del delito, Revista Española de Derecho Constitucional, 68 (2003), S. 207 ff.; Juan María Bilbao Ubillos, Guión para el debate sobre la disolución de los grupos parlamentarios vinculados a partidos que han sido ilegalizados judicialmente, Revista Española de Derecho Constitucional, 68 (2003), S. 249 ff.; Iñaki Lasagabaster Herrarte, Derecho de manifestación, representación política y juez penal, Oñati 2003, S. 73 ff.; Eduardo Vírgala Foruria, El intento de disolución del grupo parlamentario de Batasuna: ¿levantamiento del velo o vulneración de derechos?, Teoría y realidad constitucional, 22 (2008), S. 193 ff. 73 Oberstes Gericht (Strafrechtlicher Senat), Urteil vom 8. April 2008 (Nr. 54/2008). Das Urteil enthielt allerdings ein von mehreren Richtern unterzeichnetes Minderheitsvotum, welches überzeugend für einen Freispruch argumentierte. 74 Es handelt sich dabei um dieselbe Organisation, die die Anklage gegen den Richter Baltasar Garzón erhoben hat, die 2010 zur einstweiligen Einstellung seiner Tätigkeit als Untersuchungsrichter am Oberstaatsgericht geführt hat.

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nicht straf bar waren. Dabei wurden die Grenzen der Strafgerichtsbarkeit ausdrücklich bestätigt, um „die politische Tätigkeit einer demokratisch gewählten Regierung zu kontrollieren, welche für die politische Leitung im Rahmen ihrer Befugnisse zuständig ist, ohne dass die Gesprächsbereitschaft zur Suche der das Zusammenleben gewährleistenden bestmöglichen Regierungsoptionen im allgemeinen bestraft werden sollte“.75

III. Auf der Suche nach einer politischen Akkommodation des Bakenlandes Die verfassungspolitischen und strafrechtlichen Maßnahmen „von Madrid aus“ wurden von anderen Initiativen „vom Baskenland aus“ beantwortet und umgekehrt. Die baskischen Einrichtungen strebten eine endgültige Akkommodation des Baskenlandes im spanischen Verfassungsstaat an. Diese Versuche wurden allerdings allein von den nationalistischen Parteien getragen, was einen Konfl ikt mit den anderen baskischen Parteien und vor allem mit den gesamtstaatlichen hegemonischen Parteien unmittelbar hervorrief.

1. Das „politische Statut für die Gemeinschaft des Baskenlandes“ vom Dezember 2004 Durch die von den Konservativen betriebene renationalisierende Politik erhielten die peripheren politischen Kräfte neue Impulse, ihre Autonomiegrundlage zu revidieren. Mit der Volkspartei an der Macht war eine Verfassungsreform oder eine neue Interpretation des Verfassungstextes politisch undenkbar: Die Reform der Autonomiestatuten blieb aus der Sicht der peripheren politischen Kräfte die einzig machbare Alternative. Basken und Katalanen kündigten 2003–2004 Reformbestrebungen ihrer Autonomiestatuten an.76 Die anderen autonomen Gemeinschaften schlossen sich darauf hin an.77 Im Hintergrund standen ähnliche Gründe wie im katalanischen Prozess zur Reform des Autonomiestatuts: die Erosion der Autonomie;78 die Spirale der politischen 75

Oberstes Gericht (Strafrechtlicher Senat), Urteil vom 20. Januar 2010 (Nr. 8/2010). Das Gericht wendete ein eigenes früheres Urteil dabei an, das die Anklage gegen den spanischen Ministerpräsidenten und andere Minister wegen der Genehmigung von Gesprächen mit ETA-Mitgliedern eingestellt hatte. Um jenen Präzedenzfall zu umgehen hatte das baskische Oberlandsgericht argumentiert, es gebe zwei verschiedene strafrechtliche Arten von Ungehorsam. 76 Zum Autonomiestatut für Katalonien von 2006 siehe Xabier Arzoz, Das Autonomiestatut für Katalonien von 2006 als erneuter Vorstoß für die Entwicklung des spanischen Autonomiestaates, ZaöRV 69 (2009), S. 166 ff. 77 Siehe hierzu Francisco Balaguer Callejón, Die Territorialreformen in Spanien, JöR 57 (2009), S. 601 ff. 78 Im Allgemeinen hat sich mit der Unterstützung des Verfassungsgerichts eine restriktive Auslegung in Bezug auf die Zuständigkeiten der autonomen Gemeinschaften herausgebildet: durch Erweiterung des materiellen Inhalts der zentralstaatlichen ausschließlichen Zuständigkeiten, durch Ausdehnung des funktionellen Ausmaßes der zentralstaatlichen Grundgesetzgebung und durch Ausdehnung

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Konfrontation zwischen „Verfassungsblock“ und „nationalistischem Block“; und die Suche nach einer defi nitiven Akkommodation der baskischen Identität im Rahmen des spanischen Verfassungsstaates. Der Reforminitiative der baskischen und katalanischen Autonomien lag vor allem eine Diagnose über die Qualität der eigenen Selbstständigkeit zugrunde: Die Beurteilung, dass die Autonomen Gemeinschaften in der Praxis nach 25 Jahren Verfassung und Autonomiestatut bloß über „eine weite Autonomie geringer Qualität“ verfügten.79 Die drei „historischen Nationalitäten“ Baskenland, Katalonien und Galizien hatten gewiss entsprechend ihren Autonomiestatuten von 1979 und 1980 eine weit gehende Autonomie im Rahmen der spanischen Verfassung von 1978 erhalten. Jene Autonomiestatuten haben allerdings ihre Schuldigkeit getan, und sie sind schon lange an ihre Grenzen geraten. In den politischen und wissenschaftlichen Kreisen Kataloniens wie des Baskenlandes überwog die Empfindung, dass das Autonomiestatut von 1979 schon ausgeschöpft war. Die zentralistischen Tendenzen bei der Auslegung und Ausübung der staatlichen Zuständigkeiten hatten die Gestaltungschancen der autonomen Zuständigkeiten erodiert. Der Unterschied zwischen dem katalanischen und dem baskischen Reformprozess lag nicht in der Diagnose der bestehenden Autonomie, sondern in der Zielbestimmung der Reform und in der Methode, jenes Ziel politisch zu erreichen. Während der katalanische Reformprozess vor allem auf die Optimierung der eigenen Autonomie innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens gerichtet war, hatte der baskische Reformprozess eine befriedigende politische Akkommodation des Baskenlandes zum Ziel. Die wichtigsten Themen des neuen Statutsentwurfes waren die Anerkennung der baskischen Identität und des Rechts, die eigene Zukunft frei zu entscheiden; die Freiheit, offi zielle politische Beziehungen mit Navarra abzuschließen und auch mit den baskischen Gebieten in Frankreich einzugehen; der Auf bau einer eigenen Justizverwaltung; die volle Autonomie, eigene Einrichtungen zu gestalten; die Entwicklung eines eigenen wirtschaftlichen, sozialrechtlichen und Tarifordnungsraumes; ein System bilateraler Garantien zwischen dem Staat und dem Baskenland, um das politische Statut Baskenlands zu verankern; sowie eine eigene Stimme in Europa und in der Welt. Auf die Einzelheiten jedes dieser Ansprüche einzugehen würde den Raum dieses Beitrags überschreiten.80 des Ausmaßes der zentralstaatlichen sogenannten horizontalen Zuständigkeiten. Die restriktive Auslegung des Verfassungsgerichts führte Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts die baskische Regierung dazu, eine außerordentliche vergleichslose Entscheidung zu treffen: in der Überzeugung, dass vom Verfassungsgericht kein echter Schutz der eigenen Autonomie zu erwarten war, verzichtete sie auf die Benutzung der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der eigenen Kompetenzen in Streitigkeiten mit dem Zentralstaat. Damit blieb nur der Weg der politischen Verhandlungen übrig. 79 Carles Viver Pi-Sunyer, „Finalmente, una amplia autonomía de baja calidad“, El País, 6. 9. 2003, S. 11. Kritisch hinsichtlich des zentralistischen Funktionieren des Autonomiestaates: Manuel Ballbé/Roser Martínez, Soberanía dual y constitución integradora, Barcelona 2003, S. 17 ff. 80 Ein umstrittener Punkt war die Regelung einer baskischen Nationalität. Die in anderen (mittelund ost)europäischen Regionen und Epochen geübten und bekannten minderheitenschutzrechtlichen Rechtsinstitute, wie nationale Kurien, Schulkataster nach nationalen Gesichtspunkten, Volksgruppenbeiräte oder sonstige Mechanismen zur Feststellung der Nationalität der Bevölkerung, auf Grund derer Rechte und Rechtsansprüche entstehen, sind der spanischen Rechtstradition gewiss fremd, aber sie sind nicht undenkbar oder mit dem Rechtsstaat oder den Grundrechten unvereinbar. Vgl. etwa den eth-

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Im Allgemeinen kann man sagen, dass viele der im Reformvorschlag enthaltenen Ansprüche im Einzelnen politisch und rechtlich gut vertretbar waren und dass im Rahmen einer kompromisswilligen Verhandlung eine befriedigende Lösung in vielen Punkten hätte erreicht werden können. Das Problem war nicht so sehr der Inhalt des Textes selbst als vielmehr der Ton des Entwurfes. Es war die Grundrichtung des ganzen Entwurfes, der die einzelnen Änderungen für die nicht-nationalistischen Kräfte unangenehm bzw. unannehmbar erscheinen ließ. Die Grundrichtung des Entwurfes versteht man am besten, wenn man ein paar Exzerpte aus der Präambel und aus dem Text selbst liest. Sowie die Präambel81 als auch Artikel 1 des Reformvorschlages82 berufen sich mehrmals auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker; darüber hinaus ergibt sich, dass der Träger des Selbstbestimmungsrechts das baskische Volk ist, welches ausdrücklich mehr als die drei baskischen Provinzen umfassen soll. Die Integration des Baskenlandes in den spanischen Staat beruht infolgedessen auf einer freien Assoziierung. Das Baskenland regelt seine Verhältnisse mit dem Gesamtstaat Spanien auf bilateraler Grundlage. Die Vorstellungen einer freien Assoziierung, des Selbstbestimmungsrechts, der Bilateralität zwischen dem Baskenland und Spanien usw. sind eigentlich eine Modernisierung der traditionellen Ideenwelt des baskischen Foralismus, die im baskischen Nationalismus des 21. Jahrhunderts fortbesteht und welche grundsätzlich auf der Idee des Abkommens, des Paktes beruht: Damals bestand ein Pakt zwischen den baskischen Territorien und dem König Kastiliens, heute besteht ein Pakt zwischen den baskischen und den spanischen Einrichtungen. Die Anrufung der Fueros spielte im Rahmen der spanischen Monarchie die gleiche Rolle wie z. B. die Anrufung des böhmischen Staatsrechts in Altösterreich. Die basnischen Proporz in Südtirol, die Regelung der Zugehörigkeit zum Sami-Volk in Finnland usw. Für eine Einführung in das vergleichende Verfassungsrecht der Minderheiten und Volksgruppen siehe Francesco Palermo/Jens Woelk, Diritto costituzionale comparato dei gruppi e delle minoranze, Padova 2008. Zwar anerkennt die Verfassung in Spanien ausdrücklich , dass Spanien aus Nationalitäten und Regionen zusammengesetzt ist (Art. 2 SpVerf ), aber es gibt keine verfassungsmäßige Bestimmung der Zugehörigkeit zu den einzelnen spanischen Nationalitäten: die Zugehörigkeit zu einer Nationalität steht im „rechtsfreien“ Raum; geregelt wird nur die Zugehörigkeit zu den Autonomen Gemeinschaften, die an die Einbürgerung in einer Gemeinde der jeweiligen Autonomen Gemeinschaft gekoppelt ist. Vom Schweigen der Verfassung wird von der herrschenden Lehre abgeleitet, dass die statutsmäßige Feststellung der Zugehörigkeit zu den einzelnen Nationalitäten verfassungswidrig ist. 81 „Das baskische Volk hat gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker das Recht, seine eigene Zukunft frei zu entscheiden [. . .]“; „Die Bürgerinnen und Bürger der Autonomen Gemeinschaft des Baskenlandes [. . .] erklären unseren Willen, einen neuen politischen Pakt über das Zusammenleben offi ziell zu gestalten“; „Jener politischer Pakt verwirklicht sich in einem neuen Verhältnismodell mit dem spanischen Staat, welches in der freien Assoziierung besteht und mit den Möglichkeiten vereinbar ist, einen zusammengesetzten, multinationalen und asymmetrischen Staat zu entwickeln“ (Übersetzung des Verf.). 82 „Die Bürgerinnen und Bürger, aus denen die baskischen Gebiete von Araba, Bizkaia und Gipuzkoa bestehen, als Bestandteile des baskischen Volkes oder Euskal Herria, in Ausübung des Rechtes, den Rahmen ihrer eigenen Organisation und ihrer politischen Beziehungen frei und demokratisch zu entscheiden, als Ausdruck der baskischen Nation und als Garantie ihrer Selbstständigkeit, konstituieren sich in einer mit dem spanischen Staat frei assoziierten baskischen Gemeinschaft mit der Bezeichnung Gemeinschaft Euskadi, in freier Solidarität mit den Völkern, aus denen der spanische Staat zusammengesetzt ist“ (Übersetzung des Verf.).

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kischen und navarrischen Fueros wurden erst nach zwei Bürgerkriegen 1876 abgeschafft, aber neuartige staatsrechtliche Differenzen wie die Finanzautonomie wurden unmittelbar danach als Ersatz eingeführt. In der Ideenwelt des Foralismus und zum Teil auch des modernen Nationalismus versteht sich das Baskenland als ein „altösterreichisches“ Kronland, das seine Identität und seine staatsrechtliche Sonderstellung innerhalb der spanischen Monarchie bewahren soll. Heute beansprucht es eine Aktualisierung der alten Fueros und verlangt vom spanischen Staat einen neuen Ausgleich, der entsprechend der Verfassung von 1978 die Rechtsform eines Autonomiestatuts haben, aber dem Inhalt nach eine befriedigende politische Akkommodation des Baskenlandes liefern soll.83 Es liegt auf der Hand, dass solche Ideen der spanischen Verfassungslehre entgegenstehen. Ein wichtiger Unterschied zum katalanischen Statut liegt in dem Umstand, dass der katalanische Vorentwurf drei Jahre lang von allen katalanischen Parteien und Gesellschaftssektoren vorbereitet, erarbeitet, diskutiert und ausgehandelt wurde, während der baskische Vorentwurf aus der Mitte der Baskischen Nationalistischen Partei (eigentlich aus der Umgebung des baskischen Ministerpräsidenten) stammte und unmittelbar von der baskischen Regierung angenommen und dem baskischen Parlament vorgelegt wurde. Am 30. Dezember 2004 wurde der Entwurf für ein neues Statut mit absoluter Mehrheit (39 zu 35) der Abgeordneten des baskischen Parlaments angenommen, aber mit Ablehnung der baskischen Sektionen der Sozialistischen Arbeiterpartei und der Volkspartei. Die spanischen Autonomen Gemeinschaften haben allerdings keine verfassungsgebende Gewalt: sie beschränken sich darauf einen Entwurf anzunehmen, der nachträglich im spanischen Parlament noch verhandelt und gebilligt werden muss. Der baskische Entwurf wurde vom spanischen Parlament ohne Verhandlung bei einer Gesamtabstimmung am 1. Februar 2005 zurückgewiesen. Die 2004 gewählte neue sozialistische Regierung hatte die Taktik der früheren konservativen Regierung zwar geändert, aber keineswegs ihre grundlegende Ablehnung des baskischen Reformvorschlages. 2003, als eine konservative Regierung im Amt war, hatte die Staatsanwaltschaft Klage gegen die Einleitung des Reformprozesses beim Verfassungsgericht eingelegt. Der antizipatorischen Klage gegen die Annahme des Vorentwurfes durch die baskische Regierung sowie gegen die Aufnahme des Vorentwurfes in den gesetzgebenden Prozess wurde nicht stattgegeben.84 Die sozialistische Regierung zog vor, das Verfassungsrecht nicht zu missbrauchen und 83 Zu den Hintergründen und den Schwierigkeiten der Verfassungskonformität des zurückgewiesenen baskischen Reformstatuts („Reformvorschlag eines Politischen Statuts für die Gemeinschaft des Baskenlandes“) siehe das vom Baskischen Institut für öffentliche Verwaltung herausgegebene Sammelwerk (IVAP, Estudios sobre la propuesta política para la convivencia del Lehendakari Ibarretxe, Oñati 2003) sowie die im Heft Nr. 28 der Zeitschrift „Cuadernos de Alzate“ (2003) und im Heft Nr. 12 der Zeitschrift „Civitas Europa: revue juridique sur l’evolution de la nation et de l’Etat en Europe“ (2004) enthaltenen facettenreichen Beiträge zum Vorentwurf der baskischen Regierung. Der Ansatz der zuerst genannten Veröffentlichung ist pluralistischer als bei den anderen, welche gegen den Reformvorschlag eingestellt sind, wobei sich viele ihrer Autoren überschneiden. 84 Beschluss (Auto) des Verfassungsgerichts vom 20. April 2004. Vgl. hierzu Joan Lluís Pérez Francesch, El Tribunal Constitucional ante la Ley de Partidos y el Plan Ibarretxe: ¿un episodio entre la „democracia militante“ y „el Estado preventivo de Derecho“, Estudios sobre la Constitución Española – Homenaje al Profesor Jordi Solé Tura, Bd 1, Madrid 2008, S. 825 ff.

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wartete darauf, dass der Entwurf erst im spanischen Parlament behandelt wurde. Theoretisch soll die Verhandlung im spanischen Parlament dazu dienen, den aus einer Autonomen Gemeinschaft kommenden Vorschlag zur Reform ihres Autonomiestatuts mit dem allgemeinen Interesse der spanischen Nation in Einklang zu bringen sowie mögliche Verfassungsverstöße wie verfassungspolitisch problematische Aspekte zu beseitigen. Der Standpunkt der Regierung im Bezug auf den baskischen Entwurf war es jedoch, dass es keinen Sinn hätte, einen Text zu verhandeln, welcher von Anfang bis Ende mit der Verfassung unvereinbar sei. Es ging jedoch nicht um die Frage, ob der Reformvorschlag an sich annehmbar war oder nicht, sondern ob ein für alle Seiten annehmbarer Text durch Verhandlung im Parlament hätte erreicht werden können. Eine Verhandlung im spanischen Parlament war es auch, die das Verfassungsrecht im jeden Fall anordnete. Diese Verhandlungen wären sicherlich sehr schwierig gewesen, aber ihr wurden noch nicht einmal eine Chance gegeben.85 Damit entstand ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis des spanischen Verfassungsstaates: Theoretisch dürfen nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts alle politischen Projekte mit demokratischen Mitteln verfolgt werden. Wenn ein politisches Projekt jedoch konkret vorliegt und es die Mehrheit der Stimmen der Teile der Gesellschaft hat, an welche er sich richtet, wird die Möglichkeit einer Verhandlung aber von Anfang an ausgeschlossen – und damit diesen Teilen der Gesellschaft die Möglichkeit des Durchsetzens ihrer Ziele mit demokratischen Mitteln genommen. Dies war der Frontalzusammenstoß zwischen zwei Geltungsansprüchen: dem Selbstbestimmungsrecht des Baskischen Volks einerseits und dem Verfassungsstaat andererseits, der vor allem die unauflösliche spanische Nation zu gewährleisten hat. Wie eine Seifenblase zerplatzte damit der umstrittene Reformentwurf, der zwei Jahre lang Schlagzeilen gemacht hatte, innerhalb eines kurzen Momentes.

2. Das baskische Gesetz zur Regelung und Einberufung einer Volksbefragung vom 27. Juni 2008 Der baskische Ministerpräsident Ibarretxe war allerdings unermüdlich. Drei Jahre später wagte er mit dem baskischen Gesetz zur Einberufung einer Volksbefragung eine neue Kraftprobe. Im Hintergrund des Gesetzes stand ein Angebot, das der baskische Ministerpräsident an den Präsidenten der spanischen Regierung Rodríguez Zapatero im September 2007 richtete, „auf der Grundlage des moralischen Prinzips des Verzichts auf Gewalt und des demokratischen Prinzips des Respekts für den Willen der baskischen Gesellschaft“ einen politischen Pakt auszuhandeln. Das Angebot sollte bis Juni 2008 dauern; sonst würde die Bevölkerung direkt befragt werden. 85 Auch Kritiker des Reformvorschlags erkennen an, dass es eigentlich wenig politische Bereitschaft zur Verhandlung gab. Vgl. Balaguer Callejón (Fn. 77), S. 608: „Sowohl wegen seiner Grundrichtung als auch der Reichweite seiner Vorschriften, erschien der Plan Ibarretxe als nicht annehmbar und er wäre auch seinen Bestimmungen durch das Parlament verabschiedet worden ohne dass sich ein bedeutender Bruch des Verfassungssystems ergeben hätte. Auf der anderen Seite wurde darüber nicht von Anfang an auf politischer Ebene verhandelt, weil es offensichtlich schwierig war, gemeinsame Formulierungen zu finden, die die größten Probleme der Verfassungsmäßigkeit lösen konnten, die der Plan aufzeigt“ (sic).

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Rodríguez Zapatero ließ jenes Angebot unbeachtet, ohne dabei viel Lärm um dieses Thema zu machen. Da der baskische Ministerpräsidenten Ibarretxe sein Wort verpfändet hatte, kam es zu einem baskischen Gesetz zur Regelung und Einberufung einer Volksbefragung. Der Gesetzesentwurf wurde zügig erarbeitet; ebenso rasch wurde das Gesetz mittels eines außerordentlichen, bloß aus einer Gesamtheitsabstimmung bestehenden Gesetzgebungsverfahrens vom baskischen Parlament verabschiedet. Die baskischen Sektionen der Sozialisten und der Volkspartei stimmten erneut gegen dieses Gesetz. Der Zweck der Volksbefragung lag darin, die Bevölkerung nach der Einleitung eines Verhandlungsprozesses zu fragen, der den Frieden und eine politische Normalisierung zum Ziel haben sollte.86 Das Gesetz regelte alles, um die Möglichkeiten der gesamtstaatlichen Institutionen, die Volksbefragung durch Rechtsmittel aufzuhalten, zu verringern: Das Gesetz ermächtigte zur Einberufung einer Volksbefragung und ordnete diese an, bestimmte den Stichtag der Volksbefragung und regelte alle Einzelheiten, einschließlich der zwei konkreten Fragen, die der Bevölkerung in der Volksbefragung gestellt werden sollten. Da alles gesetzlich geregelt war, konnte es verfassungsrechtlich nur durch Einreichen einer Klage vor dem Verfassungsgericht verhindert werden. Da die Einberufung einer Volksabstimmung verfassungsrechtlich ausdrücklich dem Staat vorbehalten ist, regelt das Gesetz nicht die Einberufung einer Volksabstimmung, sondern bloß eine unverbindliche Volksbefragung. Darüber hinaus widerspiegelte das Gesetz die gleichen Vorstellungen, auf denen auch der gescheiterte Statutsentwurf beruht hatte: das Recht des baskischen Volkes, seine Zukunft frei zu entscheiden; den Zweck, ein neues Modell im Verhältnis zwischen dem Staat und dem Baskenland zu erreichen, usw. Das Gesetz wurde am 27. Juni 2008 verabschiedet, aber erst am 15. Juli 2008 im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses war wahrscheinlich durch die Taktik bedingt, den gesamtstaatlichen Einrichtungen weniger Zeit vor der Sommerpause und vor dem Tag der Volksbefragung am 25. Oktober 2008 zu überlassen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass in Spanien das Verfassungsgericht ebenso wie die ordentlichen Gerichte im August in der Regel nicht arbeiten, es sei denn, einzelne Augusttage werden als rechtsgültig für gerichtliche Handlungen erklärt. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Gesetzes legten der Juristische Dienst des Staates im Namen des Präsidenten der Regierung und die parlamentarische Fraktion der Volkspartei im spanischen Parlament Verfassungsklagen gegen das Gesetz ein. In wenigen Wochen kam das Verfassungsgericht zu seinem Urteil, genau am 11. September. Wie erwartet erklärte das Verfassungsgericht das baskische Gesetz über die Volksbefragung für nicht verfassungsgemäß. Drei große Verfassungswidrigkeiten werden durch das Gesetz berührt: Erstens verstößt die Einberufung einer Volksbefragung 86 Das Gesetz bestimmte die zwei Fragen der Volksbefragung: „a) Sind Sie damit einverstanden Verhandlungen zu unterstützen, um der Gewalt ein Ende zu bereiten, wenn die ETA vorher unzweideutig ihren Willen erklärt, die Gewalt schließlich zu beenden?“; „b) Sind Sie damit einverstanden, dass die baskischen Parteien, ohne Ausnahme, zu verhandeln beginnen mit dem Zweck, ein demokratisches Abkommen über die Ausübung des Rechtes des Baskischen Volkes, frei zu entscheiden, zu schließen, und dass jenes Abkommen Gegenstand einer Volksabstimmung vor Ende des Jahres 2010 wird?“.

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kompetenzrechtlich gegen die ausschließliche staatliche Kompetenz (Art. 149 Abs. 1 Ziff. 32 sp. Verf ). Zweitens verstoßen die ausdrücklichen Voraussetzungen des Gesetzes – etwa, dass es das baskische Volk als Subjekt gebe, welches Träger des Rechts sei frei zu entscheiden und welches auch mit dem Staat den Rahmen eines neuen Verhältnisses verhandeln dürfte – materiell gegen die Verfassung: Die Identifizierung eines solchen Subjektes sei unmöglich ohne vorher die Verfassung zu reformieren, und Gegenstand der Volksbefragung seien grundlegende Fragen, die der verfassungsgebenden Gewalt vorbehalten sind. Drittens verstößt das benutzte außerordentliche Gesetzgebungsverfahren einer Gesamtheitsabstimmung gegen die Satzung des baskischen Parlaments, denn jenes Verfahren beschränkte die Rechte der politischen Minderheit.87 Somit kam es also zu einem erneuten Frontalzusammenstoß zwischen zwei Geltungsansprüchen: der verfassungsgebenden Gewalt der spanischen Nation einerseits und dem Recht der baskischen Bevölkerung frei zu entscheiden andererseits.

IV. Ausblick Die spanische Demokratie hat sich im untersuchten Zeitraum (2000–2009) weitgehende Elemente des Feindstrafrechts und der streitbaren Demokratie zu eigen gemacht. Diese Elemente bekämpfen die Tätigkeiten politischer Parteien und anderer Organisationen und deren Mitglieder, denen eine Nähe zur ETA summarisch unterstellt wird oder die die Gewalttaten der ETA nicht verdammen. Das Nebeneinander von Feindstrafrecht einerseits und streitbarer Demokratie andererseits vervielfacht die Möglichkeiten des Eingreifens in den Schutzbereich mehrerer mit der politischen Beteiligung verbundenen Grundrechte. Einige der Geschehnisse, die in diesem Schnelldurchlauf durch die Verfassungsentwicklung skizziert worden sind, wären ohne das gemeinsame Spiel zwischen den hegemonialen politischen Mehrheiten einerseits und der rechtssprechenden Gewalt andererseits nicht möglich gewesen. Spanische Richter geben den Bitten und den Erwartungen der Politiker zu rasch nach – worunter selbstverständlich die Unabhängigkeit der Richter und die Gewaltentrennung leiden. Das Verfassungsgericht ist auch nicht dazu in der Lage gewesen, sich selber aus jener Dynamik zu befreien. Es schien immer dazu bereit, seine Urteile zum politisch „richtigen“ Zeitpunkt zu liefern: seine Urteile zum Parteiengesetz und zum baskischen Gesetz über die Volksbefragung wurden in Rekordzeit gefällt, zeitgerecht jeweils vor den Kommunalwahlen 2003 und vor dem Stichtag der angeordneten

87 Urteil 103/2008 des Verfassungsgerichts. Siehe Iñaki Lasagabaster Herrarte, Consulta o Referéndum, Pamplona 2009; Alberto López Basaguren, Sobre referéndum y Comunidades Autónomas: la Ley vasca de la „consulta“ ante el Tribunal Constitucional (consideraciones sobre la STC 103/2008), Revista d’estudis autonòmics i federals, 9 (2009), S. 202 ff.; Javier Tajadura Tejada, Referéndum en el País Vasco, Teoría y Realidad Constitucional, 23 (2009), S. 363 ff. Vor dem Urteil hatte die an letzter Stelle genannte Zeitschrift eine Umfrage nach der Verfassungsmäßigkeit des baskischen Volksbefragungsgesetzes bei mehreren Verfassungsrechtlern durchgeführt: siehe Encuesta sobre la constitucionalidad del referéndum vasco, Teoría y Realidad Constitucional, 23 (2009), S. 15 ff.

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Volksbefragung 2008.88 Was die Glaubwürdigkeit des Verfassungsgerichts schließlich allerdings endgültig unterwandert hat, sind die Machenschaften der zwei hegemonialen Parteien, um die verfassungsgerichtliche Zusammensetzung und den Tenor des Urteils zum Autonomiestatut für Katalonien von 2006 zu kontrollieren. Die politische Konfrontation zwischen sozialistischer Regierung und konservativer Opposition war für die Tätigkeit des Verfassungsgerichts verhängnisvoll. Eine Reihe präzedenzloser Ablehnungen von Verfassungsrichtern wegen Befangenheit in verschiedenen Rechtssachen, von Versuchen, den Vorsitz des Verfassungsgerichts zu kontrollieren, und die Verweigerung der Volkspartei, für diejenigen Richter, deren Amtsperiode längst abgelaufen war oder die inzwischen verstorben waren, Neubesetzungen zu ermöglichen, hat das in zwei politische Richtungen und durch Stimmengleichheit gespaltene Verfassungsgericht gelähmt und die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des katalanischen Autonomiestatuts nicht nur in die Zukunft verschoben, sondern auch die Möglichkeit erheblich erschwert, eine nach allen Richtungen juristisch vertretbare Verfassungsauslegung zu fi nden. Die erläuterten Verfassungsentwicklungen im oder in Bezug auf das Baskenland zeigen darüber hinaus die allseitigen Versuche, die Verfassung auf die eigene Seite zu bringen und/oder mit ihrer Hilfe die andere Seite zu schlagen. Die gezeigten Strategien sollten allerdings nicht gleichgesetzt werden: Während einige einen anpassungsfähigen Konstitutionalismus oder sogar einen politischen Wandel befürworten, greifen die anderen weitreichend auf das Strafrecht und Elemente der streitbaren Demokratie zurück, um bestimmte politische Kräfte aus dem Spiel zu nehmen. Letzteres können nur die hegemonischen Parteien tun wenn sie zu einem Thema einen gemeinsamen Standpunkt entwickeln; den anderen politischen Kräften und insbesondere den peripheren nationalistischen Parteien bleibt allein der Weg des nützlichen oder anpassungsfähigen Konstitutionalismus, weil sie den Willen zur Verfassung haben mögen, sie aber nicht über die notwendige Macht verfügen. Grundlegende Funktionen einer normativen Verfassung, wie der Schutz der Minderheiten und der Garantie der Grundrechte und des territorialen Pluralismus, werden somit erodiert. Verfassungspolitisch könnte sich die Lage jedoch möglicherweise auf kurze Frist verbessern. Es gibt einige Faktoren, die die angedeutete politische Konfrontation mildern könnten: a) Die beiden Amtsperioden der Rodríguez Zapatero-Regierung (2004–2008, 2008–2012) sind durch eine zweideutige Haltung in Sachen „Politik im Baskenland“ gekennzeichnet. Sie hat einerseits eine gewisse Entspannung in die gesamtstaatliche Politik gebracht. Der Regierungsstil hat sich völlig geändert. Rodríguez Zapatero hat die Vorstellungen des Verfassungspatriotismus beseitigt; er nährt sich eher aus den Philip Petit’schen republikanischen Anschauungen. Die fi xe Idee der Volkspartei der Wiedereroberung des Staatsgebiets für die spanische Nation und die Gleichsetzung (peripherischer) Nationalismen mit Gewalt scheinen eher vorbei zu sein. Die fragwürdigen Strafvorschriften zur Kriminalisierung von politisch motiviertem Verhalten wie der gesetzeswidrigen Anordnung einer Volksbefragung wurden aufgehoben. Die Sozialistische Arbeiterpartei hat allerdings nur jene Elemente des Feindstraf88 Das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle dauert am spanischen Verfassungsgericht in der Regel nicht weniger als sieben Jahre. Kritisch hierzu Montilla (Fn. 49), S. 560 f.

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rechts aufgehoben, die einseitig von der Volkspartei und ohne ihre Zustimmung eingeführt wurden. Die anderen Elemente des Feindstrafrechts und der streitbaren Demokratie wurden beibehalten. So hat die sozialistische Regierung die Anwendung des Parteiengesetzes bezüglich mehrerer Nachfolgeparteien bzw. -wählervereine beantragt. Immerhin hat es Rodríguez Zapatero gewagt, sich auf einen Friedensprozess einzulassen – ein Versuch, der trotz seines Scheiterns mit dem Ende der Waffenruhe im Dezember 2006 von der Mehrheit der baskischen Bevölkerung hoch geschätzt wurde.89 Andererseits hat Rodríguez Zapatero die von der Mehrheit der baskischen Bevölkerung befürwortete Regierung – nämlich eine Koalitionsregierung zwischen Sozialisten und Nationalisten – nicht gewünscht, und den Sturz der Baskischen Nationalistischen Partei (PNV) von der baskischen Regierung mit Hilfe der Volkspartei unterstützt.90 Als in den regionalen Wahlen vom Mai 2009 ein Teil der Wähler nicht für die von ihren gewünschte politische Option stimmen durften, enthielten sie sich ihrer Stimme. Dies half den baskischen Sektionen der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens und der Volkspartei, zusammen die Mehrheit der Stimmen zu erlangen. Die Sozialisten hätten sich im Anschluss sowohl mit den Nationalisten wie mit den Konservativen auf eine Regierungskoalition oder eine andere Art der Unterstützung einigen können. Die Volkspartei gab den Sozialisten ihre parlamentarische Unterstützung, um eine nicht-nationalistische Regierung bilden zu können, nachdem die gemäßigten Nationalisten der PNV dreißig Jahre im Amt gewesen waren. Damit wurde das durch die harten Jahre der Konfrontation angestrebte Ziel erreicht: Sozialisten und Konservative katapultierten die PNV, die den größten Anteil der Stimmen erhalten hatte, von der baskischen Regierung. Es muss unterstrichen werden, dass Sozialisten und Konservative ihre ansonsten vorherrschende gesamtstaatliche starke Konfrontation im Baskenland und in Navarra damit ausgesetzt haben: Hier sei die Staatsräson stärker als der Machtwille. In Navarra unterstützen die Sozialisten seit 2007 eine konservative Regierung, die nicht die Mehrheit der Stimmen hat. Im Baskenland unterstützen die Konservativen die sozialistische Regierung, auch wenn die PNV die Wahlen gewonnen hat, und dank der Tatsache, dass die Staatsregierung erfolgreich das Verbot der Partei der radikalsten Nationalisten beantragt hatte. Die von den Sozialisten und der Volkspartei zusammen getragene Katapultierung der PNV aus der baskischen Regierung scheint die Politik der zwei Blöcke (dem sog. verfassungsmäßigen und dem sog. nationalistischen Block) weiter zu verstärken. Das ist jedoch eine andere Frage, die auch anders bewertet werden sollte. Wie vor 2000 verläuft auch heute die grundlegende verfassungsmäßige Trennlinie zwischen De89

Am 30. Dezember 2006 ließ die ETA zweihundert Kilo Sprengstoff im Flughafen Madrid explodieren; zwei Personen wurden getötet. Die ETA deklarierte das Ende der Waffenruhe förmlich erst durch eine Mitteilung vom 5. Juni 2007. 90 Nach einer hoch geschätzten periodischen soziologischen Studie („Euskobarómetro“) vom November 2009 setzten 71% der Bewohner der AG Baskenland wenig oder kein Vertrauen in die neue sozialistische baskische Regierung. Zwei Drittel (65%) der Bürger waren gegen die Vereinbarung zwischen den Sozialisten und der Volkspartei, die der sozialistischen Regierung parlamentarische Stabilität geben soll. Alle periodische Berichte sind einsehbar unter folgendem Link: http://www.ehu.es/euskobarometro/.

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mokratie und Terrorgewalt, nicht zwischen Verfassungspatriotismus und (peripherem) Nationalismus. b) Alle großen Verfahren und Rechtssachen, die hier skizziert wurden, haben 2009/2010 ein Ende erreicht. In einigen Rechtssachen sind die spanischen Einrichtungen erfolgreich gewesen und als Siegerparteien aus dem Verfahren hervorgegangen. Dies gilt etwa für den Fall des Parteiengesetzes bzw. des Parteienverbots. Das EGMR hat die spanische Variante der streitbaren Demokratie für mit der EMRK vereinbar gehalten. In anderen Fällen wurden die Angeklagten oder ein Teil davon frei gesprochen. Selbstverständlich haben die Schließung eines Kommunikationsmediums bzw. die strafrechtliche Auflösung einer Rechtsperson und die Beschlagnahme ihres Vermögens schwerwiegende Folgen für mehrere Grundrechte gehabt, die allein mittels eines Freispruches nicht kompensiert werden können. Aber im Grunde genommen sollte das Ende der hier erläuterten Rechtssachen eher zur Entspannung beitragen. Das Ergebnis mag insbesondere für die baskischen Nationalisten nicht angenehm sein, aber eine verfassungspolitisch kluge Strategie darf es auch nicht ignorieren. c) Das Thema der Akkommodation des Baskenlands hat keine endgültige Lösung gefunden. Aus dem jüngst gefällten Urteil des Verfassungsgerichts91 zum Autonomiestatut Kataloniens ergibt sich, dass eine Verfassungsreform in jedem Fall notwendig ist, um den spanischen Autonomiestaat als einen multinationalen Staat zu entwickeln. Das politische Statut für die Gemeinschaft von Euskadi von 2004 gilt bei einem guten Teil der baskischen Bevölkerung auch heute noch als Ausgangsbasis, um eine gesunde und ertragreiche Diskussion über die Akkommodation des Baskenlandes zu eröffnen.92 Erst nach dem Ende der ETA-Gewalt kann allerdings eine echte politische und gesellschaftliche Normalisierung im Baskenland entstehen. Jenes Ende scheint nun näher als nie zuvor zu sein.93 Bezüglich der Hauptfrage, nämlich der Akkommodation nationaler Gemeinschaften im Verfassungsstaat, möchte ich somit abschließend folgende Thesen formulieren: – Der Regionalismus bzw. der Föderalismus ist nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen als Organisationsprinzip für einen multinationalen Staat ausreichend geeignet.94

91 Urteil 31/2010 vom 28. Juni 2010. Dabei wurden vierzehn Vorschriften des neuen Autonomiestatuts für verfassungswidrig erklärt und sechsundzwanzig Vorschriften einer verfassungskonformen Auslegung unterworfen. 92 Vgl. dazu Iñaki Agirreazkuenaga, Constitución y Estatuto: una reflexión sobre el futuro del País Vasco, in El Estado autonómico (= Actas de las XI Jornadas de la Asociación de Letrados del Tribunal Constitucional), Madrid 2006, S. 13 ff. 93 Anfang September 2010 deklarierte die ETA eine neue Waffenruhe. 94 Zur empirischen Widerlegung von Befürchtungen und Einwänden (Instabilität, Intoleranz, Vorstufe zur Sezession usw.), die der Gedanke von asymmetrischen föderalen und regionalen Staatsorganisationen zu veranlassen pflegt, siehe John McGarry, Asymmetrical Federalism and the Plurinational State, Brüssel 2005 (= Position paper for the 3rd International conference on Federalism, Brussels, 3–5 March 2005, working draft paper). Vgl. auch das „eiserne Gesetz“ von Brendan O’Leary betreffend das Verhältnis zwischen Nationalismus und Föderalismus: „a democratic federation without a clear Staatsvolk must adopt (some) consociational practices if it is to survive“ (An iron law of nationalism and federation?, Nations and Nationalism, 3, 2001, S. 291).

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– Nationale Gemeinschaften wie das Baskenland fi nden sich nicht mit dem bloßen Status einer spanischen Region oder mit dem eines Gliedstaates ab. Im Bezug auf das Baskenland sind asymmetrische Elemente unvermeidlich, wenn man den nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen will.95 Im Europa des 21. Jahrhunderts gilt der Rat Wilhelm von Humboldts nach wie vor. Man sollte mehr daran denken, das Gute zu benutzen, das die Eigentümlichkeit mit sich führt, als nur die Schwierigkeiten hinwegzuräumen, welche die Verschiedenheit entgegengesetzt.

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Siehe hierzu meine Arbeiten: Xabier Arzoz, Spanien – die geschichtlichen Autonomien der Basken, Galizier und Katalanen als Beispiel eines multinationalen „Quasi-Föderalismus“ im Einheitsstaat, in Christoph Pan/Beate Sybille Pfeil (Hrsg.), Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa, Wien 2006, S. 362 ff.; und Arzoz (Fn. 24 und 76).

Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie? Versuch einer Darstellung der Metabereichsanalyse von

Osman Can* I. Einführung** Die Türkische Republik nimmt schon seit Langem für sich in Anspruch, sich aus den Trümmern einer morgenländischen Kultur zu einem säkularen und modernen Staat entwickelt zu haben. Wie fragil sie auf diesem Weg aber noch immer ist, zeigt sich an den politischen und juristischen Erschütterungen der Jahre 2007 und 2008, in denen sich die gesellschaftlichen Spannungen des – nicht zuletzt durch den EUBeitrittsprozess – unter Modernisierungsdruck stehenden Landes entluden. Markanter Ausgangspunkt der aktuellen Entwicklungen war eine Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts vom 1. 5. 2007. Nach einer im Internet veröffentlichten Putschdrohung1 des Generalstabs hinderte das Verfassungsgericht das Parla*

Der Verfasser arbeitet als berichterstattender Richter am Verfassungsgericht der Türkei. Er ist Privatdozent an der Universität TOBB Ankara, Mitgründer und Türkei-Koordinator des 2002 gegründeten Deutsch-Türkischen Staatsrechtlerforums und Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Richter- und Staatsanwälte für Demokratie und Freiheit. Die im Text vertretenen Ansichten entsprechen ausschließlich denjenigen des Verfassers und binden das türkische Verfassungsgericht in keiner Weise. ** Abkürzungen: PVV: Parteiverbotsverfahren; DS: Registerbezeichnung aller Anträge außerhalb der Anullierungsklagen und Parteiverbotsverfahren; PPG: Gesetz über die Politische Parteien; tStPG: Türkisches Strafprozeßgesetz; TVGG: Türkisches Verfassungsgerichtsgesetz; TV: Türkische Verfassung; Rs: Rechtssache; Ents: Entscheidungsnummer; EP: Emek Partisi (Fleißpartei); MP: Muhafazakar Parti (Konservative Partei); RP: Refah Partisi (Wohlfahrtspartei); FP: Fazilet Partisi (Tugendpartei); DBHP: Demokratik Barıs¸ Hareketi Partisi (Partei der demokratischen Friedensbewegung); DKP: Demokratik Kitle Partisi (Demokratische Massenpartei); HADEP: Halkyn Demokrasy Partisi (Demokratische Partei des Volkes); HAKPAR: Haklar ve Özgürlükler Partisi (Partei der Rechte und Freiheiten); AKP: Adalet ve Kalkynma Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei); HP: Huzur Partisi (Friedenspartei); SP: Sosyalist Parti (Sozialistische Partei); HEP: Halkyn Emek Partisi (Fleißpartei des Volkes); DDP: Demokrasi ve Deg˘ is¸im Partisi (Demokratie- und Wandlungspartei); DYP: Dodru Yol Partisi (Partei des Rechten Weges); MHP: Milliyetçi Hareket Partisi (Nationalistische Bewegungspartei). 1 Die sogenannte „Mitternachtsmemorandum“ von der Militärführung am 27. April 2007.

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ment mit einer mit juristischen Methoden schwer nachvollziehbaren Begründung daran, mit der dafür in der Verfassung vorgesehenen Mehrheit den Staatspräsidenten zu wählen, und beschwor damit eine politische Krise herauf. Die Politik reagierte einerseits mit vorgezogenen Parlamentswahlen und andererseits mit der Einleitung einer Verfassungsänderung, wonach der Staatspräsident künftig unmittelbar vom Volke gewählt werden sollte.2 Zur Überraschung vieler wurde diese Verfassungsänderung, vielleicht angesichts eindeutiger Zustimmungsraten in der Gesellschaft und des Fehlens einer erneuten Putschdrohung seitens der Militärführung, vom Verfassungsgericht nicht annulliert. Aus der nachfolgenden Parlamentswahl ging die Regierungspartei AKP mit einer Stimmenmehrheit von fast 47 % als eindeutiger Sieger hervor. Die Verfassungsänderung wurde durch die Volksabstimmung am 21. 10. 2007 mit einer Mehrheit von fast 70 % bestätigt und trat am 31. 10. 2007 in Kraft. Die neue Regierung sprach sich im Sommer 2007 für die Erarbeitung einer liberalen, zivilen und ideologiefreien Verfassung aus3, was von der EU begrüßt wurde. Eine aus bekannten Verfassungsrechtlern besetzte Kommission legte der Regierung einen entsprechenden Entwurf vor. Das weitere Vorhaben scheiterte indes, nicht nur an den Widerstand einer „Koalition“ aus der Oppositionspartei CHP, den hohen Richtern, den Universitäten und dem Militär.4 Es fehlte auch am Willen der Regierungspartei selbst, an diesem Entwurf festzuhalten. Dies wurde sichtbar, als die Regierung auf das Angebot der zweiten Oppositionspartei (MHP) einging, statt einer umfassenden Verfassungsreform zunächst nur das durch die Rechtsprechung de facto erlassene Kopftuchverbot durch eine punktuelle Verfassungsänderung zu beseitigen. Die Verfassungsänderung erfolgt mit 411 von 518 Stimmen, was einer Gesellschaftsmehrheit von fast 80 % entsprach.5 Der Verfassungsentwurf war damit auf Eis gelegt. Gemessen an den Folgen erwies sich dies als ein fataler Fehler der Regierungspartei. Auf Antrag der CHP annullierte das Verfassungsgericht die Verfassungsänderung

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Gesetz vom 31. 5. 2007, Nr. 5678. Dieser Verfassungsentwurf wurde vom Verfasser als unzureichend kritisiert, da er die Systematik der gültigen, vom Militär oktroyierten Verfassung als Basis genommen und insbesondere deren Eigenschaft als Legitimitätsgrundlage für die Bevormundung der Politik durch das Militär unangetastet gelassen hatte. Ohne ohne einen Paradigmenwechsel im System sollte man ihn nicht als „zivil“ und „liberal“ bezeichnen. Siehe dazu Osman Can, Demokrasiye Geçis¸te „Sivil“ Anayasa ya da „Gül“ün Yalnizca Adı mı Deg˘’ı¸siyor? („Zivile“ Verfassung in Übergang zur Demokratie oder ändert sich nur der Name der „Rose“?), ABD 65/3 (2007), S. 35–47. 4 Diese Koalition ist eine historische, deren Zusammenschluss man bei dem Militärputsch von 1960, dem so genannten „postmodernen Putsch“ von 1997 und zuletzt nach dem Beginn der Demokratiereformen ab 2003 immer wieder beobachten konnte. Noch konkreter kommt sie immer dann zum Vorschein, wenn Bemühungen sichtbar werden, den ideologischen Charakter der Verfassung, die militärische Vorherrschaft oder elitäre Machtstrukturen in Frage zu stellen. 5 Dafür wurden zwei Artikel geändert (Gesetz-Nr. 5735, vom 9. 2. 2008). Der Gleichheitssatz Art. 10 TV wurde dahin geändert, dass die Staatsorgane und Verwaltungsbehörden . . . „im Hinblick auf die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen aller Art“ gemäß dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zu handeln haben. In Art. 42 wurde einen Absatz eingeführt, wonach „niemand seines Rechts auf Hochschulbildung ohne ausdrückliche Regelung im Gesetz beraubt werden darf. Die Grenzen des Gebrauchs dieses Rechts werden durch Gesetz geregelt.“ Dass damit u. a. die Kopftuchfrage gelöst werden sollte, ergab sich nur aus der Begründung. 3

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mit Beschluss vom 5. 6. 2008,6 unter erneuter Inkaufnahme eines defi nitiven Verfassungsbruchs.7 Das Verfassungsgericht ließ ferner eine von der Generalstaatanwaltschaft angestrebte Verbotsklage gegen die Regierungspartei AKP trotz massiver prozessualer Fehler zu.8 Der AKP wurde darin hauptsächlich vorgeworfen, den laizistischen Charakter des Staates zu beseitigen und ihn in einem Scharia-Staat umzuwandeln.9 Das Verfassungsgericht schloss sich allerdings nur dem Vorwurf an, wonach die Partei die Religion in ihrem politischen Gebaren instrumentalisiert und (nur) in diesem Sinne gegen das Laizismusprinzip verstoßen habe. Die AKP wurde lediglich mit einer erheblichen Geldstrafe belegt. Grundlage für diese Verurteilung war der in Art. 24, Abs. 5 TV verankerte Missbrauch religiöser Gefühle. Dies genügte für ein Verbot nicht. Das Laizismusprinzip war auch vor dem AKP-Verbotsverfahren bereits mehrfach als Grundlage für Parteiverbote herangezogen worden. Doch in der Begründung der AKP-Entscheidung wurde darauf hingewiesen, dass es keine Anhaltspunkte für die Beseitigung der laizistischen Ordnung durch die Partei gegeben10 und die Partei eine Demokratisierung westlicher Prägung betreiben hat.11

6 Bei der Bekanntgabe der Annullierung wurde zunächst darauf hingewiesen, dass der Verfassungsänderung als Verstoß gegen die Ewigkeitsgarantien, nämlich gegen das Laizismusprinzip verstanden würde. Aber der Entscheidungsbegründung gibt dafür sehr wenig Anhaltspunkte. Denn als alleiniger Grund wurde angeführt, dass die Verfassungsänderungen den Charakter hätten, eine Frage des Freiheitsgebrauchs (so wurde das Kopftuchtragen ausdrücklich im Text beschrieben!) in der Weise zu lösen, wodurch eine religiöse Frage zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird. 7 Denn Art. 148, Abs. 2 TV beschränkt die Zuständigkeit des Gerichts bei der Verfassungsänderungen auf die Kontrolle, ob der Antragsmehrheit, Entscheidungsmehrheit und dem Verbot des Eilverfahrens entsprochen wurde. Die Vorschläge über Prüfungsrecht auch auf Konformität mit unabänderbaren Artikeln, ja sogar darauf, ob die Bestimmung über die Regierungsform als Republik geändert werden, wurde während der Beratungen in der konstituierenden Versammlung bewusst abgelehnt. Siehe DMTD, C. 10, S. 185,192–193. Diese Haltung des Verfassungsgebers war eine bewusste Reaktion auf die Usurpationen durch das Gericht in den 70er Jahren, die den Weg zur Verfassungsänderung aufgrund der anmaßenden Überprüfung in der Sache unmöglich machte. Dazu statt vieler Erdal Onar, 1982 Anayasasında Anayasayı Deg˘ is¸tirme Sorunu (Problem der Verfassungsänderung in TV82), Ankara 1993, S. 149; Nemci Yüzbas¸ıog˘lu, Türk Anayasa Yargısında Anayasallık Bloku (Block der Verfassungsmäßigkeit in der Türkischen Verfassungsgerichtsbarkeit), ˙Istanbul 1993, S. 260; Ergun Özbudun, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 9. Bası, Ankara 2008, S. 176; Osman Can, Anayasayı ˙ ktidarı ve Sınırları (Pouvoir Constituant und seine Grenzen), SBFD 62/3 (2007), S. 119. Deg˘ is¸tirme Y Zu Beginn der Usurpation des pouvoir constituant durch das Gericht in den 70er Jahren s. Ernst E. Hirsch, Verfassungswidrige Verfassungsänderung – Zu zwei Entscheidungen de Türkischen Verfassungsgerichts, AöR 98 (1973), S. 53–70. 8 Dies wurde später in der Entscheidungsbegründung anerkannt und zugunsten der Partei interpretiert. Siehe insbesondere die Ausführungen unter den Überschriften „Ön Sorunlar ve Usule ˙Ilis¸kin Deg˘ erlendirmeler (Vorfragen und prozessrelevante Feststellungen) und „Delillerin Deg˘erlendrilmes“ (Beweiswürdigung). 9 Aus dem Aktenzeichen für das Verbotsantrag „SP 115 Hz.2002/3“ geht hervor, dass die Generalstaatsanwaltschaft mit der Vorbereitung für den Verbotsantrag gegen die Partei bereits einige Monaten nach ihrer Gründung angefangen hat. Die AKP wurde im August 2001 gegründet und „Hz. 2002/3“ ist das Kürzel für die „Vorbereitung 3 in 2002“. 10 So die einstimmige Feststellung in der Begründung. Dass 6 Richter in ihrer abweichenden Meinung nachher eine konträre Position genommen haben, ist noch erklärungsbedürftig. 11 So die Begründung der 5 Richter, deren Stimmen für die Entscheidung maßgeblich waren.

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II. Parteiverbote: Keine Seltenheit Der türkische Laizismus ist jedoch nur ein Aspekt der Parteiverbotsklagen in der Türkei. Seit der Wahl von 22. Juli 2007 ist zum zweiten Mal eine pro-kurdische Partei im Parlament vertreten. Auch diese politische Richtung wurde wiederholt angeklagt, seit dem sie die politische Bühne der Türkei betrat. Nicht nur wegen ihrer Kurdenpolitik, sondern wegen ihrer ideologischen Ausrichtung wurden ferner auch sozialistische Parteien verboten. Insgesamt wurden seit 1925 in der Türkei während der Einparteidiktatur durch Kabinettsbeschlüsse, während der militärischen Staatsstreiche durch militärische Anordnung, oder seit der Einführung der Verfassung von 1961 durch Entscheidung des Verfassungsgerichts mehr als 60 Parteien verboten. Bis auf CHP wurden alle von der türkischen Gesellschaft hervorgebrachten Parteien damit irgendwann vom Staat als „verfassungsfeindlich“ eingestuft. Keine dieser Parteien wurde jedoch wegen des Versuchs der Beseitigung der „freiheitlichen Demokratie“ verboten. Darauf wird später zurückzukommen sein. Man muss daher fragen, welchen Sinn die Parteiverbotsklagen in der Türkei haben. Ernst E. Hirsch, einem der wichtigstem Zeitzeugen der türkischen Verfassungsentwicklungen, stellte hinsichtlich der Türkei fest, dass Verfassungen gelten, selbst wenn sie durch einen Volksentscheid sanktioniert sind, zwar als Ausflusses des Willens des Souveräns als des Inhabers der Staatsgewalt. De facto waren sie aber immer ein Ergebnis jener Kräfte, die die Macht hatten, ihre Vorstellungen und Ziele hinsichtlich der Gestaltung des Gemeinwesens praktisch durchzusetzen.12 Dass die von solchen Verfassungen geschaffenen Institutionen wie die Parteiverbotsverfahren im Wesentlichen der Perpetuierung dieser Macht dienen, ist nicht nur eine theoretische Unterstellung. Historisch-soziologische Erkenntnisse in der Türkei legen vielmehr den Schluss nahe, dass die Parteiverbotsklagen und darauf hin ergangene Entscheidungen in der Vergangenheit regelmäßig nicht als Akte zum Schutze der Demokratie ergingen, sondern als Akte zum Schutze einer Machtstruktur ohne demokratische Legitimation zu verstehen waren.13 Das Problem der Parteiverbote ist in der Türkei jedenfalls kein rein juristisches, sondern ein höchstpolitisches. Die Grundlagen für diese Verwischung der Maßstäbe liegen weit in der Vergangenheit, nämlich in der letzten Phase des Osmanischen Reiches und in den Gründungsjahren der Republik.

12 Ernst E. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik von 9. November 1982, Eine Einführung, JöR Bd. 32, S. 509. 13 Statt vieler, Ceren Belge, Friends of the Court: The Republican Alliance and Selective Activism of the Constitutional Court of Turkey, in: Law & Society Review, Volume 40, Number 3 (2006), S. 653–692, besonders S. 667; Zühtü Arslan, Confl icting Paradigms: Politics of Turkey’s Constitutional Court, 11 Critique: Critical Middle Eastern Studies, 9–25; Mehmet Turhan, Deg˘ is¸en Egemenlik Anlayısıynın Hak ve Özgürlüklerin Korunmasına Etkileri ve Türk Anayasa Mahkemesi (Die Auswirkungen des wandelnden Souveränitätsverständnisses auf den Schutz der Grundrechte- und Freiheiten und das Türkische Verfassungsgericht), in: Anayasa Yargısı 20 (2003), S. 215–248; vgl. Artun Ünsal, Siyaset ve Anayasa Mahkemesi, Siyasal Sistem Teorisi Açısından Türk Anayasa Mahkemesi (Politik und das Verfassungsgericht: Das Türkische Verfassungsgericht aus der Perspektive der „Systemtheorie“), Ankara 1980.

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III. Historische Grundlagen der juristischen Verhaltensmuster Die Türkei verfügt seit 1876 über eine schriftliche Verfassung und hatte bis heute insgesamt fünf Verfassungen,14 von denen nur diejenige mit dem kürzesten Text, die während des Befreiungskriegs von 1921 bis 1924 galt, von einer relativ demokratisch legitimierten Volksversammlung in freiem Wille angenommen und verabschiedet wurde. Der demokratische Prozess begann durch die Einführung von Kommunalwahlen bereits nach dem Tanzimat-Dekret (Gülhane Hatt-i Humayunu) im Jahre 1839.15 Erst nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 1876 (Kanun-u Esasi), welche die Etablierung eines Parlaments (Meclis-i Mebusan) vorsah, fanden in der Türkei allerdings erstmals Parlamentswahlen statt. Das neue System der konstitutionellen Monarchie war ein Produkt der neu aufsteigenden Klasse der Funktionäre, nämlich der Bürokratie, die sich dazu berufen fühlte, das Schicksal des „kranken Mannes am Bosporus“ zu ändern und ihn zu einem stabilen und gleichberechtigten Staat Europas zu machen. Im Jahre 1908 kam die Partei der Jungtürken, die Einheits- und Fortschrittspartei (Ittihat ve Terakki Cemiyeti, später ITC), eine Partei von jungen nationalistischen Offizieren und einer zum Teil ethno-zentrisch gesinnten Elite an die Macht. Nach den Verfassungsänderungen in 1909, welche den Staat zu einer parlamentarisch-konstitutionellen Monarchie nach europäischem Vorbild machten, bekamen politische Parteien die verfassungsrechtliche Stellung der Vereine. Neben der Partei der Jungtürken wurden liberale, sozialistische und diverse radikale politische Parteien gegründet. Doch nach dem Putsch von der immer stärker militärisch und nationalistisch organisierten ITC im Jahre 1913 wurden alle politischen Parteien verboten, oppositionelle Medien geschlossen und Intellektuelle vertrieben – eine sich in 20. Jh. wiederholende Praxis. Die ITC blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges an der Macht. Während dieser Zeit verstand sie sich als Gründer eines nationalistisch-revolutionären Systems, betrieb eine ethnische Säuberung, Befreiung der Wirtschaft von den Ausländern und den Nicht-Turken, und eine Modernisierung nach dem Vorbild der im damaligen Europa aufsteigenden Staaten wie des Wilhelminischen Deutschlands. Gegen Ende des Krieges wurden viele Funktionäre der Partei und Berufssoldaten nach Anatolien gesendet, um dort eine nationale Befreiungsbewegung im Gang zu setzen. Nach der endgültigen Niederlage des Reiches mussten die für den Krieg verantwortlichen Paschas das Land verlassen,16 während die übrigen Funktionäre der Partei in Anatolien die Milizen organisierten und den Anstoß für den Befreiungskrieg gegen die Alliierten gaben.17 Die Tatsache, dass die Republikgründer Mitglieder und wichtige Persönlichkeiten der ITC waren, ist auch Grund dafür, warum die ideologische und organisatorische 14 Für die ausführlichen Informationen über die Verfassungsgeschichte der Türkei siehe Christian Rumpf, Das Türkische Verfassungssystem, Wiesbaden 1996. 15 Mehmet Ö. Alkan, Türkiye’de Seçim Sistemi Tercihinin Misyon Boyutu ve Demokratik Geliime Etkileri (Missionsdimension bei der Auswahl der Wahlsysteme und Ihre Auswirkungen auf demokratische Entwicklung der Türkei), Anayasa Yargysy 23 (2006), S. 138. 16 Kurz vor dem Kriegsende verließen sie mit Hilfe eines deutschen U-Boots das Reich. 17 Erik J. Zürcher, Terakkiperver Cumhuriyet Fırkası (Progressive Republikspartei), I·stanbul 1992, S. 23 ff.

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Struktur der jungen Republik sich kaum von der Vorstellung der ITC unterschied. Die 1923 gegründete Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, später CHP) verstand sich ebenso wie ihre Vorgängerin als Staatspartei.18 Sie regierte das Land ohne Unterbrechung bis 1950 und drückte dem Staat und seiner Verfassung ihre Überzeugungen auf. Ihre ideologischen Grundzüge wurden durch Verfassungsänderungen zu Staatsprinzipien gemacht.19 Das System der Gewalteneinheit20 ermöglichte es der Partei, alle Staatsgewalten zu kontrollieren und zu lenken. Die strikte Ablehnung der sozialen Klassen 21 und die korporatistische Strukturierung der Gesellschaft wurden zu den Idealen, die in späteren Verfassungen unter dem Deckmantel des „Pluralismus“ weitergeführt wurden.22 Zwei Jahre nach der Gründung der Republik wurde die erste demokratische, antiautoritär und im Wesentlichen liberal gesinnte23 Progressive Republikanische Partei (Terakkiperver Cumhuriyet Firkasi) durch einen Kabinettsbeschluss verboten.24 Das war der Beginn der Etablierung des Einparteiregimes in der Türkei.25 Demokratische und regionalistische Tendenzen wurden unterdrückt. Eine zunächst von der Staatspartei gebilligte Partei (Serbest Cumhuriyet Firkasy) musste sich kurz nach ihrer Gründung auflösen, da sie einen unerwartet starken Zulauf aus der Bevölkerung erfuhr. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges wurde keine weitere Partei zugelassen. 18

Erik J. Zürcher, Turkey – A Modern History, I. B.Tauris, London-New York 2004, S. 177. Nach den Verfassungsänderungen von 5. 2. 1937, Gesetzes-Nr. 3115 wurde die Türkei zu einem republikanischen, nationalistischen, populistischen, etatistischen, laizistischen und revolutionären Staat gemacht. Diese Änderung war ein Erfolg der nach dem Tod Atatürks den Staat kontrollierenden radikalen Flügel der Partei, in der Parteigeneralsekretär, Ministerpräsident und Innenminister Recep Peker, bekannt für seine Vorstellung eines faschistischen Staates, eine führende Rolle spielte und der Partei ihren ideologischen Charakter gab. Diese Prinzipien wurden später von der Partei und Militär als „Prinzipien Atatürks“ gesegnet und in den Verfassungen, Gesetzen und in zahlreichen Rechtsdokumenten als unantastbares und unabänderbares Gehalt festgelegt. Rumpf stellt fest, diese Ideologie in ihrer Rigidität bei näherem Hinnsehen eher an Verfassungen sozialistischer Staaten erinnerte. S. Christian Rumpf, Wo steht die türkische Verfassung, in: Festschrift für Ali Ülkü Azrak zum 75. Geburtstag, Hrsg. von Sayhan/Karlikli, Istanbul 2008, S. 282. 20 Art. 4 TV24: „Alleinige und wirkliche Repräsentantin der Nation ist die Türkische Große Nationalversammlung. Sie übt die Staatsgewalt im Namen der Nation aus.“ 21 Der Slogan „Sınıfsız, ayrıcalıksız kaynas¸mıs¸ kitle“ (Klassenlose, privilegfreie, verschmolzene Masse) war der Herzstück einer bei den autoritären/oligarchischen Eliten und Parteien sehr beliebten Nationalhymne „10. Yıl Mars¸ı“. 22 Wegen der Delegation der Parlament- und Kabinettkompetenzen an die bürokratischen und berufsständigen Korporationen bezeichnete man die Verfassung von 1961 als pluralistisch. Für Parla ist die Verfassung keinesfalls „pluralistisch“, allenfalls „solidaristischer Korporatismus“, Taha Parla, Türkiye’de Anayasalar (Verfassungen in der Türkei), Ankara 1991, S. 31 ff. 23 Art. 2 des Parteiprogramms: Liberalismus und Demokratie ist die Handlungsmaxime der Partei; Art. 4: Die Partei ist ein vehementer Verteidiger der allgemeinen Freiheiten . . .; Art. 5: Die Verfassung darf nur aufgrund eines eindeutigen Mandats abgeändert werden; Art. 6: Die Partei respektiert die Meinungen und religiöse Glauben; Art. 9: Die staatlichen Aufgaben werden auf ein Minimum gesenkt; Art. 14: Unter der Voraussetzung das die Einheit gewährt bleibt, wird das Prinzip der administrativen Dezentralisation durchgeführt . . . 24 Erik J. Zürcher, Terakkiperver Cumhuriyet Fyrkasy, I˙stanbul 1992, S. 119 ff. Diese Partei hatte schon damals die CHP davor gewarnt, sich von den Weimardeutschland Institutionen und Praktiken fernzuhalten, Zürcher, a.a.O., S. 104. 25 Mete Tunçay, Türkiye Cumhuriyeti’nde Tek Parti Yönetiminin Kurulması (Die Etablierung der Einparteiregime in der Türkischen Republik), 1923–1931, 4. Aufl., I˙stanbul 2005, S. 152 ff. 19

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Nicht zuletzt die Besetzung von Richterstellen wurde allein durch die Partei bestimmt.26 Sie war unumschränkter Gesetzgeber, die Richter mussten nach ihren politischen Vorstellungen agieren.27 Die Parlaments- und Kommunalwahlen waren reine Formalität, da die Wähler nur zwischen den Kandidaten der CHP zu wählen hatten. Das System ist zu Recht als „verschleierter Faschismus italienischer Art“ bezeichnet worden.28 Erstaunlicherweise verstand es sich selbst als „demokratisch“,29 weil in ihm die uneingeschränkte und unbedingte Souveränität des Volkes verwirklicht sei.30 Aber es durfte keinesfalls im Sinne einer „liberalistischen klassischen“ Demokratie verstanden werden.31 Erst nach dem Sieg der Demokratien über die totalitären Staaten musste die Staatspartei, die bis dahin gute Beziehungen zu Deutschland pflegte und NS-Deutschland als Vorbild würdigte, einlenken. De facto wurde die Gründung von politischen Parteien zugelassen, rechtlich aber – im Vertrauen auf die Kontrollierbarkeit des politischen Lebens durch die Bürokratie – auf Verfassungsebene keine Reformen vorgenommen. Auch nach der Gründung von Oppositionsparteien im Jahre 1946 mussten die neue Parteien also unter der alten – in ideologischer Hinsicht von der Parteisatzung von CHP kaum zu unterscheidenden – Verfassung tätig werden. Nach den langen Jahren der Alleinherrschaft der CHP als Staatspartei war es für die neueren Parteien naturgemäß äußerst schwierig, sich im politischen Wettbewerb zu behaupten. Jedoch hatte die CHP weder bei der Gründung noch während ihrer Alleinherrschaft einen essentiellen Rückhalt in der Bevölkerung gefunden. Ihr Erfolg bei der Modernisierung und Verwestlichung des Landes nach der Vorstellung der 30er Jahren stieß im Wesentlichen nur bei dem 16 %igen Anteil der urbanisierten32 Bevölkerung und beim zivilen und militärischen Beamtentum auf Resonanz. 26 Osman Can, Die Unabhängigkeit der Richter in der Türkei, in: „Justice – Justiz – Giustizia“ (Schweizer Richterzeitung) 2006/2; S¸eref Ünal, Anayasa Hukuku Açısından Mahkemelerin Bag˘ımsızlıg˘ı ve Hakimlik Teminatı (Die Unabhängigkeit der Gerichte und Richtergarantie aus der Sicht des Verfassungsrechts), Ankara 1994, S. 70 ff. 27 Bülent Tanör, Osmanly-Türk Anayasal Gelis¸meleri (Osmanisch-Türkische Verfassungsentwicklungen), Ystanbul 2004, S. 308. 28 Mete Tunçay, a.a.O. und die an dieser Stelle geführten Hinweise. In einem 1936 an der Universität Jena vorgelegte Dissertation wird mit Stolz darauf hingewiesen, dass die türkische Revolution der nationalsozialistischen in Deutschland gleicht. Siehe Zahit Kasim Özbulak, Das türkische Verfassungssystem, zgl. Diss. Universität Jena, Berlin 1936, S. 70. 29 Unter der Demokratie verstand einer der führenden Persönlichkeiten, damaliger Justizminister und ideologische Vater der türkischen Richterschaft, Mahmut Esat Bozkurt folgendes: „Ein deutscher Historiker sagt, dass sowohl der Nationalsozialismus als auch Faschismus nichts weiteres seien, als mehr oder weniger modifizierten Version des Mustafa Kemal Regimes. In der Tat. Eine sehr zutreffende Ansicht. Kemalismus ist eine autoritäre Demokratie, so dass sie ihre Wurzeln im Volke hat. Türkische Nation ist wie eine Pyramide, der Boden ist das Volk, die Spitze bildet der das Volk verkörpernde Kopf, was wir Führer nennen. Der Führer bezieht seine Autorität vom Volke. Demokratie ist nicht anderes als das.“ Mahmut Esat Bozkurt, Atatürk Yhtilali, Neudruck von der Aufl age 1940, TÜPRAS Vlg., Istanbul 2003, S. 87. Die Verbundenheit der Richterschaft an Bozkurt ist so tief, dass die kleinsten Kritiken, selbst in Parlamentssitzungen schwer bestraft werden. S. Entscheidung des 17. Zivilgericht erster Instanz vom 22. 3. 2003, Rs. 2002/634, Ents. 2003/861. 30 Recep Peker, Rede an der 4. Parteigeneralversammlung. 31 Özbulak, a.a.O., S. 64. 32 DIE, Türkiye Nüfusu, 1923–1994, Demografi Yapısı ve Gelis¸imi (Bevölkerung in der Türkei, demografi sche Struktur und Entwicklung 1923–1994), Ankara 1995, S. 44.

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Trotz aller Schwierigkeiten konnte die 1946 gegründete Demokratische Partei (DP) 33 deshalb bei den ersten demokratischen Wahlen am 14. Mai 1950 einen erdrutschartigen Wahlerfolg verbuchen. Dieses Ereignis war der Anfang einer tragischen politischen Auseinandersetzung zwischen der vom Volke unmittelbar legitimierten Vertretung (Nationalversammlung und Regierung) und dem auf einer autoritären und korporatistisch-nationalistischen Ideologie beruhenden Staat. Die DP-Regierung wurde nach einem von Militär, Universitäten, CHP und der Justiz geführten bzw. unterstützten Putsch am 27. Mai 1960 gestürzt, der Ministerpräsident und zwei weitere Minister in einem Schauprozess durch ein nicht legitimiertes Gericht,34 „Yüksek Adalet Divani“ (Hohes Gerechtigkeitsgericht!) genannt, hingerichtet.35 Der Militärputsch wurde damit begründet, dass die Demokratische Partei die Grundprinzipien der Verfassung verletzt hatte und eine Konterrevolution betrieb.36 Allerdings waren die fraglichen Grundprinzipien diejenigen der am Militärputsch beteiligten alten Staatspartei (CHP), und richtete sich die „Revolution“, gegen die sich die DP angeblich wandte, auf die Errichtung eines politischen Systems nach den Vorbildern der 20er und 30er Jahre Mitteleuropas, war also durch die Verachtung der Vorstellung eines freien und interessenorientierten Individuums einerseits und die Sublimierung eines romantischen und korporatistischen Gesellschaftsdenkens gekennzeichnet. Symptomatisch war, dass die erste Staatshandlung des Militärputsches die Auf hebung gerade der Verfassung war, gegen die die Demokratische Partei angeblich verstoßen hatte. Die neue Verfassung wurde unter Ausschluss der Mitglieder der Demokratischen Partei erarbeitet. Die verfassungsgebende Versammlung bestand aus zwei Kammern: Das aus den aktiven Putschisten bestehende Nationale Einheitskomitee einerseits und die sowohl aus Vertretern der CHP als auch aus von Putschisten ernannten und weiteren putschtreuen Mitgliedern bestehenden Repräsentantenversammlung37 anderer33 Diese Partei wurde von zunächst vier resignierten CHP-Abgeordneten gegründet. Celal Bayar, der letzte Ministerpräsident von Atatürk wurde erste Parteivorsitzende und später Staatspräsident. Diese Partei vertritt die liberale und demokratische Tradition die zunächst durch den liberalen Flügel in der ITC sichtbar wurde. Nach der Richtungswechsel der ITC zu einer ethnisch-diktatorialen Ideologie, wurde durch die Liberalen die „Osmanli Ahrar Firkasi“ (Osmanische Partei der Freien) gegründet, welche 1908 verboten wurde. Die Nachfolgerin wurde unter den Namen „Hürriyet ve Ytilaf Fyrkasy“ (Freiheits- und Bündnispartei) gegründet. Zwischen 1913–1918 durfte sie jedoch nicht tätig sein. Diese Tradition wurde nach der Gründung der Republik zunächst in „Terakkiperver Cumhuriyet Firkasi“ (Republikanische Fortschrittspartei), später in DP vertreten. Die autoritäre Tradition von ITC wird nachher von CHP vertreten. 34 Fünf Richter dieses Gerichts wurden später zum Verfassungsrichter ernannt. Dazu mehr Osman Can, Die Unabhängigkeit der Richter in der Türkei, in: „Justice – Justiz – Giustizia“ (Schweizer Richterzeitung) 2006/2. 35 Mehr dazu Zürcher, Turkey-A Modern History, I. B. Tauris, London-New York 2004, S. 247 f. 36 Dass die Regierungspartei aufgrund vieler Handlungen, wie z. B. ihrer Haltung gegenüber der Presse oder der Errichtung der parlamentarischen Ermittlungskommission mit judizieller und polizeilicher Kompetenz nicht ganz verfassungskonform war liegt auf der Hand. Aber diese waren nicht zu vergleichen mit Verfassungsbrüchen in der Zeit von 1925–1950. Möglicherweise wurde die Partei aus diesem Grunde nicht grundsätzlich wegen der Freiheitsverletzungen gerügt und möglicherweise beschränkte sich die Legitimation des Putsches daher auf das Ideologische. 37 Gesetz-Nr. 157 und 158. Mehr dazu Kemal Gözler, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), Bursa 2000, S. 82.

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seits. Da eine Abkehr vom Mehrparteiensystem im Zeitalter der Demokratien nicht möglich war, sollte eine Verfassung entstehen, die zwar formell demokratischen Spielregeln entsprach, in der Sache aber die unantastbare und hegemoniale Stellung der bürokratischen Machtstrukturen festschrieb. Nach der neuen Verfassung von 1961 wurden Militär und Justiz, die beiden wichtigsten bürokratischen Institutionen der Staatsideologie, von der demokratischen Legitimation ausgeklammert und mit absolutem Selbstregulierungsrecht ausgestattet.38 Das sollte insbesondere die Treue der Richter zur Staatsideologie sichern und sie von jeglichen parteipolitischen Einflüssen schützen. Zugleich spiegelte dies die Ideologie der CHP wider und erhob die Bürokratie zu deren Schützer gegenüber der Volksvertretung.39 Die unmittelbar nach der ersten demokratischen Wahl 1950 sichtbar werdende Aversion der Richter gegen demokratische Politik führte dazu, dass die Richter im Namen des Rechts sogar die Gesetzesbindung in Frage stellten und ihre eigenen Vorstellungen anstelle des Gesetzgebers40 einschließlich des Verfassungsgebers41 zu Anwendung brachten. Was das Recht sein sollte, durften nur Richter entscheiden.42 Um diese Struktur aufrechtzuerhalten, wurde der demokratischen Politik verfassungsrechtlich verwehrt, bei der Zulassung zum Richteramt sowie bei Beförderung und Ernennung zu den höchsten Gerichten irgendeine Rolle zu spielen. Das war nicht ohne Folgen. Schon der Militärputsch vom 1960 selbst wurde von den höchsten Richtern mitgetragen. Alle nicht putschtreuen Richter wurden entlassen.43 Auch nach dem Militärputsch von 1980 wurde die Justizbürokratie nur in geringem Umfang reorganisiert. Obwohl es nach dem Putsch vom 12. September 1980 keine Verfassung mehr gab, blieb das Verfassungsgericht im Amt. In jeder Rede zur Eröffnung des Gerichtsjahres wurde mit Nachdruck artikuliert, dass der Richter nicht unparteiisch bleiben darf, wenn es um den Erhalt der ideologischen Grundla38 Bezüglich des Militärs siehe Heinz Kramer, Demokratieverständnis und Demokratisierungsprozesse in der Türkei, SWP Berlin Januar 2004, http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php? asset_id=1144&PHPS ESSID= 30afee949742 ceb3021b 9d4201e 656 ff. (6. 4. 2009). Wenn man bedenkt, dass die Posten des Staatspräsidenten in der Türkei bis 1989 nur von Generäle besetz waren, darf die formelle Ernennungskompetenz des Staatspräsidenten bei den Führern der Streitkräfte kaum auf das Vorhandensein einer gewissen demokratischen Legitimation hin interpretiert werden. Im Bereich der Justiz fehlte selbst diese formelle Ernennungskompetenz. 39 Soysal bezeichnet den Putsch von 27. Mai 1960 als Rückschlag der bürokratischen Intelligentia. Mümtaz Soysal, Anayasanın Anlamı (Bedeutung der Verfassung), 6. Basy, Ankara 1986, S. 64. 40 Bei der Auslegung von Art. 312 tStGB (Volksverhetzung) und zuletzt bei der Interpretation der Änderungen des Kommunalverwaltungsgesetzes Nr. 5393 durch den Staatsrat, s. Ents. vom 11. 11. 2008 Rs. 2008/7089, Ents. 2008/7331; ähnlich in Ents. vom 13. 11. 2008 Beschwerde-Nr. 2008/774 (Einstweilige Verfügung). 41 Wie z. B. Ents. vom 26. 9. 1965, Rs. 1963/173, Ents. 1965/40; Ents. vom 16. 06. 1970, Rs. 1970/1, Ents. 1970/31; Ents. vom 15. 4. 1975, Rs. 1973/19, Ents. 1975/87; Ents. vom 12. 10. 1976, Rs. 1976/38, Ents. 1976/46. 42 Eine ähnliche Entwicklung wird auch unter den deutschen Richtern in der wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit beobachtet. Friedrich Karl Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, AcP 162 (1963), S. 110 ff. 43 ZB. die Hälfte des Staatsrats, der Verwaltungsgerichtshof und 1/6 des Kassationshofs mussten ihr Richteramt niederlassen. Osman Dogru, 27 Mayıs Rejimi, Bir Darbenin Anatomisi (27. Mai Regime, Die Anatomie eines Putsches) Imge Yay, Ankara 1998, Seite 23.

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gen des Staates geht. Noch heute macht es sich die erste, 2006 gegründete Richtervereinigung in der Türkei, der Türkische Richter- und Staatsanwältebund (YARSAV), zur Aufgabe, gegen die Regierungspartei (AKP) aufzutreten, die angeblich den ideologischen Gehalt der Verfassung nicht achtete. Diese Vereinigung spielte auch eine substantielle Rolle bei der Vorbereitung der Klage44 gegen die AKP und setzte sich in der Öffentlichkeit vehement für deren Verbot ein.45 Als Reaktion gegen die demokratisch legitimierten Volksvertretung führt die Verfassung von 1961 ein System von „checks and balances“ ein. Unter diesem System verstand man jedoch nicht nur die horizontale und vertikale Gewaltenteilung sowie die Verteilung der Kompetenzen innerhalb der Machtstrukturen im Staat. Da nicht die Demokratie, sondern die Aufrechterhaltung eines ideologisch konstruierten und den Bürokraten anvertrauten Systems als Schutzwert galt, mussten auch die demokratischen Komponenten mit bürokratischen und der Politik übergeordneten Institutionen ausgeglichen werden. Denn das System dürfte dem Volke nicht anvertraut werden.46 Die 10-jährigen demokratischen Wahlen zwischen 1950–1960 haben gelehrt, dass die bürokratischen Eliten ihre Vorherrschaft durch Wahlen nicht verteidigen können. Daher durfte die Volkssouveränität nicht dahin interpretiert werden, dass das Volk tatsächlich diese Souveränität in Anspruch nimmt und die Volksvertreter in diesem Sinne die politischen Grundentscheidungen treffen dürfen. Dazu wurde als erster Überwachungsinstrument die Nationalversammlung (Abgeordnetenhaus) mit dem Senat der Republik balanciert, der im Wesentlichen aus den Bürokraten und im Militärputsch von 1960 verwickelten Offizieren (die sogenannten Senatoren auf Lebenszeit) bestand. Diese Implementierung ist auf den Vorschlag des dritten Mannes der Einparteiregime, der Innenminister und Generalsekretär der Staatspartei Recep Peker, zurückzuführen.47 44 Der Vorsitzende und die Mehrheit der Vorstandsmitglieder sind als Staatsanwälte bei der mit der Parteiverbotsklage zuständigen Generalstaatsanwaltschaft tätig und arbeiteten als offi zielle Beauftragter im Namen des Generalstaatsanwalts. Nach dem Bekanntwerden der Klageschrift stellte sich heraus, dass der Verein sogar institutionell bei der Beweiserhebung mitgewirkt hatte. Siehe dazu die Verteidigung der Partei, in der Entscheidung des Verfassungsgerichts: http://www.anayasa.gov.tr/eskisite/KA RARLAR/SPK/K2008/K-2008–2SPK.htm. 45 Siehe die Pressemitteilungen des Vereins zwischen 30. 1. 2008 – 6. 7. 2008 in: http://www.yarsav. org.tr/haberler.php. 46 Vgl. Kemal H. Karpat, Elitler ve Din (Eliten und Religion), Istanbul 2009, S. 16 ff.; Hasan Bülent Kahraman, Türk Siyasetinin Yapısal Analizi I, Kavramlar-Kuramlar-Kurumlar (Strukturanalyse der Türkischen Politik I, Konzept-Theorie-Institutionen), Istanbul 2008, S. 141 ff. Es ist auch sehr bedeutsam, dass die Gründung einer mitte-rechts Partei, die angeblich das Erbe der verbotenen Demokratischen Partei übernehmen soll, erst unter der Führung eines Generalstabschefs, Ragıp Gümüs¸pala, genehmigt wurde. Dasselbe gilt auch für die Zeit nach dem Militärputsch von 1980. Die Führer von zwei Mitte-Rechts-Parteien durften nur Generäle, Turgut Sunalp und Ali Fethi Esener sein. Die anderen liberalen und mitte-links orientierten Parteien wurden nur unter zwei Bürokraten, Necdet Calp und Turgut Özal genehmigt, die während des Putsches als Staatssekretär tätig und vertrauenswürdig waren. 47 Er und einer von den wichtigsten Akteuren des Putsches, der Zweite Mann, Ismet Inönü schlugen 1935, die Bezeichnung der Partei als „faschistisch“ und Einheit der Partei mit dem Staat und die Einführung des Großen Republikanischen Rates vor, den Peker während seiner Forschung in Italien 1934– 35 näher studiert hatte. Der Vorschlag scheiterte teilweise am Widerstand von Atatürk. Teoman Gül, Türk Siyasal Hayatında Recep Peker (Recep Peker im politischen Leben der Türkei), Kültür Bakanlıg˘ ı

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Als zweites Überwachungsinstrument wurde die Institution des Verfassungsgerichts eingeführt. Dabei berief man sich auf das Vorbild des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Obwohl beide Gerichte als Reaktion auf vergangene politische Erfahrungen errichtet wurden, bleiben doch tiefgreifende Unterschiede zu beachten.48 Die Parteien bekamen zwar eine verfassungsrechtlich garantierte Stellung und konnten nunmehr nur durch das Verfassungsgericht verboten werden. Dass diese Neuerungen ausreichend Schutz gewährt hat, ist nach 48 Jahren Erfahrung jedoch kaum zu behaupten.49 Das Verbotsverfahren gegen die politischen Parteien ist die dritte Säule des Schutzes der Staatsräson. In der Türkei sind bislang 25 Parteien durch Verfassungsgericht verboten worden. Vier Parteien wurden während der militärischen Intervention vom 12. März 197150, eine Partei kurz vor dem Militärputsch vom 12. September 198051, drei während und unmittelbar nach der militärischen Intervention von 28. Februar 1997 verboten52. Keine von diesen Parteien wurden wegen Demokratie- oder freiheitsfeindlicher Haltung verboten. Es kamen ausschließlich zwei andere Gründe zur Anwendung, nämlich das ethnonationalistisch-kemalistische Verständnis unitaristischer Staatlichkeit und das Laizismusprinzip. Diese beiden Gründe hatten in allen Verfassungen, Gerichtsentscheidungen, militärischen Dekreten oder Memoranden seit der Gründung der Republik höchste Priorität53 und bildeten den ideologischen Kern der seit 1950 formell überwundenen Einparteidiktatur.

Yay. Kültür Eserleri Dizisi: 227, Hassoy Matbaacılık, Ankara 1998, S. 28 ff. und Hasan Rıza Soyak, Atatürkten Hatıralar (Erinnerungen von Atatürk), YKY-Yay. 4. Baskı, I˙stanbul 2008, S. 58 ff. 48 Im Gegensatz zu Deutschland bereiteten die Putschakteure der zehnjährigen demokratischen Erfahrung ein Ende und restrukturierten den Staat nach den ideologischen Vorstellungen der Einparteidiktatur und dabei machten den Kern des Staates unantastbar. Das Gericht wurde alleine gegen die Gesetzgebung installiert und konnte keine Schutzfunktion gegenüber den bürokratischen Übergriffen haben. Bei der verfassungsrechtlich festgelegten Zusammensetzung spielen das Parlament und weitere demokratische Akteure keine Rolle. Da keine Verfassungsbeschwerde eingeführt wurde, hat das Gericht keine Rolle bei der Grundrechtsverletzung durch das Militär oder Justiz. Näheres Hinsehen macht deutlich, dass die Grundrechte bei den Gesetzesprüfungen faktisch keine signifi kante Beachtung durch das Gericht erfahren hat. 49 Zutreffend daher auch die Feststellung im Bericht der Venedig-Kommission vom 13.–14, März 2009, Prg. 78, 82, 85 ff. 50 Milli Nizam Partisi (Partei der Nationalen Ordnung), Ileri Ülkü Partisi (Partei für Zukunftsideale) und Türkiye Isci Partisi (Arbeiterpartei der Türkei) wurden 1971 und Büyük Anadolu Partisi (Große AnatoliaPartei) wurde 1972 verboten. 51 Türkiye Emekci Partisi (Arbeiterpartei der Türkei) 1980 kurz vor dem Militärputsch verboten. 52 Refah Partisi (Refah Partei) 1998, Demokratik Kitle Partisi (Demokratische Massenpartei) 1999 und Fazilet Partisi (Tugendpartei) 2001 verboten. 53 Laizismusprinzip ist der Kern der Prinzipien Atatürks, während die Unteilbarkeit des Staates mit der Nation den Kern von Atatürks ergänzenden Prinzipien ausmacht. Beide sind die wichtigsten Teilelemente des Kemalismus, die in der Verfassung mehrfach ausdrücklich erwähnt werden und die gesetzgeberische Tätigkeit im Bereich der Erziehung, des Strafrechts, des Vereins- und Gewerkschaftsrechts, des Rechts der politischen Parteien und vielen anderen mehr spürbar beeinflusst und zu Konflikten mit demjenigen staatsrechtlichen Verständnis geführt haben, das sich derzeit europaweit unter dem Dach des Europarates und des EGMR durchzusetzen scheint. Rumpf, a.a.O., S. 286.

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IV. Bestimmungen zur Parteiverbotsklagen Die politischen Parteien wurden zum ersten Mal nach dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 in der Verfassung verankert und das Nähere wurde später durch Gesetz geregelt. Die derzeit gültige Verfassung wurde ebenso als Produkt des Militärregimes 1982 in Kraft gesetzt. Genauso wie die z. T. umfangreichen, in das gesellschaftliche und politische Leben stark eingreifenden ca. 800 Gesetze wurde auch das Gesetz über die Politischen Parteien (PPG) während dieser Periode erlassen.54 Es beinhaltet Verbotsbestimmungen, die weit über die verfassungsunmittelbaren Schranken hinausgehen.55

1. Politische und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen a) Präambeln In der Präambel der Verfassung von 1961 wurde der Militärputsch als eine Revolution in Form der Ausübung des Widerstandsrechts der Türkischen Nation gegen die Unterdrückung durch eine Regierung angesehen, die angeblich durch ihr den Prinzipien des Rechtsstaates und der Verfassung widersprechendes Verhalten ihre Legitimität verloren hatte. Der Putsch richtete sich aber nicht nur gegen die politische Partei, die durch demokratische Wahlen seit zehn Jahren die Mehrheit des Parlaments stellte. Durch die neue Verfassung wurde vielmehr versucht, die Einparteidiktatur der Jahre bis 1950 mit zeitgemäßen Begriffen, wie „Demokratie“, „Rechtsstaatlichkeit“, und „Pluralität“ wieder zu etablieren. Die genannten verfassungsrechtlichen Leitbegriffe wurden dazu in besonderer Weise interpretiert:

54 In der Ära von 12. September 1980 bis 6. Dezember 1983 wurden Gesetze in der Regel zunächst als Initiative des Ministerrates, der aus Ex-Generäle und Putschtreuen Bürokraten bestand, von aus Militäroffi zieren und Militärrichtern bestehenden Verfassungskommission, wo die militärische Disziplin und hierarchische Struktur in Protokollen leicht zu erkennen ist, bearbeitet und schließlich vom Staatsoberhaupt, dem Vorsitzenden des Putschkomitee verabschiedet. Auf diese Weise hat man vor der offi ziellen Geschäftsübernahme der Türkischen Großen Nationalversammlung (Das Parlament) am 7. Dezember 1983 alle politisch und gesellschaftlich relevanten Normen den „Zivilen“, welche sich nunmehr Gedanken nur über das Ökonomische machen sollten, vorweggenommen und oktroyiert. Alle Gesetze zum Justizwesen inklusive der Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch das Vereinsgesetz, Versammlungsgesetz, Gesetz über Streik und Aussperrung, Arbeitsgesetz, Wahlgesetz, Parteiengesetz, Rundfunk- und Fernsehgesetz, Umweltgesetz, Gendarmeriegesetz, Gesetz über Nationale Nachrichtendienst, alle Notstandsgesetze, Gesetz über Feststellung der Militär- und Sicherheitszone, alle Gesetze bezüglich des Hochschulwesens sind Beispiele der Normen, die keine demokratische Legitimation haben und bis zur Verfassungsänderungen in 2001 vom Verfassungsgericht nicht überprüft werden durften. Für die konkreten Angaben s. Nuri Alan, Anayasanın ˙Idari Yargıda Somutlas¸tırılması (Die Konkretisierung der Verfassung in Verwaltungsgerichtsbarkeit), Danıs¸tay Dergisi, Sayı 92 (1997), S. 25. 55 Fazıl Sadlam, Siyasi Partiler Hukukunun Güncel Sorunlary (Aktuellen Fragen des Parteienrechts), ˙Istanbul 1999, S. 171 ff. Dieselbe Feststellung gilt auch für den Rechtszustand der Verfassung von 1961. Siehe Adnan Küçük, Siyasi Partilere ˙Ilis¸kin Yasaklamalar (Die Verbote bezüglich der politischen Parteien), Ankara 2005, S. 112.

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Unter dem Begriff der Demokratie verstand und versteht man noch immer, dass in freien Wahlen nur über die vom bürokratischen Apparat zugelassenen politischen Themen entschieden wird. Die Erweiterung des von der Verfassung zugelassenen Grundrechtsbereichs, die Außen- und Innensicherheitspolitik und der Einfluss auf die Bürokratie gehörten zu den Themen, die der Disposition der demokratisch legitimierten Staatsorgane sei es durch die Annullierungsakte des Verfassungsgerichts (oder auch anderer Gerichte), sei es durch Verbotsverfahren, sei es durch öffentliche Putschdrohungen des Militärs gänzlich entzogen waren. Insofern kann das in Art. 4 TV 61 und Art. 6. TV 82 erwähnte Prinzip, dass die Türkische Nation ihre uneingeschränkte und unbedingte Souveränität durch die von der Verfassung vorgesehenen Organe ausübt56, nicht als Forderung nach einer auf der Wahl des Parlaments basierenden personellen Legitimation der Träger der Staatsgewalt verstanden werden. Insofern besaß die Verfassung von 1960 trotz der augenscheinlichen Nähe zur klassischen Defi nition der Demokratie keine demokratische Qualität. Vielmehr standen Staatsgewalt und Volkswille in einem Gegensätzlichkeitsverhältnis, in dem die Ausübung der Staatsgewalt nicht zwangsläufig durch den Volkswillen im Wege von Wahlen oder Abstimmungen legitimiert werden musste, da es ausreichend war, sie durch die Verfassung selbst zu legitimieren.57 Insoweit hat das Demokratieprinzip allenfalls keine darüber hinaus gehende eigenständige Funktion.58 Auch Gewaltenteilung war nicht als gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten, sondern als Balance zwischen demokratisch legitimierten Repräsentanten und der mit dem Selbstverwaltungsrecht ausgestatteten Bürokratie verstanden. Schließlich bedeutete Rechtsstaatlichkeit, alles gesetzte Recht59 im Sinne des ideologischen Charakters der Verfassung zu interpretieren und auf diesem Wege die Legislative zugunsten der Richterschaft zu entmachten. Die Berufung auf den Rechtsstaat eröffnete dem Richter die ideologische Kontrolle der Gesetzgebung.60 Die Eröffnungsrede jedes Gerichtsjahrs durch den Kassationshofspräsidenten begann mit der Betonung der Rechtsstaatlichkeit und endete mit der Warnung, dass die Richter nicht den Luxus haben, unparteiisch zu bleiben, wenn es um die Grundstrukturen der Republik wie Laizismus, Kemalismus, Erhalt des Staates usw. geht.61 Die nationalistisch-kemalistische Haltung ist so selbstverständlich, dass sie kaum noch als politische Optionen wahrgenommen werden.62 Demokratie und Freiheit 56

Art. 4 der Verfassung von 1961 und Art. 6. der aktuellen Verfassung. Christian Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, Wiesbaden 1996, S. 114. 58 Rumpf, a.a.O, S. 114. 59 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Verfassungen und die überwiegende Mehrheit der gesellschafts- und politikrelevanten Gesetzen keine Produkte demokratischer Vertretung sind, sondern während der Einparteidiktatur und der Militärdiktaturen in Form eines Gesetzes verabschiedet worden sind. 60 Das Rechtsstaatsprinzip ist der alleinige Begründung der überwiegenden Mehrheit der Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts. 61 Siehe z. B. die Eröffnungsrede der Richterakademie 2007–2008. http://www.yargitay.gov.tr/ content/view/196/67/ und auch die Eröffnungsrede des Kassationshofspräsidenten zum Gerichtsjahr 2008–2009, S. 46. http://www.yargitay.gov.tr/tarihce_aak/2008_2009.pdf, wo die Verbundenheit an die Prinzipien und Reformen Mustafa Kemal Atatürks als erster erwähnt werden. 62 Dieselbe Feststellung gilt auch für die nationale und bürgerliche Haltung der Hochschullehrer in 57

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fi nden demnach in der Verfassung von 1961 nur in dem durch diese Prinzipien erlaubten Maße Platz und gewinnt nur soweit Relevanz, als die internationale Konjunktur es erfordert.63 Pluralität bedeutet bis heute in diesem Sinne die Teilnahme der von der demokratischen Legitimation unabhängig gestellten bürokratischen Institutionen und staatlich gelenkten Korporationen an der Staatsführung und die Gleichstellung der Legislative mit diesen Institutionen. Auf der gesellschaftlichen Ebene bedeutet Pluralität die Möglichkeit der Mobilisierung der staatstreuen Schichten und deren Schutz gegenüber der Mehrheit, indem die kulturellen und politischen Erscheinungen der Mehrheit aus der öffentlichen Sphäre (kamusal alan) ausgeschlossen werden. Ein Versuch der Anwendung des Pluralitätsgedankens auf die Richterschaft selbst wird als Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz und für das Prinzip der Gewaltenteilung verstanden.64 Hinzuzufügen ist, dass einer von den Grundpfeilern der in der Präambel verankerte Ideologie der Verfassung, nämlich der „türkische Nationalismus“ als Grenze der politischen Tätigkeit verstanden und in dieser Richtung zu den Parteiverboten herangezogen wurde.65 Die politischen Rahmen der durch das Militär produzierten Verfassung von 1982 basierten auf den Grundannahmen der Verfassung von 1961. Die Präambel der Verfassung von 1982 richtet sich im Gegensatz ihrer Vorgängerin nicht nur gegen einen Teil der Politik, sondern gegen Politik als solche. Die demokratischen Vertreter sind nicht einmal als negative Ansprechpartner erwähnt. Entsprechend dieser Haltung wurden 1981 alle politischen Parteien mit einem Putschdekret verboten.66 Ab dem 24. April 1983 durften neue Parteien gegründet werden, jedoch unter dem Vorbehalt, dass sie weder den Namen der alten Parteien führen, noch sie als deren Nachfolger antreten durften. Zudem mussten sie entweder von Generälen oder den putschtreuen Bürokraten geführt werden.

Deutschland in der Weimarer Zeit, siehe Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III: Staats- und Verwaltungswissenschaft in der Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 64. 63 Dem Leser wird sicherlich nicht entgehen, dass es bei den erwähnten Prinzipien eigentlich um die „Sechs-Pfeiler“ der CHP, die während der Einparteidiktatur 1937 in die Verfassung aufgenommen wurden. 64 Siehe obengenannte Rede, S. 40. 65 Rs. 1971/1, Ents. 1971/1 (Milli Nizam Partisi/Nationale Ordnungspartei) Entscheidung vom 20. 5. 1971 und Rs. 1971/3, Ents. 1971/3 (Türkiye I˙¸sçi Partisi/Arbeiterpartei der Türkei), Entscheidung vom 20. 7. 1971. Zu der Rolle der Präambel im politischen Prozess der Türkei, s. Osman Can, Demokratikles¸me Serüveninde Anayasa ve Siyasi Partilerin Kapatılması (Verfassung und die Schließung der Politischen Parteien im Demokratisierungsprozeß), Ankara 2005, S. 77 ff.; Kemal Gözler, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), Bursa 2000, S. 193 ff.; M. Tevfi k Gülsoy, Anayasa Mahkemesi Kararlarında Ölçü-Norm ve Siyasal Alanın Sınırı Olarak Bas¸langıç ˙Ilkeleri (PräambelGrundsätze als Referenznormen und Grenzen der Politischen Sphäre in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts), Liberal Düs¸ünce Dergisi, 6 (2001), Vol. 22, S. 46 ff. 66 Dass auch die in den 70er Jahren programmatisch nach Links gerückte CHP vom Verbot nicht verschont blieb, ist ein Hinweis darüber, dass das Militär keine Koalition mehr mit der CHP und der übrigen Bürokratie benötigte und eine neue Art der Politik unter seiner Führung vorsah.

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Die Präambel beginnt mit der Begründung des Putsches und einer „Heiligsprechung“ des Staates. Der Absatz 7 erweist sich für Parteiverbote von besonderer Relevanz: „dass kein Gedanke und keine Erwägung gegen die türkischen nationalen Interessen, gegen die türkische Existenz, gegen das Prinzip der Unteilbarkeit des Staates und seines Gebiets, gegen die historischen und moralischen Werte des Türkentums, gegen den Nationalismus im Sinne Atatürks, gegen seine Prinzipien, Reformen und zivilisatorischen Bemühungen Schutz fi nden dürfen und entsprechend dem Prinzip des Laizismus heilige religiöse Gefühle nicht mit staatlichen Angelegenheiten und mit Politik verknüpft werden dürfen . . .“67 Nach der Präambel sind die Grundrechte und Freiheiten zur Entfaltung der Persönlichkeit nach den Erfordernissen der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit als gesetzlich begrenzt im Rahmen der nationalen Kultur, Zivilisation und Rechtsordnung zu verstehen.68 Alle Anträge der Generalstaatsanwaltschaft in Parteiverbotsverfahren und alle Parteiverbotsentscheidungen wurden entweder unmittelbar auf die Präambel, insbesondere ihren 7. Absatz gestützt,69 oder mit einer im Lichte der Präambel vorgenommenen Auslegung der Bestimmungen zu den Parteiverboten begründet.

b) Allgemeine Verfassungsnormen Zu den im Sinne der Präambel verstandenen, den Verbotsentscheidungen zugrunde gelegten Bestimmungen gehören die Merkmale der Republik, wie sie in Art. 2 beider Verfassungen ihren Ausdruck fi nden. In Art. 2 TV wird die Republik als ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat definiert.70 Demnach wird durch die Verfassung eine Republik konstituiert, die zwar Menschenrechte achtet, aber dem Nationalismus Atatürks verbunden ist und ihre Grundlage in der Präambel verkündeten Grundprinzipien fi ndet. Diese Gewichtung kommt bei den Verbotsentscheidungen regelmäßig besonders deutlich zum Ausdruck.71 67

Für deutsche Fassung gesamten Textes siehe Hirsch, a.a.O., S. 552. Der Hinweis auf den Militärputsch wurde 1995 aus der Präambel entfernt. Der Begriff „Gedanke und Erwägung“ im Prg. 7 (nach 1995 nunmehr Prg. 5) wurde 2001 durch den Begriff „Tätigkeit“ ersetzt. Inhaltlich und materiell blieb somit die Präambel gleich. 68 Hirsch, a.a.O., S. 524. 69 Statt vieler s. HP-Entscheidung vom 25. 10. 1983, Rs. 1983/2 (PVV), Ents. 1983/2; SP-Entscheidung vom 10. 7. 1992, Rs. 1991/2 (PVV), Ents. 1992/1; HEP-Entscheidung vom 14. 7. 1993, Rs. 1992/1 (PVV), Ents. 1993/1 (Halkin Emek Partisi); DDP-Entscheidung vom 19. 3. 1996, Rs. 1995/1 (PVV), Ents. 1996/1; RP-Entscheidung vom 16. 1. 1998, Rs. 1997/1 (PVV), Ents. 1998/1; FP-Entscheidung vom 22. 6. 2001, Rs. 1999/2 (PVV), Ents. 2001/2; HADEP-Entscheidung vom 13. 3. 2003, Rs. 1999/1 (PVV), Ents. 2003/1 und zuletzt die Anklageschrift gegen die Regierungspartei AKP in Rs. 2008/1 (PVV), Ents. 2008/2, Entscheidung vom 30. 7. 2008. 70 Hervorhebung vom Verfasser. 71 In SP-Verbotsurteil wurde die Haltung der Partei, der Nationalismus Atatürks sei mit den gesell-

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In der Verfassung von 1961 wurde die Republik zwar als „auf Menschenrechte beruhender“ Staat definiert, andererseits beruhte sie als „nationalistischer“ Staat auch „auf die in der Präambel zitierten Rahmenbedingungen“, die weitgehend Prämissen des Einparteiregimes reflektiert. Auch das – im Vergleich zum Art. 11 Abs. 3 TV 61 sehr weitreichen – Missbrauchsverbot72 des Art. 14 TV ist für die Parteiverbotsklagen relevant, wonach „Von den Grundrechten und -freiheiten dieser Verfassung keines gebraucht werden (darf) um die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zu zerstören, die Existenz des türkischen Staates und der Republik in Gefahr zu stürzen, die Grundrechte und -freiheiten zu beseitigen, die Beherrschung des Staates durch eine Person oder eine Gruppe oder die Herrschaft einer sozialen Klasse über andere soziale Klassen herbeizuführen oder Unterschiede in Sprache, Rasse, Religion oder Bekenntnis zu schaffen oder auf sonstigem Wege eine auf diesen Begriffen und Ansichten beruhende Staatsordnung zu gründen.“73 Bis auf letzten zwei Klagen74 wurde alle Entscheidungen auch mit dem Verstoß gegen das Missbrauchsverbot begründet. In ursprünglicher Fassung des Art. 69 TV war ausdrücklich vorgesehen, dass die Überschreitung der in Art. 14 TV vorgesehenen verfassungsunmittelbaren Schranken zum Verbot der politischen Partei führt.75 Art. 14 TV ist auch die verfassungsrechtliche Grundlage vieler Meinungsdelikte im Strafrecht, welche den Inhalt der Parteiverbote ausmacht. Das gilt insbesondere für die 1991 aufgehobenen Artikel 141, 142 schaftlichen Realitäten nicht vereinbar, als eine Haltung gegen die Unteilbarkeit des Staates und der Nation verurteilt. Siehe Sosyalist Parti-Entscheidung vom 10. 7. 1992, Rs. 1991/2, Ents. 1992/1. Der Nationalismus Atatürks wurde sogar zur Begründung des Kopftuchverbots an den Universitäten herangezogen. Rs. 1989/1, Ents. 1989/12, Entscheidung vom 7. 3. 1989. Mehr dazu s. Christian Rumpf, Türkisches Verfassungsgericht, Urteil v. 7. 3. 1989, Rs. 1989/1, Ents. 1989/12 (Kopftuch-Urteil), Übersetzung mit einer Anmerkung. Zf TS 1/90, S. 135 ff. 72 Dieses Verbot bezieht sich auf alle in der Verfassung erwähnten Grundrechte und stellt deren verfassungsunmittelbaren Schranken dar. Eine Maßnahme wie die Verwirkung im deutschen Grundgesetz gibt es nicht. Es macht möglich, dass alle mit dem Missbrauchsverbot in Verbindung gebrachte gesetzliche Bestimmungen, aus dem Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts ausgenommen werden. 73 Dieser Artikel wurde nach Verfassungsänderungen 2001 folgendermaßen neu gefasst: „Von den Grundrechten und -freiheiten dieser Verfassung darf keines gebraucht werden, um Aktivitäten mit dem Ziel zu entfalten, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zu zerstören und die demokratische und laizistische Republik zu beseitigen.“ Nach Abs. gilt nunmehr der Missbrauchsverbot auch für den Staat. 74 HAKPAR-Entscheidung vom 29. 1. 2008, Rs. 2002/1, Ents. 2008/1 und AKP-Entscheidung vom 30. 7. 2008, Rs. 2008/1, Ents. 2008/2. In der AKP-Entscheidung wird Art. 14 TV nicht erwähnt. Aber in der HAKPAR-Entscheidung ist eine bedenkenswerte Relativierung sichtbar. Denn in der Begründung heißt es, dass die Verbotsgründe unter Berücksichtigung des Art. 14 TV aufgezählt seien und dem Gesetzgeber die Aufstellung weiterer Verbotsgründe verwehrt sei. Bedenkt man die richterliche Vorgehensweise in der Türkei, dass Art. 14 TV immer noch als Reserve zu einer extensiven Auslegung der Verbotsgründe somit als die Möglichkeit verstanden wird, die Restriktionen des verfassungsändernden Gesetzgebers zu relativieren. 75 In der amtlichen Begründung wird betont, dass in einer anderen Sprache als der Türkischen, was nur auf die kurdische Sprache hinweisen konnte, veröffentlichte Periodika zur Annahme eines separatistischen Ziels und die religiöse Veröffentlichung zur Annahme der Herstellung konfessioneller Diskriminierung berechtige. Diese Haltung wird immer noch durch die Auslegung des Artikels und seiner Konkretisierung auf gesetzliche Ebene unterstützt. Mehr dazu Osman Can, Die Schranken der Meinungsäußerungsfreiheit nach Türkischem Verfassungsrecht, Shaker Verlag, Aachen, 2001, S. 52 ff. und 113 ff.; Bülent Tanör, Türkiye’de Insan Haklari Sorunu (Die Menschenrechtsfrage der Türkei), BDS Vlg., 3. Aufl., Istanbul 1994, S. 205.

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(sozialistische), 163 tStGB (antilaizistische oder religiöse Propaganda)76 und zuletzt Art. 312, Abs. 2 tStGB a. F. (Volksverhetzung), welcher auf problematische Art und Weise an die Stelle der vorgenannten drei Artikeln ins Leben gerufen wurden.77 Bei Verstößen gegen das Missbrauchsverbot fi ndet die parlamentarische Immunität gem. Art. 83, Abs. 2 TV keine Anwendung. Da aus der Verfassung nicht erkennbar ist, welche Straftaten nach Art. 14 TV relevant sind, liegt es an den Gerichten, zu entscheiden, bei welchen Abgeordneten die Immunität nicht gilt und das Verfahren fortgeführt wird.78 Wenn man sich vergegenwärtigt, wie häufig in den letzten Jahren einschlägige Strafrechtsnormen zur Sanktion von Äußerungen zu politisch brisanten Themen genutzt wurden, wird deutlich, wie leicht Art. 14 TV durch die Justiz zur Legitimation unverhältnismäßiger Beeinträchtigungen der Arbeit politischer Parteien genutzt werden kann.

c) Spezielle Verfassungsnormen Obwohl die Grenzen der parteipolitischen Freiheiten in Art. 57. Abs. 1 TV 61 weniger ideologisch gefasst wurden, sind sie noch weitreichender und ideologischer in Art. 68 und 69 TV 82 und im Gesetz über die Politischen Parteien (PPG) geregelt. Nach Art. 68 TV 82 werden die Parteien ohne vorherige Erlaubnis gegründet. Richter und Staatsanwälte, Angehörige der Organe der hohen Gerichtsbarkeit einschließlich des Rechnungshofs, Angehörige der Körperschaften und Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Beamtenstatus und die übrigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, welche ihrer ausgeübten Funktion nach keine Arbeiter sind, Schüler in voruniversitären Einrichtungen sowie die Angehörigen der Streitkräfte dürfen politischen Parteien jedoch nicht beitreten. Nach Abs. 4 dürfen die Satzungen und Programme der Parteien der Unabhängigkeit des Staates, der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den Menschenrechten, den Prinzipien der Gleichheit und des Rechtsstaats, der nationalen Souveränität und den Prinzipien der demokratischen und laizistischen Republik nicht entgegenstehen; sie dürfen nicht die Diktatur einer Klasse oder Gruppe oder irgendeine andere Form der Diktatur verteidigen oder das Ziel ihrer Errichtung verfolgen; sie dürfen nicht zu Straftaten auffordern.79 76

Tanör, a.a.O. Die politischen Diskussionen in der Öffentlichkeit 21.–22. September 1999 (Sabah Zeitung) und 14. März 2000 (Milliyet Zeitung) zeigen, dass diese Ansicht auch von den Politikern geteilt worden ist. 78 Ein jüngstes Beispiel betrifft eine kurdischstämmige Abgeordnete (Aysel Tug˘luk), die wegen ihrer Äußerungen bezüglich der Kurdenfrage zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt wurde. Der 9. Strafsenat (SS) des Kassationshofs hatte zuvor entschieden, dass die Meinungsäußerungen die in den Rahmen des Art. 14 TV fallen, keine Immunität genießen. Siehe Entscheidung vom 4. 2. 2008, 9. SS Rs. 2007/9370, Ents. 2008/617. Ein weiteres Verfahren gegen eine andere kurdisch stämmige Abgeordnete (Sebahat Tuncel) ist noch anhängig. 79 Als Ganzes betrachtet, könnten diese Normen und Verbote fast für jedes Parteienprogramm aufgerufen werden, welche für Änderungen im verfassungsmäßigen Modell aufrufen würde, ohne Rücksicht darauf, ob diese Änderung durch die Bedrohung von Gewalttätigkeit oder bloß durch friedliches 77

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Die verfassungsrechtlichen Schranken, die in Art. 68 TV festgelegt sind, unterscheiden sich insoweit von der Einschränkbarkeit der politischen Betätigungsfreiheit, als eine politische Tätigkeit außerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken von vornherein verboten ist. Nach Art. 69 Abs. 5 TV wird eine Partei deshalb allein schon dann endgültig geschlossen, wenn ein Verstoß der Satzung und des Programms der Partei gegen die Bestimmungen des Art. 68 Abs. 4 TV festgestellt wird.80 Dieses Verbot gilt nach Art. 69, Abs. 6 TV ebenso hinsichtlich der Betätigungen. Eine Entscheidung auf endgültiges Verbot einer Partei, die wegen Betätigungen ausgesprochen wird, die gegen Bestimmungen des Art. 68 Abs. 4 verstoßen, erfolgt nur, wenn das Verfassungsgericht feststellt, dass diese Art von Betätigung zu einem Brennpunkt der Aktivitäten der Partei geworden ist. Das wird angenommen, wenn entsprechende Taten von Parteimitgliedern in großem Umfang begangen wurden und dies vom Großen Kongress oder dem Vorsitzenden oder von Entscheidungsund Verwaltungsorganen der Parteizentrale oder der Hauptversammlung oder der Führung der Parlamentsfraktion stillschweigend oder ausdrücklich gebilligt wurde oder solche Taten von den genannten Parteiorganen selbst bewusst und gewollt begangen wurden. Nach Abs. 7 kann das Verfassungsgericht anstelle des Verbots nach vorstehenden Vorschriften je nach Schwere der Verstöße auch die teilweise oder vollständige Versagung staatlicher Unterstützung anordnen. Im Falle eines Verbotes hat das Gericht gemäß Abs. 9 ferner zu entscheiden, dass Mitglieder einschließlich der Gründungsmitglieder, deren Erklärungen oder Aktivitäten die Ursache für das endgültige Verbot waren, fünf Jahre nach Bekanntgabe der begründeten Entscheidung des Verfassungsgerichts auf endgültige Schließung im Amtsblatt weder Gründer, noch Mitglied, noch Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsorgans einer Partei werden dürfen. Nach Art. 84 TV endet das Mandat des Abgeordneten, dessen Äußerungen und Handlungen in der unanfechtbaren Entscheidung des Verfassungsgerichts als Ursache für das endgültige Verbot der Partei bezeichnet werden, mit der Bekanntmachung der begründeten Entscheidung im Amtsblatt. Die genannten verfassungsrechtlichen Verbotsgründe sind abschließend. Der Gesetzgeber dürfte also keine über die expliziten Festlegungen in der Verfassung hinausgehenden Verbotstatbestände normieren. Damit ist ein gewisser Schutz von Minderheitsparteien gegenüber der Parlamentsmehrheit gewährleistet, würde sich die Parlamentsmehrheit einmal im Vergleich zur Verfassung und den juristischen Institutionen als die größere Gefahr für die politische Betätigungsfreiheit darstellen. Betrachtet man allerdings die ideologische Ausrichtung, freiheitsabstinente Ausgestaltung und das Menschenbild der vom Militär konstituierten Verfassung von 1982 und die bisher von den parlamentarischen Mehrheiten durchgesetzten Verfassungsände-

demokratisches Mittel befürwortet ist. Ähnlich im oben erwähnten Bericht der Venedig-Kommission, Prg. 78. 80 Dies betrifft mindestens sieben Parteiverbote, nämlich HP (83), TBKP (1991), ÖZDEP (1993), STP (1993), DDP (1996), EP (1997) und DKP (1999).

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rungen81 und weiteren Reformen, ist eine solche Entwicklung in der Türkischen Republik vorerst nicht zu erwarten.

2. Parteiverbote im Machtkampf zwischen Justiz und Parlament Die meisten Reformen sind nur ein Produkt einer Dialektik, nämlich der Wechselwirkung zwischen der türkischen Justiz und der demokratischen Repräsentanten – eine Tendenz, die man bereits unmittelbar nach der Zulassung anderer Parteien in der Türkei 1950 zu beobachten hat. Das sei am Beispiel der Entwicklung der politischen Betätigungsrechte der Parteien verdeutlicht. Der erste Konfl ikt verlief auf Verfassungsebene. Nachdem das Verfassungsgericht bis 1995 zehn politische Parteien verboten hatte, reagierte die Politik nur eine Woche nach der letzten Verbotsentscheidung82 mit Verfassungsänderung. Nach Art. 68 TV n. F. durfte das Gericht das Missbrauchsverbot des Art. 14 TV, das in der Rechtsprechung die Rolle einer inhaltlich weit über die Grenze des Missbrauchsverbots hinausgehenden Grundrechtsschranke hatte,83 nicht mehr zur Begründung der Parteiverbote heranziehen. Ferner durfte sich das Gericht bei den Verbotsentscheidungen nicht mehr auf die im PPG vorgesehenen zahlreichen Verbotsgründen stützen, weil die Verfassungsänderungen von 1995 die Verbotsgründe nur auf die in Art. 68, Abs. 4 TV aufgezählten beschränkte.84 Die parallelen Verbesserungen im PPG wurden erst 1999 vollzogen. Doch obwohl die Verbotsgründe in der Verfassung expressis verbis aufgezählt waren, wandte das Verfassungsgericht weiterhin bis 2003 die Verbotsgründe im PPG an.85 Und selbst damals entfaltete die implizit in der HADEP-Verbotsentscheidung 86 gefolgte Verfassungsgebot erst in einem Normkontrollverfahren gegen die Bestimmungen des PPG explizit ihre Wirkung.87 Zudem genügt nach dem neugefassten Art. 69 TV ein einfacher Verstoß gegen die erwähnten Verbotsgründe nicht. Ein endgültiges Verbot einer Partei wegen einer gegen die Bestimmungen des Art. 68 Abs. 4 verstoßenden Betätigung durfte nur aus81

Die Verfassung wurde insgesamt 16 Mal (Stand April 2009) geändert. Für eine zusammenfassende Betrachtung siehe, Christian Rumpf, Wo steht die türkische Verfassung, in: Festschrift für Ali Ülkü Azrak zum 75. Geburtstag, Hrsg. von Sayhan/Karlikli, Istanbul 2008, S. 286. 82 Entscheidung über Sosyalist Birlik Partisi (Sozialistische Einheitspartei) vom 19. 7. 1995, Rs. 1993/4, Ents. 1995/1. 83 In der Entscheidung vom 10. 7. 1992 über die Sosyalist Parti (Sozialistische Partei), Rs. 1991/2, Ents. 1992/1, wird angeführt, dass das Vorbringen von religiösen oder ethnischen Minderheiten lediglich das Ziel hätte, „eine nicht existente Menschenrechtsfrage“ zu schaffen und daher die Partei aufgrund des Art. 14 TV keinen Schutz genießen dürfte. Vgl. Christian Rumpf, Das Laizismusprinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, JöR 36 (1987). S. 193. 84 Erdogan Tezic, Anayasa Hukuku, Istanbul 2003, S. 329; Fazil Saglam, a.a.O., s. 102; Merih Öden, Türk Anayasa Hukukunda Siyasi Partilerin Anayasaya Aykırı Eylemleri Nedeniyle Kapatılmaları, Ankara 2003, S. 56; Server Tanilli, Devlet ve Demokrasi, I˙stanbul 2000 S. 240; Oktay Uygun, Siyasi Partilerin Kapatılması Rejiminin Avrupa I˙nsan Hakları Sözles¸mesi Çerçevesinde Deg˘erlendirilmesi, Anayasa Yargısı 17, S. 272. 85 In der DKP-Entscheidung (Demokratische Massenpartei) hatte das Gericht sich auf Art. 78. und 81 PPG stützend die Partei verboten. Entscheidung vom 26. 2. 1999, Rs. 1997/2 (PVV), Ents. 1999/1. 86 HADEP-Entscheidung von Rs. 1999/1, Ents. 2003/1. 87 Entscheidung vom 1. 4. 2003, Rs. 2003/21, Ents. 2003/13.

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gesprochen werden, wenn das Verfassungsgericht feststellt, dass diese Partei Brennpunkt solcher Art von Betätigungen geworden ist. Damit wurde der Entscheidungskompetenz des Gerichts eine weitere verfassungsrechtliche Grenze gezogen. Der zweite Konfl ikt verlief im Bereich der Konkretisierung dieser neuen Grenze. Während des Verbotsverfahrens gegen die Refah Partisi (Wohlfahrtspartei), hatte das Verfassungsgericht selbst als „als erstinstanzliches Gericht im Parteiverbotsverfahren“ die Regelung des Art. 103 Abs. 2 PPG88, die ein Verbotsausspruch von strengen Bedingungen abhängig machte, im Wege der Richtervorlage vor das „Verfassungsgericht“ gebracht. Nachdem das Gericht die Norm in seiner Rolle als „Verfassungsgericht“ annullierte,89 setzte es sich wieder als „Erstinstanzliches Gericht im Parteiverbotsverfahren“ zusammen und sprach seine Verbotsentscheidung aus, nachdem dieser nun nichts mehr im Wege stand.90 Es ist noch hinzuzufügen, dass das Gericht beim Verfahren sein Urteil auf Art. 103 Abs. 2 PPG stützte, noch bevor das Urteil im Amtsblatt (Resmi Gazete) verkündet und damit verfassungsgemäß in Kraft getreten war. Dass diese Vorgehensweise mit dem Rückwirkungsverbot nicht vereinbar war, wurde nicht in Frage gestellt. Das Verfassungsgericht führte in der Begründung zur Annullierung des Art. 103, Abs. 2 PPG zusammenfassend aus, dass die bereits 1991 erfolgte Auf hebung von Gesinnungsdelikten bezüglich antilaizistischer und sozialistischer Meinungen im Strafgesetzbuch eine Lücke hervorgebracht hätte, wodurch das Verbot einer Partei erschwert wurde. Um die Effektuierung der Institution des Parteiverbots willen durfte diese Vorschrift kein Hindernis für das Verfassungsgericht darstellen.91 Der Gesetzgeber reagierte darauf mit einer weiteren Erschwerung.92 Art. 103 Abs. 2 PPG wurde dahin geändert, dass sich das Gericht nicht auf andere als die in Art. 68 Abs. 4 TV aufgelisteten Verbotsgründe stützen darf. Ferner wurde in Abs. 2 die Regelung vom „Brennpunkt verfassungswidriger Aktivitäten“ im oben dargestellten Sinne gesetzlich definiert. Die Defi nitionshoheit des Verfassungsgerichts sollte damit auf eine Subsumtion des konkreten Falles beschränkt werden. In der Fazilet-Entscheidung (Tugendpartei) beschäftigte sich das Gericht drei Jahre später mit dieser Änderung. Obwohl das Prinzip „nemo iudex sine actu“ und „ne procedat judex ex offi cio“ auch für das Verfassungsgericht gilt, entschied das Gericht wiederum über einen Antrag, den es selber gestellt und wie eine „Streitpartei“ vor das „Verfassungsgericht“ gebracht hatte. Auf diese Weise annullierte es den Art. 103 Abs. 2 PPG drei Jahre später zum zweiten Mal.93 Die Begründung lautete, in einem demokratischen Staat dürfe der Weg zur Parteischließung nicht verhindert oder im Wesentlichen erschwert werden. Da der Parteivorsitzende nicht zu den verantwortlichen 88 In Verbindung mit Art. 101 PPG durften demnach die Mitglieder oder Funktionäre wegen gegen die Verfassung verstoßenden Handlungen strafrechtlich verurteilt werden. Nach rechtskräftigen Urteilen musste die Aufforderung von jener aus der Partei durch den Generalstaatsanwalt erfolgen. Der Zustand „Brennpunkt“ konnte erst dann festgestellt werden. 89 Entscheidung vom 9. 1. 1998, Rs. 1998/2, Ents. 1998/1. 90 REFAH-Entscheidung vom 16. 1. 1998, Rs. 1997/1, Ents. 1998/1. Ähnlich entschied das Gericht bereits während der Verbotsklage gegen die Milli Nizam Partisi, die mit dem Verbot der Partei endete. Urteil vom 6. 5. 1971, Ents. 1971/50. 91 Entscheidung vom 9. 1. 1998, Rs. 1998/2 (PVV), Ents. 1998/1. 92 Durch das Gesetz Nr: 4445 vom 12. 8. 1999. 93 Entscheidung vom 12. 12. 2000, Rs. 2000/86, Ents. 2000/50.

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Organen in Abs. 2 gezählt wurde, hätte ein Verbotsausspruch aufgrund der Tätigkeiten des Parteivorsitzenden nicht erfolgen können. Weil es nach der Annullierung keine gesetzliche Definition mehr gab, gewann das Gericht wiederum die freie Hand im Verbotsverfahren. Es stufte die angeklagte Fazilet Partisi (Tugendpartei) aufgrund von Äußerungen u. a. ihres Vorsitzenden darüber, dass das Tragen des Kopftuchs an den Universitäten als Ausübung der religiösen Freiheiten gelten solle, als verfassungsfeindlich und verbot sie.94 Bis auf eine politisch irrelevante Ausnahme – nämlich Art. 105 PPG, nach der eine Partei, die zwei Wahlperioden hintereinander nicht an den allgemeinen Wahlen teilgenommen hat, verboten wird95 – annullierte das Verfassungsgericht bislang nur Normen, die die Schließung politischer Parteien erschwerten. Dabei wurden allen Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft stattgegeben. Die Anträge der angeklagten politischen Parteien über die Verfassungswidrigkeit der Normen des vom Militär erlassenen PPG gemäß Art. 152 TV, nach der die Verfahrensparteien eine Richtervorlage bewirken können, wurden dagegen vom Gericht stets zurückgewiesen.96 In der letzten Phase des Verfahrens gegen die FP war die Türkei auf dem Wege zu Verfassungsreformen. Der Verfassungsgeber wollte die Bestimmungen zum Verbotsverfahren an die EU-Standards anpassen. Das Gericht reagierte am 22. 1. 2001 mit einer warnenden Presseerklärung.97 Demnach bedeute die Erschwerung der Parteiverbote die schutzlose Auslieferung der Republik an verfassungsfeindliche Parteien, und die Zerstörung der „Unteilbarkeit des Staates mit der Staatsnation“98. Ferner sei dies mit dem Gewaltenteilungsprinzip nicht vereinbar. Das Gericht könne auf diese Weise kein Gleichgewicht zwischen den Parteiverboten und der Organisations- und Meinungsfreiheit erstellen. Darauf hin wurde die parlamentarische Initiative bis zum Verfahrensende zurückgezogen. Als das Verfassungsgericht jedoch die Schließung anordnete, wurde die Initiative wieder im Gang gesetzt. Durch Änderungen in Art. 69 Abs. 6 TV wurde die Defi nitionshoheit des Gericht durch die erneute Einführung der „BrennpunktBestimmung“ diesmal auf Verfassungsebene beseitigt und in Art. 149 Abs. 1 TV die Parteischließung an die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Richter gebunden.

94

Entscheidung vom 22. 6. 2001, Rs. 1999/2 (PVV), Ents. 2001/2. Die Äußerungen über die Freigabe des Kopftuchs an den Universitäten wurde in der Anklageschrift als „Ausbeutung der religiösen Gefühle durch den Parteivorsitzenden, samt Funktionären, Abgeordneten und Bürgermeistern geradezu wie Vampire, die sich ausschließlich vom Blut ernähren“ und in einer anderen Stelle als „ein bösartiger Tumor, der sich durch den ganzen Körper frisst“ bezeichnet. Hervorhebung vom Verfasser. 95 Entscheidung vom 1. 4. 2003, Rs. 2003/21, Ents. 2003/13. 96 Siehe MP-Entscheidung von 3. 11. 1983, Rs. 1983/4 (PVV), Ents. 1983/4; EP-Entscheidung von 14. 2. 1997, Rs. 1996/1, Ents. 1997/1; DBHP-Entscheidung von 22. 5. 1997, Rs. 1996/3, Ents. 1997/3; DKP-Entscheidung von 26. 2. 1999, Rs. 1997/2, Ents. 1999/1 und zuletzt HADEP-Entscheidung vom 13. 3. 2003, Rs. 1999/1, Ents. 2003/1. 97 http://www.belgenet.com/2001/ana_mah_2201.html (2. 4. 2009). 98 Dieser sich von der in Europa üblichen „territoriale integrität“ unterscheidende Begriff weist darüber hinaus auf den Ausschluss des Föderalismus hin. Mehr dazu Can, Demokratiklesme Serüveninde, a.a.O., S. 137 ff.

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All diese Verfassungs- und Gesetzesänderungen waren wichtige Schritte in Richtung Demokratisierung des Landes.99 Ob sie allerdings ihren Zweck zu erreichen vermögen, ist fraglich. Immerhin sind fast alle Verbotsentscheidungen mit überwältigender Mehrheit der Richter erfolgt,100 so dass die Einführung einer qualifizierten Mehrheit von 3/5, also von 7 der 11 Richter im Verfassungsgericht kaum weitergeführt, solange das Gericht einer homogenen ideologischen Orientierung unterliegt. Dass Parteien noch immer wegen Meinungsäußerungen und demokratischen Forderungen nach mehr Partizipation und kulturelle Rechte verboten werden können, ist der Beweis dafür, dass eine Reformulierung des positiven Rechts alleine zur Gewährleistung einer freiheitlich-demokratischen Rechtsanwendung nicht reicht. Die letzten Verbotsverfahren, bei denen HAKPAR101 und AKP einer Schließung knapp entgangen sind, zeigen, dass nun institutionelle Implementierungen nötig sind, um einen demokratisch legitimierten und auf pluralistischem Boden agierenden Justizapparat zu schaffen, dem die Wahrung der Freiheit der Bürger wichtiger ist als die Loyalität zu bestimmten ideologischen Traditionen des Staates und deren Verteidigung. Es wird aber sehr schwierig sein, dies gegen eine Justiz durchzusetzen, die Pluralität noch immer als Gefahr für ihre eigene Unabhängigkeit etikettiert.102

3. Wiederaufnahme der Verhandlung Diese Loyalität der Justiz gegenüber tradierten Ideologien zeigt sich in Ihrer Haltung gegenüber den politischen Freiheiten, insbesondere in der Auseinandersetzung über die Möglichkeit der „Wiederaufnahme der Verhandlung“ im Parteiverbotsverfahren. Alle Verbotsentscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts mit Ausnahme der Refah-Entscheidung103 2001 wurden bislang vom EGMR als Konventionsverstoß geahndet.104 Deshalb wurde im Rahmen der Reformprozesse 2003 das türkische 99

Ebenso der Bericht von Venedig-Kommision, Prg. 72. Das Stimmverhältnis der Verbotsentscheidungen ist hierfür eindeutig. Das Gericht entscheidet mit elf Richtern, so dass 11-0 auf eine einstimmig ergangene Entscheidung hinweist: Ents. 16. 7. 1991 (TBKP) 11-0; Ents. v. 10. 7. 1992 (SP) 10-1; Ents. v. 14. 7. 1993 (HEP) 10-1; Ents. v. 23. 11. 1993 (ÖZDEP( 11-0; Ents. v. 30. 11. 1993 (STP) 11-0; Ents. v. 16. 6. 1994 (DEP) 11-0; Ents. v. 19. 3. 1996 (DDP) 10-1; Ents. v. 14. 2. 1997 (EP) 11-0: Ents. v. 16. 1. 1998 (RP) 9-2; Ents. v. 26. 2. 1999 (DKP) 6-5; Ents. v. 22. 6. 2001 (FP) 8-3; Ents. v. 13. 3. 2003 (HADEP) 11-0. Die beiden Parteien, HAKPAR und AKP waren einem Verbot knapp entgangen. In beiden Fällen haben sich die Mehrheit der Richter (6 von 11) für das Verbot ausgesprochen. Die letzte Partei kurdischer Opposition (DTP – emokratische Gesellschaftspartei) wurde 11. 12. 2009 verboten. Das Urteil war einstimmig (11-0) ergangen. 101 Pro-kurdische Partei, die Föderalismus als Lösung der Kurdenfrage vorschlägt und sich von der PKK distanziert. 102 Die Eröffnungsrede des Kassationshofspräsidenten Hasan Gerçeker zum Gerichtsjahr 2008–2009, S. 40. 103 Urt. v. 31. 7. 2001, Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a., Nr. 41340/98 u. a. 104 EGMR, Urt. v. 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a., RJD 1998-I (Parteiverbot); Urt. v. 25. 5. 1998, Sozialistische Partei (SP) u. a., RJD 1998-III (Parteiverbot); Urt. v. 8. 12. 1999, Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP), RJD 1999-VIII; Urt. v. 9. 4. 2002 Yazar u. a. (HEP), Nr. 22723/93; Urt. v. 12. 11. 2003, Sozialistischen Partei Türkei (STP), Nr: 26482/95; Urt. v. 10. 12. 2002, Dicle for DEP, Nr. 25141/94; Urt. v. 26. 4. 2005, Demokratie und 100

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Strafprozessgesetz (tStPG) geändert und Verurteilungen seitens des EGMR als Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens aufgenommen.105 Diese Änderung blieb auch nach der Neuregelung des tStPG im Jahre 2005 in Kraft. Nach Art. 311, Abs. 1f des geltenden tStPG ist die Verhandlung nunmehr wieder aufzunehmen, wenn das Strafurteil wegen Verstoß gegen die EMRK und die Zusatzprotokolle durch den EGMR rechtskräftig festgestellt wird. Das Verfahren ist unabhängig von dem in Art. 321 tStPG aufgeführten Erfordernis der „Essentialität neuer Tatsachen“ wieder aufzunehmen. Um die türkische Rechtsanwendung der internationalen Standards anzupassen, wurde dem Bürger diese Möglichkeit unabhängig davon eingeräumt, ob die Verletzung prozessualer oder materieller Natur ist.106 Das Verfassungsgericht befasste sich zunächst mit den Anträgen der zuvor verbotenen Parteien, deren Schließung vom EGMR als Konventionsverstoß geahndet wurde. Die Anträge von TBKP, HEP und ÖZDEP wurden als zulässig eingestuft. Doch die Prüfung in der Sache brachte kein Erfolg, da das Gericht die Verurteilung durch den EGMR alleine nicht als „essentiell“ befand. Laut Verfassungsgericht beruhten die Verurteilungen durch den EGMR nicht auf Tatsachen, die zur Zeit der Verhandlungen am Verfassungsgericht inexistent gewesen wären, sondern nur auf fehlerhaften Wertungen der Strafgerichte, welche nach Art. 321 tStPG nicht als „essentiell“ zu beurteilen seien. Selbst die in den letzten 10 Jahren erfolgten nationalen Gesetzes- und Verfassungsänderungen im Bereich der politischen Freiheiten wurden nicht als ausreichende Indizien für „essentielle“ Änderungen im Verbotstatbestand angesehen.107 Die Entscheidungen des EGMR basieren fast ausschließlich auf Wertungen der Taten im Lichte der EKMR. Ein Konventionsverstoß wird in der Regel in Fällen festgestellt, in denen die der Verurteilung zugrunde gelegten Taten Freiheiten i. S. der Menschenrechtskonvention darstellen, und die Anwendung des nationalen Strafrechts diesen Umstand verkennt. Vor diesem Hintergrund kommt die Auslegung des Art. 311 TStPG Abs. 1-f durch das Verfassungsgericht der Beseitigung des gesetzgeberischen Willens gleich. Denn die vom Gesetzgeber ermöglichte Wiederaufnahme des Verfahrens sollte nicht den Fall der Änderung der Gesetzlage betreffen, sondern gerade dazu dienen, die Vereinbarkeit der Rechtsanwendung mit der EMRK sicherWandlungspartei (DDP) u. a., Nr. 39210/98 u. a.; Urt. v. 31. 5. 2005, Arbeitspartei (EP) u. a. Nr. 39434/98; auch Urt. v. 5. 4. 2007 Ilıcak u. a., Nr. 15394/02, in dem Mandatsverlust der Abgeordneten der Tugendpartei (FP) als Konventionsverstoß geahndet wurde, deutete auf eine mögliche Verurteilung der Türkei im Fall der FP hindeuten. Doch diese Partei hatte nach der Entscheidung des EGMR (Leyla S¸ ahin gegen Türkei, Urt. v. 29. 6. 2004, Nr. 44774/98), in der das Kopftuchverbot an den türkischen Universitäten für rechtens erklärt wurde, ihren Antrag mit der Begründung zurückgezogen, dass der EGMR bezüglich islamischer Gesellschaften seine Glaubwürdigkeit verloren habe. 105 Gesetz Nr. 4793 verabschiedet 23. 1. 2003. 106 In Abs. 2 ist eine Ausnahme vorgesehen. Die EGMR Urteile, welche auf Anträge ergangen sind, die vor 4. 2. 2003 gestellt wurden, aber bis zu diesem Tag nicht rechtskräftig geworden sind, dürfen nicht wieder verhandelt werden. Die Frage nach der Eigenschaft dieser Periode lässt sich nicht defi nitiv beantworten, da von der amtlichen Begründung nichts zu entnehmen ist. Aber der Hinweis darüber, dass die Eigenschaften des EGMR Urteils über den Führer der kurdischen Separatisten, Abdullah Öcalan, zufälliger Weise dieser Norm entspricht (Antragsdatum 16. 2. 1999, Nr. 46221/99), dürfte als eine Erklärung u. a. in Frage kommen. 107 Entscheidungen vom 8. 1. 2008, Rs. 2003/1 (DS), Ents. 2008/2 (HEP); Rs. 2003/2 (DS), Ents. 2008/3 (ÖZDEP) und Rs. 2003/6 (DS), Ents. 2008/4 (TBKP).

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zustellen und damit Konkordanz zwischen nationalem und internationalem Recht herzustellen.108 Aufgrund der Auslegung des Verfassungsgerichts ist der Weg zur Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten der zuvor verbotenen politischen Parteien in praxi gesperrt, so dass eine erneute Gesetzesänderung gar Verfassungsänderung notwendig ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Reformen auf Normebene nur dazu eingeleitet sind, um die politischen Parteien vor der türkischen Justiz zu schützen.

V. Das Verfahren Nach Art. 69, Abs. 4 TV und Art. 98. Abs. 1 PPG i. V. m. Art 33 TVGG erfolgt das Verbot politischer Parteien auf Klage des Generalstaatsanwalts der Republik unter Anwendung der Bestimmungen des Strafprozessgesetzes nach Prüfung auf Grundlage der Akten durch Urteil des Verfassungsgerichts. Das Verfahren wird mit der Annahme der Anklageschrift durch das Verfassungsgericht eröffnet (Art. 175 tStPG). Im Verfahren wird nach dem mündlichen Plädoyer des Generalstaatsanwalts der Parteivorsitzende oder ein von ihm ernannter Vertreter angehört. Nach der Zustellung der Anklageschrift ist zunächst eine schriftliche Vorverteidigung der betreffenden Partei vorgesehen. Danach wird der Generalstaatsanwalt zur Abgabe seines schriftlichen Plädoyers in der Sache aufgefordert, welches an die Partei zwecks schriftlicher Verteidigung zugestellt wird. Nach dem Abschluss des schriftlichen Verkehrs werden in angemessener Zeitperiode zunächst der Generalstaatsanwalt und der Parteivorsitzende zur mündlichen Anhörung eingeladen, wobei die Prozessparteien nicht befragt werden. Nach der Vervollständigung der Akte erstellt der Berichterstatter einen Bericht mit einem Vorschlag, auf dessen Grundlage die Verfassungsrichter beraten und zu einem Urteil kommen. Das Verfahren wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgeschlossen. Obwohl die Vorentscheidung darüber, ob eine Partei Gefahr für demokratische Ordnung darstellt, zunächst politischer Natur ist, wird das Verfahren in der Türkei von der Generalstaatsanwaltschaft angestoßen und vom Verfassungsgericht, bestenfalls als automatische Konsequenz der Erfüllung von rechtlichen Kriterien angesehen. Anders als in den meisten europäischen Ländern spielt das Parlament weder bei der Vorbereitung, noch bei der Antragstellung irgendeine Rolle. Die juristische Bürokratie startet das Verfahren und schließt es ohne Einwirkungsmöglichkeiten parlamentarischer oder exekutiver Gremien und damit ohne demokratische Kontrolle ab. Die türkische Regelung nimmt damit eine Ausnahmestellung in Europa ein.109 Sie entspricht jedoch dem Rechtsstaatsverständnis und der Staatsvorstellung des türkischen Establishments.

108 Genau in dieser Richtung siehe die abweichende Meinung der Richter Kılıç und Adalı. Auch die Richter Kantarcıog˘ lu und Perktas¸ haben prinzipiell gegen die Mehrheit gestimmt. 109 In derselben Richtung auch der Bericht der Venedig-Kommission „Opinion on the Constitutional an Legal Provisions Relevant to the Prohibitation of the Political Parties in Turkey“, 78. Sitzung, 13.–14. März 2009, http://www.venice.coe.int/docs/2009/CDL-AD(2009)006-e.asp (3. 4. 2009), Prg. 35.

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Laut Art. 98, Abs. 3 PPG besitzt die Generalstaatsanwaltschaft für die Auf klärung und Untersuchung der Tatsachen, die den Grund der Anklageschrift bilden, und hinsichtlich der Eröffnung und Führung des Prozesses alle den Staatsanwälten der Republik und den Untersuchungsrichtern zuerkannten Befugnisse. Unter der Führung des Generalstaatsanwalts ist eine Gruppe von Staatsanwälten mit der Überwachung der Parteien beauftragt. Als von der gesellschaftlichen Dynamik und der Politik isolierte Akteure der juristischen Bürokratie110 stellen sie die für sie rechtsrelevanten Tatsachen fest und schließen die Anklageschrift nach ihrem Verständnis und gemäß ihrer Wahrnehmung der Gefahr für die Republik im Namen des Generalstaatsanwalts ab. Da der Staat in der Türkei traditionell als eine außerhalb der Politik und demokratischer Vertretung liegende Institution verstanden wird, ist die richterliche Vorstellung von Gefahr desto größer, je stärker die angeklagte politische Partei eine demokratische Akzeptanz in der Bevölkerung findet.111 Diese Feststellung gilt ebenso für die Mehrheit der Verfassungsrichter, wenn man die Entscheidungsbegründung der Verbote112 oder die dissenting votes113 bei den Zurückweisungen näher betrachtet. Andere politische Parteien oder auf der Grundlage eines Beschlusses des Ministerrates auch das Justizministerium dürfen gemäß Art. 100 PPG bei der Generalstaatsanwaltschaft um das Verbot einer politischen Partei ersuchen. Jedoch ist für das Ersuchen einer politischen Partei erforderlich, dass diese Partei sich an den letzten allgemeinen Wahlen beteiligt und weitere im Gesetz aufgestellten Bedingungen erfüllt hat. Die Stellung des Verbotsantrags liegt aber im Ermessen der Generalstaatsanwaltschaft. Im Falle der Ablehnung steht den Ersuchenden gemäß Art. 99 PPG zu, ihre Einwendungen schriftlich bei dem Untersuchungsausschuss für die Parteiverbote zu erheben. Dieser setzt sich, aus den höchsten Richtern des Kassationshofs zusammen.114

110 Siehe dazu Osman Can, Unabhängigkeit der Richter in der Türkei, in: „Justice – Justiz – Giustizia“ (Schweizer Richterzeitung) 2006/2. 111 In den Beispielen der Anklageschriften gegen die Refah Partisi, Fazilet Partisi und zuletzt gegen die AKP ist diese Tendenz deutlich erkennbar. 112 Entscheidung vom 9. 1. 1998, Rs. 1998/2 (PVV-Refah), Ents. 1998/1 und vom 22. 6. 2001, Rs. 1999/2 (PVV-Fazilet), Ents. 2001/2. 113 Abweichende Meinung von Richtern O. A. Paksüt, F. Kantarcıog˘lu, M. Erten, A. N. Özler, S¸. Apalak und Z. A. Perktas¸ in der AKP-Entscheidung vom 30. 7. 2008, Rs. 2008/1 (PVV), Ents. 2008/2. 114 Soweit bekannt hatte die ultra-nationalistische orthodox-kemalistische Arbeiterpartei (I˙¸sçi Partisi) zu der Klageerhebung gegen die AKP beigetragen, da aber der Generalstaatsanwalt ex offi cio die Klageschrift eingereicht hatte, konnte nicht festgestellt werden, welches Gewicht die Anregung der Partei beim Entschluss des Generalstaatsanwalts hatte. Arbeiterpartei (I˙¸sçi Partisi) ist die informelle Nachfolgerin der 1991 vom Verfassungsgericht wegen Verstoß gegen den Nationalismus im Sinne von Atatürk verbotenen Sosyalist Parti (Sozialistische Partei). Der Parteivorsitzende und viele Funktionäre sind derzeit aufgrund eines Putschversuches angeklagt (Ergenekon-Fall). Das Verfahren ist noch anhängig.

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VI. Das Wesen des Verfahrens und prozessuale Garantien Als juristische Personen sind die politische Parteien Träger der Grundrechte und Freiheiten. Deshalb gelten neben den allgemeinen Grundrechtsgarantien, wie der Verfassungs- und Gesetzesvorbehalt, auch die strafrechtlichen Garantien in Art. 38 TV bei jedem Grundrechtseingriff erst recht bei Verbotsverfahren. Nach Art. 33 TVGG wird das Verbotsverfahren unter Anwendung der Bestimmungen des Strafprozessgesetzes geführt und abgeschlossen. Die Einhaltung der Tatbestandsmäßigkeit und der Zurechenbarkeit des Handelns, das Prinzip in dubio pro reo/libertate, das Schuldprinzip, der Gesetzesvorbehalt, die restriktive Auslegung der freiheitsbeschränkenden Normen, die Unzulässigkeit der Verwendung von rechtswidrig erlangten Beweisen, die Rücksicht auf die parlamentarische Indemnität sind Garantien, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Das Verfassungsgericht stellte 1984 im Verbotsverfahren gegen die Dodruyol Partisi (Partei des Rechten Weges), die nicht im ideologischen Widerspruch zum Staat stand und wegen des Vorwurfes angeklagt wurde, die Nachfolgerin einer vom Militärputsch verbotenen Partei zu sein, ausdrücklich fest, dass das Verfahren zu Parteiverboten im System der Verfassungsbestimmungen teleologisch und grammatisch als Strafverfahren anerkannt sind.115 Diese klare Erkenntnis verschwindet im Verbotsverfahren gegen die Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) 1998. In der Wahrnehmung der Generalstaatsanwaltschaft, des Verfassungsgerichts und der ganzen Justiz stand die Partei im ideologischen Widerspruch zum Staat. Das Verbotsverfahren wurde nach Abkehr von der frühen Rechtsprechung nunmehr als sui generis-Verfahren beschrieben. Im Urteil führte das TVerfG aus, der Gesetzgeber betrachte die Verbotssanktion aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen als den Grundsätzen des Strafrechts nahe stehend. Die ausdrückliche Anordnung, dass das Verbotsverfahren unter Anwendung des Strafprozessgesetzes zu führen ist, wurde vom Gericht jedoch als Beweis dafür gewertet, dass es kein Strafverfahren im eigentlichen Sinne ist.116 Die Folge war, dass die strafrechtliche Garantien, wie Rückwirkungsverbot, die Unzulässigkeit der Verwendung von rechtswidrig erlangten Beweisen, die parlamentarische Indemnität, in dubio pro libertate und nulla poena sine lege nicht angewendet wurden.117 Diese Rechtsprechung des Gerichts wurde mit kleinen Korrekturen für alle folgenden Parteiverbotsverfahren angewandt. Im Verbotsverfahren gegen Fazilet Partisi wurde die Partei überwiegend wegen der Äußerungen im Parlament über die Kopftuchfrage verboten und hauptsächlich aus dem Grund, dass eine Abgeordnete mit ihrem Kopftuch im Parlament ihren Eid leisten wollte und dabei von der Fraktion Unterstützung erhielt. Dies reichte für den Verlust des Mandats von fünf Abgeord115

DYP-Entscheidung vom 28. 9. 1984, Rs. 1984/1 (PVV), Ents. 1984/1. Entscheidung vom 9. 1. 1998, Rs. 1998/2 (PVV-Refah), Ents. 1998/1. 117 Wie oben an einigen Stellen erwähnt, wurden Normen aufgehoben (Art. 103 PPG) und rückwirkend angewendet, die zugunsten der angeklagten Parteien wirkten, heimliche Videoaufnahmen wurden als Beweis der Entscheidung zugrunde gelegt (RP-Entscheidung), und die im Parlament abgegebenen Stimmen und Äußerungen im Plenum des Parlaments zur Begründung herangezogen mit der Folge, dass die betroffenen Abgeordneten ohne Zustimmung des Parlaments ihre Mandate verloren (RP-, FP- und AKP-Entscheidung, bei der letzteren ohne Mandatverlust). 116

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neten.118 In der AKP-Entscheidung wurde zwar über das Wesen des Verfahrens geschwiegen, aber grundsätzlich anerkannt, dass die parlamentarische Indemnität vor dem Parteiverbot nicht schütze. Das Gericht beschränkte sich dabei jedoch, wenn auch nicht eindeutig, auf Äußerungen, aus denen die Absicht der Beseitigung der freiheitlich demokratischen Ordnung deutlich erkennbar ist.119 Die praktische Handhabung dieser theoretisch akzeptablen Maxime war indes kaum zufriedenstellend. Denn gerade in dieser Entscheidung bilden mindestens vier von ca. 28 verbalen Beweisen Äußerungen in Parlamentsdebatten, welche das Kopftuchverbot und die Haltung der Gerichte kritisierten und welche daher schwerlich unter der „Beseitigung der freiheitlich demokratischen Ordnung“ subsumiert werden können.

VII. Abschließende Bemerkungen Um den Gebrauch der „wehrhaften Demokratie“ zu rechtfertigen, sollte die politische Ordnung insgesamt der minimalen Anforderungen einer Demokratie entsprechen und die zu verbietenden Parteien nach demokratischen Maßstäben als „demokratiefeindlich“ eingestuft. Hier gibt es berechtigte Bedenken: Der politische Prozess in der Türkei ist ein Prozess des fast 100-Jährigen Ausnahmezustandes, als dessen Ausgangspunkt man den von ITC geführten Putsch von 1913120 betrachten könnte. Seitdem hat die ideologische und z. T. organisatorische Grundstruktur dieser Partei das politische System in der Türkei geprägt. Sie hat einen Staatsapparat entstehen lassen, der sich durch Militärputsche zu einem bürokratischen Machtapparat zu entwickeln und allen demokratischen Strömungen zu trotzen wusste. Das Parteiverbotsverfahren ist ein Instrument der Aufrechterhaltung dieser bürokratischen Machtstruktur geworden. Die dadurch der Politik gezogenen Grenzen sind bereits in 30er und 40er Jahren, während der Alleinherrschaft einer Staatspartei, die man aus soziologischer Hinsicht als „Bürokratenpartei“ bezeichnen darf, festgelegt worden. In den der Parteiverbote zugrunde liegenden Maßstäben spiegelt sich daher eine Staatsvorstellung, deren Grundstrukturen mit Liberalismus und freiheitliche Demokratie schwerlich zu vereinbaren ist. Das System ist mit der Ausnahme der Nationalversammlung im figurativen Sinne in all seinen Einzelheiten ein Produkt der bürokratischen Elite. Es entwickelte sich in Stadien. Die Verfassung von 1924 wurde durch die Staatspartei konstruiert, so dass die Staatsmacht an die Partei überlagert wurde. Die Verfassung von 1961 ist das Produkt eines Militärputsches. Während ihrer Geltung begann die Bürokratie, gegenüber der pluralisierten Gesellschaft sich die Aufgabe des Beschützers und Hüters des zuvor etablierten Systems zuzuweisen. Sie löste sich von der früheren Staatspartei, die zu einem Teil des unausweich118 Die Mandatsverluste wurden vom EGMR als Konventionsverstoß geahndet. Siehe die EGMR Entscheidungen Kavakçı/Türkiye (Nr. 71907/01), Sılay/Türkiye (Nr. 8691/02) ve Iıcak/Türkiye (Nr. 15394/02). 119 AKP-Entscheidung vom 30. 7. 2008, Rs. 2008/1 (PVV), Ents. 2008/2. 120 Mit diesem Putsch bekam die ITC die Alleinherrschaft und blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges an der Macht. Die zuvor begonnene Säuberung der Partei von den christlichen Minderheiten, den liberalen und dezentralistischen Strömungen wurde damit abgeschlossen.

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lichen formell demokratischen Prozess geworden war und verlagert sich in einem Raum „außerhalb/oberhalb der Politik“ mit der Folge, dass ihre Entscheidungsprozesse der Entscheidungskompetenz der demokratisch legitimierten Institutionen soweit wie möglich entzogen war.121 Diese Phase ist durch eine weitgehende Zusammenarbeit von der Bürokratie und ehemaliger Staatspartei gekennzeichnet. Diese Zusammenarbeit endete mit der militärischen Intervention von 1971 und das Ende wurde mit dem Militärputsch von 1980 besiegelt. Die Verfassung von 1982 war die Krönung der bürokratischen Herrschaft. Wegen der Implementierung der militärischen Interventionswege in die Verfassung122, wurde ein System geschaffen, das man als „Putsch in Permanenz“ bezeichnen darf. Vor diesem Hintergrund dienten Parteiverbotsverfahren in der Türkei nicht einem Konzept einer wehrhaften Demokratie. „Demokratie“ und „Freiheit“ wurden in keinem der Verfahren als Schutzgut herangezogen, in dieser Richtung „definiert“ oder gar über das Gewicht eines „obiter dictums“ hinaus erwähnt. Die von angeklagten Parteien verwendeten Begriffe wie „Demokratie“ und „Freiheit“ wurden vielmehr als „Deckmantel“ oder „Hülle“ der „verfassungsfeindlichen“ Tätigkeiten definiert, gegen die alle staatlichen Organe entschlossen kämpfen sollten. Ein Überblick über Grundannahmen lassen problematische Wertungen erkennen: Das Laizismusprinzip als das höchste Gut im Lande könne durch die Gewährung und Ausübung von Freiheiten zerhackt werden.123 Pluralismus und die Anerkennung der Minderheitenrechte würden zur Trennung und Zerteilung des Landes führen.124 Schriften und Reden der politischen Parteien mit den genannten Inhalten seien zu verbieten.125 Alles, was gegen Nationalismus Atatürks verstoße, zerstöre zugleich die Einheit des Landes.126 Auch von der Vorbeugung gegen Rassismus ist in den Entscheidungen öfters die Rede, dies freilich in einem vom gemeineuropäischen Verständnis abweichenden Sinne. Als rassistisch wurden nur ausschließlich diejenigen Meinungsäußerungen verurteilt, in denen behauptet wird, dass es in der Türkei andere Völker als das Türkische gibt, die zu schützen seien und Inhaber kultureller Freiheiten sein sollten.127 Keine tatsächlich rassistisch-nationalistische, militaristische und die für die Auf hebung der Demokratie plädierende Parteien sind hingegen jemals verboten, ja angeklagt worden. Selbst die offene Befürwortung des Massakers gegen die Aleviten in 121 Siehe Art. 43 des Gesetzes über Streitkräfte mit Nr. 211 und Art. 3 der Satzung der Richter- und Staatsanwältebund. 122 Siehe die Grundprinzipien in der Präambel, die autonome Stellung des Militärs gegenüber der Regierung in Art. 117 und insbesondere die Implementierung des Nationalen Sicherheitsrats in Art. 118, worin alle wichtigen politischen Fragen unter der Teilnahme des Oberbefehlshabers und obersten Kommandanten der Heer ausdiskutiert und der Regierung als ein in praxi verbindliches Programm vorgelegt wird. 123 Ents. 7. 3. 1989, Rs. 1989/1, Ents. 1989/12. 124 Ents. vom 20. 7. 1971, Rs. 1971/3 (PVV), Ents. 1971/3. 125 A.a.O.; Ents. vom 19. 7. 1995, Rs. 1993/4 (PPV), Ents. 1995/1. 126 Ents. vom 14. 7. 1993/1, Rs.. 1992/1 (PVV), Ents. 1993/1, Ents. vom 10. 7. 1992, Rs. 1991/2 (PVV), Ents. 1992/1. 127 Einige Beispiele hierfür TBKP-Ents. vom 16. 7. 1991, Rs. 1990/1 (PVV), Ents. 1991/1; ÖZDEP-Ents. vom 23. 11. 1992, Rs. 1991/1 (PVV), Ents. 1993/2; SBP-Ents. vom 19. 7. 1995, Rs. 1993/4 (PVV), Ents. 1995/1; STP-Ents. vom 30. 11. 1993, Rs. 1993/2 (PVV), Ents. 1993/3; DKP-Ents. vom 26. 2. 1999, Rs. 1997/2 (PVV), Ents. 1999/1.

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Dersim 1937–38 Massaker unter Verantwortung der Staatspartei,128 Aufruf zum Militärputsch oder zum Volksaufstand gegen die Minderheiten129 hat kaum die Aufmerksamkeit der Justiz erweckt. Die Parteiverbotsentscheidungen reflektieren damit die Staatsstruktur. Verfassungsinstitutionen können nur das System reproduzieren, in dem sie agieren und den ideologischen Hintergrund, vor dem sie angelegt sind. Das gilt insbesondere für diejenigen Institutionen, die von der demokratischen Legitimation ausgeschlossen und daher von der politischen und gesellschaftlichen Dynamik am wenigstens betroffen sind. Sie sind nicht pluralistisch, erzeugen in ihrer geschlossenen und recht homogenen Umgebung eigene Realitäten, in der kulturelle und geistige Erneuerungen stets als Gefahren wahrgenommen werden. Davon ist auch das türkische Verfassungsgericht betroffen. Es hat sich nicht zum Hüter der Grundrechte entwickeln können, trug stets zu einer Homogenisierung des politischen Lebens bei und in kritischen Stadien funktionierte als effektivstes Hindernis in Richtung auf ein demokratisches Staatsverständnis nach europäischen Mustern.130 Seine Rechtsprechung zu den Parteiverboten ist ein präziser Spiegel anhaltenden Widerstandes der bürokratischen Eliten gegen demokratische Partizipationsbestrebungen der türkischen Gesellschaft. Die zahlreichen Parteiverbote in der Türkei können daher ohne diesen Hintergrund nicht verstanden werden.

128 Siehe die am 10. 11. 2009 im Parlament über die demokratische Öffnung und Lösung der 100-Jährigen Kurdenfrage geführten Debatte. 129 Siehe die am 8. 12. 2009 geführten Reden von Führern und Abgeordneten der Oppositionsparteien. 130 In derselben Richtung noch ausführlicher Ceren Belge, Friends of the Court: The Republican Alliance and Selective Activism of the Constitutional Court of Turkey, in: Law & Society Review, Volume 40, Number 3 (2006).

Der Distrikt Brcˇko – Verfassung und Recht von

Prof. Dr. Ulrich Karpen, Universität Hamburg Inhalt I. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die völkerrechtliche Lage des Bezirks Brcˇko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Verfl echtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Brcˇko im Dayton-Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der endgültige Schiedsspruch (Final Award) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der rechtliche Status des Distrikts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die staatsrechtliche Lage des Bezirks Brcˇko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verfassungen der Entitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Statut des Distrikts Brcˇko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Organisation und Verfahren der Distriktsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Distriktsversammlung (Rat). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rechtsprechung als dritte Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Internationale Aufsicht und der Supervisor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Status des Supervisors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kompetenzen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Supervisor im Gefl echt der völker- und staatsrechtlichen Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Entstehung Die Probleme multiethnischen Zusammenlebens von Kroaten, Serben und Bosniaken, die den um seine staatliche Stabilität ringenden Staat Bosnien und Herzegowina kennzeichnen, lassen sich wie unter einem Brennglas in der Stadt Brcˇko und ihrer Umgebung – völker- und staatsrechtlich: dem „Bezirk Brcˇko“ – beobachten. Es handelt sich um ein 80.000-Einwohner-Gebiet an der Sava, dem Grenzfluss zu Kroatien. Aus strategisch-geographischen Gründen internationalrechtlich am Kriegsende 1995

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gebildet, stellt der Distrikt einen Tel des „Posavina-Korridors“ dar und ist ein „Kondominium der beiden Bestandteile („Entitäten“) von Bosnien und Herzegowina, der „Föderation Bosnien und Herzegowina“ einerseits und der Serbischen Republik („Republika Srpska“) andererseits. Der Distrikt vereinigt Elemente der Staatlichkeit und der kommunalen Selbstverwaltung in großer Vielfalt, innerhalb der völkerrechtlich beschränkten Souveränität der gesamtstaatlichen Republik Bosnien und Herzegowina, eines der völker- und staatsrechtlich komplexesten – wenn nicht einmalig komplexen – Gebildes auf der Welt. Bosnien und Herzegowina ist immer noch kein selbsttragender Staat,1 gar ein „verhinderter Staat“,2 wenngleich der Zusammenhalt des Staates nicht mehr militärisch bedroht ist. Wie schon wiederholt, denken Mitglieder des Friedensimplementierungsrates der internationalen Staatengemeinschaft, die den Friedensprozess materiell, fi nanziell und personell unterstützen, daran, das Amt des Hohen Repräsentanten aufzuheben.3 Es scheint, als ob das Unvermögen der einheimischen Parteien, sich in den Dayton-Verhandlungen auf eine Lösung für Brcˇko zu einigen4, und der spätere Schiedsspruch des Schiedsgerichtes für die endgültige Festlegung der Grenzlinie zwischen der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska vom 5. März 1999 bewirkt haben, dass Brcˇko, ein Mikrokosmos Bosnien und Herzegowinas, zu einem Labor für eine gelingende interethnische Zusammenarbeit geworden ist.5 Die im Distrikt (440 km 2 ) lebenden 46% Serben, 43% Bosniaken und 11% Kroaten arbeiten in allen drei Staatsgewalten zusammen, unterhalten ein integriertes Bildungssystem und eine gemeinsame Polizeiverwaltung, eine Kooperation, die in anderen Teilen des Gesamtstaates noch immer nicht möglich ist. Brcˇko war ursprünglich mehrheitlich kroatisch und bosniakisch. Während des Krieges wurde die Stadt von serbischen Truppen eingenommen. Beim Inkrafttreten 1 Christophe Solioz, Turning Points in Post-War Bosnia – Ownership Problems and European Integration, Baden-Baden, 2005, S. 17 ff.; ders., Dayton and Beyond: Pespectives on the Future of Bosnia and Herzegovina, Baden-Baden, 2004, pass.; ders., Ownership Process in Bosnia and Herzegovina. Contributions on the International Dimensions of Democratization in the Balkans, Baden-Baden, 2003, pass. 2 Caroline Hornstein-Tomic´, Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach Dayton, in: KonradAdenauer-Stiftung, Auslandsinformationen, 11/2005, S. 43 f. 3 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 6. 2009. 4 Richard Holbrooke, To end a war, New York, 1998, S. 272 f. 5 Ulrich Karpen, Nation Building im Kleinen – Erfahrungen beim Auf bau von Bosnien-Herzegowina, in: Friedhelm Hufen (Hrsg.), Verfassungen. Zwischen Recht und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden, 2008, S. 500–512; International Crisis Group (ICG), Balkans Report No. 55, Brcˇ ko: A Comprehensive Solution, Sarajewo, 1999; Michael G. Karnavas, Creating the Legal Framework of the Brcˇ ko District of Bosnia and Herzegovina: A Model for the Region and other Postconfl ict Countries, The American Journal of International Law, vol. 97, No. 1 (2003), S. 111–131; Zoran Domic´, Der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina im Spannungsfeld von Integration und Desintegration, Hamburg, 2008, S. 162; Wolfgang Graf Vitzthum, Multiethnische Demokratie – Das Beispiel Bosnien-Herzegowina, in: C. D. Classen (Hrsg.), Liber Amicorum Thomas Oppermann, Berlin, 2001, S. 87 ff.; ders., Ethnischer Föderalismus unter Protektoratsbedingungen – Das Beispiel Bosnien und Herzegowinas, in: Rudolf Hrbek (Hrsg.), Europäischer Föderalismus im 21. Jahrhundert, Baden-Baden, 2003, S. 118 f.; Konrad-Adenauer-Stiftung, Außenstelle Sarajewo, Eine Bilanz der Stiftungsarbeit in Bosnien und Herzegowina 2001–2005, Sarajewo, 2005; Asim Mujkic´, We, the citizens of ethnopolis, Sarajewo, 2008, S. 83 f.

Der Distrikt Brcˇ ko – Verfassung und Recht

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der Distrikt-Regelung war die Bevölkerung vollständig serbisch.6 Brcˇko war vor dem Krieg eine der reichsten Städte in Bosnien und Herzegowina. Die Lage der Stadt weist einige herausragend wichtige Besonderheiten auf. Sie vermittelt für Zentralbosnien und den südlichen Balkan den Weg nach Kroatien, Zentraleuropa und den Zugang zur Autobahn Zagreb-Belgrad. Brcˇko besitzt den einzigen bosnischen Hafen an der Sava, der den Schifffahrtsweg nach Belgrad und an die Donau eröffnet. Ökonomisch und vor allem militärisch-strategisch verbindet der Distrikt den Ostund Westteil der Republika Srpska. Dieser Posavina-Korridor wurde vor dem Krieg mehrheitlich von Kroaten und Bosniaken bewohnt. Wegen der serbischen Besetzung geriet die Stadt Brcˇko bei Kriegsende faktisch in serbische Treuhandschaft. Der südliche Teil des Distrikts war unter Verwaltung der Föderation. Bis zur Einrichtung des Distrikts Brcˇko am 8. März 2000 auf der Grundlage des Schiedsspruchs vom 5. März 1999 wurde die Regierungsgewalt durch die zwei Entitäten und drei entitätseingegliederte Städte (Ravne/Brcˇko, Brka, Brcˇko Grad) ausgeübt. Durch die Einrichtung eines einheitlichen Verwaltungsbezirks wurden die genannten geographischen und strategischen Probleme gelöst. Der Distrikt ist als Kondominium der Föderation und der Republika Srpska eine Einheit lokaler Selbstverwaltung mit einer integrierten, multiethnischen, demokratischen Legislative, Verwaltung, Polizei und Justiz. Er ist eine demilitarisierte Zone. Der übrige Teil des Posavina-Korridors ist der zur Föderation gehörige Posavski-Kanton. In der bundesstaatlichen Ordnung Bosnien und Herzegowinas stellt der Distrikt Brcˇko einen Sonderfall dar. Er ist eine Art dritte Entität.7 Brcˇkos wie Bosnien und Herzegowinas Rechtslage ist durch eine Schnittstelle von internationalem und nationalem Recht des Landes gekennzeichnet, wobei der völkerrechtliche Rahmen dominierend ist, sei es als unmittelbare Grundlage der rechtlichen Existenz des Staates, sei es durch die Aufsichtsbefugnisse und das vielfach ausgeübte „Selbsteintrittsrecht“ des Internationalen Hohen Repräsentanten. Das Internationale Recht wird durch den Dayton-Vertrag vom 14. Dezember 19958 mit seinen Anlagen und dem Endgültigen Schiedsspruch des Schiedsgerichts über die Grenzziehung im Gebiet Brcˇko vom 5. März 19999 bestimmt.Nationalrechtlich kommen in Betracht die Verfassung von Bosnien und Herzegowina, die als Anlage 4 dem Vertrag von Dayton beigefügt wurde und vom Staat Bosnien und Herzegowina, der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska gebilligt wurde, sowie die Verfassungen der Föderation Bosnien und Herzegowina10 und der Republika Srpska,11 letztlich das Statut des Distrikts, welches der Rat des Bezirks (Assembly) am 8. März 2000 beschlossen hat.12 6 Zum Krieg aus ethnischer Sicht: Mustafa Bisic´, Ratin Zlocin, I Genocid sa sudskom praksona, IP Knjiga, Sarajewo, 1999; eine gute Einführung in die Geschichte des Landes bietet Agilolf Keßelring, Wegweiser zur Geschichte Bosnien-Herzegowinas, Paderborn, 2005, S. 69 ff. 7 Alexander M. Rehs, Gerichtliche Kontrolle internationaler Verwaltung, Das Beispiel Bosnien und Herzegowina, Berlin, 2006, S. 59, Fn. 114 m. w. N. 8 http://www.oscebih.org/overview/gfap/bas, zuletzt gelesen am 30. Aug. 2009. 9 Office of the High Representative, Essential Legal Texts, Brcˇ ko, June 2007. 10 OffGaz of the Federation of Bosnien and Herzegovina 1/94 mit zahlreichen Änderungsgesetzen. 11 OffGaz of Republika Srpska 6/92 mit zahlreichen Änderungen. 12 http://www.ohr.int./ohr-offices/brcko (30. Aug. 2009); OG of BD, No 1/00 mit vielfachen Änderungen.

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II. Die völkerrechtliche Lage des Bezirks Brcˇko 1. Internationale Verflechtung Die Durchsetzung des durch den Dayton-Vertrag geregelten Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina obliegt dem Hohen Repräsentanten.13 Er ist dem Friedensimplementierungsrat, der fi nanziell, materiell und personell um Bosnien und Herzegowina bemühten Staatengemeinschaft und der UNO gegenüber rechenschaftspfl ichtig.14 Sein Vertreter im Distrikt ist der Deputy High Representative, der Supervisor.15 Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Situation Bosnien und Herzegowinas wie folgt beschrieben: „The Security Council . . . recognizes the unique, extraordinary and complex character of the present situation in Bosnia and Herzegovina, requiring an exceptional response.“16 Das gilt in besonderer Weise für Brcˇko. Zu den 55 Regierungen und Organisationen, die den Friedensimplementationsrat bilden, gehören außer der UNO auch die Europäische Union, die NATO, OSZE, der Europarat, die Weltbank usw.17 Die Aussicht auf einen späteren Beitritt zur EU ist zweifellos eine Antriebskraft für die Politik des Landes. Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien liegt allerdings in weiter Ferne, und die realistische Einsicht gebietet, nicht zu sehr auf die EU als einen automatisch funktionierenden Motor der Reform des Landes zu vertrauen.18

2. Brcˇ ko im Dayton-Abkommen Das Dayton-Abkommen19 stand am Ende langer und komplizierter Verhandlungen zwischen Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien. „The peace agreement for Bosnia is the most ambitious document of its kind in modern history, perhaps in history as a whole. A traditional peace treaty aims at ending a war between nations and coalitions of nations, while here it is a question of setting up a state on the basis of little more than ruins and rivalries of a bitter war.“20 Das Abkommen ist ein durch 13

Art. II 1 a) Annex 10 des Vertrages (Fn. 8). Art. I und II 1 f. des Annexes 10 des Dayton-Abkommens (Fn. 8). 15 Daniel Sven Smyrek, Internationally Administered Territories – International Protectorates?, An Analysis of Sovereignity over Internationally Administered Territories with Special Reference to the Legal Status of Post-War Kosovo, Berlin, 2006, S. 157 f. 16 Resolution 1031 vom 15. 12. 1995, Ziff. 39. 17 Rehs (Fn. 7), Fn. 39; vgl. auch Werner Wnendt, Die zukünftige Rolle der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, in: Erich Reiter/Pedrag Jurekowic´ (Hrsg.), Bosnien und Herzegowina, Europas Balkanpolitk auf dem Prüfstand, Baden-Baden, 2005, S. 75 f.; Wolfgang Graf Vitzthum, Staatsauf bau in Südosteuropa, Bosnien und Herzegowina als Paradigma außengestützter Staatsbildung, in: Frowein u. a. (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden, Festschrift Tono Eisel, Berlin, 2003, S. 823–846; ders./Markus Mack, Multiethnischer Föderalismus in Bosnien und Herzegowina, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus – supranationaler, subnationaler und multiethnischer Föderalismus in Europa, Berlin, 2007, S. 81–136. 18 Western Balkans: The lost case of the EU, in: Solioz (Fn. 1) S. 149; Erich Reiter, Die Rolle der Internationalen Gemeinschaft, Die Balkanpolitik Europas, in: Reiter (Fn. 17) S. 63 f. 19 Nachweis in Fn. 8. 20 Carl Bildt, Peace Journey – The Struggle for Peace in Bosnia, 1998, S. 392. 14

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das Rahmenabkommen verklammertes Bündel von eigenständigen völkerrechtlichen Verträgen und nicht eine vertragliche Einheit. Über Brcˇko konnte man sich nicht einigen. Die Regelung der Brcˇko-Frage wurde einem Schiedsspruch überlassen, auf den sich die Beteiligten verständigten. Die Einzelheiten sind im Anhang 2 des Abkommens geregelt.21 Die Vereinbarung enthält fünf Punkte: – Die Parteien einigen sich auf eine verbindliche Schiedsgerichtsbarkeit über die Grenzziehung in dem zwischen der Föderation und der Republika Srpska umstrittenen Gebiet. – Als Mitglieder des Schiedsgerichts benennen die Föderation und die Republika Srpska je einen Schiedsmann. Ein dritter Schiedsmann – der Präsident – wird von beiden Entitäten gemeinsam oder im Nichteinigungsfall vom Präsidenten des Internationalen Gerichtshofes ernannt. – Wenn nicht anders vereinbart, sollen UNCITRAL Vorschriften, einschlägige Rechtsnormen und Billigkeitsregeln angewandt werden. – Bis zum Schiedsspruch bleibt es bei der bisherigen Verwaltung des Gebietes. – Der Schiedsspruch soll bis zum 14. Dezember 1996 – ein Jahr nach Inkrafttreten des Dayton-Abkommens – ergehen, soll endgültig und verbindlich sein und von den Parteien unverzüglich umgesetzt werden.

3. Der endgültige Schiedsspruch (Final Award) Das Schiedsgericht war nicht in der Lage, rechtzeitig zu einem Spruch zu kommen. Deshalb erließ es am 14. Februar 1997 einen Zwischenentscheid,22 in dem u. a. angeordnet wurde, dass der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, eingesetzt durch Anlage 10 des Dayton-Abkommens,23 einen Stellvertreter (supervisor) für Brcˇko ernennen solle, mit den gleichen umfassenden Befugnissen wie denen seines Amtes, wie am 15. März 1998 in einem zweiten vorläufigen Beschluss24 festgelegt. Am 5. März 1999 erließ das Schiedsgericht den Endgültigen Schiedsspruch,25 mit einer Anlage,26 die am 18. August 1999 verändert wurde.27 Die Schiedssprüche von 1997 und 1998 sind in den Endgültigen Schiedsspruch eingearbeitet. Der Schiedsspruch (Final Award, FA) besteht aus X Abschnitten und 69 Nummern. Die Abschnitte I und II enthalten den Sachverhalt – die Lage Brcˇkos und die Notwendigkeit einer Lösung – und die Entscheidung in Kurzfassung. Teil III nimmt den Abschnitt I auf und beschreibt die Schwierigkeiten, die einer Repatriierung der verschiedenen Volksgruppen sowie der Einrichtung einer multiethnischen Verwaltung entgegenstehen. Die Nummern 9 sowie im einzelnen 34, 36 (Abschnitt IV) regeln die Grundstruktur des Distrikts. Er soll einheitlich, multiethnisch und demo21

Agreement on Inter-Entity Boundary Line and Relates Issues, Fn. 8 (Dayton Agreement Annex

2.ht). 22 23 24 25 26 27

UN Doc. S/1997/126. Fn. 8, Anlage 10, Agreement on Civilian Implementation. Supplemental Award, Fundstelle: www.ohr.int; and in Essential Legal Texts (Fn. 9). 38 ILM 534 (1999); auch in Essential Legal Texts (Fn. 9). Essential Legal Texts (Fn. 9). Essential Legal Texts (Fn. 9).

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kratisch sein und die Kompetenzen haben und ausüben, die früher bei der Föderation und der Republika Srpska sowie den drei Stadtverwaltungen lagen. Die einheitliche Verwaltung soll aus einer parlamentarischen Distriktsversammlung (District Assembly), einer von der Versammlung gewählten Verwaltungsbehörde (Executive Board), einer unabhängigen Justiz – 1. Instanz und Berufungsinstanz – und einer einheitlichen Polizei bestehen. Der Distrikt steht unter der alleinigen Souveränität des Staates Bosnien und Herzegowina; alle Zuständigkeiten und Rechte der beiden Entitäten sind suspendiert und (gelten als) auf den Distrikt übertragen (Nrn. 9, 10, 34, 36, 61). Die Nummern 37 ff. befassen sich mit den Rechten und Verantwortlichkeiten des Supervisors, zu dessen wichtigsten Aufgaben (Nr. 38) es gehört, mit Beratung ein Distrikts-Statut zu erlassen. Dieses Statut trat am 7. Dezember 1999 in Kraft.28 Im Abschnitt V nimmt sich „das Schiedsgericht ‚die Freiheit‘“, dem High Representative einige Empfehlungen für den Wiederauf bau des Distrikts zu geben, im Bewusstsein, dass es möglicherweise über solche „Hinweise“ nicht hinausgehen kann. Energisch wird angemerkt, dass wirtschaftliche Depression und Arbeitslosigkeit wichtige Gründe für die Spannungen im Distrikt sind (Nr. 49). Im Abschnitt VI wird im Einzelnen erörtert, in welcher Weise der Schiedsspruch die unterschiedlichen Interessen der betroffenen Partner berücksichtigt: der Republika Srpska, der Föderation und der internationalen Staatengemeinschaft. Abschnitt VII beschreibt im Einzelnen die Rechtswirkungen des Schiedsspruchs. Schon in Nr. 34 wird erwähnt, dass der Distrikt, unter der Souveränität des Staates Bosnien und Herzegowina, in Angelegenheiten des Gesamtstaates der Aufsicht seiner Behörden unterliegt. Insofern und auch in allen anderen Fragen (Nr. 58) ist der Schiedsspruch mit der Verfassung von Bosnien und Herzegowina als Teil des Dayton-Abkommens vereinbar. Das gilt vor allem für Art. I Abs. 3 der Verfassung, wonach Bosnien und Herzegowina aus zwei Entitäten besteht. Das Gebiet des Distrikts gehört zu keiner der beiden Entitäten oder zu beiden, stellt also ausdrücklich keine dritte Entität dar (Kondominium-Lösung). Nach Art. V Nr. 5 des Annexes 2 des Dayton-Abkommens ist die Entscheidung des Schiedsgerichts endgültig und bindend, und die Parteien müssen sie „unverzüglich umsetzen“. Nach Nr. 61 des FA gilt die das Brcˇko-Gebiet betreffende Regierungsgewalt der Föderation und der Republika Srpska nach einem vom Supervisor bestimmten Zeitpunkt als auf den Distrikt übertragen. Nach Art. III Abs. 3 der Verfassung von Bosnien und Herzegowina sind die von den Distriktsorganen ausgeübten Verwaltungsfunktionen aber nach wie vor solche der beiden Entitäten. Art. VIII bis X enthalten Übergangs- und Schlussbestimmungen. Der Annex des FA, der Bestandteil des Schiedsspruches ist, enthält Leitlinien für die Struktur des Distrikts, die vom Supervisor bei der Ausarbeitung des Statuts berücksichtigt wurden. Er besteht aus 13 Punkten. Alle Bewohner des Distrikts, die Staatsbürger von Bosnien und Herzegowina sind, können sich entscheiden, ob sie Bürger der Föderation oder der Republika Srpska sein möchten. Sie sind in der gewählten Entität weder steuer- noch wehrpfl ichtig (Nr. 1). Bei der Zusammensetzung der Assembly (Nr. 2) ist eine „ethnische Formel“ zu berücksichtigen, die den Anreiz für eine Volksgruppe minimieren soll, ihren Anteil an der Distriktsbevölkerung zu 28

39 ILM 879 (2000); auch in Essential Legal Texts (Fn. 9).

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vergrößern, um so eine exklusive politische Kontrolle zu erlangen. Kumulativ oder alternativ kann der Supervisor in das Statut eine Schutzklausel für jede Volksgruppe – wie in Art. IV 3e der Verfassung von Bosnien und Herzegowina – aufnehmen, die einer Überstimmung dieser Gruppe in „lebenswichtigen Fragen“ („vital interests“) vorbeugt. Die Leitung der Distriktsverwaltung liegt in den Händen eines Kollegiums („Executive Board“) und eines „Distrikt-Managers“ (Nr. 3 und 4). Auch hier kann eine „ethnische Formel“ vorgesehen werden. Nr. 5 befasst sich mit dem distriktseigenen Gerichts- und Vollstreckungssystem. In Nr. 6 ist eine dreiköpfige Rechtsreform-Kommission vorgesehen, die distriktseigene Gesetze vorbereiten soll. Polizeiund Zollverwaltung sind Gegenstand der Nrn. 8 und 9. Wahlrecht und Distriktssymbole sind in Nr. 10 und 11 geregelt. Das Bildungswesen soll ethnisch einheitlich gestaltet werden (Nr. 12), und der Supervisor kann öffentliches Vermögen und öffentliche Unternehmen auf die Stadtverwaltung übertragen (Nr. 13).

4. Der rechtliche Status des Distrikts Die Rechtslage des Distrikts lässt sich ohne eine Einordnung Bosnien und Herzegowinas in das Völkerrecht nicht verstehen. Dass Bosnien und Herzegowina als Staat und als Einheit des Völkerrechts staatstheoretisch, völker- und staatsrechtlich schwer einzuordnen ist, wurde bereits deutlich. Ein klares Meinungsbild ergibt sich in der Wissenschaft (noch) nicht.29 Fraglich ist, ob Bosnien und Herzegowina ein Bundesstaat oder eine Konföderation ist, ferner, ob Bosnien und Herzegowina als souverän angesehen werden darf oder doch ein Protektorat der Staatengemeinschaft ist. Eine Meinung geht dahin, Bosnien und Herzegowina sei kein souveräner einheitlicher Staat, sondern eine Konföderation zweier souveräner Staaten, der Föderation und der Republika Srpska.30 Dem steht entgegen, dass in der Präambel31 und in Art. III 2a der Verfassung von Bosnien und Herzegowinas von Souveränität die Rede ist. Allerdings wird der Gesamtstaat nicht „Bundesstaat“ genannt, sondern nur „Staat“. Die Föderation und die Republika Srpska ihrerseits heißen nicht „Staaten“ oder „Länder“, wie es im Bundesstaatsrecht üblich wäre, sondern werden als „Sub-State-Entities“ bezeichnet.32 Deshalb geht eine zweite Auffassung dahin, Bosnien und Herzegowina sei jedenfalls ein quasi- oder de facto-Bundesstaat.33 Eine relativ klare Aufgabenteilung zwischen Bosnien und Herzegowina und den Entitäten und eine Vermutung für die Kompetenz der Entitäten34 sind in der Tat ein typisches Bundesstaatsmerkmal. 29 Vgl. zum Folgenden insbesondere Smyrnek (Fn. 15) S. 162 ff.; Wolfgang Graf Vitzthum und Ingo Winkelmann (Hrsg.), Bosnien und Herzegowina im Horizont Europas, Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa, Berlin, 2003, darin insbes. die Beiträge von Snezana Savic´, Die Staatsorganisation von Bosnien und Herzegowina, S. 17 ff.; Zvonko Miljko, Föderalismuserfahrung und Bosnien und Herzegowina, S. 31 f.; Par Firass Abu Dan, Les communautés et régions belges, S. 167 f.; auch B. Sokol/B. Smerdel, Ustavo Pravo, Zagreb 1998, 286 f. 30 Smyrnek (Fn. 15) S. 163. 31 Spiegelstrich 6. 32 Art. III 2 der Verfassung; Abschn. I Nr. 1 der FA. 33 Smyrnek (Fn. 15) S. 164. 34 Art. III 3 a der Verfassung.

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Die Mehrheit der Wissenchaftler sieht Bosnien und Herzegowina als souveränen Staat, nicht als ein Protektorat an,35 und das nicht nur wegen der Erwähnung in der den Annex 4 des Dayton-Abkommens bildenden Verfassung von Bosnien und Herzegowina, sondern auch wegen des Umstandes, dass der Staat Mitglied der UNO ist und im Jahre 2002 dem Europarat beigetreten ist.36 Auch zählt Art. III der Verfassung eine Reihe von Aufgaben auf (Auswärtige Politik, Währungspolitik, Einwanderungspolitik usw.), die zur Normalausstattung eines souveränen Staates gehören. Gleichwohl wird auch die Auffassung vertreten,37 Bosnien und Herzegowina sei ein Protektorat, nur – im Unterschied zu anderen Protektoraten – nicht unter der Hoheit der UNO, sondern der Staaten- und Organisationsgemeinschaft, die auf der Grundlage des Dayton-Abkommens 1995 ans Werk gehenden Konferenz den Friedensimplementationsrat gebildet hat. Ein typisches Protektorat – innenpolitisch autonom, außenpolitisch abhängig – ist Bosnien und Herzegowina nicht. Allerdings ist der Staat außen- und innenpolitisch erheblich in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt. Man könnte es deshalb als Semiprotektorat oder – eben – als juristisches Passepartout – als „Staat sui generis“ – bezeichnen. Ähnlich verhält es sich mit der Rechtslage des Distrikts Brcˇko. Nach Nr. 9 des FA 38 steht der Distrikt unter der ausschließlichen Souveränität „des Staates“ Bosnien und Herzegowina. Er ist als eine ungeteilte Verwaltungseinheit von Föderations- und Republika Srpska-Territorium von beiden Entitäten unabhängig in dem Sinne, dass deren Hoheitsbefugnisse als auf die Bezirksverwaltung übertragen gelten (Nr. 10 der FA). Nach Nr. 11 des FA gilt Brcˇko danach als „Kondominium“ der beiden Entitäten. Sowohl das Territorium der Föderation wie das der Republika Srpska umfasst das Gebiet des gesamten Bezirks. Beide Entitäten bekommen den ganzen Bezirk.39 Das entspricht der Gebietsverteilung von Bosnien und Herzegowina auf die beiden Entitäten: 51% Föderation und 49% Republika Srpska. Allerdings ist der Begriff „Kondominium“ – mit spezieller Legitimationsstruktur – irreführend,40 da beide Entitäten keine Möglichkeit des Einflusses auf den Distrikt haben. Die Kompetenzen liegen ausschließlich beim Supervisor und bei der Stadtverwaltung. Der Distrikt steht ausschließlich unter der Souveränität des Staates Bosnien und Herzegowina. Er stellt deshalb jedenfalls de facto eine der Föderation und der Republika Srpska gleichgestellte dritte Entität dar, allerdings mit der Einschränkung, dass er auf der Gesamtstaatsebene keine Mitspracherechte hat. Auch hier bleibt nur die Notlösung „status sui generis“.

35

Smyrnek (Fn. 15) S. 167 m. w. N. Iris Breutz, Training of the Interim Assembly of the Brcˇ ko Distrikt of Bosnia and Herzegovina, in: Legal Reform in the Brcˇ ko District of Bosnia and Herzegovina, Central and Eastern Legal Studies, vol. III, London, 2004, S. 15. 37 Smyrnek (Fn. 15) S. 139. 38 Fn. 25. 39 Nr. 11 des FA; Zoran Domic´, Der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina im Spannungsfeld von Integration und Desintegration, Hamburg, 2008, S. 1612 m. w. N. 40 Domic´ (Fn. 39) S. 162. 36

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III. Die staatsrechtliche Lage des Bezirks Brcˇko 1. Die Quellen Weil Brcko ein Gebiet unabhängiger Selbstverwaltung unter der Souveränität des Staates und Kondominium der bei den Entitäten ist, müssen die Rechtsordnung des Distrikts und die Ausübung der drei Staatsgewalten folgende Rechtsquellen beachten:41 – das Dayton-Abkommen; – den darauf beruhenden endgültigen Schiedsspruch; – die Verfassung von Bosnien und Herzegowina; – die Verfassungen der beiden Entitäten; – das durch den Schiedsspruch weitestgehend bestimmte Statut des Bezirks. Auf die drei letztgenannten Quellen ist im folgenden einzugehen.

2. Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina ist in Annex 4 des Dayton-Abkommens vereinbart. Sie hat deshalb eine völkervertragsrechtliche Qualität, ist eine „paktierte Verfassung“.42 Die Verfassung konstituiert Bosnien und Herzegowina als einen stark dezentral organisierten Bundesstaat mit insgesamt schwachen gesamtstaatlichen Institutionen. Bosnien und Herzegowina existiert nach Art. I 1 der Verfassung in seinen bisherigen Grenzen fort, bleibt Mitglied der UNO und kann als Staat Mitglied anderer internationaler Organisationen bleiben oder werden. Nach Art. I 3 besteht Bosnien und Herzegowina aus zwei Entitäten. Der Staat wird von Kritikern für schwach, ineffektiv und ineffizient gehalten. Eine Verfassungsänderung zur Stärkung des Gesamtstaates erscheint ebenso dringlich wie wenig aussichtsreich, da ein politischer Konsens der beteiligten Völker und organisatorischen Einheiten (Bosnien und Herzegowina, Entitäten, Kantone, Städte und Gemeinden) mangels Integrationsmotivation schwer zu erreichen sein dürfte.43 Kennzeichnend dafür ist der Umstand, dass die „Verfassungsurkunde“ von Bosnien und Herzegowina – der Annex 4 des Dayton-Abkommens – bis heute nicht im Gesetzblatt von Bosnien und Herzegowina publiziert worden ist. Das Verfassungsgericht (Art. VI der Verfassung von Bosnien und Herzegowina) ist das wohl effektivste Instrument auf gesamtstaat41

Karnavas (Fn. 5) S. 116, 117. Rehs (Fn. 7) S. 54; siehe auch Edin Sˇ arc´evic´, Verfassungsgebung und „konstitutives Volk“, Bosnien und Herzegowina zwischen Natur- und Rechtszustand, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts, Neue Folge, 2001, S. 493–539; Zarije Seizovic´, Need for reform of the existing administrative proce dure legislation, OECD Conference, Sarajevo, Juni 2009, S. 2. 43 Seizovic´ (Fn. 42); ders., Constitutional reform in Bosnia and Herzegovina: „Civil State“ of Constituent Peoples, Paper presented at the 2nd Annual Conference on Human Security, Terrorism and Organized Crime in the Western Balkan Region, organized by the HUSEC Project in Sarajevo, 4–6 October 2007; Otto Luchterhandt, Die Verfassungsdebatte, Zwischenbilanz und Herausforderung für Bosnien und Herzegowina, Konferenz der poilitischen Stiftungen am 5./6. Mai 2006, Sarajevo, 2006; Solioz (Fn. 1), integration as a multilayered process – Council of Europe (S. 117), European Union (S. 122). 42

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licher Ebene.44 Es hält die Balance zwischen Demokratie und Ethnokratie45 sowie zwischen den Befugnissen des Hohen Beauftragten und den Organen des gewaltenteilenden Staates und verwirklicht einen effektiven Menschenrechtsschutz. Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina wurde am 25./26. März 2009 durch das 1. Verfassungsänderungsgesetz46 wie folgt ergänzt: Amendment 1 to the Constitution of Bosnia and Herzegovina In the Constitution of Bosnia and Herzegovina, after Article VI.3 a new Article VI.4 shall be added and read as follows: „4. The Brcko District of Bosnia and Herzegovina 1. The Brcko District of Bosnia and Herzegovina, which exists under the sovereignty of Bosnia and Herzegovina and is subject to the responsibilities of the institutions of Bosnia and Herzegovina as those responsibilities derive from this Constitution, whose territory is held in condominium by the Entities, is a unit of local self-government with its own institutions, laws and regulations, and with powers and status defi nitively prescribed by the awards of the Arbitral Tribunal for the Dispute over the Inter-Entity Boundary in the Brcko Area. 2. The relationship between the Brcko District of Bosnia and Herzegovina and the institutions of Bosnia and Herzegovina and the Entities may be further regulated by law adopted by the Parliamentary Assembly. The Constitutional Court of Bosnia and Herzegovina shall have jurisdiction to decide in any dispute relating to protection of the determined status and powers of the Brcko District of Bosnia and Herzegovina that may arise between an Entity or more Entities and the Brcko District of Bosnia and Herzegovina or between Bosnia and Herzegovina and the Brcko District of Bosnia and Herzegovina under this Constitution and the awards of the Arbitral Tribunal. Any such dispute may also be referred by a majority of the representatives of the Assembly of the Brcko District of Bosnia and Herzegovina including at least one-fi fth of the members elected from among each of the constituent peoples.“ The existing Article VI.4 shall become Article V.5.

Auf baumäßig hätte man jedenfalls den den Status des Distrikts erstmals und grundsätzlich regelnden Abs. 1 der neuen Verfassungsbestimmung in Art. III der Verfassung erwartet, da er materielles Recht enthält und die Rechte und Pfl ichten der „Institutionen“ von Bosnien und Herzegowina regelt, wozu wohl der Distrikt gehört. Allerdings hätte diese Platzierung den Eindruck erweckt, es handele sich um eine dritte Entität, was für das „Kondominium“ der zwei existierenden Entitäten nicht zutrifft. So erschien die Unterordnung unter den dem Verfassungsgericht gewidmeten Art. V wohl als das kleinere Übel. Die Verfassungsergänzung ist unter Beachtung des Art. X der Verfassung zustande gekommen. Die Begründung gibt folgende Argumente für die Einfügung des Abs. 1: Die Ergänzung der Verfassung sei eine notwendige Voraussetzung für die Beendigung der Befugnisse des Brcˇko-Schiedsgerichtes, und zwar vorgenommen in einem Verfahren, das der Schiedsspruch vorsehe. Gemeint ist wohl dessen Nr. 13. Danach müssen die beiden Entitäten – wie ausgeführt – den „endgültigen und bindenden 44 Joseph Marko, Fünf Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Bosnien und Herzegowina – Eine erste Bilanz, in: B.-Chr. Funk u. a. (Hrsg.), Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen, Festschrift für Ludwig Adamovitsch zum 70. Geburtstag, Wien, 2002, S. 385 f. 45 Joseph Marko, Minority protection through jurisprudence in comparative perspective, in: Journal of European Integration, Heft 25 (3), 2003, S. 175–188. 46 Bosnia and Herzegovina OffGaz. 25/09.

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Schiedsspruch unverzüglich umsetzen“. Das Schiedsgericht soll solange fortexistieren, bis der Supervisor, mit Zustimmung des Hohen Repräsentanten, dem Gericht mitgeteilt hat, dass die beiden Entitäten alle ihre Verpfl ichtungen zur Einrichtung des Distrikts erfüllt haben und dass die Distriktsorgane effektiv und dauerhaft funktionieren. Bis zu dem Zeitpunkt behält das Schiedsgericht sich vor, den Schiedsspruch zu ändern oder notfalls das Distriktsgebiet teilweise oder ganz einer Entität zuzuschlagen. Die Verfassungsänderung sei insofern eine Fortentwicklung von Art. V des Annexes 2 des Dayton-Abkommens, als der Status und die Rechte und Pfl ichten des Distrikts nunmehr (bundes-)verfassungsrechtlich festgelegt und vom Verfassungsgericht geschützt seien. Für die Absätze 2 und 3 der Verfassungsänderung werden folgende Gründe aufgeführt: Das Verfassungsgericht erhalte die weitere Kompetenz, über Streitigkeiten zu entscheiden, die unter der Bundesverfassung und den Schiedssprüchen zwischen dem Distrikt und einer Entität oder dem Staat Bosnien und Herzegowina entstehen. Ferner soll die Versammlung des Distrikts selbständig antragsberechtigt sein. Der Satz 1 des Abs. 1 defi niert den Status des Distrikts entsprechend den Bestimmungen des Schiedsspruches. Er legt auch fest, dass Status und Zuständigkeiten durch die Schiedssprüche endgültig festgelegt sind und durch die Anwendung der neuen Verfassungsbestimmung nicht geändert werden können. Satz 2 bestimmt, dass die Parlamentarische Versammlung von Bosnien und Herzegowina von Verfassungs wegen autorisiert ist, die Einzelheiten des Verhältnisses zwischen dem Distrikt einerseits und dem Staat und den Entitäten andererseits durch Gesetz zu regeln. Abs. 2 sieht vor, dass Streitfragen über den Status und die Zuständigkeiten des Distrikts zwischen Distrikt, Entitäten und Bosnien und Herzegowina , die aus dieser Verfassungsbestimmung und den Schiedssprüchen resultieren, vom Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina entschieden werden können. Abs. 3 der Verfassungsergänzung regelt Einzelheiten von den Distrikt betreffenden Verfahren vor dem Verfassungsgericht. Die Bezirksversammlung kann sich mit Mehrheit, die jedenfalls ein Fünftel aller Konstituierenden Völker umfassen muss, an das Gericht wenden. Diese Bestimmung muss im Zusammenhang mit Art. VI 3 der Verfassung gelesen werden und legt fest, dass die Bezirksversammlung zusätzlich („may also“ = kann auch) zu den in Art. VI 3a, l, aufgezählten antragsberechtigten Organen hinzutritt. Vor der Verfassungsänderung war der Distrikt nicht ohne verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz. So haben natürliche und juristische Personen47 sowie auch der Distrikt selbst48 Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht erhoben, um eigene Rechte durchzusetzen. Insofern gab es keine signifi kanten Unterschiede zu den anderen Teilen von Bosnien und Herzegowina. Darüber hinaus hatten und haben die Antragsberechtigten nach Art. VI 3 a der Verfassung das Recht, ein abstraktes Normenkontrollverfahren in Bezug auf eine Vorschrift des Distriktes einzuleiten.49 Im Ergebnis hat das Verfassungsgericht einige seiner Zuständigkeiten so ausgelegt, dass sie auch 47

Vgl. Apeljacija (AP) (Verfassungsbeschwerde) 3299/96. AP 2430/06. 49 Das können allerdings nur die Staats- und Entitätsorgane, nicht die Distriktsorgane, da Brcˇ ko unter Staatssouveränität keine selbständige Entität ist. 48

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für Brcˇko zutreffen. Das gilt allerdings nicht für Streitigkeiten im Hinblick auf Beziehungen von Entitäten und Nachbarstaaten (Art. VI 3 a 1. Spiegelstrich), da der Distrikt eben keine Entität ist. Einen Schutz bei Organstreitigkeiten innerhalb des Bezirks gibt es nicht (vgl. Art. VI 3 a) und auch nicht für Streitigkeiten im Blick auf den Schutz „vitaler Interessen“ einer Volksgruppe (Art. IV 3 f.). Der letztgenannte Mangel lässt sich schwerlich rechtfertigen. Der größte Wert der Verfassungsänderung I ist, dass der verfassungsrechtliche Status des Bezirks Brcˇko auf die Ebene der Bundesverfassung gehoben wurde und dass der Verfassungsgerichtshof nun „Hüter“ dieses Status ist. Ein Nachteil ist das für das Antragsrecht im Verfassungsgericht notwendige Quorum, das jedem konstituierenden Volk die Vetomacht einräumt. Die Erfahrungen, die mit einer vergleichbaren Bestimmung der Parlamentarischen Versammlung des Staates gemacht worden sind (Art. IV 3 d), noch mehr mit einer ähnlichen Konsensvorbehaltsklausel für „vitale Interessen“50 betreffende Parlamentsentscheidungen (vgl. Art. IV e, f ), sind negativ; im Ergebnis führt eine solche Verfassungsbestimmung zu einer Verfahrens- und damit Politikblockade.

3. Die Verfassungen der Entitäten Man mag diskutieren, ob Bosnien und Herzegowina ein Bundesstaat oder ein Staatenbund ist, ob die Entitäten „Staaten“ sind (ein Begriff, den die Rechtstexte vermeiden) oder etwas anderes. Jedenfalls ist Brcˇko als Teil der Föderation und der Republika Srpska kein staatliches Gebilde,51 sondern ein Gebiet administrativer Selbstverwaltung.52 Es ist ein „Kondominium“53 beider Entitäten, wobei allerdings davon ausgegangen wird, dass diese alle Rechte und Verantwortlichkeiten auf die Distriktsverwaltung übertragen haben.54 Wenngleich der Distrikt unter der alleinigen Souveränität des Staates Bosnien und Herzegowina steht, die Verfassungen der Entitäten also im Distrikt nicht unmittelbar gelten, können sie, wie auch die Rechtsordnungen der Föderation und der Republika Srpska, nicht außer Acht gelassen werden. Zum einen bleiben die Funktionen und Zuständigkeiten der Distriktsverwaltung im Blick auf das Verfassungsrecht weiterhin solche der Entitäten.55 Weiterhin müssen sie in ständiger, vom Supervisor überwachten Koordination mit den Entitätsverwaltungen ausgeübt werden.56 Ferner gilt jeweiliges Entitätsrecht fort, bis es durch Distriktsrecht abgelöst wird.57 Schließlich gibt es besondere Abstimmungsnotwen-

50 Dazu eindrucksvoll das Buch von Erich Rathfelder, Schnittpunkt Sarajevo, Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach Dayton: Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Juden bauen einen gemeinsamen Staat, Berlin, 2006, S. 166 f. 51 Smyrnek (Fn. 15) S. 162. 52 FA (Fn. 25) Nr. 9. 53 FA (Fn. 25) Nr. 11. 54 FA (Fn. 25) Nr. 61. 55 FA (Fn. 25) Nr. 61. 56 FA (Fn. 25) Nrn. 10, 43. 57 FA (Fn. 25) Nr. 39.

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digkeiten in Bezug auf die selbständige Distriktspolizei58 und Durchzugsrechte für das serbische Militär.59

4. Das Statut des Distrikts Brcˇ ko Der Schiedsspruch enthält einige Vorgaben für die Errichtung des Distrikts und den Inhalt des Statuts als seiner Grundordnung. Zu den ersten Aufgaben des Supervisors60 gehörte es, eine gemeinsame Kommission einzurichten, die ihn bei der Ausarbeitung eines „Statuts für den Bezirk Brcˇko“ und die Entwicklung eines detaillierten Planes für die Bildung einer Distriktsverwaltung unterstützten sollte. Ihr gehörten Vertreter des Staates, der Entitäten, der (vorläufigen) Brcˇko-Verwaltungsbehörde und Experten an. Das Statut des Distrikts wurde am 8. März 2000 vom Supervisor erlassen und trat nach der Veröffentlichung 61 am 9. März in Kraft. Zugleich wurden die Mitglieder der Verwaltung von Brcˇko ernannt.62 Damit war der Bezirk Brcˇko errichtet. Da es sich bei dem Distrikt nicht um eine dritte Entität handelt, hat das Statut nicht den Rang einer Verfassung. Andererseits ist es – wie eine Verfassung – die rechtliche Grundlage des Distrikts. Es regelt solche Rechtsfragen – Staatsangehörigkeit, Wehrdienst, Gewaltenteilung, Gesetzgebungskompetenzen, Justizaufgaben –, die auch in den Verfassungen der Entitäten geregelt sind. Beide Entitäten übertragen zudem ihre verfassungsrechtlichen Befugnisse auf den Distrikt und seine Organe. Auch ist die „Distriktsfundamentalnorm“, die den Status von Brcˇko regelt, nach Art. 1 V des Statuts unabänderlich. Der Distrikt hat de facto den Status einer Entität, und so ist das Statut praktisch die 14. Verfassung in Bosnien und Herzegowina neben denen von Bosnien und Herzegowina (insgesamt), der Föderation von Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska und denen der zehn Kantone in der Föderation Bosnien und Herzegowina. Der Distrikt ist nach Art. 1 I des Statuts eine Verwaltungseinheit der kommunalen Selbstverwaltung. So liegt es nahe – auch im Blick auf die Beitrittsambitionen Bosnien und Herzegowinas – zur Beurteilung die Europäische Charta für lokale Selbstverwaltung heranzuziehen.63 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wichtige Voraussetzungen der Charta erfüllt sind. Gleichwohl ist selbstverständlich, dass nicht alle Standards eingehalten werden und werden konnten. Der Bezirk ist eine eher kleine Stadt in einem kleinen Landkreis in einem schwachen Staat. Auch mögen die Prinzipien der Charta in klar strukturierten Bundesstaaten gut anwendbar sein, während Bosnien und Herzegowina bundesstaatliche und staatenbündnerische Elemente enthält. Ein weiterer Mangel der Rechtsordnung für Brcˇko mag sich erst im Laufe der Zeit beheben lassen. Das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung gründet sich auf einer klaren Kompetenzverteilung zwischen Staat und Gemeinden. Insofern gibt es Defi58 59 60 61 62 63

FA (Fn. 25) Nr. 40. FA (Fn. 25) Nr. 42. FA (Fn. 25) Nr. 38. OffGaz des Distrikts Nr. 1/00, mit geringfügiger Verbesserung in OffGaz 23/00. Dazu Domic´ (Fn. 39) S. 160 f. Breutz (Fn. 36) S. 16 f.

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zite in der gesamten Verfassungsordnung von Bosnien und Herzegowina. Die oft unklare Zuordnung von Kompetenzen gilt für das Verhältnis des Staates zu den Entitäten, insbesondere aber für Brcˇko im Verhältnis zu ihnen und dem Gesamtstaat. Brcˇko steht unter der Souveränität des Staates, darf aber nicht von den Entitäten regiert werden. Weder die Verfassungen von Bosnien und Herzegowina noch der Föderation und der Republika Srpska ziehen aber eine scharfe Kompetenzlinie. Das gehört zu den Schwächen der existierenden Staatsordnung. Das gilt etwa für weite Bereiche des Wirtschaftsrechts.64 Der Bezirk hat für diesen Bereich Gesetze erlassen – wie auch die Entitäten –, und da dem Staat Bosnien und Herzegowina nicht ausdrücklich die Gesetzgebung vorbehalten ist, steht das in Übereinstimmung mit Art. III 3 a der Verfassung von Bosnien und Herzegowina. Aber das sind kaum Kompetenzen der gemeindlichen Selbstverwaltung. Die Entitätsverfassungen müssten Vorsorge treffen. Auf der anderen Seite erfordert die Notwendigkeit, in Bosnien und Herzegowina „einheitliche“ oder doch „gleichwertige“ Lebensbedingungen zu schaffen, eigentlich eine Gesetzgebung auf Staatsebene. Umso wichtiger ist die Koordination und Kooperation zwischen den Behörden Brcˇkos, der Entitäten und des Staates.65 Ein weiterer Mangel des Statuts ist das Fehlen eines ausführlichen Grundrechteteils. Die Verfassungen von Bosnien und Herzegowina und der Entitäten enthalten Grund- und Menschenrechte; das Statut nur eine rudimentäre Berufsfreiheit (Art. 13), die Versammlungsfreiheit (Art. 15), das Recht auf Erziehung und Bildung (Art. 16), in Art. 17 zwei Prozessgrundrechte und das Informationsgrundrecht (Art. 18). Gewiss gelten die Grundrechte der Staatsverfassung unmittelbar (Art. 13), aber ein ausdrücklicher Hinweis im Statut, dass auch die Grundrechte der Entitätsverfassungen anwendbar sind, würde zur Transparenz beitragen66 und würde den Bürgern von Brcˇko das Gefühl nehmen, Bürger „zweiter Klasse“ zu sein. Das gilt insbesondere, da die Bürger von Brcˇko (nach ihrer Wahl) Bürger einer der beiden Entitäten sind, deren Rechtsordnungen im Bezirk aber nicht anwendbar sind. Das Statut gliedert sich in sechs Abschnitte und 73 Artikel. Abschnitt I enthält „Allgemeine Bestimmungen“. Darunter fallen der Status Brcˇkos (Art. 1), Name, Fahne, Siegel (Art. 2–4), ferner Festlegung des Territoriums, Vertretungsmacht, Alphabet und Sprachen (Art. 5–7). Art. 8 legt fest, dass Brcˇko ein entmilitarisiertes Gebiet ist, Durchmarschrechte gibt es nur nach Maßgabe der Gesetze des Staates und Bezirks. Art. 9 umreißt die Aufgabengebiete des Distrikts, ohne etwa Gesetzgebungskompetenzen in wünschenswerter Deutlichkeit von denen des Staates und der Entitäten abzugrenzen. Art. 10 gibt Brcˇko das Recht, trotz klarer Hoheitsausgrenzung aus den Entitäten mit diesen kooperative Verwaltungsvereinbarungen zu treffen. Das Gleiche gilt für den Beitritt zu nationalen und internationalen Städte- und Gemeindeverbänden. Abschnitt II ist dem Status der Bürger von Brcˇko gewidmet (Art. 11, 12). Die erwähnten Freiheits-, Teilhabe- und politischen Grundrechte sind in Art. 13, 15, 16, 17 verankert. Nach Art. 14 dürfen Bürger von Brcˇko keinen Wehrdienst – sei es Pfl ichtdienst, sei es freiwilliger Dienst – leisten. Ersatzdienst kann 64 65 66

Breutz (Fn. 36) S. 17. FA (Fn. 25) Nr. 43. Breutz (Fn. 36) S. 18.

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durch Gesetz vorgesehen werden. Art. 19 verpfl ichtet alle Distriktsbehörden zu zügiger Erledigung von Bürgereingaben. Die folgenden Abschnitte sind den drei Distriktsgewalten gewidmet: Abschnitt III A – Allgemeines, B – Bezirksversammlung, C – Verwaltung, ferner – als besonderer Verwaltungsbereich – Abschnitt IV der Polizei, schließlich Abschnitt V der Justiz. Die Abschnitte VI und VII enthalten Übergangs- und Schlussbestimmungen.

IV. Organisation und Verfahren der Distriktsorgane 1. Allgemeine Bestimmungen Allgemeine Bestimmungen sind in Teil A des Abschnitts III sowie – hier kurz zu erwähnen – in den Übergangsbestimmungen in den Abschnitten VI und VII enthalten. Art. 20 enthält das Strukturprinzip der Gewaltenteilung. Art. 21 bestimmt, dass öffentliche Bedienstete im Distrikt nach Massgabe fachlicher Kompetenz und offenen Wettbewerbes ausgewählt werden. Die Zusammensetzung des öffentlichen Dienstes muss die Anteile der ethnischen Gruppen in der Distriktseinwohnerschaft widerspiegeln. Dasselbe Prinzip – keine feste Quote, keine Zuteilungsformel, aber doch eine Berücksichtigungspfl icht – gilt für die gesamte Distriktsverwaltung (vgl. Art. 48), nach dem Wahlgesetz auch für die Versammlung und überhaupt in jeder Körperschaft und für jedes Organ in ganz Bosnien und Herzegowina. Das Land ist deshalb eine Demokratie auf ethnischer Grundlage. Nach Art. 22 müssen alle Abgeordneten und alle im Distriktsbezirk tätigen Bediensteten und Richter ihre Vermögensverhältnisse offenlegen. Die gewaltenteilende Regierung des Distrikts kam nach dem Schiedsspruch rasch in Gang. 1999 setzte der Supervisor eine Stadtverwaltung und eine provisorische Versammlung (Rat) ein. Der Rat wurde erstmals 2004 gewählt. Die Justizkommission (Art. 64) nahm ebenfalls ihre Aufgaben wahr. Die Übergangsbestimmungen des Statuts enthalten einige wichtige Bestimmungen. So bleibt nach Art. 70 Recht der Entitäten im Distrikt in Kraft, bis es durch distrikteigenes Recht abgelöst wird. Mit dem Inkrafttreten des Statuts am 9. März 2000 beenden alle kommunalen Behörden im Distrikt ihre Tätigkeit (Art. 71 I). Nach Art. 72 II ist der Distrikt der Rechtsnachfolger der Stadt Brcˇko und der Verwaltungseinheiten Brka und Ravne-Brcˇko. Verträge und Vereinbarungen, die von den früheren kommunalen Behörden eingegangen worden sind, werden überprüft, dann beendet oder neu abgeschlossen. Alle schwebenden Verfahren werden nach Distriktsrecht fortgeführt (Art. 72).

2. Die Distriktsversammlung (Rat) Der Rat von Brcˇko ist nach Art. 23 des Statuts die gesetzgebende Körperschaft des Distrikts. Er bestimmt die Leitlinien der Politik und hat die üblichen parlamentarischen Aufgaben (Art. 23 II), d. h. er gibt die Gesetze und verabschiedet das Budget, wählt den Bürgermeister und andere Verwaltungsbedienstete in Übereinstimmung

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mit den Gesetzen, kontrolliert die gesamte Verwaltung.67 Der Rat besteht aus 31 (früher 29) Mitgliedern (councilors), die in allgemeinen, freien, geheimen und gerechten Wahlen (Art. 24) gewählt werden. Angewandt wird nach dem Wahlgesetz68 das d’Hondtsche Höchstwahlverfahren. Nach dem Wahlgesetz muss jedes konstituierende Volk mindestens drei Mandate haben. Erstmals gewählt wurde 2004, die Legislaturperiode ist vier Jahre (Art. 23). Für die Kontrolle der Wahl ist die Wahlkommission des Distrikts und von Bosnien und Herzegowina zuständig. Die Wahlvorstände müssen ebenfalls multiethnisch zusammengesetzt sein, auf der Grundlage der letzten Volkszählung. Der Rat ist ein fleißiges Parlament. Allein in den Jahren 1999–2003 hat er 170 Gesetze verabschiedet.69 Dabei ist er auf die Vorarbeit der Legal Revision Commission angewiesen gewesen. Diese relativ kleine und im Ergebnis sehr effektive Kommission70 nahm ihre Arbeit am 1. Juni 1999 auf. Sie ging von den folgenden Prinzipien71 aus: klare Gewaltenteilung, freier Zugang zu einer nicht korrumpierbaren Verwaltung, Förderung von Transparenz, Beachtung von Verantwortlichkeit der Organwalter, Einheitlichkeit und Multiethnizität der Erledigung öffentlicher Aufgaben, Beachtung der Unabhängigkeit und Fachkundigkeit der Justiz. Die Kommission bewältigte eine umfassende Rechtsreform, arbeitete bis zu ihrer Arbeitsbeendigung Ende 2004 40 Gesetzentwürfe aus, die vom Rat verabschiedet wurden. Die Gesetzgebung erstreckte sich auf fast alle Gebiete des Verwaltungs-, Zivil-, Arbeits- und Sozialrechts. Erwähnt seien nur das Eigentumsgesetz,72 das Gesetz über die Rückgabe aufgegebenen Eigentums,73 und das Gesetz über Interessenkonfl ikte innerhalb der Institutionen des Distrikts.74 Dieses betrifft auch und insbesondere den Rat selbst.75 Er hat im Übrigen die für seine Arbeit notwendigen Vorschriften erlassen: eine Geschäftsordnung,76 Verwaltungsregeln77 und ein Abgeordnetengesetz. Jährliche Budgets wurden verabschiedet78 wie auch regelmäßig Politikleitlinien. 67 Näheres bei Ulrich Karpen, Training of the Interim Assembly of the Brcˇ ko District of Bosnia and Herzegovina, S. 27–32, und Nils Möller, Workshop on the Contribution of Private Associations to the Democratic Process, District Assembly, Brcˇko, Bosnia and Herzegovina (S. 25 f.) in: Legal Reform (Fn. 36). 68 Vgl. OffGaz 23/01; 19 September 2003, 00–02–022–291/03; der Annex zum Schiedspruch sagt in Nr. 2, dass der Supervisor – wenn es ihm notwendig erscheint – in das Statut eine „ethnische Formel“ aufnehmen kann, um den Anreiz für jede ethnische Gruppe zu minimieren, ihren Anteil an der Distriktsbevölkerung zu steigern, um mehr politische Macht zu erringen. Eine solche „Formel“ ist nicht in das Statut eingegangen, hingegen die erwähnte Bestimmung des Art. 21, wonach die Zusammensetzung aller Distriktsorgane die Verteilung der Gruppen in der Einwohnerschaft „widerspiegeln“ solle. 69 Karpen (Fn. 67) S. 30. 70 Vgl. den ausführlichen Bericht von Karnavas (Fn. 5). 71 Karnavas (Fn. 5) S. 116. 72 Vom 25. Juli 2001, 0-02-022-285/2001. 73 Vom 30. April 2001, 0-0-022-227/2001. 74 OffGaz 2/03. 75 OffGaz 2/03. 76 Art. 36 des Statuts. 77 Art. 26 des Statuts. 78 Etwa der „Brcˇ ko District Interim Assembly General Policy 2003“-Bericht, der Wirtschaft, Landwirtschaft, Finanzen, öffentliches Eigentum, Vermögenswerte, Kultur, Bildung, Gesundheitswesen,

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Für einige Beschlüsse, etwa den Gesetzesbeschluss, die Verabschiedung des Haushalts, ist (Art. 34) eine Drei-Fünftel-Mehrheit der Abgeordneten notwendig. Verfassungsänderungen bedürfen einer Drei-Viertel-Mehrheit (Art. 34 II). Nach Art. 40 dürfen keine rückwirkenden Gesetze erlassen werden. Es gilt der Grundsatz (Art. 40 II) „nulla poena sine lege“. Art. 41 regelt das Normenkontrollverfahren. Das Statut und Distriktsgesetze müssen in Übereinstimmung mit Verfassung und Gesetzen von Bosnien und Herzegowina stehen. Die Distriktsgerichte entscheiden, ob das der Fall ist, ebenso, ob eine Distriktsnorm mit dem Statut vereinbar ist. Ausführlich ist (Art. 42–45) das Haushaltsrecht des Rates geregelt.

3. Die Verwaltung Der Verwaltung des Distrikts ist der Teil C des 3. Abschnitts des Statuts gewidmet. Sie wird vom Bürgermeister geleitet (Art. 46, 47 ff.). Er wird von der Versammlung gewählt. Die Abteilungen der Distriktsverwaltung sind in Art. 47 II vorgesehen. Die Abteilungsleiter werden (Art. 48) vom Bürgermeister ernannt und entlassen. Jeder Mitarbeiter der Verwaltung muss sein Amt mit Sorgfalt und Hingabe ausüben. Die ethischen Pfl ichten sind in einem Verhaltenscode79 für Verwaltungsmitarbeiter geregelt. Außerdem gilt ein Regelwerk vergleichbaren Inhalts80 für alle Beschäftigten in den Distriktsorganen, also auch für die Verwaltung. Wie für die Abgeordneten der Versammlung gilt auch für die Verwaltungsmitarbeiter, insbesondere die in leitenden Positionen, das Gebot der Vermeidung von Interessenkonfl ikten (Art. 52). Der Bürgermeister ist für die Gesamtverwaltung des Distrikts verantwortlich (Art. 50). Innerhalb der von ihm gegebenen Richtlinien verantwortet jeder Abteilungsleiter die Ordnungsmäßigkeit der Arbeit seiner Abteilung (Art. 51). Art. 53–57 regeln das Verhältnis von Versammlung und Verwaltung, näherhin Wahl und Abwahl des Bürgermeisters, die Erörterung seines Rechenschaftsberichts usw. Die wichtigsten Verfahrensvorschriften wurden schon sogleich nach der Errichtung des Distrikts erlassen, alle mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen: so das Verwaltungsgesetz,81 das Verwaltungsverfahrensgesetz,82 das Verwaltungsvollstreckungsgesetz83 usw. Alle Verwaltungsentscheidungen werden vom Rechtsamt vorbereitet, alle Widersprüche von einer Widerspruchskommission behandelt.84 Direkt der Distriktsversammlung verantwortlich ist die Steuerbehörde (Art. 42). Natürlich ist die Verwaltung bei der Aufstellung des Haushaltsplanentwurfs auf die Schätzungen dieser Behörde angewiesen (Art. 43 II). Wegen der vorrangigen Frage der Sicherheit und Ordnung ist der Distriktspolizei im Statut ein eigener Abschnitt IV gewidmet. Bei der Polizei muss als vertrauensbilSozialhilfe, Rechtsprechung, Umwelt, Polizei, Hausbau, Stadtentwicklung, Sport, Menschenrechte, Medizin, Veteranen und kommunale Zusammenarbeit umfasst. 79 Vom 10. November 2003. 80 Vom 6. Januar 2004. 81 Law on Executive Authority, OffGaz 1/00. 82 OffGaz 3/00, Nr. 0-02-022-29/2000. 83 Vom 2./3. November 2000, Nr. 0-02-022-105/2000. 84 Seizovic´ (Fn. 42) S. 6; vgl. auch Nr. 8 des Annexes zum Schiedsspruch (Fn. 25).

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dende Maßnahme in besonderer Weise auf die interethnische Zusammenarbeit geachtet werden. Der Leiter der Polizei wird vom Bürgermeister mit Drei-FünftelMehrheits-Zustimmung der Versammlung ernannt (Art. 40, 34). Die Polizei regelt ihre Disziplinarsachen selbst; zweite Instanz ist eine Polizeikommission.85 Für die Verfolgung von Straftatsverdächtigen arbeitet die Polizei mit den Entity-Polizeibehörden zusammen (Art. 61), welchen im Übrigen die Ausübung jeder Hoheitsgewalt im Distrikt untersagt ist.86 – In einer zügigen und umfassenden Rechtsbereinigung hat die Brcˇ ko Law Revision Commission (BLRC) die wichtigsten Gesetze für die verschiedenen Verwaltungsbereiche entworfen und der Versammlung vorgelegt.87 Dazu gehören die außerordentlich schwierigen Fragen der ethnischen, regionalen und religiösen Vereinheitlichung des Bildungs-, insbesondere des Schulsystems, Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsgesetze,88 ferner das Grundbuchrecht, Eigentums- und Besitzrechte und das Recht der Rückgabe aufgegebenen Eigentums, ferner Handels- und Gesellschaftsrecht und eine Insolvenzordnung.

4. Die Rechtsprechung als dritte Gewalt Ohne die Arbeit der Law Reform Commission wäre auch der komplexe Neubau des Gerichtswesens nicht zustande gekommen. Seine Ausgestaltung ist in Nr. 4 des Annexes zum Schiedsspruch89 vorgesehen. Danach nimmt der Supervisor die Ersternennung der Richter und Staatsanwälte des Distrikts vor. Nach Inkrafttreten des Statuts soll das eine Justizkommission tun, mit Zustimmung des Supervisors. Von dieser Vorgabe hat das Statut in Art. 64 I Gebrauch gemacht; nicht umgesetzt wurde hingegen die Bestimmung der Nr. 4 II des Annexes, wonach in der Stadtverwaltung eine Justizabteilung eingerichtet werden soll, welche die bisher von den Justizministerien der Entitäten wahrgenommenen Aufgaben übernehmen soll. Tatsächlich wird die Gesamtverwaltung der Justiz von der unabhängigen Gerichtskommission ( Judicial Commission) ausgeübt (Art. 64 des Statuts).90 Die dritte Gewalt besteht demnach aus dieser Kommission, einem Gericht der Eingangsstufe, einem Berufungsgericht, der Staatsanwaltschaft sowie einer Abteilung für Rechtshilfe. Die Judicial Commission besteht aus sieben Mitgliedern.91 Alle Richterposten wurden neu besetzt. Es gab – nach dem Vorbild der Richterübernahme nach der Wiedervereinigung Deutsch85

Karnavas (Fn. 5) S. 124, Fn. 64. Allgemein wird der Zusammenarbeit der Polizeibehörden der Entitäten trotz zahlreicher Reformversuche ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: International Crisis Group: Bosnia’s stalled Police Reform: No progress, no EU, Europe Report no. 164, 6. September 2005. 87 Dazu der Bericht des Vorsitzenden Karnavas (Fn. 5). 88 Vgl. Wolf-Rüdiger Biernert, Presentation on the Chamber of Industry and Commerce in Germany and on the German Associationof Chambers of Industry and Commerce (DIHK), in: Legal Reform (Fn. 36) S. 33–35. 89 I.d.F. vom 18. August 1999. 90 Vgl. zu den Einzelschritten Herbert D. Soll, Juridical System Report, in: Legal Reform (Fn. 36) S. 47–52. 91 Karnavas (Fn. 5) S. 121, nämlich den Präsidenten des Eingangsgerichts und des Berufungsgerichts, den Chefs der Staatsanwaltschaft und der Abteilung für Rechtshilfe, dem Präsidenten des Verfassungsgerichtes von BuH und zwei Einwohnern des Distrikts. 86

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lands92 – ein offenes Bewerbungsverfahren, dem sich jeder bisherige Richter unterziehen musste. Nur wer unbelastet war, hatte eine Chance der Wiedereinsetzung. Die Staatsanwälte sind unabhängig von Gerichtsbarkeit und Distriktspolizei (Art. 63). Sie vertreten die Interessen des Distrikts, sind vor allem Ankläger in Strafverfahren. Die ehemalige Funktion eines Untersuchungsrichters wurde abgeschafft. Seine Funktionen wurden von der Staatsanwaltschaft wahrgenommen. Dadurch war die Durchführung des Verfahrens – nach US-amerikanischem Vorbild – stärker den Parteien zugewiesen. Um einen freien und ungehinderten Zugang zu den Gerichten zu garantieren, wurde eine besondere Abteilung für Rechtshilfe eingerichtet.93 Besondere Sorgfalt wurde der Neuorganisation der Rechtsanwaltschaft gewidmet.94 die privaten Rechtsanwälte leisteten der Umsetzung der Arbeitsergebnisse der BLRC besonderen Widerstand. Es kostete Mühe und Zeit, eine Brcˇko Bar Association einzurichten, nach dem Vorbild und mit Unterstützung der American Bar Association. Die Verfahrensgesetze für die Zweige der Gerichtsbarkeit mussten neu konzipiert werden, so für das Strafverfahren95 und die Verwaltungsgerichtsbarkeit (wie Verwaltungsstreitverfahren i. w. S.).96 Die Justiz hat ein eigenes Budget, das sie aufstellt, vor dem Parlament begründet und nach Verabschiedung selbständig verwaltet (Art. 69 Statut).

V. Die Internationale Aufsicht und der Supervisor 1. Status des Supervisors Das mit eindrucksvoller Machtbefugnis ausgestattete beherrschende Organ im Distrikt ist der Supervisor.97 Obwohl sein Amt als „Office of the High Representative-North“98 geschaffen wurde und er die Amtsbezeichnung „Stellvertretender Hoher Repräsentant“ trägt,99 gibt es praktisch keine Unterordnung unter Weisungen des OHR. Der Supervisor genießt im Distrikt praktisch Unabhängigkeit und – regional begrenzt – dieselben Befugnisse wie der Hohe Repräsentant. Seine Stellung ist daher nicht ohne einen Blick auf Status und Funktionen des Hohen Repräsentanten zu erklären. Sie ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: dem Annex 10 zum Dayton-Abkommen und den „Bonner Vollmachten“. Der Anhang 10 des Dayton-Abkommens befasst sich mit der Umsetzung des Abkommens (Agreement on Civilian Implementation).100 Die Ernennung eines Inhabers des Amtes eines Hohen Repräsentanten erfolgte jedoch weder durch den Vertrag selbst, noch sieht der Ver92

Karnavas (Fn. 5) S. 122. Karnavas (Fn. 5) S. 123. 94 Soll (Fn. 91) S. 51. 95 Karnavas (Fn. 5) S. 123. 96 Law on Administrative Disputes vom 3. August 2000, OffGaz 4/00, 0-02-022-73/2000. 97 Siehe im Detail Smyrnek (Fn. 15) S. 157 ff.; Rehs (Fn. 7) S. 89. 98 Neben anderen Außenstellen des Hohen Repräsentanten. 99 Nr. 104 I B der Wiener Konferenz zur Umsetzung des Friedensabkommens und Durchführung des Schiedsspruchs vom Februar 1997. 100 Vgl. Fn. 8. 93

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trag eindeutig vor, durch wen die Ernennung erfolgen soll; die Parteien „erbitten“ diese in Annex Art. I 2 lediglich, im Einklang mit den sachlich einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates, also nicht notwendigerweise durch diesen selbst.101 So wurde der erste Amtsinhaber102 auf der Friedensimplementierungskonferenz vom Dezember 1995 in London designiert und durch Resolution nr. 1031 des Sicherheitsrates vom Dezember 1995 benannt. In der Praxis hat sich eine Zuständigkeit der Friedensimplementierungskonferenz der 55 Staaten und Internationalen Organisationen und des von ihr gegründeten Rates ergeben. Das institutionelle Verhältnis des Hohen Repräsentanten zu den Vereinten Nationen war von Anfang an nicht völlig klar.103 Nach Art. II des Annexes 10 hat der Hohe Repräsentant folgende Aufgaben: die Durchsetzung des Friedensabkommens zu kontrollieren, dazu den Kontakt mit den Abkommensparteien zu halten, die Aktivitäten der Organisationen und Behörden in Bosnien und Herzegowina zu koordinieren und die Umsetzung des Abkommens zu fördern, mit den Förderorganisationen zusammenzuarbeiten, den Vereinten Nationen und den Mitgliedern des Friedensimplementierungsrates zu berichten, Leitlinien für den Einsatz der Internationalen Polizei aufzustellen, entsprechend Annex 11 des Abkommens. Nach Art. III Abs. 3 hat der Hohe Repräsentant alle Rechte und Befugnisse nach dem Recht Bosnien und Herzegowinas, die zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendig sind. Eine umfassende Kompetenz wird ihm nach Art. V eingeräumt: Er ist die Instanz, die verbindlich über die Auslegung des Abkommens entscheidet. Der Friedensimplementierungsrat hat auf seiner Konferenz im Dezember 1997 – durch die nicht zufriedenstellende Entwicklung in Bosnien und Herzegowina bedingt – die Befugnisse des Hohen Repräsentanten nachhaltig erweitert, durch Beschluss vom 10. Dezember 1997.104 Danach kann der Hohe Repräsentant verbindliche Treffen und Absprachen der Organe Bosnien und Herzegowinas anordnen, einstweilige Anordnungen treffen, wenn die Organe unfähig sind, einvernehmliche Entscheidungen zu treffen und generell „andere Maßnahmen“ ergreifen, um die Umsetzung des Dayton-Abkommens zu sichern. Die extensive Interpretation der „BonnVollmachten“ durch die Inhaber des Amtes des Hohen Repräsentanten – wie auch durch den Supervisor als stellvertretenden Hohen Repräsentanten – führte dazu, dass das OHR (und das OHR-North) Maßnahmen exekutiver und legislativer Art traf und trifft, etwa nicht kooperierende Amtsinhaber in Bosnien und Herzegowina aus dem Amt entfernte.105 Diese umfassenden Aufsichtsbefugnisse gelten auch für den Supervisor. Der erste Amtsinhaber wurde 1997 vom Hohen Repräsentanten ernannt. Seine Aufgaben decken sich für den Distrikt praktisch mit denen des Hohen Repräsentanten.106 Er soll die Durchsetzung des Abkommens sicherstellen und die demokratischen Institutionen stärken. Er kann Recht, das das Dayton-Abkommen oder die Verfassung Bosnien und Herzegowinas oder die Anordnungen des Supervisors verletzt, auf heben. 101 102 103 104 105 106

Rehs (Fn. 7) S. 89. Der Schwede Carl Bildt. Rehs (Fn. 7) S. 90. www.ohr.int/pic/default.asp?content_id=s5182. Rehs (Fn. 7) S. 94. Wiener Konferenz vom 7. März 1997, abgedruckt in Legal Texts (Fn. 9).

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Ausdrücklich schließt das nach dem ergänzenden Schiedsspruch vom 15. März 1998107 das Recht ein, Amtsinhaber aus dem Amt zu entfernen, wenn sie sich als nicht kooperativ erweisen. Ausdrücklich sind ihm in derselben Entscheidung auch im Übrigen die gleichen Befugnisse zugestanden, wie sie dem Hohen Repräsentanten als „Bonner Vollmachten“ zugestanden sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Supervisor die höchste Gewalt im Bezirk ist. Mit Genehmigung des Hohen Repräsentanten benachrichtigt er das Tribunal, dass sich die Entitäten vollständig an ihre Pfl ichten halten und die Distriktsbehörden tatkräftig und nachhaltig arbeiten. Bis dahin behält das Tribunal seine Aufgaben.108

2. Kompetenzen im Einzelnen Die Nachkriegszeit war von unterschiedlichen Phasen der Tätigkeit der Behörde des Hohen Repräsentanten geprägt. 1995 war die Zeit der Stabilisierung, des Wiederauf baus und der humanitären Hilfe.109 Als sich zeigte, dass die übertragenen Kompetenzen nicht ausreichten, wurde 1997 mit der Übertragung der Bonner Ermächtigungen das Tempo forciert.110 Ab 2001 legte der Hohe Repräsentant den Schwerpunkte auf die Stärkung der Institutionen, die Ertüchtigung der Wirtschaft und die Beschleunigung der Rückkehr von Vertriebenen. In der 4. Phase, ab 2002, wurde mehr auf institutionelle Hilfe denn auf Anweisungen gesetzt.111 All das schlug sich auch in der Arbeit des Supervisors nieder, wenngleich, generell gesagt, die Zusammenarbeit der ethnischen Gruppen der Parteien, Organe, des Supervisors in Brcˇko schneller voran kam als in Staat und Entitäten. Sieht man die einzelnen Bestimmungen des Schiedsspruches durch, so wird die Machtfülle des Amtes des Supervisors deutlich. Die wichtigsten Kompetenzen sind die folgenden: Aufstellung eines Plans für die Transformation des Distrikts (Nr. 8), Entwicklung des Bezirks (Nr. 9), Beaufsichtigung der Koordination zwischen Distrikts-, Entitäts- und Staatsverwaltungen (Nr. 10), Einflussnahme auf die Beendigung der Arbeit des Schiedstribunals (Nr. 13), Verhinderung des Ausverkaufs der von Flüchtlingen zurückgelassenen Grundstücke (Nr. 18), multiethnische Zusammensetzung der Stadtverwaltung (Nr. 30, 32, 33), Vorbereitung demokratischer Wahlen (Nr. 36), Einrichtung einer gemeinsamen Kommission zur Umsetzung des Schiedsspruchs (Nr. 38), Auf hebung der Inter-Entity-Grenzlinie im Bezirk (Nr. 39), Abgrenzung der Polizeibefugnisse (Nr. 40), Sicherung der entmilitarisierten Zone (Nr. 41), Überwindung von Widerständen gegen die Neuordnung (Nr. 47), Ermutigung der ethnischen Gruppen zur Rückkehr (Nr. 48), Festlegung des Termins, nach dem die Kompetenzen der Entitäten als auf den Distrikt übergegangen gelten (Nr. 61), Festsetzung von Erzwingungsmaßnahmen und Strafe bei Nichtbefolgung des Schiedsspruchs (Nr. 66). Es gibt eine Reservekompetenz des Schiedsgerichts, auch zum Erlass neuer Schiedssprü107 108 109 110 111

Legal Texts (Fn. 4), vgl. Nr. 24. Nr. 67 Endgültiger Schiedsspruch (Fn. 25). Solioz (Fn. 1) S. 93. Solioz (Fn. 1) S. 93; Rehs (Fn. 7) S. 98 ff. Solioz (Fn. 1) S. 94.

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che, für den Fall, dass die Macht des Supervisors im Bezirk sich als unzureichend erweist.

3. Der Supervisor im Geflecht der völker- und staatsrechtlichen Bestimmungen Der Hohe Repräsentant wie sein Vertreter, der Supervisor, sind der „internationale Faktor“ in Bosnien und Herzegowina und im Distrikt. Die im Dayton-Abkommen und in Bonn festgeschriebenen Rechte wurden von den Amtsträgern von vornherein extensiv ausgelegt. Sie haben die verbindliche Auslegungskompetenz und wirken im legislativen und exekutiven Bereich praktisch schrankenlos. Sie können funktional dual handeln, d. h. für nichthandlungsfähige bosnische oder Distriktsorgane eintreten oder unmittelbar die Befugnisse aus dem Bonner Beschluss wahrnehmen. Beide Ämter sind ein internationales Organ, das durch völkerrechtlichen Vertrag ins Leben gerufen wurde.112 Die Fülle der Befugnisse widerspricht der Vorstellung des Art. I des Dayton-Abkommens und der Verfassung von Bosnien und Herzegowina, es handele sich um einen souveränen Staat. Aber letztlich kommt es darauf an, was man unter „souverän“113 versteht. Beobachter weigern sich, Bosnien und Herzegowina als „Protektorat“ der Staatengemeinschaft zu verstehen.114 Graf Vitzthum und Mack115 sprechen von Brcˇko als einem neuen (substaatlichen und paraentitären) territorialen Gebilde unter direkter internationaler Verwaltung. Rehs116 stellt die Rechtsnatur der internationalen Zivilverwaltung in Bosnien und Herzegowina als internationales Organ eigener Art dar, als ein Hybrid aus verschiedenen Strukturelementen und Merkmalen, das keinem Vorbild folgt. Für so etwas fi nden die Juristen den Begriff der „Internationalen Behörde sui generis“. Zieht man die noch vorgesehene zeitliche Begrenzung des internationalen Mandats in Betracht, könnte man auch von einem Völkerrechtssubjekt sprechen, das sich im Übergang von einem Protektorat zu einem souveränen Staat befi ndet.117 Das klingt dann freundlicher und hoffnungsvoller.

112 113 114 115 116 117

Rehs (Fn. 7) S. 89. Smyrnek (Fn. 15) S. 28 f. Domic´ (Fn. 39) S. 203. (Fn. 17) S. 115. (Fn. 7) S. 117. Domic´ (Fn. 39) S. 207.

Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum Amerika

The Distribution of Competences and the Tendency Towards Centralization in the Argentine Federation by

Prof. Antonio M. Hernández, Universität Córdoba Director of the Institute of Federalism of the National Academy of Law and Social Sciences of Córdoba, Honorary President of the Asociación Argentina de Derecho Constitucional (Argentine Association of Constitutional Law) and Member of the Executive Committee of the International Association of Constitutional Law

I. Introduction 1. Brief commentaries on geography and history of Argentina Geographically, Argentina is a very large country, with a continental land surface of 2.8 million square kilometres. There is substantial asymmetry in the geographical size of the provinces into which the state is divided, ranging from the Province of Buenos Aires with an area of more than 307,000 square kilometres, to the much smaller provinces of Tucuman and Tierra del Fuego, with surface areas of approximately 22,000 and 21,000 square kilometres respectively. The autonomous city of Buenos Aires is smaller still, with a land-surface of only 200 square kilometres. There are substantial differences also in the distribution of population between the constituent parts of the Argentinian federation. Of a total population estimated at 37.5 million people, approximately 14 million live in the Province of Buenos Aires, and only 100.000 in Tierra del Fuego. Argentina had its fi rst national government in 1810, and declared its independence from Spain in 1816, but only in 1853 was it able to pass its Federal Constitution. The adoption of federalism and a decentralized system which included the municipal regime, was the result of Argentine civil wars fought between “unitarios” and “federales” from 1820 to 1853, which created this form of government as the only manner to solve the political, economic and social confl icts of a country with a large territorial extension. The original 14 provinces that existed before the Federal State were created between 1815 and 1834. These provinces through inter-provincial pacts established the foundations of Argentine federalism, which was adopted in the Federal Constitution

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in 1853, with an important amendment in 1860, after the inclusion of the province of Buenos Aires.

2. Form of government Argentina has a republican and presidential form of government, with a separation of powers between the executive, legislative and judicial branches, including the direct election of the federal President, the provincial Governors and the Head of Government ( Jefe de Gobierno) of the Autonomous City of Buenos Aires. Since 1994, a measure of direct democracy has been available as well, through the initiative and referendum. The bicameral legislature called the Congress, comprising a Chamber of Deputies and a Senate. As in any presidential system, the Argentine Congress is elected independently of the executive branch, for fi xed terms of four years in the case of Deputies and six years in the case of Senators. The President may, in “exceptional cases”, exercise legislative power by decree. In fact, although the importance of Congress, the center of gravity of public power lies with the executive branch. The explanation lies in a range of interconnected factors: a) interruptions in the constitutional order that have sometimes resulted in the closing down of Congress, like in the coups de Etat of 1930, 1943, 1955, 1966 and 1976; b) the leadership role that the executive branch typically assumes in the emergencies and in the political process; c) the citizen distrust on politicians produced the crisis of political representation that affects the prestige of Congress. Critically, however, they also include the succession of political, economic, and social emergencies that have diminished the role of Congress, including the constitutional procedures that have facilitated this process, with the delegation of legislative powers and the rule by executive decrees. The weakness of a democratic and constitutional culture, to which these problems may be attributed, explains the failure of Argentina to maintain an effective and truly republican system.

3. The 4 stages of our “normative” federalism a) Original Constitution of 1853 The fi rst stage covers the making of the 1853 Constitution itself. The defeat of General Rosas, the governor of the Province of Buenos Aires in whose hands political power had been concentrated for a period of 20 years, led to the meeting of a Constituent Assembly, in which 13 Provinces were represented by 2 representatives each one, but without, significantly, representation from the Province of Buenos Aires. The 1853 Constitutional Convention met in the city of Santa Fe, where 13 provinces were represented by 2 representative each one, – but without the presence of the province of Buenos Aires –, had as a precedent the text of the 1787 Philadelphia Constitution. But due the influence of Juan Bautista Alberdi, father of Argentine

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public law, the original 1853 constitutional text adopted a more centralized federation than the American one, since, for example, the substantive legislation (civil, commercial, criminal, etc.) was attributed as a legislative power to the Congress, as well as the review of the Provincial Constitutions and the impeachment of the provincial governors. In other matters, it established the same organization as that of the American federation: a Federal State that allows for the co-existence of various state and governmental orders. The provinces have their own autonomy in institutional (constituent powers), political, fi nancial and administrative matters. The Senate was established as a federal organ par excellence, with an equal representation for each province (state) and the same representation for the Federal Capital.

b) Constitutional reform of 1860 The pact between the Federation and the province of Buenos Aires in 1859 meant the integration of this province, with the amendment to 1853 Federal Constitution. This reform caused important changes in the Federation, since it modified certain articles of the 1853 text, with the purpose of establishing a greater decentralization of power. To that effect, it is evident that such was the purpose of the abrogation of the rules that established the review by the Congress of the Provincial Constitutions, as well as the carrying out of impeachments of provincial governors before such organ.

c) Coordinated federalism from 1950 The third stage is the transition from “dual” or “competitive” federalism, to one that is more “co-operative” in nature. The celebration of interprovincial treaties included such matters as the construction of bridges and inter-provincial tunnels, the common management of inter-provincial river basins, the creation of hydro-electric committees, and the establishment of a National Investment Council and Federal Tax Commission, as well as a range of other Federal Councils to deal with matters of common concern in Education, Health, Security, etc.

d) Constitutional Reform of 1994 One of the principal goals of the Convention was to strengthen decentralisation, as a counter to the concentration of power in the country. To that end, the Constitution was changed to recognise the autonomy of municipal government and the autonomous status of the city of Buenos Aires and to authorise the provinces to “create regions for economic and social development”. In the wake of these changes, it thus is possible to identify four levels of government of the Argentine federation: Federal, provincial, municipal, and the government of the autonomous city of Buenos Aires,

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each with its corresponding responsibilities and with considerable autonomy. In synthesis, such constitutional reform covered various aspects of federalism: 1. Institutional and political. 2. Financial. 3. Economic and 4) Social and Cultural.

4. Our current federalism Along the history of Argentina we have suffered a profound centralization process, that had produced a notorious disarrangement between the formal constitution and reality. This situation forces to reconsider federalism in its realistic or sociological aspect, that points towards observing the real validity of its normative aspect. In this sense, we can see a notorious breach of the federal project of the Constitution produced by a multiplicity of reasons, that we see after in the point of the trend to centralization.

5. Characteristics of our federalism Integrative (because the provinces created the federal government by the Federal Constitution), Asymmetric (in 2 ways: political and economy aspects – as we mentioned before – and in institutional aspects, due to the differences between the provinces and the Autonomous City of Buenos Aires, as members of the federation), Coordinated (as we said previously and in particular, after the constitutional reform of 1994), Centralized (for the process of centralization) and Presidentialist (as we said and we will talk after).

II. The Distribution of Competences1 On the fundamental topic of the distribution of competences in the federal state, the constitutional reform of 1994 did not modify the highest rule on this subject, the old art. 104 (current 121), originating in the Constitution of 1853. As a consequence, the concepts of Alberdi and Gorostiaga 2 that the provinces have unrestricted residuary powers, and the federal government exercises those expressly or implicitly delegated, and therefore has limited powers, have full force, accepted by the doctrine and case-law of the Supreme Court. 1 For this topic we follow the ideas in our book “Federalismo, autonomía municipal y ciudad de Buenos Aires en la reforma constitucional de 1994”, Depalma, Buenos Aires, 1997 and in “Federalismo y autonomía”, Enric Argullol Murgadas, Director, Ariel, Barcelona, 2004, in which we took part in the comparative study on the ordering of institutions and powers in compound states, presenting the Argentine case. In relation to the Argentine federation, see “International Encyclopaedia of Laws”, General Editor Prof. Dr. R. Blanpain, Kluwer Law International, “Argentina. Subnational Constitutional Law”, Antonio María Hernández, Constitutional Law, Suppl. 66, september 2005 and “A Global Dialogue on Federalism”, Volume 3, “Legislative, Executive and Judicial Governance in federal countries”, Edited by Katy Le Roy and Cheryl Saunders, “Republic of Argentina”, Antonio M. Hernández, McGill-Queen’s University Press, Montreal & Kingston-London-Ithaca, 2006. 2 Founding fathers of our Constitution.

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It is true that this rule has undergone modifications, as the centralization process evolved in the country, and even the case-law of the Supreme Court itself has admitted the advances of the central government, as authors such as Vanossi, Frías, Bidart Campos, Romero, etc. have noted, but we trust that the changes that have to take place in the future, in accordance with the constitutional mandate emerging from the reform, will deepen federalism. – The classifications made by the doctrine about the relations of our federal structure are, therefore, still in force. These relations, we remember, are of subordination (arts. 5 and 31, establishing the supremacy of the national Constitution), participation (of the provinces and of the city of Buenos Aires in the federal government, specifically in the Senate) and coordination (which is the delimitation of competences of the federal and provincial governments and that of the city of Buenos Aires), as mentioned by Germán Bidart Campos.3 – Likewise, different classifi cations of competences between the federal government and the provinces are also in force, which we can summarize as follows: conserved by the provinces (art. 121); delegated to the federal government (fundamentally the express competences of the various federal government bodies, e.g., arts. 75, 85, 86, 99, 100, 114, 115 and 116, and those implicit of the Congress, art. 75, sec. 32); concurrent between government orders (arts. 41, 75, secs. 2, 17, 18, 19, fi rst paragraph, and art. 125); shared (requiring the will of the levels of government, such as the law-agreement of tax-sharing and the federal tax body, and the transfers of competences, services and functions, art. 75, sec. 2) and exceptional (for the federal government in direct taxes, art. 75, sec. 2, and for the provincial governments in dictating the underlying codes until these are dictated by the Congress, and for arming warships or raising armies in cases of foreign invasion or of a danger so imminent that it admits no delay, art. 126). – There are also competences forbidden to the provinces (because they were delegated to the federal government); forbidden to the federal government (because they were maintained by the provinces) and forbidden to every order of government (such as the concession of extraordinary faculties, of the sum of public power or submissions or supremacies to government or to any person, art. 29, or the violation of the declarations, rights and guarantees of the dogmatic part of the supreme law). We have said that since the reform, the federal relationship is binding on the federal government, the 23 provinces and the autonomous city of Buenos Aires, and in consequence the above-mentioned classifications are, in general, applicable. However, as the city of Buenos Aires has a special nature, that of city-state, distinguishing it from the provinces and municipalities, some special considerations must be made.4 – The constitutional reform of 1994 added the following competences to the federal government: 5 3

“Manual de Derecho Constitucional argentino”, Ediar, Bs.As., 1972, Ch. VII. Pp. 120/121. For this we refer to chapter IV of our book “Federalismo, autonomía municipal y ciudad de Buenos Aires en la reforma constitucional de 1994”. 5 Following the careful listing made by Castorina de Tarquini (“Derecho constitucional de la reforma de 1994”, Pérez Guilhou y otros, Depalma, Bs.As., 1995, Cap. XXVI, El régimen federal y la reforma constitucional, pp. 351/2). 4

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“1) to establish and modify specific allocations of shareable tax resources, for specific periods and by special law (art. 75, sec. 3); 2) to provide for the harmonious growth of the Nation and for populating its territory; to promote differentiated policies tending to balance the unequal relative development of provinces and regions (art. 75, sec. 19); 3) to sanction laws organizing and giving a basis to education, consolidating national unity, respecting provincial and local particularities, within compliance with particular requirements (art. 75, sec. 19); 4) to approve or reject the new international treaties incorporated by the reform, i.e. human rights treaties with future constitutional hierarchy, integration treaties, standards set by supranational bodies and take account of international treaties signed by the provinces (art. 75, secs. 22 and 24, and art. 124); 5) to legislate positive measures guaranteeing true equality of opportunities and treatment, and the full benefit and exercise of the rights recognized by this Constitution and by the international treaties on human rights in force on human rights (art. 75, sec. 23); 6) to dictate a special, comprehensive social security regime protecting children in situations of neglect and of the mother during pregnancy and the nursing period (art. 75, sec. 23); 7) to arrange or decree federal intervention (art. 75, sec. 31, and art. 99, sec. 20); 8) to exercise the government function the headship of which is recognized in the person of the president of the Nation (art. 99, sec. 1); 9) to exercise the general administration of the country, through the head of cabinet, politically responsible to the president of the Nation, and under the control of the General Accounting Office of the Nation (arts. 85, sec. 1, and 100, sec. 1); 10) to dictate under particular conditions, decrees of necessity and urgency, excluding from such faculty penal, tax, electoral and political party matters (art. 99, sec. 3); 11) to organize the collection of the National revenue and to execute the national Budget Law, as a faculty of the head of Cabinet, who will exercise this under the supervision of the president of the Nation (arts. 99, sec. 10, and 100, sec. 7); 12) the organization and administration of justice. The selection of magistrates is now made by a special body, the Magistrates Council, which does not include provincial representation. The appointment is always made by the president with the agreement of the Senate (arts. 99, sec. 4, and 114)”. – The constitutional reform also increased the exclusive competences of the provinces: 6 “1) to dictate the provincial constitutions in accordance with art. 5, ensuring municipal autonomy and regulating their scope and content in the institutional, political, administrative, economic and financial orders (art. 123). This provision shows the third level of political decentralization, and thus brings in the increasingly fi rm trend of provincial public law towards recognising municipal autonomy.

6 As noted by the respected researcher mentioned above, Castorina de Tarquini María Celia, op. cit., p. 353.

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2) to create regions for economic and social development and to establish bodies for carrying out these purposes (art. 124); 3) to sign international agreements under certain conditions (art. 124); 4) to exercise all those powers that are implied in the concept of original provincial ownership of the resources existing in their territories (art. 124); 5) to exercise powers of policing and imposition on facilities of national use in the territory of the Republic (art. 75, sec. 30)”. – In terms of concurrent faculties, the reform incorporated: indirect internal taxes (art. 75, sec. 2); attributions linked with the indigenous Argentine peoples (art. 75, sec. 17) and the provisions in the new clause of progress or of human development (arts. 75, sec. 19, first paragraph, and 125). Even though there is no exact correlation in the text of these two norms, we agree with Castorina de Tarquini7 in interpreting that all the matters mentioned in art. 75, sec. 19, fi rst paragraph, require the concurrent action of the provinces, and we also consider that the generic statement of art. 125 comprises what is most specific in that norm. Art. 41 likewise recognises the faculty of the Nation to dictate “the norms that contain the minimal measures” on the environment, and in art. 75, sec. 19, the “laws of organization and basis” of education, but in our opinion the previous constitutional doctrine on the complex topic of the concurrency of faculties has not been modified, just as we held in the Constitutional Convention itself.8 Art. 125 also prescribes that “the provinces and the city of Buenos Aires can maintain social security bodies for public employees and professionals”, which should be interpreted as a ratification of the concepts already determined by art. 14 bis, in a special defense of the faculties of the provinces and of the city of Buenos Aires against the attacks of the central government, which aimed at transferring the pension funds by means of fiscal pacts and other pressure. Finally, as regards art. 42, which provides for “the necessary participation of consumers’ and users’ associations and of the interested provinces in the control bodies”, and in the “prevention and solution of confl icts” and the “regulatory frameworks of the public services within national competence”, we also share the opinion of Castorina de Tarquini9 that a faculty that is in principle national may become concurrent by the will of the provinces interested in participating. We add that the fact that the provinces can participate, as in this case, in national agencies, should be stressed as another feature of the deepening of federalism, – In relation to the new shared competences embodied in the reform, the same author10 indicates: “1) the establishment of the contributions-sharing regime, which will be made by means of a law-agreement, on the basis of accords between the Nation and the provinces. [. . .] 2) In the same constitutional provision [referring to art. 75, sec. 2] another shared faculty is established when it is provided that there will be no transfers of competences, services or functions without the respective reallocation of resources, approved by law of Congress as appropriate, and by the interested prov7

Op. Cit., p. 355. See “Reforma constitucional de 1994. Labor del Constituyente Antonio María Hernandez (h.)”, Imprenta del Congreso de la Nación, Buenos Aires, 1995, p. 60. 9 Op. Cit., p. 358. 10 Castorina de Tarquini María Celia, op. cit. Pp. 359/360. 8

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ince or the city of Buenos Aires. Such a transfer will thus operate as long as there is a willingness shared between the different orders of political power. [. . .] 3) Finally, the control and monitoring of the tax-sharing and of any transfer of services will be the responsibility of a federal fiscal agency, with representation of all the provinces and of the city of Buenos Aires, so that this function will also be exercised in a shared manner (art. 75, sec.); 2)”. – To sum up, the most important federal competences correspond to the three powers of the State: Legislative, Executive and Judicial, summarized in the management of common defence, of foreign relations and of the general interests of the country; and the most important subnational competences are those which have to do with the interests of each of the Provinces, through the conserved faculties and in general, with the competences that enable local autonomy in its constitutional, political, fi nancial and local administrative aspects. It is our opinion that there has been an extensive interpretation of the federal competences, which has permitted a sharp process of centralization in the country. – Another important aspect to consider is that of the intergovernmental relations in our federation. Art. 107, sanctioned with the original Constitution of 1853–1860 and maintained in the constitutional reform of 1994 in the current art. 125, provides for “domestic” treaties between the provinces. This norm, as from the 1950s, made possible the transit from a dual or competitive federalism to one that is cooperative or of compromise. Likewise progress was made towards greater inter-jurisdictional relations through Federal Councils which meant the joint participation of representatives of the federal and provincial governments11. This, naturally, was an indication of a road of flexibilization in the use of the competences and institutional practices. But, we must repeat, this is a matter of a process under way, which must be reaffirmed. At present, for the political and institutional circumstances we are going through, we are far from making concrete the important modifications that have to be made in our public law, to deepen the decentralization of power and integration, as the appropriate responses of our Constitution to the sharp challenges of the globalized world we live in. – As for the possibility of international integration, the constitutional reform of 1994 in its art. 75 sec. 24 has provided in this matter, as a faculty of the national Congress: “To approve treaties of integration that delegate competences and jurisdiction to supra-state organizations in conditions of reciprocity and equality, which respect democratic order and human rights. The norms dictated in consequence of this have hierarchy over the laws. The approval of these treaties with States of Latin America will require the absolute majority of all the members of each Chamber. In the case of treaties with other States, the national Congress, with the absolute majority of the members present in each Chamber, will declare the suitability of approving the treaty, and it can be approved only with the vote of the absolute majority of all the members of each Chamber, one hundred twenty days after the act of declaration. Rejection of the 11 Such as the Federal Investments Council, the Federal Taxes Council and the Federal Councils on Education, Health, the Environment, Public Works, Domestic Security, etc.

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treaties mentioned in this sub-section will require the prior approval of the absolute majority of the totality of the members of each Chamber”. As a consequence, this possibility of supranational integration has been constitutionalized, in accordance with the times we live in. Argentina is part of a regional system, that of the Organization of American States, with a system of protection of human rights, based essentially on the American Declaration of the Rights and Duties of Man and on the American Convention on Human Rights (Pact of San José de Costa Rica, 1969), which set up an Inter-American Commission on Human Rights and an Inter-American Court of Human Rights. This Convention was previously approved by Law 23.054 of 1984 of the national Congress, but as from the constitutional reform of 1994, has constitutional hierarchy, under the provisions of art. 75 sec. 22. The American Convention, in art. 28 dealing with the Federal Clause, declares: “1. Where a State Party is constituted as a federal state, the national government of such State Party shall implement all the provisions of the Convention over whose subject matter it exercises legislative and judicial jurisdiction. 2. With respect to the provisions over whose subject matter the constituent units of the federal state have jurisdiction, the national government shall immediately take suitable measures, in accordance with its constitution and its laws, to the end that the competent authorities of the constituent units may adopt appropriate provisions for the fulfi llment of this Convention. 3. Whenever two or more States Parties agree to form a federation or other type of association, they shall take care that the resulting federal or other compact contains the provisions necessary for continuing and rendering effective the standards of this Convention in the new state that is organized.” In consequence, the Argentine provincial states must adapt their legislation and judicial case-law to the American Convention, in the same way as the federal government must scrupulously respect the federal principles of the Constitution in this supra-national integration process, taking care not to affect the provincial and municipal competences and autonomies. Likewise, as we have said before, there must also be participation of the provinces and municipalities both in the ascendant and in the descendant phase of international integration treaties.12 The fact is that this is a process under way, in which we are very far from the integration processes such as that of the European Union. As we saw earlier, according to the constitutional reform of 1994 in art. 124, the Provinces also have faculties to sign “international agreements”, with the limitations expressed there. This has also meant a fundamental modification for us that indicates the road to follow in the globalized world of which we are part.

12 See our study “Integración y Globalizacion: rol de las regiones, provincias y municipios”, Depalma, Buenos Aires, 2000.

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III. The Trend to Centralization Throughout the history of Argentina, we have undergone a profound centralization process, which has produced notable discordance between the normative Constitution and the current reality. This forces us to consider federalism in its sociological or realist face, aiming to observe the genuine currency of the constitutional norms.

1. Causes A multiplicity of reasons have led to the failure to comply with the federal project of the Constitution, which Frías has summarized as: 1) the advance of the federal government without suffi cient resistance from the provinces (as in tax matters, in federal interventions and in centralizing policies), 2) the development of centralizing virtualities of the Constitution itself (such as from the legislative faculties of the Congress or the commercial clause), and 3) the infrastructure of socio-economic concentration in the metropolitan area of Buenos Aires to the detriment of the interior and of the equilibrium of the country.13 We add 4) the hyperpresidentialism and the federalism. Despite these formal features of the system of government, throughout its history Argentina in fact has experienced a high degree of concentration of power in the national executive, based in the capital of Buenos Aires, which also is the focus of economic and fi nancial power. This phenomenon in turn has had implications both for the operation of democratic institutions and for the operation of federalism. Most political decisions are taken by the President, with the support of provincial governors, which depend economically from the federal government by fiscal co-participation. The Governors in turn can effectively decide on the list of candidates and control the voting behaviour of their members in the Congress. This abuse of presidential power, which has been termed “hyper-presidentialism”, has tended to subordinate both Congress and the Provinces, weakening not only republicanism but also federalism itself. On the violations of the Constitution, we repeat the following ideas contained in an article that we titled “The failure of the centralist project”14 : “The recent reports at the end of 2002 on human development from the United Nations and from the Instituto de Investigaciones of the Córdoba Stock Exchange, have coincided on their diagnosis of the grave problems of inequality, injustice, inequity and disintegration, caused among other things by the extreme centralization of the country. It is sufficient for this to look at the human development indices contained in the fi rst of these Reports, where in the case of Formosa as the lowest point they reach 0.156 and in the case of the city of Buenos Aires as the highest point, they reach 0.867, that is, almost 6 times more, as a demonstration of the territorial differences. 13 14

“Derecho Publico Provincial”, Frías y otros, Depalma, Bs.As., 1985, p. 389. Published in “La Nación” newspaper of Buenos Aires, on January 8, 2003.

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The dangers and evils that have been pointed out since the 19th century by, among others, Alberdi in his “Bases” opposing the capitalization of Buenos Aires, Sarmiento in “Argirópolis” and Alem in his famous prophecy of 1880 in the debate on the federalization of the city of Buenos Aires. And in the 20th century, Martínez Estrada spoke to us of the “head of Goliath” and more recently Félix Luna in his book “Buenos Aires y el país” held that this is an unresolved structural problem that runs through all our history. This notable phenomenon of concentration, which encompasses all the orders of Argentine social life in relation to its capital and is repeated in nearly all the provinces, has been similar to that occurring in other Latin American countries, which have unfortunately not been able to escape from this characteristic of underdeveloped societies, presenting poor territorial order, with marked asymmetries. The centralization process of the country around its metropolitan area of Buenos Aires, where in less than 1% of the territory live nearly 35% of the population, is complemented by the circumstance that nearly 80% of Argentine production originates in a radius that is hardly more than 500 km from that area. It is clear to us that the federalism as a form of State embodied in the National Constitution of 1853 and 1860 was the correct decision for solving the grave political, economic and social problems of such an extensive country, which required an effective decentralization of power. But the problematic currency of the Constitution could also be particularly seen in this aspect, since in reality a unitarizing project steadily imposed itself, centralizing power in the so-called Federal Government, based in the port of Buenos Aires, which encroached on the constitutional designs and on provincial autonomies, without respecting municipal autonomies either. This negative process could not be hindered even by the constitutional reform of 1994, one of the main ideas of which was the deepening of the decentralization of power . . .”. We can see that the centralist project has deepened in recent times, affecting federal principles, as in the following areas:

2. Argentina today a) Special problems on fi scal federalism aa) The economic and fi scal dependence of the Provinces and Municipalities The centralist advance of the “federal” government over the tax resources of the provinces and municipalities has been exacerbated, strengthening the economic, political and social dependence of these levels of government. In effect, to the deductions made to primary distribution between federal government and Provinces in the coparticipation system through the use of specific allocations, have been added the check tax and, especially, the retentions on the export of soybeans, corn and wheat. Thus the guarantee fi xed for the provinces by art. 7 of Law 23.548 of fiscal coparticipation, of receiving 34% as a minimum of the national tax

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income, including both shareable and other taxes, has also been violated, at huge damage to the other orders of government. We believe it essential to establish a National Forum or Conference of Governors, as is found in other federations such as the Mexican or US, in order to consolidate inter-jurisdictional relationships and achieve a more balanced communication of the Provinces in the face of the hegemonic power of the central government.

bb) The increase of retentions on exports The country has been disturbed recently by the increase in the retentions on exports of soybeans, corn and wheat decided by the government, which has caused a strong reaction from the farmers and agricultural organizations. We consider the measure was unconstitutional for the following reasons: 1. It was put into effect by means of a simple Resolution of the National Ministry of Economy, instead of by a Law passed in Congress, as required by the Constitution. An essential principle in constitutional democracies has been violated, which is that there is no taxation without a law, rooted in England’s 1215 Carta Magna. 2. This Resolution shows up a lack of knowledge of the republican system, provided for in art. 1 and related provisions of the National Constitution. The separation and balance of powers as a fundamental principle of the republican system, was put forward by thinkers of the stature of Locke, Montesquieu and Madison and then adopted in the Constitutions of the constitutional democracies. 3. A deep wound has also been produced in our federal form of State, embodied in arts. 1, 5, 6, 121, 122, 123, 124 and related provisions of the National Constitution. In effect, since this is a matter of customs dues that only correspond to the Federal Government, these are not included in the shareable amount from which the Provinces, the Autonomous City of Buenos Aries and the local governments could later participate. In the case of the Province of Córdoba, this increase means a contribution to the national treasury of some 2,540 million pesos, (approximately 700 million dollars) none of which corresponds to the provincial income. Fortunately, the Congress rejected the bill sent by the President for the approval of the resolution.

cc) The destination of public federal spending We consider that sec. 8 of art. 75 of the Constitution is not being complied with, which establishes that the general expenditure budget of the Nation must be set annually “in accordance with the guidelines established for the law agreement on tax sharing, i.e. in terms of objectivity, equity and solidarity. In consequence, the current situation of suffocating centralization that prevents the harmonious development of the country is not modified. Now, the public federal spending is destinated mainly to the metropolitan area of Buenos Aires without reasonable criteria.

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dd) Law agreement on tax-sharing It should be noted that the modification of the system of Law 23.548, sanctioned in 1988 during the presidency of Alfonsín, was started during the government of Presidente Menem and his minister Cavallo, frequently through the use of decrees of necessity and urgency, and with the Fiscal Pacts, with the aim of reducing the percentage that had been recognized for the Provinces, and this was continued by the succeeding national governments. In consequence, the centralist advance of the “federal” government over the tax resources of the provinces and municipalities has been exacerbated, strengthening the economic, political and social dependence of these levels of government. In effect, to the deductions made to primary distribution through the use of specific allocations, which began in the government of Dr. Menem15, have been added the check tax and, especially, the retentions on the export of soybeans, corn and wheat. Thus the guarantee fi xed for the provinces by art. 7 of Law 23.548, of receiving 34% as a minimum of the national tax income, including both shareable and other taxes, has also been violated, at huge damage to the other orders of government. We believe it essential to establish a National Forum or Conference of Governors, as is found in other federations such as the Mexican or US, in order to consolidate inter-jurisdictional relationships and achieve a more balanced communication of the Provinces in the face of the hegemonic power of the central government. As can be seen, there must be no delay in sanctioning the tax-sharing law agreement, to put an end to the violation of the Constitution, which set a deadline which expired long ago, and because it is essential to change the depressing reality of our federalism. The constitutional reform of 1994 set up new procedures for fiscal co-participation in the distribution of direct and indirect internal taxes, pursuant to a legislative agreement “based on principles of equity and solidarity giving priority to the achievement of a similar degree of development”. This legislation must originate in the Senate, and requires approval by an absolute majority of members in each chamber and after, the approval of each Provincial Legislature. This law agreement, which has not yet been enacted, despite the time-frame of the end of 1996 prescribed in transition regulation 6.As you imagine, this is a very grave violation of the Constitution. To escape from the present labyrinth of tax-sharing we must follow our Ariadne’s thread, which is nothing more than respecting the mandates of the Constitution. A shareable amount must be set that is not reduced by the huge number of specific allocations current today, most or all of which must be derogated. Then primary and secondary distribution must be set on the basis of constitutional criteria. For this it is decisive to emphasize the modifications of the competences, services and functions between the Nation, the provinces and the city of Buenos Aires.

15 And which we have described in our book “Federalismo, autonomía municipal . . .” mentioned above, in Ch. II, analyzing the topic of tax-sharing, with an estimate of the huge amounts taken from the provinces and hence from the municipalities.

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A greater recognition of the participation of the provinces and the city of Buenos Aires, which necessarily will then have repercussions in the tax-sharing with the municipalities, will make later discussion on secondary distribution, where disputes arise between the larger, developed provinces and the smaller, more backward ones, relatively simpler. It is here that what I have called the triumph of the centralist project has resulted in a country with enormous differences and imbalances, according to the indices of human development, gross product or income per capita, which it is time to modify. The solidarity criteria demanded by the Constitution must be respected, as other federations do, such as Canada, Australia or Germany, which are noted examples to be considered. This complex and decisive debate must start now, following the established constitutional bases16. For this a truly overarching policy must be exercised that overcomes party antagonisms, strengthens inter-jurisdictional relationships and enables a balanced development of the country in accordance with the federal project of the Constitution.

b) The lack of progress in the regional integration process We consider that, even though the map of regions is almost formalized with the already constituted regions of North Argentina, Patagonia, New Cuyo and Center, – with only the integration of the Province of Buenos Aires and the Autonomous City lacking –, no advance can be seen in this process. The institutional, economic and social situations undergone, added to the absence of an overarching policy have surely influenced this. Some noteworthy activity has recently been seen only in the Central Region. The modification of territorial organization is urgent, with strategic projects like the bi-oceanic corridors, which involve carrying out significant infrastructure works such as the termination of the Córdoba-Rosario highway and the consolidation of the passes over the Andean Cordillera, in accordance with the agreement signed by the Mercosur with Chile.

c) The lack of compliance with other norms related to economic aspects of federalism Here we include the lack of creation of the Federal Bank, the maintenance of centralizing legislation that is not adapted to the principle of the provinces’ ownership of natural resources and the insufficient exercise of the new competences in international agreements that enable supra-national integration, with the participation of provinces and municipalities.

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To contribute to this long-delayed and fundamental debate, the Instituto de Federalismo of the Academia Nacional de Derecho y Ciencias Sociales de Córdoba which I direct, has published the book “Aspectos fi scales y económicos del federalismo argentino”, Córdoba, 2008, with contributions from economists, jurists and specialists of other disciplines.

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d) The lack of full autonomy for the Autonomous City of Buenos aires This brief analysis of the problems of our federalism cannot omit what occurred with art. 129 of the National Constitution, which recognized full autonomy for the City of Buenos Aires, in one of the most significant advances of the constitutional reform of 1994. It is well known that the National Congress sanctioned Laws 24.588 and 24.620, which violated the letter and the spirit of this constitution, restricting the autonomy of the City, by preventing it having a police force and complete administration of justice. This situation particularly affects our form of state and the Argentine provinces, since they continue contributing to the national treasury that carries responsibility for the police and national justice service (civil, penal, commercial and labor) of the richest city in the country.

IV. Conclusion 1. Good constitutional design on distribution of competences in our federation We think so, according to comparative federal approach, because the autonomy of provinces, city of Buenos Aires and municipalities is granted by wide and extenses competences.

2. The current tension between federal government and the interior of the country over the centralization It was a problem troughout our history and now continues as we mentioned. In particular, the recent confl ict among Federal government and farmers and agricultural organizations, arose people·s conciousness on the importance of federalism.

3. Lack of compliance with the federal project of the Constitution It is clear to us that the Constitution is not being complied with, in terms of our federal form of state, just as is seen in relation to our republican form of government, particularly through the phenomenon of hyperpresidentialism. The decay in our rule of law implies the violation of the principles of the federal republic and an advance of the national government over the competences of the Provinces.

4. The need to change the process of centralization The constitutional reform of 1994 encouraged decentralization of power as we mentioned in the fourth stage of the history of our federalism. However, the institutional changes were insufficient to modify the process of centralization in many aspects, and specially, regarding to the asymmetries of our re-

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gional and provincial development. In conclusion, we need to change the process of centralization, by the execution of the federal and republican project of the Constitution.

Sachregister Bearbeitet von Roland Schanbacher, Richter am Verwaltungsgericht Die Zahlen verweisen auf die Seiten des Jahrbuchs

Abweichungsgesetzgebung – u. allgemeiner Gleichheitssatz 329 f. – im Bundesstaat 321 ff. – u. Demokratieprinzip 333 f. – experimentelle Elemente 336 f. – Interpretation (Grundsätze) 327 ff. – kompetenzrechtliche Möglichkeiten 329 f. – Rechtsklarheit 334 ff. – u. Rechtsstaatsprinzip 334 ff. – Regelungsvielfalt 328 f. – Regelungswettbewerb 328 f. – Unionsrecht (Sperrwirkung) 330 ff. Afrikanische Union (AU) – Korruptionsbekämpfung 347 f. Akkomodation – politische ~ (Baskenland) 624 ff. AKP – Gerechtigkeits- u. Entwicklungspartei (Türkei) 635 ff. allgemeine Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) – Diskriminierungsverbot 282 ff. Amerika – Verfassungsrecht (Entwicklungen) 687 ff. Anti-Korruptionsprogramm – des Europarates 351 f. Anwendungsvorrang – des Gemeinschaftsrechts (EU) 146 Arangio-Ruiz, G. 436 Argentine 687 ff. – Centralization 696 ff. – Constitution (1853) 688 f. – Constitutional reform 689 f. – fi scal federalism (problems) 697 f. – form of government 688 – today 697 f. Argentinien 687 ff. s. a. Argentine v. Arnauld, A. 497 ff. Arzoz, X. 603 ff. Aufsicht – internationale ~ – – District Brcˇko 683 ff. Auslandseinsätze – deutscher Streitkräfte 407 f.

Auslegung – des Grundgesetzes 31 ff. – – juristische Methode 32 ff. – subjektiv-teleologische (Grundsatz) 34 ff. Auslegungsgrenze – Wortsinn 22 f. Autonomiemodell – spanisches ~ 609 ff. Baskenland – Entwicklung (19. u. 20. Jh.) 606 ff. – Feindstrafrecht 611 ff., 622 f. – Identität des ~ 604 ff. – Kommunikationsmedien 614 f. – Parteienverbot 616 ff. – politische Akkomodation (Suche) 624 f. – politisches Statut (2004) 624 f. – u. spanische Verfassung 604 ff. – – Verfassung v. 1978 608 f. – spanisches Autonomiemodell 609 ff. – streitbare Demokratie 611 ff. – Tatstrafrecht – Täterstrafrecht 613 ff. – Verfassungsentwicklung (2000–2009) 603 ff. – verfassungspolitische Konfrontation 611 ff. – Volksbefragung (Gesetz) 628 ff. Benedikt XVI. 554 Bestandteilstechnik 231 f. Besteuerung – freiheitsrechtliche Maßstäbe 134 f. – Prinzipien 132 ff. Bestimmtheitsgebot 24 f. Bestrafungsgebote – verfassungsrechtliche ~ 9 f. Bildungsfreiheit (EU) 467 Blindheitsprüfung 284 Bluntschli, J. C. 415 Bodin, J. 393 Bosnien u. Herzegowina 666 ff. – Verfassung der Entitäten 676 f. – Verfassung von ~ 673 ff. Brcˇko (Distrikt) – Dayton-Abkommen 668 f. – Distriktorgane 679 ff. – internationale Aufsicht 683 ff. – multiethnisches Zusammenleben 665 f.

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Sachregister

Brcˇko (Distrikt) – rechtlicher Status 671 ff. – staatsrechtliche Lage 673 ff. – Statut 677 ff. – Supervisor 683 ff. – Verfassung u. Recht 665 ff. – völkerrechtliche Lage 668 ff. Bremen – Staatsgerichtshof 216 ff. Brox, Hans – Herkunft u. Ausbildung 522 f. – Mensch 532 f. – Richter in der ordentl. Gerichtsbarkeit 523 ff. – Richterverständnis 531 f. – universitärer Quereinsteiger 524 ff. – Verfassungsrichter 529 f. – wissenschaftliches Lebenswerk 527 ff. – Zivil- u. Zivilprozessrechtler 521 Bürger – Rückkehr des ~ 497 ff. s. a. Paradigmenwechsel Bürgerfreiheit (EU) – als Verfassungskriterium 458 f. – europäische ~ 459 f. – Legitimationsressource 470 f. Bürgerparadigma – Integration 510 f. Bundesamt – zur Korruptionsprävention u. Korruptionsbekämpfung – BAK (Österreich) 385 ff. Bundeskanzler 210 Bundeskriminalamt (BKA) – von Österreich (Korruptionsbekämpfung) 374 f. Bundesrat 210 – österreichischer ~ – – H. Schambeck 545 ff. – Rolle des ~ 190 f. Bundesstaat – u. Sozialstaat 109 f. Bundesstaatslehre – Abweichungsgesetzgebung 321 ff. Bundesstaatstheorie – unitarische – gemischte 322 ff. Bundestreue 330 f. Bundesverfassungsgericht 177 ff. – Diskriminierungsverbot 279 ff. – Eigentum 51 – europäischer Verfassungsgerichtsverbund 218 f. – Familienrecht 49 f., 52 – Identitätskontrolle 241 f. – Kontrollbefugnisse (Grundgesetz) 36 ff. – Kontrollmaßstab 37 f. – Meinungs- u. Pressefreiheit 51 f. – Solange 407

– „Solange“-Technik 204 f. – Sozialpolitik 477 ff. – Steuerrechtsprechung 131 f. – supranationale Rechtsprechung 153 ff. Bundeswehr – als Parlamentsheer 407 f. Can, O. 635 ff. Canaris, C.-W. 50 Centralization – trend to ~ (Argentine) 696 ff. CHP (Türkei) 636, 640 ff. Common law 426 Competences – Distribution ~ (Argentine) 690 ff. D’Altena, A. 305 ff. Dayton-Abkommen – Brcˇko 668 f. Dehler, T. 39 Dejuridifizierung – der Gesetzgebung 333 f. Demokratie – u. Freiheit (EU) 471 ff. – repräsentative ~ 173 f. – streitbare ~ (Baskenland) 611 ff. – wehrhafte ~ (Türkei) 635 ff. Demokratieprinzip – Abweichungsgesetzgebung 333 ff. – Beschränkung 333 – Dejuridifizierung (Gesetzgebung) 333 f. – Grenzlinie (EU) 155 ff. – Repolitisierung (Gesetzgebung) 333 f. Demokratietypologien 180 ff. Deutschland – internationale Beziehungen 389 ff. – Menschenwürde 247 ff. – offene Staatlichkeit 391 ff. – Souveränität 391 ff. – supranationales Europarecht – – grundgesetzliche Zukunft 159 ff. – Würdekonzepte 247 ff. Dienstleistungsfreiheit (EU) 484 Dialog – hermeneutischer ~ – – Grundgesetz – Europarecht 150 ff. Dimension – menschenrechtliche (Grundgesetz) 38 ff. Diskriminierung – (rechts-)extremer Meinungen (Art. 5 Abs. 2 GG) 279 ff. Diskriminierungsverbot 279 ff. – Ausnahmen 293 ff. – Blindheitsprüfung 284 – EMRK (Übereinstimmung) 298 ff. – Kombinationsformel 282 f.

Sachregister Diskriminierungsverbot – Meinungsneutralität 285 f. – politisches ~ 282 f. – Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG 282 ff. – Tabustruktur des GG 299 – – EMRK (Übereinstimmung) 298 f. Distrikt Brcˇko 665 ff. s. a. Brcˇko Distriktsorgane – Brcˇko 697 ff. Distriktsversammlung – Brcˇko 697 ff. Doehring, Karl – Dissertation 537 – Habilitation 537 – Kriegszeit 535 – Leben als Jurist 535 ff. – Staatsrechtslehrer 539 – Studienzeit (Heidelberg) 536 – Völkerrecht 541 f. – wissenschaftliche Arbeiten 540 ff. Dreher, M. 59 ff. Dualismus 436 Dürig, G. 47, 251 EGMR – europäisches „Verfassungsgericht“ 217 ff. – Parteiverbotsverfahren (Türkei) 656 f. Eichenhofer, E. 97 ff. Eigentumsgarantie 48 f. Eigentumsschutz 206 Einigungsverträge – u. Grundgesetz 66 Ein-Parteien-System – Spanien (1936–1975) 571 f. Einzelermächtigung 112 f. EMRK – Diskriminierungsverbot 298 f. Enders, Chr. 245 ff. Entitäten – Bosnien – Herzegowina 676 f. – – Verfassungen 676 f. Entkonfessionalisierung 274 ff. Entnazifizierung – des Privatrechts 29 ff. Entschuldigung – verfassungsrechtliche Fragen 17 ETA 611 ff. EuGH 407, 462 f. – europäisches „Verfassungsgericht“ 217 f. – Grundrechte-Rspr. 153 ff. – Menschenwürde 248 f. – Treiber europäischer Sozialpolitik 490 f. EU-Mitgliedschaft – u. Freiheit 474 f.

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EU-Recht – sozialpolitische Reichweite 116 f. Europa – Verfassung (Wesen) 457 ff. – Würdekonzepte 247 ff. – Zukunft des GG 164 f. Europafreundlichkeit – sozialrechtliche Rückwirkungen 111 f. europäische Integration – Sozialstaatlichkeit 477 ff. – supranationale Offenheit des GG 148 ff. Europäische Union (EU) 457 ff. s. a. Verfassung Europas – Aufgaben u. Zielbestimmungen 111 f. – Einzelermächtigung 112 f. – EU-Vorränge 114 – Gemeinschaftsrecht 144 ff. – (Grund-)Freiheit – – Universalität 463 – Integration 488 ff. – Korruptionsbekämpfung 348 ff. – mitgliedstaatliche Vorbehalte 114 – Neuerungen des GG 155 ff. – Primärrechtssetzung (Zukunft) 164 f. – Sozialpolitik 111 ff. – sozialpolitische Kompetenz 482 ff. – Subsidiarität 112 f. – Verhältnismäßigkeit 112 f. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 217 ff., 656 f. europäisches Verwaltungsrecht – Eigenarten 500 ff. – Paradigmenwechsel 497 ff. Europäisierung – u. Menschenwürde 245 ff. Europäisierung u. Internationalisierung – des Verwaltungsrechts (Gemeinsamkeiten) 507 ff. Europarat – Korruptionsbekämpfung 346, 351 ff. – Menschenrechtsschutz 248 f. Europarecht – u. Grundgesetz (60 Jahre) 141 ff. – grundgesetzliche Zukunft 159 ff. – Korruptionsbekämpfung 343 ff. – supranationales ~ 142 ff. – transnationale Rechtsetzung 143 f. Ewigkeitsvorbehalt 403 Familienrecht – Rechtspr. des BVerfG 49 f. Feindstrafrecht – Baskenland 611 ff., 622 f. Finanzverfassung 176 Föderalismus 173, 175, 188 ff. – experimenteller ~ 325 ff., 333 f.

706 Folter 252 f. Forsthoff, E. 134 f., 536 ff. Freiheit – u. Demokratie (EU) 471 ff. – u. EU-Mitgliedschaft 474 f. – der Unionsbürger 457 ff. – Universalität (EU) 463 f. Freiheitsstrafe – lebenslängliche ~ 14 f. Garantien – prozessuale ~ – – Parteiverbotsverfahren (Türkei) 660 f. Gemeinschaftsrecht (EU) – Anwendungsvorrang 146 – Durchsetzungsmechanismen 146 f. – der EU 144 ff. – Gründungsphase der EU 151 f. – sekundäres ~ – – u. Grundrechtsschutz (GG) 153 Gemeinschaftsrechtsprechung – Rechtsgemeinschaft 147 Gemeinwesen – transnationales ~ 142 f. Gerichte – Österreich – – Korruptionsbekämpfung 357 f. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) – Supranationalität 145 f. Gesetze – privatrechtliche ~ (Überprüfung) 36 Gesetzgebung – Dejuridifizierung 333 f. – Konf liktlösung 313 f. – Repolitisierung 333 f. Gesetzlichkeitsprinzip 22 f. Gestaltung – soziale ~ (EU) 479 ff. Gewalt – auswärtige ~ 407 f. Gewaltenteilung – in Argentinien 687 ff. Gewissenstaten 19 f. v. Gierke, O. 32 Gleichheitssatz – allgemeiner ~ – – u. Abweichungsgesetzgebung 329 f. Globalisierung – u. Meinungsfreiheit 232 f. – u. Religionsfreiheit 274 ff. Government – in Argentine 688 GRECO (Group of States against Corruption) 357 ff. – Evaluation Report (2008) 368 ff. – Zusammenfassung 380 ff.

Sachregister Grotius, H. 414 Grundfreiheiten – Universalität (EU) 463 ff. Grundgesetz (60 Jahre) – Änderungen bis 1990 65 ff. – Akzeptanz u. normative Kraft 200 f. – Anti-NS-Haltung 300 f. – Auslegung 31 ff. – – juristische Methode 32 ff. – – subjektiv-teleologische ~ 34 ff. – Ausstrahlung 202 ff. – – judikative ~ 205 ff. – – theoretische ~ 205 ff. – u. Europarecht 141 ff. – – hermeneutischer Dialog 150 ff. – u. Gemeinschaftsrecht – – Anwendbarkeit (EG bis 1972) 151 f. – Grundrechtsträger (Bindung) 43 f. – internationale Beziehungen 389 ff., 402 f. – Kontrollbefugnisse des BVerfG 36 f. – u. Lenkungsrecht 84 f. – u. Politikwissenschaft 169 ff. – u. Privatrecht – – Entwicklungslinien 47 f. – – Sicht 29 ff. – – Streitpunkt 53 f. – Menschenbild 102 f. – u. Menschenrechte 38 ff. – Menschenwürde 245 ff. – Menschenwürdegarantie (Wirkkraft) 42 f. – Privatrechtsakteure (Bindung) 43 – Regierungsform 208 f. – Sicht Koreas 199 ff. – soziale Grundrechte (Spezifika) 55 ff. – – Subsidiaritätsprinzip 56 – Sozialrecht 97 ff. – Staatsorganisation 208 ff. – Steuerrecht 119 ff. – Steuerrechtswissenschaft 122 ff. – Strafrecht (Sicht) 1 ff. – Straftheorien 10 ff. – Strukturentscheidungen 173 f. – supranationale Offenheit 148 ff. – u. Tarifvertragsfreiheit 82 f. – Unternehmensrecht 73 ff. – Verfassungsidentität (Entwicklung) 158 ff. – u. Vertragsrecht 79 ff. – Weltoffenheit 111 f. – u. Wettbewerbsrecht 83 f. – Wirtschaftspolitik 71 f. – wirtschaftspolitische Offenheit 62 – u. Wirtschaftsrecht 59 ff. – Wirtschaftsverfassung 67 ff. – Würdegarantie (Grenzen) 253 f. – Zukunft in Europa 164 f. – zukunftsorientierte Regelungen 202 ff.

Sachregister Grundrechte – Bindungswirkung 44 f. – europäische ~ 460 ff. – u. Privatrecht (Einwirkung) 46 ff. – Rechtsprechung des EuGH 153 ff. – Schutzpf lichtenlehre 53 f. – soziale ~ (Korea) 205 – soziale ~ (Spezifika) 55 ff. – – Subsidiaritätsprinzip 56 – soziale Dimension 54 f. – Sozialgebundenheit 54 – sozialpolitische ~ (EU) 115 f. – sozialrechtliche Tragweite 101 f. – Vorrang der ~ 42 ff. – zivile ~ – – u. Sozialrecht 104 f. Grundrechtsauffassung – der Weimarer Zeit 203 ff. Grundrechtsbindung – Grundrechtsträger 43 f. – Privatrechtsakteure 43 – Staatsgewalten 42 f., 45 Grundrechtsschutz – Grundgesetz – Gemeinschaftsrecht (Grenzlinie) 153 Grundrechtsträger – Bindung an das GG 43 f. Grundrechtsverwirklichung – kollektive ~ 262 f. HADEP-Verbot (Türkei) 653 f. Häberle, P. 54, 323, 326 „Handelsvertreter-Entscheidung“ (1990) 50 f. Handlungsfähigkeit – internationale ~ – – offener Verfassungsstaat 403 f. Harmonisierung 207 Hassemer 17 Hebeltechnik 228 f. Heck, Ph. 525 f. Hensel, A. 125 f., 128 f. hermeneutischer Dialog – Grundgesetz – Europarecht 150 ff. Hernandez, A. M. 687 ff. Hesse, K. 218, 322 ff., 393, 397 Hobbes, Th. 414 Homogenisierungstechniken – der Verfassungsgerichte 226 ff. Hufeld, U. 457 ff. Huh, Y. 199 ff. Humanisierung – des Völkerrechts 455 f. Hummer, W. 339 ff. Ibarretxe 628

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Identitätskontrolle 241 Immunität – v. Abgeordneten (Österreich) 377 Individualismus 436 Inkorporierungstechniken – der Verfassungsgerichte 228 f. – – Bestandteilstechnik 231 f. – – Hebeltechnik 228 f. – – Verweistechnik 229 f. Integration – des Bürgerparadigmas 510 f. – u. deutsches Sozialstaatsprinzip 488 ff. – europäische ~ 477 ff., 557 – – Entwicklung 557 – – supranationale Offenheit des GG 148 ff. – Offenheit 395, 399 f. – Pfade zur ~ 489 f. – soziale ~ (EU) – – Lissabon-Vertrag 481 f. – Integrationshebel (Art. 23 u. 24 GG) 400 f. Integrationsverantwortung – Entwicklung (EU) 158 ff. Interaktion – Mitglieder der Verfassungsgerichte 242 f. internationale Beziehungen – im Grundgesetz 402 f. internationales Verwaltungsrecht – Erscheinungsformen 504 ff. – Mediatisierungsfalle 506 f. – Rechtsschutz 514 ff. Islamisierung 274 ff. Jellinek, G. 426 Johannes Paul II. 554 Judikatur – steuerverfassungsrechtliche ~ 131 f. Jurist – Doehring, K. 535 ff. Justiz – Parteiverbote (Türkei) 653 ff. Kapitalverkehrsfreiheit 468 Karpen, U. 665 ff. Kartellrecht 83 f. Kelsen, H. 436, 549 ff. Graf Kielmannsegg, P. 169 ff. Kombinationsformel 282 f. Kommunalwahlen – in der Türkei 639 Kommunikationsmedien – Baskenland 614 ff. Kompetenz – sozialpolitische ~ (EU) 482 ff. – wirtschaftsbezogene ~ (im GG) 62 f. Konf liktverhaltnis – System von Prinzipien u. Werten 310 ff.

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Sachregister

Konfrontation – verfassungspolitische ~ (Baskenland) 611 ff. Konkordanz – praktische ~ – – im Mehrebenensystem 394 f. Konsequenzen – straftheoretische ~ 13 f. Konstitutionalisierung – des Steuerrechts 138 ff. – des Verwaltungsrechts 497 ff. Kontrollbefugnisse – des Bundesverfassungsgerichts 36 ff. Kontrollmaßstab – des Bundesverfassungsgerichts 37 f. Kontrollratsgesetz Nr. 1 29 f. Kooperationstechniken – der Verfassungsgerichte 236 ff. Koordinationstechniken – der Verfassungsgerichte 236 ff. Korea – u. Grundgesetz 199 ff. Koreanische Verfassung – soziale Grundrechte 205 Korruption – Begriff 341 ff. – Strafrechtsübereinkommen (Europarat) 354 ff. – Zivilrechtsübereinkommen 356 f. Korruptionsbekämpfung – international – – europarechtliche Vorgaben 343 ff. – – völkerrechtliche Vorgaben 343 ff. – national (Österreich) 339 ff. – – Österreichisches Strafgesetzbuch 360 f., 370 ff. – regional (OAS, AU, OECD, EU) 346 ff. – Vereinte Nationen 344 ff. Kotzur, M. 389 ff. Kunstfreiheit – u. Strafrecht 21 f. Länderkompetenzen – Erhalt von ~ 327 f. Laizismus – türkischer ~ 638 Landesverfassungsgerichte – „Hüter“ der Landesverfassung 216 f. Landesverfassungsgerichtsbarkeit – Bremen 215 ff. – im europäischen Verfassungsverbund 215 ff. Lassalle, F. 457 Lebenswerk – wissenschaftliches ~ (H. Brox) 527 ff. Legalisierung – der Parteien (Spanien) 569 f. Lenkungsrecht – allgemeines ~ 84 ff.

Lissabon-Urteil 158, 458, 462 f., 471 Lissabon-Vertrag – soziale Integration 481 f. Lüth-Urteil 47 f. Luftsicherheitsgesetz 18 f. „Maastricht“-Urteil 155 f. Marktbürgerschaft – zur Unionsbürgerschaft (EU) 462 f. Marktfreiheit – Partikularität (EU) 466 f. Martini, S. 279 ff. Mayer, O. 120 Mehrebenensystem – überstaatliches – staatliches Recht (praktische Konkordanz) 394ff. Meinungsfreiheit 48 – amerikanisches Verständnis 291 f. – Globalisierung 232 f. – u. Religionsfreiheit (verfassungsdogmatischer Vergleich) 259 ff. – – Ausstrahlungswirkung 264 f. – – Entwicklungslinien 266 ff. – – Grundrechtsentwicklung 259 f. – – institutionelle Einbindung 270 f. – – kollektive Grundrechtsverwirklichung 262 f. – – Schrankenziehung 266 f. – Schutzbereich 261 f. – Schutzrichtung 268 f. – u. Strafrecht 21 f. – Verfassungsrechtsprechung (Kontrolldichte) 271 f. Meinungsneutralität 285 Menger, A. 32 Mensch – Subjekt 250 f. – im Völkerrecht 413 ff. – – Völkerrechtssubjektivität 431 ff. – Völkerrechtspersönlichkeit 440 f. Menschenbild – des Grundgesetzes 102 f. Menschenrechte – Funktionen 41 ff. – u. Grundgesetz 38 ff. – Inkorporation 38 ff. – im Völkerrecht 435 Menschenwürde 101 f. – Bedeutungsgehalt 250 f. – Garantie der ~ 199 f. – – Grenzen 253 f. – im Grundgesetz 245 ff. – Mindeststandards 252 f. – u. „politischer Primärraum“ (EU) 473 f. – Rechtsgewährleistung 254 f. – rechtliche Implikationen 250 f.

Sachregister Menschenwürde 101 f. – u. Rettungsfolter 17 – u. Souveränitätsvorbehalt 256 f. Menschenwürdegarantie – Wirkkraft 42 f. Merkl, A. 547 ff. MHP (Türkei) 636 Methodenlehre – juristische ~ 32 ff. Michael, L. 321 ff. Mitbestimmung – europäische Entwicklung 79 – in den Gesellschaften 77 f. – u. soziale Marktwirtschaft (Auswirkung) 79 Mitbestimmungsgesetz 78 Mitgliedstaaten (EU) – Verfassungsgerichte 219 Monismus 436 Mordmerkmale – Außerverhältnismäßigkeit 15 f. Müller-Graff, P.-C. 141 ff. Neuner, J. 29 ff. OAS – Korruptionsbekämpfung 346 f. Öffentliche Verwaltung – u. Korruption (Österreich) 377 ff. Österreich 339 ff., 545 ff. – Anti-Korruptionsrechtslage 359 ff., 380 ff. – Evaluierungsbericht (GRECO 2008) 339 ff. – Korruptionsbekämpfung 339, 360 f. – Strafgesetzbuch 360 ff., 370 ff. – Verantwortlichkeitsgesetz 371 Österreichisches Strafgesetzbuch (StGB) – Korruptionsbekämpfung 360 ff., 370 ff. Offener Verfassungsstaat (Art. 79 Abs. 3 GG) 403 – Ewigkeitsvorbehalt 403 – Gewährleistungsverantwortung 403 f. – Unveränderlichkeitssperre 403 Organe – Distrikt Brcˇko 679 ff. Organisation – der Distriktorgane – – Bezirk Brcˇko 679 ff. Papier 17 Paradigmenwechsel – im Verwaltungsrecht 497 ff. Parlament – Parteiverbote (Türkei) 653 ff. – transnationales ~ (Steuerungseinf luss) 144 Parteien – in Spanien 565 ff. – – Aktivitäten 598 ff.

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Auf hebung u. Auf lösung (Richter) 587 ff. Bekämpfung (bis 1833) 566 f. Finanzierung 591 ff. Gründung u. Errichtung 584 ff. historische, gesellschaftliche u. verfassungsrechtliche Rahmen 566 ff. – – Ignorierung (1834–1868) 569 f. – – Instrumente der Bildung 577 ff. – – Kontrollsystem 595 ff. – – Legalisierung (1869–1931) 569 f. – – politische Repräsentation 580 ff. – – politische Teilnahme 577 ff. – – Registrierung 586 ff. – – Stellung in der Verfassung 573 ff. – – verfassungsrechtliche Anerkennung (ab 1931) 570 ff. – – Wahlausgabe (Grenzen) 595 ff. – – Willen des Volkes (Ausdruck) 577 ff. Parteienauf lösung – Spanien 587 ff. Parteiendemokratie – Spanien (Übergang) 572 f. Parteienfinanzierung – Spanien 591 ff. Parteiengründung – Spanien 584 ff. Parteiverbote – Baskenland 616 ff. – Türkei 635 ff. – – HADEP-Verbot 653 f. – – historische Grundlagen 639 ff. – – Machtkampf ( Justiz – Parlament) 653 ff. – – Verfahren 658 ff. – – Wiederaufnahme der Verhandlung 656 f. Parteiverbotsklagen – Bestimmungen (Türkei) 646 ff. – EGMR 656 f. – historische Grundlagen 639 f. – Rahmenbedingungen (politische – ver fassungsrechtliche) 646 f. – Verfahren 658 ff. – Wiederaufnahme 656 f. Peters, A. 411 ff. Politikwissenschaft – Demokratietypologien 180 ff. – u. Grundgesetz 169 ff. – Verfassungstypologien 180 ff. Porras Ramirez, J. M. 565 ff. praktische Konkordanz 207 – staatliches – überstaatliches Recht 394 f. Preisrecht 86 f. Primärrechtssetzung (EU) – Zukunft 164 f. Prinzipien – der Besteuerung 132 ff. Privatisierungsgrenzen 70

710

Sachregister

Privatrecht – Einwirkung der Grundrechte 46 ff. – Entnazifizierung – – vor-grundgesetzliche ~ 29 ff. Privatrechtsakteure – Bindung an das GG 43 Quereinsteiger – universitärer ~ (Brox) 524 ff. Recht – u. Politik 545 ff. – subjektiv internationales ~ 411 ff. Rechte – soziale ~ – – Einschränkungen 167 ff. Rechtfertigung – verfassungsrechtliche Fragen 17 ff. Rechtserzeugungsmacht – Völkerrechtssubjekt 428 ff. Rechtsetzung – supranationale ~ (Zukunft) 161 ff. – transnationale ~ 143 f. Rechtsfähigkeit – Völkerrechtssubjekt 428 ff. Rechtsgemeinschaft – durch Gemeinschaftsrechtsprechung 147 Rechtsphänomen – supranationales Europarecht 142 ff. Rechtsprechung – Distrikt Brcˇko 682 f. – Konf liktlösung 313 ff. – Steuerrecht (BVerfG) 131 f. – Steuerverfassungsrecht 130 f. – supranationale ~ (Zukunft) 160 f. Rechtsprechungsänderungen – u. Rückwirkungsverbot 26 Rechtsschutz – im europ. u. intern. Verwaltungsrecht 514 ff. – subjektiv internationales Recht 446 ff. Rechtsstaatsprinzip – u. Abweichungsgesetzgebung 334 ff. Rechtssubjektivität 413 f. Rechtswirkung – supranationale ~ 144 ff. Rechtswissenschaft – u. Steuerrecht 120 f. Regelungen – zukunftsorientierte (GG) 202 f. Regierungsform – Argentinien 688 – Grundgesetz 208 ff. Religionsfreiheit – u. Meinungsfreiheit (verfassungsdogmatischer Vergleich) 259 ff. – – Ausstrahlungswirkung 264 f.

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Entwicklungslinien 266 ff. Globalisierung (Folgen) 273 f. Grundrechtsentwicklung 259 f. institutionelle Einbindung 270 f. kollektive Grundrechtsverwirklichung 262 f. – – Schrankenziehung 261 f. – Schutzbereich 261 f. – Schutzrichtung 268 ff. – Verfassungsrechtsprechung (Kontrolldichte) 271 f. Republika Srpska 666 ff. Resozialisierung – im Strafvollzug 12 f. Rettungsfolter 17 f. Richterbilder – Hans Brox 521 ff. Rittner, F. 59 ff. Roxin, C. 1 ff. Rückwirkungsverbot – u. Sicherungsverwahrung 26 – u. Systemkriminalität 25 f. – u. Rechtsprechungsänderungen 26 Rüthers, B. 521 ff. Schambeck, Herbert 545 ff. – Assistentenzeit 551 – Berufsweg 548 ff. – Habilitation 553 f. – Lehraufträge 555 f. – Publikationen 560 f. – Rechtskonsulent 555 – Studium 547 f. – Weg in die Politik 556 f. Schmid, C. 54 Schuldprinzip – Verankerung im Grundgesetz 11 f. Schuler-Harms, M. 477 ff. Schulze-Fielitz, H. 259 ff. Schutzbereich – Meinungsfreiheit 261 – Religionsfreiheit 261 f. Schutzpf lichtenlehre 53 f. Sicherheit – soziale ~ 105 ff. Sicherungsverwahrung – u. Rückwirkungsverbot 26 f. v. Simson, W. 396 „Solange I“ 153 „Solange II“ 154 f. „Solange“-Techniken 240 f. Souveränität – Deutschlands 391 ff. Souveränitätsvorbehalt – Integrationsoffenheit 395 – u. Menschenwürde 256 f.

Sachregister soziale Dimension – der Grundrechte 54 f. Soziale Marktwirtschaft – u. Mitbestimmung (Auswirkungen) 79 soziale Rechte – Einschränkungen 107 ff. soziale Sicherheit 105 ff. Sozialgebundenheit – der Grundrechte 54 Sozialisierungsklausel (Art. 15 GG) 63 f. Soziallehre – katholische ~ 553 f. Sozialmodell – europäisches ~ 491 ff. Sozialpolitik 99 – als Mehrebenenpolitik 479 ff. – BVerfG (Rspr.) 477 ff. – EuGH 490 f. – EU-Grundrechte 115 f. – EU-Recht 116 f. – Europäische Union 111 ff. – Träger der ~ (EU) 479 f. – Union – Mitgliedstaaten (Verhältnis) 479 f. Sozialrecht – u. Grundgesetz (60 Jahre) 97 ff. Sozialstaat – Gehalt 99 f. – Gewährleistungsgehalt 97 ff. – Koordinierung (offene Methode) 491 ff. – offener ~ 491 f. – Staatsziele 100 f. – unitarischer ~ 109 ff. Sozialstaatlichkeit – u. europäische Integration 477 ff. Sozialstaatsgebot 70 f. Sozialstaatsprinzip 99 – u. besonderes Wirtschaftsrecht (Konf likt) 93 f. – deutsches ~ – – Grenze der Integration? 488 ff. Spanien 565 ff. s. a. Parteien – absolutistische Staatstheorie (16. u. 18. Jh.) 566 f. – Baskenland – – Verfassungsentwicklung (2000– 2009) 603 ff. – Ein-Parteien-System (1936–1975) 571 f. – Parteien 565 ff. – Parteiendemokratie (Übergang 1975– 78) 572 f. – Verfassung von 1978 608 f. – Versuch Republik (1931–1936) 570 f. Spanische Verfassung – u. Baskenland 604 f. Srpska 666 ff.

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Staat – Straf befugnis 3 f. Staatengruppe – gegen Korruption (GRECO) 357 ff. Staatlichkeit – „offene“ (Deutschland) 389 ff. Staatsanwaltschaft – Österreich – – Korruptionsbekämpfung 375 f. Staatsgerichtshof (Bremen) 216 f. Staatsgewalten – Bindung 42 f. – – an das GG 45 Staatsorganisation – im Grundgesetz 208 ff. Staatsrechtslehre – Selbstdarstellungen – – Doehring, Karl 535 ff. – – Schambeck, Herbert 545 ff. Staatsrechtslehrer – Doehring, K. 535 ff. Staatsziele 100 f. Staatszielbestimmungen 305 ff. – Normativität 307 ff. Status – rechtlicher ~ (Distrikt Brcˇko) 671 ff. Statut – Distrikt Brcˇko 677 ff. Steuergerechtigkeit 134 f. Steuerrecht – u. Grundgesetz (60 Jahre) 119 ff. – Konstitutionalisierung – – Chancen u. Gefahren 138 ff. – Situation (1949) 121 f. – u. Verfassungsrecht 124 ff. Steuerrechtsprechung – unter dem GG (Entwicklungsphasen) 130 f. Steuerrechtswissenschaft 120 ff. – unter dem Grundgesetz 122 ff. Steuerverfassungsrecht 124 ff. – Judikatur (Phasen) 131 f. Strafausschluss – verfassungsrechtliche Fragen 17 Straf befugnis – staatliche ~ 3 f. Strafprozessordnung (StPO) – Korruptionsbekämpfung (Österreich) 385 Strafrecht – Bestimmtheitsgebot 24 f. – Entschuldigung 17 f. – u. Grundgesetz (60 Jahre) 1 ff. – Meinungs- u. Kunstfreiheit 21 f. – Rechtfertigung 17 f. – Rückwirkungsverbot 25 – Strafausschluss 17 f. – Tatbegriff 27 f.

712 Strafrechtsentwicklung – gesamteuropäische ~ 2 ff. Strafsanktionen – verfassungswidrige ~ 14 ff. straftheoretische Konsequenzen – aus Schuldprinzip u. Resozialisierungsziel 13 f. Straftheorien – u. Grundgesetz 10 ff. Strafvollzug – Resozialisierung 12 f. Strafvorschriften – moralistische ~ 4 ff. – paternalistische ~ 6 ff. Strafzwecke 13 Strategien – sozialstaatliche ~ 491 f. Streitkräfte – deutsche ~ (Auslandseinsätze) 407 f. Strukturentscheidung – des Grundgesetzes 173 f. subjektiv-teleologische Auslegung – Grundsatz der ~ 34 ff. Subjektives internationales Recht 411 ff. – Rechtserzeugungsmacht 428 ff. – Rechtsfähigkeit 428 ff. – Systemkonformität 453 f. Subjektivierungsprojekt – grundfreiheitliches ~ (EU) 462 f. Subsidiarität 112 Subsidiaritätsprinzip – soziale Rechte (Begrenzung) 56 Subsidiaritätsregelungen – der Verfassungsgerichte 223 f. Subventionen – Arten u. Ziele 88 f. – verfassungsrechtliche Bedeutung 89 f. Subventionsrecht 87 ff. Supervisor – Distrikt Brcˇko 683 ff. Supranationalität – Europa 142 ff. – – Parlament (Steuerungseinf luss) 144 – – Rechtsetzung 143 f. – – Rechtswirkung 144 ff. – – Zwischenbilanz 2010 142 ff. – unmittelbare Anwendbarkeit 145 f. Systemkriminalität – u. Rückwirkungsverbot 25 f. Tarifrecht 80, 82 f. Täterstrafrecht 613 ff. Tatbegriff – im Strafrecht 27 f. Tatstrafrecht 613 f. Tipke, K. 122 f.

Sachregister Transnationalisierung – des Verwaltungsrechts 497 ff. Türkei – Laizismus 638 – Militärputsch (1960) 646 – Parteiverbote 635 ff. – – HADEP-Verbot 653 f. – – historische Grundlagen 639 ff. – – Machtkampf ( Justiz-Parlament) 653 ff. – – Verfassungsnormen 651 f. – Parteiverbotsklagen 646 ff. – Verfassungsgericht – – Parteiverbote (Rspr.) 653 f. Überprüfung – privatrechtlicher Gerichtsentscheidungen (BVerfG) 37 f. – privatrechtlicher Gesetze (BVerfG) 36 Ungehorsam – ziviler ~ 19, 21 f. Unionsbürger – Freiheit der ~ 457 ff. Unionsbürgerschaft 462 f. Unionsrecht – u. Abweichungsgesetzgebung 330 f. – supranationale Rechtsetzung (EU) 161 ff. Unitarismus 322 ff. Untermaßverbot 56 Unternehmen – u. Freie Berufe (Abgrenzung) 74 – der öffentlichen Hand 75 f. Unternehmensrecht – im Grundgesetz – – Begriff u. Grundlagen 73 f. Unternehmensträger – nach deutschem Recht 74 – nach europäischem Recht 75 Unzulässigkeit – moralistischer Strafvorschriften 4 ff. – paternalistischer Strafvorschriften 6 ff. Verbundtechniken – europäische Verfassungsgerichte 222 ff. – – formelle ~ 222 ff. – – materielle ~ 225 ff. Vereinte Nationen – Korruptionsbekämpfung 344 ff. Verfahren – Parteiverbote (Türkei) 660 f. Verhältnismäßigkeit 112 f. – ~ Prinzip 56 Verfassung – von Bosnien u. Herzegowina 673 ff. – u. Privatrecht (Verhältnis) 42 ff. – u. Recht – – Distrikt Brcˇko 665 ff.

Sachregister Verfassung – System von Prinzipien u. Worten (Konf liktverhältnis) 310 f. Verfassung Europas – grundfreiheitliches Subjektivierungsprojekt 462 f. – v. Markt- zur Unionsbürgerschaft 462 f. – Menschenwürde – – u. „politischer Primärraum“ 473 f. – Rechtsträgergarantie 461 f. Verfassung von Spanien – Stellung der polit. Parteien 573 ff. Verfassungen – der Entitäten – – Bosnien u. Herzegowina 676 f. Verfassungsauslegung – Instrument der Einheits- u. Vielfaltssicherung – – Spielräume- u. Spielraumsinterpretation 233 Verfassungsemphase – bundesrepublikanische ~ 182 f. Verfassungsentwicklung – im Baskenland (2000–2003) 603 ff. Verfassungsgericht – der Türkei – – Parteiverbote 653 f. Verfassungsgerichte – europäische ~ – – EGMR 217 ff. – – EuGH 217 ff. – Interaktion von Mitgliedern 242 f. – Kooperationstechniken 236 ff. – Koordinationstechniken 236 ff. – Verbund der ~ 215 ff. – Vorlagepf lichten und -rechte 236 f. Verfassungsgerichtsbarkeit s. a. Landesverfassungsgerichtsbarkeit – im europäischen Verfassungsgerichtsverbund 215 ff. – in Deutschland 177 ff. – europäische ~ – – Verbundtechniken 222 ff. Verfassungsgerichtsverbund – Begriff 219 f. – europäischer ~ 215 ff. – – u. BVerfG 218 f. – föderaler ~ 215 ff. – – u. BVerfG 218 f. Verfassungsidentität – deutsche ~ 299 f. – Entwicklung (EU) 158 ff. Verfassungslegalität – Merkmale 306 f. Verfassungsnormen – Parteiverbote (Türkei) 651 ff. Verfassungspatriotismus 183 f.

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Verfassungsrecht – im außereuropäischen Raum (Amerika) 697 ff. – Staatszielbestimmungen 305 ff. – Verfassungswerte 305 ff. Verfassungsrechtsdogmatik – grundgesetzliche ~ (Wirkungen) 234 Verfassungsrechtsprechung – Auslegungshilfe – – Rechtsprechungsvergleichung 235 Verfassungsrichter – Hans Brox 529 f. Verfassungstexte – ideologische (axiologische) Prägung 306 f. Verfassungstypologien 180 ff. Verfassungswandel 193 f. Verfassungswerte 305 ff. Vermögensstrafe 16 Verschmelzung – EG u. EU 158 f. Vertrag – Bedeutung 81 – Ordnungsfunktion 82 – von Ländern 68 Vertragsfreiheit – bürgerlich-rechtliche ~ 80 ff. Vertragsrecht 79 ff. Verwaltung – Distrikt Brcˇko 681 f. Verwaltungshandeln – Maßstäbe (EU) 511 f. – Organisation u. Verfahren 513 f. Verwaltungsrecht – europäisches ~ u. internationales ~ – – Bürokratisierung der Entscheidungen 508 f. – – Eigenarten des ~ 500 ff. – – Erscheinungsformen (Vielfalt) 504 ff. – – Paradigmenwechsel 497 ff. – – Rechtsschutz 514 ff. – Konstitutionalisierung 497 ff. – Transnationalisierung 497 ff. Verwaltungsverbund – europäischer ~ 500 f. – – Nachteile (Bürger) 502 f. Verweistechnik 229 ff. Villotti, J. 339 ff. Völkergewohnheitsrecht 433 ff. Völkerrecht – Humanisierung des ~ 455 f. – Korruptionsbekämpfung 343 ff. – Mensch als Subjekt 413 ff. – – Rechtsgrundlage 431 ff. – subjektives Recht 411 ff. – – Theorie u. Dogmatik 421 ff. völkerrechtliche Lage – Bezirk Brcˇko 668 f.

714 Völkerrechtsfähigkeit 436 f. – sachliche Reichweite 423 f. Völkerrechtspersönlichkeit – des Menschen 440 f. – Rechte (materiell, prozessual) 425 ff. Völkerrechtssubjektivität – Menschenrecht 435 – multiple Begriffe 421 ff. Vogel, K. 122 f. Volksbefragung – Gesetz zur ~ (Baskenland) 628 f. Vorlagepf lichten 236 f. Voßkuhle, A. 215 ff. Waldhoff, Chr. 119 ff. Warenverkehrsfreiheit (EU) 484 ff. Weber, M. 32, 513 Weimarer Republik – Grundrechtsauffassung 203 ff. Weltoffenheit – des Grundgesetzes (GG) 111 f. Wettbewerbsbeschränkungen – Gesetz gegen ~ 83 Wettbewerbsrecht 83 f. Wirtschaftslenkung 84 f. Wirtschaftspolitik – im Grundgesetz 71 f.

Sachregister Wirtschaftsrecht – besonderes ~ 91 f. – u. Grundgesetz 59 ff. – u. Sozialstaatsprinzip (Konf likt) 93 Wirtschaftsverfassung – des Grundgesetzes 69 ff. – Europarecht (Einf luss) 67 f. – Nachkriegszeit (Streit) 67 – Sozialstaatsgebot 70 Wolff, K. 547 Wortsinn – als Auslegungsgrenze 22 f. Zacher, H. 488 Zapatero, R. 628, 631 Zentralisierungstendenzen – Argentinien 687 ff. Zentralstaat – u. Sozialstaat 109 Zielbestimmungen – der Europäischen Union (EU) 111 f. ziviler Ungehorsam 19, 21 f. Zusammenleben – multiethnisches ~ (Brcˇko) 665 f.