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German Pages 748 [749] Year 2012
DA S ÖF F EN T LICH E R ECHT DE R GEGEN WA RT
JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 60
HERAUSGEGEBEN VON
PETER HÄBERLE
Mohr Siebeck
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle Universität Bayreuth Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht 95447 Bayreuth
ISBN 978-3-16-151793-8 / eISBN 978-3-16-159063-4 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua belichtet, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis Abhandlungen Diego Valadés: Political Guarantee as a Constitutional Principle . . . . . . . . . . . .
1
Raúl Gustavo Ferreyra: An Approach to the Legal World . . . . . . . . . . . . . . .
21
Winfried Bausback/Franziska Schuirer: Bildung als Verfassungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Dian Schefold: Die Homogenität im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
José M a Porras Ramírez: Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Clemens Richter: Der „Transcivilizational Approach to Human Rights“ – eine Einladung zum interkulturellen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Klaus Schlichtmann: Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried (1864–1921), Pazifist, Publizist und Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Bernd Kunzmann: Im Reagenzglas der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Vgl. NF 42 (1994), 149: Häberle
Bernhard Weck: Politische Texte von Schriftstellern der Auf klärungszeit als Quelle der Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Peter Häberle: Musik und „Recht“ – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Antrittsvorlesungen Hinnerk Wissmann: Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat. Standort, Funktion, Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Kirsten Schmalenbach: Der Rechtsstaat und sein Henker. Gezieltes Töten als Mittel der Terrorbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Heinrich Lang: „Alles, was wir geben mussten“. Die Inanspruchnahme der Leiblichkeit für andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
IV
Inhaltsverzeichnis
Abschiedsvorlesungen Daniel Thürer: Res publica: Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feudalismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Albrecht Weber: Auf der Suche nach dem europäischen Juristen . . . . . . . . . . .
307
Vgl. NF 50 (2002), 123: Häberle
Lectiones Aureae Thomas Oppermann: Wachsende Parteienvielfalt in Deutschland und Europa – gut für die Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
Peter Häberle: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
Vgl. NF 50 (2002): Xie Hui/Heuser; 56 (2008), 655: Heuser
Richterbilder Dieter Grimm: Theodor Ritterspach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Vgl. NF 59 (2011), 521: Rüthers (Hans Brox), m. w. N.
Die Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen Walter Schmitt Glaeser: In Sorge um die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Vgl. NF 59 (2011), 535: Doehring, m. w. N.
Deutsche Staatsrechtslehrer Reinhard Mussgnug: Hans Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Paul Kirchhof: Hans Schneider als Wissenschaftler und Homo politicus . . . . . .
387
Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum Kostas Chryssogonos/Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis: Die fi nanzielle Tragödie Griechenlands aus verfassungsrechtlicher und institutioneller Sicht: Feudalistische Grundstrukturen hinter demokratischer Oberfl äche? . . . . . . . . Vgl. NF 51 (2003), 513: Venizelos
401
Inhaltsverzeichnis
Ulrich Karpen: Draft Law on General Administrative Procedures of the Republic of Croatia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V 431
Textanhang
Alberto Oehling de los Reyes: Sobre la evolución jurídica de la noción de dignidad del hombre en España . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
503
Vgl. NF 56 (2008), 479: Azpitarte; NF 59 (2011), 565: Porras Ramírez
He`ctor López Bofi ll: Das Statut von Katalonien vor dem spanischen Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Vgl. NF 56 (2008), 503: Häberle
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika Andreas Timmermann: Die Verfassung der Republik Venezuela von 1811: Vorbilder und ideengeschichtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545
Vgl. NF 46 (1998), 551: Lösing
Peter Häberle: Argentinien als Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
571
Vgl. NF 59 (2011), 687: Hernández
Peter Häberle: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ – ein wissenschaftliches Projekt für Brasilien (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
585
Vgl. NF 58 (2010), 95: Mendes
II. Afrika Peter Häberle: Der „arabische Frühling“ (2011) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
605
III. Asien Barbara Wagner/Heinrich Scholler: Das koreanische Verfassungsgericht . . .
621
Vgl. NF 51 (2003), 695: Huh, m. w. N.
Naseef Naeem: Vom Abgang des Staatspräsidenten bis zur Verkündung der verfassungsrechtlichen Erklärung für die Übergangszeit . . . . . . . . . . . . . .
643
Vgl. NF 21 (1972), 531: Ansari
Stephan Mörs: Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan . . . . . . Textanhang
661
VI
Inhaltsverzeichnis
IV. Australien Jürgen Bröhmer: Grundlegende Entwicklungen des australischen Bundesverfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
689
Vgl. NF 40 (1991/92), 723: Cullen
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
731
Abhandlungen
Political Guarantee1 as a Constitutional Principle by
Prof. Dr. Diego Valadés2, UNAM Mexico Summary 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Preliminary considerations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The principles of the constitutional State . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Classifi cation of the principles of a constitutional State . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Developing constitutional principles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Discretion and constitutionality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ponderation and secularity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The Constitution and the Principle of Hope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Constitutions of principles and Constitutions of details . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Political guarantyism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Final considerations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Preliminary Considerations Contemporary constitutionalism has put special emphasis on the search for justice. This is understandable for many reasons, which will not be reiterated here. One consequence of this position entails developing theories that center on problems of adjudication. Among the most brilliant contributions of our time to the concept of justice we fi nd the works of John Rawls and Amartya Sen, while Bruce Ackerman, Norberto Bobbio, Luigi Ferrajoli, and Peter Häberle have greatly influenced constitutional theory. In this essay, I took into account some of the solutions these authors have pointed out or suggested, especially in the field of justice and of the constitutional State. The theories these and other specialists have expounded show that without 1 The meaning of the term guarantee in this paper is a safeguard instrument that ensures the effectiveness or enforcement of a right. It is similar to the concept of remedy, understood as a mean by which a right is enforced or the violation of a right is prevented. 2 Member of the Institute for Juridical Research at the Universidad Nacional Autónoma de México (National Autonomous University of Mexico).
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Diego Valadés
functional constitutional institutions, democratic exercise of power fi nds insurmountable obstacles. Despite the level institutions in consolidated constitutional States have reached, it has been observed that these States need to go back to basics. Today, for instance, the electoral systems of the United States and the United Kingdom exhibit significant flaws, and the political control institutions have many unsolved problems in various States, especially those organized according to presidential or presidential-parliamentary models. These problems are accentuated in the operations of the representative institutions. The fiduciary nature of a constitutional pact implies, among other things, parliamentary discussion and approval of government programs. This expansive phenomenon assumes that during the deliberation of State social policies, negotiation, and coordination strategies are applied according to the best options offered for the wellbeing of the largest number without affecting others at the same time. Another relevant aspect in terms of the integration of the collective will in congresses deals with the way constitutional and legislative agreements are built and the effects of the procedures adopted. As to the means of distributing available funds, a social choice theory has been notably advocated by Amartya Sen3 regarding the theory of justice and by Bruce Ackerman4 on aspects of constitutional theory. The remote precedents of social choice also influenced the design of electoral systems to attenuate – as much as possible–deviations that lead to under – and overrepresentation. On the other hand, a widespread current in contemporary constitutional doctrine is inquiring into the mechanisms to adequately guarantee the rights of minorities. In political procedure, the power of veto was conferred to the minority in the early phases of constitutionalism, in particular for the purpose of preserving the constitutional pact. In addition to the instruments of social choice and judicial guarantees, I believe it is necessary to identify the effects these theories have in the scope of operations of representative institutions. I am convinced that the instruments designed for justice can fi nd support or difficulties in congresses, depending on how representative its composition is and how responsibly it operates. Miguel Carbonell has summarized the general guidelines of Ferrajoli’s school of constitutional thought as follows: constitutionalism of cosmopolitan democracy, which involves territorial dimension; constitutionalism of freedom, equality and liberty, which entails social rights, and constitutionalism of private rights for matters dealing with the horizontal effects of basic right (drittwirkung).5 I believe the complementary aspect of this contemporary constitutionalism is the constitutionalism of responsibility, that is, that concerning the obligations of those holding high level government positions and those carrying out political representation activities. The constitutional contract 3 “The Possibility of Social Choice”, Nobel Prize Lecture for Economic Sciences, Stockholm, December 8, 1998; The Idea of Justice, Cambridge, Harvard University Press, 2009, pp. 87 ff. 4 Social Justice in the Liberal State, New Haven, Yale University Press, 1980, pp. 277 ff. 5 “La garantía de los derechos sociales en la teoría de Luigi Ferrajoli”, in Garantismo, ed. by Carbonell, Miguel and Salazar, Pedro, Madrid, Trotta / Instituto de Investigaciones Jurídicas de la UNAM, 2005, pp. 171 ff.
Political Guarantee as a Constitutional Principle
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would be incomplete if rights of electoral freedom did not correspond to the elected officials’ and their appointees’ obligations of political responsibility. In this essay, I present an outline of what I call the political guarantee as a constitutional principle. This guarantee consists of the effectiveness of governments’ political responsibility. Political guarantee is more attainable in representative systems than in direct democracy systems in which a majoritarian criterion without any nuances prevails and is furthermore very exposed to manipulating interference from the elite that control the media. In a Constitutional State the political power most be exercised in a limited, controlled and responsible way. Where that exercise lacks limits, controls or responsibilities, there cannot be a Constitutional State. In a Constitutional State political power is regulated in three ways: rules concerning the struggle to attain political power (electoral system); rules concerning defense against established power (judicial system), and rules concerning the struggle within the political power structure (governmental system). The lack of explicit regulation does not imply the absence of political controls, since in a Constitutional State there are general principles concerned with liberties, rule of law and fairness. Constitutional States apply any of the following models related to political control: they regulate control systems in detail; they adopt only general provisions or they have no specific control measures at all. Even in the fi rst case there is still room for unforeseen circumstances and, therefore, none of the models would be entirely satisfactory. No matter what rules omit, it is not valid to conclude that the exercise of power is not subject to any kind of political control in a Constitutional State. As political guarantee I understand the set of particular rules and general principles applied by the representative bodies aimed at the exercise of political control. The goal of the political guarantee is to determine, without exception, the limits, controls and political responsibilities in the exercise of political power. Nevertheless, cultural conditionings may affect the standard patterns of political controls and promote obstructive actions. To avoid these possibilities it would be convenient to design consulting instances to provide analysis of comparative law and jurisprudence that contribute in solving doubts or softening confrontation between the political branches of power.
2. The Principles of the Constitutional State The aim of this essay is not to analyze the various concepts on the nature of these principles or to repeat the doctrinaire considerations about its legal or extra-legal aspects. Instead, I want to focus on the functions attributed to the principles based on the classification system formulated by Norberto Bobbio.6 Bobbio identifies five functions of the principles: interpretive to determine the scope of the constitutional provisions; integrationist to complement what is not provided for in the law; directive that corresponds to the programmatic statements in the Constitu6
Contributi ad un dizionario giuridico, Turín, G. Giapichelli, 1994, pp. 273 ff.
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Diego Valadés
tion; restrictive through which legislators determine the extension of the constitutional laws and constructive, which corresponds to the task of systemization put into effect by doctrine. It is the legislators’ function to set the specific scope to a constitutional principle and it corresponds to the constitutional jurisdiction to determine its validity. For judges, remitting to general principles of law does not mean it gives a coercive nature to a non-regulatory statement. In the case of a constitutional State, only the law is subject to be applied co-actively. The problem of lawfulness of the principles is an issue that decides the theory of the Constitution: in a constitutional State, neither lawmakers nor judges exercise their functions without being grounded in the supreme law. The constitution-making function is the only one not conditioned by a preexisting order, while decisions concerning to constitutional amendment are limited by a reform procedure. I will not touch upon the issue of whether that reform procedure can in turn be reformed because it is not the object of this study. What I want to stress is that the task of constitution-making does make possible to confer juridical content to a non-normative statement. This is what occurs, for instance, with the principle of sovereignty. If we understand sovereignty as the power to create and apply laws, historically we fi nd four ways of justifying its exercise, depending on whose name it is done: of an individual, of a tradition, of a metaphysical argumentation or of a group. As to its positioning, the seat of sovereignty corresponds to the political regime: deposited in a person, absolutism; in a group or party, totalitarianism or authoritarianism, depending on the case; in an elected assembly, corporatism or parliamentary democracy, depending on the case; or in a community, direct democracy or representative democracy, depending on the case. Only some of these forms of power structure correspond to what is accepted as a constitutional State. From the perspective of constitution-making, the decision to adopt one of those forms of the principle of sovereignty is unrestricted and before becoming constitutional law, it is only a political statement that binds no one. In this sense, it is possible to paraphrase Ulpian’s principle to say: constituens leguibus solutus est. However it is understood that there is a constitutional State only when sovereignty is vested in the people and is exercised in its name. Emilio Betti denied the legal nature of the principles and held that they are “orientations and ideals of legislative policy,” “directive criteria for interpretation and programmatic criteria for the progress of legislation.” 7 Bobbio pointed out that Betti’s mistake consisted of confusing the informative principles of law with strictly juridical principles. Nor should these informative principles be confused with constitution-making principles because the orientations and criteria are based on pre-existing norms, while the constitution-making function is underived.
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Quoted by Bobbio, op. cit., p. 263.
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3. The classification of principles in a constitutional State From among the many criteria that can be adopted to serve as a basis for a classification, in this case I use one that addresses the relationship between principles and constitutional order. Constitutional principles include constitutive principles, which define the content of the supreme law and the constituted principles, which guide the activities of lawmakers, judges and administrators. Constitutional-making principles can also be divided into those of content and those of procedure. The fi rst are based on a type of contractualism, whether it ascribes the foundational pact on changing from a situation of unrestricted freedoms to another of controlled rights, or, to the contrary, considering that in an unorganized stage there were no liberties and these are the purpose of ordering collective life. However the contractual construct is adopted, what is observed in constitution-making is the intention of rationalizing the relationships of power within a collective group by means of the law. As to the constitutional-making procedure, the dominant principle is deliberation. Without this, there is no way in establishing a constitutional State. Thus, the contractual principle, which has many manifestations (sovereignty, freedom, fairness, equality and legal certainty, for instance), and the deliberative principle, which in turn assumes multiple factors (fairness, tolerance and trust, for example) are the substantive and procedural elements that make it possible to exercise the constitutive function of a constitutional State. Once constituted, this State model establishes the basic statements so that legal operators can have common reference points and a shared language that allows them to defi ne their common ground, identify their differences and solve their confl icts. Of these operators, those in power are legislators, judges and administrators, and those afore power are the governed, the justiciable and the administrated, depending on the role each person assumes for each type of situation. According to these criteria, constitution-making making principles have a foundational function while the constituted principles have an organizational function when exercised by lawmakers, an adjudicative function when judges are involved, and a governing function when applied by administrators. A series of principles is developed for each of these functions, some of which may be common to all functions and others specific to each one. From this array of principles, the ones that have been studied most have been those regarding adjudication. However, confusion sometimes arises because the types of principles under study are not differentiated. Making a distinction between these types of principles is important for analytical purposes because they are expressed in different kinds of languages. Constitution-making principles are usually imbued with political language since the deliberation used to create these principles employ less rigid meanings of words. In contrast, stricter language serves to solve specific confl icts and experts use the most precise language for analysis. Lawmakers are found in the middle ground in terms of the vagueness of the language used as they replicate deliberative processes in making laws. It is therefore supposed that laws are drafted with different levels of precision depending on the degree of technical requirements or programmatic designs. It is not the same, for
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example, to regulate ways of generating and using atomic energy or bacterial health standards in water basins, than it is to regulate commercial advertising or political propaganda. The more specific the regulated matters are the most precise the legislative language is, and vice versa. Law making language constitution-making varies depending on whether technical or social processes are being regulated. Empirical studies show that the use of principles is more frequent in the case of the latter.
4. Developing Constitutional Principles Constitutional principles have been the key to guaranteeing basic rights. According to Luigi Ferrajoli’s definition, judicial guarantism allows to identify the instruments that make possible the “maximum efficiency” of these rights.8 Developing this technique of guaranteeing constitutional rights is incumbent on judges. Judges’ arguments are based and grounded on the Constitution. However, judges are not the only members of the State that contribute to guaranteeing constitutional principles. Peter Häberle holds that a constitutional State is backed by an open community of constitutional interpreters and therefore both those citizens and their political representatives can implement political decisions driven by the public’s best interest. These measures contribute to the validation of the laws in force and defi ne the democratic, republican and secular structure of power. Guarantism is a theory that emerged from the field of fundamental rights, but offers keys to extend it into the domain of politics. Individual and collective rights go beyond the relationships with the bodies of power or with other individuals. The rights that derive from public freedoms and from political representation are correlated to the political responsibilities of government officers. A system that only provides for the rights of the governed, but not the responsibilities of those who govern, lacks the legal guarantees that validate the political regime. Several institutions have been created by way of legal-political arguments based on the extensive interpretation of constitutional principles and precepts. This is the garantista activity carried out by congresses and parliaments. The United Kingdom offers some examples that portray how guarantees for the effectiveness of rights of political responsibility have been established to protect public freedoms. In the British parliamentary debate, the concept of constitutional principles fi rst came to light in the 18th century. On discussing the John Wilkes case (1763) in the House of Commons, one of the “the fundamental principles” of the constitution was held to be that of the independence of parliament.9 In a later controversy regarding William Pitt’s ministry (1784), the figure of constitutional principle was used to express a vote of confidence for the cabinet, accepting that the monarch could dispense with this requirement only under extraordinary circumstances and that once surmounted would submit said appointments to Parlia8
Derechos y garantías, Madrid, Trotta, 1999, p. 25. Stephenson, Carl, and Marcham, Frederick George, Sources of English Constitutional History, N. York, Harper and Row, 1937, pp. 679 ff. 9
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ment for their confi rmation.10 This principle consisted of the House of Commons’ ascertaining, in the name of the people, that those responsible of governing possessed the abilities needed to perform their duties. The principle of parliamentary sovereignty was made evident in the debate on the 1909 budget. At this time, it was stated that although the Constitution rests upon certain laws and numerous customs, which can change over time and even become “dormant, moribund, and for all practical purposes dead.”11 This argument was used in this case on the Crown’s right to veto a fi nance bill, a right used for the first time during the reign of Elizabeth I and fallen out of use since. The House of Commons anticipated that in the future, the threat of vetoing the budget would lead to the censure of the minister who advised the crown to veto a bill. As to the principles of adjudication, the case of Wason v. Walter (1868) was significant in terms of its connection to parliamentary activities.12 The issue under debate consisted of an individual who was suing a newspaper for damages caused by publishing a parliamentary debate. This was the fi rst time an issue regarding freedom of expression and access to information was discussed by the lords and gave place to one of the strongest arguments ever in favor of public freedom. The lords held that between the right of people’s privacy and society’s right to information, the latter prevailed. However, the lords stated it was with the proviso that unless the identity of those involved was relevant, the name of the individuals should be omitted in the public information given of the debates. The aim was to thus reconcile the rights of individuals and of the political community. Until then, both houses of Parliament prohibited their debates from being published, but this ruling set a new criterion that was considered in harmony with the new times according to which the houses should limit themselves to demand accuracy in terms of the information published about their debates. In the United States, congressional activity has also created ways of guaranteeing the constitutional principle of political responsibility. The Congress, for instance, did not have the right to investigate the government. Yet, this power was acquired after an investigation carried out in 1792, regarding the defeat of General Arthur St. Clair by the Miami and Shawnee Indians. The congress pointed out that it lacked the power to investigate government actions, but argued that having information was necessary to be able to legislate. Nor does the U. S. Constitution grant the president the power to introduce laws. However, since the administration of Theodore Roosevelt, the interpretation of Article II-3 has been extended. This legal precept compels the president to inform the congress regularly of “the state of the Union.” At the same time, it empowers the president to “recommend to [the Congress’s] consideration such Measures as he shall judge necessary and expedient.” Although presidents do not introduce bills directly, they do exercise obvious legislative leadership. The principle of balance between the branches of power has led to the creation of this kind of procedure. On the other hand, based on the same principle, the power granted to the president to order a congressional recess has never been exercised. 10 11 12
Idem, p. 699. Idem, pp. 841 ff. Idem, p. 798.
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Another noteworthy aspect consists of defending the rights of the minority. In the case of the U. S. system, the political practice guarantees the right of the minority through what is known as filibustering, which is also present in certain parliamentary systems.
5. Discretion and constitutionality In the sphere of jurisdictional activity, there are cases of confl icting laws that under certain circumstances can be resolved by invoking a principle or weighing its prevalence among the various laws. Judges are presented with controversies based on positive law provisions; if not, the case is not admitted. The arguments of both parties can allude to principles, but always with the assumption that it is grounded on the laws in force. Even though rulings can invoke abstract reasons to adjudicate rights, no court admits a case grounded solely on its hypothetically affecting a principle. In contrast, a confl ict between principles may arise in the constitution-making process and the coherent juridical grounds found in the Constitution offer a way to resolve said confl icts. Discrepancies on matters of principles arise, for instance, when a constitutional text contains principles that exclude each other, as in the case of establishing public freedoms and political power without any control at the same time. Because of their flexibility, principles adjust the scope of the rules. Rules establish prohibitions, permissions or obligations, while principles make it possible to adapt the scope of these prohibitions, permissions and obligations to the circumstances. What makes principles so flexible is its particular manner of wording. The issue, therefore, resides in the language used. Very open formulae are used to draft principles, especially in jurisprudence. In law-making, in contrast, it tends to be the opposite. The difference between constitutional principles and rules is formal since both are norms. All principles can be regulated in detail under a deductive procedure, and all rules can be generalized to the highest level of abstraction through an inductive procedure. Only constitution-making principles lie outside the positive order. Ordinary legislators and judges always make reference to constituted principles. Otherwise, the supremacy of the constitution, in the name of which established bodies act, would be made nugatory. These principles always have a juridical nature; if otherness in regard to the body of laws were admitted, it would suggest that the Constitution is not a supreme law. The presence of principles is explained as a way to resolve confl icts between laws. Resolving confl icts between laws bases itself on three traditional criteria: hierarchy, chronology and specialty. For cases of confl icts between principles, the predominant criterion is that of ponderation. Confl icts that are presented for jurisdictional resolution always present claims based on the laws in force. When judges cannot emit a ruling based on the fi rst three criteria, they turn to a principle which prevalence allows the identification of the corresponding rule to settle the lis. If a specific rule does not exist or is inadequate, the principle is applied to each particular case. The early
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key to this procedure of adjudication appears in Paulus’s famous assertion: non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat.13 As Theophrastus noted, applying principles conforms to the impossibility of the law to foresee matters that occur unexpectedly.14 The use of the principles of adjudication confers judges margins of discretion that are only admissible in constitutional States. One constitution-making principle is that of legality, which was established by the Bill of Rights in 1689. Later adopted during the Enlightenment, it featured in the French revolutionary constitutionalism. The Constitution of the United States of America introduced an important distinction to this principle by empowering jurisdictional bodies to rule according to law and equity (Article 3, Section 2). With this, it went beyond that proposed by Montesquieu, who voiced his many reservations about the court system. According to the well-known Chapter 6 of Book XI of The Spirit of the Laws, judges should not legislate because it would lead to an abuse of power. They should not be professionals (in the sense of permanence) to avoid an undesired monopoly. They should, instead, become “invisible” and limit themselves to being “the mouth that pronounces the words of the law.” All this advice corresponded to one basic concern: “judicial power, so terrible to mankind.” With that in mind, Montesquieu also stated that when the power of the people wants to accuse someone, it could not “demean itself ” and consign him before judges, who are their “inferiors,” but take it to the higher instance: before the nobility, who have neither the same passions nor the same interests of the people. The law cannot foresee all the controversies that arise from interaction in complex societies, which is why Montesquieu erred in terms of the limited duties he assigned to judges. Through experiences and successive amendments, the evolution of constitutionalism led to the same conclusion as that of Theophrastus in the ancient world: judicial work is a source of law. For the growing discretionary power of judges to coincide with the structure of the contemporary constitutional State, an essential requirement is necessary: a controlled, and therefore responsible, exercise of power. Mechanisms of control of power pertain to the guarantees of the political rights of citizens. To the degree in which these guarantees do not exist or are not well constructed, some political rights lack validity. The absence of these guarantees also hinders investing the court system with a broad scope of authority to adjudicate law; the lack of guarantees for the political rights have a negative effect that can spread throughout the judicial system. The increasing powers granted to judges are the result of the evolution of constitutionalism, which is in turn the consequence of a constitutional principle: the right to justice. In a constitutional State all confl icts must be resolved according to law. In this case, no exception whatsoever is admissible. To apply this criterion it is also often 13 Digest, 50, XVII, 1. This can be translated as “the riht is not derived from the rule, but the rule is established by the right.” 14 Pomponius, Digest, 1, III, 3. This same concept is included in the work of Alfonso X: Partidas, 70, XXXIII, 36. Another example from the Middle Ages is found in the 1348 Ordinances of Alcalá de Henares, in which the following precedence of laws was established to rule “disputes”: the laws of Alcalá, the Fueros, the Partidas and “the law books made by the ancient scholars.” See García Gallo, Alfonso, Textos jurídicos antiguos, Madrid, Artes Gráficas, 1953, pp. 307–8.
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necessary to weigh between the principle of prior knowledge of the law (legality) and the principle of the right to justice. Since ancient times it was believed that knowledge of the law was an imperative for social life. Hence, epigraphic practices extended to consigning laws in such a way that would be lasting and in public places. Endowing judges with the authority to apply general principles which wording and binding are not always known by the parties to a trial, comes about from the Constitution makers’ decision in the understanding that even more important than the recipients’ knowledge of the law is the certainty that under no circumstance justice shall be denied to anyone, not even arguing obscurity or the non-existence of a specific law that applies to the case. This is an example of a principle that supports the role of adjudication. The discretionary powers require a series of constitutional safeguards that prevent or at least attenuate two risks: the excess in judges’ use of these powers and the temptation of subordinating judges by means of parties’ political wiles. The most widespread measure employed to avoid the first problem consists of imprinting a new dimension on the constitution-making principle of the separation of powers, transforming it into a specialization of controllable functions. Although acceptable theoretical bases for it are still pending, this principle explains emergence of bodies of constitutional relevance. In matters of justice, there is a progressive trend of instituting constitutional courts, in addition to the traditional judicial department. Thus, the balance among the branches of power is protected. In some systems the same body performs the ordinary jurisdictional function and the constitutional control, but experience has shown that this is not the best option. Specialization prevents the concentration of power in a single body and facilitates the development and consolidation of jurisdictional functions. The principles applied by ordinary judges and by constitutional judges tend to have different scopes. For example, the principle of contractual freedom is applied in civil courts while the principle of in dubio pro reo usually pertains to criminal cases. In turn, the garantista15 function of constitutional courts is set apart from other tasks of adjudication in ordinary justice. If one makes the error of confusing all the possible levels of administration of justice, potential excesses in its discretionary nature can compromise the suitability of the jurisdictional function and create regressive constitutional tendencies that would weaken judicial bodies or restrict their powers. The first party to be affected would be the justiciable, but in the end, this phenomenon would denote a relapse of the general conditions of a constitutional State, which provides the State with public liberties and equality. The second problem that arises from deficiencies in the design of the controlling function of constitutionality is interference from party politics in the makeup and neutrality of the courts. This phenomenon deforms the bodies involved in the functions of justice by politicizing its members and even the workings of these institutions. Thus, it is apparent that the principles of adjudication – essential for the concepts of equality and of justice in open, plural and complex societies – are closely related to 15
In a meaning that resembles that of constitutional common law in the United States of America.
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constitutional and legislative principles, and the former are affected when the latter do not attain the highest possible level of coherence.
6. Ponderation and secularity The problem of weighing principles is solved, theoretically, by using one of two types of operations: the prevalence of an ethical value or the prevalence of a logical reason. If what prevailed were considered a moral law or an ideological stance, it would not be a secular State, but a confessional or a fundamentalist one in which ideological, religious or political convictions would be imposed by coercive means. Government officials lead their personal lives according to their ethical standards, but in the performance of their duties, they should not impose their moral perspectives on third parties, presenting them as general principles of law. The Renaissance concept of the reason of State replaced that of the confessional State. The confessional State began to take shape in the Western world in 330 with Constantine’s edict establishing Catholicism as the official religion. Once consolidated, in 380 Theodosius, Graciano and Valentinus stated that all people under their authority were obligated to believe in Catholicism and practice the corresponding rites. Between 381 and 392, a complex system of sanctions was developed for people who disregarded that obligation. In contrast, the reason of State appeared as part of the concept of the modern State based on secularity. The deliberation of principles in a secular State should only be a legal operation and not a moral choice. The secularity of the State abides by a constitution-making principle that determines the operations of the bodies of power. The members of these bodies are free to choose and practice whatever their convictions and beliefs may dictate in terms of their personal decisions. However, officials’ beliefs and convictions should not transcend to institutional decisions to be imposed as a co-active rule on the governed, the justiciable and the administrated. Every subjective right requires a guarantee, that is, a legal procedure that ensures its fulfi llment.16 If we understand secularity as a constitutional principle and therefore a right of the governed and an obligation of the bodies of power, what guarantee procedure ensures its validity? The imposition or prohibition of religious criteria is an extreme that corresponds to a totalitarian State that regulates both its citizens’ behavior and conscience; a State that does not leave room for any dissension. On the other hand, a secular State only regulates behavior without interfering in the beliefs and convictions of its citizens. In general terms, the decision-making mechanisms used in a constitutional democracy can be placed under one of two broad headings: direct and representative. The fi rst, in which the subjects themselves take most of the decisions, consists mainly of referenda and plebiscites; initiatives, public action and recalls are variations of these forms of participation. Representative instruments, in turn, imply two basic types of institutions attendant to election processes and forms of responsibility. Voting is an act exercised freely, 16
See note 1.
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regularly, personally, knowledgeably and autonomously by each citizen and responsibility is the obligation of diligence, coherence, prudence and transparency with which elected officials fulfi ll the duties citizens have entrusted to them. When either of these components regarding voting and responsibility is lacking, representative institutions suffer a significant want of legitimacy of diverse consequences. The secular State is better protected by representative democratic procedures than by direct ones. This is due to several reasons: they are permanent and not circumstantial; they are revisable and not definitive; they are regular and not unforeseen. Thus, representative procedures offer a known, regulated, predictable and constant point of reference, unlike a democratic procedure that is direct, but random, because it does not follow institutional patterns of control and continuity. Direct procedures are sometimes used to demote representative procedures. In a scenario of debilitated permanent procedures and occasional direct procedures, the importance of the guarantee of secularity is diminished. Direct democratic procedures can be compatible with representative ones when established as reserve mechanisms to be used in extreme cases. But these circumstances cannot be specified and therefore the opportunity of calling on voters depends on the political decisions made by congress, the government or both. If it is a parliamentary decision, it is more likely that a vote is only called for when representatives try to evade shouldering the political cost of a controversial measure. In this case, legislators can affect their own prestige if it is believed they are afraid to make a decision. If the government makes the summons, it has at its disposal a weapon that can continuously threaten congress. This in turn alters the relationship of control and reduces the inducement to cooperate. If it is a shared decision, it gives rise to unpredictable outcomes that can affect the balance of the relationship. In this case, the government and the assembly would be vulnerable to political challenges or intimidation because either one could issue a call to citizens without proper grounding simply to make an exhibit of the other party that, based on sensible foresight, would refuse to second an unwarranted citizen consultation. There is sufficient empirical evidence on the vulnerability of direct appeals in dealing with law-making or political decisions. The impact of the media, the manipulation of collective response, the segmentation and even the polarization to which it can lead a community to, do not guarantee the secularity of a State. Power is protean and the guarantees for a secular State cannot be absolute. The efforts made to build up these guarantees must take this limitation into account so that the mechanisms adopted can be subject to ongoing evaluations and reviews.
7. The Constitution and the Principle of Hope After the three political revolutions of the 17th and 18th centuries: the Glorious, the American and the French revolutions, constitutions were designed based on constructs, which in turn gave way to general principles and specific rules. Contemporary constitutionalism was established on the constructs of the people and the social contract. Jurisprudence has given different substance to each of these constructs to then obtain a wide range of legal-political systems and forms of government
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based on the general principle known as sovereignty, with its popular, national, and parliamentary facets. The important social revolutions of the 20th century, which include those of Mexico, Russia, China and the decolonizing revolution that extended throughout Africa and Asia, also contributed to enrich the experience. On the other hand the revolutionary origin of modern constitutionalism, the objectives of which aim at limiting the exercise of political power and extending personal and private rights, gave way to the realization of various expectations. As to the power processes, political societies have acted differently in terms of the present and the future. As to the present, regulating politics is governed by identifying an agonistic principle articulated by three main dimensions: the struggle for power, the struggle against power and the struggle within power. In contrast, in looking toward the future, politics is inspired by what Ernst Bloch calls the principle of hope,17 which is based on collective expectations of freedom, well-being and justice. According to Bloch, anticipating the future is what leads to building utopias. If hope is one of the motors of history, it also strengthens the content of constitutions, which include two main sets of principles: those that make it possible to regulate agonistic processes and those that foresee free, equal, equitable and fair coexistence in the future. For both goals to be reached, society must have a democratic governability that comes from a legitimate, responsible and controlled power. Society needs legal instruments to resolve its confl icts. However, the community also demands referents to have confidence in its progress. These referents must be tied in with the present perception of the situation in the future. The versatility of the Constitution consists of, among other things, the fact that in addition to governing the present, it can defi ne the future. Hence, legal analysis of its content is complemented with the observation of the regularities that define a collective adherence to the law. At this methodological intersection, we fi nd that the tendency for detailed norms, which by definition are restrictive, moves constitutions away from the perception that they are instruments that may open the way for the future. Society acts as constituted as it regulates the issues of its present and it projects itself as constitutive in the degree to which it maintains an open regulatory perspective. This constitution-making process is updated by the reforms carried out by legislators and judges. To the extent to which this work is obstructed by extremely detailed constitutional precepts, the Constitution stops fulfi lling the function of a juridical instrument to move toward the future. Part of the constitution-making activities is guided by the principle of hope. But a distorted perception of the functions and possibilities of the constitution can produce Arcadian fantasies that soon fade away and become a constitutional disillusion. The phenomenon defined by Émile Durkheim in the 19th century as anomie shares some points in common with the concept of ungovernability, used since the second half of the 20th century. Anomie alludes to the institutional crises prior to the disillusion regarding the constitutional State. Thucydides had already employed the term anomie18 to warn of the risk that a legal system might not be enough to safeguard the coexistence in the polis. This is a recurrent concern that implies the constitutional State’s 17 18
The Principle of Hope, Cambridge, MIT Press, 1986, Vol. I, pp. 4 ff. and Vol. II, pp. 471 ff. The History of the Peloponnesian War, II, 53.
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need to ensure that the expectations of its citizens are fulfi lled in the present and does not deter citizens from fostering more for the future. In view of the failures or pitfalls of conventional politics, societies have taken refuge in constitution-making policy. This is a way of looking to the future for solutions to the prevailing problems of the present. Even when the adopted models work, corrections are made occasionally so that they may continue to be effective. However, there are also accounts of ineffectual experiences because there is the risk that the cultural complexities of contemporary societies may incorporate factors that make it difficult to identify and implement the instruments that uphold the principle of hope. When the principle of hope is no longer present in constitution-making activities or in the widespread perception in a society, skepticism can replace hope. Sociologist Arturo González Cosío has observed that when this happens, history is minimized and the future becomes a present in which social relationships are resolved agonistically. The constitutional consequences of a non-regulated struggle are generally accompanied by an individualistic or at least a very concentrated exercise of power. One of the factors to make the principle of hope deposited in constitutional codes feasible consists of the positivity of constitutions. This was a great challenge written constitutions faced, that is, those that did not come about from a generalized conviction identified as a custom. To respond to this challenge, forms of jurisdictional defense of the Constitution have been developed and have resulted in the proven experience of specialized courts. However, the results are not homogenous in every place these courts have been established. The relationship between norm and normality in the terms of Hermann Heller, between law and culture as suggested by Peter Häberle, or between text and context according to Dieter Nohlen, explain the disparities in the results of constitutional courts. A synchronic analysis shows that the institutions themselves can give divergent results in different places and a diachronic analysis shows that these same divergences can even be seen in the same State. One of the causes that affect the functional nature of constitutional courts is that political parties tend to colonize them. In this case, these courts are no longer the bearers of the principle of hope that transpires from the future to the present and the struggle for power comes into play. The fi rst notable expression of the principle of hope in modern constitutional systems was the enunciation and then the guarantee of the fundamental rights. Over time, instruments of guarantee were adopted internationally and today part of the principle of hope has been successfully conveyed to a supranational field. Latin America and Europe have done a good job in that field. Africa is waiting to take the steps to consolidate the jurisdiction of human rights throughout the continent. Nowadays, what we have to define is to move on to the next level. The internationalization of the defense of constitutions can go forward. Today, confl icts focusing on fundamental rights are international jurisdiction matters but disparities among branches of power are still considered in the national domain. The hypothetical neutrality of constitutional courts is not a reality within the reach of all constitutional States and the lack of this guarantee may thwart the principle of hope and in turn, the constitutional sentiment, resulting in the abovementioned disillusion.
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8. Constitutions of principles and Constitutions of details Contemporary constitutional models are imbued with rhetoric and attention to detail. It is common to fi nd precepts drawn up to the tenor of a political proclamation while others abound in minutiae typical of ordinary laws or even minor regulations. In this panorama, it is possible to predict that the length of constitutions suffering these types of problems will reach the point of becoming dysfunctional because the need for them to adapt by progressively evolution will transform them into disjointed and cumbersome codes that will force to create a new type of text. This process is etched in a cultural environment that conditions the attitudes of the political agents and the recipients of the law; but the context does not abide by any kind of genetic programming nor is it immutable. If a theoretical effort were made to identify principles with the highest possible level of generalization for the purpose of turning ordinary lawmakers and constitutional judges into those responsible for updating the constitution, most precepts in contemporary constitutions could be contained under the following headings: 1. Sovereignty (public, national, parliamentary) is imprescriptible. 2. People are free, dignified and equal. 3. People have the right to well-being and to justice. 4. Social relationships are ruled by equality and fairness. 5. Sanctions are based on the law and cannot be disproportionate, retroactive, transcendental or arbitrary. 6. Wealth is an object of distribution. 7. Political power is democratic, republican and representative. 8. The exercise of power is responsible, limited, decentralized and temporary. 9. In extraordinary cases, the exercise of certain rights can be restricted for a short period of time. 10. Legislators are governed by standards of competence and of procedure, and judges rule on matters in dispute objectively and promptly without contending that the laws are obscure, ambiguous or inadequate. Clearly a Constitution cannot be drawn up with such verbal concision or conceptual extent because it would give legislators and judges too much latitude of discretionary power. But if the aim were a constitution of principles, the standard would not be far from such general statements as those referred to in these ten points. In its original versions, constitutionalism opted for general statements, thus setting down the bases for other norms to be developed in further detail. The original constitution-making technique followed a relatively simple pattern: after being defined by the assembly majority, the components of the supreme law were arranged according to the distinct standards of the systems of government and of powers’ distribution of their choice. Other components ensued in matters of fundamental rights, their guarantees and jurisdictional organization. In the 20th century, another form, which in conventional terms can be identified as “authored drafted constitutions” emerged. In other words, these texts were the result of a project entrusted to a person or a group of experts. For instance, the Weimar Constitution project fell on Hugo Preuss and the 1920 Austrian Constitution was left mainly in the hands of Hans Kelsen. An analogous method was that of constitu-
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tional commissions in the case of the 1948 Italian Constitution, authored by a commission presided by Meuccio Ruini and an influential drafting committee that included the eminent legal scholars Piero Calamandrei and Constantino Mortati; and the 1958 French Constitution, which was entrusted to a select group headed by Michel Debré. One feature of these kind of constitutions is the consistency of their contents. Democratic complexity has imposed a growing need for negotiation to define constitutional texts and the central figures of these deliberations have been prone to demand an amount of detail that goes beyond the traditional conciseness of constitutional provisions. In recent years, drafting constitutions has followed a controversial procedure that consists of introducing particularities of a quasi-regulatory nature, especially in countries that are undergoing the transition from authoritarianism to democracy. This pattern of long-windedness distorts the purpose of constitutions, which cease to be very general laws and capable of adapting to changing circumstances and become very specific laws that act as obstacles to cultural and political changes. The so-called programmatic standards that characterized post-world war constitutionalism had a very valuable adaptive role, which furthered social welfare and constitutional justice. However, they have given way to laws that prove to be inhibitory to legislators and restrictive for judges due to the meticulous detail of their content. The differentiation proposed by James Bryce referred to flexible and rigid constitutions depending on the degree of difficulty to reform them, has given way to a new kind of flexibility and rigidity, but now regarding the regulatory thoroughness to which numerous constitutions incline. The more detailed the constitution, the more necessary and frequent reforms are made. A constitutional text is as much unstable as it is more meticulous. This phenomenon tends to become generalized in systems marked by difficult relationships among political agents and is less frequent in systems that enjoy consolidated democracies. To a large extent, this type of constitution-making denotes a contradiction because it hinders the intended purpose: building governable democratic systems. When the goal consists of preventing agreements between political parties from being modified due to changes in the composition of congress in each legislature, instead of having compromises set out in ordinary legislative precepts a decision is made to include them in the Constitution. Thus, circumstantial understandings become long-term impositions and their amendment is only possible by means of another constitutional reform. Consequently, a new form of constitutional rigidity emerges, one that is associated in this case with the details set forth in the law to assuage distrust between political parties. To avoid interpretations that go against the interests of political leaders, criteria similar to that guiding the high level of precision in criminal law are included in the Constitution. It is no accident that with this position, constitutional statutes provide for jurisdictional bodies to punish a number of political behaviors. Every representative system bases itself on the existence of political parties and it is common for the composition and stability of governments to retain a connection to the way in which these political organizations reach understandings. However, in-
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corporating every government agreement in the Constitution impairs the purpose of the supreme law while it stands in the way of politics. The paradox in this case lies in that to respond to political demands, the Constitution needs to change, but to preserve the legal effect of the Constitution, politics needs to become more rigid. In fragile constitutional States, it is common for political powers to consider their commitments binding and immutable only if they are transferred to the constitutional norm. This means that the Constitution must be reformed frequently because every small change in the political agreements has an impact on the wording of previous consensus. A casuist constitutional law hinders the possibility of political agents adapting their acts according to what is required by the circumstances. This transposition of functions of politics and law does not benefit one or the other because it places the regulatory stability of the Constitution against the fluid nature of politics. No defi nition of Constitution includes the role it has assumed in States in which democracy has yet to be consolidated. The standard purpose of the Constitution deals with its generality and timelessness, but in precarious democracies political parties’ interest to safeguard their reciprocal understandings threaten to place the Constitution in a secondary position. What model should a Constitution invoke? Trust in institutions encourages the adoption of general provisions. In places where the opposite is true, the prevailing strategy is restrictive, which translates into detailed texts. This tendency creates negative interactions between the various constitutional institutions because it impedes an opportune solution of the political tensions that constantly arise in complex societies. A Constitution drafted according to a regulatory model can lose touch with reality and is therefore exposed to constant infringements. Otherwise, it has to be subjected to continuous adjustments imposed by arising demands. In both cases, it affects the normative nature of the Constitution. In the first case, its artificial rigidity leads to behavior that goes against the Constitution while in the second case its quasi-regulatory content makes it the object of modifications that are so frequent that it no longer is a cultural referent. This type of constitutions of regulatory content imposes aggregative dynamics that lead to contradictions between institutions and even between principles.
9. Political guarantyism Guarantyism (garantismo) has started a school of thought in constitutional justice, expanding the scope of the rights of the justiciable. The work of the interpreter of the law, “whether judge or legal scholar”, consists of, among other things, overcoming the gaps and antimonies of the legal system by using the existing guarantees “or by introducing those developed by theory.”19 This doctrine has turned out to be very productive in terms of subjective rights that lacked effective instruments for their enforcement.
19 Ferrajoli, Luigi, El garantismo y la filosofía del derecho, Bogota, Universidad Externado de Colombia, 2000, p. 64 ff.
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It is fitting then to consider whether the same manner of guarantee is open for adoption in the political arena to expand the rights of the governed. If in the jurisdictional domain it has had a positive response in making the rights of people and groups viable, is it possible that more could be done in the area of politics? This would naturally be in a constitutional State, the only political organization based on a system of public freedoms and of political responsibilities, the same sphere in which garantista judges and legal scholars discharge their duties. Their work in this field could not be carried out in an authoritarian environment, which by definition allows very little room, if any, for fundamental rights. In a constitutional State, there are a free electoral system and a responsible representative system. Hence, the constitutional interpretation made by the representatives establishes additional guarantees for the political rights of the governed. It is commonly believed that representatives have law-making powers within their reach and that therefore it is by exercising this activity that the scope of the constitutional provisions can be interpreted. This is one option, but not the only one. Just as contemporary judges have a much more comprehensive task that that considered by theory and archetypal constitutional statutes, the same happens with so-called legislators. Legislating is still one of the duties of legislators, but in contemporary constitutionalism the exercise of political control is as important as law-making activities. Strict legislative tasks tend to become very technical. The main objectives of laws adhere to political defi nitions, but the work of drafting laws is usually entrusted to experts who do not use to take on the additional role of elected legislators. In contrast, the non-transferrable political work of contemporary representatives is that of controlling the exercise of power. Even in constitutional States increased political power places in the hands of the incumbents of the bodies in power, instruments that would allow them to go beyond the reasonable performance of their duties. Just as the law cannot foresee all possible problems, political controls cannot predict the myriad of behaviors to thwart the limitations the Constitution imposes on those in power. What is more: it is not even desirable to establish very casuistic constitutional systems because, as noted above, these systems limit judges’ interpretive activity and diminish the institutional adaptive options. In many systems, political controls are so regulated that in practice they are irrelevant. This denotes limitations for political representatives and implies a real lack of protection for the governed because it encourages the impunity of those in power and creates a negative perception of the Constitution in citizens who now question its effectiveness. There is no institutional solution without some adverse effects. A distorted judicial guarantyism could lead to excessive activism and judges can be placed in the temptation of politicizing the court system. In contrast, numerous cases of political parties’ infi ltrating judicial bodies have been observed in Europe and in Latin America as a reaction against judges’ growing influence on political issues. Another adverse effect is that lawmakers tend to inundate the Constitution with minute technicalities to further limit judges’ argumentative freedom. This affects judges and put the justiciable at a disadvantage. In terms of controls, the negative effects of the principle of political guarantyism would go hand in hand with the way in which it is put in practice. If the controls are
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applied in a way that they hamper government activity, the governed will see their right to good government diminished. Institutional design is not enough to ensure good results; the interactions between all the institutions should also be taken into account. An in vitro analysis of each institution offers many insights on the best and the worst of its design, but day-to-day operations are subject to many types of relationships between all the institutions. Various arguments that advocate the principle of guarantyism in jurisdictional activities can be applied to political control activities. If it is common for gaps and confl icts of authority to take place in the rules that govern social relationships, this will also be frequent in the rules that apply to processes of political control. There is, however, an important difference between both phenomena: in the fi rst case, discrepancies are settled by a judge while in the second case the contenders themselves must set the rules to solve their differences. This political contention is exposed to random arrangements based not on reasoning but on the imposition of criteria that may depend on the number of representatives, the dynamism of their spokespeople or an assemblage of mutual impositions and concessions. A process of this kind could detract from the rationality needed by the political forces. To overcome this pitfall, it should be taken into account that the agreements between those in power for the purpose of overcoming gaps and antinomies in the statutes regulating their conduct and their relationships go from the political arena to the judicial one in the same degree in which reciprocal rights and obligations are stated. If we accept the fact that only constitution makers can act without juridical referents and that in matters of adjudication judges are always guided by rational justification, it is considered necessary for the solution of political differences also to have available instruments that foster rationality. Resolving confl icts by self-decision is a precarious formula because it is subject to unpredictable changes. Therefore, those in power need bodies suited to surmounting the gaps and antimonies that are found in the rules governing their interaction. Constitutional jurisdiction and electoral jurisdiction have already solved certain facets of this relationship, but in many constitutional States there are still political control issues that do not always have the procedures that allow them to find legal solutions. The general mechanics of political controls are found in contemporary constitutions, but the manifold nuances that arise from political activity cannot be reduced to strict formulae unless, as mentioned above, we commit the error of drafting exhaustive constitutional texts. If it is decided that a more generalized constitutional law is desired to enforce the principle that power controls power, it is highly advisable that in addition to the existing judicial bodies, new forms of State councils be considered. Consultative bodies are required so that those in power learn of the theoretically formulated solutions that can be employed when controversies on the use of political control originate from gaps or antinomies in the corresponding laws. This type of bodies, which in some systems have shown good results in terms of prior control of constitutionality, can be vested with the authority to resolve controversies or clarify doubts on constitutional principles related to political control issues.
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This means a possible guarantee to citizens in terms of their right to good government, which is another constitutional principle. Precarious political controls obstruct the constitutional State. Political guarantee principle consists of giving all citizens the reassurance that the heads of the bodies of power will comply with the rules of legitimacy, competency and effectiveness; if not, aside from the instruments of judicial punishment when unlawful acts occur, political remedies will be expedited.
10. Final considerations A constitutional State is characterized by a set of guarantees. The rational exercise of power corresponds to a series of instruments that arise from controlling power. The fundamental rights preceded its guarantees, but in turn, those rights were only formulated when instruments to control power were already at hand. Without a power subject to controls, it would have been impossible to gain access to building up those fundamental rights, and without guaranteeing those rights, the concentration of power would have led to a relapse into absolutism. Modern constitutionalism has provided an intermediate solution between the concentration of and atomization of power. As mixed systems in which Polybius found the ideal solutions for a Constitution, the representative system is a combination of elements that translate into the rationalized expression of an interim elitism formed of replaceable protagonists. Within what could be called political verism, it should be recognized that representative systems are a way of legitimizing a reasonable concentration of power. Without balances that make the rights of the majority compatible with those of the minority, and without controls that conserve the rationale of the representative model, there would be a leaning toward pathological derivations like those which Michelangelo Bovero calls cacocracy [the government of the worst], or a distribution of the shares of power that transforms political parties to a corporate model. Contemporary interpretations of contractualism point toward protecting the minorities rights. Even the majorities oscillate accordingly to the type of interests people identify with. The system par excellence that allows a suitable fit between the majority and the minorities is the representative system, as long as controls are used to guarantee the rationality of power to in turn provide a platform that supports fundamental rights and their respective guarantees. Interaction between political and judicial guarantees is what preserves the constitutional State despite the complexities of power. The monism that is evolving in the direction of the precedence or prevalence of a single type of guarantees can affect balanced institutional design. For analytical purposes, it is advisable to examine each institution separately, but in the functional order all institutions interact with each other, strengthening, neutralizing or even thwarting their individual effects. Hence, there is a need for the principle of a constitutionalism of responsibility that strengthens and consolidates the other expressions of contemporary constitutionalism.
An Approach to the Legal World1 Constitution and Fundamental Rights by
Prof. Dr. Raúl Gustavo Ferreyra, Universität Buenos Aires I. Starting Point Law is a creation of men. Law rules or norms always regulate or determine, directly or indirectly, the conduct of men. Hence, Positive Law, a result of human discretion, is a variable entity or thing which may be subject to changes.2 Knowing any legal system from an objective standpoint means to elaborate arguments in the form of propositions. Legal knowledge must demarcate and distinguish the entities it includes and those it excludes;3 how Law is defi ned determines decisively what is to be comprised by its scientific study. The function of knowledge of the legal system always allows for three types of observations or faces the same number of problems.4 To wit: First, the consistency or inconsistency of the legal system’s rules with superior values on which a given ideal of justice is patterned. In these cases, concerns relate to the 1 This contribution is, to some extent, a summary of my studies of Law, which began in 1978, and its practice, which began in 1983. In the area of theory, I have been really lucky to enjoy the possibility of having critical dialogues with Germán José Bidart Campos and Eugenio Raúl Zaffaroni, true leading authorities in their fields. Outside the School of Law of the University of Buenos Aires, where I received my legal education, the conversations I held with Peter Häberle, another authority in his field, have also had an important influence. I feel grateful to all of them. In the field of the practice of the Law, I also had the luck to talk daily with attorney Ricardo Arturo Kelly, a real exponent of the philosophy of language with British roots; as a sign of our friendship, I dedicate this work to him, at the moment I am fi fty years old! Finally, this contribution is my inaugural lesson as tenured professor of Constitutional Law in the School of Law of the University of Buenos Aires, since August 2010. 2 Kelsen, Hans, “La doctrina del Derecho natural y el positivismo jurídico”, translated by Eugenio Bulygin, in Academia. Revista sobre enseñanza del Derecho, year 6, volume 12, Departamento de Publicaciones de la Facultad de Derecho de la Universidad de Buenos Aires, Buenos Aires, 2008, 184. 3 Zaffaroni, Eugenio Raúl et al., Derecho Penal, Ediar, Buenos Aires, 2000, 3. 4 Bobbio, Norberto, Teoría General del Derecho, Temis, Bogotá, 1997, 20 & ff.
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axiological foundation of the legal system, given that stating that a legal system is fair or unfair amounts to raising the problem of correspondence between what reality is and what a particular ideal suggests. Second, the structure of the rules on which the system is based. Here, the problem relates to the existence and the very shaping of legal rules. The ontological problems of Law are examined from this approach. Third, the analysis of the problems deriving from whether or not the rules making up such legal systems are actually observed by the target persons or organs and, if such rules are infringed, how those legal systems are enforced (by means of coercion) by the authority who imposed them. In this case, the gamut of problems is related to the effectiveness of the legal rules forming a normative system. This aspect leads to the analysis of the sociological problems of Law. The ontological or structural approach prevails in this contribution and determines conceptually the object of study. Stating that Law shapes social control and the social architecture in determining the conduct of citizens and authorities entails admitting its normativity as an important feature. Law is a complex system, made up mainly5 of rules on the planning, organisation, and application of force, which is expressed through the discourse created by the branches of power of the State.6 In this context, we may verify the assertion that this shaping of the exercise of power, which is rationally planned and made by Law, may be characterised as the “reason of force.” “Reason of force”? 7 Yes, reason of force, which simply means that Law shows or tries to show how its rules organise and frame the plan for the execution of power as decided by the State. Nothing else. Would you say that this may give rise to injustices? No doubt. That by means of this reasoning one may argue that Law would only be the expression of the strongest 5 Bulygin, Eugenio, “Sobre el problema de la objetividad del Derecho”, in Several authors, Las razones de la producción del Derecho. Argumentación constitucional, argumentación parlamentaria y argumentación en la selección de jueces, coordinated by Nancy Cardinaux, Laura Clérico, and Aníbal D’Auria, Departamento de Publicaciones de la Facultad de Derecho, UBA, 2006, Buenos Aires, 40. 6 Regarding language and Law, that is, the form or forms that the expression of the Law may paradigmatically assume, see, for example, (i) Alchourrón, Carlos E. and Bulygin, Eugenio: It does not seem to be debatable that norms may be expressed through language, i.e., through statements (Introducción a la metodología de las ciencias jurídicas y sociales, Astrea, Buenos Aires, 1992, 99); (ii) Carrió, Genaro: Legal norms are made up of words having the characteristics of natural languages. This is not a merely accidental circumstance. But it is not a serious defect or a failure that may be corrected with the technique of social control called “Law.” Therefore, it may be asserted that legal norms not only use natural language, but, in a way, they must do it (Notas sobre derecho y lenguaje, Abeledo-Perrot, Buenos Aires, 1994, 47). 7 The term “razón” (reason), according to the lexicographical defi nitions offered by the Dictionary of the Royal Spanish Academy (DRAE, for its Spanish acronym), has more than fi fteen meanings. In this essay, the term is used in a “weak” sense, as follows: (a) information – by means of language – about the organization of force; or, more precisely, (b) use, for example, of some of its meanings in a specific manner: ‘words or phrases with which discourse is expressed’ (the third one) or ‘order and method in something’ (the sixth one); and, one more sense added by myself: (c) the power of the State. The meaning of the expression “reason of force” describes, in this context, that Law expresses the discourse of power and/or that Law organises the use of state coercion. Force? Intervention or threat of intervention aimed at creating and/or maintaining a legal system, with the orientation desired by the people exercising power.
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and not that of the fairest? No doubt either. There is also no doubt that this creates community alarm, and not without reason. The theoretical thrust of this essay (see, especially, section IX below) consists in an analysis of the complexity of Law which, without fully coinciding with any of the versions provided by legal positivism, draws on a preferential interpretation of the fundamental rights with constitutional rank. How does this work? It is propounded that the fundamental rights included in constitutions may be used as effective lines of action for the use of state force, shaping or strengthening, depending on the situation, the pathways along which each citizen may freely choose and decide, individually, in group, and/or collectively, and with equal opportunity, to develop their life plan. Without any conclusions being advanced at this point, the course of thought may be described by the following two propositions: Law is the reason of force, and “reason” means both (a) description (and legality) of coercion, and (b) its rational argumentation.8 In both cases, the objective knowledge of Law9 is the aim sought, that is, the defi nition of its identity and the basics of its scope.
II. Definition of Law If such a prestigious humanist as Norberto Bobbio has held that to cultivate a field as immense as Law one needs a powerful tractor and that the only tool he had was a pair of pruning shears, my ambitions cannot but be more modest, and I do not believe that the results of this endeavour may serve as food for thought for those devoted to the study of the problems of the general theory of Law.10 However, considering Law as an artifice, in accordance with the meaning attached to it by Jean-Jacques Rousseau,11 is a key proposition. Law is a cultural creation,12 i.e., a result of the activity of men. However, in the course of history, human beings many times have proved that irrationality, in producing and applying Law, shows that men can build a culture and also destroy it.
8 On the functions of argumentation and description, see, for example: Popper, Karl, “Conocimiento: subjetivo contra objetivo”, in Escritos selectos, compiled by David Miller, Fondo de Cultura Económica, Mexico, 1995, 61–82. 9 Barbarosch, Eduardo, “La objetividad en la moral y en el Derecho”, in Ideas y Derecho, Anuario de la Asociación Argentina de Filosofía del Derecho, year 5, volume 5, Rubinzal Culzoni, Buenos Aires, 2005, 85–102. 10 Bobbio, Norberto, Contribución a la teoría del Derecho, translated by Alfonso Ruiz Manero, Torres Editor, Valencia, 1980, 12. 11 Rousseau asserts: “Since no man has a natural authority over his fellow, and force creates no right, we must conclude that conventions form the basis of all legitimate authority among men. [. . .] [T]he fundamental compact substitutes, for such physical inequality as nature may have set up between men, an equality that is moral and legitimate, and that men, who may be unequal in strength or intelligence, become every one equal by convention and legal right” (El contrato social, Altaya, Barcelona, 1993, 8 and 23). 12 Maier, Julio, Derecho Procesal Penal, Fundamentos, volume I, “El orden jurídico”, Editores del Puerto, Buenos Aires, 2004, 6. Also see: Häberle, Peter, “La constitución como cultura”, in Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional, translated by Francisco Fernández Segado, volume 6, Madrid, 2002, 177–198.
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The defi nition of Law has caused, causes, and will certainly continue to cause discomfort, controversy, confusion, difficulties, and perplexities. And the list of effects may go on. Asking oneself what Law is places one in an extremely vague and ambiguous situation. If we only focus on the production of legal knowledge during the twentieth century, the answers will be dissimilar and contradictory. For example, Herbert Hart held in 1961 that there is not a vast literature to answer the questions “What is medicine?” or “What is chemistry?,” as opposed to literature providing an answer to “What is Law?,” which is abundant.13 The words forming the basis of the language have a wide variety of meanings. The term “Law” is highly polysemous. If one gives up in advance in the search of defi nitions aimed at explaining its essential and natural properties, it is found that “Law” has several meanings in use, both in the language of legal scholars and in the language of legal sources. In the language used by legal scholars, at least two orientations may primarily be distinguished, which are closely related. In its fi rst meaning, from an objective standpoint, “Law” is used to designate a legal system or order, or a body of legal norms in force at a given point in time and space, or a combination14 of primary and secondary norms and other non-normative statements. A second meaning of the term refers to Law not as a system or order, but as the name given to the scientific discipline or body of knowledge or ideology the object of which is the identification and/or systematisation and/or assessment – through the use of tools from logical and/or empiric and/or assessment fields – of the complex reality created through “objective Law.” This means that both the study of the object as well as the object of study receive the same name. For all meanings the same linguistic sign is used: “Law.” In Spanish, the word for the above meanings is “Derecho,” which is also used to mean “right,” i.e., a power, claim or privilege held by a person or a group of persons. Although this polysemy is not an insurmountable obstacle, it certainly does not favour legal research and reflections. Among all the meanings of “Law,” the one especially taken into account in this essay is that of Law as a legal system. It should be pointed out that this delimitation does not guarantee in itself a successful result. It just helps to spread the pieces on the board and then plan a further strategy. That is all. Because delineating the boundaries of the fi rst meaning of “Law,” even if understood in an imprecise, simplified, and light manner as a combination of norms, entails serious problems. It is accurately pointed out that legal systems designate a body of legal norms the components of which are usually traceable to a common rationale for their validity – typically, a constitution. Admitting that Law is a system can be understood in at least two senses: (a) assuming that Law is a system implies admitting that Law com13 Hart, Herbert, El concepto de Derecho, translated by Genaro Carrió, Abeledo Perrot, Buenos Aires, 1992, 1. The author posed those questions in reference to the time of publication of the English version of the book cited. 14 Julio Maier describes Law as the combination of rules including specific duty norms, facultative norms, and permissive rules. See Maier Julio B. J., “I. El orden jurídico”, in Derecho procesal penal. Fundamentos, volume I.A, Hammurabi, Buenos Aires, 1989, 94–95.
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mands and establishes a certain order; (b) on the other hand, assuming that Law is a system means that Law is something organised, consistent, and maybe tendentiously complete.15 In the following considerations, Law is featured – most of the times, implicitly – as a system that tries to establish a certain order or whose rules govern the use of coercion. Stating that Law is a system also entails admitting that such system is mainly made up of norms or rules developed in a variety of ways and which may be observed from both a static and a dynamic standpoint, but are always produced by men.16
III. Law, a Body of Rules Relating to Force, Which is Expressed Through Primary and Secondary Rules It cannot be proved – because reality shows the contrary – that the main feature of Law is that its rules are guaranteed or protected by force. Everything indicates that it is safer to assert that Law primarily comprises rules relating to force. Rules that set standards for the use of force. Viewed as a system, Law is a body of rules about the organisation and use of force, whose expression is materialised by the discourse generated by the State. The term “Law,” used to mean the organisation and application of state force, is synonymous with statements making up a normative system. These provisions or statements have one particular feature in common: they are rules conceived with the idea of governing state force. However, it should not be forgotten that Law is not a neutral instrument, given that its body of rules and its application are always based on philosophical and ideological premises. That is why Law is said to be an instrument for social control. It must be added that the rules of conduct which form the basis of Law are also a tool rationally used by men to regulate coexistence. Law is comprised of the whole positive legal discourse in force in a given State. It is built gradually, step by step, with the prescriptive language produced by the State’s branches of power.17 Broadly speaking, the State’s branches of powers with competence to create this prescriptive discourse are the following: (a) constituent powers (whether original or derivative), and (b) constitutional branches of power. The original constituent power is the power creating the fi rst Constitution or the law with the highest rank in a State, i.e., a prescriptive legal norm which shapes the architecture and control of the func15
Guastini, Riccardo, Distinguiendo, Gedisa, Barcelona, 1999, 352. Mario Bunge explains that the simplest analysis of the concept of system includes the concepts of composition, environment, structure, and mechanism. The composition of a system is the collection of its parts; the environment of the system is the collection of things acting over its components, or the other way around; the structure of a system is the collection of the relationships, especially links among its components, as well as among these and the components of the environment; lastly, the mechanism of a system is made up of the internal procedures which enable its operation, i.e., to change in some aspects while conserving others. (See Bunge, Mario, Emergencia y convergencia, Gedisa, Barcelona, 2004, 25–60, and Filosofía y Sociedad, Siglo XXI editores, Mexico, D. F., 2008, 9–48.) 17 Bobbio states, in his famous essay “Ciencia del Derecho y Análisis del Lenguaje,” that jurisprudence is the scientific analysis of the lawmaker’s discourse or the language of laws. Such essay is included in Contribución a la Teoría del Derecho, Torres Editor, Valencia, 1980, 186 & ff. 16
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tions of the State’s branches of power and embodies the fundamental rights of persons or groups. It is the prescriptive language par excellence, because all the legal system’s provisions ranking below the Constitution trace their validity to such Supreme Law and, therefore, may be considered, roughly, as derivations or appendices of the constitutional prescriptive discourse. Law, hence, may be seen and understood as a social fact, whose discourse frames the social architecture while giving content to the rules required by the organisation and use of the state force which decides to implement it. Based on the analysis of this complex phenomenon of legal systems, it can be asserted that their more outstanding properties are norms and prescriptive practices. Mainly for didactic purposes,18 the legal system can be said to comprise, at least, two types of norms, depending on their function and their targets:19 (a) primary norms, which establish rights, obligations, or prohibitions for people, and (b) secondary norms, which grant powers to government officials, establish sanctions, or regulate changes within the system. There also are “provisions which are not normative, but have an impact on the normative effects of other provisions”;20 an example is the preamble to the Argentina’s Federal Constitution: “[. . .] in order to form a national union, guarantee justice, secure domestic peace, provide for the common defence, promote the general welfare and secure the blessings of liberty to ourselves [. . .]”. Six basic rules for community order. In his work On Law and Justice, published in 1958, Alf Ross held, when wondering how to distinguish the content of a national legal order from other individual bodies of norms, such as chess or courtesy rules, that a legal order is a body comprising rules determining the conditions under which physical force must be applied against an individual; the national legal order establishes a structure of public authorities (courts and government bodies) whose function is to organise and apply force in specific situations. More briefly: a national legal order is the body of rules for the creation and operation of the State’s structure of force.21 Within this legal order, Ross accepted that norms could be divided or classified into two groups, depending on their immediate content: conduct norms (within the field named “primary norms” in this
18 The use of primary and secondary norms in the field of legal knowledge reveals significant differences among the various sources. Moreover, the demarcation criterion between primary norms and secondary norms may be a result of an axiological consideration, a chronological issue, or a functional aspect. In this essay, the functional aspect is chosen, but it must be noted that, in fact, it cannot be disregarded that norms “granting status” to fundamental rights are also aimed at government officials, because they are also citizens and, as public servants, they should observe those norms. In turn, the rules called secondary here also affect the activity of citizens, given that in a constitutional State the boundaries of power are regulated. In the theory of Hans Kelsen, the true legal norms would be the norms called secondary here, but, strictly speaking, they should be called primary because they would be the only important norms of the system. This being said, the distinction is kept for the purposes and the orientation mentioned in the body of this essay. 19 Bobbio, Norberto, Contribución a la Teoría . . ., op. cit., 317. 20 Alchourrón, Carlos E. and Bulygin, Eugenio, Introducción a la metodología de las ciencias jurídicas y sociales, 3rd reprint, Astrea, Buenos Aires, 1998, 106–108. 21 Ross, Alf, Sobre el Derecho y la Justicia, translated by Genaro Carrió, Eudeba, Buenos Aires, 1994, 34.
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essay) and competence norms (power, authority). The former prescribe a line of action, while the latter create a competence or an authority.22 Ross criticised the point of view that Law was made up of rules backed by force. Moreover, he specified that the relationship between legal norms and force lies in the fact that legal norms refer to the application of force, and not in the fact that such norms are backed by the use of force. He thereby rejected that competence norms – which would be comprised by what is called “secondary norms” in this essay – were the only norms making up the legal order. Moreover, Ross asserted that Law has two distinctive features: (a) it is made up of rules concerning the use of force, and (b) it is made up of conduct and competence norms.23 Consequently, primary norms and secondary norms are, in this context, combined by a relationship of a functional nature. From this approach, it is the system considered comprehensively that has a prescriptive nature and lawfulness is a property of the normative system considered fully and jointly, and not of the norm considered in isolation. There are no further difficulties in recognising that coercion is a property of the legal system, and not of the norm in itself. However, Hans Kelsen – the most prominent and influential legal scholar of the twentieth century – pointed out, in his work Main Problems in the Theory of Public Law, Developed from the Doctrine of the Legal Norm, published in 1911, that the essence of the legal norm with respect to the subjects of Law is that it obliges them; the different legal duties of the subjects of the organs of the State, or the State itself, are a creation of the legal order, which is nothing but the addition of Law norms.24 Due to their imperativeness, that is, their eminently punitive nature, only the norms called “secondary norms” in this essay would really be part of the legal system. Years later, in 1960, Kelsen, in the second edition of Pure Theory of Law, moderated his position in distinguishing between independent and dependent legal norms: “It follows that a legal order may be characterised as a coercive order, even though not all its norms provide for coercive acts; because norms that do not themselves provide for coercive acts (and hence do not command, but authorise the creation of norms or positively permit a definite behaviour) are dependent norms, valid only in connection with norms that do provide for coercive acts”.25 If it is accepted that secondary norms are strictly the only ones which make up the state legal system, it is interesting to describe some consequences of this theoretical structure with “Kelsenian” roots, or take it to the extreme, with an example. Such proposition may be expressed as follows: all legal provisions comprising an order and regulating labour law (unions and employment), or the right to teach and to learn, or freedom of speech, etcetera (e.g., primary or conduct rules contained in sections 14 22
Ross, Alf, op. cit., 32. Ross, Alf, op. cit., 57 & ff. 24 Kelsen Hans, Problemas capitales de la teoría jurídica del Estado, desarrollados con base en la doctrina de la proposición jurídica, translated from the second German edition by Wenceslao Roces, Porrúa, Mexico, 1987, 271. 25 Kelsen, Hans, Teoría pura del Derecho, translated by Roberto Vernengo, second edition, Porrúa, Mexico, 70. 23
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bis26 and 14,27 respectively, of the Argentina’s Federal Constitution), as long as they do not set sanctions – i.e., they are dependent norms –, will acquire their legal status only in connection with other norms of the system which establish sanctions or coercive acts with respect to the lines of action set by such norms. Actually, and as analyzed below, the problem of this structure is not the dissatisfaction it creates. For now, I am just mentioning the example in advance, along with the criticism it may receive: currently it is incorrect to state that constitutional rules recognising fundamental rights are not norms setting lines of action to be followed by the state powers. And, therefore, it is also incorrect to say that it is not feasible to ascertain the coercion degree they have.
IV. Constitutional State An overarching feature of the constitutional State is that the coexistence of men is regulated by Law. For the citizen, legal order is presented as a body of rules determining the conditions under which one is to behave with respect to others. Most legal positivist doctrines usually admit that the two differences marking a boundary between legal systems and moral, religious, or social treatment systems are that (a) legal systems establish the application of external sanctions for cases of inobservance of the conduct regulated, which in turn may result in the use of physical force, and (b) the monopoly of coercion is in the hands of the State, i.e., it is institutionalised. If coercion is considered a key element of legal systems, it is reasonable to believe that the following assumptions are correct: (a) only Law can limit power, but only power can create Law; (b) the State, understood as a social organisation monopolising the use of force, also monopolises the production and enforcement of legal provi26 Section 14 bis. Labour in its several forms shall be protected by law, which shall ensure to workers: decent and equitable working conditions; limited working hours; paid rest and holidays; fair remuneration; minimum vital and adjustable wage; equal pay for equal work; participation in the profits of enterprises, with control of production and collaboration in management; protection against unfair dismissal; stability of the civil servant; free and democratic trade union organizations recognised by mere registration in a special record. Trade unions are hereby guaranteed: the right to enter into collective bargaining agreements; to resort to conciliation and arbitration; the right to strike. Union representatives shall have the guarantees necessary for carrying out their union tasks and those related to the stability of their employment. The State shall grant the benefits of social security, which shall be comprehensive in nature and may not be waived. In particular, the laws shall establish: compulsory social insurance, which shall be in charge of national or provincial entities with fi nancial and economic autonomy, administered by the interested parties with State participation, with no overlapping of contributions; adjustable retirements and pensions; full family protection; protection of homestead; family allowances and access to decent housing. 27 Section 14. All the inhabitants of the Nation are entitled to the following rights, in accordance with the laws that regulate their exercise, namely: to work and pursue any lawful industry; to navigate and trade; to fi le petitions with the authorities; to enter, remain in, travel through, and leave the Argentine territory; to publish their ideas through the press without previous censorship; to make use and dispose of their property; to associate for useful purposes; to profess freely their religion; to teach and to learn.
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sions.28 The existence of force or coercion monopolised by the State is the distinguishing feature of legal systems considered as a whole, as bodies of primary and secondary norms, and not an isolated characteristic of one or more provisions making up the system, which may not be prescriptive. Therefore, force is to be found both at the inception of Law and in its enforcement. However, there is one more important question to examine. The State, which creates Law, may be seen in two ways in relation to Law: as an end or as a means. We now turn to the review of these two possibilities.
V. State as an “End” If the State is not seen as a means for the protection of fundamental rights (simply because reality prevents such assertion from being realised), it would be difficult to argue against the idea that Law is, and probably will be, the law of the strongest. This does not mean that the use of force cannot be fair. Of course it could be fair; this possibility cannot be ruled out. What I wish to point out is that, within this structure, force is fundamental; it is the expression of the strongest. The self-explanatory phrase “law of the strongest” has nothing to do with the approval or rejection flowing from certain legal systems based on ethical or justice reasons, as asserted by Ross.29 And it will be the law of the strongest if it is understood that norms – here called “secondary” – are the real norms of the legal system (Kelsen), or the only norms that may grant lawfulness to it, because only they establish sanctions or grant the power to do so, given that in this case – it is argued – the feature of force or coercion is the content itself of the regulation made by Law. I believe that, for these schools of thought, Law may be characterised as the reason of force, an expression whose content, by the way, has very high probabilities of empiric corroboration in reality all over the world. It is useful to defi ne, as clearly as possible, what is meant when it is asserted that “Law is the reason of force.” The idea is to highlight that it is precisely this regulation of the coercion deployed by Law that sets it apart form other normative systems or orders, such as, for example, morality or religion. Moreover, it is noticeable that in this theoretical approach that defines Law as the reason of force, the word “reason” is used in a very weak sense as “order or method in something,” and this should be viewed in conjunction with the idea that the principles and rules that form a legal system may be imposed, even coercively.30 This means that in certain situations force may be used to constrain people, including through the use of physical violence, to observe specific provisions of the legal system. The fact that Law is often effective in a spontaneous way, without the need to 28
Bobbio, Norberto, El futuro de la democracia, Planeta-Agostini, Buenos Aires, 1994, 14. Alf Ross said: “It has been maintained that Hitler’s rule of violence was not a legal order, and juridical positivism has been accused of moral treason for its uncritical recognition of such an order as being law. But a descriptive terminology has nothing to do with moral approval or condemnation. While I may classify a certain order as a “legal order,” it is possible for me at the same time to consider it my highest moral duty to overthrow that order” (see Sobre el Derecho y la justicia, op. cit., 32). 30 Díaz, Elías, Curso de Filosofía del Derecho, Marcial Pons, Madrid, 1998, 78. 29
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resort to the use of state force, does not invalidate the assertion that coercion is a distinctive feature of legal systems. In this context, the use of “reason” may be understood and distinguished from a variety of approaches, of which I will choose two, due to their importance: the epistemological and the normative approaches. (i) Within the epistemological approach, asserting that Law is the “the reason of force” would simply mean that reason is an autonomous guide of men in every field where research is possible. In this sense, it is held that “reason” is a quality of men which distinguishes human beings from other animals.31 Within this framework, the term “reason” means ‘capacity to think,’ and not that men always think. They can. Nothing else. “Reason,” in this context, shows that the use of state force is usually preceded by a cognitive criterion. (ii) In the normative approach, the use of the word “reason” may mean as many things as follows: (a) to inform about a matter; (b) to refer to the power of creating discourse, and to the words or phrases used to construct such discourse; or (c) to refer, more precisely, to the discourse of the State’s branches of power regulating the time, manner, subject and amount or degree in respect of the use of state force. This scope of meaning does not include the “what” or “substance” of what regulations can or must – or cannot or must not – cover. (iii) In a weak sense, “Law as the reason of force” – an expression that is but a category I use to present the generic view of the legal phenomenon posited by important schools of thought of legal positivism – has two meanings: (a) that the force exerted by men through the State, as opposed to the force existing in the rest of the animal world, is organised and used based on criteria which may generally be characterised as the capacity to understand what they have, i.e., based on their intelligence, and (b) that force is organised and exerted through discourse, whose normativity is the distinctive manner in which Law is expressed.
VI. State as a “Means” However, if the State is considered an instrument, the entity is only legitimised if it protects and satisfies fundamental rights. Moreover, here the State not only grants fundamental rights, but also must generate the conditions for their enforcement, whether by refraining or by providing. In this case, as opposed to the previous one, the State must legitimise itself through the creation and respect for the environment needed for fundamental rights to be actualised. In order to understand this stance fully, it is useful to bear in mind the remark made by Luigi Ferrajoli to the effect that currently there is a new paradigm in the history of legal culture. Ferrajoli asserts that most values of justice created by natural Law supporters in the seventeenth and eighteenth centuries (value of person, equality, civil and political rights) have been established in modern constitutions as norma-
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Abbagnano, Nicola, Diccionario de filosofía, Fondo de Cultura Económica, Mexico, 1996, 978.
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tive fundamental principles containing limitations the target of which is public power.32 Fundamental rights are positive Law inasmuch as they are established in constitutions – the right to equality, from liberty rights to social rights – and constitute, within this interpretative framework, Law on rights. This means that the rules of fundamental rights regulate, to a degree, the architecture of the contents of all laws subordinated to the Constitution, and not only the production through procedural laws on the formation of laws, which was and is a paradigm of classical positivism. In this line of thought, fundamental rights are always expressions of laws of the weakest as an alternative to the law of the strongest, which governed and would govern in the absence thereof.33
VII. Legal Positivism and Law as “the Reason of Force” Legal authors usually debate about the properties that distinguish legal systems from other normative systems, such as religion, morality, or sports rules. This ideology, which implies that “Law is something different, definitely different from other normative orders,” is a result of legal positivism, understood as a school of thought, extremely broad in scope. In this view, the legal phenomenon is different from other normative realities because Law is the organisation and institutionalisation of coercion and does not necessarily depend on morality, even though they may coincide. Positivist theories – a consequence of the inner human intention of establishing a certain degree of certainty for and in relationships – rely on more valid arguments to insist on trying to defi ne Law as the legal system whose rules are the reason of force. This does not imply an unconditional adherence to legal positivist theories, but the simple empiric verification that most state legal systems in the world are structured by the Law that “is” and not by the Law that “ought to be,” i.e., one which would allow for the realisation of fundamental rights and, certainly enough, more correct legal systems. It is easy to verify that Law, as an instrument for social architecture and control, could not have existed without force. Until the twentieth century, Law, as described in this essay, has always embodied the position of the strongest with more or less harshness, where the strongest equals power. Three centuries and a half ago, Thomas Hobbes replied to sir E. Coke that it is not truth, but authority, that makes Law: “The reason of our State, our artificial man, is the law, and not jurisprudence or wisdom of subordinate judges [. . .] and law is an order [. . .] and an order is the expression of willingness of he who commands”.34 From the above paragraphs it is clear that in the assertion “Law has been and is the reason of force to develop the social architecture and exert social control,” the term
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Ferrajoli, Luigi, Derecho y razón. Teoría del garantismo penal, Trotta, Madrid, 1997, 218, 355, 356, 357, and 854. 33 Ferrajoli, Luigi, Derechos y Garantías. La ley del más débil, Trotta, Madrid, 1999, 53 & ff. 34 Hobbes, Thomas, Leviatán, Fondo de Cultura Económica, Buenos Aires, 1992, 222.
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“reason” does not mean ‘fair’ or ‘correct.’ “Reason” is used only as a cognitive and descriptive attitude of the regulation of state force by the legal system. At this point, it is worth posing the following questions: (a) may the written Constitution have an impact on these issues?; and (b) if it does, what is the exact role of the State’s written Constitution in this matter?
VIII. The Base of State Legal Systems “Constitution” is a basic legal category of the theory and practice of Law. Modern state legal systems are normative systems with a hierarchical structure. At their base there is the Constitution, which in turn implies the existence of a “normative subsystem.” The hierarchical structure of a given State’s legal system may be expressed in simple terms, as Kelsen suggests: assuming the existence of the fundamental norm, the Constitution is the highest level within state law.35 The word “constitution” is used in legal, political, and social language with different meanings. This is not the place to list all meanings.36 Yet, I do want to explain in what sense it can be understood that the written “Constitution” is the base of the state legal system and what are the hierarchical positions that the constitutional norm boasts relative to the other norms making up such system, and if any particular conclusion may be drawn from the foregoing. To achieve this aim, it will be enough, for the moment, to test the following orientations, which focus on the constitutions with a certain degree of rigidity – such rigidity meaning here that the Constitution may not be amended through the same procedures established for the creation of ordinary laws below the Constitution. Let us see. From a descriptive and objective point of view, the term “Constitution” is usually used to designate a body of rules featuring and identifying state legal systems, expressed in a document and which are fundamental in relation to the other rules of the system. In asserting that “the Constitution is the norm with the highest rank within the hierarchy in the legal system,” what is exactly meant? A hierarchy can be logicalnormative and axiological.37 I will deal here with the logical-normative hierarchy: the Constitution ranks formally higher than the norms whose creation is established in it, because the Constitution is logically previous to the norms below. 35 Kelsen, Hans, Teoría General del Derecho y del Estado, translated by Eduardo García Maynez, Imprenta Universitaria, Mexico, 1958, 146. 36 See Comanducci, Paolo: “Modelos e interpretación de la constitución”, translated by Manuel Ferrer Muñoz, in Several authors: Teoría de la Constitución. Ensayos escogidos, Manuel Carbonell, compiler, Mexico, Porrúa, 2008, 124–154. 37 When it is stated that “the Constitution is the norm with the highest rank in the legal system,” it must be understood that such norm is the base of the normative system as a result of the work performed by the sources of state legal production. International Human Rights Law and/or Community Law or Regional Integration Law – which in some states have constitutional normative status, or which may even be above the Constitution itself – are not a matter for consideration in this essay, not because that topic lacks importance – quite the opposite –, but because this analysis only deals with Law as produced exclusively by the State.
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The Constitution is the highest norm of the legal system as a result of a positive decision by the state power. If the Constitution is the norm with the highest rank in the system, it is not logically possible to go from the upper norm to the lower norm without crossing the hierarchical distance between them. Denying that distance would be contradictory, because one cannot go from the highest to the lowest without crossing the distances in between. This simple example shows the Constitution’s logical hierarchy. The opposite, needless to say, entails a contradiction. The constitution is produced and performed by the constituent power; the remaining legal rules with general scope are created by the federal congress or the executive department; under exceptional circumstances, by the judiciary. The constitution, as a norm, is part of the real world as something written, published, and observed. The architecture proposed by the constitution, like any other norm, has a validity sphere and an effectiveness sphere; the term “validity” is used (following Kelsen: Teoría pura del Derecho, 1998, op. cit., pp. 23–28) to refer to its specific existence. This means that the constitution orders behaviours, and that a legal norm acquires validity before being effective. However, a legal norm is considered objectively valid when the human behaviour it regulates is actually in agreement with it up to some degree. “Effectiveness” refers to its respect, observance, or application, and effectiveness is a condition of validity insofar as effectiveness must be present in the imposition of the legal norm in order for it not to lose validity. Specifically, it can be noted that Argentina’s federal Constitution, for example, as a norm, is developed in two spheres: the production sphere and the realization sphere. Once the norm is produced – following rational understanding – then observance comes next, that is, the norm is realized by citizens and by the branches of state power. Nevertheless, there are different situations in which the realization of the Law arising from the constitution will require an interpretation which will exclusively be made by the judiciary. The realization of Constitutional Law, then, will always be performance or execution of Law created. Within this field, the Constitution is the master plan structuring the forms and procedures that every legal production of the State’s branches of power must observe. It is beyond any doubt that it is precisely in this relationship of logical-structural hierarchy between the Constitution and the other norms of the legal system that the Constitution regulates when, how, who and how much in respect of the exercise of coercive power. The Constitution establishes the production of legal rules with general scope; therefore, it regulates the form and, up to a certain level, the content of the State’s legal production. If Law is the “reason of force” – with the meaning given to this phrase in section III above –, the Constitution would be the paradigm in this construction. Agreeing on that would amount to admitting that conduct norms (primary norms) written in constitutional texts are, at the most, indicators or sets of instructions, but lack normative force and are not capable of granting lawfulness to the normative system, given that in these normativist approaches the lawfulness of a system is proposed by its secondary norms. Within this structure, therefore, it is evident that not all constitutional rules would be in the same relation of higher order and rank relative to the
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other norms of the legal system. Fundamental and supreme norms are only those which determine the forms and system of the State and the government, respectively, and those governing the production and granting of legislative, administrative, and jurisdictional power to the organs embodying the state will.
IX. Fundamental Rights: Lines of Action for the Use of State Force Deciding whether Law is the reason of force – i.e., it has been and is the “expression of the strongest,”38 – or also the reason of force but in a strong sense – where certain ideals may justify or not the coercion of Law – leads us, once again, to tackling the old and widespread dilemma over the role of the legal science or knowledge. Selecting the second alternative entails disregarding some of Kelsen’s ideas regarding imperative norms and, at the same time, to objectively note the undeniable role played by fundamental rights in legal systems.39 The body of fundamental rights included in all modern constitutions draws significant demarcation lines for the state task. It does not seem correct to assert that the force of the legal system is reduced to the coercion deriving from the so-called secondary norms of the system. Actually, in legal systems on the hierarchical base of which lie the fundamental rights – whose status is conferred by the Constitution –, there can hardly be any doubt that such rights would be real “lines of action,” according to the meaning given by Ross to conduct norms (see section III above). It is undeniable that norms of competence or of organisation of power, or secondary norms, grant powers to sanction and amend. But primary norms also have to do with the regulation of force, given that they usually include the body of fundamental rights and their guarantees. In this type of legal system, fundamental rights and their guarantees would provide the content for the use of force, setting guidelines for its organisation and its consistent application.40 As taught by the Argentine legal scholar Germán Bidart Campos, when the Constitution shapes rights and gives them a normative existence, it does not do so for merely decorative purposes or as an exercise in palaver or literary style, but 38
Bobbio, Norberto, Teoría General . . ., op. cit., 174. Elías Díaz explains that the force-reason relationship viewed as a copulative conjunction linkage – and not in disjunctive, contradictory, or confl ictive terms – may lead to a new conceptualization of Law. The inevitable reason of force can and must always be analysed and controlled by what we all know as the force of reason (op. cit., 78). 40 The “guarantist” technique – according to Ferrajoli – consists in including values under the form of limits or duties in the highest levels of the legal order – in our case, the Constitution – so as to exclude them in the form of power in the lowest levels, thereby turning the judgments of validity on lowerlevel norms evaluative in relation to the norms they must apply. If values were not incorporated in the highest levels, and only the formal principle that is valid as well as applicable quod principi placuit were included in such levels, the reason for validity would be reduced to an empiric assertion (verifi able and certain) on the source and the procedures established for the law to be in force; and in such case, assessments would freely penetrate the language of laws, without bearing a strict relationship to legality, and the language of judges, without bearing a relationship to the strict exercise of jurisdiction and being validly equipped with the power of decision as to a legal designation, but not in the censorship of laws (Ferrajoli, Luigi, Derecho y Razón, op. cit., 877). 39
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rather to give people the possibility to have access to and enjoy such rights and to enforce them legally before a State which, in reciprocity, has a limited scope of action and whose power is divided into separate bodies, all subject to control.41 There are constitutions which, being the rationale behind the validity of legal systems, do not limit themselves to shaping a body of procedures aimed at enabling the planning and application of coercion by the constitutional powers, but also – accepting that they are not ends but means – state that the fundamental rights included in them govern the basic environment of a free community life; they are considered not only as enforceable rights, but also as objective rules of the system and, as such, formally and not materially, they are lines of action which must ensure the correct use of state force. This proposition entails a comprehensive understanding of the complexities shown by the realities created by these orders. It does not mean setting aside the proposition that the legal activity of scholars is to describe the state of things that Law shapes and determines. Naturally, this demarcation may never be complete. It is almost impossible for the Constitution to establish all the orientations of its realisation. In the constitutional State, a radical elimination of discretion is unthinkable; discretion is a dominant feature of the human race. The German constitutional legal system contains a provision exemplifying normatively the thesis of this essay. Article 1(3) of the Basic Law for the Federal Republic of Germany of 1949 establishes that fundamental rights bind the legislature, the executive and the judiciary as directly applicable law. In this type of legal system, its true reason would rest on the normative force of its fundamental rights. With regard to the Argentine Republic, its state order is currently established by its Constitutional Law, a human creation stemming from the general rules contained in the federal Constitution of 1853, as amended in 1860 – the “historical Constitution” – 1866, 1898, 1957, and 1994, and from the rules of International Human Rights Law with constitutional rank. The supremacy of International Human Rights Law may be seen as a paradigm of Argentine Constitutional Law. It draws significant lines of action for both the state and the citizens.42 41
Bidart Campos, Germán J., El Derecho de la Constitución y su fuerza normativa, Ediar, Buenos Aires, 1995, 26. 42 Through the constitutional amendment of 1994, section 75(22) was incorporated: “Congress is empowered [. . .] To approve or reject treaties concluded with other nations and international organizations, and concordats with the Holy See. Treaties and concordats rank higher than laws. The American Declaration of the Rights and Duties of Man; the Universal Declaration of Human Rights; the American Convention on Human Rights; the International Pact on Economic, Social and Cultural Rights; the International Pact on Civil and Political Rights and the Optional Protocol thereto; the Convention on the Prevention and Punishment of Genocide; the International Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination; the Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women; the Convention against Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishments; the Convention on the Rights of the Child, as they may be in effect from time to time, have constitutional rank, do no repeal any section of the First Part of this Constitution and are to be understood as complementing the rights and guarantees recognised herein. They shall only be denounced, where applicable, by the National Executive after the approval of such denunciation by twothirds of all the members of each House. In order to enjoy constitutional status, all other treaties and conventions on human rights shall require the vote of two-thirds of all the members of each House after their approval by Congress. Law No. 24820 – published in the Argentine Official Gazette on May 29, 1997 – granted constitu-
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Certainly, moral concepts have been developed. As a result of that development, the Constitution features moral principles that have been positivised. In becoming part of the Constitution, which is a legal norm, moral concepts are now, under the Law, concepts of positive Law. Therefore, there may but need not be an overlap in meaning between Law and morality. The distinction between moral language and legal language remains valid. I recognise, however, that they are highly indeterminate concepts, but the distinction remains between Law and morality, between how Law is and how it ought to be, between the description of Law and its assessment.43 In this context, the word “reason” may be used to defi ne the term “Law” as the reason of force, taking into account that the term may be used in a “strong” sense and not just weakly. In Spanish, the term “razón” (reason) admits of a large variety of meanings, of which, for this research, only a couple have been chosen. In the previous sections (see section III above), the meanings of the term are explored, as “reason” may mean, for example, both intelligence and power to inform over a matter – in our case, state force. But “razón” (reason) – under the fourth sense in the DRAE44 – may also be used to mean “argument or proof furnished to support something,” and here the argumentation appears as an intellectual operation that seeks to convince somebody that something is correct. In this case, the “reasons of Constitutional Law,” i.e., the fundamental rights established in the constitutions, would be a guiding catalogue or list for the fundamental political decisions, which would make it possible to determine “what” the power commands through Law, and not only who command or are authorised to do so, by creating regulations and applying sanctions. The Argentina’s Federal Constitution, for example (mainly in the First Part, First Chapter: Declarations, Rights, and Guarantees; Second Chapter: New Rights; and in the Second Part, First Title, First Section, Fourth Chapter: section 75(22) mentioned above), contains a description of a state of things, that is, a state desired by the constitutional lawmaker. That state of things can only be rationally discerned by the lawmaker, provided it is a constitutionally possible world. If the state of things outlined by the lawmaker in the Constitution is not “logically possible” – i.e., it cannot be realised; its rules do not satisfy rational standards –, it will be, from the inception, a false description of reality, which does not coincide and cannot coincide with the state of things. Only an ideal representing a design of a possible world may be seritional rank to the Inter-American Convention on Forced Disappearance of Persons, adopted at the twenty-fourth General Assembly of the OAS, under section 75(22) of the federal Constitution. Law No. 25778 – published in the Argentine Official Gazette on September 3, 2003 –, granted constitutional rank to the Convention on the Imprescriptibility of War Crimes and Crimes Against Humanity, adopted by the United Nations General Assembly on September 26, 1998 and approved by law No. 24584. Consequently, today thirteen instruments of International Human Rights Law have constitutional status. 43 Guastini, Ricardo, “Los principios constitucionales en tanto fuente de perplejidad”, in Several authors, Derecho procesal constitucional americano y europeo, fi rst volume, compiled by Víctor Bazán, Abeledo Perrot, Buenos Aires, 2010, 190. 44 Real Academia Española, Diccionario de la lengua española, Espasa Calpe, Madrid, 1992, twentyfi rst edition, 1731.
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ously sustained; if such design is not true, it cannot be rationally desired by the constitutional power.45 My basic strategy to defend this proposition is that, as stated in section I above, propositions are statements on the state of things determined by Law. One last comment of the utmost importance is in order at this point. Attention must be paid to the use of the term “reason” in this argumentative dimension. Such dimension relates to the scope and content of “what” is commanded through Law in a constitutional democracy. A possible answer would be that what is commanded is nothing but the shaping and improvement of the subsystem of normative statements of a primary nature, which grant constitutional recognition to fundamental rights. If one of the principal aims of the Constitution is realised by establishing the fundamental rights, what must not remain undetermined is up to what extent such measures form an “order” or a “system” and how their progressive development is explained as well as the limits observed or which should be observed by them, and that aim ought to be one of the basic features of the theoretical system that seeks to tackle its rational understanding. At the beginning of this essay, it was stated that the intention was to address the assertion that “Law is the reason of force,” the word “reason” being understood both as a description of coercion and as a description of its argumentation. The fi rst proposition has been verified. As an intellectual operation, the description of reality – i.e., the informative tasks on it – searches for the truth; in this sense, it is verifiable that Law is the reason of force, which can be confirmed merely by resorting to the knowledge of the external world. The second proposition shows that there is a lot to be done in that respect. The argumentation over reality seeks to convince others. Anyone arguing that Law must be the reason of force will be trying to persuade us that the fundamental rights included in constitutions are decisive in shaping and backing the use of state coercion. Turning back to the title of this essay, and to conclude, I may assert that Law, understood as the reason of force in a “weak” sense, is the legality stemming from the prevailing legal system. And Law, understood as the reason of force in a “strong” sense, is the argumentation for a renewed realisation of the legal system.46
45 Von Wright, George Henrik: “Ser y deber ser”, in Several authors, La normatividad del Derecho, compiled by Aulis Aarnio, Ernesto Garzón Valdes, and Jyrki Uusitalo, Gedisa, Barcelona, 1997, 98. 46 I wish to thank legal translator Mariano Vitetta, who translated this essay from Spanish, and lawyer Sebastián Toledo and students Leandro E. Ferreyra and Juan Ignacio Ferreyra for their valuable lingüistic observations to the original version of this article.
Bildung als Verfassungsvoraussetzung Wertevermittlung und Wissensvermittlung als Prolegomena moderner Demokratie von
Prof. Dr. Winfried Bausback und Franziska Schuirer* „Bildung ist das was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar weg ist.“ Dieser Satz wird dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zugeschrieben. Bildung alleine macht also nicht reich, aber sie ist wenigstens von Dauer. Fehlende Bildung jedoch kann zu Armut führen, wie unser Arbeitsmarkt zeigt, der sogenannte Geringqualifizierte zunehmend ausschließt. Ist aber deshalb ein Arbeitsvertrag das Ziel aller Bildung? Bildung ist komplexer und verfolgt viele Zwecke. Für die Demokratie als Staatsform ist Bildung Verfassungsvoraussetzung. Werteund Wissenvermittlung sind Prolegomena moderner Demokratie. Dies soll im Folgenden ausgehend von der Geschichte des Bildungsbegriffs in der Betrachtung der Rolle von Bildung als Wissens- und Wertevermittlung in einer demokratischen Gesellschaft, der politischen Bildung als pädagogischem Konzept und der Bildung als Zielsetzung der Entwicklungszusammenarbeit deutlich werden.
I. Bildungsbegriff Bildung bedeutet im Wortsinn die Formung des Menschen. Sie ist die Prägung und Entfaltung einer Person mit dem Ziel, die eigenen Anlagen möglichst umfänglich zu entwickeln, und besteht dabei nicht nur aus der Anhäufung von Kenntnissen, sondern auch aus der Formung der charakterlichen Eigenschaften der Person.1 Bildung kann einen Prozess oder einen Zustand meinen: Der Prozess ist die lebenslange Fortentwicklung der geistigen Fähigkeiten eines Menschen, der als Ergebnis den Zustand produziert, nämlich ein anzustrebendes Bildungsideal. Wann Bildung als *
Winfried Bausback ist Mitglied des Bayerischen Landtags, seine Professur an der Bergischen Universität Wuppertal ruht in der Zeit des Mandats; Franziska Schuirer ist Rechtsreferendarin in München. 1 Bildung, in: Schmidt/Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 23. Aufl., Stuttgart 2009, S. 98 f.
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umfassend verwirklicht gilt, hängt von den kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen geschichtlichen Epoche ab.2 Im Mittelalter wurde der Begriff metaphysisch verstanden, als Kennzeichen des Verhältnisses Gottes zur Seele, oder jedenfalls als zu pflegende Ausprägung der inneren Anlagen, die Gott jedem Menschen zugeteilt hat. Das Zeitalter der Auf klärung schuf einen weltlichen Bildungsbegriff und machte Bildung zu einem Teil der neuen Bewusstwerdung des Menschen. So wie sich der Mensch nicht mehr als Funktion eines ihm von der Natur vorgegebenen Standes begreift, so ist Erziehung, so sieht es Jean-Jacques Rousseau, kein Angleichungsvorgang an einen vorgegebenen Zweck, sondern die Lösung des Menschen aus den Funktionalisierungen, die Freisetzung des Menschen zu sich selbst. Es entsteht eine Spannung zwischen Natur und Freiheit des Menschen, zwischen den Erziehungszielen der individuellen Vollkommenheit und der gesellschaftlichen Brauchbarkeit. Der deutsche Humanismus sucht nach Wegen, die entmenschlichenden Tendenzen zu beenden, die die gesellschaftlichen und technischen Fortentwicklungen schaffen und den Menschen wiederum auf eine Funktion reduzieren. Diesem geht in einem Prozess, der auf Uniformität und Substituierbarkeit ausgerichtet ist, seine Individualität und damit seine Würde verloren. Nur Bildung kann ihn aus diesen selbstgeschaffenen, entwürdigenden Verhältnissen hinausführen; sie soll dem Menschen helfen, sein Menschsein zurückzuerlangen. Bildung dient damit einerseits einem Selbstzweck, ist aber auch das Recht, ja sogar die Pfl icht der Menschen, da sich nur so das Menschsein verwirklichen lässt. Der Mensch braucht damit Raum, um seine Menschheit zu entfalten. Religion, Staat und Erziehung werden nun als Mächte angesehen, die ihn dabei einschränken können, und die daher so umzugestalten sind, dass sie die Selbstbildung des Menschen ermöglichen. Der Mensch soll sich seine Verhältnisse selbst schaffen können; der Staat wird auf Schaffung von Sicherheit, die Erziehung auf Vorbereitung zur Selbstbestimmung reduziert. Im 19. Jahrhundert rückt das Streben nach einer möglichst vielseitigen Sachbildung in den Mittelpunkt und löst die Idee der harmonischen Ausbildung aller Kräfte ab. Ausbildung wird von Bildung getrennt. Dementgegen lässt die humanistische Auffassung Ausbildung nur dann auch als Bildung gelten, wenn sie sich nicht auf die Funktionen des Menschen in der Gesellschaft beschränkt, sondern die Freiheit und das Selbst-Entscheiden-Können bewahrt. Die Selbstbildung soll Individualität schaffen und Mündigkeit entfalten. Die Bildungsrevolution bürgerlicher Gesellschaften macht den sozialen Aufstieg durch Bildung möglich, auch wenn die Schulstruktur manche gesellschaftliche Schichten benachteiligt. Seit dem 20. Jahrhundert wird Bildung auch aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive erklärt und in empirisch untersuchbare Komponenten unterteilt. Sie soll nun den Anforderungen gerecht werden, die jedes Individuum braucht, um Lebenslagen zu bewältigen und in der Welt zu bestehen. Die Teilhabe an Bildung für jeden Einzelnen wird verwirklicht – wenigstens im Rahmen eines Bildungsminimums für alle. Auch wenn Bildung auf soziale Gleichberechtigung hinwirkt, ist eine schicht2 Vgl. zum Folgenden: Clemens Menze, Bildung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Freiburg 1985, Sp. 783, 784 ff.; Bildung, in: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Leipzig, Mannheim 2006, Bd. 4, S. 80 ff.
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spezifische Benachteiligung in der Teilhabe an Bildung im deutschen Bildungssystem auch im 21. Jahrhundert spürbar.
II. Bildung in der politischen Philosophie Bildung erfasst damit viele Aspekte. Sie soll dazu befähigen, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen und auszufüllen, beschränkt sich dabei aber nicht auf wirtschaftliche Aspekte; „Allgemeinbildung“ und „berufl iche Bildung“ stehen nebeneinander.3 Soziale Gerechtigkeit soll mittels Bildungschancen verwirklicht werden. Bildung soll die Menschen frei machen, ihre Individualität stärken und das Hinwegsetzen über vorgegebene Strukturen und Funktionen ermöglichen. Letzterer Gedanke findet sich bereits bei Platon. Das Höhlengleichnis ist eine Parabel für den menschlichen Bildungsweg.4 Die Höhle, in der die gefesselten Menschen auf die Höhlenwand schauen und dort nur Schatten zu sehen bekommen, steht für die normale Situation der Menschen. Es ist ihnen nicht möglich, Klarheit über die wahre Beschaffenheit der Dinge zu erlangen. Nur wer sich von seinen Fesseln befreit, erkennt, dass die Schatten nur Darstellungen der vorbeigetragenen Artefakte, und die Artefakte nur Darstellungen der natürlichen Dinge sind. Nur der Freigelassene erkennt die Lichtquelle des Feuers als Ursache für die Schatten in der Höhle und das Licht der Sonne als Grund für die Sichtbarkeit der Welt. Der Weg aus der Höhle ermöglicht es ihm, die Wahrheit vom Schein zu unterscheiden. Er gewinnt die Erkenntnis, dass alles, was existiert, nur von anderem her erkennbar ist. So wie sich die natürlichen Dinge erst im Licht der Sonne erkennen lassen, zeigen sich Ideen erst mit der Offenheit des Denkens. Bildung wirkt als Umwendung der ganzen Seele. Platon widerspricht der Ansicht, dass durch Bildung der Seele, in der es ursprünglich kein Wissen gibt, dieses Wissen eingepflanzt wird. Vielmehr wohne die Wissenskraft der Seele eines jeden inne. Er führt dazu aus: „Ganz ähnlich, wie wenn man das Auge nicht anders aus dem Dunklen nach dem Hellen umwenden könnte als mitsamt dem ganzen Leibe, so muss man sie mitsamt der ganzen Seele aus dem Bereich des Werdenden nach der anderen Seite umkehren, bis sie fähig geworden ist, die Betrachtung des Seienden und des Hellsten unter dem Seienden auszuhalten; dies aber ist, wie wir behaupten, das Gute.“5 Erziehungskunst soll eben diese Umwendung des Denkens bewirken. Platon überträgt dies auf das Zusammenleben im Staat und erörtert, wer sich am besten für die Herrschaft im Gemeinwesen eignet. Es sind die Philosophen, diejenigen, denen der Aufstieg aus der Höhle gelungen ist. Ihnen darf man nicht erlauben, sich ausschließlich ihrem Studium zu widmen, vielmehr müssen sie um des Wohls des Staates willen zu den Gefesselten zurückkehren und die Staatsgeschäfte führen. Diejenigen, die das Gerechte und Gute geschaut haben, sind zur Herrschaft be3 Vgl. Häberle, Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe, in: Hufen/Berlit/Dreier (Hrsg.), Verfassungen – Zwischen Recht und Politik, Festschrift für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, S. 460, 464. 4 Vgl. zum Folgenden: Schmidt/Gessmann (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 23. Aufl., Stuttgart 2009; Höhlengleichnis, S. 318. 5 Platon, Der Staat, Buch VII, 518c; übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 1989.
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stimmt. Es verwalten die am besten den Staat und schützen ihn vor dem Bürgerkrieg, die am wenigsten darauf erpicht sind.6 Nach Platon kann daher nur die Philosophie als höchste Bildungsmacht in Personalunion von Philosoph und Staatsmann die Krise der Polis überwinden.7 Als Aufgabe einer Gemeinschaft sieht er die Befriedigung der Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder; Ordnung und Glück für den Menschen und die Gemeinschaft sind daher die Erwartungen, die man an die Politik stellen darf – für ihn einlösbar nur durch die Philosophie als Wissenschaft von der Seele und der Erkenntnis.8 Platons Idealstaat ist von Arbeitsteilung und Hierarchisierung geprägt, jede Gruppe hat ihre Aufgabe zu erfüllen. Sein Erziehungsmodell, Paideia, steht in unmittelbarem Zusammenhang zu diesem Staatsentwurf. Dieser enthält ein pädagogisches Curriculum für die Erziehung der Wächter und Philosophenherrscher, das Körper und Seele formen soll und alles ausblendet, was nicht den übergeordneten Erziehungszielen zur Wahrheit, Ernsthaftigkeit und Besonnenheit dient.9 Auch Aristoteles verknüpft den Staat mit Erfordernissen an Bildung. Für ihn ist der Staat, den er anhand der Polis, dem griechischen Stadtstaat, untersucht, von überragender Bedeutung. Aristoteles sieht den Menschen als zoon politikon, als von Natur aus auf Gemeinschaftsbildung angelegtes Wesen. Weil er auf die Kooperation mit anderen angewiesen ist, und weil er sich aufgrund seiner Sprachfähigkeit über Gerechtes und Ungerechtes verständigen kann, kann der Einzelne sein Glücksstreben und seine natürlichen Anlagen im Rahmen einer Gemeinschaft am besten verwirklichen. Diese Gemeinschaft braucht die Form eines Staates: Zum einen sieht Aristoteles den Staat als das notwendige Ziel jeder Gemeinschaftsbildung. Zum anderen bestimmt die staatliche Gemeinschaft das Glück des Einzelnen mit, denn zu ihren Aufgaben gehört auch die richtige Erziehung der Bürger. Diese sollen zur Tugend erzogen werden, was am besten gelingt, wenn der Staat gute Gesetze schafft. Die Aufgabe der politischen Philosophie liegt nach Aristoteles darin, zu untersuchen, worin eine gute Gesetzgebung besteht, die die tugendhaften Charakterzüge der Menschen ausbildet, und so zu deren Glück beiträgt.10 Die Polis ist also kein Zweckverband zum Überleben, sie verfolgt vielmehr eine Konzeption vom guten und gerechten Leben, an dem sie idealerweise alle Bürger teilhaben lässt. Bürger sind bei Aristoteles jedoch nicht alle in einem Staat lebenden Menschen – Frauen, Kinder, Ausländer und Sklaven sind nicht eingeschlossen. Die Bürgereigenschaft ist an die Möglichkeit zur Teilhabe an der politischen Herrschaft gebunden. Was die Herrschaftsform betrifft, sympathisiert Aristoteles mit einer Form von Aristokratie, die er als die Herrschaft der Besten bezeichnet. Zwar sieht er die Demokratie im Grunde als instabil an, da jede Gesetzesautorität durch das Prinzip des Volksbeschlusses untergraben werden könne, und so eine Tyrannis entstehe. Dennoch erkennt er als Vorteil, dass es der Stabilität auch dienen kann, wenn man möglichst viele Menschen
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Vgl. Platon, Der Staat, Buch VII, 518d–520d; übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 1989. Fonfara, in: Horn/Müller/Söder, Platon-Handbuch, Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2009; S. 243. 8 Erler, in: Horn/Müller/Söder, Platon-Handbuch, Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2009; S. 90 f. 9 Fonfara, in: Horn/Müller/Söder, Platon-Handbuch, Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2009; S. 240 f. 10 Rapp, Aristoteles zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2007, S. 51 ff. 7
Bildung als Verfassungsvoraussetzung
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an den politischen Entscheidungen beteiligt.11 Die favorisierte Aristokratie ist eine Herrschaft von wenigen, die sich durch ihre Tugend auszeichnen. Aristoteles lässt bei Aristokratie das Abstammungskriterium jedoch weitgehend außer Acht und verknüpft den Begriff mit Erziehung und Bildung.12 Auch in der Demokratie kommt es auf die Kompetenzen der Mitwirkenden an. Diese können sowohl im Treffen der Entscheidungen in der Volksversammlung als auch im Beurteilen und Fördern der Funktionstüchtigkeit der Polis liegen.13 Bei Aristoteles kommt dem Staat, an dessen Politik möglichst viele teilnehmen sollen, damit überragende Bedeutung zu. In der von ihm als ideal empfundenen Staatsform wird der Staat von einer Art Bildungselite gelenkt. Auch Platon lässt eine solche Elite, die Philosophenherrscher, regieren, und er legt Wert auf die Partizipation eines jeden als Teil und im Rahmen der Aufgaben seiner gesellschaftlichen Gruppe. Die Kompetenzen des Einzelnen sind für die Gesellschaft wichtig. Die Teilhabe aller und besondere Bildung und Tugendhaftigkeit bei den Regierenden lassen sich als durchgängige Elemente festhalten.
III. Bildung als Verfassungsvoraussetzung Solche Prinzipien aus der antiken Polis fi nden sich auch im heutigen Staat. Daher ist nun zu untersuchen, in welchem Verhältnis Bildung und Staat in unserer Zeit zueinander stehen. Da Bildung, wie wir gesehen haben, über reine Wissensvermittlung hinausgeht und nicht nur im Inneren des Einzelnen stattfindet, sondern dessen Beziehung zur Welt formt, wirkt sie sich wesentlich auf das menschliche Zusammenleben und die politische Gemeinschaft aus. Kernstück unserer politischen Gemeinschaft ist die Verfassung. Sie ist Ausdruck des aus einer Rechtskultur entstandenen Rechtswissens, sie verarbeitet historische Erfahrungen, Werte und politische Entwicklungen, und sie enthält unveränderbare Kernprinzipien. Ihre Hauptinhalte speisen sich aus den universalen Menschenrechten, aus geschichtlich gewachsenen Grundsätzen, wie Bundesstaatsprinzip und Bindung an Recht und Gesetz, und aus einer historisch geprägten Aufgabenverteilung unter den Staatsorganen.14 Das Grundgesetz ist das Gedächtnis der Demokratie.15 Fraglich ist nun, welche Rolle die Bürger in Bezug auf die Verfassung einnehmen. Welche Voraussetzungen fordert eine Verfassung von ihren Mitgliedern? Oder anders gefragt: Ist die Bildung der Bürger eine Voraussetzung für die Funktionabilität des Staates? Zunächst gilt es, den Begriff der Verfassungsvoraussetzungen zu fassen. Ein Verfassungsgesetz behält seinen Anspruch auf Leitung der Staatsentwicklung und Bindungswirkung gegenüber den Staatsorganen und behauptet seine Identität dadurch, dass es elementare Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungsinhalte zu bewahren 11
Rapp, Aristoteles zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2007, S. 56 ff. Rapp, Aristoteles zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2007, S. 60 f. 13 Rapp, Aristoteles zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2007, S. 59. 14 Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 21 Rn. 1 ff. 15 Ebd. 12
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versucht.16 Verfassungsinhalte sind Text des Verfassungsgesetzes, die Verfassungsgarantien; Verfassungsvoraussetzungen werden nicht in den Text aufgenommen, sie sind die Grundlage der Inhalte und die Geltungsvoraussetzungen des Verfassungstextes.17 Eine Verfassung stellt also Forderungen an die, die sie leben sollen. Aus Sicht des Staates lassen sich diese Voraussetzungen in zwei Gruppen einteilen: Solche, die der Staat beeinflussen und pflegen kann, und solche, auf die er keine Einwirkungsmöglichkeit hat. Um zu verstehen, warum es Verfassungsvoraussetzungen gibt, auf deren Bestehen der Staat keinen Einfluss hat, kann man bereits bei der Säkularisierung ansetzen. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den Satz geprägt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.18 Die Einheit, die Religion und Recht im Mittelalter bildeten, zerbrach in eine weltliche und eine geistliche Sphäre, so dass das Recht des weltlichen Staates nicht mehr am Geltungsanspruch der Religion teilnahm. Die Reformation führte dazu, dass es unterschiedliche Bekenntnisse mit Absolutheitsanspruch gab, so dass die Religion nicht mehr als Grundlage des Rechts in Betracht kam. Das Recht des Staates, das gegenüber allen Bürgern ohne Rücksicht auf ihr religiöses Bekenntnis gelten sollte, musste nun ohne Rückgriff auf die Religion begründet werden.19 Jedes Recht braucht eine Macht, die ihm faktisch Geltung verschafft. Dies ist Aufgabe des Staates. Der heutige Staat hat die Gewissen freigegeben, er ist vom Pluralismus geprägt. Pluralismus fi ndet in der Gesellschaft statt, nicht in jedem Einzelnen, da niemand unterschiedliche Heilslehren nebeneinander für wahr halten kann. Daher existiert keine allgemein akzeptierte Richtigkeitsgarantie mehr, jeder muss für sich eine Rechtfertigung für das Recht finden. Der Staat hat mit dem Pluralismus Freiheitlichkeit geschaffen, und ist darauf angewiesen, dass von dieser Freiheit nur loyaler Gebrauch gemacht wird. Daher lebt er von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.20 Der Staat ist also auf die Loyalität seiner Bürger angewiesen. Er kann, wie Böckenförde es ausdrückt, „nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“.21 Und er kann diese inneren Regulierungskräfte nicht mit den Mitteln des Rechtszwangs garantieren, ohne dabei die erworbene Freiheitlichkeit aufzugeben.22 Welche Verfassungsvoraussetzungen sind nun von den nicht beeinflussbaren inneren Regulierungskräften abhängig? Es sind all jene, die eine Gemeinschaft rechtlich organisierbar machen: Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Setzen gemeinsamen Rechts, der Wille zu gemeinsamen Organen und deren Handeln, die grundsätzliche Einigung auf eine Rechtskultur und ein Mindestmaß an Vertrauen auf den Staat, 16 Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 21 Rn. 65. 17 Ebd. 18 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60. 19 Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, Tübingen 2006, S. 77 f. 20 Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, Tübingen 2006, S. 78 f. 21 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60. 22 Ebd.
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seine Einrichtungen und seine Funktionstüchtigkeit. Es ist notwendig, dass eine überwiegende Mehrheit der Bürger die Verfassung bejaht. Um der Freiheit willen muss der Staat die Pflege dieser Voraussetzungen den Freiheitsberechtigten selbst überlassen.23 Ist einmal eine Basis des Willens einer gemeinsamen Rechtsordnung und eine Einigung auf grundlegende Prinzipien geschaffen, hat der Staat durchaus Einfluss auf die Errichtung und das Tätigwerden seiner Organe, auf die Schaffung verbindlichen Rechts mit Gestaltungskraft und dessen Durchsetzung.24 Die Verfassungsvoraussetzungen, in Bezug auf die der Staat ohne Einfluss bleibt, sind also wesentlich für das Bestehen von Verfassung und Staat. Ihre Gewährleistung liegt bei den Bürgern. Die Verfassung fordert ihre Mitglieder. Diese müssen die Bereitschaft zur gemeinsamen Rechtsfindung nicht nur einmal, sondern ständig neu auf bringen. Es reicht nicht eine einmalige Einigung auf eine Rechtskultur – sie muss bei jeder wesentlichen Rechtsfortbildung von neuem erfolgen. Das Vertrauen auf die staatlichen Einrichtungen muss fortwährend erhalten bleiben. Für die Funktionabilität des Staates ist deshalb auf Seiten der Bürger ein grundsätzliches Verständnis für die Mechanismen der Verfassung erforderlich. Ohne das Wissen über den Staat, seine Grundsätze, seine Organe und seine Geschichte wird eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben stark erschwert. Der Staat ist auf die Aufrechterhaltung dieser Kenntnisse angewiesen. Die Bildung der Bürger stellt daher eine Verfassungsvoraussetzung dar. Sie ist wesentlich für das Funktionieren des Staates.
IV. Teilhabe und demokratische Grundwerte Bildung ist damit als Aufgabe für das staatliche Gemeinwesen anzusehen. Über die Bildung der Bürger kann der Staat indirekt die Verfassungsvoraussetzungen zu beeinflussen versuchen, die als nicht regulierbar identifiziert wurden. Bildung spielt deshalb für den Staat auf rechtlicher Ebene ebenso eine Rolle wie auf politischer und gesellschaftlicher. Ein Ansatzpunkt sind die rechtlichen Maßstäbe, die für Bildung hierzulande gelten. Art. 7 Abs. 1 GG stellt das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates. Diese im Grundgesetz im Abschnitt der Grundrechte getroffene Aussage begründet nicht explizit ein Recht auf Bildung als soziales Grundrecht. Aber es kann als Recht der Eltern, Kinder und Jugendlichen auf Ausbau und Entwicklung des Bildungswesens und auf Gleichheit der Bildungsmöglichkeiten angesehen werden.25 Die Aufsicht des Staates über das Schulwesen muss daher dem sozialstaatlichen Auftrag entsprechen, bei Bildungschancen für Gleichheit zu sorgen.26 Die Organisation des Schulwesens durch den Staat soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts mit dem Ziel erfolgen, „ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungs23 Vgl. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 21 Rn. 66. 24 Vgl. ebd. 25 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 7 Rn. 2. 26 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 7 Rn. 45.
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möglichkeiten eröffnet“.27 Art. 7 Abs. 1 GG verpfl ichtet den Staat zu eigenen Anstrengungen, die zwar im Rahmen eines weiten Ausgestaltungsspielraumes stattfi nden, aber dem bindenden Verfassungsauftrag zur Gewährleistung eines leistungsfähigen Schulwesens genügen müssen.28 In Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG kann man Art. 7 Abs. 1 GG auch ein Recht auf Teilhabe an staatlichen Schulen entnehmen.29 Das Grundgesetz enthält auch sonst kein allgemein gefasstes, ausdrückliches Recht auf Bildung. Trotzdem fi nden sich Elemente dieses Rechts. So kann man der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG ein subjektives Recht auf Bildung und Ausbildung für den Teilbereich der berufsbezogenen Ausbildung entnehmen. Da Art. 12 Abs. 1 GG den Zugang zu und die Tätigkeiten in Ausbildungseinrichtungen sowie die freie Wahl der Ausbildungsstätte schützt, stellt er sowohl ein Abwehrrecht gegen staatliche Behinderung der berufsbezogenen Ausbildung als auch ein Recht auf Teilhabe an den staatlichen Ausbildungseinrichtungen dar.30 Auch Landesverfassungen wie die Bayerische Verfassung trifft Aussagen über Bildung. So hat nach Art. 128 Abs. 1 BV jeder Bewohner Bayerns einen Anspruch darauf, eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten. Weitere rechtliche Maßstäbe finden sich in internationalen Menschenrechtsverträgen. Art. 2 S. 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt, dass niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden darf. Auch Art. 14 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta gewährt explizit ein Recht auf Bildung und auf Zugang zur berufl ichen Aus- und Weiterbildung. Beide Verträge haben für die Bundesrepublik Deutschland verbindliche Geltung. Unser Rechtssystem enthält daher ein Recht auf Bildung, das als Teilhaberecht zur Verwirklichung sozialer Chancengleichheit seine besondere Ausprägung fi ndet. Der Staat ist verpfl ichtet, Bildung aktiv zu fördern. Seine Bildungspolitik muss den genannten Ansprüchen genügen. Die Bildungspolitik hat mehrere Funktionen. Sie erfüllt die Verpfl ichtung des Staates zur Gewährleistung von Bildungschancen. Dabei dient sie zu einen der persönlichen Entwicklung, der Bildung als Selbstzweck. Zum anderen setzt sie Bildung um in ein System von Sozialchancen bzw. in ein in der heutigen Gesellschaft vorherrschendes berufl ich-soziales Bewertungssystem.31 Zusätzlich ist sie ein Werkzeug zur Beeinflussung der bereits erwähnten inneren Regulierungskräfte des Staates. Da Bildung zum Leben der Verfassung notwendig ist, muss die Bildungspolitik darauf hinwirken. Dafür ist die Vermittlung von Kenntnissen über den Staat und seine Organe, über politische Mechanismen und gesellschaftliche Zusammenhänge unerlässlich. Politische Bildung muss den Menschen die Funktionsweise der Demokratie näherbringen. Dies erschöpft sich aber nicht in der Vermittlung von Kenntnissen – auch die 27
BVerfGE 26, 228, 238; Jarass, Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, DÖV 1995, S. 674,
677. 28
Jarass, Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, DÖV 1995, S. 674, 677. Ebd. 30 Jarass, Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, DÖV 1995, S. 674 f. 31 Vgl. Neukirchen, Bildungspolitik, in: Herzog/Kunst/Schlaich/Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. Stuttgart 1987, Sp. 258, 261 f. 29
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Vermittlung von Werten ist gefragt. In einer Demokratie besteht ein Konsens über grundlegende Werte. Diese demokratischen Grundwerte können auch auf christliche Werte zurückgeführt werden. So kann das christliche Gebot der Nächstenliebe für die Demokratie fruchtbar gemacht werden, da es der Forderung nach der Wahrung der Würde jedes Menschen entspricht. Kants Kategorischer Imperativ, nach dem jeder so handeln soll, dass sein Handeln ein allgemeines Gesetz sein könnte, kommt dem auf philosophischer Ebene gleich. Zudem speist sich die Demokratie aus der Teilhabe jedes Einzelnen. Dieser Grundwert fi ndet sich schon im antiken Verständnis von Volksherrschaft, nur ist „jeder“ heute wörtlich zu verstehen, während Aristoteles Frauen, Kinder, Ausländer und Sklaven ausschloss.
V. Bildung als staatliche Aufgabe Der Bildungsauftrag des Staates verfolgt das Ziel der „Bürgerschaft durch Bildung“.32 Die Erziehung zu den Menschenrechten mit der Anerkennung der Würde des Mitbürgers an erster Stelle und der Anreiz zu bürgerlichem Engagement machen aus demokratischer Auf klärung eine Demokratieerziehung zur Bürgerschaft.33 Demokratische Bildung ist dabei nicht nur eine Zielbestimmung der Bildungspolitik, sondern auch ein pädagogisches Konzept.34 Danach darf politische Bildung nicht bei abstraktem Wissen stehen bleiben, sondern soll in ein Gesamtkonzept der Schulkultur integriert werden. Die Erziehung zu Zivilität und Solidarität ist Teil der allgemeinen Erziehung zur Demokratie, die unmittelbaren Bezug zum Alltag halten muss, und Ablösung und soziales Desinteresse vermeiden soll. Demokratie wird als Lebensform und als Form des Zusammenlebens verstanden. Sie gilt nicht als gesicherter Zustand, sondern besteht in einem stetigen gesellschaftlichen Lernprozess, und gewinnt damit eine zukunftsgerichtete Dynamik. Das aus dem angelsächsischen Raum kommende Konzept der „civic education“, der zivilgesellschaftlichen Bildung geht in eine ähnliche Richtung.35 Es verfolgt das Ziel, bei den Mitgliedern der Gesellschaft demokratische Kompetenzen aufzubauen, die sicherstellen, dass die Zivilgesellschaft und die demokratische Gesellschaftsform funktionstüchtig bleiben. Die „education for citizenship“ soll sowohl die soziale und moralische Verantwortung stärken als auch das Engagement in der Gemeinde fördern. Zudem soll sie für „political literacy“ sorgen, d. h. eine Art politischer Alphabetisierung voranbringen, die die Fähigkeit zum politischen Handeln stärkt. 32 Vgl. Häberle, Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe, in: Hufen/Berlit/Dreier (Hrsg.), Verfassungen – Zwischen Recht und Politik, Festschrift für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, S. 460, 470 f. 33 Ebd. 34 Vgl. zum Folgenden: Himmelmann, Demokratie-Lernen: Was? Warum? Wozu?, in: Beiträge zur Demokratiepädagogik, Eine Schriftenreihe des BLK-Programms „Demokratie lernen & leben“, Berlin 2004, verfügbar unter http://www.pedocs.de/volltexte/2008/216/pdf/Himmelmann.pdf, zuletzt recherchiert am 12. 7. 2010. 35 Vgl. zum Folgenden: Frank, „Civic education“ – was ist das?, in: BLK-Programm „Demokratie lernen & leben, 2005, verfügbar unter http://www.pedocs.de/volltexte/2008/291/pdf/Civic_educa tion.pdf, zuletzt recherchiert am 12. 7. 2010.
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Die Verpfl ichtung des Staates zur Sicherung von Bildung beschränkt sich nicht auf die eigene Bevölkerung. Auch im internationalen Zusammenhang, besonders in der Entwicklungszusammenarbeit, besteht das Bedürfnis, Bildung zu fördern. Die hochentwickelten Länder stehen hier in einer Verantwortung.36 Die Förderung von Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil von Entwicklungshilfe, da Bildung als Voraussetzung für eine nachhaltige menschliche Entwicklung und ein friedliches Zusammenleben gilt. Die Bildung der Bürger stabilisiert die politischen Verhältnisse und steigert die Produktivität der Wirtschaft und den Wohlstand der Bevölkerung. Auch auf globaler Ebene ist Bildung als Teilhaberecht rechtlich festgeschrieben – z. B. in Art. 26 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. „Bildung für alle“ ist zusätzlich ein spezielles internationales Anliegen und wurde auf internationalen Konferenzen immer wieder zum Ziel der internationalen Gemeinschaft erklärt. Auf der Millenniumskonferenz der Vereinten Nationen wurden die Gewährleistung einer Primarschulbildung für alle und die Gleichstellung der Geschlechter auch im Bildungsbereich zu Millenniumsentwicklungszielen erklärt, deren weltweites Erreichen sich die internationale Gemeinschaft bis zum Jahr 2015 vorgenommen hat.
VI. Zusammenfassung Aus alledem wird deutlich, welch wesentliche Bedeutung Bildung für Demokratie, Staat und Gesellschaft hat. Bildung wurde als Teilhaberecht und Recht auf Chancengleichheit identifiziert, auf das ein Anspruch besteht. Staat, Verfassung und demokratische Gesellschaft hängen von politischer Bildung ab. Bildung ist damit als Voraussetzung der Verfassung und als Grundlage unserer Demokratie anzusehen.
36 Vgl. zum Folgenden den Internetauftritt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, http://www.bmz.de/de/themen/bildung/index.html.
Die Homogenität im Mehrebenensystem Kontinuität und Kohärenz der argumentativen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Hugo Preuß von
Prof. Dr. Dian Schefold, Universität Bremen 1. Der Begriff des Mehrebenensystems und seine Aktualität Terminologisch ist das Mehrebenensystem ein neuer, im Wesentlichen in den letzten zwei Jahrzehnten in Gebrauch gekommener Begriff 1. Gewiss, die Phänomene sind alt: Öffentliche Gewalt wird in verschiedenen Instanzen ausgeübt, von lokalen Verwaltungsstellen über mehrere Stufen staatlicher Verwaltung bis zur Zentrale. Auch Verwaltungszuständigkeiten internationaler Organisationen sind nicht völlig neu, wenn sie sich auch in den letzten Jahrzehnten enorm vermehrt haben und vor allem in Europa dank der Europäischen Union zu einem wichtigen Faktor geworden sind. Aber der Begriff des Mehrebenensystems stammt nicht aus der juristischen Diskussion, sondern aus der systemtheoretischen Vorstellungswelt, die vor allem die Politische Wissenschaft, auch die Verwaltungswissenschaft beeinflusst hat2. Systeme, als Subsysteme und als übergeordnete Systeme, gibt es auf vielen Ebenen. Welcher Art die Systeme sind und wie sie sich zu einander verhalten, ist damit allerdings nicht 1
Vgl. zunächst Thomas König (Hrsg.), Das europäische Mehrebenensystem, Mannheimer Jahrbuch für europäische Sozialforschung 1, Frankfurt 1996; in neuerer Zeit etwa Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem, Tübingen 2004; Barbara Plecher-Hochstraßer, Zielbestimmungen im Mehrebenensystem, München 2006; Kristin Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem, Baden-Baden 2009; Meinhard Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, Tübingen 2010; Matthias Knauff, Der Regelungsverbund. Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, Tübingen 2010; weitere Nachweise bei Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. Baden-Baden 2009, S. 632, 641, 647 Fn. 1. – Der Katalog der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen verzeichnet über 70 Titel, die den Begriff des Mehrebenensystems verwenden! 2 Vgl. als frühe Problemdarstellung in der deutschen Diskussion Johannes Huinink, Mehrebenensystem-Modelle in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1989; Helmut Willke, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt 1996.
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gesagt. Insofern bleibt der Begriff des Mehrebenensystems zunächst juristisch unscharf. Aber da vor allem im Recht der Europäischen Union3 und auf weiteren Rechtsgebieten der Begriff des Mehrebenensystems immer häufiger verwendet wird, bedarf und unterliegt er zunehmend auch juristischer Klärung. Dazu soll hier ein kleiner Beitrag geleistet werden. Insofern kommen als Elemente des Mehrebenensystems mehrere Beziehungen in Betracht und sind im Hinblick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten Gegenstand der Untersuchung. Dabei geht es namentlich um fünf verschiedene Beziehungen, nämlich (1) das Verhältnis von Selbstverwaltung – lokal und funktional – im Verhältnis zum Staat, (2) die horizontale Subsidiarität im Verhältnis von privatem und öffentlichem Sektor auf der jeweiligen Ebene, (3) das Verhältnis von regionalen und föderierten (gliedstaatlichen) Organisationen zum Gesamtstaat, (4) das Verhältnis von staatlicher und supranationaler Organisation in regionalen Gemeinschaften, in Europa namentlich der Europäischen Union, (5) das Verhältnisses zwischen Staat und internationalen Organisationen, namentlich des Völkerrechts. In all diesen Beziehungen kann ein Prinzip der Subsidiarität der höheren Ebene im Verhältnis zu niedrigeren postuliert werden4. Dieses Prinzip kann allerdings stärker im Sinn eines Vorrangs der unteren Ebene, wie zur Begründung, dass die höhere Ebene zur Sicherung einer ausreichenden Aufgabenerfüllung tätig werden muss, verstanden werden. Es kennzeichnet daher ein typisches Problem des Mehrebenensystems, ohne aber als allgemein gültiges Rechtsprinzip das Verhältnis der Ebenen zueinander zu defi nieren.
2. Mehrebenensystem und Souveränität Dass die erwähnten Verhältnisse verschiedener Ebenen zueinander in der juristischen Diskussion meist nicht als Elemente eines Mehrebenensystems verstanden und im Hinblick darauf untersucht worden sind, ist kein Zufall, sondern hängt damit zusammen, dass für den Staat eine Sonderstellung im System beansprucht wurde und wird, weil er und nur er souverän sei. Versteht man, entsprechend der auf Bodin zurückgehenden Souveränitätslehre, wie sie das späte 19. Jahrhundert bestimmt hat, 3 Charakteristisch neben den in Fn. 1 genannten Arbeiten in der neueren Diskussion Magiera/Sommermann, Verwaltung und Governance im Mehrebenensystem der EU, Berlin 2002. 4 So für den Bereich der EU klassisch jetzt Art. 5 III, IV EUV, ergänzt durch das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit vom 13. 12. 2007 (ABl. C 306 vom 17. 12. 2007, S. 150), für Deutschland Art. 72 II GG in seinen mehrfach geänderten Fassungen; zur Problematik etwa Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, 2. (erweiterte) Aufl. Berlin 2001; Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, Tübingen 1998; Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. Baden-Baden 1999; Wolfram Mörsch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, Berlin 2001; rechtsvergleichend Gian Candido De Martin (Hrsg.), Sussidiarietà e democrazia. Esperienze a confronto e prospettive, CEDAM (Padova) 2008.
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als Souveränität die ausschließliche Fähigkeit rechtlicher Selbstbestimmung und Selbstbindung5, so ergibt sich eine Sonderstellung des Staates gegenüber allen übrigen Ebenen. Während der Staat souverän ist und daher sich selbst bestimmt, über einzugehende Bindungen verfügt, hängt die Bestimmung aller anderer Ebenen von ihm ab. Sie ist also fremdbestimmt, nicht selbstbestimmt6. Der Staat ist Träger eines Gewaltmonopols. Konkret bedeutet dies für alle niedrigeren Ebenen, dass sie vom Staat abhängig sind, ihre Gewalt von ihm ableiten und durch ihn determiniert werden. In diesem Sinn ist vor allem Selbstverwaltung mittelbare Staatsverwaltung, die ihre Gewalt von der des Staates ableitet7. Hoheitliche, die Ausübung von Gewalt einschließende Maßnahmen von Trägern der Selbstverwaltung, namentlich der Gemeinden, sind also nur rechtmäßig, wenn der Staat die Gemeinden ausdrücklich ermächtigt hat; weder Befehls-, noch Zwangs-, noch Strafgewalt der Gemeinden ist als eigene kommunale Gewalt legitimiert8. Entsprechend ist für den privaten Sektor, dessen Freiheit auf staatlicher Gewährleistung, dem vom Staat garantierten status negativus beruht, und im Prinzip selbst für Gliedstaaten eines Bundesstaates zu argumentieren. „Multilevel governance“ kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten, dass auch auf unteren Ebenen verwaltet und insofern mittelbar regiert wird. Aber die auszuübende Gewalt ist die des Staates. Verwaltungswissenschaftlich mag dies konstatiert werden; aber eine juristische Relevanz des Mehrebenensystems wird dadurch nicht erreicht. Umgekehrt folgt daraus auch für Ebenen oberhalb des Staates, dass sie ihre Legitimation vom Staat ableiten, der über die von ihm einzugehenden Bindungen verfügt. Völkerrecht ist das von der Staatengemeinschaft gewollte, sei es durch Verträge, sei es durch Gewohnheit begründete Recht9. Es fi ndet seine Grundlage daher im Willen der beteiligten Staaten – und steht deshalb im Konfl iktfall zu deren Disposition. Selbst die durch eigene Rechtsmaterien organisierten internationalen Organisationen beruhen auf dieser Legitimation, mag diese im Einzelfall auch kaum mehr zu erkennen sein. Aber wenn der Versuch gemacht wird, eine supranationale Ebene als eigenständig zu begründen und, namentlich im Recht der Europäischen Union, die Unionsgewalt als selbständig neben der mitgliedstaatlichen zu verstehen10, stellt mitgliedstaatliches Beharren auf das Verfügungsrecht über die Verträge dem ein zwar 5 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1911 (Neudruck 1960), S. 435 ff., 481. Zur neueren Diskussion jetzt eingehend Schliesky (zit. Fn. 1), S. 57 ff., 123 ff.; Luzius Wildhaber, Sovereignity and International Law (1983), jetzt in: Wechselspiel zwischen Innen und Außen, Basel 1996, S. 19 ff., insb. 43 ff. 6 Hugo Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Festgabe Paul Laband, 1908, jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Tübingen 2009, S. 236 (239 ff.), hat diese Position als Ausgangspunkt seiner entgegengesetzten Auffassung identifi ziert (vgl. meine Einleitung zu Bd. 2, S. 56 f.). 7 Eingehende Diskussion dieser konzeptionellen Grundlage und der Alternativen bei Andreas Bovenschulte, Gemeindeverbände als Organisationsformen kommunaler Selbstverwaltung, Baden-Baden 2000, S. 46 ff., 483 ff. 8 So, aufgrund der erwähnten Diskussion, die heutige Kommunalrechtslehre, vgl. Martin Burgi, Kommunalrecht, 3. Aufl. München 2010, S. 11 ff., 197 ff. 9 Dazu, auch in Diskussion der konkurrierenden theoretischen Ansätze, Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. München 2004, S. 7 ff.; Norman Paech/Gerhard Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001, S. 331 ff.; Jörg Paul Müller/Luzius Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 3. Aufl. Bern 2001, S. 9 ff. 10 So in den früheren Europäischen Gemeinschaften und jetzt der Europäischen Union seit der in-
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praktisch wenig mehr bedeutsames, aber grundsätzlich kaum zu überwindendes Hindernis entgegen. In Deutschland haben die langwierigen Auseinandersetzungen um den Grundrechtsschutz gegenüber der Gemeinschaftsgewalt11 und deren Zuspitzung durch den Kontrollanspruch des Bundesverfassungsgerichts gegenüber Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene sowie deren Wahrnehmung durch die Unionsorgane, zuletzt anlässlich der deutschen Zustimmung zum Vertrag von Lissabon12, die Probleme des die Union bestimmenden Konzepts einer eigenständigen Unionsgewalt offenbar werden lassen und letztlich dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht den Souveränitätsbegriff als Kern des deutschen Verfassungsrechts qualifiziert hat. Völkerrechtliche, selbst supranationale Gewalt wird also auf die des Staates zurückgeführt – und damit als selbständige Ebene zumindest grundsätzlich in Frage gestellt13. Nach unten wie nach oben lässt diese Betonung des Gewaltmonopols des souveränen Staates zwar die Existenz weiterer Ebenen einer multilevel governance zu. Aber die Vorstellung einer Grundlage im staatlichen Recht schließt aus, dass diese Ebenen der staatlichen vergleichbar sein können. Delegation mittelbarer Staatsgewalt nach unten ist primär Exekutivgewalt und ihre dekonzentrierte Wahrnehmung, keine eigenständige Gewalt. Völker- und auch europarechtliche Aufgabenerfüllung beruht auf dem Zusammenwirken der auswärtigen Gewalt der beteiligten Staaten und mag diese bündeln, aber in der Wirkung keine eigene Ebene zu konstituieren. Dekonzentrations- wie Koordinationsebenen sind der staatlichen nicht vergleichbar. In beiden Richtungen ist eine Homogenität der Ebenen ausgeschlossen.
3. Das Bedürfnis nach Homogenität Dennoch ist in der geschichtlichen Entwicklung ein Bedürfnis nach Homogenität verschiedener Ebenen festzustellen. Es widerspricht den ideellen Rechtfertigungen der Herrschaftsformen wie auch praktischen Erfordernissen, wenn die bestimmenden Prinzipien für Herrschaft auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich sind. Wie soll Demokratie gedeihen, wenn sie auf lokaler Ebene als autoritäre, nur von oben – und sei es auch durch einen „demokratischen Zentralismus“ – legitimierte Herrschaft in Erscheinung tritt, Selbstregierung auf Selbstverwaltung reduziert und auch die „eigenen Angelegenheiten“ als deren Gegenstand als durch die staatliche Gewährleistung übertragen qualifiziert? Und wie soll sich ein Völkerrecht, ein „ius gentium“, entwickeln können, das nicht auf Zusammenwirken der Völker, sondern auf diplomatischen Absprachen beruht? Das Problem, in dieser allgemeinen Form selten formuliert, ist in der Sache und in den konkreten Einzelkonfl ikten so alt wie die sofern bahnbrechenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, namentlich Costa/ENEL, Rechtssache 6/64, Urteil vom 15. 7. 1964, Slg. 1964, S. 1141. 11 BVerfGE 37,271, erst nach langen Auseinandersetzungen abgemildert durch BVerfGE 73,339. 12 BVerfGE 89,155, zwar praktisch entschärft durch BVerfGE 102,147, aber im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123,267, auf das abschließend zurückzukommen ist, neuerdings auf die Spitze getrieben. 13 So führen maßgebliche Vertreter des Europarechts wie Rudolf Streinz, Europarecht, 8. Aufl. München 2008, S. 79 ff., den Vorrang des Europarechts nach wie vor auf die deutsche verfassungsrechtliche Ermächtigung zurück.
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Auseinandersetzung zwischen monarchischer und demokratischer Gewalt in der Neuzeit – es sei statt aller an die Diskussion um eine eigenständige Lokalgewalt im revolutionären Frankreich nach 178914 und um den bewusst so genannten Völkerbund15 sowie heute die Vereinten Nationen erinnert. Allerdings kann man diese Fragestellung durch die These vermeiden, heute sei jede Herrschaftslegitimation auf das Volk bezogen16. Dies gestattet, die Homogenität nicht mehr auf die Staatsform, sondern auf die innere Struktur des Volkes zu beziehen. In der Tat hat sich die Fragestellung in der neueren Diskussion teilweise in diese Richtung verlagert17. Grundlage dafür war allerdings eine Diskussion der Zwischenkriegszeit, die von Homogenität nur teilweise als Instrument des sozialen Ausgleichs sprach18, vor allem aber ein staatliches Monopol zur Definition von Homogenität des Volkes durch Abgrenzung von Freund und Feind vindizierte und damit die Ausgrenzung unerwünschter Volksteile – meist, aber nicht nur Minderheiten – ermöglichte19. Damit bedingen sich Legitimation durch das Volk und Bestimmung von dessen Homogenität gegenseitig, als Zirkelschluss. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Inhomogenitäten in Völkern deren Fähigkeit, sich staatlich zu organisieren, in Frage stellen. Aber solche Inhomogenitäten – bei denen zunächst an soziale Ungleichheiten zu denken wäre20 – , können auch und vor allem als Aufgaben politischer Gestaltung verstanden und meist durch diese überwunden werden 21. Insofern handelt es sich auch hier um ein wichtiges und interessantes Thema. Aber ein solcher Homogeni14 Dazu ist, gerade im Zusammenhang der folgenden Ausführungen, auf das Werk der Schülerin von Hugo Preuß, Hedwig Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Stuttgart 1928 (Neuausgabe Frankfurt 1989) zu verweisen; vgl. auch die eindringliche Darstellung bei Paech/Stuby (zit. Fn. 9), S. 72 ff., 75 f. 15 Plastisch der Titel von Robert de Traz, De l’Alliance des rois à la ligue des peuples, Paris; deutsch: Vom Bündnis der Könige zur Liga der Menschheit, Zürich 1935. 16 Das ist der Ausgangspunkt der Argumentation im eindringlichsten neuen deutschen Werk von Felix Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, Berlin 2008, S. 6 f., dazu im Folgenden. 17 So – mit umfassenden Nachweisen – Hanschmann, a.a.O., der freilich (S. 239 ff.) auch die rechtlichen Homogenitätsanforderungen gem. Art. 6, 7, 49 EUV (zu denen seit dem Lissabon-Vertrag namentlich auch Art. 2 EUV gehört) behandelt, aber davon unversehens in die Diskussion einer faktischen Wertegemeinschaft der Europäer – eines „Volkes“? – abgleitet. So wichtig diese Diskussion ist, sie kann weder verdrängen, noch ersetzen, dass das europäische Vertragswerk ganz konkrete Anforderungen an die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten stellt. 18 In diesem Sinn namentlich Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), jetzt in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 421 ff. 19 So namentlich Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Neuausgabe Berlin 1979, mit dessen Folgen sich Hanschmann a.a.O. eingehend auseinandersetzt – mit dem Ergebnis (S. 297 ff.) des „Abschieds vom Begriff der Homogenität“. Kritisch zu dieser Umdeutung des Volksbegriffs neuerdings auch Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010, insb. S. 185 ff. Zur eigenen Position und ihrer Diskussion darf ich auf Christa Bürger (Hrsg.), „Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht“, Frankfurt 1986 (es Bd. 1329) und dort speziell auf die Beiträge von Ulrich K. Preuß (S. 147 ff.), Peter Bürger (S. 170 ff.) und mir (S. 160 ff.) verweisen. 20 Das hat Hermann Heller in seiner in der vorletzten Anmerkung zitierten Schrift vorbildlich herausgearbeitet. 21 Vgl. Dian Schefold, Volk als Tatsache, Ideologie und politische Kultur, in: Alexander von Bormann (Hrsg.), Volk – Nation – Europa, Würzburg 1998, und die Diskussion durch Andreas Fisahn, Demokratie in Europa – ein Volk oder das Volk?, in: Andreas Bovenschulte u. a. (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, Festschrift Dian Schefold, Baden-Baden 2001, S. 131 ff.
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tätsbegriff, der diese Aufgabe und Chance außer Acht lässt, ist willkürlich, für die Verfassungslehre unergiebig 22 und keine Auf hebung, sondern gerade eine Bestätigung des Gegensatzes zwischen staatlicher Souveränität und entgegengesetzten Legitimitätsansprüchen. In Wirklichkeit kennt jedoch das – staatliche und europäische – Verfassungsrecht nach wie vor ein rechtliches Homogenitätsproblem, aber es bezieht sich auf die rechtliche Ordnung und die Homogenität der Verfassungssysteme. Nur darauf ist im Folgenden einzugehen. Besonders tritt dieses Bedürfnis nach Homogenität in der Diskussion um die Staatenverbindungen, vor allem den Bundesstaat, hervor. Insofern ist die deutsche Verfassungsentwicklung dadurch geprägt23. Der Grund dafür wurde bereits mit dem Wiener Kongress von 1814/15 und der Heiligen Allianz gelegt. Beruhte diese, entsprechend den Grundgedanken der Restauration, auf dem religiös begründeten Gedanken monarchischer Legitimität, so musste sie darauf achten, diesem Prinzip auch europaweit Nachachtung zu verschaffen. Das galt für die Signatarstaaten der Wiener Kongressakte und die weiteren europäischen Mächte ebenso wie im besonderen Kapitel der Akte, das die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 enthält: auch der Deutsche Bund und seine Bundesglieder sollten, auf beiden Ebenen, das Prinzip monarchischer Legitimität verwirklichen, mit der einzigen Ausnahme der „freien Städte“; aber auch die Stellung von deren Regierungen war der der Fürsten nachgebildet. Nach der Deutschen Bundesakte war diese Struktur noch eher politische Maxime, freilich durch die Stellung der „Mitglieder“ des Bundes, die Bundesfürsten, gewährleistet, die sich gegenseitig ihre Besitzungen garantierten 24. Aber nach den ersten Anzeichen für revolutionäre Tendenzen ergingen zu deren Bekämpfung nicht nur die Karlsbader Beschlüsse (1819), sondern eine die Bundesakte ergänzende Wiener Schlussakte vom 15. Mai 182025 führte das Modell näher aus. Jetzt sollte der Bund, als „völkerrechtlicher Verein der deutschen souverainen Fürsten und freien Städte“ (Art. 1), für gegenseitige Garantie der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der Gliedstaaten und der äußeren und inneren Sicherheit dienen. Das wurde im einzelnen geregelt. Dabei wurden der Bundesversammlung, also dem Organ zur Vertretung der einzelstaatlichen Fürsten, umfassende Kontroll-, Auslegungs-, Entscheidungs- und Eingriffsrechte vorbehalten: der „Verein“, also der Bund, sorgte durch 22
So auch Hanschmann, a.a.O., S. 297 ff. Vgl. nächst der zitierten Darstellung durch Hanschmann insb. H. P. Ipsen, Über Verfassungshomogenität in der Europäischen Gemeinschaft, Festschrift Günter Dürig, München 1990, S. 159 ff.; Theodor Maunz, Verfassungshomogenität von Bund und Ländern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl., Bd. 4, Heidelberg 1990, § 95 S. 443 ff.; Armin Dittmann, Verfassungshoheit der Länder und bundesstaatliche Verfassungshomogenität, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. 6, Heidelberg 2008, § 127 S. 201 ff.; Peter Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips und ihre Ausgestaltung im Grundgesetz, Berlin 1967; ferner aus italienischer Sicht, aber auf breiter rechtsvergleichender Grundlage mit Analyse des deutschen Rechts Marco Olivetti, Nuovi statuti e forma di governo delle regioni, Bologna 2002, S. 44 ff. 24 Deutsche Bundesakte vom 8. 6. 1815, bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. Stuttgart 1978, S. 84 ff.: Die Präambel und Art. 1 sprechen von einem Bund der „souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands“, Art. 2 von der äußeren und inneren Sicherheit und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten. 25 Abgedruckt bei Huber, a.a.O., S. 91 ff., danach die folgenden Zitate. 23
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die Vertreter seiner fürstlichen Mitglieder für die innere Ordnung. Zwar hatte die Bundesakte (Art. 13) in den Einzelstaaten die Einrichtung sog. „landständischer Verfassungen“ gewährleistet, und diese, wenn auch in ihrer Tragweite sehr umstrittene Garantie sollte aufrecht erhalten bleiben und wurde in einigen Richtungen präzisiert (Art. 53–62 Wiener Schlussakte). Aber dazu gehörte vor allem die Garantie der Rechte der Fürsten, die durch die landständische Verfassung nicht in ihrer grundsätzlichen Stellung als Träger der gesamten Staatsgewalt und in ihren bundesmäßigen Verpfl ichtungen beeinträchtigt werden durften (Art. 57/58) 26. Die in diesem Rahmen erlassenen einzelstaatlichen Verfassungen blieben im wesentlichen bis 1918 in Kraft, und das 19. Jahrhundert ist von zahlreichen Konfl ikten um die Aufrechterhaltung des monarchischen Prinzips in den Einzelstaaten geprägt. Auch die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reichs von 1871 änderte an der durch die Zentralgewalt zu gewährleistenden Homogenität der Einzelstaaten wenig: nach wie vor waren es deren Fürsten, die sich zum Reich vereinten und in diesem durch den Bundesrat entscheidenden Einfluss ausübten, auch bei Pfl ichtverletzungen eines Einzelstaats (Art. 19 RV 1871) und bei Verfassungsstreitigkeiten in einem Einzelstaat (Art. 76 II RV 1871). Nach diesen Vorbildern lag es nahe, dass auch demokratische Bundesstaaten auf Homogenität von Bundes- und Gliedstaaten-Ebene achten mussten. Schon die amerikanische Unionsverfassung, nach Regelung der republikanischen Struktur der Union, „shall guarantee to every state in this union, a republican form of government“27. Dem folgte unter anderen die schweizerische Bundesverfassung seit 184828. Für die demokratische Rekonstruktion Deutschlands nach 1918 auf Reichsebene war entscheidend, dass sie nicht durch gegensätzliche Herrschaftsformen in den Ländern vereitelt werden konnte. Deshalb schrieb Art. 17 der Weimarer Verfassung den Ländern und Gemeinden bestimmte republikanische Mindesterfordernisse vor und gab damit das Vorbild des heutigen Art. 28 GG. Zugleich trat damit eine Tendenz des Homogenitätsgebots in Erscheinung, nicht nur das Nebeneinander von Zentralstaat und Gliedstaaten, sondern auch weitere Ebenen, zunächst die Gemeinden, zu erfassen. In der Tat war die Erneuerung der bürgerschaftlichen kommunalen Selbstverwaltung durch den Freiherrn vom Stein im Rahmen der preußischen Reformen der Jahre um 1808 ein Fremdkörper im Rahmen des monarchischen Staates, und die Reformer zielten darauf ab, das konstitutionelle Element der Selbstverwaltung auch auf die Ebenen von Kreisen, Provinzen und preußischem Gesamtstaat zu erstrecken 29. Mit dem Scheitern dieser Konzeption während der Restaurationsperiode blieb die preußische Mehrebenenverwaltung in sich widersprüchlich. Die bürgerschaftliche Selbstverwaltung setzte sich auf den Ebenen von Kreis und Provinz nur ganz unvollkommen durch und erhielt durch die von der Monarchie geprägte staatliche Verwaltung, vor allem der Regierungsbe26 Zur grundlegenden Bestimmung des Art. 57 vgl. Dian Schefold, Konstitutionelle Monarchie als Staatsform der Romantik?, in: Alexander von Bormann (Hrsg.), Ungleichzeitigkeiten der Europäischen Romantik, Würzburg 2006, S. 205 ff. (220), m.w. Nachw. 27 Art. IV sect. 4 US-Verf.; dazu eingehend Olivetti (zit. Fn. 23), S. 52 mit Fn. 178. 28 Art. 6 Bundesverfassung i.d.F. 1848 und 1874, heute Art. 51 in der Fassung vom 18. 4. 1999. 29 Grundlegend zu diesem Konfl ikt Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 2. Aufl. Stuttgart 1975, S. 290 ff.; darauf wird zurückzukommen sein.
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zirke, auf zentraler Ebene Preußens, und durch die schon erwähnte Homogenität mit der monarchischen Struktur auch des Reichs ein übermächtiges Gegenstück, das die Städte gängelte, in den monarchischen Staat hineinzwang und damit in der Entwicklung behinderte. Gewiss bildeten die Städte auch einen Gegenpol zur Monarchie, so dass man von der Zersetzung des Staatsgefüges des Zweiten Reichs, vom „Kampf des Bürgers gegen den Soldaten“ sprechen konnte30. Aber in diesem Kampf war die Monarchie bis 1918 stärker. Von da her erklärt sich, dass die Weimarer Verfassung das demokratische Prinzip auch für die Gemeinden vorschreiben musste – wobei sie auf eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Gemeindespitze verzichtete und damit, in Kontinuität zur 1808 getroffenen Regelung und mit Auswirkung bis zur Gegenwart, der Stabilität der Gemeindeverwaltung den Vorzug gab. Andererseits gab sie mit ihrer Ordnung des Wirtschaftslebens dem Gesichtspunkt „menschenwürdigen Daseins für alle“ (Art. 151 I) Raum, gestattete „Mitwirkung aller schaffenden Volksteile“ (Art. 156 II) an einer wirtschaftlichen Selbstverwaltung und sah zu diesem Zweck Arbeiter- und Wirtschaftsräte vor (Art. 165). So wenig ausgereift und folgenreich diese Regelungen waren, sie enthielten zumindest das Konzept einer Homogenität auch von politischer und wirtschaftlicher Herrschaft, und sie enthalten die Grundlage für unter dem Grundgesetz eingeführte Mitbestimmungsregelungen. In der Konsequenz dieser Erstreckungen des Homogenitätsprinzips liegt, dass mit zunehmendem Gewicht der internationalen Organisationen auch deren demokratische Legitimation zum Problem wird. War das klassische Völkerrecht als Instrument der auswärtigen Gewalt der Staaten, der „federative power“ im Sinn John Lockes31, eher auf Monarchen und ihnen verantwortliche Minister zugeschnitten, so ergab sich durch die Demokratisierung der Völkerrechtssubjekte das Problem, auch die Akteure auswärtiger Politik demokratisch zu kontrollieren. Als Kontrolle durch nationale Organe, sei es parlamentarisch verantwortliche Regierung, Volksvertretung oder sogar Volk, führte dies zwangsläufig zu einer Erschwerung internationaler Vereinbarungen und Kooperationen. Daher stellte sich schon im Bereich des allgemeinen Völkerrechts die Aufgabe, internationaler Öffentlichkeit, vor allem in der Form von Nichtregierungsorganisationen (NGO), Einfluss und Kontrollrechte einzuräumen32. Erst recht aber warf die supranationale Organisation entsprechende Probleme auf, die am Beispiel Europas zu benennen sind. Einerseits betont die Europäische Union zunehmend die Homogenität der Mitgliedstaaten unter sich und mit der Union33. Die Unsicherheiten und Fehlentwicklungen bei der Durchsetzung dieses Grundsatzes angesichts der Österreich-Krise um 200034 sprechen nicht gegen den 30 So Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches. Der Kampf des Bürgers gegen den Soldaten, Hamburg 1934. 31 John Locke, The Second Treatise of Government, 1690, Kap. XII Nr. 145–148. 32 Dazu etwa Knut Ipsen, Völkerrecht (zit. Fn. 9), S. 92 ff. 33 Nach gegenwärtigem Rechtszustand namentlich Art. 2, 6, 7, 49 EUV, durch den Vertrag von Lissabon erheblich geändert. 34 Dazu die Hinweise bei Peter Häberle, Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen, Tübingen 2010, S. 144, insb. betr. VVDStRL 60, 2001, S. 404 f., 407, 411 und die scharfe Kritik bei Günther Winkler, jetzt konkretisiert und erweitert durch Kritik auch am Europarat: Günther Winkler, Der Europarat und die Verfassungsautonomie seiner Mitgliedstaaten, Wien 2005. Vgl. demgegenüber die differenzierte Kritik der „drei Weisen“, Martti Ahtisaari, Jochen A. Frowein, Marcelino Oreja, EuGRZ 2000, S. 404 ff., und die treffende Charakterisierung der Problematik durch Stepahn Breiten-
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Grundsatz, begründen aber, dass, inwiefern und wie dieser eine Präzisierung erfordert und inzwischen erfahren hat. Andererseits wird die demokratische Legitimation supranationaler Institutionen, vor allem die Stellung des direkt gewählten europäischen Parlaments, zur Schlüsselfrage für ein Funktionieren europäischer Einigung.
4. Zum Beitrag von Hugo Preuß Die bisherigen Ausführungen sind bewusst allgemein, mit Rückgriff auf historische, speziell verfassungsgeschichtliche Fakten formuliert. Damit kann und will ich jedoch nicht leugnen, dass meine Darstellung weithin durch meine Beschäftigung mit den Lehren von Hugo Preuß geprägt und durch seine Forschungsergebnisse entscheidend angestoßen worden ist. In der Tat scheint mir, dass die staatstheoretischen Überlegungen von Hugo Preuß das Verständnis aktueller Probleme, vor allem des Homogenitätsprinzips und des Mehrebenensystems, erleichtern können. Der Homogenitätsbegriff, den Hugo Preuß entwickelt hat, ist zunächst allerdings stärker theoretisch und formal gefasst als der hier von mir verwendete. Für Preuß ist, seit seiner Habilitationsschrift über „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“35, entscheidend die Grundlage in der von Otto von Gierke entwickelten Genossenschaftstheorie36. Entgegen den älteren patrimonialstaatlichen, durch die erwähnten Ziele der Restaurationsepoche verklärten Herrschaftskonzeptionen geht es Preuß darum, Herrschaft aus dem Zusammenwirken und der Verbindung einzelner Personen – Individuen oder bereits kollektiver Gliedpersonen – zu einer Gesamtperson zu erklären und zu legitimieren. Dabei begnügen sich Gierke und Preuß nicht mit der juristischen Technik, auch bestimmten Personengruppierungen juristische Persönlichkeit zuzuschreiben und diese Persönlichkeit, nicht den Herrscher als Individuum als Träger der Herrschaft zu betrachten37. Sondern die Gesamtperson bündelt die Willen der Gliedpersonen und beansprucht daher Herrschaftsgewalt über sie. In diesem Gegensatz wirkt sich der Unterschied aus zwischen römisch-rechtlicher Themoser, Bernhard Ehrenzeller, Marco Sassoli, Walter Stoffel, Beatrice Wagner Pfeifer, Vorwort, zu: Human Rights, Democracy and the Rule of Law, Liber Amicorum Luzius Wildhaber, Baden-Baden 2007, S. XI (XIV f.). 35 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, Neudrucke Aalen 1964, Dillenburg 1999; das Buch ist daher nicht in Hugo Preuß, Gesammelte Schriften (Hrsg. Detlef Lehnert, Christoph Müller), Tübingen, Bd. 1 (eingeleitet von Lothar Albertin), 2007, Bd. 4 (eingeleitet von Detlef Lehnert), 2008, Bd. 2 (eingeleitet von Dian Schefold), 2009 aufgenommen, aber in meiner Einleitung zu Bd. 2 (S. 1 ff., insb.10–25) eingehend in seiner Bedeutung für die gedankliche Entwicklung von Preuß dargestellt worden; dort auch weitere Literaturnachweise. Zum Verständnis von Hugo Preuß nach wie vor grundlegend Günther Gillessen, Hugo Preuß (Diss. Freiburg 1955), Berlin 2000; Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998; Sandro Mezzadra, La costituzione del sociale. Il pensiero politico e giuridico di Hugo Preuss, Bologna 1999. 36 Dazu Karsten Malowitz, Zwischen Kaiserreich und Republik. Hugo Preuß und Otto von Gierke, in: D. Lehnert/Chr. Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, Baden-Baden 2003, S. 123 ff. 37 Im Sinn einer Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates, wie sie auf der Grundlage von Eduard Albrecht durch Carl Friedrich Gerber formuliert worden ist, dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 332 ff.
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orie, die die juristische Person als Fiktion der natürlichen Person gegenüberstellt, und germanisch-rechtlicher Theorie, die Individuum, Gliedperson und Gesamtperson in gleicher Weise als Person versteht 38. Auch wenn dieser Gegensatz von heute her gesehen im späten 19. Jahrhundert übermäßig betont worden ist 39, hat die Genossenschaftstheorie das Verdienst, wenn auch vielleicht um den Preis geringerer juristischer Präzision, das Zusammenwirken zur Gesamtperson genauer zu beschreiben und insofern die Verbindung zwischen sozialen Gegebenheiten und juristischer Begriffsbildung besser zu erfassen. Durch die Bezogenheit ihrer Herrschaft auf ein bestimmtes Gebiet erhält eine Gesamtperson zusätzlich eine besondere Qualität, als Gebietskörperschaft. Dieses begriffl iche Instrumentarium, die Methode und das Ziel der Arbeit sind insofern bei Preuß seit der Habilitationsschrift konstant. Allerdings blieb die Homogenität der Gebietskörperschaften, einerseits der Gemeinde, andererseits von Staat und Reich zunächst formal, da Preuß auch die Monarchen von Staat und Reich als Organe auffasste und es nur ablehnte, ihre Herrschaftsansprüche als patrimonialstaatlich zu deuten. Auch der von Preuß von Anfang an vertretenen Auffassung, die Völkerrechtsgemeinschaft sei ebenfalls als eine Gebietskörperschaft zu verstehen, standen zunächst die Souveränitätsansprüche der Staaten entgegen, mochte Preuß auch, entgegen seinem Lehrer Gierke, den Souveränitätsanspruch bestreiten40. Aber in beiden Richtungen entwickelte Preuß sein theoretisches Modell weiter. Für die Völkerrechtsgemeinschaft wandte er sich früh gegen deren Leugnung durch die Vertreter einer Lehre absoluter staatlicher Souveränität. Er zeigte demgegenüber auf, wie die moderne wirtschaftliche Verflechtung die Geltung von Regelungen erzwinge, die dem Völkerrecht Effektivität verleihe41. Wie sich Staat und Recht gegenseitig bedingten, der Staat nicht ohne Recht, Recht nicht ohne staatliche Gewalt denkbar sei, so erfordere die Notwendigkeit internationaler Regelungen und die Einsicht in deren Notwendigkeit, also das Rechtsbewusstsein der Rechtsunterworfenen, dass das Recht der Völkerrechtsgemeinschaft einen verbindlichen, zwingenden Charakter habe. Diese These, auch auf eine Einschränkung der kriegerischen Konfl iktlösungen ausgerichtet, wirkte auf Preuß’ Haltung im und zum Ersten Weltkrieg ein42 und beeinflusste danach die Regelung eines Vorrangs des Völkerrechts vor dem innerstaatlichen Recht nach Art. 4 der Weimarer Reichsverfassung, 38 Diese Kritik an der romanistischen Fiktionstheorie hat Preuß ständig betont, vgl. etwa das auch separat veröffentlichte methodische Kap. VI der Habilitationsschrift, jetzt Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 79 (86 ff.), die Antrittsvorlesung, jetzt Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 102 (106, 113), die Abhandlung zur Organpersönlichkeit, jetzt Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 131 (135 ff., 146 ff.) und die folgende Replik auf Schlossmanns romanistische Kritik, jetzt Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 162 ff. 39 So die Kritik an der Betonung der Fiktionstheorie bei Jörs/Kunkel/Wenger, Römisches Recht, 3. Aufl. Berlin u. a. 1949, S. 74 (§ 43 mit Fn. 3). 40 So schon in Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (zit. Fn. 35), S. VI, 100 ff. 41 Hugo Preuß, Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens (1891), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 426 ff. 42 Vor allem: Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 383 ff.; für die dadurch ausgelöste Kontroverse vgl. einerseits die positive Rezension durch Gerhard Anschütz, Preußische Jahrbücher 164, 1916, S. 339 ff.; andererseits die bösartige Kritik durch Gustav Schmoller, Obrigkeitsstaat und Volksstaat, ein missverständlicher Gegensatz, Schmollers Jahrbücher 40/2, 1916, S. 423 ff.
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dem Vorläufer des heutigen Art. 25 des Grundgesetzes, wenn auch die Einschränkungen dieser Regelung den Grundgedanken von Preuß verwässerten. Auch im innerstaatlichen Bereich gelangte Preuß, zunächst durch seine Tätigkeit in der kommunalen Selbstverwaltung43, dann durch seine Untersuchungen zur Organpersönlichkeit44 und schließlich durch die Beschäftigung mit der Verwaltungsreform in Preußen45, zu einer differenzierteren Betrachtung der Gebietskörperschaft und ihrer Organe. Die zunächst sehr allgemeine Aussage, dass die Gesamtperson durch ihre Organe Herrschaft über die Gliedpersonen ausübe, stieß auf das spezifische Problem der Organbestellung. Sprach Preuß in der Habilitationsschrift und in den dazu zeitnahen Veröffentlichungen noch sehr abstrakt von einem Willen der Gesamtperson, auch einem Gemeinwillen, ohne dessen Träger und Verfahren der Herausbildung zu präzisieren, so wurde diese Problematik in der Folge konkreter. Die Organstellung kommunaler Amtsträger konnte auf die durch die Städteordnung ausgestaltete Willensbildung in der örtlichen Gebietskörperschaft zurückgeführt werden. Soweit staatliche Behörden darauf Einfluss hatten, wurde dieser als im Rahmen von Selbstverwaltung systemwidrig qualifiziert und deshalb soweit wie möglich auf ein Bestätigungsrecht nach Maßgabe und Kriterien des Gesetzes reduziert46. Aber damit brach der Gegensatz zwischen kommunaler Republik und staatlicher – im Gliedstaat Preußen wie im Reich – Monarchie auf. Preuß hat diesen Widerspruch für die Zeit bis 1918 hingenommen. Bei aller Kritik vor allem an den Landesfürsten, der Ablehnung einer patrimonialstaatlichen Deutung von deren Herrschaftsmacht und dem Ruf nach Verfassungsstaatlichkeit sah er im Kaiser, in Fortsetzung der Tradition des römischen Reichs und entgegen der mittelalterlichen Bindung des Kaisertums an ein Fürstenhaus – konkret: Habsburg – noch 1917 den Hoffnungsträger einer Einheit des Reichs, und im von der Paulskirche begonnenen, durch Bismarck verwirklichten Kaisertum im Verfassungsstaat die Chance dieser Staatsform und ein – insofern homogenes – Korrelat zur verfassungsstaatlichen Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene47. Auch wenn diese Konstruktion, von heute her gesehen, eher künstlich erscheint, war sie doch die Hoffnung des Liberalismus im Kaiserreich. Allerdings stand diese Hoffnung in diametralem Gegensatz zur Analyse monarchischer Herrschaft in Preußen, die Preuß in seinen Schriften zur preußischen Ver43 Dazu grundlegend Sieg fried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965; die Dokumentation und einleitende Würdigung der diesbezüglichen Arbeiten wird in Bd. 5 der Gesammelten Schriften erfolgen. 44 Über Organpersönlichkeit (1902), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 131 ff., sowie: Stellvertretung oder Organschaft? Eine Replik (1902), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 162 ff. 45 Dafür grundlegend einerseits Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (1910), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 605 ff., andererseits die im Auftrag der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin verfasste Denkschrift zur preußischen Verwaltungsreform (1910), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 645 ff.; dort S. 581–763 auch diese Hauptarbeiten ergänzende Schriften. 46 So, auf der Grundlage der erwähnten Arbeiten zur Organpersönlichkeit, im umfangreichen Buch über Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902 (Neudruck Genschmar 2006, daher nicht in die Gesammelten Schriften aufgenommen); das zentrale, auch separat veröffentlichte 7. Kapitel über Geschichte des Bestätigungsrechts in Preußen in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 527 ff. 47 Hugo Preuß, Die Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (1917), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 616 ff.
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waltungsreform seit 1908 entfaltete. Der von Preuß weiter entwickelten Lehre Gierkes von gebietskörperschaftlicher Selbstverwaltung auf allen Ebenen48 widersprachen wesentliche Elemente der preußischen Verwaltungs- und damit mittelbar auch Verfassungsstruktur: zunächst die erheblichen Eingriffsrechte in die dezentrale Verwaltung, die Preußens Regierung nach wie vor hatte; sodann die rein bürokratische, eben nicht gebietskörperschaftliche Verwaltung der Regierungsbezirke, die zwischen den Ebenen von Provinz und Kreis bestanden und erhebliche Verwaltungskompetenzen hatten; ferner die weitgehend an ältere feudale Strukturen anknüpfenden Elemente der Provinzial- und der Kreisverfassung, die der Eigenart einer Gebietskörperschaft schwerlich gerecht wurden, und die ebenfalls unter Selbstverwaltungsaspekten problematische Stellung der Oberpräsidenten und Landräte als staatliche Beamte; schließlich die Schwäche der – erst 1891 gesetzlich geregelten – Landgemeinden, die dem Anspruch einer Selbstverwaltung auch der Dörfer bei weitem nicht gerecht wurde49. Mögen einzelne dieser Aspekte heute primär von historischem Interesse erscheinen; die meisten wirken bis in die gegenwärtigen Erörterungen um Verwaltungsreform, Bürgernähe und Demokratisierung herein und lassen Preuß’ jetzt hundert Jahre alte Darlegungen nach wie vor aktuell erscheinen. Für Preuß bewirkte die Zusammenschau von kommunalpolitischer Erfahrung, deren theoretischer Reflexion und Analyse der Verwaltungsstrukturen, dass sich sein Blickwinkel verschob. Zwar blieb die Gebietskörperschaft im Gegensatz zum Patrimonialstaat grundlegende Kategorie. Aber die genauere Betrachtung der beide bestimmenden Strukturen ließ als zentrales Merkmal der Gebietskörperschaft den Volksstaat, als sein Gegenbild den Obrigkeitsstaat50 erscheinen. Beide stehen im Widerspruch zu einander. Aber: „Ist der ‚Staat‘ die Organisation des ‚national selfgovernment‘, so sind beide einander homogen, jener Gegensatz der Wesensfremdheit existiert nicht“51. Nur wenn der Volksstaat, auf die kommunale Selbstverwaltung aufbauend, diese auch auf staatlicher Ebene verwirklicht, lässt sich von einer wahrhaften Staatsreform sprechen. In den Grundlagen der Lehre von Hugo Preuß angelegt, wird diese These schon vor dem Ersten Weltkrieg expliziert; sie bildet dann die Grundlage des Rufs nach volksstaatlicher Erneuerung im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Verfassung. Eben deshalb musste diese der Homogenität von Gemeinde, Land und Reich solches Gewicht beilegen. Homogenität der Mehrebenendemokratie lässt sich daher als zentrale, wenn auch in den frühen Schriften noch vorsichtig formulierte Konsequenz der Preuß’schen Lehre verstehen52. 48 Hugo Preuß, Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (1910); jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 605 ff.; vgl. oben Fn. 45. 49 Dazu demnächst: Dian Schefold, Ungelöste Probleme der Verwaltungsreform und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Detlef Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln 2011. 50 Der Begriff taucht zwar schon 1889 in der Kritik am Souveränitätsbegriff in Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (S. 136) auf, aber zunächst ohne das volksstaatliche Gegenstück. 51 Hugo Preuß, Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und Preußen (1913), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 732 (749). 52 Wenn Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (zit. Fn. 19), S. 286 ff. bei Preuß Zurückhaltung gegenüber dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht konstatieren will, so trifft dies in gewissem Maß für die Frühschriften zu, unterschlägt aber die zumindest seit 1902 und damit lange vor
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5. Verhältnis zu Kelsens Rechtslehre Die Entwicklung dieser Lehre bis zur deutlichen Ausformulierung um 1910 sticht umso mehr ins Auge, weil sich unmittelbar danach, im Jahr 1911, der Beginn eines Methoden- und Richtungsstreits datieren lässt, der die deutsche Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat. Die Schriften von Hans Kelsen, Carl Schmitt, auch Erich Kaufmann und wenig später Rudolf Smend und Hermann Heller signalisieren eine neue Phase der Theoriebildung, die die Diskussionen der Weimarer Republik bestimmen sollte. Gerade der Verfasser von deren Verfassungswerk lässt sich in diese Diskussion schwer einordnen; denn seine Theorieformulierung geht, wie gezeigt, auf die Erarbeitung einer dem romanistischen Einfluss entgegengesetzten genossenschaftlichen Staatstheorie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zurück, wenn auch einige praktischen Folgerungen erst jetzt greif bar werden. Daher entspricht es der historischen Genese wohl eher, wenn Preuß – wie Gierke, Laband, Jellinek, Hänel, Rosin – einem früheren Methoden- und Richtungsstreit zugeordnet wird53. In der Tat distanzieren sich die Vertreter der nach 1911 entstandenen Richtungen von der älteren Positivismus-Argumentation. In diesem Sinn klafft ein schroffer Gegensatz zwischen der seinswissenschaftlichen Beschreibung und Analyse von Gebietskörperschaften durch Hugo Preuß und der radikalen Kritik an seinswissenschaftlichen Begründungen des Rechts durch Hans Kelsen, und entsprechend hat dieser auch Gierke und damit den diesem folgenden Preuß scharf kritisiert54. Aber nähere Betrachtung zeigt auch Parallelen. Einerseits insistiert Preuß, verbunden mit der Genese der Gesamtperson, ständig darauf, dass durch deren Bildung sich auch Recht bilde. Insofern ist der Staat zwar für Preuß – anders als für Kelsen – nicht deckungsgleich mit dem Recht, aber ohne Recht ebenso wenig denkbar, wie Recht ohne Staat existieren kann. Mehr noch, da der Staat in das Mehrebenensystem der Gebietskörperschaften, von der Gemeinde zur Weltgemeinschaft, eingebunden ist, wird es zum Ziel, „das Spinnennetz des veralteten, zeitwidrigen Souveränitätsbegriffs zu zerreissen“55. Keine Ebene kann Souveränität beanspruchen, alle sind dem – mit ihnen gebildeten und durch sie geprägten – Recht unterworfen. Der niederländische Gelehrte Hugo Krabbe hatte diese Situation, auch unter Heranziehung von Preuß’ Ideen, als „Rechtssouveränität“ bezeichdem Weltkrieg einsetzende Entwicklung; dazu im Einzelnen meine Rezension auf www.hugo-preußstiftung.de. 53 Als ersten Versuch einer solchen Einordnung vgl. Dian Schefold, Le costituzioni ed i due confl itti dei metodi e delle tendenze, in: Il diritto costituzionale fra interpretazione e storia. Liber amicorum in onore di Angel Antonio Cervati, Rom 2010, Bd. 5, S. 29 ff. Zu den Problemen, die sich ergeben, wenn mit der überaus fruchtbaren Untersuchung von Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (zit. Fn. 19), Hugo Preuß in diesen Zusammenhang gestellt wird, demnächst Dian Schefold, Demokratische Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik. Überlegungen zu einem neuen Forschungsfeld. Festschrift Hans Peter Bull, Berlin 2011 (im Druck). 54 Dazu und zum Folgenden auf der Grundlage von Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, 2. Aufl. 1923, insb. S. 164 ff., 169, 695 ff., vgl. auch ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2. Aufl. Tübingen 1928 (Neudruck Aalen 1960), die Darstellung durch Stanley L. Paulson, Hugo Preuß und Hans Kelsen – überraschende Parallelen, in: Chr. Müller (Hrsg.), Gemeinde, Stadt, Staat, Baden-Baden 2005, S. 65 (67, 78 ff.). 55 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (1889), S. VI, weiter ausgeführt S. 100 ff.
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net, und Preuß hatte Krabbes Buch positiv rezensiert, bis hin zur Bemerkung, dass dessen These „den springenden Punkt schärfer herausarbeitet“56. Andererseits ist mit dieser These ein entscheidender Schritt hin zu Kelsens Reiner Rechtslehre getan. Kelsen hat zwar in seinen „Hauptproblemen“ sowohl Preuß als auch Krabbe kritisiert, und in der Tat ist die methodisch unterschiedliche Herangehensweise – hier Konstruktion einer einheitlichen, letztlich auf einer Grundnorm beruhenden Rechtsordnung als Sollensordnung, dort Beschreibung der Herausbildung der Rechtsordnung auch als seinswissenschaftliches Element – nicht zu bestreiten57. Aber es bleibt, parallel zum Mehrebenensystem der Gebietskörperschaften, das einheitlich zu sehende System der sie bestimmenden Rechtssätze. Zusätzlich mag in Betracht gezogen werden, dass Kelsen in seiner politischen Tätigkeit und in deren wissenschaftlicher Begründung die Theorie einer Bildung der Gesamtperson als charakteristische Eigentümlichkeit der Demokratie bezeichnet und diese in Verbindung zu seinem Wertrelativismus gebracht hat58. Insofern lässt sich auch Kelsens Theorie als Lehre von der relativistischen Homogenität von Demokratien in einem durch eine einheitliche Rechtsordnung geprägten Mehrebenensystem verstehen.
6. Folgerungen Auf der Grundlage beider Theorieansätze und im Einklang mit der eingangs dargestellten Entwicklung lässt sich heute postulieren, dass die Ebenen in Mehrebenensystemen der Homogenität bedürfen. Dies gilt zunächst für kommunale Selbstverwaltung und bundesstaatliche Ordnungen im Verhältnis zu einander und zum Gesamtstaat. Bei allen quantitativen, die Art der zu erfüllenden Aufgaben betreffenden und daraus resultierenden Besonderheiten der Organisation ergeben sich notwendigerweise gemeinsame Grundzüge, wie sie in Art. 17 der Weimarer Verfassung verankert wurden und heute durch Art. 28 GG vorgegeben sind. Allerdings, Homogenität bedeutet nicht Uniformität; sie schließt sachbezogene Abweichungen nicht aus. Das Schwergewicht auf Verwaltungsaufgaben in der kommunalen Ebene mag eine stärkere Stabilität der laufenden Verwaltung erfordern und daher einer vollständigen Parlamentarisierung der Gemeinden entgegenstehen59. An56 Hugo Krabbe, Die Rechtssouveränität, Groningen 1906, dazu die Rezensionsabhandlung (1908) jetzt in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 229 ff. (das Zitat S. 231). 57 So dann ausführlicher Kelsen, Das Problem der Souveränität (zit. Fn. 54), insb. S. 77 ff. Vgl. die differenzierte Darstellung bei Michael W. Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt, Baden-Baden 1995, insb. S. 25 f. 58 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929, S. 11 f., 98 ff. Dazu mit Nachweisen Stanley L. Paulson, zit. Fn. 54, sowie in Juristenzeitung 2007, S. 1148 f.; Horst Dreier, Hans Kelsen (1881–1973), in: H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 705 ff.; Groh (zit. Fn. 19), S. 107 ff., 129 ff. 59 Insofern charakteristisch Art. 17 WV, der in Abs. 1 die parlamentarische Verantwortung der Landesregierung vorschrieb, in Abs. 2 von einer entsprechenden Bestimmung für die Gemeinden jedoch absah; vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. Berlin 1933, zu Art. 17 Anm. 7, 8, S. 138 f. Das Grundgesetz ist insoweit auch hinsichtlich der Landesebene weniger strikt, während umgekehrt die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung vom 15. 10. 1985, für Deutschland übernommen durch Gesetz vom 22. 1. 1987 (BGBl. II, S. 65), in Art. 3 II fordert, dass die Gemeindevertretungen über „Exekutivorgane verfügen können, die ihnen gegenüber verantwortlich
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dererseits liegt, jedenfalls nach der in Deutschland vorherrschenden Meinung, für die kleineren Organisationseinheiten die Einführung unmittelbar demokratische Elemente näher als im Gesamtstaat, für den, im Gegensatz zu allen Neuerungen auf Kommunal- und Landesebene, bisher die Einführung direktdemokratischer Elemente nicht die erforderliche Mehrheit gefunden hat60. Damit vermindert sich auf kommunaler Ebene der Bedarf nach parteienstaatlichen Einflüssen und der Prägung des Wahlrechts durch diese, etwa durch Sperrklauseln gegen kleine Parteien61. Die Bedeutung der auswärtigen Gewalt und gesamtstaatlicher Repräsentation macht für den Gesamtstaat die Frage eines besonderen Staatsoberhaupts dringender als für die andern Ebenen62. Schließlich gebieten unterschiedliche Traditionen Rücksicht, etwa in Fragen wie der territorialen Gliederung, der Regierungs- und Verwaltungsorganisation oder der Verfassungsgerichtsbarkeit. All dies rechtfertigt eine Eigenständigkeit der Verfassungspolitik in den Gliedstaaten und auch gewisse Regelungsautonomien auf kommunaler Ebene. Die Besonderheiten und Eigenständigkeiten der Verfassungsgebung sind insofern ein wichtiges Stück Verfassungskultur63. Gerade in jüngerer Vergangenheit ist das Interesse daran stärker und folglich die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts größer geworden, etwa hinsichtlich der schweizerischen Kantonsverfassungen64, aber auch der Länderverfassungen in Deutschland65. Dennoch stößt diese Entwicklung an Grenzen. So ist die Föderalisierung Belgiens, dem großen Gewicht der Aufgaben der Regionen und Gemeinschaften zum Trotz, im Wesentlichen durch zentralstaatliche Regulierung bewirkt worden66. Hinsichtlich der Statute der italienischen Regionen zögert die italienische Literatur, von Verfassungsautonomie zu sprechen67. In der Tat sind“; mit ähnlicher Stoßrichtung jetzt auch Art. 300 III AEUV. In der Praxis muss diese Verantwortlichkeit, auch, aber nicht nur angesichts der deutschen Rechtslage, großzügig gehandhabt werden. Zum Problemrahmen Peter Häberle, Kommunale Selbstverwaltung unter dem Stern des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts, JöR 58, 2010, S. 301 ff. 60 Vgl. zum gegenwärtigen Diskussionsstand Otmar Jung, Direkte Demokratie, in: H. H. von Arnim (Hrsg.), Defi zite in Staat und Verwaltung, Berlin 2010, S. 105 ff.; der Beitrag ist in der Linie der vorangegangenen Berichte Otmar Jungs, JöR 41, 1993, S. 29 ff. und JöR 48, 2000, S. 39 ff. zu lesen. 61 Charakteristisch der Parteibegriff des § 2 I PartG, der auf den Willen zur Einflussnahme auf den Bereich des Bundes oder eines Landes abstellt, während die „Rathausparteien“ nicht als politische Parteien gelten, vgl. etwa BVerfGE 13,1 (16 f.); Werner Grundmann, Die Rathausparteien, Göttingen 1960; Wiebke Wietschel, Der Parteibegriff, Baden-Baden 1996, S. 156 f. 62 So hat die (Süd-) Badische Verfassung vom 22. 5. 1947 (Reg.Bl. S. 129), die in Art. 76 ff. den Ministerpräsidenten zugleich als Staatspräsidenten bezeichnete und sein Amt entsprechend ausgestaltete, in den folgenden Länderverfassungen keine Nachahmung gefunden; vgl. Maunz (zit. Fn. 23), Hdb.StR Bd. 4 § 95 Rz. 7 S. 447. 63 Dazu grundlegend Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. Berlin 1998, als Grundlage seiner oben Fn. 1 zitierten Europäischen Verfassungslehre. 64 Dazu Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 22 ff., 25 f., und JöR 56, 2008, S. 279 ff. 65 Charakteristisch die Referate von Wolfgang Graf Vitzthum/Bernd-Christian Funk/Gerhard Schmid, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46, 1988, S. 7 ff., und die folgende Aussprache; den Bedeutungszuwachs konstatiert auch Stelio Mangiameli, La riforma del regionalismo italiano, Torino 2002, S. 79 ff., der von einer „rifederalizzazione degli Stati federali“ spricht. Vgl. auch Dian Schefold, von der Grundrechtsinterpretation zur Verfassungstheorie, in: K. Acham u. a. (Hrsg.), Der Gestaltungsanspruch der Wissenschaft, Stuttgart 2006, S. 343 ff. 66 Vgl. Michel Leroy, De la Belgique unitaire à l’État fédéral, Bruxelles 1996. 67 So Mangiameli (zit. Fn. 65), S. 61 ff., 88 ff.; Olivetti (zit. Fn. 23), insb. S. 188 ff.; deutlich neuerdings Antonio D’Atena, Diritto regionale, Torino 2010, S. 22 f.: „cosa completamente diversa“. Vgl. Peter Hä-
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kann auch die Hochschätzung gliedstaatlicher Verfassungskultur nicht daran vorbeigehen, dass die herkömmlichen Unterschiede und Besonderheiten der einzelnen gliedstaatlichen Verfassungen die Tendenz haben, sich abzuschleifen und an Bedeutung zu verlieren. Es ist kein Zufall, wenn der Ruf nach stärkerer Beteiligung der Landesparlamente an der Willensbildung des Bundesrats nicht von der Ausübung der Verfassungsautonomie eines Bundeslandes, sondern von einem Vortrag des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und in der Folge von einer Entschließung der vereinigten Präsidenten aller Landesparlamente ausgeht, mit dem Ziel, die Länder zu selbstkoordinierter Verfassungsänderung zu veranlassen68, oder wenn die Verfassungsrechtsprechung – etwa auf dem Gebiet der Wahlrechtsgestaltung mit Sperrklauseln69 – an die Rechtfertigung besonderer Ausgestaltungen des demokratischen Prinzips kritischere Maßstäbe anlegt und nach der Erforderlichkeit für ein demokratisches System fragt. Homogenität stellt sich heute in den Dienst demokratischen Denkens und erhält dadurch ihre politische Stoßkraft70. Aber das dispensiert nicht davon, ihre jeweilige rechtliche Tragweite zu präzisieren. Das gilt im Grundsatz gleichermaßen für den internationalen und supranationalen Bereich. Gewiss, im Weltmaßstab ist davon, trotz der vollmundigen Bekenntnisse zu einer globalen Demokratie seit der Gründung der Vereinten Nationen, zu demokratischen Konvergenzen seit 1989 und der Einbeziehung auch von Nichtregierungsorganisationen in die internationale Willensbildung, konkret noch wenig zu spüren. Zwar ist die vorhin referierte Analyse des Völkerrechts im Dienst des Wirtschaftslebens durch Hugo Preuß durch die Entwicklung des 20. Jahrhunderts nicht widerlegt worden und bleibt als Tendenz, die wir auch als Aufforderung zum Handeln deuten dürfen, bedeutsam. Aber Preuß hat, bei allem Realitätssinn und aller Vorsicht seiner Analyse, vielleicht die Schwierigkeiten, Komplikationen und Verzögerungen auf dem Weg zu einer demokratischen Weltherrschaft unterschätzt. Konkretere Fortschritte sind jedoch im regionalen Bereich möglich. Angesichts des Anspruchs der europäischen Integration, Demokratie und demokratische Kohärenz in Europa zu gewährleisten, haben sich die europäischen Verträge seit der Gründung des Europarats und verstärkt der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union auf Prinzipien demokratischer Homogenität berufen71. Das hat etwa berle, Konstitutionelles Regionalismus-Recht – die neuen Regionalstatute in Italien, JöR 58, 2010, S. 443 ff., der (S. 452) „Elemente konstitutioneller Substanz der Regionen“ erkennt. Zum eigenen Standpunkt darf ich auf Dian Schefold, Italiens Verfassungsentwicklung zwischen Regionalismus, Devolution und Föderalismus – Parallelen zu Deutschland? Institut für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität, Hagen 2010, S. 6 ff. verweisen. 68 Vgl. Hans-Jürgen Papier, Rede auf der Jahreskonferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente und darauf verabschiedete Stuttgarter Erklärung vom 21./22. 6. 2010, abgedruckt u. a. für Bremen in Bürgerschafts-Drucksache 17/1368 vom 6. 7. 2010. 69 Charakteristisch für die kommunale 5% -Klausel BVerfGE 120,82 ff. und, ihm folgend, das Urteil des Bremischen Staatsgerichtshofs vom 14. 5. 2009 – St 2/08 –, NordÖR 2009, S. 251 ff. 70 Vgl. insofern die Darlegungen oben zu Hanschmann (zit. Fn. 16). 71 Vgl. für die Europäische Union die Präambeln vom Römer EWG-Vertrag (1957) bis zum EUVertrag in der Fassung von Lissabon (2007), für den Europarat die Präambel in Verbindung mit Art. 1 der Satzung vom 5. 5. 1949, noch ausgeprägter die Rechte-Gewährleistungen wie die Europäische Grundrechte-Charta vom 14. 12. 2007 einerseits, die Europäische Menschenrechts-Konvention vom 4. 11. 1950 und die oben Fn. 59 zitierte Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung andererseits.
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im Rahmen des Europarats zu einer starken Stellung der nationalen Parlamentarier und lokalen Volksvertreter in den Gremien geführt und im Rahmen der Wandlungsprozesse in Osteuropa auf diese erheblichen Einfluss gehabt72. Angesichts der größeren Zuständigkeiten ungleich wichtiger ist jedoch die Entwicklung der früheren Europäischen Gemeinschaften und jetzigen Europäischen Union. Dass deren Struktur mit Europäischer Kommission und Europäischem Gerichtshof unter Kontrolle eines von den Regierungen der Mitgliedstaaten bestellten Ministerrats zu einem Demokratiedefizit führe, ist eine seit Jahrzehnten konstatierte und kritisierte Tatsache, auch steter Gegenstand von Reformbestrebungen. Daher gibt es seit 1975 ein von den Unionsbürgern direkt gewähltes Parlament mit wachsenden – wenn auch in mancher Hinsicht noch immer unbefriedigenden – Befugnissen. In neuerer Zeit hat der Vertrag über die Europäische Union in der in Lissabon beschlossenen Fassung einen Titel mit „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ (Art. 9–12) eingefügt erhalten, der, frühere Ansätze zusammenfassend, weiterbildend und erweiternd, die Anwendung des Demokratieprinzips auf Unionsebene präzisiert, bis hin zur Möglichkeit einer europäischen Volksinitiative (Art. 11 IV) und zu Regelungen über die Beteiligung der nationalen Parlamente an der Entscheidungsfi ndung auf Unionsebene (Art. 12). In diesem Zusammenhang erscheint folgerichtig, dass die Union sogar die Kontrolle über die Einhaltung demokratischer Grundsätze in den Mitgliedstaaten beansprucht und damit ihrerseits insofern die Homogenität auf allen Ebenen sichern will73. Dennoch lässt sich nach wie vor von einem Demokratiedefizit auf europäischer Ebene sprechen, auch hier bedingt teils traditionell, teils durch die größeren Schwierigkeiten der Demokratisierung auf höherer Ebene, mit in ihren Dimensionen ganz unterschiedlichen Gliedstaaten, aber teilweise sehr großen Bevölkerungszahlen. Es verbindet sich mit weit verbreiteter Unzufriedenheit über die regulierungswütige, bürgerferne europäische Bürokratie. Auch hier kann und muss man auf eine allmähliche Annäherung der Herrschaftsstrukturen im Mehrebenensystem hoffen. Die geschilderte Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts gibt dazu Anlass. Allerdings konkurriert mit dieser Hoffnung ein Beharren auf mitgliedstaatlicher Souveränität. Es kann sich angesichts der Geltung der Verträge auf unbegrenzte Zeit74 zwar nicht auf einen ausdrücklichen Vorbehalt im Primärrecht, wohl aber darauf stützen, dass jede Reform der Union der Ratifi kation durch die Mitgliedstaaten nach Genehmigung gemäß den jeweiligen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bedarf 75. Insofern anerkennt auch der EU-Vertrag indirekt die Souveränität der Mitgliedstaa72 Es sei nur auf die eindrücklichen, von Peter Häberle besorgten Dokumentationen von Verfassungsentwürfen und Verfassungen der ehemals sozialistischen Staaten verwiesen, JöR 43, 1995, S. 105 ff.; 44, 1996, S. 321 ff.; 45, 1997, S. 178 ff. Zur Rolle des Europarats dabei Michaela Wittinger, Der Europarat. Die Einwirkung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, Baden-Baden 2005, insb. S. 215 ff.; dies., Das Rechtsstaatsprinzip, JöR 57, 2009, S. 427 ff. 73 Vgl. den nach den Problemen mit den Österreich-Sanktionen (2000, dazu oben bei und in Fn. 34) durch den Vertrag von Lissabon präzisierten und neu gefassten Art. 7 in Verbindung mit dem neuen Art. 2, Art. 6, Art. 49 EUV. 74 Art. 53 EUV, Art. 356 AEUV, zurückgehend auf die Formulierungen seit Art. 240 EWGV (1957). 75 So das schwerfällige und durch den Vertrag von Lissabon etwas operationalisierte, aber nach wie vor bestimmende Grundprinzip des Art. 48 EUV, insb. Absatz 4 Unterabsatz 2, Absatz 6 Unterabsatz 2
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ten. Das mag für diese als folgerichtig erscheinen lassen, für so wichtige Angelegenheiten wie Vertragsänderungen Volksentscheide anzuberaumen. Aber in diese fl ießen neben der Europa-verfassungsrechtlichen Perspektive zwangsläufig auch innenpolitische, oft personal- und parteipolitische Aspekte ein. Das führt immer wieder zum Scheitern solcher Abstimmungen. Es hat namentlich das Inkrafttreten des vereinbarten Entwurfs einer Verfassung für Europa verhindert76 und danach auch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erschwert und verzögert77. Aber was dem Volk recht ist, ist den Verfassungsgerichten billig! Auch die gerichtliche Überprüfung der Verträge, grundsätzlich Teil der Verfassungsordnung des jeweiligen Mitgliedstaats, bleibt möglich, so schlecht sie sich mit der Vorstellung eines eigenständigen europäischen Verfassungsrechts verträgt78. In diesen Zusammenhang gehört auch das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 200979. Wohl hat das Gericht die Vereinbarkeit des Vertragswerks von Lissabon mit dem Grundgesetz nicht verneint; aber es hat sie mit der Forderung nach einer stärkeren Beteiligung von Bundestag und Bundesrat an der Willensbildung auf dem Gebiet der Europäischen Union durch deutsches Gesetz befrachtet. Zusätzlich hat es in den Gründen, die die Entscheidung tragen, freilich im Tenor nicht zum Ausdruck kommen, sich die Kontrolle darüber vorbehalten, ob Rechtsakte der Union, einschließlich Änderungen der Verträge, bestimmte Grenzen der Einzelermächtigung der Union überschreiten: Die Union soll „Staatenverbund“ bleiben, kein Staat werden können, und die – in den Verträgen ja durchaus vorgesehene – Beteiligung der Mitgliedstaaten soll gewährleisten, dass die mitgliedstaatliche Demokratie das auch vom Bundesverfassungsgericht konstatierte, ja drastisch überzeichnete Demokratiedefizit auf europäischer Eben ausgleicht. Die Diskussion dieses Urteils, die die letzten zwei Jahre weitgehend geprägt hat80, kann und soll hier weder referiert, noch selbständig weitergeführt werden. Aber in unseren Zusammenhang gehört der Hinweis, dass die Homogenität der Ebenen von Satz 3; die – eng begrenzten – Ermächtigungen zu weiteren Vereinfachungen setzen eine vertragliche Grundlage voraus. 76 Zum Nein aus Frankreich und den Niederlanden Häberle, Europäische Verfassungslehre (zit. Fn. 1), S. 666 ff. 77 Zum Nein aus Irland Häberle, a.a.O., S. 710 ff. 78 Dazu oben 2 mit Fn. 10 ff. 79 BVerfGE 123,267 ff. 80 Vgl. ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit nur Klaus Ferdinand Gärditz/Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2009, S. 872 ff.; Claus Dieter Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett? JZ 2009, S. 881 ff.; Christoph Schönberger, Die EU zwischen „Demokratiedefi zit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48, 2009, S. 535 ff.; Martin Nettesheim, Die Integrationsverantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Umsetzung, NJW 2010, S. 177 ff.; ders., Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, S. 2867 ff.; Armin von Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum. Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, S. 1 ff.; Thomas Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, S. 1110 ff.; Peter Häberle, Das retrospektive LissabonUrteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR 58, 2010, S. 317 ff.; vgl. auch die Beiträge in Armin Hatje/Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration. Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Europarecht Beiheft 1/2010, mit Beiträgen von Gert Nicolaysen, Ernst-Joachim Mestmäcker, Heinhard Steiger, Matthias Ruffert, Martin Nettesheim, Armin Hatje, Jörg Philipp Terhechte, Gabriele Britz, Daniel Thym, Christoph Hermann.
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Mitgliedstaaten und Europäischer Union durch deren Ordnungen auszugestalten ist. Soweit öffentliche Aufgaben auf europäischer Ebene erfüllt werden sollen, weil dies wirksamer, zweckmäßiger und daher auch verhältnismäßiger ist als die Erfüllung auf darunter liegenden Ebenen, muss die europäische Ebene so ausgestaltet werden, dass sie den von ihr selbst, den Mitgliedstaaten und der Öffentlichkeit erhobenen Ansprüchen auf demokratische Entscheidungsstruktur genügt. Dazu tragen zunächst die programmatischen Grundsatzvorschriften der Art. 9–12, 14 EUV, die Ausgestaltung des Europäischen Parlaments nach Art. 223 ff. AEUV und seiner Zuständigkeiten, auch Ansätze direktdemokratischer Elemente bei. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts wird durch die künstliche Trennung von angeblich auf nationaler Ebene verwirklichten, aber auf europäischer Ebene wegen der Begrenzung der übertragbaren Zuständigkeiten nicht anwendbaren Anforderungen an demokratische Ausgestaltung der Bedeutung und dem Gewicht dieser Vorschriften schwerlich gerecht81. Gewiss kann dabei auch eine Beteiligung von Organen – namentlich Parlamenten – der Mitgliedstaaten vorgesehen werden, wie sie vom Bundesverfassungsgericht eingefordert wird und für Deutschland inzwischen durch die Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der europäischen Union, sowie des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 22. September 200982 verwirklicht worden ist. Aber sie stößt an Grenzen, vor allem in Eilfällen und wenn sehr unterschiedliche Gesichtspunkte aus Brüsseler Sicht und der Sicht der vielen Mitgliedstaaten zu harmonisieren sind. Praktisch werden die Grenzen besonders augenfällig, wenn in den Mitgliedstaaten die demokratische Beteiligung nicht besser gewährleistet ist als auf europäischer Ebene; die erwähnten Defizite bei der Verwirklichung direkter Demokratie auf Bundesebene in Deutschland gehören in diesen Zusammenhang. Aber auch Entscheidungsrechte einzelner Mitgliedstaaten, die die Entscheidungsfi ndung auf europäischer Ebene blockieren, beeinträchtigen die Verwirklichung des Demokratieprinzips auf dieser Ebene und sind deshalb im Mehrebenensystem dysfunktional. Insofern trägt die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts durch die Über-Betonung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung aufgrund des grundgesetzlichen Demokratieprinzips der Verwirklichung des gleichen Prinzips auf europäischer Ebene schon im Ansatz, und erst recht in der Gewichtung, nicht Rechnung. Die Einwände des „Bundesstaatsverbots“ und des Versuchs einer Zementierung des inzwischen vom Bundesverfassungsgericht selbst relativierten MaastrichtUrteils erscheinen deshalb berechtigt83 ; beide Tendenzen im Karlsruher Urteil schaden der Verwirklichung von Demokratie mehr, als sie ihr durch isolierte Konkretisierung der demokratischen Anforderungen auf nationaler Ebene dienen können. 81 Insofern sind die Ausführungen BVerfGE 123,267 (368 f., 371 ff.) von der Prämisse der Unterschiedlichkeit von Staatenverbund der Union und Souveränität der Mitgliedstaaten bestimmt und tragen, auch durch Projektion der staatlichen Souveränität in Art. 79 III GG (die nicht nur Art. 23 I GG, sondern vor allem dem Europa- und Friedensbekenntnis der Präambel widerspricht), der Entwicklung der Union schwerlich Rechnung. 82 BGBl. I, S. 3026, 3031. 83 Vgl. insb. die Kritiken von Schönberger und Häberle (zit. Fn. 80) und dazu schon oben 2 mit Fn. 12.
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Das hat vor allem Folgen für die Änderung der europäischen Verträge. Auch wenn an dem erwähnten Änderungsverfahren des Art. 48 EUV im Prinzip festgehalten wird, gilt doch, dass Vertragsänderungen ein Stück europäischer Verfassungsgebung sind und daher essentiell die „immer engere Union der Völker Europas“84 betreffen, von der die Verträge und die Grundrechte-Charta in ihren Präambeln sprechen. Deshalb ist die Beteiligung der Völker für diese ein Grundanliegen. Ebenso wie die Regelung der Vertragsänderung auch vor der ausdrücklichen Nennung eines Konvents im in Lissabon eingefügten Art. 48 III EUV gestattete, Konvente zur Vorbereitung der Grundrechte-Charta und des Vertrags über die Europäische Verfassung einzusetzen85, schließt der geltende Art. 48 nicht aus, das Ergebnis des Vertragsänderungsverfahrens auf Unionsebene einer konsultativen Volksbefragung in der Union insgesamt zu unterbreiten86. Dadurch würden das förmliche Änderungsverfahren und die Entscheidungszuständigkeit nicht verändert, wohl aber würde die demokratische Legitimation der Änderung auf europäischer Ebene bestärkt und präzisiert. Im Fall eines negativen Ausgangs läge nahe, das Änderungsverfahren durch Verzicht auf die Ratifi kationen abzubrechen oder zumindest, entsprechend wie in Art. 48 V EUV vorgesehen, zu überdenken. Umgekehrt könnte ein positiver Ausgang den Mitgliedstaaten Anlass geben, auf einen nationalen Volksentscheid zu verzichten – oder diesen beeinflussen. Eine Zustimmungsverweigerung würde den Widerspruch eines Staates auf dessen ja jetzt durch Art. 50 EUV gewährleistetes Austrittsrecht beschränken. Insgesamt bleibt, in grundsätzlicher Hinsicht, entscheidend, dass für die Homogenität der Ebenen, hier der Europäischen Union mit den ihr angehörenden Staaten, jede Ebene selbst verantwortlich ist. Daher kann die Rückführung auf einzelstaatliche Demokratie die Demokratisierung der supra- und internationalen Ebene ebenso wenig ersetzen, wie die lokale Demokratie an die Stelle des staatlichen Parlamentarismus treten kann. Jede Ebene ist vor die Aufgabe demokratischer Gestaltung gestellt und muss diese für ihren Bereich erfüllen.
84 Darauf weist zu Recht hin Peter M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 (240 f.) – allerdings ohne daraus Folgerungen für deren demokratische Legitimation zu ziehen. 85 So, die damaligen Erörterungen nachzeichnend, überzeugend Jürgen Meyer/Sylvia Hartleif, Die Konventsidee, ZParl 2002, S. 368 ff., insofern den Hinweis auf den abschließenden Charakter des Art. 48 EUV bei Vedder/Folz, Art. 48 EUV, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Bd. 1, Stand: Januar 2000, zu Art. 48 Rz. 47 präzisierend; zur Bedeutung Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 633 m.w. Nachw. S. 601 Fn. 6; vgl. meine Darstellung: Europäische Verfassung und Bundesstaats-Diskussion des 19. Jahrhunderts, in: Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (Hrsg.), Die Europäische Union als Verfassungsordnung, Berlin 2004, S. 73 (74 ff.). 86 Dafür im Ansatz, wenn auch eher rechtspolitisch argumentierend, Daniela Beer/Roman Huber, Wege zur Demokratisierung der Europäischen Union, in: Heußner/Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 2. Aufl. München 2009, S. 181 ff. (187); grundsätzlicher Gertrude Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 246 ff. (275, 289); weitere Hinweise bei Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 612 Fn. 32.
Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von
Prof. Dr. José Ma Porras Ramírez, Universität Granada Professor für Verfassungsrecht
Weil noch nicht ein besonderes Ziel der Europäischen Union (Art. 2 EG-Vertrag) bis zur Aufnahme der Charta der Grundrechte der Europäischen Union formuliert wurde, fi ndet sich die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in gewisser Weise außerhalb des Bildungs- und Anwendungsprozesses des Gemeinschaftsrechts. Dieser Umstand liegt in dem Zusammenfluss der Kompetenzen, die ursprünglich wirtschaftlicher Art waren, in der Entwicklung der klassischen Freiheiten, sowohl die der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) als auch insbesondere der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 EGV), die des Warenverkehrs (Art. 23 EGV) und der Dienstleistungen, mit einigen Ausprägungen dieses Rechts. Dazu kommt der von der Europäischen Union selbst geschlossene Kompromiss, zuerst durch die st. Rspr., die das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12. November 1969 (Stauder vs. Stadt Ulm) eröffnete und dann auf der Grundlage des Art. 6.1 (EUV), um die Existenz zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten herzustellen.1 Daher geht der Europäische Gerichtshof dazu über, wenn er die Lücken der Gesetzesordnung, die er anzuwenden hat, ausfüllt, um die Gesamtheit zu wahren und ihren Vorrang zu sichern, sie zu erweitern, insoweit als es sich um allgemeine Prinzipien des Gemeinschaftsrechts handelt. Auf diese Weise fi ng er an sie von der gemeinsamen Verfassungshistorie der Mitgliedsstaaten abzuleiten und wendete, um sie genauestens zu benennen und auszulegen, auch wenn er eigenen Kriterien folgte (Art. 220 EGV), das qualifizierte Instrument an, das die Charta der Grundrechte der Europäischen Union bildet (Art 6.2 EUV) 2. 1 Wie bekannt betreffen die Gemeinschaftsinstitutionen in der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die Grundrechte als Folge der Gewaltenteilung, die in der Europäischen Union besteht. Siehe F. Rubio Llorente, „Mostrar los derechos sin destruir la Unión. (Consideraciones sobre la Carta de los Derechos Fundamentales de la Unión Europea)“, in Revista Española de Derecho Constitucional, n 64, 2002, S. 13–52; insbesondere, S. 35. 2 Für eine Gesamtkommentierung, siehe L. M a Díez-Picazo Giménez, „¿Una Constitución sin declaración de derechos? (Reflexiones constitucionales sobre los derechos fundamentales en la Comuni-
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Auf verschiedenen Wegen sind die Gemeinschaftsinstitutionen dazu gekommen, sowohl Normen als auch Gesetzesurteile, die allmählich hinzugefügt wurden, obwohl nur bruchstückhaft, die Gestaltung einiger konstitutiver Bereiche der angesprochenen Freiheit zu bestimmen. Ein guter Teil derselben Bereiche betreffen, wenn auch nicht allein, Fragen der Fortentwicklung des Prinzips der Nicht-Diskriminierung der Arbeitnehmer aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung (Art. 13 EGV) 3, die schon auf jeden Fall auf jeglichen der gemeinschaftlichen historischen Freiheiten beruhen, auf die man sich schon in den neuesten Bürgerrechten berufen hat, die durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam eingeführt wurden. So ist unter anderen bemerkenswerten Beispielen im Zusammenhang mit der Schaffung eines allgemeinen Rahmens zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, die Norm beruhend auf einer früheren Gerichtsentscheidung (Entscheidung des EuGH vom 5. Oktober 1988) 4 zu erwähnen, der es dem Arbeitgeber erlaubt, der einen „Tendenzbetrieb oder eine Tendenzorganisation“ führt, die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen aufgrund der Religion oder Überzeugung, immer dann, wenn es beweisbar ist, dass diese Unterschiede sich als notwendig erweisen, die Prinzipien aufrechtzuerhalten, auf denen die Tätigkeit des Unternehmens beruht. Gleichzeitig ermächtigt man den Unternehmer von seinen Mitarbeitern eine positive Grundeinstellung und Loyalität gegenüber diesen Prinzipien zu fordern (Richtlinie 2000/78, des Europäischen Rats) 5. Nicht weniger zu betonen ist auch das besondere Anerkenntnis des Rechts, bezogen auf die Regelung der Arbeitszeit, das den Arbeitnehmern die Möglichkeit einräumt die religiösen Feiern und Riten zu achten und einzuhalten. (Richtlinie 2003/88 des Parlaments und des Rats); des Verbots Ausnahmeregelungen der Freizügigkeit des Aufenthalts und der Bewegungsfreiheit zu schaffen (Art. 18 EGV), die als Adressaten die Arbeitnehmer haben, die bestimmten Glaubensrichtungen zugehören (Entscheidung des EuGH vom 4. Dezember 1974) 6 ; der ausdrücklichen Deklaration des Rechts auf Gewissensfreiheit aus religiösen Gründen bei der Ableistung bestimmter öffentlicher Dienste (Entscheidung des EuGH vom 27. Dezember 1979) 7; des Verbots jeglichen Umgangs mit personenbezogenen Daten, die die religiösen oder ideologischen Anschauungen zeigen könnten, die die Betroffenen frei besitzen (Richtlinie 1995/46 des Parlaments und des Rats); die qualifi zierte Einhaltung von Urheberrechten in den Fällen, in denen Artikel oder Arbeiten u. a. über dad Europea)“, in Revista Española de Derecho Constitucional, n 32, 1991, S. 135–155; insbesondere S. 139–141. 3 Eine bemerkenswerte Aunahme, wenn man das Ziel hat, den Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Menschen außerhalb des Arbeitslebens anzuwenden, bildet der Entwurf der Richtlinie „nach dem der Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Menschen, unabhängig von ihrer Religion oder Überzeugung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung anzuwenden ist“ (2008/0140 (KNS)), der von der Kommission vorgelegt wurde. 4 Entscheidung des Europäischen Gerichtshof vom 5. Oktober 1988: Fall Steymann, im Vorabentscheidungsverfahren, eingereicht durch den Staasrat der Niederlanden. 5 Siehe Kommentar zu dieser Richtlinie, veröffentlicht in den Offi ziellen Mitteilungen der Europäischen Gemeinschaften, L 303, 02/12/2000, P. 0016–0022, F. Onida, „Il problema delle organizzazioni di tendenza. La Direttiva 2000/78/EC attuativa dell’art. 13 del Trattato sull’Unione Europea“, in Il Diritto ecclesiastico, Vol. 3, 2001, S. 905 ff. 6 Entscheidung des Europäischen Gerichtshof vom 4. Dezember 1974: Van Duyn vs. Home Office. 7 Entscheidung des Europäischen Gerichtshof vom 27. Oktober 1979: Prais vs. Europäischer Rat.
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aktuelle religiöse Themen veröffentlicht werden (Richtlinie 2001/29 des Parlaments und des Rats); der Garantie des Rechts der verschiedenen betroffenen Vereinigungen zu fordern, dass die über die Medien verbreiteten Veröffentlichungen die in der Bevölkerung bestehenden religiösen Empfindungen achten und nicht beeinträchtigen (Richtlinie 1989/552 des Rats und 1997/36 des Parlaments und des Rats); und zum Schluss, des qualifizierten Schutzes der Freiheit von Kulturgütern, die man bestimmten Kundgebungen religiöser Art zuordnen kann (Richtline 1993/7). Wenn man diese einschlägigen Bestimmungen betrachtet, aber sich bewußt ist, dass die Ableitung der Rechte, die mit den erwähnten „gemeinschaftlichen Freiheiten“ verbunden sind, nicht das Fehlen einer eigenen „Bill of Rights“ ersetzen kann, dann greifen ausdrücklich die Verfasser der Charta der Grundrechte der Europäischen Union letztendlich die Aufgabe an, diese besagte grundlegende Freiheit zu garantieren. Bis zu diesem Moment stellt sie nicht wie gezeigt die Quellen dar, sondern verweist auf sie, die allein auf indirekten Wegen wirksam werden, um auf diese Weise begrenzt die Handlungsmöglichkeiten der Organe zu anzuregen, die das Gemeinschaftsrecht schaffen und anwenden. Diese Tatsache, verbunden mit dem Fehlen eines besonderen Verfahrens, diese Freiheiten wirksam zu schützen, zeigt gegenwärtig die Notwendigkeit das System zu rationalisieren. So entschied man sich, eine Liste von Rechten in die grundlegenden Normen der Union im Rahmen ihrer möglichen Beziehung zu den klassischen wirtschaftlichen Freiheiten einzufügen, wenn auch sehr klein und nur in den Grundlagen, bei denen sich notwendigerweise die Verweisvorschrift fi ndet. Auf diese Art beabsichtigte man die Mängel eines Systems zu beheben, die im Wesentlichen auf der fallbezogenen Rechtsprechung beruhten. Das Ziel war nicht allein dem System Sicherheit zu verschaffen, sondern den vorrangigen Inhalt einiger Rechte zu bestimmen, die bis dahin bruchstückhaft und unvollständig defi niert waren und gleichzeitig, um über eine Menge von besonderen Garantieinstrumenten zu verfügen, die ihre volle Wirksamkeit gewähren sollen.8 Deshalb musste es nach vielen Schicksalschlägen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sein, die letzlich einen systematischen Katalog von Rechten und Freiheiten aufstellte, die diese gegenüber der Gemeinschaftsordnung in ihrer Gesamtheit legitimierte.9 Daher kommt es, dass die Charta sich direkt und ausdrücklich auf die erwähnte Freiheit in ihrem Art. 10 bezieht. Bei alldem zeigt der Wortlaut der Erklärung eine dürftige Originalität, weil er sehr nah sowohl an der Vorschrift im 8
F. Balaguer Callejón, „Niveles y técnicas internacionales e internas de realización de los derechos en Europa. Una perspectiva constitucional“, in Revista de Derecho Constitucional Europeo, n 1, 2004, S. 25–46; insbesondere S. 35 ff. 9 In einem Prinzip wurde die Charat feierlich in Nizza im Jahr 2000 verkündet. Nach dem Scheitern, sie in die Verfassung gem. dem Vertrag von Rom von 2004 aufzunehmen, ist es der Reformvertrag von Lissabon von 2007 gewessen, der ihr verbindliche Rechtskraft verliehen hat, trotz, dass sie nicht in diese Texte aufgenommen wurde. So lautet der Art. 6.1 des Vertrags der Europäischen Union: Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind, an; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.“ Siehe zur Charta, u. a. L. Ma Díez-Picazo Giménez, „Carta de Derechos Fundamentales de la Unión Europea“ (2001), in „Constitucionalismo de la Unión Europea“, Madrid, Civitas, 2002, S. 24; ebenso A. Pace, „A che serve la Carta dei Diritti Fondamentali dell’Unione Europea? Appunti preliminari, in Giurisprudenza costituzionale, Milano, Giuffré, 1/2001, S. 193–207; insbesondere, S. 196–202.
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gleichen Sinn im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen (Art. 18) als auch vor allem an der Europäischen Menschenrechskonvention (Art. 9) formuliert ist. Letztendlich passt es, dass inhaltlich eine Art Neuerung zu der Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen hinzugefügt wurde, die auf der Lehre des Gerichtshofs beruht, zusammen damit, dass jeglicher ausdrücklicher Verweis auf die Grenzen, die das Recht hat, fehlt. Damit schafft man eine primäre Garantieebene, die im Wesentlichen anfänglich den Schutz übertrifft, der schon der Vertrag von Rom und der größte Teil der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten bietet. Deshalb und um Brüche mit solchen „Generalprinzipien“ des Rechts der Union zu vermeiden10, bringt die Charta allgemein eine doppelte und nachgiebige Weiterleitung zu Ende, indem sie dem Kriterium folgt, das zuerst die Rspr. des Europäischen Gerichtshof und dann der Vertrag von Maastricht in seinem Art. F2 und später der von Amsterdam (Art. 6.2) eingeführt haben. Daher beruft man sich zum einen Teil auf die Europäische Menschenrechskonvention, um den Rechten, die in der Charta selbst vorhanden sind, eine „gleiche Bedeutung und . . . Tragweite“, die ihnen diese überträgt (Art. 52.3), zu verleihen, und andererseits beachtet man, dass die Charta Rechte anerkennt, die sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ergeben, damit solche Rechte in Übereinstimmung mit diesen Traditionen ausgelegt werden sollen (Art. 52.4). Auf diese Weise unterläßt man es nicht, sondern schafft es, die Schutzmechanismen, sowohl national als auch international, die schon konsolidiert sind, von Anfang an anzuwenden, die eine intensivere und vollständigere Wirksamkeit absichern.11 Deshalb formuliert die Charta gleichzeitig einen wichtigen Ordnungsvorbehalt, damit das höchste Niveau einer vorsorglichen Garantie in ihrem Fall in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten erlangt wird und durch diese einmal ein Mindest- und Grundschutzes bestätigt wird, der in der Charta selbst enthalten ist. (Art. 53). So beabsichtigt man zu vermeiden, dass die in ihr Benannten in diesem Maße eine mögliche und unerwünschte Absenkung des Schutz- oder Sicherheitsstandards der Rechte vornehmen könnten, von dem die europäischen Bürger schon jetzt ausgehen12. Trotz der dürftigen Ambition, der von der deklaratorischen Norm der Gedanken, Gewissens-, und Religionsfreiheit ausgeht, kombiniert mit den Generalklauseln, auf die Bezug genommen wird, darf man jedoch nicht die Möglichkeiten verkennnen, die die Charta eröffnet, die ihr das aus der Union abgeleitete Recht, wie bei 10 Der Art. 6.2 des Vertrages über die Europäische Union legt fest: Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. 11 Im Allgemeinen zu der dürtigen Originalität der Charta und ihres daraus folgenden abgeleiteten oder auf andere Texte, die die Grundrechte erklären, verweisenden Charakters, siehe P. Cruz Villalón, „La Carta o el convidado de piedra. (Una mirada a la Parte II del Proyecto de Tratado/Constitución para Europa)“, entnommen aus seiner Arbeit „La Constitución inédita. Estudios sobre la constitucionalización de Europa“, Madrid, Trotta, 2004, S. 115–129. 12 In diesem Sinn, P. Ridola, „La Carta de los Derechos Fundamentales de la Unión Europea y el desarrollo del constitucionalismo europeo“, in F. Balaguer Callejón (Koordinator), „Derecho constitucional y Cultura. Estudios en homenaje a Peter Häberle“, Madrid, Tecnos, 2004, S. 463 ff.
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jedem anderen anerkannten Recht als „einen größtmöglichen Schutz“ (Art. 52.3 „am Ende“) gewähren könnte. Wenn die Kompetenzen, die die Organe der Union schon besitzen, angeführt werden, insoweit sie sich aus den konstitutiven Verträge ableiten, um die Festlegung in Art. 51.2 zu achten, der bestimmt, „diese Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben“, dann erfüllen die Institutionen die daraus folgende Pfl icht, das Recht zu achten, zu wahren und zu fördern (Art. 51.1) und sind so aktiv, wie sie es für angebracht halten, um ihre volle Wirksamkeit zu sichern13. Auf jeden Fall beruht die ursprüngliche normative Grundlage dieser Garantie auf Art. 10 der Charta, der die Bedeutung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit klärt, um darauf unter Einhaltung der doppelten subjektiven Dimension hinzuweisen, dass „dieses Recht die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln umfasst, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen“. Diese deklaratorische Norm, die aus der „unverletztlichen“ „Menschenwürde“ (Art. 1) abzuleiten ist, als die Grundlage aller anerkannten Rechte, bezieht sich auf die mit ihr verbundenen Normen wie es die Pfl icht ist „. . . das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen zu achten“ (Art. 15.3); wie jede Form der Diskriminierung unter anderem aus Gründen der „Religion oder Weltanschauung“ (Art. 21)14 zu verbieten; oder wie sie die Verpfl ichtung bestimmt, die nach der Union als „die kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt“ (Art. 22) zu wahren ist. In gleicher Weise erkennt der zweite Absatz dieses Art. 10 als große Neuerung an, was zur Aktualisierung des Abkommens von Rom führt, weil er so eine vorhergehende Entscheidung des Luxemburger Gerichtshofs aufnimmt und was im Urteil Prais vs. Rat vom 27. Oktober 1979 dargelegt wird, „das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach den einzelstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln“. Auf diese Weise bekräftigt man ausdrücklich die innerste Verbundenheit, die zwischen diesem Recht und der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit vermittelt und es ist festzuhalten, dass man die Ausübung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen gegenüber den ausdrücklichen Pfl ichten, die den Bürgern durch die öffentlichen Gewalten auferlegt werden, notwendigerweise dem Schutzbereich dieser Grundfreiheit zufügen muss. Auf alle Fälle sichert dieser augenfälligste Verweis, den die Charta zu der Ausgestaltung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit beiträgt, die Beziehung mit den Trägern des Rechts. Trotz dass man vom Wortlaut, der in Art. 10 enthalten ist, die Zuweisung der genannten Berechtigung von „jeder Person“, die eine unmißverständliche individuelle Bedeutung hat, ablöst, ist es sicher, dass dieser Ausdruck auch 13 P. Biglino Campos, „Derechos fundamentales y competencias de la Unión“, in Revista de Derecho comunitario europeo“, n 14, 2003, S. 45 ff. Auch, L. Ma Díez-Picazo Giménez, „Relación entre la Unión Europea y el Convenio Europeo de Derechos Humanos“, in Teoría y Realidad Constitucional, n 15, 2005, S. 159–170; insbesondere S. 164–165. 14 Siehe den Richtlinienentwurf des Rats gem. dem Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Personen unabhängig von ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientieurng (2008/0140(CNS)).
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in Achtung gegenüber dem Wesen oder der Natur des Rechts15 eine zwangsläufige kollektive Dimension besitzt, die sowohl die Kirchen, religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften wie die philosophischen oder nicht konfessionellen Organisationen16 berührt. Die durch die Charta in Art. 10 anerkannte Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist daher nicht umsonst so auszulegen, dass man ihm eine „gleiche . . . Bedeutung und Tragweite“ gibt, wie es ihm die Europäische Menschenrechskonvention verleiht (Art. 52.3) und „in Übereinstimmung mit den Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten (Art. 52.4), um so sicherzustellen, dass „vollständig die nationale Gesetzgebung und Rechtspraxis geachtet wird“. Als Folge sind, soweit es sich um kollektive Rechtsträger und qualifi zierte gesellschaftliche Gruppierungen handelt, die Konfessionen und die ideologischen Organisationen nachdrücklich dazu benannt, bei den Gemeinschaftsinstitutionen teilzunehmen und mit ihnen Beziehungen aufzubauen17. Unter Wahrung des Prinzips der Subsidarität achtet und verurteilt nicht die Union den Status, der entsprechend dem internen Recht bei den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften und bei den philosophischen oder nicht-konfessionellen Organisationen in den Mitgliedsstaaten anerkannt ist und berücksichtigt so ihre Identität und ihren besonderen Beitrag. Gleichzeitig haben die Gemeinschaftsinstitutionen einen offenen, ständigen und regelmäßigen Dialog mit diesen Kirchen und Organisationen zu führen. Auf diese Weise begünstigt die Charta eine wirksame Institutionalisierung der schon zwischen den asoziierten Gruppierungen, Trägern und ausübenden Kollektiven der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und der europäischen Exekutive bestehenden Beziehungen. Man legitimiert und spitzt so die verbreiteten Kräfte im Vorgriff der so genannten „Vorstudie“ („Forward Studies Unit“), die abhängig von der Präsidentschaft der Kommission ist, durch die supranationalen Organisationen zu, die an den Europäischen Raum gekoppelt sind18 und durch politische und rechtliche Dokumente, unter denen grundlegend der nennenswerte Nr. 11 der Deklaration herausragt „zum Status der Kirchen und der nicht-konfessionellen Organisationen“, der als Anex der Schlussakte des Vertrags von Amsterdam beigefügt ist. 15 J. Ma Porras Ramírez, „Libertad religiosa, laicidad y cooperación con las confesiones en el Estado democrático de derecho“, Madrid, Civitas, 2006, S. 42 ff. 16 Siehe die Deklaration Nr. 11 „über den Status der Kirchen und der nicht-konfessionellen Organisationen“, die im Anex der Schlussakte vom Vertrag von Amsterdam beigefügt ist und die in der Regierungskonferenz von Turin vom 29. März 1996 angenommen wurde. 17 Der Art. 11 des Vertrages zur Europäischen Union sagt in seinem ersten Absatz: „Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen“. In gleicher Weise fügt der zweite Absatz Folgendes hinzu: „Die Organe pfl egen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“. Zum Schluss der dritte Absatz: „Um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten, führt die Europäische Kommission umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durch“. 18 Bekanntlich sind dies: die Kommission der Episkopaden der Europäischen Kommission, die Kommission Kirche und Gesellschaft der Europäischen Kirchen, die Vertretung der Orthodoxen Kirche vor der Europäischen Union, die Konferenz der Europäischen Rabbiner, der Muslimische Rat für Zusammenarbeit in Europa, der Bund der Europäischen Humanisten, die Evangelikale Allianz Europa, die Spirituelle Kulturgemeinschaft – und gesesellschaft in Europa, die Weltgemeinschaft Religion und Frieden und die Vereinigung Eine Stimme für Europa.
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Tatsächlich haben alle diese Bemühungen mittels verschiedener aber sich ergänzender Wege beabsichtigt, die sich aus der Gesellschaft bildenden Organisationen in die Funktion der Institutionen der Union einzubinden, um durch die Energie der Kooperation die Entwicklung der „ethischen und geistigen Dimension der politischen Gemeinschaft in Europa“ zu fördern ohne zu wollen, dass besagte Institutionen zum Schaden der Neutralität sowohl religiöser als auch ideologischer Art der Union, irgendwie begünstigt oder privilegiert werden, was die einen gegenüber den anderen bevorteilt.
Der „Transcivilizational Approach to Human Rights“ – eine Einladung zum interkulturellen Diskurs von
Dr. Clemens Richter, Universität Leipzig I. Prolog: Menschenrechte im 21. Jahrhundert Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und die Wiedervereinigung, nicht nur Deutschlands, sondern Europas, wurde in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vielfach als Beginn eines neuen Zeitalters verstanden.1 Am pointiertesten wurde diese Hoffnung von F. Fukuyama herausgearbeitet, der unter dem Eindruck der globalen Ausbreitung von westlicher Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft das Ende der Geschichte postulierte.2 Was er damit meinte, war die Hoffnung, dass nach dem augenscheinlichen Sieg der transatlantischen „westlichen“3 Kultur über die Ideologie des Kommunismus diese weltweit als gleichermaßen attraktiv und alternativlos wahrgenommen und angenommen würde. Schon mit den unkontrollierbaren Staatskrisen in Somalia, Liberia und Ruanda,4 spätestens aber seit den Anschlägen des 11. September 2001, und ferner mit dem im1 Vom Jahr 1989 als „annus mirabilis“ spricht: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 5. 2 F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992. 3 „Der Westen“ als kultureller Sammelbegriff für die Staaten Europas und Nordamerikas fi ndet sich nicht nur bei nicht-europäischen Autoren, wo er relativ selbstverständlich verwendet wird, sondern er fi ndet sich auch bei europäischen und nordamerikanischen Autoren, so bei S. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of Worldorder, 1997 und in zahlreichen Beiträgen mit menschenrechtlichem Schwerpunkt, z.T. distanziert und in Anführungszeichen gesetzt (so etwa bei: B. Fassbender, Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart, in: J. Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009, S. 23). Entstehungsgeschichtlich leitet er sich wohl von der klassischen Unterscheidung zwischen „Okzident“ und „Orient“ ab – selbst relative Begriffe, ist doch etwa aus chinesischer Perspektive das Land der „aufgehenden Sonne“ (日本) stets Japan gewesen, während die Islamische Welt im Westen lag. Es ist daher nicht selbstverständlich, dass der europäisch geprägte Begriff des „Westens“ für die Staaten Europas und Nordamerikas heute allgemein verbreitet ist. Er soll im Folgenden allein einen geographischen Raum bezeichnen. 4 Dazu: C. Richter, Collapsed States: Perspektiven nach dem Wegfall von Staatlichkeit, 2011, S. 34 ff. (Somalia und Liberia) und S. Straus, The Order of Genocide: Race, Power, and War in Rwanda, 2006 (Ruanda).
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mer selbstbewussteren Auftreten Chinas und Indiens auf der internationalen Bühne hat sich diese Perspektive als zu optimistisch erwiesen. Obgleich heute nahezu alle Staaten Parteien einer der beiden großen Menschenrechtskonventionen sind,5 ist die effektive Durchsetzung der Menschenrechte zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer auf globaler Ebene nach wie vor ein Traum, keine Realität.6 Sie wird erschwert durch den internationalen Kampf gegen den Terror, die verhältnismäßig menschenrechts-neutrale Entwicklungszusammenarbeit Chinas und Indiens in Afrika, die zahlreichen afrikanischen Staaten als Alternative zur europäischen Menschenrechtspolitik erscheint,7 die voranschreitende Fragmentierung des Völkerrechts,8 die zunehmende Bedeutung transnationaler Unternehmen und ihres Handelns, usw. Eine Vergewisserung über Chancen und Risiken für den internationalen Menschenrechtsdiskurs ist deshalb gerade jetzt dringend angezeigt. Vor diesem Hintergrund verdienen die Arbeiten des japanischen Völkerrechtslehrers Yasuaki Onuma (wegen der asiatischen Namensreihung, die den Familiennamen vor den Vornamen zieht häufig auch Onuma Yasuaki) eine besondere Beachtung.
II. Biographische Anmerkungen Y. Onuma wurde 1946 in Japan geboren. Er war seit 1970 an der Universität Tokyo, der führenden japanischen Hochschule, tätig, zunächst als Research Associate, später als Hochschullehrer. Ferner lehrte er an der privaten Meiji Universität (Tokyo). Seine Forschungstätigkeit ist geprägt von zahlreichen Aufenthalten an amerikanischen und europäischen Universitäten und Forschungseinrichtungen, darunter auch das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht (1981).9 Er setzte sich in seinen Arbeiten schon früh kritisch mit Themen auseinander, die in seiner japanischen Heimat als heikel gelten, der Frage der japanischen Kriegsschuld im Zweiten Weltkrieg und der Rolle von Minderheitenrechten für die koreanische Minderheit im nach klassischem Selbstverständnis monoethnisch geprägten Japan.10 Er kann deshalb durchaus als progressiver Vertreter der modernen japanischen Völ5
Vgl. die Nachweise unten Fn. 70 und 71. Dazu im Überblick: B. Fassbender, Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart, in: J. Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009, S. 11 ff. Zu Grundlagen, Gegenwart und Perspektiven des internationalen Menschenrechtsschutzes im Ganzen: M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001. 7 R. Kappel, T. Schneidenbach, China in Afrika: Herausforderungen für den Westen, in: GIGA Focus, 12/2006; A. Biallas, J. Knauer, Von Bandung zum Ölgeschäft: Indien und Inder in Afrika, in: GIGA Focus, 1/2006. 8 Vgl. zur Fragmentierung des Völkerrechts nur: G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff. und M. Koskenniemi, P. Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, 15 Leiden Journal of International Law (2002), S. 553 ff. Aus regime-theoretischer Sicht: V. Rittberger, Regime Theory and International Relations, 1993. 9 Zu den biographischen Stationen im Einzelnen: http://untreaty.un.org/cod/avl/pdf/ls/Onuma_ bio.pdf (letzter Zugriff: 12. 7. 2011). 10 Y. Onuma, Legal Status of Korean Residents: Past, Present and Future, Korean Residents in Japan and Korea-Japan Relations, Internatioal Cultural Society of Korea, 1985; Ders., The Tokyo War Crimes 6
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kerrechtswissenschaft bezeichnet werden. Seit den 1990ger Jahren setzte sich Onuma verstärkt mit menschenrechtlichen Fragen unter interkulturellen Gesichtspunkten auseinander und erarbeitete ein Modell, das inzwischen unter der Bezeichnung „Transcivilizational Approach“ bekannt geworden ist.11 Wesentliche weitere Beiträge aus neuerer Zeit sind zur Geschichte des Völkerrechts12 und zum Verhältnis von Macht und Völkerrecht13 erschienen.
III. Eckpunkte des „Transcivilizational Approach“ Onuma defi niert seine Perspektive allgemein wie folgt: „The transcivilizational perspective is a perspective from which we see, recognize, interpret, assess, and seek to propose solutions to problems transcending national boundaries by developing a cognitive and evaluative framework based on the recognition of plurality of civilizations that have long existed in human history.”14 Der Begriff „transcivilizational“ ist schwierig ins Deutsche zu übertragen, in Anlehnung an eine zum Teil parallele Verwendung durch Onuma selbst, bietet sich der Terminus „interkulturell“ oder präziser: „transkulturell“ an. Dem entspricht auch die geläufige Übersetzung des Begriffs „civilized nations“ mit „Kulturnation“ – freilich ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, dass Kultur und Zivilisation schon in so eng verwandten Sprachen wie dem Englischen, Französischen und Deutschen erhebliche Bedeutungsunterschiede aufweisen.15 Onuma verwendete in den 1990ger Jahren zunächst – im Wesentlichen bedeutungsgleich – den Begriff „intercivilizational“.16 Trial: An International Symposium, 1986; Ders., Japanese War Guilt and Postwar Responsibilities of Japan, 20 Berkeley Journal of International Law (2002), S. 600 ff. 11 Der zunächst als „intercivilizational approach“ bezeichnete Ansatz geht insbesondere auf ein Occassional Paper der Asia Foundation mit dem Titel: In Quest of Intercivilizational Human Rights (Ocassional Paper Nr. 2) zurück, nachdem sich Y. Onuma bereits 1981 kritisch mit der euro-atlantischen Prägung der modernen Völkerrechtslehre auseinandergesetzt hatte. (Ders., The Problem of Eurocentric Education in International Law, Proceedings of the 75th Anniversary Convocation of the American Society of International Law, April 23–25, 1981 (1983)). Onuma entwickelte sein Modell im Folgenden in zahlreichen Artikeln weiter, vgl. hierzu nur: Ders., Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights, 7 Asian Yearbook of International Law (2001), S. 21 ff. und Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 29 ff. Zuletzt: Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law Questioning Prevalent Cognitive Frameworks in the Emerging Multi-Polar and Multi-Civilizational World of the Twenty-First Century, 2010. 12 Y. Onuma, When was the Law of International Society Born?, 2 Journal of the History of International Law (2000), S. 1 ff. 13 Y. Onuma, International Law in and with International Politics: The Functions of International Law in International Society, 14 EJIL (2003), S. 105 ff. 14 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 31. 15 Dazu: G. Gozzi, History of International Law and Western Civilization, in: 9 International Community Law Review (2007), S. 353 ff. (360 f.) mit Verweis auf J. L. Kunz, Zum Begriff der ‚nation civilisée‘ im modernen Völkerrecht, in: 7 Zeitschrift für öffentliches Recht (1927), S. 87 ff. Gleichwohl ist eine Parallelführung von Zivilisation und Kultur durchaus zulässig, vgl. dazu A. Al-Azmeh: „The terms civilization and culture are intimately related in their reference, and in many instances are used almost interchangeably, according to national and linguistic conventions.“ (Ders., Civilization, Concept and History of, in: N. Smelser, P. B. Baltes (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behav-
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Das überaus komplexe Modell in der vorliegenden Arbeit umfassend zu würdigen ist ein aussichtsloses Unterfangen, im Folgenden sollen daher lediglich einige wesentliche Kernaussagen näher vorgestellt und hinsichtlich ihrer praktischen Bedeutung für ein modernes, anthropozentrisches Völkerrecht17 untersucht werden. 16
a) Der Zivilisationsbegriff Der Zivilisationsbegriff irritiert zunächst. Eine Verknüpfung mit der umstrittenen Schrift Samuel P. Huntingtons über den „Clash of Civilizations“18 scheint sich aufzudrängen. Zudem ist in der postkolonialen Welt der westlichen Völkerrechtslehre der Zivilisationsbegriff suspekt geworden. Taucht er im Statut des IGH, das auf das Statut des StIGH zurückgeht, noch ganz selbstverständlich auf, wenn dieses von den Rechtstraditionen der Kulturnationen („Civilized Nations“)19 spricht, so scheuen sich Autoren heute oft vor der Verwendung des Begriffs. „Kulturnationen“ seien heute, nach der Überwindung des Kolonialismus, alle Staaten.20 Diese Scheu vor dem Begriff der Zivilisation muss man ablegen, will man sich dem „Transcivilizational Approach“ unbefangen nähern. Zivilisationen sind für Onuma zunächst: „common ways of thinking and behavior that geographically extend beyond a single nation and historically last for at least several centuries.”21 Typische Elemente dieses Zivilisationsbegriffs sind: geographische Verortung, Sprache, Religion, Kultur und Aspekte der Wirtschaftsordnung.22 Insbesondere benennt er neben dem transatlantischen „westlichen“ Kulturraum den Ostasiatischen, den Islamischen, den buddhistisch geprägten südasiatischen Raum und Afrika.23 Es geht also um empirisch erfassbare, geographisch getrennte Kulturräume, ohne jegliche Wertungen hinsichtlich des Zivilisationsniveaus und ähnlicher, durch die historische Erfahrung des Kolonialismus zu Recht diskreditierter, Ideen. ioral Sciences, 2001, S. 1903 ff. (S. 1905)). Zur geschichtlichen Entwicklung beider Begriffe im europäischen Kontext vgl. ebd. 16 Siehe nur: Y. Onuma, an Intercivilizational Approach to Human Rights, 7 Asian Yearbook of International Law (2001), S. 21 ff. Zum Wechsel hin zum „transcivilizational approach“: Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 82. 17 Von einer „anthropozentrischen Wende“ im modernen Völkerrecht, weg von der klassischen Staatzentriertheit, hin zu einer am Menschen und seinen angeborenen Rechten orientierten Rechtsordnung, spricht: M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 143. 18 S. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of Worldorder, 1997. 19 Art. 38 I lit. c) IGH Statut, zur Normgenese: I. Brownlie, International Law, 7. Aufl., 2009, S. 16 f. Zum Konzept der „civilized nations“: J. Crawford, The Creation of States in International Law, 2. Aufl., 2006, S. 92, sowie die zahlreichen Nachweise ebd. Aus der älteren Völkerrechtsliteratur: F. v. Liszt, M. Fleischmann, Das Völkerrecht, 12. Aufl., 1925, S. 2–7. 20 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, S. 82. 21 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 40; ähnlich: Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 82 f. 22 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 46 23 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 88 f. und 289 ff.
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Der Zivilisationsbegriff ist zudem offen angelegt und dynamisch, er grenzt sich ausdrücklich von dem starren Zivilisationsbegriff Huntingtons ab, den Onuma als zu eindimensional ablehnt. Onuma spricht sich vielmehr für einen funktionalen Zvilisationsbegriff aus.24 Der funktionale Zivilisationsbegriff beinhaltet zwei wesentliche Merkmale: Zum einen ist er insofern offen, als dass jeder Mensch grundsätzlich in den Wert- und Begriffswelten verschiedener Zivilisationen zu Hause sein kann, so würde das Denken in modernen westlichen Industriestaaten nicht nur von der Terminologie der modernen, sekularen und liberalen westlichen Kultur geprägt, sondern auch von tief verwurzelten, christlichen Traditionen der Vormoderne.25 Zum Zweiten sind Zivilisationen wandelbar, sie treten miteinander in Kontakt, lernen von einander und verändern sich beständig durch vielfältige kommunikative Prozesse.26 Der Schlüsselbegriff Zivilisation wird daher eher im Sinne eines dynamischen, kommunikativen Referenzrahmens gebraucht.27
b) Abgrenzung zu internationalen und transnationalen Perspektiven Der „Transcivilizational Approach“ ist gegen eine klassische internationale und eine transnationale Perspektive abzugrenzen.28 Die internationale Perspektive meint die Perspektive des klassischen zwischenstaatlichen Völkerrechts, das den Staat als „black box“ betrachtet und an Fragen der innerstaatlichen Ordnung kein – oder kaum – Interesse zeigt.29 In ihrer Reinform entspricht die internationale Perspektive weitgehend dem Koordinations-Völkerrecht 30 des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Schlüsselbegriffe sind Souveränität, Staatengleichheit und Interventionsverbot.31 24 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 39 f.; Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 82 f. 25 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 39; Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 101. 26 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 47 f.; Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 105 f. 27 Dazu unten. 28 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 32 ff; Ders., A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 61 ff. 29 Zum Konzept des Staates als „black box“ in der ‚Realistischen Theorie der Internationalen Beziehungen‘:U. Lehmkuhl, Theorien internationaler Politik: Einführung und Texte, 3. Aufl., 2001, S. 71 ff.; S. Schieder, M. Spindler, Theorien der internationalen Beziehungen, 2006, S. 65 ff. 30 Dazu: A. Bleckmann, Völkerrecht, 2001, S. 108 und umfassend auch: W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964. 31 Souveränität und Staatengleichheit sind grundlegende Paradigmen der Völkerrechtsordnung, insbesondere aus der Staatengleichheit folgt wiederum das Interventionsverbot (A. Verdross, B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S. 300; I. Shearer, Starke’s International Law, 11. Aufl., 1994, S. 91) – fassbar zunächst in der Maxime ‚par in parem non habet iurisdictionem‘. Zum Interventionsverbot in seiner historischen Entwicklung: K. Bockslaff, Das völkerrechtliche Interventionsverbot, 1987;
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Der Transnationalismus spielt hingegen insbesondere in der Theorie der Internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle,32 beschreibt aber Phänomene, die auch für das Völkerrecht nicht ohne Relevanz bleiben können. Anders als die internationale Perspektive begreift er nicht die Staaten und die von ihnen geschaffenen Internationalen Organisationen 33 als einzig relevante Akteure des Völkerrechts sondern bezieht die wachsende Bedeutung zivilgesellschaftlicher Organisationen in seine Betrachtungen ein: Nichtregierungsorganisationen (NGOs), transnationale Unternehmen, global agierende Religionsgemeinschaften und andere Elemente einer sich entwickelnden globalen Zivilgesellschaft. Der Transnationalismus bearbeitet so gleichsam die mit dem Anwachsen offener Verfassungsstaatlichkeit zusammenhängenden Fragen einer Internationalisierung der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“.34 Das Völkerrecht stellt sich dieser Entwicklung hin zur „Privatisierung“ der internationalen Beziehungen an verschiedensten Fronten, die Frage nach der Völkerrechtssubjektivität Transnationaler Unternehmen,35 von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) 36 und nach dem völkerrechtlichen Status transnationaler Terrororganisationen 37 stehen beispielhaft für die Herausforderungen, die damit verbunden sind.
c) Das spezifi sch transkulturelle Moment als Ergänzung Die internationale und die transnationale Perspektive können in ihrem Zusammenspiel allerdings nicht alle Phänomene, nicht alle politischen Entscheidungen und Präferenzen der verschiedenen Akteure in der zwischenstaatlichen Arena erklären. Hierzu bedarf es einer weiteren, den bloß trans-nationalen Fokus überwindenden Perspektive, einer „transcivilizational perspective“. Der eigene, im obigen Sinne zivilisatorische Hintergrund ist nach Onuma der kulturelle Referenzrahmen aus dem U. Beyerlin, Intervention, Prohibition of, in: R. Wolfrum, United Nations: Law, Policies and Practice, Bd. II, 1995, S. 805 ff. m.w.N. 32 Hierzu: U. Lehmkuhl, Theorien internationaler Politik: Einführung und Texte, 3. Aufl., 2001, S. 223 ff. Aus der völkerrechtlichen Literatur siehe den prägenden Beitrag von: Ph. Jessup, Transnational Law, 1956 (vgl. auch: Ch. Tietje, A. Brouder, K. Nowrot, Philip C. Jessup‘s Transnational Law Revisited: On the Occasion of the 50th Anniversary of its Publication, 2006). Siehe ferner aus regimetheoretischer Perspektive: V. Rittberger, Regime Theory and International Relations, 1993. 33 So die klassische Defi nition des Völkerrechts als Koordinationsrecht zwischen den Staaten und den von ihnen zugelassenen Internationalen Organisationen. Zu dieser klassischen Defi nition: R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl , 2010, S. 5. 34 P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, in: Ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 813: „Die offene Gesellschaft der Grundrechtsinterpreten wird international – in dem Maße, wie der Typus Verfassungsstaat universal ist.“ Prägend zum Begriff der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten: P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff. 35 Dazu: C. Köster, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit privater (multinationaler) Unternehmen, 2010. 36 K. Ipsen, Der Beitrag von Nichtregierungsorganisationen im Rahmen einer Weltinnenpolitik am Beispiel des Roten Kreuzes, in: FS Röhrich, 2006, S. 559 ff.; M. Herdegen, Nichtregierungsorganisationen: rechtlicher Status, Einfluss und Legitimität, in: FS Mehle, 2009, S. 261 ff. 37 L. Mammen, Völkerrechtliche Stellung von internationalen Terrororganisationen, 2008 (insbes. S. 27–89); M. Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht gegen terroristische Gewalt, 2006.
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heraus Kommunikation über Menschenrechte mit Anderen erfolgt, entweder intrakulturell oder interkulturell. In einer Welt, die empirisch verschiedene solcher Referenzrahmen aufweist, müssen diese zwingend in die Betrachtung des Völkerrechts als „law in action“ einbezogen werden. Dieser transkulturelle Aspekt ist gleichsam das Herzstück des von Onuma entworfenen diskursiven Modells. Er knüpft an den oben vorgestellten Zivilisationsbegriff an und verknüpft ihn mit der völkerrechtlichen Methodik. Durch die transkulturelle Perspektive wird kein neues Völkerrecht geschaffen, auch verwendet der transkulturelle Ansatz nicht, wie etwa die policy-orientierte New Haven School, eine spezifisch eigene Terminologie.38 Er knüpft, wie auch der Transnationalismus, vielmehr bruchlos an das bestehende Völkerrecht an, erweitert es aber um eine wesentliche Dimension. So wie der Transnationalismus die Vorstellung überwunden hat, das Völkerrecht werde nur von Staaten und ihren Regierungen geschaffen und habe nur für diese Bedeutung, so überwindet die transkulturelle Perspektive die Vorstellung, der (kooperationsoffene39 ) Staat und seine Zivilund Bürgergesellschaft seien allein die Parameter an denen sich ein modernes Völkerrecht orientieren müsse. Vielmehr gibt es einerseits transnationale, zugleich aber regional begrenzte Referenzrahmen in denen sich der lebensweltliche Alltag der Mitglieder der Weltbevölkerung abspielt und die ihr Denken und Handeln als Deutungsschemata entscheidend prägen.
d) Die West-Zentriertheit des modernen völkerrechtlichen Menschenrechtsdenkens Menschenrechte entstammen, diese These sollte unstreitig sein, wie viele andere Konzepte des Völkerrechts, dem europäischen Rechtsdenken. Menschenrechte sind zunächst eine im europäischen kulturellen Kontext gewachsene Strategie zur Lösung innergesellschaftlicher Konfl ikte – klassisch zugeschnitten auf das Verhältnis von Bürger einerseits und Staat andererseits.40 Am Anfang des neuzeitlichen Menschenrechtsdenkens seit der Französischen Revolution steht die Frage, wie der starke Staat, der Leviathan in Person des absolutistischen Fürsten,41 in seiner Machtfülle be38 Die konzeptionelle Eigenständigkeit des New Haven Approach ist vielfach auf Kritik gestoßen, weil er sich bereits terminologisch vom klassischen Völkerrecht abhebt und seine Aussagen und Ergebnisse deshalb nur schwer am Maßstab der klassischen Völkerrechtslehre zu messen sind. (So: Ch. Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a new Century, in: 281 Recueil des Courses (1999), S. 28) Zum Völkerrechtskonzept der New Haven School ausführlich: S. Voos, Die Schule von New Haven, 2000. 39 Prägend: P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. Ferner auch: St. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz. Eine Studie zur Wandlung des Staasbegriffs der deutschsprachigen Staatslehre im Kontext internationaler institutionalisierter Kooperation, 1998. Zum Wandel vom Koordinationsvölkerrecht zum Kooperationsvölkerrecht: A. Bleckmann, Völkerrecht, 2001, S. 108 und W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964. 40 G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 2. Aufl., 1904; K. Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. I, S. 3 ff. 41 Als pointierte Fürsprecher des absolutistischen Leviathan sind zu nenen: Jean Bodin und Thomas Hobbes, die beide, ausgehend von der Erfahrung der Wirren religiöser Bürgerkriege, die absolute Macht des Fürsten propagierten. (Siehe: Th. Hobbes, Leviathan, 1651 (Reclam Ausgabe 1986) und J. Bodin, Über den Staat: Auswahl, 1986).
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schränkt werden kann. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich zunächst die klassischen Freiheitsrechte als Abwehrrechte gegen den Staat.42 Aber bereits im Ruf der Französischen Revolution nach „Liberté, Egalité und Fraternité“ scheinen weitere menschenrechtliche Dimensionen auf, insbesondere die der Gleichheitsrechte, aber auch der klassischen politischen Partizipationsrechte der Staatsbürger.43 Wie alles Recht sind aber auch Menschenrechte keine lebensweltliche Tatsache. Die Geltung von Sollenssätzen ist nicht mit einer naturwissenschaftlichen Methodik beweisbar. Rechtsnormen sind, um einen Ausspruch J. Crawfords zu adaptieren „not a fact in the sense that a chair is a fact“.44 Deshalb bedarf die Behauptung der spezifischen Existenz (H. Kelsen 45 ) einer menschenrechtlichen Norm einer besonderen Begründung. Die Frage was Recht ist, ist vielfach diskutiert und kann (auch) hier nicht geklärt werden. Auf einzelne Aspekte des Problems wird aber im Folgenden immer wieder einzugehen sein. Die globale Verbreitung der Menschenrechte beginnt mit dem Export europäischen Rechtsdenkens im Zuge des Kolonialismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts46 und gewinnt mit der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und schließlich im Prozess der Dekolonialisierung an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund setze, so Onuma, die globale Durchsetzung der Menschenrechte eine Reformulierung (‚reconceptualization‘) der Menschenrechtsidee in der Sprache nicht-westlicher Traditionen voraus.47 So werden Menschenrechte verständlich, nur so werden sie praktisch wirklich und nur so kann der in nicht-westlichen Gesellschaften latent vorhandenen Kritik, Menschenrechte seien die Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln der Wind aus den Segeln genommen werden.
42 K. Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. I, S. 32, Rn. 59. 43 Klassisch zu dieser Dreiteilung von status positivus, status negativus und status activus: G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 82 und 89 ff. Zur zeitgenössischen Einteilung von Grund- und Menschenrechten siehe für einen ersten Überblick nur: A. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl., 1997, S. 85 ff., schon hier sei aber auf das berühmte Kantzitat verwiesen: „Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür) […] ist dieses ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“ (I. Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, I. Teil, Anhang, Einteilung der Rechtslehre, B). 44 Entlehnt aus einer kritischen Auseinandersetzung mit dem völkerrechtlichen Staatsbegriff. ( J. Crawford, Criteria for Statehood in International Law, 77 BYBIL (1976), S. 94 ff.). 45 H. Kelsen umschreibt mit dem Begriff der ‚spezifi schen Existenz‘ bekanntlich das Phänomen der Geltung einer Rechtsnorm (oder ganz allgemein jedes anderen Sollenssatzes) und damit die Annahme ihrer Verbindlichkeit. (Ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1967, S. 9 ff.). 46 Zur frühen Rezeption menschenrechtlicher Ideen in Ostasien, insbesondere in Japan und während der ersten Jahre der chinesischen Republik siehe den Sammelband von G. Schubert: Ders. (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, vgl. ferner die Ausführungen bei R. Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl., 2006 und O. Simon, Der Versuch der Einführung eines modernen Justizwesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts in China, in: ZChinR 2004, S. 102 ff. 47 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 31.
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e) Macht, Recht und Legitimität Überformt wird die transkulturelle Perspektive durch die nach wie vor bedeutende Rolle der Macht, die einzelnen Akteuren in der völkerrechtlichen Arena zukommt.48 Völkerrecht ist auch in der sich globalisierenden Welt eine nach wie vor dezentrale Ordnung. Völkerrecht lebt deshalb von einer gewissen Nähe zur Macht, es kann nicht losgelöst von ihr betrachtet werden. In Anlehnung an Verdross ließe sich von einer besonderen Wirklichkeitsnähe des Völkerrechts sprechen.49 Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der transkulturelle Menschenrechtsdiskurs wichtig, da nur so eine interessengeleitete Machtpolitik der Staaten diskursiv aufgefangen werden kann. Nicht das Beharren auf partikulären Interessen, sondern die Bereitschaft zum globalen Menschenrechtsdiskurs kann die Gefahren einer machtpolitischen Auseinandersetzung im globalen Maßstab einhegen. Das Bedürfnis hierzu wächst durch einen von Onuma konstatierten und sicher treffend beschriebenen „decline of the non intervention principle“.50 Bisher wurden die verschiedenen zivilisatorischen Prägungen in der Hülle des souveränen Nationalstaates geschützt. Das Interventionsverbot, man sollte die souveräne Gleichheit der Staaten ergänzen, habe dazu geführt, dass partikulare, in einer bestimmten Kultur wurzelnde Traditionen innerhalb der staatlichen domaine réservé überlebt hätten.51 Mit der Öffnung der domaine réservé für menschenrechtliche Fragen, sei die Verantwortung für einen von wechselseitigem Respekt getragenen Menschenrechtsdiskurs gestiegen. Die Menschenrechtsfragen sind danach quasi aus dem nationalen Souveränitätspanzer herausgetreten und bedürften einer diskursiven Bearbeitung. Andernfalls würden Gruppen, die behaupten die Interessen der Nicht-Gehörten, der NichtErnst-Genommenen, der „Verteidiger“ angestammter Kulturen zu vertreten, weiter Zulauf erhalten, mit dramatischen Folgen, wie die Ereignisse des 11. September zeigen.52 Vor diesem Hintergrund hinterfragt der „Transcivilizational Approach“ auch die anerkannten Prozesse internationaler Rechtsetzung hinsichtlich ihrer Legitimität und legt einen Fokus insbesondere auch auf die Rolle von Resolutionen der UN Generalversammlung als mögliche Völkerrechtsquelle.53 48 Dazu: Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 109 ff. (“When we conceive of any legal order in human society, including international or global society, we must consider two elements […] legitimacy […] and the second is power.” – ebd. S. 110). 49 A. Verdross, B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S. 51 m.w.N. 50 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 40 ff. Zur Durchbrechung des klassischen Interventionsverbots siehe – jeweils aus verschiedener Perspektive: J. Bartl, Die humanitäre Intervention durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im „Failed State“, 1999; R. B. Lillich, Humanitarian Intervention through the United Nations: Towards the Development of Criteria, in: 53 ZaöRV (1993), S. 558 ff.; T. Franck,The Emerging Right to Democratic Governance, 86 AJIL (1992) S. 49 ff.; J. Kokott, Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, in: 64 ZaöRV (2004), S. 517; N. Kredel, Operation „Enduring Freedom“ and the Fragmentation of International Legal Culture, 2006. 51 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 42. 52 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 44. 53 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 225 ff. (insbes. S. 238– 244). (Siehe auch: “We must liberate ourselves from the outdated understandings on the ‘sources’ of
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f) Menschenrechte als Kommunikationsform – der Unterschied zwischen Wert und Vehikel Etwas versteckter fi ndet sich in den Arbeiten Onumas ein weiterer wichtiger Aspekt. In der Diskussion über die Interkulturalität von Menschenrechten fällt auf, dass bei der Suche nach einer Begründung für die Geltung menschenrechtlicher Standards oft zwei verschiedene Dinge miteinander vermischt werden: Werte und Rechte. Oft geht es bei der Frage, ob Menschenrechte für bestimmte Staaten anderer, nicht westlicher Kulturkreise verbindlich sind eigentlich um Werte, nicht um Rechte.54 Es wird diskutiert, ob denn bestimmte Wertaussagen (Menschenwürde, Meinungsfreiheit, das Bekenntnis zur Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens) in einem bestimmten Kulturkreis vorfindlich sind. Das Problem der rechtlichen Komponente wird dabei weitgehend ausgeblendet. Diese Unterscheidung zwischen Recht und Wert ist jedoch wesentlich 55 und bedarf deshalb im Folgenden einer näheren Erläuterung. Die Unterscheidung ist im Begriff der Menschenrechte bereits angelegt. Dass Menschenrechte „Recht“ sind, ist eine technische, auf die Form bezogene Aussage. Menschenrechte sind in der Form von Rechssätzen gefasst. Diese Rechtssätze sind jedoch besonderen Inhalts, sie betreffen die Interessen jedes Menschen gleichviel, d. h. sie betreffen jeden „kraft seiner Menschheit“56 bzw. seines Menschseins – und dienen gleichsam der Veranschaulichung und gesellschaftlichen Sichtbarkeit dieser Interessen in Form von subjektiven Rechten. Damit ist nichts anderes festgestellt, als dass Menschenrechte ihrem klassischen Herkommen nach ein bestimmter Durchsetzungsmodus, ein Vehikel zum Transport von Werten sind. Wenn man über Menschenrechte spricht, so muss man also diese Differenzierung immer vor Augen haben. Recht ist eine Kulturtechnik, die der Durchsetzung von Zielen dient, die auch durch andere Kulturtechniken (Sitte, Religion, usw.) verwirklicht werden können – ohne damit eine Aussage über die soziale Leistungsfähigkeit dieser anderen Durchsetzungsmechanismen zu treffen. Es ist aus Perspektive des „Transcivilizational Approach“ deshalb streng zwischen den Menschenrechten als juristischer Technik (Form) und den durch diese transportierten Werten (Inhalt) zu unterscheiden. In bestimmten Kontexten wird dieser Unterscheidung eine Bedeutung zukommen, da in Rechtskulturen, die stärker in einer pfl ichtenbasierten Tradition stehen, die das Bestehen von Gruppenrechten stärker betonen oder die als ländlich-nomadische Kulturen mit Recht im Verständnis des modernen Industriestaates bisher kaum in Berührung gekommen sind, Menschenrechte als juristisch-technisches Konzept auf spezifische Akzeptanzprobleme jenseits von inhaltlichen Fragen stoßen können, so dass die Diskurse über Form und Inhalt dann zweckmäßigerweise getrennt werden sollten 57. international law and its accompanying mystical theory of ‘customary’ international law.” – [ebd. S. 226] wobei diese radikale Infragestellung des Völkergewohnheitsrechts in dieser Konsequenz wohl nicht von der Völkerrechtpraxis geteilt werden dürfte.). 54 Siehe dazu insgesamt die Beiträge in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999. 55 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 388 ff. 56 I. Kant (Fn. 43) a.a.O. 57 Vgl. dazu aus indischer Sicht die Argumente bei: M. P. Singh, Human Rights in the Indian Tra-
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IV. Ein weiterer relativistischer Ansatz? Der Transcivilizational Approach scheint zunächst ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe von kulturrelativistischen Menschenrechtskonzepten 58 zu sein.59 Mit seiner Bezugnahme auf kulturelle (zivilisatorische) Partikularitäten erweckt auch er den Eindruck, in einem diametralen Gegensatz zum universellen Anspruch zu stehen, den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erhebt.60 Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieser Eindruck jedoch als falsch. Der entscheidende Unterschied zu den relativistischen Menschenrechtsmodellen ist sein durchweg diskursiver Ansatz. Er zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er starre Wertekonzepte unterschiedlicher Kulturkreise gegenüberstellt, vielmehr will er eine Anleitung geben, wie der Dialog über derartige (vermeintliche) Unterschiede hinweg gelingen kann. Entscheidend kommt es daher auf das funktionale Verständnis des Zivilisationsbegriffs an. Zivilisation erscheint dabei als kultureller Kontext innerhalb dessen Menschen Entscheidungen treffen. Die Wertvorstellungen und kommunikativen Techniken einer Zivilisation bilden einen weitgehend unreflektierten Referenzrahmen für das eigene Handeln, also Lebenswelt im Habermas‘schen Sinne.61 Deshalb ist es zum einen möglich, dass sich Zivilisation in diesem Sinne durch den kommunikativen Austausch mit anderen Menschen, die vor einem anderen lebensweltlichen Hintergrund argumentieren, wandelt, verschiedene Perspektiven der fremden Lebenswelt adaptiert und sich so selbst verändert – bewusst oder unbewusst. Zum anderen erklärt diese kommunikative Perspektive aber zugleich, weshalb Menschen verschiedene zivilisatorische Denkmuster gleichzeitig anwenden können, weil es sich nämlich bei Zivilisation nicht um ein exklusives Set von Merkmalen handelt, das als Totalität das Schicksal jedes Einzelnen von Geburt an bestimmt, sondern weil es sich um eine kommunikative Struktur handelt, die das Bilden von, für Andere verständlichen, Argumenten ermöglicht, ein System von Sprach- und anderen Verständigungssymbolen. Man kann deshalb, je nach kommunikativer Situation durchaus Verhaltensmuster mehrerer Zivilisationen adaptieren.62 Onuma bildet selbst das Beispiel eines Briten, der sich zugleich der modernen, säkularen europäischen Kultur dition – Search for an Alternative Model, in: Ders., H. Goerlich, M. v. Hauff, Human Rights and Basic Needs, 2008, S. 3 ff. (S. 11 ff.). 58 Als Beispiele für relativistische Menschenrechtsmodelle siehe insbesondere das Konzept der „Asian Values“ (dazu: W. S. Heinz, Vom Mythos der „Asiatischen Werte“, in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, S. 53 ff.) Allgemein: A. An-Na‘im, Towards a Cross-Cultural Approach to Defi ning Standards of Human Rights, in: Ders., Human Rights in Cross-Cultural Perspectives, 1992, S. 19 ff. Für einen ersten Überblick über anthropologische Ansätze zur Problematik: H. Steiner, Ph. Alston, R. Goodman, International Human Rights in Context, 3. Aufl., 2007, S. 517 ff. Siehe ferner die Nachweise bei: Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 95, Fn. 47. 59 In dieser Weise versteht den „Transcivilizational Approach“ etwa: Li Zhaojie, 6 JHIL (2004), S. 33 ff. und B. Fassbender, Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart, in: J. Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009, S. 34. 60 Vgl. M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 313 ff. 61 J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, S. 37 ff. („[Es] bewegen sich die expliziten Verständigungsleistungen im Horizont gemeinsamer unproblematischer Überzeugungen […].“ (ebd. S. 38) – die Lebenswelt stellt einen „Modus unvermittelter Gewißheit“ dar (ebd.)). 62 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 39 f.
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einerseits und vormodernen christlich-religiöser Traditionen andererseits als lebensweltliche Deutungsschemata bedient.63 Handelt es sich bei ihm um einen regelmäßigen intensiven Internetnutzer könnte ein drittes Deutungsschema hinzukommen. In diesen lebensweltlichen Hintergründen fl ießen jeweils die Weltbilder des Einzelnen mit denjenigen seiner Mitmenschen zusammen. Es bietet sich an dieser Stelle eine vergleichende Perspektive auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker an, das ja in jedem der beiden großen Menschenrechtspakte in Art. 1 niedergelegt ist. Wer Träger dieses Selbstbestimmungsrechts ist, ist nach wie vor strittig. Allerdings scheint mit der in Art. 1 IPbürgR und IPpolR vorausgesetzten menschenrechtlichen Fundierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker nur ein autokreativer, subjektiver, Volksbegriff vereinbar zu sein. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker erfüllt danach nicht die Funktion, die verschiedenen Traditionen und kulturellen Besonderheiten der verschiedenen Völker als museale Artefakte zu erhalten – die Gruppenmitglieder sollen nicht als Objekt ethnologisch interessierter Wissenschaft erhalten werden. Eine konkrete Sprache, Tradition, Kleidung usw. sind nur Identitätszeichen einer Gruppe. Die Identität selbst wird aber vor allem durch kommunikative Akte ihrer Mitglieder begründet und fi ndet ihren Ursprung in den individuellen Akten selbstbestimmter Freiheit der beteiligten Individuen zu einander und gegenüber anderen Menschen außerhalb dieser Gruppe. Dem Selbstbestimmungsrecht geht es daher vielmehr um die Erhaltung dieser Fähigkeit zur beständigen Autokreation der Gruppe in selbstbestimmter Freiheit.64 Dies schließt die kulturelle Selbstbestimmung und das Annehmen oder Ablehnen kultureller Referenzrahmen ein und zwar auch dann, wenn diese Prozesse weitgehend unbewusst ablaufen. Die Frage mag erlaubt sein, ob das, was Onuma meint, mit dem Begriff Zivilisation treffend bezeichnet ist. Er selbst räumt ein, dass der Zivilisationsbegriff schillernd und facettenreich ist.65 In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass etwa in Frankreich der Begriff der „civilisation francaise“ in einem sehr viel engeren Sinne gebraucht wird.66 Viele weitere Beispiele für den facettenreichen Gebrauch des Zvilisationsbegriffs ließen sich aufzeigen.67 Auch mutet es merkwürdig an, sich vorzustellen, ein Europäer sei, wenn er heute von Menschenrechten und morgen von seinem christlichen Glauben spricht, in zwei Zivilisationen zu Hause. In der Tat handelt es sich aber um zwei, nicht völlig getrennte und zusammenhanglos nebeneinander stehende, gleichwohl aber verschiedene lebensweltliche Hintergründe. Statt von Zivilisation ließe sich sicher auch abstrakter von einem kulturgeprägten kommunikativen Referenzrahmen sprechen. Dabei würde jedoch leicht der von Onuma ganz richtig hervorgehobene Ursprung dieses Referenzrahmens aus dem Blickfeld geraten. Denn in der Tat basieren die für das Völkerrecht praktisch relevanten Referenzrahmen auf 63 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 39 und Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on International Law, 2010, S. 101. 64 C. Richter, Collapsed States: Perspektiven nach dem Wegfall von Staatlichkeit, 2011, S. 185 ff. Vgl. auch: J. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Domestizierung einer Illusion, 2010. 65 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 40. 66 Ebd. 67 A. Al-Azmeh, Civilization, Concept and History of, in: N. Smelser, P. B. Baltes (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2001, S. 1903 ff.
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„common ways of thinking and behavior that geographically extend beyond a single nation and historically last for at least several centuries”68 und die von Onuma immer wieder diskutierten Beispiele – Europa, Ostasien, die islamischen Staaten – lassen sich mit dieser Defi nition sicher besonders treffend erfassen. Insofern ist der pathetische und gewiss zugleich provozierende Zivilisationsbegriff angemessen. Gleichwohl kann und muss man darüber nachdenken, ob sich neu bildende Referenzrahmen, die nicht über eine derartige geographische und historische Verwurzelung verfügen nicht bereits die Voraussetzungen des funktionalen Zivilisationsbegriffs erfüllen. Zu denken ist dabei insbesondere an die globale Kommunikation über das Internet. Die „Bürger“ des Internet haben mittlerweile zu eigenen Sprachzeichen (Stichwort: Akronyme und Emoticons), zu eigenen Werten (Stichwort: Umgang mit privaten Informationen in Sozialen Netzwerken) und zu Ansätzen einer eigenen Selbstverwaltung (Stichwort: Digitalverfassung 69 ) gefunden.
V. Welchen Erkenntnisgewinn hat der „Transcivilizational Approach“? Es könnte nun argumentiert werden, der „Transcivilzational Approach“ sei gleichsam alter Wein in neuen Schläuchen, er biete außer einer neuen Terminologie inhaltlich wenig Neues. Zudem sei die Frage der internationalen Geltung der Menschenrechte bereits deshalb weitgehend gelöst, weil die weit überwiegende Mehrheit der Staaten dem IPbürgR70 und dem IPsozR71 angehören. Damit hätten sie sich, unabhängig von ihren kulturellen Wurzeln verpfl ichtet, bestimmte menschenrechtliche Mindeststandards einzuhalten. Über diese von ihnen eingegangene völkerrechtliche Bindung könne schon deshalb nicht mehr diskutiert werden, weil die menschenrechtlichen Verträge Wirkungen zugunsten Dritter, nämlich der territorial radizierten Bevölkerung des verpfl ichteten Staates entfalteten und jedenfalls IPbürgR und IPsozR als universelle Menschenrechtspakte nicht kündbar seien.72 Menschenrechtliche Verträge sind jedoch, wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag, jede Resolution des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung und jede Entscheidung des IGH zunächst einmal nur Textmaterial. Mit der formalen Bindung an den Text ist über dessen Inhalt das letzte Wort aber noch nicht gesprochen. Das 68 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 40. 69 Vgl. dazu: G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 16 ff. 70 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. 1973 II, S. 1553 (Zum gegenwärtigen Status der Ratifi zierungen: http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY& mtdsg_no=IV-4&chapter=4&lang=en [letzter Zugriff vom 11. 7. 2011]). 71 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, BGBl. 1976 II, S. 428 (Zum gegenwärtigen Status der Ratifi zierungen: http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src= TREATY&mtdsg_no=IV-3&chapter=4&lang=en [letzter Zugriff vom 11. 7. 2011]). 72 Zur Frage nach dem Austritt aus dem IPbürgR: M. Nowak, CCPR Commentary, 2. Aufl., 2005, Introduction, Rn. 32 ff. mit Hinweis auf den General Comment des Human Rights Committee im Fall Nordkoreas, das 1997 den Rückzug aus dem IPbürgR erklärt hatte [GenComment Nr. 26 (1997)]). Zum Ganzen auch: M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, insbes. S. 138 ff.
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Problem kultureller Divergenzen verlagert sich damit auf die Ebene der Vertragsauslegung. Aus dem Problem der formal-juristischen Verbindlichkeit einer Rechtsnorm wird damit ein hermeneutisches Problem.73 Auch traditionell menschenrechtskritische Staaten, wie China, lehnen die Idee allgemeiner Menschenrechte nicht ab. Auch wenn sie eine naturrechtliche Herleitung der Menschenrechte nicht mittragen, akzeptieren sie jedenfalls das Argument, an die vertraglichen Verpfl ichtungen gebunden zu sein, die sie völkerrechtlich eingegangen sind.74 Ebenso wie im nationalen Verfassungsrecht sind die menschenrechtlichen Verbürgungen der völkerrechtlichen Verträge oft abstrakt gehalten, die Verhältnisbestimmung der einzelnen Garantien zueinander ist nicht in jedem Fall klar. Dies ist auch auf die strukturell bedingte Indeterminiertheit von Rechtsnormen zurückzuführen. Diese Indeterminiertheit ist selbstverständlich keine absolute, denn das hieße zu unterstellen, die Normen der betreffenden Verträge wären vollständig leer. Diese These von Rechtsnormen als „empty vessels“75 mag zwar als theoretisches Konzept reizvoll sein, entspricht aber nicht der Praxis der völkerrechtlichen Vertragsauslegung. Wohl aber kann man eine relative Indeterminiertheit feststellen.76 Menschenrechtstexte als eine Sammlung von Sprachzeichen sind nicht losgelöst vom Kontext des Sprechers (oder Lesers) verständlich. Sofern der Kontext der Sprecher identisch ist, wie in der gemeineuropäischen Menschenrechtstradition können sich Kontext und Text (genauer: Textstufen77) wechselseitig befruchten. Stehen beide Sprecher in verschiedenen Kontexten, so sind kontextüberwindende Diskursstrategien notwendig. Dies erfordert von beiden Seiten die Bereitschaft zum Zuhören, Verstehen und wechselseitigen Rezipieren. Grundvoraussetzung hierfür ist jedoch, ganz im Sinne der Menschenwürde als Urgrund der Menschenrechte, die Argumente des Anderen, solange sie nicht offensichtlich rein mißbräuchlicher Natur sind,78 als rational gelten zu lassen. Die Annahme, der Andere argumentiere in seinem spezifischen Kontext ebenso rational, wie ich in meinem eigenen, ist unmittelbare Folge des aus 73 M. Herdegen weist zu Recht auf das Problem hin, dass die unterschiedlichen Vorverständnisse oft hinter einer gemeinsamen Menschenrechtssemantik verborgen liegen (M. Herdegen, Völkerrecht, 10. Aufl., 2011, S. 337), dies erschwert den Menschenrechtsdiskurs, denn hinter der gemeinsamen Sprache gilt es unterschiedliche Bedeutungsgehalte zu entdecken. 74 B. Ahl, Die Anwendung völkerrechtlicher Verträge in China, 2009, S. 171; H. v. Senger, Versuch einer Darstellung der offi ziellen Position der VR China zur Menschenrechtsfrage, in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, S. 123 ff. 75 C. Dalton, An Essay in the Deconstruction of Contract Doctrine, in: 94 Yale Law Journal (1984– 1985), S. 1002. 76 Neben der unvermeidbaren sprachlichen Ungenauigkeit und der Schwierigkeit jeweils adäquate Begriffe in verschiedenen Sprachen zu fi nden, kommt dem Phänomen der under- und over-inclusiveness von Rechtsnormen eine wesentliche Bedeutung zu. Normen erfassen danach immer Fälle, die sie nach Ansicht der Rechtsanwender nicht erfassen sollen, während andere Fälle nicht umfasst sind, die in den Anwendungsbereich fallen sollten. ( J. Klabbers, The Meaning of Rules, in: 20 International Relations (2006), S. 297 f.; M. Koskenniemi, From Apology to Utopia, 2. Aufl., 2005, S. 590 ff.) Dies ist unvermeidbar, weil Rechtsnormen, die heute entstehen unmöglich die Vielfalt der Lebenssachverhalte in der Welt von morgen kennen können. (M. Koskenniemi, a.a.O.). 77 P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: Ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. und Ders., Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, ebd., S. 791 ff. 78 J. Habermas spricht von strategischem Handeln (Ders., Faktizität und Geltung, 1998 und Ders., Theorie des kommunikativen Handelns, 1995).
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der Menschenwürde fl ießenden wechselseitigen Achtungsanspruchs. Die Menschenrechtstexte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des IPbürgR stehen aber in einer europäischen Tradition, ihre Formulierung wiederspiegelt einen europäischen Erfahrungshorizont der nicht in jedem Fall dem Horizont der Menschen der nicht-europäischen Welt entspricht. Das Problem der inhaltlichen Indeterminiertheit, die zum interkulturellen Menschenrechtsdiskurs zwingt, ist kein vorgeschobenes Argument, sondern für alle am Menschenrechtsdiskurs Beteiligten relevant. Jeder, der menschenrechtliche Texte liest, auslegt, bewertet, sich auf sie beruft usw. tut dies durch eine jeweils eigene kulturgeprägte „Brille“. Eine solche kulturelle Voreingenommenheit („Cultural Bias“) ist schon deshalb unvermeidlich, weil der lebensweltliche Hintergrund in den jedes menschliche Handeln eingebettet ist – weitgehend unbewusst und unreflektiert – unsere Präferenzen für das eine oder das andere juristische Argument prägt. Dies soll an den folgenden fünf Beispielen veranschaulicht werden.
a) Das Problem der richtigen Kategorien – Chinesische Rechtskultur und die Menschenrechte Recht, gedacht als subjektive Rechtsposition, ist im westlichen Kulturkreis ein überaus positiv besetzter Begriff. Dies ist allerdings nicht selbstverständlich. Bei der Einführung des Menschenrechtsbegriffs in anderen Kulturkreisen ist daher sorgsam auf eine korrekte Übertragung des Begriffs in die Terminologie und den kulturellen Kontext der rezipierenden Gesellschaft zu achten und eine Rückkopplung an lokale Kulturtechniken und Konfl iktlösungsstrategien zu bedenken. Rezeption, so R. Zippelius 79, macht ein „Anverwandeln“ der aus einem fremden Kulturkreis übernommenen Vorstellungen, Normen und Rechtstexte erforderlich. Probleme bei der Adaption des modernen Menschenrechtskonzepts können dabei bereits bei einer ganz grundsätzlichen Frage auftauchen, der richtigen Wahl der fundamentalen begriffl ichen Kategorien. Die Formulierung von Menschenrechten ist nicht denkbar ohne Sprache. Die erfolgreiche Weitergabe der Menschenrechtsidee hängt deshalb erheblich davon ab, ob es gelingt, sie in der Sprache der rezipierenden Kultur verständlich zu formulieren. Am klassischen chinesischen Recht kann gezeigt werden, welche Probleme hier bereits bei der Verwendung der richtigen sprachlichen Grundkategorie drohen. Das Chinesische kennt keine Entsprechung für das deutsche Wort Recht in dieser Allgemeinheit. Es hat im Laufe seiner Geschichte eigene Kategorien entwickelt, die sich mit dem europäischen Rechtsdenken teilweise decken, weitgehend aber von einem eigenständigen Vorverständnis ausgehen. Die chinesische Übersetzung für Menschenrechte lautet 人权 (renquan). Ren bedeutet „Mensch“, Quan in etwa „Anspruch“. Damit ist aber noch nicht gesagt, auf welches Normsystem sich dieser Anspruch bezieht. Die klassischen Referenzrahmen sind hierfür li und fa. Das Problem ist nun, dass fa im strengen Sinne positives, das heißt staatlich gesetztes, Recht bedeutet.80 Verortet man 人权 (renquan) im Recht ( fa) so würde der 79 80
Zum Folgenden: R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 2011, S. 95. R. Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl., 2006, S. 68 f. (Über diese Bedeu-
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Menschenrechtsbegriff von vornherein an einer unschönen, positivistischen Konnotation leiden. Das Problem verschärft sich dadurch, dass positives Recht im Sinne von fa seinem Herkommen nach in erster Linie Strafrecht meinte und damit deutlich enger ist, als unser Verständnis des Begriffs. Vereinzelt haben chinesische und westliche Studien zum klassischen chinesischen Recht zwar nachzuweisen versucht, dass auch die alten chinesischen Kodizes zivilrechtliche und verwaltungsrechtliche Normenkomplexe enthalten.81 Es ist heute jedoch anerkannt, dass ihrer ganzen Struktur nach die Kodizes als Strafgesetzbücher konzipiert waren.82 Wie ist dies zu erklären? Anders als in der europäischen Tradition geht die klassische chinesische Normtheorie (falls man diesen Begriff verwenden mag) nicht vom Recht als normativen Grundtypus aus. Die gesellschaftlich relevanten Primärnormen finden sich in den li, die mit dem Konzept von 仁 (ren) auch Ansätze für ein frühes chinesisches Menschenwürdekonzept enthalten.83 Die li regelten im klassischen China nahezu alle Gesellschaftsbereiche.84 Am ehesten lässt sich der Begriff mit Sittennormen (oder oft auch: Riten) umschreiben, wobei er regionales und überregionales Gewohnheitsrecht, Traditionen und Normen metaphysischen Charakters einschließt. Idealerweise regulierten sich die li-Normen im Verkehr zwischen den ihnen unterworfenen Personen selbst. Die Geringschätzung des positiven Rechts spiegelt sich in dem von Gregor Paul zitierten klassischen Diktum, das Kaiserreich sei „wai ru nei fa“ (外儒内法 – außen konfuzianisch, aber im Inneren legalistisch) gewesen85 wieder. Die Geltendmachung und Anwendung von Recht ( fa) ist daher in der chinesischen Tradition nichts Erstrebenswertes gewesen. Wenn möglich galt es durch das freiwillige Befolgen von li die Anwendung von fa zu vermeiden. Vom alten Rechtsbegriff ist heute oberflächlich in der modernen chinesischen Gesellschaft kaum etwas erhalten geblieben. China kennt eine große Vielfalt von Gesetzestexten, die sich, wie das Verfassungsrecht, das Gesellschaftsrecht, das Stiftungsrecht, das Verwaltungsrecht usw. oft an ausländischen Vorbildern orientieren. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die jahrtausendealte Engführung des Rechtsbegriffs für das Menschenrechtsverständnis in China hinderlich sein kann. Recht ist danach als positives Recht in erster Linie ein staatliches Herrschaftsinstrument. Fa wird nach wie vor als vom Staat geschaffene normative Ordnung verstanden durch die die Gesellschaft gelenkt wird. Wenn China vom Auf bau eines soziatung für die juristische Fachsprache hinaus fi ndet sich noch eine weitergehende Bedeutung, die in etwa mit ‚Regel‘ übersetzt werden könnte, etwa in 语法 (Grammatik) oder 书法 (Kalligraphie, lit.: „die (Hand-)Schrift-Gesetze“). 81 U. Glück, Das Dian, 1999, S. 24 f. 82 R. Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl., 2006, S. 56 ff. einschließlich des abgedruckten Beitrages Wang Boqis, ebd. S.77. Vgl. auch: O. Weggel, Chinesische Rechtsgeschichte, 1980, S. 7–19; U. Glück, Das Dian, 1999, S. 25. 83 G. Paul, Menschenrechtsrelevante Traditionskritik in der Geschichte der Philosophie in China – Philosophische Überlegungen, in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, S. 75 ff (S. 83 ff.). 84 R. Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl., 2006, S. 67 ff. und O. Weggel, Chinesische Rechtsgeschichte, 1980, S. 12. 85 G. Paul, Menschenrechtsrelevante Traditionskritik in der Geschichte der Philosophie in China – Philosophische Überlegungen, in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, S. 75 ff. (102).
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listischen Rechtsstaates 86 spricht, so ist fraglich, ob dieser Rechtsstaatsbegriff tatsächlich, wie im westlichen Sinne die Herrschaft des Rechts meint, oder ob nicht vielmehr – ganz der chinesischen Tradition entsprechend – eine Herrschaft durch Recht (‚rule by law‘87) gemeint ist, also Recht ein rein staatliches Steuerungs- und Kontrollinstrument sein soll. Vieles spricht für die zweite Alternative, damit deckt sich auch die volksrepublikanische chinesische Position, Menschenrechte seien vom Staat gewährt und besäßen keinen naturrechtlichen Ursprung.88 Es scheint deshalb sinnvoll, zu versuchen, bei der Reformulierung der Menschenrechtsidee im Diskurs mit China durchaus auch in den klassischen Kategorien fa / li und fa / ren zu diskutieren und damit die positivistische Vorstellung der Menschenrechte ( fa) als bloße Herrschaftstechnik zu durchbrechen und die besondere, in der angeborenen und jedem Menschen gleich zukommenden Würde liegende Verwurzelung der Menschenrechtsidee zu unterstreichen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Gesprächspartner zwar die europäische Menschenrechtsrhetorik erlernt, ihm die ihr zugrundeliegende rechtskulturelle Grundierung aber verborgen bleibt. Der Befund einer tief verwurzelten Rechtsskepsis lässt sich für wohl alle ostasiatischen Gesellschaften verallgemeinern.89 Menschenrechte müssen hier deshalb eine doppelte Überzeugungsarbeit leisten – ganz im Sinne der oben aufgezeigten Problematik von Form (Recht) und Inhalt (Werte). Das Einlassen auf die Denkkategorien des Anderen bietet andererseits die Möglichkeit, das eigene Konzept der Menschenrechte aus einer neuen Perspektive zu durchdenken. Die Reformulierung der westlichen Menschenrechtsidee in den Grundkategorien einer anderen (Rechts-)Kultur bedeutet deshalb nicht nur für den Rezipienten, sondern auch für die Ursprungskultur einen Erkenntnisgewinn.
b) Das Problem der Rechtsbegriffe – James Q. Whitman und der Menschenwürdebegriff Ein weiterer Problemkreis neben diesem kategorischen Problem tut sich bei der kritischen Reflexion über wesentliche Begriffe menschenrechtlicher Texte auf. Zu Recht wird der Begriff der Menschenwürde als zentral für den internationalen Men86 R. Heuser, „Sozialistischer Rechtsstaat“ und Verwaltungsrecht in der VR China (1982–2003): Analyse, Texte, Bibliographie, 2003. 87 Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive: D. Cao, Chinese Law: A Language Perspective, 2004 (insbes. S. 35 ff.). Für das klassische Recht galt: „Gesetze sind als Befehl des Kaisers an die Beamten aufzufassen, um unrechtes, unsoziales Verhalten zu bestrafen.“ (R. Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl., 2006, S. 120). 88 H. v. Senger, Chinese Culture and Human Rights, in: W. Schmale, Human Rights and Cultural Diversity, 1993, S. 281 ff. (307 ff.).; B. Ahl, Die Anwendung völkerrechtlicher Verträge in China, Dordrecht et.al. 2009, S. 172, vgl. auch die Nachweise ebd. S. 171, Fn. 206. 89 Für Japan: A. Takenaka, Gibt es „japanische“ Menschenrechte? Eine rechtssoziologische Untersuchung der Menschenrechtsauffassung in der japanischen Diskussion seit 1945, in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, S. 345 ff. Für die koreanische Kultur: W. Sasse, Menschenrechte in Korea, in: G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999, S. 429 ff. (437 ff.) – es fi ndet sich dabei eine auffallende Entsprechung zur chinesischen Dichotomie von fa (korean. pop) und li (korean. p‘ungsok). Konsequent verortet W. Sasse mögliche kulturhistorische Anknüpfungspunkte für die (westliche) Menschenrechtsidee in Korea deshalb in den Sittennormen (p‘ungsok). (W. Sasse, a.a.O.).
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schenrechtsschutz angesehen. In der angeborenen Würde eines jeden Menschen unabhängig von Herkunft, Rasse, Geschlecht oder Religion fi ndet die Menschenrechtsidee ihren Urgrund.90 Dieses Bekenntnis hat gerade nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges auch im Völkerrecht seinen Niederschlag gefunden.91 Menschenwürde kann man dabei durchaus als wechselseitige Anerkennung der Menschen als mit gleicher Würde begabt und deshalb mit gleichen Rechten ausgestattet ganz im Sinne Immanuel Kants verstehen: „Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür) […] ist dieses ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“92 Was dies im Einzelnen bedeutet kann freilich umstritten sein. Dies gilt nicht nur für die aus der Rechtsprechung deutscher und europäischer Gerichte bekannten Problemfelder.93 Angesichts einer relativ einheitlichen europäischen Menschenwürdekultur sind die hier diskutierten Unterschiede Einzelfälle. Sehr viel grundsätzlicher wird der Begriff der Menschenwürde hingegen jüngst aus rechtsvergleichender Perspektive von James Q. Whitman in Frage gestellt. In seinem Beitrag „‘Human Dignity‘ in Europe and the United States: The Social Foundations“94 stellt Whitman die These auf, dass das US-amerikanische und das europäische Menschenwürdekonzept sich erheblich von einander unterscheiden. Er führt dies auf die unterschiedliche historische Entwicklung diesseits und jenseits des Aktlantiks zurück. Menschenwürde betrachtet er dabei nicht als statisches metaphysisches Konzept im Sinne der oben gegebenen kantischen Defi nition, sondern als in gesellschaftliche Entwicklungen eingebetteten, dynamischen Begriff.95 Die Kernthese Whitmans lautet dabei, die US-amerikanische Einwanderergesellschaft habe sich von den Fesseln der europäischen Ständegesellschaft dadurch befreit, dass sie radikal jegliche Privilegien, die den herrschenden Klassen in Europa zustanden, abgeschafft hätte, in europäischen Gesellschaften sei der soziale Kampf um die Gleichheit hingegen durch eine sukzessive Übertragung der Privilegien der höheren Stände auf die niederen Stände gelöst worden.96 Im Ergebnis, so Whitman, erkläre dieser histo90 Allgemein hierzu: H.-G. Dederer, Die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), in: JöR 57 (2009), S. 89 ff.; Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG, 1997; P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR, Bd. 1, 2. Aufl. 1995, S. 815 ff. Bezogen auf das Völkerrecht: M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 217 ff. m.w.N. 91 Zum Überblick: M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 218. 92 I. Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, I. Teil, Anhang, Einteilung der Rechtslehre, B. 93 Zur Menschenwürde im gesamteuropäischen Kontext: M. Borowski, in: J. Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2010, Art. 1 Rn. 1 ff. Zum aktuellen Beispiel sogenannter Laserdrome-Spielhallen: EuGH C-36/02 (14. 10. 2004) Slg. 2004, I-9609 und aus der deutschen Rechtsprechung: BVerwGE 115, S. 189 ff. 94 J. Q. Whitman, „Human Dignity“ in Europe and the United States: The Social Foundations, in: HRLJ 2004, S. 17 ff. 95 „Many Europeans, especially many Germans, credit their law of dignity to the influence of Immanuel Kant. In my view the magnificent abstractions of Kant […] have little to do with the sociohistorical reality of dignity in Europe.” ( J. Q. Whitman, „Human Dignity“ in Europe and the United States: The Social Foundations, in: HRLJ 2004, S. 18). 96 J. Q. Whitman, „Human Dignity“ in Europe and the United States: The Social Foundations, in: HRLJ 2004, S. 18.
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rische Kontext die erheblichen Unterschiede im Umgang mit Fragen des Straf(vollzugs)rechts, der Meinungsäußerungsfreiheit (‚hate speach‘) und dem ‚right to privacy‘.97 Soviel für den formalen kantischen Menschenwürdebegriff spricht, so gewiss ist doch auch, dass die Menschenwürde in ihrer konkreten Ausprägung letztlich doch kontextbezogen ist. Deshalb sind die von Whitman aufgezeigten, empirisch nachweisbaren Unterschiede im transatlantischen Menschenwürdeverständnis relevant. Das Bewusstsein der Unterschiede im Menschenwürdeverständnis so eng verwandter Kulturen wie der nordamerikanischen und der europäischen darf aber nicht als Anhaltspunkt für die Aussichtslosigkeit eines interkulturellen Menschenrechtsdiskurses gedeutet werden. Richtig ist vielmehr, dass die empirisch feststellbaren Unterschiede im Verständnis bestimmter Rechtsbegriffe gerade zum Diskurs verpfl ichten – gerade und auch im Hinblick auf spezifisch außereuropäische Akzente der Menschenwürdediskussion, man denke nur an das Right to Food und das im Entstehen begriffene Right to Development – zwei Rechte mit einem besonders starken Menschenwürdekern.98
c) Das Problem der Verhältnisbestimmung – Freiheitsrechte vs. soziale und kulturelle Rechte Menschenrechte werden gerade von westlichen Staaten hauptsächlich als Menschenrechte der ersten Generation verstanden, diese führen den internationalen Menschenrechtsdiskurs folglich hauptsächlich aus der Perspektive der klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte. Wie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, aber etwa auch die jüngst geschaffene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen99 oder die UN-Kinderrechtskonvention100 zeigen, erschöpfen sich die Menschenrechte heute nicht mehr in diesen klassischen Rechten. Zum Teil wird bestritten, dass es sich bei diesen sogenannten Rechten der zweiten Generation um „echte“ Menschenrechte handelt. Die durch sie 97 Siehe hierzu vertiefend: J. Q. Whitman, Harsh Justice: Criminal Punishment and the Widening Divide between America and Europe, 2003; Ders., Enforcing Civility and Respect: Three Societies, in: 109 Yale Law Journal (2000), S. 1279 ff. und J. Q. Whitman, G. Friedman, The European Transformation of Harassment Law, in: 9 Columbia Journal of European Law (2003), S. 241 ff. 98 Die Nähe zum jedem Menschenrecht innewohnenden Menschenwürdekern drängt sich insbesondere für das ‚Right to Food‘ auf. Aber auch das ‚Right to Development‘ als Grundlage für die Gestaltung der eigenen Zukunft in freier Selbstbestimmung in Gemeinschaft mit Anderen legt einen engen Menschenwürdebezug nahe. Zum ‚Right to Food‘: A. Chapman, S. Russel, Core Obligations: Building a Framework for Economic, Social and Cultural Rights, 2002, S. 295 und FAO (Hrsg.), The Right to Food: in Theory and Practice, 1998. M. Bedjaoui, The Right to Development, in: Ders. (Hrsg.), International Law: Achievements and Prospects, 1991, S. 1177 ff. Der Ursprung des Rechts reicht in die Hochzeit der Dekolonialisierung zurück. Noch heute sind der genaue Charakter und einzelne Dimensionen des Rechts allerdings umstritten. (Siehe: K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, S. 440 ff. a.a.O.). Als wichtige textliche Grundlage muss die Erklärung zum Recht auf Entwicklung in GA-Res. 41/ 128 vom 4. 12. 1986 genannt werden. Bereits in GA-Res. 36/ 133 spricht die Generalversammlung jedoch vom „right to development“ als eines „inalianable human right“. 99 BGBl. 2008 II, S. 1419 ff. 100 „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ – BGBl. 1992 II, S. 121 ff.
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verbürgten Rechte seien gegenüber dem Staat nicht einklagbar.101 Diese Auffassung verkennt allerdings zweierlei: Zum einen besitzen die Menschenrechte der zweiten Generation oft eine starke Schutzpfl ichtendimension, es kommt also weniger auf die ökonomische Leistungsfähigkeit des verpfl ichteten Staates, als auf effektiven rechtlichen Schutz der verbürgten Rechte an.102 Zum anderen sind formal-juristisch alle Parteien des IPsozR völkervertraglich zur Umsetzung der darin enthaltenen Verbürgungen verpfl ichtet. Die betreffenden Rechte als Menschenrechte minderen Ranges abzuqualifizieren verbietet sich daher schon wegen Art. 26 WVK, zumal die Menschenrechte heute als unteilbar und interdependent verstanden werden.103 So hängt das Recht auf politische Teilhabe unmittelbar mit dem Recht auf Bildung, das Recht auf Leben unmittelbar mit dem ‚Right to Food‘ zusammen usw. B. Simma hat nicht ganz zu Unrecht die Menschenrechte des IPsozR als die vergessenen Menschenrechte bezeichnet104 und damit einen blinden Fleck der europäischen Menschenrechtstradition und Menschenrechtspolitik benannt. Den Kritikern der Menschenrechte der zweiten Generation ist andererseits freilich zuzugeben, dass diese Rechte teilweise spezifisch anderer Durchsetzungsmechanismen bedürfen. Diese zu entwickeln und im Wege praktischer Konkordanz105 eine Verhältnisbestimmung zu den klassischen Menschenrechten der ersten Generation vorzunehmen, ist eine Aufgabe, die nur im gleichberechtigten Diskurs mit den Entwicklungs- und Schwellenländern und deren spezifischen Erfahrungen und sozialen Kontexten gelingen kann. Erschwert wird der Diskurs durch die Fragmentierung der Vertragsorgane, die über die Auslegung der einzelnen menschenrechtlichen Verträge jeweils für sich entscheiden. Die Vertragsorgane sind primär jeweils „ihrem“ Vertrag und den darin enthaltenen Rechten verpfl ichtet. Ferner kommen die meisten wirtschaftsrechtlichen Verträge, darunter prominent insbesondere das WTO-System, ganz ohne menschenrechtliche Beschränkungen aus und sind darauf angewiesen, sich menschenrechtliche Standards gleichsam zu „borgen“. Diese Herausforderung wird letztlich nur durch eine Perspektive zu bewältigen sein, die die in den einzelnen menschenrechtlichen Vertragstexten niedergelegten Verbürgungen als Teile einer einheitlichen „International Bill of Rights“ begreift, die auf alle übrigen völkerrechtlichen Verträge ausstrahlt.106 101 A. Bleckmann, Staatsrecht II – Grundrechte, 4. Aufl., 1997, S. 70 f.; B. Kempen, Ch. Hillgruber, Völkerrecht, 2007, S. 325 m.w.N.; skeptisch auch: R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl., S. 341. 102 Siehe nur: Art. 7 und Art. 8 des IPsozR die klassische Schutzpfl ichten des Staates im Bereich des Arbeitsrechts betreffen. 103 P. Fischer, Menschenrechte: Eine Einführung mit Dokumenten, 2004, S. 16. Siehe auch: Wiener Erklärung und Aktionsprogramm, Schlussdokument der „Weltkonferenz über Menschenrechte“ (14.– 25. 6. 1993), Teil I, Nr. 5: „All human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated.“ 104 B. Simma, „Die vergessenen Rechte“: Bemühungen zur Stärkung des VN-Sozialpakts, in: FS Zacher, S. 867 ff. 105 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1999, Rn. 317. 106 So wegweisend die Arbeiten von E.-U. Petersmann. (Einführend: Ders., Time for a United Nations ‚Global Compact‘ for Integrating Human Rights into the Law of Worldwide Organizations: Lessons from European Integration, in: 13 EJIL (2002), S. 621 ff. m.w.N. und Ders., Human Rights, Constitutionalism and the World Trade Organization: Challenges for World Trade Organization Jurisprudence and Civil Society, in: 19 Leiden Journal of International Law (2006), S. 633 ff.), vgl. ferner: E. de
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d) Das Problem der relevanten Akteure – transnationale Unternehmen und Menschenrechte Der internationale Menschenrechtsdiskurs wird überlagert vom Prozess der Globalisierung. Die damit verbundene zunehmende Interdependenz der Staaten, genauer, der jeweiligen Zivilgesellschaften, führt zu einer zunehmenden Schwächung der Staaten gegenüber anderen, transnationalen, Akteuren. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt eindrücklich das Ausmaß, dass diese Transnationalisierungsprozesse bereits erreicht haben. Private Akteure, NGOs, transnationale Banken, Industrieunternehmen, neuerdings an prominenter Stelle auch RatingAgenturen und private Vermögensmassen (Hedge-Fonds) sind heute in der Lage, das Machtgefüge zwischen den Staaten nachhaltig zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang stellen sich drängende und zugleich schwierige Fragen – auch und gerade menschenrechtlicher Natur. Klassische Themen in diesem Zusammenhang sind der ökonomische Raubbau durch Industriekonzerne in politisch schwachen, aber ressourcenreichen Entwicklungsländern, die Auswirkung dieser ökonomischen Interessen auf die lokale und regionale Sicherheitslage und das Handeln privater Sicherheitsunternehmen im Auftrag transnationaler Akteure. Parallel zur Ausweitung der Debatte um die Drittwirkung von Grundrechten im nationalen Verfassungsrecht wird auch im Völkerrecht daher die Bindung privater (transnationaler) Akteure an menschenrechtliche Mindeststandards diskutiert.107 Y. Onuma weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf den – auf freiwilliger Basis geschaffenen – Global Compact108 hin.109 Andere private Initiativen, so der Forest Stewardship Council (FSC),110 die Initiative TransFair111, die sich für den fairen Handel mit Produzenten aus den Entwicklungsländern einsetzt, oder der Kimberley Prozess112 verdienen Erwähnung. Wet, The Emergence of International and Regional Value Systems as Manifestation of the International Constitutional Order, 19 Leiden Journal of International Law (2006), S. 611 ff. 107 C. Köster, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit privater (multinationaler) Unternehmen, 2010, S. 69 ff. Allgemein zur Drittwirkungsproblematik: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl., 2007, S. 261 ff. 108 Zu Grundlagen, Zielsetzung und aktuellen Entwicklungen siehe die Internetpräsenz unter: http://www.unglobalcompact.org. 109 Y. Onuma, A Transcivilizational Perspective on Global Legal Order in the Twenty-fi rst Century, in: 8 International Community Law Review (2006), S. 36. 110 K. Dingwerth, North-South Parity in Global Governance: The Affi rmative Procedures of the Forest Stewardship Council, in: 14 Global Governance (2008), S. 53 ff. 111 A. M. Groos, International Trade Development: Exploring the Impact of Fair Trade Organizations in the Global Economy and the Law, in: 34 Texas International Law Journal (1999), S. 379 ff. 112 Der Kimberley-Prozess entstand im Zusammenhang mit der Problematik der sogenannten Konfl iktdiamanten (z.T. pointiert auch: Blutdiamanten), er hat die Errichtung eines sicheren Zertifi zierungssystems für Rohdiamanten zum Ziel, um den Ursprung der international gehandelten Diamanten nachvollziehbar zu machen und den Handel mit Diamanten aus Bürgerkriegsregionen auszuschließen. Der Kimberley Prozess basiert auf der Kooperation zwischen verschiedenen, im Diamantenhandel und der Diamantenproduktion engagierten Staaten, den Vereinten Nationen und Partnern aus Industrie und Zivilgesellschaft. Die Vereinten Nationen unterstützten die internationale Implementierung dieses „Kimberley Process Certification Scheme (KPCS)“, siehe hierzu nur: GA Res. 55/56 vom 01. 12. 2000. Vergleiche hierzu auch die jeweiligen Webpräsenzen: http://www.diamondfacts.org/who/index.html (letzter Zugriff am 11. 7. 2011) und http://www.kimberleyprocess.com (letzter Zugriff am 11. 7. 2011). In der Europäischen Union ist das Kimberley-Zertifi zierungssystem durch die Verordnung 2368/2002
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Gleichwohl ist fraglich, ob die rein freiwillige Erfüllung menschenrechtsbezogener Verpfl ichtungen durch private Akteure langfristig eine völkerrechtliche Bindung an die fundamentalen Menschenrechte ersetzen kann. Zwei Debatten werden in diesem Zusammenhang geführt – und werden weiter intensiv zu führen sein: a) Wie können private Akteure, insbesondere transnationale NGOs, an der Durchsetzung der Menschenrechte beteiligt werden, so dass ein System der effektiven zivilgesellschaftlichen Selbstregulierung entsteht? und b) Wie können private Akteure völkerrechtlich verpfl ichtet werden, menschenrechtliche Mindeststandards, insbesondere in Entwicklungsländern, einzuhalten und wie können Verstöße, etwa durch private Sicherheitsunternehmen, effektiv sanktioniert werden.113 Vor dem Hintergrund der weltweiten wirtschaftlichen Krisenerscheinungen stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit und der Inverantwortungnahme privater Akteure mit neuer Dringlichkeit. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden zahlreiche bisher politisch geprägte Entscheidungen in die Hand von Marktakteuren gelegt. Dieser Liberalisierungsprozess war, wie der Telefonmarkt zeigt, teilweise erfolgreich, hat aber auch nicht unerhebliche Schattenseiten. Es mag richtig sein, dass über Marktmechanismen gebildete Preise und vom Markt getroffene Güterallokationen langfristig gesehen den Wohlstand aller am besten mehren. Daraus darf aber keine unreflektierte „Marktgläubigkeit“ folgen. Der Markt ist für Einzelschicksale blind. Die Marktteilnehmer werden als egoistisch gedacht. Der Einzelne ist für den Markt lediglich als Zahl, als Rechengröße, relevant. Deshalb darf in einer Gesellschaft, die die Menschenwürde zur obersten Maxime erhebt niemand um einer vermeintlichen Marktgerechtigkeit willen aufgegeben werden, es darf keine „verlorenen Generationen und Regionen“ geben. Aus diesem Grund gilt auch um der Menschenrechte willen für die ökonomische Globalisierung der Primat des Politischen – nicht der unsichtbaren Hand des Marktes, sondern den mit völkerrechtlicher Legitimität ausgestatteten Rechtsetzern kommt das Letztentscheidungsrecht zu. Es ist deshalb eine Sache, private Akteure zu Adressaten menschenrechtlicher Verpfl ichtungen zu machen, eine andere, ebenso wichtige Aufgabe besteht allerdings darin, Staaten, insbesondere die westlichen Industriestaaten, zur effektiven Kontrolle privater Akteure zu verpfl ichten.114 Gerade in den Entwicklungsländern ist der Staat oft so schwach, dass er grundlegende Menschenrechte nicht gewährleisten kann. Produkte, die aus einem solchen Umfeld stammen müssen in den Vebraucherländern – d.h. in Europa und Nordamerika – sorgsam auf die Einhaltung humanitärer Mindeststandards bei der Herstellung geprüft werden. Aber auch in den Industriestaaten selbst hat sich der Staat in mancher Hinsicht dem Markt ausgeliefert. Der schwierige Prozess der Eurorettung zeigt, dass der Markt mit seinen Irrationalitäten und Übertreibungen nicht immer der beste Ratgeber ist. Wenn etwa Rating-Agenturen in intransparenten, demokratisch nicht legitmierten und demokratischer Kontrolle nicht unterworfenen Bewertungsverfahren die Zahlungsfähigkeit ganzer Staaten gedes Rates vom 20. Dezember 2002 eingeführt worden. Zum Überblick: C. Wright, Tackling Confl ict Diamonds: The Kimberley Process Certification Scheme, in: 11 International Peacekeeping (2004), S. 697 ff. 113 Vgl. nur: C. Köster, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit privater (multinationaler) Unternehmen, 2010. 114 Vgl. zum Ganzen: A. Kees, Privatisierung im Völkerrecht, 2008.
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fährden, dann kann sich der demokratische Staat auch um der Menschenrechte willen nicht seiner letztverbindlichen Verantwortung für das politische Gemeinwesen entziehen. Damit kann freilich andererseits nicht geleugnet werden, dass Politik durch das ökonomisch Mögliche determiniert ist. Keinem Gesetzgeber, keinem Gericht und keinem politischen Organ kann der Kunstgriff gelingen, ein und dieselbe Münze zwei Mal auszugeben.
e) Das Problem neuer Räume – Das Internet, neue Interessen, neue Fragen, neue Rechte? Völlig neue Problemfelder eröffnet schließlich die voranschreitende digitale Vernetzung im globalen Maßstab. Das Internet ist, dies zeigen nachdrücklich die jüngsten politischen Entwicklungen (Stichwort: Twitter-Revolution), zu einer nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch zu einer sozialen Macht geworden.115 Das Internet ist ein Raum, der sich weitgehend unabhängig von der Staatenwelt konstituiert hat. Zwar versuchen Staaten, das Internet zu kontrollieren oder aber jedenfalls zu regulieren, aufgrund der dezentralen und zugleich globalen Struktur des Internet ist dies unilateral aber kaum möglich. Das Internet ist ein genuin eigenständiger Raum der nicht ohne Bezug zur realen physischen Welt existiert, wohl aber gegenüber den territorial verorteten Staaten und ihren Souveränitätsansprüchen einen unbestreitbaren Eigenstand beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang stellen sich nun auch in menschenrechtlicher Hinsicht drängende Fragen, zu denken ist insbesondere an: das Recht auf einen Zugang zum Internet (Informationsfreiheit), den Schutz personenbezogener Daten (Google Street View116), das Recht der persönlichen Ehre (anonyme Schmähkritik), die Meinungsäußerungsfreiheit (Blogging und Social Networking), den Schutz der persönlichen Identität und Selbstdarstellung117 oder den globalen Schutz von Immaterialgüterrechten118. Die dabei aufgeworfenen Rechtsfragen sind nicht völlig neu, sie bedürfen aber eines neuen Zuschnitts, der den besonderen Gegebenheiten des Internets Rechnung trägt.119 Diese Aufgabe wird nur in einem Dialog zwischen den Staaten, transnationalen Akteuren der Internetindustrie (ICANN, Internet Governance Forum, verschiedenen Infrastrukturunterneh115 Dazu: D. Schuler, Shaping the Network Society: The New Role of Civil Society in Cyberspace, 2004 (darunter auch ein Beitrag zu ‘Human Rights in the Global Billboard Society’ – ebd. S. 67 ff.) und J. van Dijk, The Network Society: Social Aspects of New Media, 2006. Für einen Gesamtüberblick aus US-amerikanischer Perspektive: C. Elefant, The Power of Social Media: Legal Issues & Best Practices for Utilities Engaging Social Media, in: 32 Energy Law Journal (2011), S. 1 ff. 116 B. Holznagel, P. Schumacher, Google Street View aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: JZ 2011, S. 57 ff. 117 Dazu: J. Meyer, Identität und virtuelle Identität natürlicher Personen im Internet, 2011, m.w.N. 118 Vgl. diesbezüglich die jüngsten völkervertragsrechtlichen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem ACTA-Abkommen (Anti Counterfeiting Trade Agreement). 119 Einige moderne Verfassungstexte eröffnen hierfür explizit den notwendigen Spielraum, so die Verfassung Estlands (§10), die ausdrücklich Raum für andere, noch „unentdeckte“ Menschenrechtsdimensionen lässt. (Dazu: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl., 1998, S. 701 f. mit Verweis auch auf die Verfassung Perus von 1979 – ähnliche Klauseln fi nden sich zudem etwa in der Verfassung Georgiens (Art. 39)).
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men, wie Cisco Systems, AOL usw.) und den Nutzern („Bürgern“) des Internet gelingen.
VI. Kommunikative Strategien Empirisch zeigt sich, dass das eigentliche Problem des internationalen Menschenrechtsschutzes, von einigen Ausnahmen, wie Saudi-Arabien abgesehen, heute nicht mehr die Schaffung völkerrechtlich verbindlicher Menschenrechtsinstrumente ist. Die Problematik hat sich vielmehr auf die Ebene der Auslegung und Durchsetzung der gegebenen Vertragstexte verlagert. Dabei bleibt die Problematik verschiedener Kontexte und damit verschiedener Schwerpunktsetzungen bei der Anwendung der grundsätzlich universell, unteilbar und interdependent gedachten Menschenrechte120 aber bestehen. Freilich dienen die vertraglich niedergelegten menschenrechtsbezogenen Texte als argumentativer Ausgangspunkt und juristische Argumentationshilfe bei der Formulierung von konkreten menschenrechtlichen Ansprüchen des Einzelnen in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt. Es sei daher abschließend die Frage erlaubt, wie der transkulturelle Diskurs über Menschenrechte gelingen kann und wie dabei möglichst viele Akteure der globalen Zivilgesellschaft eingebunden werden können. Es sollen hierfür im Folgenden drei typische kommunikative Strategien oder Modi vorgeschlagen werden.
a) Der imperative Modus Der imperative Modus meint die Bezugnahme auf den in den einzelnen völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen rechtlichen Befehl. Er orientiert sich am judikativ ausgestalten Menschenrechtsschutz des EGMR121, des AGMR122 und in abgeschwächter Form auch der Vertrags-Kommissionen und Ausschüsse.123 Er ist gekennzeichnet von einer rechtsverbindlichen Handlungsanweisung durch ein hierzu legitimiertes (internationales) Organ einerseits und die Erzeugung einer Handlungspfl icht für den betroffenen Staat andererseits. Nach wie vor setzt die Anwendung des imperativen Modus eine Unterwerfung des betroffenen Staates unter die Jurisdiktion eines entsprechenden Vertragsorgans voraus. Dieser Grundsatz ist jedoch heute durch die Möglichkeit durchbrochen, schwerste und systematische Menschenrechtsverletzungen dem Sicherheitsrat als letzter Entscheidungsinstanz vorzulegen. Damit kann jedenfalls für Fälle von Völkermord, Vertreibungen oder von Verbrechen gegen die 120
P. Fischer, Menschenrechte: Eine Einführung mit Dokumenten, 2004, S. 16. Ch. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., 2008, S. 41 ff. 122 J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986. Am Beispiel der Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktaturen: M. Hemmerling, Vergangenheitsaufarbeitung im postautoritären Argentinien: ein Beitrag zur Reaktion des Verfassungsrechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit auf staatlich gesteuertes Unrecht im Lichte völkerrechtlicher Verpfl ichtungen, 2011. 123 D. McGoldrick, The Human Rights Committee. Its Role in Development of the International Covenant on Civil and Political Rights, 1991; P. Fischer, Menschenrechte: Eine Einführung mit Dokumenten, 2004, S. 61 ff. 121
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Menschlichkeit heute ein gewisses Schutzniveau zwangsweise gegenüber jedem Staat, unabhängig von einer etwaigen Unterwerfungserklärung, durchgesetzt werden. Insbesondere nach Kapitel VII der UN-Charta kann der Sicherheitsrat zur Abwehr derartiger Menschenrechtsverletzungen selbst die entsprechenden Zwangsmaßnahmen treffen.124 Er kann jedoch auch konkrete Fälle zur richterlichen Überprüfung an den Internationalen Strafgerichtshof überweisen.125 Der imperative Modus ist im Völkerrecht, wie auch in den nationalen Rechtsordnungen, das schärfste Schwert zur Durchsetzung menschenrechtlicher Mindeststandards. Die nach wie vor dezentrale Ordnung des Völkerrechts, die über kein dem innerstaatlichen Recht vergleichbares Gewaltmonopol verfügt, sondern auf das Wohlwollen der ihr angehörenden Staaten angewiesen ist, führt aber letztlich dazu, dass das scharfe Schwert der verbindlichen Adjudikation durch internationale Gerichte und Spruchkörper in seiner Wirksamkeit beschränkt bleibt und nach wie vor oft ins Leere greift. Wie auch im nationalen Recht muss der imperative Modus durch weitere kommunikative Modi flankiert werden, nur so ist er auf Dauer überlebensfähig. Dies ist auf den Umstand zurückzuführen, dass Recht nie bloße Gewalt ist, sondern immer von einer gewissen Akzeptanz der Rechtsnormen durch die Rechtsunterworfenen lebt, Herrschaft (auch der des Rechts) immer ein starkes Moment des freiwilligen Gehorsams innewohnt.126 Recht muss daher beständig in der Lage sein, mit den Texten von gestern die praktischen gesellschaftlichen Probleme von heute und morgen in Angriff zu nehmen. Es muss daher eine beständig erneuerte Vergewisserung über Inhalt und Geltung des Rechts stattfi nden. Diese Vergewisserung ist nicht allein den Gerichten aufgetragen. Für das Verfassungsrecht wird nicht ohne Grund von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten gesprochen.127 In der dezentralen, stark auf die Freiwilligkeit der Normbefolgung angewiesenen Ordnung des Völkerrechts intensiviert sich die Notwendigkeit kommunikativer Akte jenseits des imperativen Modus noch einmal.
b) Der edukative Modus Neben dem imperativen Modus ist gerade im Bereich menschenrechtlicher Diskurse der edukative Modus von erheblicher Bedeutung. Er meint das lernende Verstehen im Sinne einer transnationalen Menschenrechtsbildung – sowohl regional, als auch global. ‚Human Rights Education‘ (Menschenrechtsbildung) ist inzwischen als ein eigenständiges Menschenrecht anerkannt.128 Der edukative Modus ist als typisier124 Diese Maßnahmen beschränken sich nicht nur auf klassische militärische Interventionen, sondern schließen auch den relativ neuen Ansatz sogenannter „Targeted Sanctions“ (dazu jüngst: Th. Meerpohl, Individualsanktionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, 2007), sowie Ad-Hoc Tribunale, wie im Falle Bosnien-Herzegowinas (dazu: UN-SR Res. 827 vom 25. 5. 1993), ein. 125 B. Jesse, Der Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009. 126 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 2002, S. 28. 127 P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff. 128 C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte, 2004. Einführend: K. Fritzsche, Menschenrechte, 2004, S. 165 ff. mit Verweis auf die Arbeiten der Internationalen Konferenz über Erziehung für Demokratie und Menschenrechte (1993) auf
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ter kommunikativer Modus aber weiter als der Begriff der Menschenrechtsbildung im Sinne einer Vermittlung von Kenntnissen über die Theorie und Praxis von Menschenrechten. Der edukative Modus setzt das freiwillige Erlernenwollen fremder Erfahrungen über Menschenrechte voraus und ist auf verschiedene Kontexte anwendbar. Als typische Beispiele wären zu nennen: der zwischenstaatliche Menschenrechtsdialog (institutionalisiert etwa im Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialog), der verstehende Menschenrechtdiskurs in der Entwicklungszusammenarbeit129, der Austausch von Richtern, Rechtsanwälten und Verwaltungsbeamten, Maßnahmen zur Förderung des ‚Access to Law‘ in Ländern deren Bevölkerung bisher nicht hinreichend für die Menschenrechte und die Möglichkeit, diese gerichtlich einzufordern, sensibilisiert ist. Im Bereich des Völkerrechts sind zudem die zahlreichen Sommerakademien zu nennen, unter denen besonders prominent die Haager Akademie für Völkerrecht ist.130 Kürzlich hat sich sogar Festland-China entschlossen ein nach dem Modell der Haager Akademie geformtes Sommerprogramm an der Universität Xiamen anzubieten das – und dies mag ein eindrückliches Beispiel für die Wirkmächtigkeit des edukativen Modus sein – auf eine Initiative eines Hochschullehrers aus Taiwan zurückgeht.131 Stärker als der imperative Modus erfordert der edukative Modus das Einfühlen in die Situation des Gegenübers, insbesondere darf Menschenrechtsbildung nicht zur Erziehungsdiktatur132 verkommen – dies bereits deshalb, weil sonst der Abbruch des Dialogs droht.
c) Der diskursive Modus Schließlich ist ein dritter Modus zu nennen – der hier als diskursiver Modus bezeichnet werden soll. Er ist geprägt vom herrschaftsfreien Diskurs zwischen Gleichen. Anders als im edukativen Modus wird er nicht vom einseitigen Wissenstransfer bestimmt, sondern vom gleichberechtigten und gemeinsamen Erarbeiten menschenrechtlicher Lösungsansätze. Der diskursive Modus spielt etwa eine Rolle, im Prozess des Aushandelns menschenrechtlicher Verträge, der Beschlussfassung in Vertragsorganen oder dem akademischen Gedankenaustausch. Im Rahmen der oben vorgestellten Beispiele zeigt sich die Notwendigkeit einer diskursiven Bearbeitung jeweils in spezifischer Weise. Es kann in diesen Diskursen selbstverständlich keine völlige Herrschaftsfreiheit geben, Interessen, Erfahrungen, Herrschaftswissen, sind in jeder kommunikativen Situation präsent. Da aber der Diskurs aufgrund seiner Freiwilligkeit, ebenso wie im der erstmals die Menschenrechtsbildung ausdrücklich als selbständiges Menschenrecht anerkannt wurde. 129 Dazu: K. Arts, Integrating Human Rights into Development Cooperation: The Case of the Lomé Convention, 2000. 130 Für einen Überblick siehe die Internetpräsenz der Akademie unter http://www.hagueacademy. nl. 131 C. Richter, Xiamen Academy of International Law – ein Beispiel internationaler Kooperation Chinas im Bereich des Volkerrechts, in: VRÜ 2007, S. 249 ff. 132 M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 305.
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edukativen Modus jederzeit von einzelnen Beteiligten beendet werden kann, sind die Diskursteilnehmer zur Selbstbeschränkung, zum Nachgeben und zum Kompromiss verpfl ichtet. Hinderlich sind dabei unbewusste Voreingenommenheiten und angenommene Selbstverständlichkeiten (Stichwort: „Cultural Bias“), die aus der lebensweltlichen Prägung der einzelnen Diskursteilnehmer fl ießen. Diese aufzudecken ist eine besondere Herausforderung gerade für die diskursive Kommunikation über Menschenrechte. Anders als die klassischen Vorstellungen von der Auslegung völkerrechtlicher Texte (dazu: Art. 31 WVK) räumt der transkulturelle Ansatz diesen kulturellen Prägungen einen ihnen angemessenen Stellenwert ein. Die transkulturelle Perspektive schärft hierfür das Bewusstsein indem sie sich die Frage stellt: „Warum argumentiert der Andere in einer bestimmten Weise?“ Die Voreingenommenheit des Anderen erinnert mich an meine eigene lebensweltliche Prägung und die Herausforderung, über diese Prägungen hinweg den Diskurs zu wagen.
d) Die Verschränkung einzelner Modi Die einzelnen Modi können sich durchaus durchdringen und in jeder Situation einer kommunikativen Auseinandersetzung über Menschenrechte gleichzeitig präsent sein. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Richter zunächst den betroffenen Parteien vor dem EGMR, dem AGMR usw. rechtliches Gehör gewähren und sodann im Richterkollegium den Fall erörtern (diskursiver Modus). Deshalb ist etwa der IGH auch mit Richtern aus den verschiedenen Rechtskulturen (nicht Staaten !) besetzt. In der ergehenden Entscheidung tritt der IGH, der EGMR oder der AGMR den beteiligten Parteien dann jedoch nicht mehr diskursiv, sondern imperativ gegenüber. Stärker edukativ als imperativ geprägt ist hingegen das Gutachtenverfahren vor dem IGH. Anhand dieser Beispiele lässt sich verdeutlichen, wie wichtig das Bewusstsein für verschiedene Sprechsituationen und die in ihnen verwendeten Modi ist, gerade auch im interkulturellen Diskurs.
VII. Fazit Menschenrechte sind nach wie vor eine Aufgabe, deren Verwirklichung sich die Völkerrechtsgemeinschaft stellen muss. Sie tut dies nicht mehr nur auf regionaler Ebene, sondern im globalen Maßstab. An der Lösung dieser Aufgabe sind nicht mehr nur Staaten und Internationale Organisationen, sondern auch zahlreiche private Akteure transnationalen Charakters beteiligt. Textgrundlagen für diesen Diskurs fi nden sich in zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen. Gleichwohl wird der Menschenrechtsdiskurs überformt von kulturellen Prägungen, denen jeder Einzelne unterworfen ist. Diese lassen sich kaum ablegen, sie lassen sich aber wahrnehmen und für den Menschenrechtsdiskurs fruchtbar machen. Es ist eine der Stärken der von Y. Onuma vorgelegten Arbeiten, dass sie sich dieses Umstandes bewusst sind, ohne im substantiellen Sinne relativistisch zu sein. Der formale Zivilisationsbegriff, verstanden als kultureller Referenzrahmen, als vorfi ndliche Lebenswelt, lädt zum reflektierten Ge-
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sprächen über Menschenrechte aus verschiedenen Perspektiven, aber mit einem gemeinsamen Ziel ein, die Herausforderungen des 21sten Jahrhunderts, die, soviel ist gewiss, nur global gelöst werden können, in der Sprache der Menschenrechte anzugehen und einer den Menschen als Subjekt eines modernen, anthropozentrischen Völkerrechts ernst nehmenden Lösung zuzuführen.
Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried (1864–1921), Pazifist, Publizist und Wegbereiter* von
Dr. phil. Klaus Schlichtmann, Tokyo Inhalt Alfred Hermann Frieds Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die beiden Haager Friedenskonferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Wiederherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortschritte – Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versailles – Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alfred Hermann Fried wurde 1864 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. „Frieds Leben war keine Erfolgsstory!“1 schreibt seine Biografi n Petra SchönemannBehrens. Die Ideen des Pazifismus und die Bemühungen von Völkerrechtlern, Diplomaten und Regierungen, im zwanzigsten Jahrhundert Abrüstung und eine rechtsverbindliche Friedensordnung zu begründen waren wenig erfolgreich. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde „die von ihm [Fried] immer geforderte Verwissenschaftlichung der Friedensidee“ in beträchtlichem Umfang realisiert. So haben die „Diskussionen, die die Pazifisten der damaligen Zeit führten,“ auch „nach hundert Jahren noch immer nichts von ihrer Aktualität verloren,“ und viele Friedenswissenschaftler sehen „in Fried einen ihrer Ahnherren.“ Erstaunlich ist, dass dennoch die Institution * Ich danke Herrn Prof. Peter van den Dungen für die Durchsicht des Manuskripts und die vielen hilfreichen Anregungen. 1 Petra Schönemann-Behrens, „Organisiert die Welt!“ Leben und Werk des Friedensnobelpreisträgers Alfred Hermann Fried (1864–1921), Dissertation 2004, online http://elib.suub.uni-bremen.de/diss/ docs/E-Diss1332_SchoenemannP.pdf, S. 11. Im Folgenden zitiert als SB. Alle Zitate sind dieser Online-Fassung entnommen.
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des Krieges noch immer nicht abgeschafft ist und offenbar weiter Bestand hat. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, ob und wie gegenwärtig die „von seinen Zeitgenossen belächelten und für unerreichbar gehaltenen Visionen Frieds mit Leben erfüllt“ werden können.2
Alfred Hermann Frieds Werdegang In seinem „Kriegs-Tagebuch“ beklagte Fried schon vor knapp hundert Jahren: Der Blick in die Vergangenheit bietet uns soviel Schreckliches und Wahnsinniges, dass uns nichts übrig bleibt, als den Blick trostsuchend der Zukunft zuzuwenden. Sie soll uns . . . den Verstand bringen, der bislang bei den Regierungen der Weltangelegenheiten gefehlt hat.“3
Der Blick in die Zukunft könnte heute weit Schrecklicheres offenbaren, wenn die seit über hundert Jahren entwickelten völkerrechtlichen Entwürfe nicht umgesetzt werden. Der Sohn einer kinderreichen jüdischen Aufsteigerfamilie in Wien erinnert sich „ganz genau“ daran, schon als Kind Berichte über den deutsch-französischen Krieg, die „in meiner Gegenwart aus den Zeitungen vorgelesen wurden,“ gehört zu haben, „die bei den Anwesenden Mitleid und Schmerz erregten.“4 Früh zeigt der Junge, der sich auch um seine fünf jüngeren Geschwister kümmern und später mit für den Unterhalt der Familie sorgen muss, soziale Verantwortung und betätigt sich schriftstellerisch. Fried berichtet, dass er durch eine Ausstellung der Werke des Künstlers Wassili Wereschagin (Wereschtschagin), in der „Bilder vom russisch-türkischen Kriegsschauplatz“ gezeigt wurden, „mit Bewusstsein Kriegsgegner“ wurde.5 Seine Jugenderinnerungen beschreiben, was er noch „nach vier Jahrzehnten“ empfand, „die Empörung, die in mir aufloderte, als ich diese Bilder sah.“ In den folgenden Jahren entwickelt sich der Pazifist „im Denken und Fühlen“ zu einem „Pazifist der Tat, der werktätig für die von ihm erfasste Idee eintrat.“6 Nach einer Zeit als Buchhandlungsgehilfe in Hamburg zieht es Fried nach Berlin, in die deutsche Reichshauptstadt, wo er im März 1884 eine Anstellung als Buchhändler fi ndet. Erste Veröffentlichungen umfassen eine Zitatensammlung, Der kleine Büchmann, (1886) und ein Lexikon fremdsprachlicher Zitate (1888). Bereits im November 1887 gründet Fried in Berlin einen eigenen Verlag, in dem u. a. in vier Bänden Heinrich Heines ausgewählte Werke erscheinen. Im Februar 1889 heiratet Fried die zweitälteste Tochter des Fabrikanten Leopold Gnadenfeld, dessen Sohn Jacques stiller Teil2 Alle Zitate bei SB, S. 11–12. Unzweifelhaft ist die „Wiederentdeckung pazifi stischer Persönlichkeiten als Leitbilder auch für neue Generationen sinnvoll.“ SB, S. 357. 3 Alfred Hermann Fried, Mein Kriegstagebuch, Band I, 1918, S. 471 (Eintragung v. 28. 07. 1915), zit. nach SB, S. 12. Neuaufl age: Mein Kriegstagebuch, 7. August 1914 bis 30. Juni 1919, hrsg. und eingel. v. Gisela und Dieter Riesenberger (Schriftenreihe Geschichte & Frieden – Bd. 13). 4 Alfred H. Fried, Jugenderinnerungen (Der Völkerfriede, Beiheft zur Friedens-Warte, Heft 1), Schwetschke & Sohn, München und Leipzig 1896, S. 5, zit. nach SB, S. 15. 5 Elsbeth Friedrichs, Biographische Skizze, in: Rudolf Goldscheid (Hrsg.), Alfred H. Fried. Eine Sammlung von Gedenkblättern in Gemeinschaft mit Therese Fried und Mundy Schwalb, Leipzig 1922, S. 2, zit. nach SB, S. 31. 6 Fried, Jugenderinnerungen, S. 12–13, zit. nach SB, S. 31.
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haber und Partner in seinem Verlag wird. 1890 erscheinen im Verlag Alfred H. Fried & Cie. Fürst Bismarcks gesammelte Werke in zwei Bänden. Die Beziehung zu seiner Frau Gertrud und der Familie Gnadenfeld verschlechterte sich jedoch zunehmend, so dass Fried im Februar 1891 wieder alleiniger Besitzer seines Verlages wurde. Im November 1891 schreibt Fried erstmals an Bertha von Suttner, was zu einer intensiven Zusammenarbeit der „beide[n] in Humanismus und Auf klärung wurzelnde[n] Freigeister“7 in der Friedensbewegung führte, die in den folgenden Jahrzehnten Früchte trug. Fried gründete eine „Monatsschrift zur Förderung der Friedens-Idee,“ deren erste Nummer unter dem Titel „Die Waffen nieder!“ im Januar 1892 erschien, und plante nun auch die Gründung einer deutschen Friedensgesellschaft nach dem Vorbild der ein Jahr zuvor gegründeten österreichischen Friedensgesellschaft. Für diesen Zweck lud Fried die österreichische Friedensaktivistin im März 1892 nach Berlin ein, und am 9. November 1892 konnte sich die Deutsche Friedensgesellschaft konstituieren.8 Allerdings war „dieser persönliche Erfolg (für Fried) . . . von kurzer Dauer,“ denn er wird nicht zum Vorsitzenden gewählt. Enttäuscht aber unbeirrt veröffentlicht Fried einen „Friedens-Katechismus“ als „Einführung in die Friedensbewegung,“ der mehrere Auflagen erlebt9 und „der Friedensbewegung in den nächsten Jahren gute Dienste (leistet).“10 In dem 1895 von Fried unter dem Pseudonym Manfred Herald Frei veröffentlichten Buch Dschingis Khan mit Telegraphen nimmt der Autor bereits ein für die Friedensbewegung konstitutives Argument vorweg. Der „Zustand des bewaffneten Europas,“ so Fried, sei „das Prinzip der Anarchie in die Praxis übertragen.“ Während „die Ordnung der Staaten im Innern“ gewährleistet und die Anarchie somit erfolgreich bekämpft werden könne, bilde das „unbeschränkte Herrschen jener Anarchie im Außenleben derselben Staaten, die . . . kein anderes Gesetz anerkennen als das Gesetz der rohen Gewalt“ einen unheilvollen Gegensatz,11 der einen Zustand des Krieges im Frieden12 darstelle. Der 1895 neu gegründete „Deutsche Verein für internationale Friedenspropaganda von 1874,“ dessen Erster Schriftführer Fried wird, nennt als 7
„. . . die dem ‚Edelmenschtum‘ zustrebten.“ SB, S. 150. S. Karlheinz Lipp, Reinhold Lügemeier-Davin und Holger Nehring (Hrsg.), Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892–1992, 2010 (BGeiträge zur Historischen Friedensforschung Band 16), S. 22: „ein vergessener 9. November in der deutschen Geschichte.“ 9 Fried, Jugenderinnerungen, S. 33, zit. bei SB, S. 57. 10 SB, S. 61. 11 Manfred Herald Frei, Dschingis Khan mit Telegraphen, 1895, S. 19 f. SB, S. 62–63. 12 SB, S. 63. Vgl. auch Leo Tolstoi, Das Reich Gottes ist inwendig in euch, 1894. Online Edition: http://www.narayanananda.0nyx.com/tolstoj.htm: „Die Gewalt hält sich heute nicht mehr dadurch, dass sie für notwendig angesehen wird, sondern nur dadurch, dass sie von alters her besteht und von den Leuten, denen sie Vorteil bringt, das heisst von den Regierungen und den herrschenden Klassen, so organisiert ist, dass die Menschen, die sich unter ihrer Macht befi nden, sich ihr nicht entwinden können. Die Regierungen, alle Regierungen, die despotischen wie die liberalen, sind in unserer Zeit zu dem geworden, was Alexander Herzen (russischer Philosoph, Schriftsteller und Anarchist, 1812–1870) so treffend einen Dschingis-Khan mit Telegraphen nennet, das heisst Organisationen mit Gewalt, die lediglich auf der gröbsten Willkür beruhen und sich gleichzeitig all der Mittel bedienen, die die Wissenschaft zu einer gemeinsamen, gesellschaftlichen, friedlichen Tätigkeit freier und gleichberechtigter Menschen hervorgebracht hat, und die sie zur Knechtung und Unterdrückung der Menschen anwenden.“ In Frieds Buch fi ndet sich der Hinweis auf Alexander Herzen allerdings nicht; erst später, in seinem Kriegstagebuch, verweist er auf ihn. 8
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Friedensziel in seinem Programm daher einen „jeden Krieg ausschließenden Rechtszustand,“ der durch einen allgemeinen, zwischenstaatlichen „Völkerrechtsvertrag,“ der eine obligatorische Unterwerfung unter eine „zu errichtende internationale Friedensjustiz“ einschloss, gewährleistet werden sollte.13 Der Friedenszustand als Rechtsordnung bedeutete damit nicht die Wiederkehr einer „kürzere[n] oder längere[n] Pause zwischen zwei Kriegen,“ also eine Art Zwischenkriegszeit, sondern sollte einen Übergang bezeichnen, nämlich vom anarchischen Zustand zu einer nach Rechtsprinzipien gestalteten internationalen Ordnung, welche die Gewalt „in der Regel“ ausschließt.14 Es ist dieser Gedanke, der für Frieds Völkerrechtskonzeption ausschlaggebend ist.15 Hier zeichnet sich bereits ab, was erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Völkerrechtsprinzip in die UNO-Charta Eingang fand: die Übergangsbestimmungen. Fried verdient sich seinen Lebensunterhalt hauptsächlich durch journalistische Tätigkeit – auch ein Verein für Friedensjournalismus wollte gegründet werden – und versucht sich mit allerlei Erfi ndungen16 und dem Auf bau neuer Gesellschaften wie der „deutsch-französischen Liga.“17 Fried sah die französische Regierung für pazifistische Ziele aufgeschlossen: „in Frankreich sehen wir den Pazifismus am Regierungssteuer stehen.“18 In der Sozialdemokratie sah Fried einen potentiellen Verbündeten. So hatte die Partei bereits 1891 in ihrem Erfurter Programm pazifistische Forderungen gestellt wie die Abschaffung der stehenden Heere und die „Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“19 Frieds Pazifismus besaß die „Eigenart, positive Äußerungen [von] . . . Gegner[n] rückhaltlos zu würdigen,“ ein Charakterzug, der nach Ansicht seiner Biografin 13
Zit. nach SB, S. 67. Alfred H. Fried, Die Ausgestaltung der Friedensaktion in Deutschland. Eine Denkschrift zum zehnjährigen Bestande der Deutschen Friedens-Gesellschaft. November 1892 – November 1902, Verlag „Die Friedens-Warte“, Berlin 1902, S. 13, zit. nach SB, S. 122. 15 Dagegen meint Ursula Fortuna, Der Völkerbundgedanke in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, Zürich 1974 (Bd. 30, Zürcher Studien zur Allgemeinen Geschichte), S. 36, dass man bei Fried „vergeblich nach konkreten Vorschlägen für den organisatorischen Auf bau einer Staatengemeinschaft (sucht).“ 16 Bei SB, S. 77, fi ndet sich folgende Beschreibung: „Vermutlich schon 1893 stellte er in der ‚Illustrierte Zeitung‘ seine erste Erfi ndung, ‚Frieds hygienisches Müll-, Sammel-, Und Abfuhrapparat‘, zur verbesserten Auf bewahrung und Abfuhr von Hausmüll in der Stadt vor. . . . Sogar über die weitere Lagerung macht sich Fried – sehr modern anmutende – Gedanken.“ Weitere Informationen bei SB, S. 78–79. 17 Fried stellte das Konzept der zusammen mit dem Sozialdemokraten Albert Südekum (1871–1944) geplanten Deutsch-französischen Liga 1895 in seinem in Leipzig und Paris zweisprachig erschienenen Buch Elsass-Lothringen und der Krieg vor. 18 Fried, Die Ausgestaltung der Friedensaktion in Deutschland, S. 4, zit. nach SB, S. 121. Fried bewunderte die Franzosen, die sich „stets für alle großen Regungen der Menschheit leicht und früher begeisterte[n] als die anderen Völker Europas.“ Fried, Die Friedensbewegung in Frankreich, Die Friedens-Warte (im Folgenden FW), Nr. 13–14 (15. April 1901), S. 51, zit. nach Adolf Wild, Baron d’Estournelles de Constant (1852–1924). Das Wirken eines Friedensnobelpreisträgers für die deutschfranzösische Verständigung und europäische Einigung, 1973, S. 142. Für de Constant war Fried ein „unermüdlicher Verbindungsmann im deutschsprachigen Raum.“ Wild, a.a.O., S. 194. 19 Erfurter Programm online: http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/er furt.htm. 14
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„nicht nur seinem manchmal etwas naiv wirkenden Optimismus zu verdanken“ war, sondern einen philosophischen Ursprung hatte.20 Dies wird auch bei der Beurteilung des deutschen Kaisers Wilhelm II. eine Rolle gespielt haben,21 der sich selber insgeheim gerne in der Rolle des wiedererstandenen Friedensfürsten Friedrich Barbarossa sah. Die Bedeutung, welche Fried dem Völkerrecht zumaß, unterschied ihn von mehr ethisch fundierten Pazifisten wie Ludwig Quidde.22 Einhellige Unterstützung fand sein wissenschaftlich orientierter Pazifismus bei dem Neu-Kantianer, Völkerrechtler und Parlamentarier Walther Schücking.23 Schücking bekannte später, dass seine „ganze Völkerrechtsrichtung . . . von Fried in hohem Maße bestimmt worden“ sei.24
Die Haager Friedenskonferenzen, 1899 und 1907 Völkerrechtliche Aspekte einer internationalen Rechtsordnung, Friedenssicherung und Abrüstung standen offiziell auf den Haager Friedenskonferenzen, 1899 und 1907, zur Debatte. Fried kommentierte das Ereignis, zu dem der russische Zar Nikolaus II. eingeladen hatte, wie folgt: Die Friedensidee hat eine Siegesnachricht zu verzeichnen, eine Siegesnachricht, wie man sie sich nicht zu träumen wagte. Das gekrönte Haupt des mächtigsten europäischen Staates hat das Banner ergriffen, auf dessen Höhe die Worte „Die Waffen nieder! “ stehen. . . . [Man kann nun] mit festem Bewusstsein behaupten, dass in den letzten 48 Stunden die Weltgeschichte einen hörbaren Ruck vorwärts gemacht hat und sich nicht wieder nach rückwärts dirigieren lässt. . . . Alle Mann an Bord, muss es heißen, alle Mann zu den Waffen des Geistes: „Der Friede ist ausgebrochen!“25
Ziel der Haager Friedenskonferenzen waren neben der Abrüstung, so Fried, die „Beseitigung der Rüstungsursachen, Auf bau des fehlenden Rechtssystems und damit das Ende der Anarchie zwischen den Staaten.“ Fried schreibt: Die Konferenz wird der Ursache der Rüstungen näher auf den Grund nachgehen müssen und wird schließlich, wenn es ihr ernst um ihre Arbeiten zu tun sein wird, den einzig möglichen und richtigen Weg einschlagen, die Rechtsverhältnisse der Staaten untereinander auszudehnen und um ein Bedeutendes zu erweitern.26 20
SB, S. 84. Siehe Alfred H. Fried, Der Kaiser und der Weltfrieden, 1910. Im Januar 1904 hatte Fried angeregt sein Freund Baron d’Estournelles de Constant solle beim deutschen Kaiser eine Audienz erwirken, um die Frage der deutsch-französischen Annäherung und das gemeinsame Fernziel, die europäische Föderation, vorzutragen. Es kam schließlich im Juni bei der Kieler Woche zu diversen Treffen, die zunächst erfolgreich erschienen, aber in der Sache am Ende ohne Ergebnis blieben. Siehe die eingehende Schilderung bei Wild, Baron d’Estournelles de Constant, S. 205–216. 22 Karl Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie, 2007. 23 Vgl. Klaus Schlichtmann, Walther Schücking (1875–1935), Völkerrechtler, Pazifi st und Parlamentarier, Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft (HMRG) 15 (2002), S. 129–147. 24 Detlev Acker, Walther Schücking (1875–1935), Münster: Aschendorffsche Verlagsanstalt, 1970 (XXIV), S. 42, Anm. 44. 25 Leitartikel, Berliner Zeitung, 30. August 1898, zit. bei SB, S. 93, mit Quellenangaben. 26 Alfred H. Fried, Was kann die Petersburger Friedens-Konferenz erreichen? Ein Vorschlag zur Erreichung der vom Zaren angestrebten Ziele, 1899, S. 16, in SB, S. 95. 21
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Ohne Erreichung dieses Zieles, nämlich der Errichtung einer internationalen Rechtsordnung, sei es unmöglich, Abrüstung realistisch ins Auge zu fassen. Fried prangerte die „Macht der Waffen“ an und wies darauf hin, dass „[h]eutzutage, wo die Kultur, wo das Völkergesetz herrscht . . . der Ruhm einer Nation nicht mehr im Siegen (liegt), . . . sondern in der Kunst und Wissenschaft.“27 Von Mitte Mai an hielt sich Fried im Haag auf. Als einer von 15 Auserwählten nahm er, mit Bertha von Suttner, dem Engländer William Stead, Theodor Herzl und einigen Journalisten an der Eröffnungssitzung teil. Die Baronin von Suttner unterhielt im Zentralhotel im Haag einen vielbesuchten Friedenssalon. Friedensaktivisten wie der amerikanische Quäker Benjamin Trueblood, der Russe Jakob ( Jacques) Novicow, der Belgier Henry La Fontaine und der polnisch-russische Staatsrat Johann von Bloch, dessen friedenswissenschaftliche Abhandlung Der zukünftige Krieg auch auf den Zaren entscheidenden Einfluss ausgeübt hatte sowie der französische Diplomat, Pazifist und spätere Friedensnobelpreisträger Baron d’Estournelles de Constant, den Fried im Haag kennenlernte, trugen zu den öffentlichen Diskussionen bei, die parallel zur Konferenz stattfanden. Mit Bloch entstand eine enge Verbindung, die für Fried auch fi nanzielle Unterstützung für seine Publikationen, darunter die FriedensWarte, brachte. Täglich verfasste Fried für Tageszeitungen wie die Berliner Zeitung Berichte, die er vom Haag aus versandte. Anfang Juni hatte Fried die erste Nummer der neuen Zeitschrift Die Friedens-Warte, Wochenschrift für internationale Verständigung herausgebracht, die in der Folge für die Friedensbewegung in den deutschsprachigen Ländern und darüber hinaus28 Bedeutung erlangen sollte. In einem Artikel in der Friedens-Warte ermuntert Fried die Pazifisten: Es muss vor allen Dingen klar gemacht werden, dass in dieser ersten Konferenz, unter der Zusammenarbeit der ersten Diplomaten beider Welten, der Krieg im Prinzip einstimmig verurteilt wurde, dass das Schiedsgerichtsprinzip zum ersten Male von der großen Mehrheit der Staaten der Welt anerkannt wurde, wenn auch vorläufig nur in beschränkter Weise und dass in Bezug auf die ungeheuren Rüstungslasten der Übelstand zum ersten Male offi ziell zugegeben wurde.29
Die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit wurde aufgrund des deutschen Vetos abgelehnt.30 Am 2. Juni reist Fried ab, obwohl die Konferenz noch bis zum 29. Juli fortdauerte. 27
Fried, Jugenderinnerungen, S. 12. So schrieb das Carnegie Endowment über die Friedens-Warte: „It is, on the whole, the most substantial and effective of the publications devoted to peace and arbitration.“ (Carnegie Endowment for International Peace, Yearbook for 1911, Washington 1912, S. 57) „Damit („Ab Januar 1912 . . . jährliche Unterstützung von $6000“) wurde die Friedens-Warte die mit dem höchsten Zuschuss der Carnegie-Stiftung geförderte Friedens-Zeitschrift weltweit,“ die „sämtliche deutsche und österreichische Parlaments- und Reichstags-Abgeordnete, 490 Universitätsprofessoren, hervorragende Persönlichkeiten in Amerika und England, sämtliche Diplomaten in europäischen Hauptstädten, etc.“ erhielten. Nachweise alle bei SB, S. 195. Der Pazifi st Norman Angell (1874–1967), der 1933 den Friedensnobelpreis erhielt, nannte die Friedens-Warte „the most efficient periodical of the Pacifi st movement in the world.“ Vorwort, The German Emperor and the Peace of the World, S. x. 29 Alfred H. Fried, Das Werk der Haager Konferenz, FW, 1. Jg, Nr. 13 (25. 9. 1899), S. 189 ff. 30 Dennoch verpfl ichteten sich die Staaten, „um in den internationalen Beziehungen die Anwendung von Gewalt so weit als möglich zu vermeiden . . . alle Bemühungen anzuwenden, um die Schlich28
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Zu Ostern 1900 veröffentlichte Fried ein achtzigseitiges Buch mit dem Titel Haager Friedenskonferenz, in dem er die Ergebnisse der Konferenz zusammenfasst und den dort erreichten „Sieg des Fortschritts“ als „Anfang eines Systemwandels in der internationalen Politik von der Gewalttheorie nach der Rechtsanschauung hin“ beschreibt.31 Die offiziellen Regierungsstellen in Deutschland, insbesondere das Auswärtige Amt, und die unter ihrem Einfluss stehende Presse befürchteten nun jedoch eine unliebsame Umgestaltung der internationalen Beziehungen, die in Zukunft wirksam werden und die deutschen Interessen beschneiden könnte und versuchten das „Werk vom Haag“ (Schücking) auf alle mögliche Art und Weise herabzusetzen. Im Hinblick auf den Kolonialismus – nach 1899 eigentlich keine unter Pazifisten vorherrschende Position mehr – vertrat Fried eine pragmatische, aufgeklärte Kolonialpolitik, die möglich und notwendig sei,32 eine Position, die dem England-kritischen Kolonialpolitiker Wilhelm Solf (1862–1936)33 sicher gefallen hätte: Uns genügt eine Vereinigung der Staaten Europas zu einem bestimmten Zwecke, ein richtiger Geschäftsvertrag, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung zur Aufschließung Chinas, zur Aufschließung Afrikas und weiß Gott noch welcher unerschlossener Landstriche. . . . Eine mit europäischem Mandat operierende internationale Flotte wird die Geschäfte viel friedlicher besorgen und ein europäischer Staatenkongress, der Aufsichtsrat dieser großen Kommanditgesellschaft wird die Unternehmungen leiten und regeln.34
Aus welchem Grund auch immer – der Burenkrieg wird als Ursache genannt – schwindet in der Öffentlichkeit das Interesse am Pazifismus, und neben anderen Gründen treten zunehmend Neid und Ressentiments gegenüber England in den Vordergrund. (SB, 117) Frieds Bemühungen um eine deutsche Einbürgerung scheitern und nach fast zwanzigjähriger Tätigkeit in der deutschen Reichshauptstadt kehrt er schließlich im Juni 1903 nach Wien zurück. Noch in Berlin hatte Fried sich um die Gründung einer Esperanto-Gesellschaft bemüht und ein entsprechendes Lehrbuch herausgegeben.35 Ebenfalls 1903 wurde Fried Mitglied in dem unter der Schirmherrschaft des Fürsten von Monaco entstandenen „Institut international de la Paix,“ in dem neben dem Göttinger Professor und Mitglied des Haager Schiedsgerichtshofes Carl Ludwig von Bar Mitglieder der Interparlamentarischen Union (IPU),36 Völkerrechtler und Pazitung internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel herbeizuführen.“ Konvention für die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten, abgeschlossen im Haag am 29. Juli 1899. S. auch Alfred H. Fried, Die moderne Schiedsgerichtsbewegung, Berlin 1904. 31 Alfred H. Fried, Die Haager Conferenz, ihre Bedeutung und ihre Ergebnisse, Berlin 1900, S. 48. Vgl. auch Alfred H. Fried, Unser Jahrhundert, FW, Nr. 2 (1900), S. 3: „An der Schwelle des Jahrhunderts gelang es . . . jenes Institut zu errichten, das ein Ehrendenkmal . . . sein wird . . . ein Siegeszeichen der Civilisation . . . ein Vorzeichen. . . . Das Recht wird erstehen zwischen den Völkern . . .“ Zit. nach Lipp, Lütgemeier-Davin und Nehring, op.cit., S. 57. 32 Fried, Was kann die Petersburger Friedens-Konferenz erreichen?, S. 28, SB, S. 96. 33 Klaus Schlichtmann, Shidehara Kijuro, Staatsmann und Pazifi st. Eine politische Biografie (DeutschJapanische Juristenvereinigung, (Bd. 8), 1998, S. 15–17, 31, 35, 72–75. 34 Fried, Was kann die Petersburger Friedens-Konferenz erreichen?, S. 30 f. 35 Alfred H. Fried, Lehrbuch der internationalen Hilfssprache ‚Esperanto‘. Mit Wörterbuch in Esperanto-Deutsch und Deutsch-Esperanto. Esperanto-Verlag, 1903. 36 Die IPU wurde 1889 von William Randal Cremer und Frédéric Passy gegründet. Ralph Uhlig,
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fisten versammelt waren. 1905 erscheint sein Handbuch der Friedensbewegung in erster Auflage, ein Werk, das, wie Fried in seinem Vorwort schreibt, sowohl „einem Außenstehenden . . . als vollständiger Wegweiser“ als auch „dem Anhänger und Eingeweihten bei der Propaganda als nützliches Nachschlagewerk“ dienen sollte.37 Ausdrücklich wird das „im Haag begonnene Werk, das die pazifistische Arbeit von Jahrzehnten krönte,“ gewürdigt; das historische Ereignis habe dazu geführt, dass nun der „militärische Begriff von der Friedenserhaltung . . . zusehends der pazifistischen Anschauung der Friedenssicherung durch Ausbreitung und Festigung des internationalen Rechtes (weicht).“38 Es lag nahe, dass Fried in Wien nun auch „[m]ehr und mehr . . . in die persönliche Umgebung Bertha von Suttners“ rückte.39 Auch die zweite Konferenz (15. Juni – 18. Oktober 1907), die „unerwartet lange“ dauerte, führte durch die „spärlichen Ergebnisse“ zu Enttäuschungen unter den Pazifisten. Tatsächlich hatten die Amerikaner lange vergeblich versucht, bei der Abstimmung über die Frage der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit vom Prinzip der Einstimmigkeit abzugehen und einen Mehrheitsbeschluss durchzusetzen, der sicher auf der für 1914/15 vorgesehenen dritten Konferenz Wirklichkeit geworden wäre.40 Die Frage der Abrüstung wurde wegen des deutschen Widerstandes gar nicht erst in das offizielle Programm aufgenommen. Dennoch urteilte der amerikanische Delegierte Elihu Root: Es handelt sich bei jeder internationalen Konferenz nicht bloß um das, was sie vollbracht hat, sondern auch um das, was sie begonnen und was sie gefördert hat. Nicht nur die unterzeichneten und ratifi zierten Konventionen, sondern auch die erreichten Etappen . . . sind von Wert. . . . [Die] von der letzten Konferenz angenommenen Beschlüsse . . . gleichen Kabelenden, die inmitten des Ozeans verankert werden, um später von einem anderen Dampfer aufgegriffen, zusammengefügt und zur Küste geführt zu werden.41
Auch Fried schreibt beschwichtigend:42 Die Organisation der Menschheit geht seit langem vor sich. Sie wächst von Tag zu Tag; an tausend Enden wird an diesem Ziel zu gleicher Zeit gearbeitet. Die Entwicklung des Rechts Die Interparlamentarische Union 1889–1914. Friedenssicherungsbemühungen im Zeitalter des Imperialismus, 1988. 37 Alfred H. Fried, Handbuch der Friedensbewegung. Erster Teil. Grundlagen, Inhalt und Ziele der Friedensbewegung, 1911 (2. Aufl age), S. viii. Hiernach Fried, Handbuch I.! 38 Fried, Handbuch I, S. ix. 39 Brigitte Hamann, Bertha von Suttner. Ein Leben für den Frieden, 1986, S. 324. 40 Im Handbuch der Friedensbewegung. Zweiter Teil. Geschichte, Umfang und Organisation der Friedensbewegung, 1913 (2. Aufl age), S. 400–401, schreibt Fried über den amerikanischen Präsidenten und Empfänger des Friedensnobelpreises 1906 Theodore Roosevelt, er habe sich stets für die „Errichtung eines ordentlichen Staatengerichtshofes, zwecks richterlicher Erledigung internationaler Streitigkeiten“ eingesetzt, trat „jederzeit für starke Rüstungen ein, für die Organisation der Gewalt als Übergang zur Zeit der Rechtsherrschaft“ und „regte [in seiner Nobelpreisrede] . . . die Gründung einer aus führenden Nationen zusammengesetzten Friedensliga mit einer Exekutivflotte an.“ 41 Zit. nach Alfred H. Fried, Pan-Amerika. Entwicklung, Umfang und Bedeutung der zwischenstaatlichen Organisation in Amerika (1810–1916), 1918, S. 262. 42 Alfred H. Fried, Die zweite Haager Konferenz, ihre Arbeiten, ihre Ergebnisse und ihre Bedeutung, Leipzig o.J., S. 158, zit. nach SB, S. 161.
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im internationalen Verkehr ist nur ein Teil dieser Arbeit und die Haager Konferenzen sind nur Teile dieses Teils.
Dennoch ist die Enttäuschung groß. Vor allem wegen der „mangelnden Bereitschaft der Staaten zu einem Verzicht auf das Dogma unbeschränkter Souveränität“43 – hier hatte sich die deutsche Delegation besonders hervorgetan – war der Konferenz ein durchgreifender Erfolg versagt geblieben.
Europäische Wiederherstellung Vergleichsweise hatte die pan-amerikanische Bewegung, durch das erstmalige Erscheinen der südamerikanischen Staaten auf der zweiten Haager Konferenz bestärkt, an Bedeutung gewonnen. In seinem 1918 in zweiter Auflage erschienenen Buch PanAmerika schreibt Fried, mit Blick auf die Ereignisse in Europa anklagend:44 Und während auf dem alten Kulturboden Europas dieser ungeheure Zusammenbruch sich vollzieht, wächst auf der anderen Seite des Erdballs die im Pan-Amerikanismus begründete Staatengemeinschaft zu einer immer stärker, in ihrer Bedeutung sich immer bewusster werdenden Organisation zusammen.
Im Vorwort zur ersten Auflage von Pan-Amerika hatte Fried noch 1910, im Hinblick auf die „ganz andere Art des staatlichen Nebeneinander- und Zusammenlebens,“ die im Haag zur Debatte stand, geschrieben: 45 Aus falschen Prämissen kommt man zu falschen Schlüssen, und falsche Schlüsse sind immer eine Gefahr für diejenigen, die ihre Handlungen danach einrichten. Es gibt deshalb eine amerikanische Gefahr; doch nur insofern, als man in Europa die von dort kommenden Anregungen übersieht oder verkennt, sich ihnen nicht anzupassen sucht und dadurch an einer Rückständigkeit festhält, die sich zum Nachteil des alten Erdteils gestalten muss, die man aber selbst verschuldet hat. Die amerikanische Gefahr hat in Europa ihren Ausgangspunkt.
Die Entwicklungen in Amerika müssten daher in Europa nachvollzogen werden; durch das „Allheilmittel der Föderation“ werde Europa . . . gesunden und alle die heute sich bedrückt fühlenden Völker werden frei sein. Nicht frei durch Erhebung, nicht frei durch Lostrennung: nein! Wir Föderalisten predigen nicht die Revolution. Wir werden . . . Raum . . . schaffen für die natürliche Entwicklung der Kulturmenschheit . . . und werden dabei den großen Staatenverbänden jene Sicherheit gewähren, deren Mangel sie heute veranlasst, als Unterdrücker aufzutreten.46
So regte Fried die Errichtung eines „pan-europäischen Bureaus“ an,47 ein Vorschlag, der im Oktober 1909 auf der Generalversammlung des Internationalen Frie43
Ebd. Fried, Pan-Amerika, S. 289. 45 Fried, Pan-Amerika, S. v. 46 Alfred H. Fried, Deutschland und Frankreich. Ein Wort über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer deutsch-französischen Verständigung, 1904, S. 78–79. 47 Fried, Pan-Amerika, S. 290. Vgl. ders., Das pan-europäische Bureau, FW, Jg. 11, Heft 10 (1909), S. 181. Der Direktor des Fried als Vorbild dienenden pan-amerikanischen Büros, John Barrett, The panamerican Union and Peace, Advocate of Peace ( Januar 1916), berichtet: „es (hätte) niemals einen europäischen Krieg gegeben . . . wenn in einer der europäischen Hauptstädte wie London, Paris, Berlin oder 44
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densbüros begeisterte Aufnahme fand. Doch gab es „aus den eigenen Reihen“ Kritik und Bedenken,48 und am Ende erwies es sich der Plan als unrealisierbar. Fried hielt jedoch an der Idee fest, nannte sein Projekt „Zweckverband Europa“ und wollte die deutsche Reichsregierung gewinnen die Initiative zu ergreifen. Er hielt den Zeitpunkt gekommen . . . [für die] Schaffung . . . eines Zweckverbandes Europa. . . . Wir stehen vor einer entscheidenden Wendung in der europäischen Politik. Wenn die anglodeutsche Verständigung zustandekommt, ist Europa reif und bereit zur Kooperation, ist der Friede auf diesem Erdteil dauernd gesichert. . . . Es wäre dies eine Aufgabe, die des Deutschen Reiches würdig wäre und deren Erfüllung dem deutschen Volke mehr Erfolg bringen könnte, als ein siegreicher Krieg.
Der Hauptsitz des „Bureaus“ sollte in Berlin sein, „das dadurch von der Reichshauptstadt zur Hauptstadt Europas avancieren würde.“49 Die verschiedenen regionalen Zweckverbände würden in der großen Ordnung der Dinge ihren Platz einnehmen und die Ordnung stützen.50 In diesem Zusammenhang sieht Fried auch das Entstehen einer internationalen Exekutive positiv,51 die auf dem XX. Weltfriedenskongreß im Haag (18. bis 23. August 1913) auf dem Programm stand. Obwohl „Vertreter verschiedener Nationen – die englisch sprechenden scheinen besonders diesen Standpunkt einzunehmen – prinzipiell die internationale Polizei ausgeschlossen sehen wollen und dem Moral und Rechtsbewußtsein der heutigen Welt genug Kraft zutrauen, um Rechtsurteile auszuführen,“ meint Fried, dass „eine Organisation der internationalen Polizei anzustreben sei,“ die bereits „tatsächlich in verschiedenen Fällen (China, Kreta, Skutari) erfolgreich eingegriffen, sich also bewährt habe.“52 Im Hinblick auf die für 1915 geplante Dritte Haager Friedenskonferenz53 fordert der Weltfriedenskongress die Regierungen auf, „nach dem Beispiel der Regierungen Wien ein pan-europäisches Bureau auf der gleichen Grundlage und für den gleichen Zweck und unter der gleichen Kontrolle organisiert gewesen wäre, wie das pan-amerikanische Bureau in Washington.“ S. auch John Barrett, The Pan American union: peace, friendship, commerce, 1911. 48 Details sind nachzulesen bei SB, S. 165–166. 49 Alfred H. Fried, Zweckverband Europa, FW, Jg. 14, Heft 3 (März 1912), S. 83–84. 50 , Ebd, S. 82: „Man kann die europäische Gemeinschaft nicht konstruieren, man muß sie züchten. Im Zweckverband liegt die Lösung.“ 51 Zur internationalen Exekutive, die wohl auf der dritten Haager Konferenz zur Diskussion gestanden hätte, äußert sich Fried wie folgt: „. . . ein Kampf gegen den Rechtsbrecher (wird) niemals ein Krieg sein; die öffentliche Gewalt wird nur als Exekutive eines bestehenden Rechts zur Anwendung gelangen; hier wird es sich nicht mehr darum handeln, einen Streit durch die Macht des Stärkeren zu lösen, durch die Gewalt ein Recht erst zu schaffen, sondern durch freie Vereinbarung bereits geschaffenes Recht durchzuführen. Das heisst nicht mehr, die Gewalt an Stelle des Rechts setzen, sondern sie in den Dienst des Rechts stellen; es ist dies kein Krieg mehr, sondern ein Akt der Justiz.“ Handbuch 1905, S. 22. 52 Elisabeth Friedrichs, Der XX. Weltfriedenskongreß im Haag (18. bis 23. August 1913), FW, Jg. 15, (August 1913), S. 331. Gemeint sind die China-Expedition, 1900–1901, anlässlich des Boxer-Aufstandes, die Bemühungen Frankreichs, Russlands und des Vereinigten Königreichs 1898 zur Erreichung der Autonomie Kretas (aber unter osmanischer Oberhoheit) und das Skutari-Detachement des Albanieneinsatzes in den Balkankriegen 1913–1914. Offenbar beurteilte Baron d’Estournelles de Constant die China-Expedition ähnlich wie Fried als Chance für den „Beginn einer dauerhaften organisierten Union.“ Zit. nach Wild, Baron d’Estournelles, S. 108. 53 Im Hinblick auf die geplante dritte Haager Friedenskonferenz schrieb Fried, FW, Jg. 16 (Februar 1914), S. 124: Wir erwarten . . . von der dritten Haager Konferenz einen vernünftigen Fortschritt auf dem Gebiete der internationalen Organisation, einen Ausbau des Rechtsgedankens und ein Stück mehr von jener Umwandlung der Geister, die allmählich den Krieg ausschalten wird . . .“
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von Oesterreich-Ungarn, Dänemark, Frankreich, Norwegen, der Niederlande und Schweden sofort vorbereitende Kommissionen . . . einzusetzen.“54
Internationale Organisation Nach dem Ersten Weltkrieg distanziert Fried sich von seinem Vorschlag eines „Zweckverbandes Europa“ als Ausgangs- und Angelpunkt der internationalen Organisation (und Exekutive) und schreibt: Ich hatte früher als Grundlage einer Friedensorganisation einen Zweckverband Europa vorgeschlagen. Der Weltkrieg hat uns gelehrt, dass die Weltzusammenhänge schon so stark sind, dass es mit der Organisation eines Erdteils allein nicht mehr geht. Mir erscheint daher der Weltzweckverband als jene Einrichtung, die, da sie in ihren Anfängen bereits vorhanden war, im Friedensschluss zu erneuern, zu stärken und weiter auszubauen ist.55
Auch die Einrichtung einer internationalen Polizei lehnt Fried nun zunächst ab, „solange nicht eine allgemein anerkannte zwischenstaatliche Ordnung hergestellt ist.“56 Weltweite Resonanz fand 1909 auch Frieds Projekt einer „Internationalen Union der Friedenspresse“ (I. U. F. P.), die einen „Kristallationspunkt“ bilden sollte, „dem sich nach und nach die anderen besseren Elemente der übrigen Presse anschließen“ würden, um „gegen die methodische Verhetzung“ der Friedensbewegung auf klärend zu wirken.57 In Deutschland und Österreich stieß der Vorschlag jedoch auf wenig Gegenliebe und wurde daher schließlich aufgegeben. Weitaus wichtiger war die „Ausformung einer pazifistischen Theorie,“58 um die Ziele und Wege hin zu einer internationalen Friedensorganisation und Völkerver54
Ebd., S. 333. Alfred H. Fried, Die Grundlagen der künftigen Völkerorganisation, FW, Jg. 44, H. 6 (1944), S. 402, Nachdruck des Aufsatzes von 1919. Ich danke Frau Schönemann-Behrens für die Zusendung einer Kopie des Artikels. 56 Alfred H. Fried, Der Weg des Völkerbundes, FW, Jg. 22 ( Juli 1920), S. 108–109: „. . . solange nicht eine allgemein anerkannte zwischenstaatliche Ordnung hergestellt ist, (kann) es des Völkerbunds Aufgabe nicht sein, mit Gewaltmitteln einzugreifen. Er wird eine solche Ordnung mit Exekutivorganen, die zu seiner Verfügung stehen werden, schützen, herstellen wird er sie mit Gewaltmitteln nicht können. Der Ruf nach einer internationalen Polizei ist verfrüht. Sie wird später nützlich, ja unentbehrlich sein, heute würde sie nur die Anarchie vertiefen helfen. Das haben wieder die Amerikaner am richtigsten erfasst, als sie sich dagegen sträubten, den Artikel X im Covenant zu ratifi zieren. Neulich veröffentlichte Hoover in amerikanischen Blättern einen Artikel, in dem er den Mitgliedern der republikanischen Partei empfiehlt, den Friedensvertrag unter Ausschaltung dieses Artikels zu ratifi zieren. . . . Man solle sich einzig auf wirtschaftliche und moralische Repressalien verlassen. – Darin liegt auch die große Erkenntnis der Aufgabe, die der Völkerbund heute zu erfüllen vermag. Er muss die große moralische Kraft werden, die den Geist zur Herrschaft bringt über die verachtete und bankerotte Gewalt. Nur auf diesem diese Weise kann der Völkerbund zur Erfüllung seiner Aufgaben hinaufwachsen. Als Organ der Weltdemokratie wird er sich jenen Kredit erwerben, der ihn stärker machen wird als alle mit Kanonen und Giftgasen ausgestatteten Widersacher und Weltinsurgenten.“ 57 Alfred H. Fried, Rundschreiben (Aufruf ), FW, Jg. 11, Heft 5 (Mai 1909), S. 88, zit. nach SB, S. 168–169. 58 SB, S. 171. Siehe auch Dieter Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, 1985, S. 50 ff. 55
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ständigung systematisch und anschaulich darzulegen. Bereits im Herbst 1905 hatte Fried in einem Artikel sein „System des revolutionären Pazifismus“ erläutert.59 1908 erschien eine 68 Seiten starke Broschüre mit dem Titel Die Grundlagen des revolutionären Pazifi smus, in der er den Übergang von der „Anarchie der internationalen Beziehungen, die notgedrungen die Gewalt als Regulator bedingt,“ zu einem Zustand der „Ordnung des internationalen Zusammenlebens der Völker“ versuchte deutlich zu machen.60 Dabei zielte der revolutionäre Pazifismus – revolutionär nicht im politischen, sondern im Sinne der „Veränderung eines Prinzips“ – darauf ab, die Ursachen, also das ungeordnete, anarchische Verhältnis zwischen Staaten zu beseitigen. Im Prinzip seien die Rüstungen der Staaten solange vernünftig und (vielleicht) sogar notwendig, wie das System unvernünftig ist. Die Rüstungen seien nur „das Surrogat für die fehlende Ordnung, für den Mangel an Sicherheit und Recht.“61 Im Gegensatz zu den „Reformpazifisten“ könne die Regierung daher auch „bei Ausbruch des Krieges den [revolutionären] Pazifisten nicht mehr vorwerfen . . . dass ihre Aktion zwecklos ist,“ da sie „ruhig erwidern können, dass es ja nicht Aufgabe ihrer Aktion ist, Kriege zu vermeiden, solange die Ursachen dazu nicht beseitigt sind.“62 Frieds Utilitarismus fand sein Gegenüber in dem Russen Jakob Novicow, einem „langjährigen Freund und Briefpartner,“63 dessen Buch Die Föderation Europas er 1901 übersetzt hatte. Dass der Fortschritt hin zu einer immer umfassenderen globalen Einheit unumgänglich war, daran zweifelte Fried nicht.64 „Das, was wir Weltgeschichte nennen, ist nichts weiter als ein fortlaufender Organisationsprozess.“65 Die Politik verhinderte diese Entwicklung jedoch, indem sie an veralteten Denkmustern festhielt, insbesondere auf ihren Anspruch auf eine uneingeschränkte staatliche Souveränität. Im Gegensatz dazu (und von den Politikern noch nicht hinreichend erkannt) hätten sich inzwischen schon „(g)ewisse Regeln . . . herausgebildet, . . . [wodurch] die Souveränität 59 Alfred H. Fried, System des revolutionären Pazifi smus, FW, Jg. 7, H. 8 (1905), S. 145–149. Der Völkerrechtler und Neukantianer Walther Schücking, Der Staatenverband der Haager Konferenzen, München und Leipzig 1912, S. 4, Anm. 1, kritisiert Fried hier: „Hier mag nur gesagt sein, dass ich die Namengebung von Fried, ‚revolutionärer Pazifi smus‘, wenig glücklich fi nde und durch die Bezeichnung ‚organisatorischer Pazifi smus‘ ersetzt sehen möchte.“ In der zweiten Aufl age von 1916 lautet der Titel bei Fried dann: Die Grundlagen des ursächlichen Pazifi smus. 60 Alfred H. Fried, Die Grundlagen des revolutionären Pazifi smus, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1908, S. 3 und 5. Im gleichen Jahr erschien auch sein Buch Die moderne Friedensbewegung in Frankreich und Deutschland. S. auch Lipp, Lütgemeier-Davin und Nehring, op.cit., S. 68–70 mit Auszügen. 61 Ebd., Grundlagen, S. 20. 62 Fried, System des revolutionären Pazifi smus, S. 147. 63 SB, S. 173. 64 Leo Gross kritisiert Frieds „geschichtsphilosophische Beweisführung“ (Nachweis bei SB, S. 182– 184), wie Schönemann-Behrens meint „[t]atsächlich . . . ein Schwachpunkt der ‚wissenschaftlichen‘ Beweisführung.“ Der Cambridger Völkerrechtsprofessor L. Oppenheim dagegen erkennt an, Fried „has put the movement of Pacifi sm on a Scientific basis.“ Tatsache ist, dass Wettrüsten letztendlich zum Krieg führt und Krieg ein organisiertes Verbrechen ist, da er den Planeten, den Staat und die Gesellschaft ruiniert (Bloch), und die Entwicklung von immer größeren Verwaltungseinheiten in der Vergangenheit blockiert hat. „In Deutschland führte die ‚Historische Rechtsschule‘ dabei noch zusätzlich zu einem überhöhten, personifi zierten Staatsbegriff, der eine absolute und uneingeschränkte Staatssouveränität erzwang.“ SB, S. 186. 65 Alfred H. Fried, Neue Bahnen des Pazifi smus, Teil 2 in FW, Jg. 10, Heft 3 (März 1908), S. 44. Zit. nach SB, S. 173–174.
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der Staaten durch einen selbsttätigen Prozess immer mehr beschränkt wurde.“66 Tatsächlich enthält, so erläutert Fried im Handbuch der Friedensbewegung, bereits „[ j]eder Staatsvertrag . . . die Preisgabe eines Stückes der staatlichen Souveränität zugunsten des eigenen Vorteils. . . . [Generell kann] jeder einzelne [Staat] durch die Beschränkung seiner Souveränität nur Vorteile ernten.“67 Unter der Überschrift „Die beschränkte Souveränität als Grundlage höherer Staatseinheiten“ schreibt Fried: 68 Es ist sonderbar, wenn gerade deutsche Völkerrechtslehrer und Politiker die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität verkünden und dabei völlig übersehen, dass das Deutsche Reich nicht denkbar wäre, wenn die Einzelstaaten, die es bilden, nicht einen Teil ihrer Souveränität geopfert hätten. . . . Sie haben . . . durch die Beschränkung ihrer Einzelsouveränität eine viel größere Sicherheit, ein höheres Maß von Wohlstand und Gedeihen eingetauscht.
Diese Abgabe an Souveränitätsrechten an die höhere Ordnungsinstanz hat nach Fried für die Sicherheit, den Wohlstand und den Frieden allerhöchste Priorität. Der Schlüssel für die damit möglich werdende Friedensorganisation sei die „Umwandlung der eigenen staatlichen Macht in Pfl ichten der anderen.“69 Frieds Hypothesen führten zur Ausformung eines „pazifistischen Völkerrechts, das den Krieg nicht mehr zu regeln versuchte, sondern seine Berechtigung generell bestritt.“70 Es ist vor allem dieser Ansatz, der bereits einen Schritt in Richtung auf das in der Zwischenkriegszeit entwickelte Friedensverfassungsrecht darstellt, bei dem durch Abgabe staatlicher Hoheitsrechte durch den nationalen Gesetzgeber der „Prozess“ der Entstehung einer supranationalen Ordnungsmacht eingeleitet werden soll. Wie diese Ordnungsmacht jedoch auszusehen habe, wollte Fried keineswegs vorschreiben, da dies Ergebnis des Prozesses sein würde: Um die „Weltorganisation zu proklamieren,“ müsse erkannt werden, dass sie zum großen Teil schon vorhanden ist, dass sie sich täglich erweitert, dass sie größer und mächtiger wird . . . und dass der denkende Mensch nur die letzte Hand an den großen Bau zu legen, dass er . . . dem Ganzen eine einheitliche Fassade zu geben hat. Nenne man dann diese Fassade wie man will: Vereinigte Staaten, Föderation, Weltreich, Organisation muss ihr Wesen bilden.71
Seit Januar 1906 erschien die Friedens-Warte nicht mehr mit dem Emblem „Die Waffen nieder!“ auf dem Titelbild oben, sondern mit dem Motto „Organisiert die 66
Fried, Handbuch I, S. 107. Ebd., S. 108–109. Fried führt an der Stelle ein anschauliches Beispiel auf, das auch besonders für unsere heutige Zeit Relevanz besitzt: „Das tote Machtkapital des Staates bringt erst Vorteile, wenn man es flüssig macht und die fetten Zinsen in Gestalt von Pfl ichten der anderen Staaten dafür einheimst. Es wäre die Aufgabe einer weitsichtigen und modern denkenden Diplomatie, dieses Machtkapital dauernd und umfangreich in Pfl ichten der anderen umzusetzen und so dem eigenen Staate die größten Vorteile aus dessen Macht zu sichern.“ 68 Ebd., S. 109–110. 69 Ebd., S. 111. „Umwandlung der eigenen Macht in fremde Pfl ichten ist daher die Formel der zwischenstaatlichen Organisation. Sie unterscheidet sich wesentlich von der militaristischen Formel des ‚Si vis pacem para bellum‘.“ 70 SB, S. 186. „Wichtig an der neuen, realpolitischen Orientierung“ ist dabei „der Prozesscharakter, der der angestrebten Friedensordnung zugewiesen wurde.“ Dessen „dynamische Komponente (nahm) schon Ansätze heutiger Defi nitionen vorweg.“ SB, S. 178. 71 Alfred H. Fried, Organisiert die Welt!, FW, Jg. 8, Nr. 1 ( Januar 1906), S. 1–3. Zit. nach SB, S. 178. 67
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Welt!“ und der Abbildung einer Reihe ineinander greifender Zahnräder. „Mit der neuen Symbolik gingen auch Bemühungen um eine neue Sprache einher,“ schreibt Schönemann-Behrens;72 Fried bezeichnet die Pazifisten nun als „Friedens-Techniker.“73 Damit ging die Einsicht einher, dass die Diplomatie sich den internationalen Bestrebungen der pazifistischen Bewegung unterwerfen und der obligatorischen Vermittlung zuspielen müsse. Hinzu kam die Überzeugung, dass „die internationale Politik immer mehr der Kontrolle der Parlamente unterstellt wird, dass die Diplomatie auf hört, eine Geheimkunst zu sein und im modernen Geiste reformiert wird.“74
Fortschritte, Ehrungen Zum Zeitpunkt der Nominierung und Verleihung des Friedens-Nobelpreises 1911 war Fried einer der bekanntesten, aktivsten und meistgeachteten Pazifisten, der zudem einem wissenschaftlichen Anspruch entsprach und ihn förderte, wie nur wenige in der Lage waren. Seine „geistvollen Abhandlungen,“ schrieb Walther Schücking an das Nobelinstitut in Kristiania, „insbesondere die treffl ich geleitete ‚Friedens-Warte‘ haben die Mehrzahl der deutschen Völkerrechtslehrer mehr oder weniger für den Pazifismus gewonnen.“75 Der Zuspruch von allen Seiten war gewaltig. Das Echo in der Presse war jedoch verhalten; das Ereignis und die Bedeutung der neuen friedenswissenschaftlichen und friedenspolitischen Erkenntnisse für die Außen- und Friedenspolitik fanden dort kaum Erwähnung.76 Zur Eröffnung des Friedenspalastes in Den Haag 1913 erhielt Fried von der Universität Leiden den Ehrendoktortitel der Staatswissenschaften. In seiner Promotionsrede anlässlich der Verleihung verkündete Fried „den Eintritt einer neuen Wissenschaft in die Menschheitsgeschichte.“77 Angeregt von Eugen Schlief ( Jurist, 1852–1912) setzt sich Fried ab 1909 intensiv für die Gründung einer Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit ein, mit dem Ziel „größere Massen für die Friedensidee zu gewinnen.“ Zu diesem Zweck sei es vorrangig notwendig, „die Intelligenz in Deutschland für die Sache zu gewinnen.“78 Es zeugt von Frieds organisatorischem Talent und taktisch kluger Planung, 72
SB, S. 176. Tatsächlich sieht Fried auch in der Technik „positive Kräfte“ walten (SB, S. 184), die der internationalen Organisation zustreben. 74 Grundlagen, S. 56. 75 Nachweis bei SB, S. 197. Fried musste den Nobelpreis mit dem niederländischen Juristen Tobias Asser (1838–1913) teilen. 76 Fried selbst bemerkte zu seiner Verleihung bescheiden, er sehe „die hohe Auszeichnung, die ihm verliehen wurde, in erster Linie als eine Ehrung des Standes, dem er angehört; als eine Aneiferung für die dem Frieden dienenden Journalisten und Schriftsteller. Er fühlt sich auf das tiefste berührt durch den Umstand, daß er der Jüngste unter den Trägern der Nobelkrone ist und begreift die große Pfl icht, die ihm damit auferlegt wurde: Mit verdoppelter Kraft für die heilige Sache zu wirken, ihr bis zum letzten Atemzug zu dienen; ohne Kompromiß und ohne Zaudern.“ FW, 13. Jg. (Dezember 1911), S. 374. 77 Nachweis bei SB, S. 208. 78 SB, S. 209, Brief an Wehberg. 73
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dass nun „neben den Friedensgesellschaften eine große wissenschaftlich-politische Gesellschaft“ gegründet werden sollte, „die sich durch ihre Zusammensetzung und durch ihre Wirksamkeit augenfällig von den bisherigen Teegesellschaften und Stammtischen abheb[en sollte].“79 Diese bedeutende Initiative Frieds wird schließlich 1911 in dem maßgeblich von Nippold und Schücking gegründeten Verband für Internationale Verständigung realisiert. Dennoch kann auch dieser Verband, von Fried als „Oberhaus der Friedensbewegung“80 konzipiert, den Ausbruch des Weltkrieges nicht verhindern. In einer Korrespondenz mit dem japanischen Pazifisten Tannejiro Miyaoka schreibt Fried bereits im Oktober 1912: 81 Wir stehen hier vor dem Kriege am Balkan und vor der Befürchtung einer allgemeinen europäischen Konfl agration. Noch ehe der Krieg zum Ausbruch kam, sind an den Börsen in den europäischen Hauptstädten Milliarden verloren gegangen. Es dürfte selbst in Ihrem Lande ein Rückschlag davon zu verspüren gewesen sein. Hier in Oesterreich hat die rücksichtslose Militärverwaltung, die in der Oeffentlichkeit herrschende Angst vor dem Kriege dazu benützt, neuerdings zweihundert Millionen für Rüstungen einzufordern.
Fried prangert den „typisch europäischen Verfolgungswahn“ an, der für die Krise verantwortlich gewesen sei.82 Es sei schließlich auch der „Wettbewerb dieser beiden in Europa bestehenden Staatengruppen,“ dem Dreibund und dem Bündnis zwischen dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Russland, der „heute alle Gefahren (zeitigt).“83 Um positiven Einfluss auf die Entwicklungen zu nehmen, plant Fried nun zusammen mit Bertha von Suttner für 1914 einen großen Weltfriedenskongress, der in Wien im Palast des österreichischen Parlamentes zusammentreten soll.84 Da Bertha von Suttner am 21. Juni stirbt, wird der Kongress zusätzlich noch zur Trauerfeier erklärt. Doch am 30. Juli, zwei Tage nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien, muss der Wiener Kongress, der „zu den an Teilnehmerzahl größten unter den Weltfriedenskongressen gehört haben würde,“85 offiziell abgesagt werden. Der Erste Weltkrieg machte die Hoffnung, dass Deutschland sein Gewicht in die Waagschale legen und damit zukünftige Kriege unmöglich gemacht würden, zunichte. „Die Anfänge eines neuen Europa“ waren zwar bereits deutlich erkennbar geworden, und „eine neue Art im zwischenstaatlichen Verkehr, eine neue Richtung in der Regelung der Völkerbeziehungen“86 zeichnete sich ab, aber diese neue Sicht der Dinge konnte sich aufgrund des deutschen Widerspruchs nicht durchsetzen. 79
SB, S. 210, Brief an Nippold. SB, S. 218. 81 Brief vom 14. Oktober 1912. A.-H. Fried Papers, Box 70, General Correspondence 1903–1914, MIYAOKA, Tannejiro (1911–1914), Folie 10133. Ich danke Herrn Peter van den Dungen für seinen Hinweis, der mir den Zugang zur Fried-Miyaoka Korrespondenz im Völkerbundarchiv der United Nations Library in Genf ermöglichte und bewirkte, dass Herr Jacques Oberson vom VB-Archiv die Dokumente digitalisierte und mir komplett zur Verfügung stellte. 82 Ebd. Folie 10155, Brief vom 28. November 1912. 83 Alfred H. Fried, Der Weg zum Weltfrieden, 1913, S. 4, zit. bei SB, S. 221. 84 Weitere Einzelheiten bei SB, S. 222–226. 85 SB, S. 226. 86 Alfred H. Fried, Kaiser Wilhelm und der Weltfrieden, FW, Jg. 15 ( June 1913), S. 201. Vgl. auch Wild, Baron d’Estournelles de Constant, S. 420: „Fünf Jahre schätzte Norman Angell hätten genügt, in Deutschland den Geist zu wecken, den es zur Erfüllung seiner Rolle innerhalb der westlichen Kultur 80
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Krieg Fried empfand das, was nun geschah als „Überrumpelung“ hoffte aber immer noch „es müsse sich doch noch etwas ereignen, das dem Wahnsinn Einhalt gebieten könnte.“87 Da die Friedensarbeit und Herausgabe der Friedens-Warte in Wien immer unmöglicher wurde und Fried als Pazifist nun zunehmend auch persönlichen Angriffen ausgesetzt war, reiste er mit seiner Gefährtin Therese,88 „vorübergehend“ wie er zunächst meint, in die Schweiz, wo er „sein Hauptaugenmerk bereits auf die Zeit nach dem Krieg“ lenkt.89 Zusammen mit Schücking und dem Völkerrechtler Otfried Nippold (1864–1938) will er „mit den Vorarbeiten . . . beginnen,“ um für die bevorstehenden Friedensverhandlungen nach baldiger Beendigung des Krieges gewappnet zu sein.90 Fried rechnet damit, dass der Krieg in wenigen Monaten zu Ende sein wird. Im Januar 1915 einigte sich der Rat des Internationalen Friedensbüros in Bern auf einen Appell „An die Friedensgesellschaften aller Länder,“ in dem u. a. „die Schaffung einer internationalen Staatenorganisation mit gemeinsamen permanenten Vertretungskörpern inkl. einer permanenten internat. Gerichtsbarkeit . . . Kontrolle der Diplomatie durch die Parlamente . . . Verbot aller Offensiv- und Defensivbündnisse . . . Öffnung des Handels in allen Kolonien . . . [sowie] Schutz der Eingeborenen in den Kolonien“ gefordert wurde.91 Ähnlich wie es das Schweizerische „Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauerhaften Friedensertrages“ und der niederländische „Anti-Oorlog-Raad“ (Antikriegsrat) forderten, sollte nach Beendigung der Kriegshandlungen der Friedensschluss, so hoffte auch Fried, „eine vollständigen Revision der politischen Grundlagen des modernen Europas“ bringen.92 1915 publiziert Fried sein Konzept, in dem er aufzeigt, wie die Beziehungen der Staaten nach dem Krieg in ganz neue Bahnen gelenkt werden sollten.93 Durch ein prozessuales, „schrittweises Vorgehen“ sollte „eine ganz neue Form“94 des zwischenstaatlichen Verkehrs begründet werden. Sein 1915 herausgegebenes Buch Europäische Wiederherstellung wird 1916 in englischer Übersetzung als The Restoration of Europe veröffentlicht und fi ndet besonders in den Vereinigten Staaten positive Aufnahme. Die New York Times schreibt in einem Leitartikel: A.H . Fried „believes, for instance, that this war must benötige, und auch Fried war der festen Überzeugung, ‚dass es einem weiteren Jahrzehnt fortgesetzter pazifi stischer Arbeit gelungen wäre, den Krieg zu überwinden‘.“ 87 Fried, Kriegstagebuch I, S. 2 und Vorwort, S. VII f. Fried nannte den Krieg „bereits im Jahr 1914 den ‚ersten Weltkrieg‘.“ FW, Jg. 16 (August/September 1914), S. 281, zit. nach Otfried Nippold, Die Wahrheit über die Ursachen des Europäischen Krieges, hrsg. v. Harald Kleinschmidt und eingel. v. Akio Nakai, 2005, S. 3. 88 Die Ehe mit Gertrud Gnadenfeld war 1896 geschieden worden; 1908 heiratete er seine langjährige Lebensgefährtin Therese Frankl. SB, S. 187. 89 SB, S. 239. 90 Fried, Kriegstagebuch I, S. 138. S. auch Ursula Fortuna, Der Völkerbundgedanke in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. 91 FW, Jg. 17, H. 1 ( Januar/Februar 1915), S. 4 (SB, S. 243) 92 Fried an Ludwig Quidde, 24. 8. 1914, NL Fried, Box 77, zit. bei SB, S. 241. 93 Dr. h.c. Alfred H. Fried, Europäische Wiederherstellung, Zürich 1915. 94 Ebd., S. 76.
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bring not one but two treaties of peace, the first to mark the cessation of actual fighting, the second to lay the groundwork for that union which is destined to stamp out war forever.“95 Fried, und mit ihm zahlreiche Pazifisten, Völkerrechtler und Diplomaten aus allen Ländern hofften, dass ein neues, pazifistisches Zeitalter anbrechen werde, da es undenkbar sei, aus dem gegenwärtigen Krieg nicht die für den Auf bau einer neuen internationalen Friedensordnung notwendigen Lehren zu ziehen. Das System des bewaffneten Friedens, der nichts anderes sei als latenter Krieg,96 sollte durch ein staatenübergreifendes System friedlicher Zusammenarbeit ersetzt werden. Bei den deutschen Zensurbehörden und in der konservativen Presse stoßen diese Gedanken auf wenig Gegenliebe und die Veröffentlichungen der inzwischen in der Schweiz erscheinenden Friedens-Warte und insbesondere das von Fried darin geführte Kriegstagebuch erregen Anstoß. Obwohl Fried betont, sein Anliegen sei, ähnlich wie das der Reichsregierung, die Vorbereitung eines dauerhaften Friedens nach Kriegsende und nicht die Behauptung deutscher Schuld oder Kritik an der Kriegführung, wird die Friedens-Warte 1916 in Deutschland und anschließend in ÖsterreichUngarn verboten. In der Neuen Zürcher Zeitung, die eine strikte Neutralität vertrat, fi ndet Fried Gehör und zählt bis Kriegsende zu ihren eifrigsten Mitarbeitern. (SB, S. 260 ff.) Dabei äußerte er sich in seinen Diskussionsbeiträgen nicht zu Anlass und Schuld am Weltkriege, sondern stellte lediglich die Ursachen – Staatenanarchie und bewaffneter Friede – und die daraus sich ergebenden Ziele für die europäische und internationale Ordnung nach dem Kriege in den Mittelpunkt. Wieder und wieder beklagt Fried, so in seinen 1916 veröffentlichten Kriegsaufsätzen, es herrsche noch immer die Meinung vor, dass der Friede durch Rüstungen geschützt werden könne. Der alte Römergrundsatz ‚si vis pacem, para bellum‘ hat noch immer seine unheilvolle Geltung. Dies beruht auf dem landläufigen – oder besser gesagt weltläufigen – Irrtum über den Gegenstand, der durch das untaugliche Mittel erreicht werden soll. Man irrt sich über das Wesen des Friedens selbst, den man benötigt. Man glaubt, dass die Nichtanwendung der Gewaltmittel bereits den Zustand des Friedens bezeichnet, während es in Wirklichkeit nur der Zustand des Nicht-Krieges oder des latenten Krieges ist.“97
Der ganze Widersinn der militärischen Friedenssicherung wird deutlich, wenn man mit Fried erkennt, dass absolute Sicherheit nur dann möglich ist, wenn jeder Staat „immer so stark [ist], dass [er] imstande wäre, der Gesamtheit der anderen Staaten zu widerstehen.“98 Die Situation in der Gegenwart heute, im 21. Jahrhundert, macht überdeutlich, dass der Friede offensichtlich nicht durch einen einzelnen Staat, der „so stark [ist] wie alle anderen zusammen,“ und auch nicht durch Allianzen oder 95
The New York Times, Co-operative Union of Europe, After War l , 02. 07. 1916. Dieser Gedanke, dass der bewaffnete Friede lediglich ein Zustand des latenten Krieges ist, taucht bei Fried immer wieder auf. Es gilt diesen Zustand im Sinne eines rechtlich abgesicherten Friedens zu verändern. 97 Alfred H. Fried, Das alte und das neue System der Friedenssicherung, in: Vom Weltkrieg zum Weltfrieden. Zwanzig Kriegsaufsätze, Zürich 1916, S. 54. 98 Fried, Handbuch I, S. 111–112. 96
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eine ‚Koalition der Willigen‘, dauerhaft zu schützen ist und selbst der Versuch ruinös und kontraproduktiv ist. Während man sich in Deutschland noch „um die Größe der Beute“ stritt, versucht Fried im August 1916 mit dem Prinzen Alexander von Hohenlohe-Schillingsfürst einen Appell an die deutsche Reichsregierung zu richten, in dem u. a. gefordert werden sollte, die Reichsregierung solle „auf Annexionen . . . verzichten“ und „sich bereit . . . erklären, sich einem europäischen Organisationsstatut zur Vermeidung künftiger Kriege und planmäßiger Ermäßigung der Rüstungen anzuschließen.“99 Von Hohenlohe hält das Vorhaben für wenig erfolgversprechend, da man im Reich selbst aktiv werden müsse und aus dem Ausland wenig ausrichten könne, und weist auf die Gründung des „Deutschen Verbandes für dauernden Frieden und Völkerverständigung“ hin, der diese Aufgabe in Deutschland übernehmen könnte. Dennoch will nun auch der Schweizer Nationalrat mit Hohenlohe „die Stellung der Reichsregierung zu einem Vermittlungsversuch der Neutralen“ eruieren. Tatsächlich „wendete sich Hohenlohe über einen Mittelsmann an den Reichskanzler, um ihn von den Plänen der Neutralen zu unterrichten,“ ein Unternehmen, an dem Fried ebenfalls beteiligt war.100 Obwohl diese Bemühungen für einen Verständigungsfrieden erfolglos blieben, kommt es nach der russischen Februarrevolution und dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg im April 1917 unter Frieds Mitwirkung wieder zu Vermittlungsversuchen. Auf dem Berner Pazifistenkongress, der vom 19. bis 22. November 1917 stattfand, nahmen neben Fried auch Walther Schücking, Ludwig Quidde, Matthias Erzberger, Eduard Bernstein und Georg Gothein teil. Obwohl auch Parlamentarier an dem Treffen teilgenommen hatten, die im Juli für die Friedensresolution im Reichstag gestimmt hatten, scheiterten die Bemühungen um einen Verständigungsfrieden offenbar vor allem daran, dass die Reichsregierung wenig Interesse zeigte „an internationalen Rechtsorganisationen teilnehmen zu wollen“ und daran festhielt, dass Deutschland „nur zur Verteidigung seiner Freiheit und Selbständigkeit zu den Waffen gegriffen“ habe101 und ansonsten keine höheren Ziele verfolge. Am 22. Januar schlug US-Präsident Woodrow Wilson einen Verständigungsfrieden „ohne Sieger und Besiegte“ und die Einrichtung eines neuen Völkerbundes vor – für Fried eine „Krönung“ der Arbeit der Pazifisten – ein Ansinnen, das die deutsche Reichsregierung jedoch ebenfalls kategorisch ablehnte. Fried betonte den Zusammenhang zwischen Pazifismus und Demokratie; das Eine habe Bedeutung für die Innen-, das Andere für die Außenpolitik. Die Friedens-Warte für die Monate Juli und August 1918, in der u. a. Hermann Hesse, Romain Rolland, Ernst Bloch, Stefan Zweig, Alexander von Hohenlohe-Schillingfürst und Wilhelm Mühlon zu Wort kommen, thematisiert in einer Sonderausgabe zum fünften Kriegsjahr die Forderung nach einer Demokratisierung Deutschlands und Österreichs. Zu einer Zusammenarbeit kam es nun auch mit den „Weißen Blättern,“ in dem expressionistische Autoren, die ebenfalls dem Pazifismus nahestehende Positionen vertraten, wie Gottfried Benn, Walter Hasenclever, Andreas Latzko, Leonhard Frank oder Kurt Hiller veröffentli99
Brief an Hohenlohe, zit. bei SB, S. 265. SB, S. 266 f. 101 SB, S. 270. 100
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chten. Gemeinsamkeiten gab es auch mit der deutsch-französischen Schriftstellerin Annette Kolb.
Versailles, Völkerbund Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm hatte im Januar 1918 noch ein letztes Mal die Chance eines Verständigungsfriedens geboten. Die Entwicklung verlief jedoch anders. Frieds Befürchtungen bewahrheiteten sich, dass der Friedensschluss nun „einer Gerichtssitzung gleichen“ würde, bei der Deutschland auf der Anklagebank sitzen und „das Urteil dem Beklagten als fertige Tatsache übermittelt“ würde.102 Er beklagt: „Der Krieg ist nur in der Theorie beendigt, er wütet in noch schrecklicherer Gewalt weiter als bisher. Täuschen wir uns nicht; das Fürchterlichste kann noch kommen.“103 In einem Beitrag zum Achten deutschen Pazifistenkongress, 1919,104 bedauert Fried, dass „[d]urch das Treiben der deutschen ‚Durchhalter‘ und Annexionisten . . . jener Zeitpunkt versäumt worden (ist), der es dem deutschen Volk ermöglicht hätte, einen wahren pazifistischen Frieden der Verständigung und des Ausgleichs zu schließen, einen Frieden, bei dem es weder Sieger noch Besiegte gegeben hätte.“105 Einen echten Fortschritt in der Entwicklung des Völkerrechts vermag Fried im Völkerbund nicht zu erkennen.106 Zur Schuldfrage: Ich stehe auf dem Standpunkt, daß die Auslösung des Kriegs durch die Leiter der deutschen Politik erfolgte, dass sonach auf deutscher Seite die Schuld an diesem Menschheitsunglück liegt. Nicht das deutsche Volk in seiner Gesamtheit trägt diese Schuld, sondern die deutsche Regierung, und mit ihr gewisse unverantwortliche Kreise, die ihren verderblichen Einfluß auf die Regierung ausübten. Es ist wahr, daß der Krieg seit Jahrzehnten von allen Staaten vorbereitet wurde; aber es ist ebenso wahr, daß es in Europa gelungen war, auch schwere Konfl ikte friedlich beizulegen, und daß das ganze Streben aller zivilisierten Regierungen dahin ging, dieses unhaltbare System der Anarchie zu ändern . . .107
Ein Schuldbekenntnis sei u. a. auch deshalb erforderlich, da das „in seiner Masse unschuldige deutsche Volk“ nur auf diesem Wege „den dicken Trennungsstrich zwi102
Fried, Kriegstagebuch IV, S. 362, zit. nach SB, S. 279. Ebd., S. 368. 104 Schreiben von Dr. Alfred H. Fried an den Achten Deutschen Friedenskongreß, in: Achter Deutscher Pazifi stenkongress einberufen von der Deutschen Friedensgesellschaft und der Zentralstelle Völkerrecht (Berlin 13. bis 15. Juni 1919 im preussischen Herrenhause; Verhandlungsbericht mit wörtlicher Wiedergabe der Reden von Helmuth v. Gerlach, Auguste Kirchhoff . . . [u. a.] und einem Sonderschreiben von Dr. Alfred H. Fried), Charlottenburg, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte m.b.H., 1919. 105 Ebd. S. 165–166. S. auch Alfred H. Fried, Die neuen Aufgaben, FW Jg. 22 (April 1920), S. 4: „die deutschen Militärs erkannten nicht die Grenzen ihres Könnens, und so hat Ludendorff das Werk Wilsons verstümmelt.“ Ich danke Frau Petra Schönemann-Behrens für die Zurverfügungstellung eingescannter Kopien dieser Ausgabe der Friedens-Warte. 106 „Eine große Zahl der nicht am Krieg beteiligt gewesenen Staaten ist dem Völkerbund nur beigetreten in der Hoffnung, dass man seine hauptsächlichsten Schwächen bald wird beseitigen können, und dass man so mit der Zeit zu einem wirksamen Friedensinstrument gelangen werde.“ Alfred H. Fried, Die Enttäuschung von Genf, FW Jg. 22 (Dezember 1920), S. 290. 107 Schreiben von Dr. Alfred H. Fried an den Achten Deutschen Friedenskongreß, S. 169. 103
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schen dem heutigen Deutschland und dem alten militaristischen Deutschland der Autokratie ziehen und nur so jenes Vertrauen in der Welt erobern können [wird],“ das es „verdient und zur Wiederherstellung seines Lebens braucht.“108 Pazifisten wie Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966) und Georg Friedrich Nicolai (1874–1964)109 teilten Frieds Auffassung, stellten aber unter den Pazifisten eine Minderheit dar. Positiv beurteilt Fried auch den internationalen Sozialistenkongress, der im Februar 1919 in Bern stattfand und auf dem er seinen alten Bekannten Eduard Bernstein (1850–1932) wiedertrifft; besonders der „undoktrinäre“ (SB, S. 282) Karl Eisner, den er am Rande des Kongresses kennenlernt, beeindruckt ihn durch sein Engagement für Frieden und Gewaltfreiheit. Wenige Tage später wird Eisner ermordet – für Fried ein schlimmes Vorzeichen für die politische Zukunft Deutschlands. Nichts weniger als einen „Siegfrieden“ – die Anspielung auf das Nibelungenlied ist unübersehbar – wollte die Oberste Heeresleitung (OHL) akzeptieren. Anstelle eines Verständigungsfriedens kam es zur „doppelten Dolchstoßlegende,“ nämlich dem Vorwurf einer hinterhältigen Hintergehung der deutschen Interessen durch die Pazifisten und Andere im Innern und einer Überrumpelung von außen durch Woodrow Wilson und die amerikanische Intervention – eine These, an die schon bald „weite Teile der deutschen Bevölkerung glaubten.“110 Den Misserfolg der Wilson’schen Vorstellungen, wie sie in den 14 Punkten niedergelegt worden waren, empfi ndet Fried als „Niederlage des bessern Teils der Menschheit.“111 Ebenso wie später der amerikanische Kongress lehnt Fried den Versailler Vertrag ab. Die Gründe für die Ablehnung waren ähnlich, nämlich dass, wie der Friedenshistoriker Charles Chatfield bemerkt, die Vereinbarungen „nicht weit genug in Richtung auf eine supranationale Regierung gingen.“112 Die Amerikaner waren, ebenso wie Großbritannien und andere, gegen die einseitige Verurteilung Deutschlands. Freilich lehnte Fried jegliche revisionistischen Absichten und Revanchismus ab und betonte, dass nur im Rahmen und mit den Mitteln der Satzung des Völkerbundes eine Änderung der Bedingungen möglich sein würde. In seinem Werk Der Weltprotest gegen den Versailler Frieden fordert er einen „Rechtsfrieden,“ zu dem der „Schlüssel“ ein „Bruch mit allem Vergangenem“ sei, mit den „alten Ideen“ sowie mit den „Menschen, die durch die frühere deutsche Politik in Verruf gekommen“ und nach Kriegsende noch immer mit der alten Mentalität behaftet sind.113 Es galt „die Schuld am Weltkrieg . . . unumwunden zuzugeben,“ um den „rettenden Strich zwi108
Ebd. S. 171. Siehe auch Lipp, Lütgemeier-Davin und Nehring, op.cit., S. 130. Sein bekanntes Werk, Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines deutschen Naturforschers (2 Bde.), Zürich 1917, wurde 1983 neu aufgelegt. S. dazu die Besprechung von Alfred H. Fried, Die Biologie des Krieges, FW, 19. Jg., Nr. 6 ( Juni 1917), S. 161–164, in der Fried betont: „Das Buch hat eine große Aufgabe zu erfüllen. Es ist berufen und in der Lage, das Ansehen der deutsche Wissenschaft in der Welt . . . wiederherzustellen.“ Ebd., S. 163. 110 SB, S. 283. 111 Fried, Kriegstagebuch IV, S. 397, zit. nach SB, S. 283. 112 „. . . it did not go far enough toward supranational government.“ Charles Chatfi eld (Hrsg.), Peace Movements in America, 1973, S. XVI–XVII. 113 Der Weltprotest gegen den Versailler Frieden, Stimmen aus Amerika, Belgien, China, Dänemark, England, Frankreich, Holland, Italien, Japan, Norwegen, Polen, Portugal, Russland, Schweden, der Schweiz, Spanien, Tschecho-Slowakien, internationalen Verbänden, gesammelt, herausgegeben und eingeleitet von Dr. Alfred H. Fried, Leipzig 1920, zit. in SB, S. 286. 109
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schen Gegenwart und altem Regime zu ziehen“114 und den Frieden dauerhaft zu sichern und auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Schuldigen am Kriegsausbruch, die „gewissenlos diesen Krieg ausgelöst haben,“115 müssten bestraft werden. Die Vorstellung, dass nach Beendigung der Kriegshandlungen nicht lediglich ein befristeter Waffenstillstandsfrieden geschlossen werden, sondern nach einer Übergangszeit ein unbewaffneter Rechtsfrieden durchgreifen müsse, konnte nicht realisiert werden und fand erst nach dem Zweiten Weltkrieg Eingang in das Völkerrecht.116 Insofern bestand die einzig relevante Rechtsentwicklung, die etwas Neues brachte, die Einführung einer Weltexekutive, eines zumindest ansatzweise begründeten Systems kollektiver Sicherheit, das neben der friedlichen Streitbeilegung und der Abrüstung für die Durchsetzung eines positiven Rechtsfriedens sorgen sollte. Das Prinzip kollektiver Sicherheit, das im Haag noch keine Beachtung fand, wurde in die Völkerbundsatzung aufgenommen. Statt der „Überordnung des Rechts über die Gewalt“117 tendierte jedoch die politische Wirklichkeit, ähnlich wie später auch nach dem Zweiten Weltkrieg,118 in Richtung auf eine „militaristische Renaissance.“119 Fried sieht sich nun nach dem Krieg auch mit persönlichen Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Überlebens konfrontiert. Das Überleben der Friedens-Warte, die Suche nach einem neuen Verleger und die Übersiedlung nach Deutschland erweisen sich daneben als das Hauptproblem. Die Friedens-Warte kann schließlich im Neuen Geist Verlag in Leipzig veröffentlicht werden, aber Fried, der sich mit seiner Frau in München niederlassen wollte, erhält keine Zuzugsgenehmigung, so dass er schließlich nach Wien zurückkehrt, wo er nun jedoch, da auch sein Nobelpreis-Vermögen praktisch wertlos geworden ist, in ärmlichen Verhältnissen und ohne über einen festen Wohnsitz zu verfügen, leben muss. Im Oktober 1920 nimmt Fried noch am 9. Deutschen Pazifistenkongress in Braunschweig teil. Zuvor hatte er in dem nun wieder in Deutschland erscheinenden 22. Jahrgang der Friedens-Warte für die Monate Januar bis April das Wort ergriffen. Zugleich plant er eine autobiographische Abhandlung „Dreißig Jahre Pazifismus,“ eine Ausgabe der Tagebücher Bertha von Suttners mit Kommentaren sowie eine Neuauflage des Handbuch der Friedensbewegung.120 114 Fried, Kriegstagebuch IV, S. 417. Der Königsberger Völkerrechtler Philipp Zorn, Deutschland und die beiden Haager Friedenskonferenzen, 1920, der einzige deutsche Delegierte, der an beiden Haager Konferenzen teilgenommen hatte, urteilte ähnlich. 115 Fried, Kriegstagebuch IV, S. 447. S. auch Nippold, Die Wahrheit über die Ursachen des Europäischen Krieges, 2005. 116 Zur Vorgeschichte der Übergangsbestimmungen in der UNO-Charta s. Quincy Wright, Political Conditions of the Period of Transition, Commission to Study the Organization of Peace, International Conciliation, No. 379, 1942, S. 265–266. Text online http://www.unfor.info/transition_period. 117 Siehe auch Ursula Fortuna, Der Völkerbundgedanke in Deutschland, S. 72, mit Hinweis auf Kurt Wolzendorff: „Macht- und Rechtspolitik nebeneinander sind . . . nicht denkbar. Auch hat nur das Recht Anspruch auf den Schutz durch die Macht der Gemeinschaft.“ 118 Siehe z. B. die geheime Denkschrift zur Wiederaufrüstung der Bundesregierung vom 9. 10. 1950. Ich danke Herrn Christian Neumann, der mich auf die Schrift aufmerksam gemacht hat. 119 Dr. Alfred H. Fried, Auf hartem Grund. Offene Antwort auf den an mich gerichteten offenen Brief von Dr. jur. Hermann M. Popert im „Vortrupp“ vom 1. März 1919, Pfadweiser-Verlag, Hamburg 1919, S. 19 und 22 (SB, S. 290). 120 SB, S. 311.
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Als Alfred Hermann Fried am 4. Mai 1921 stirbt, würdigt Carl von Ossietzky ihn in der Berliner Volkszeitung zwei Tage später als einen ‚echten Helden des Geistes‘, zahlreiche andere, wie Annette Kolb, Hans Wehberg (1885–1962) und Stefan Zweig, veröffentlichen Nachrufe. Am 18. Mai wird Frieds Leichnam im Münchner Krematorium eingeäschert; an der Zeremonie, bei der Ludwig Quidde die Trauerrede hält, nehmen Freunde und Gesinnungsgenossen teil. Für die Münchener Post war mit Fried „der geistige Führer des deutschen Pazifismus“ aus dem Leben geschieden. Am 5. Dezember 1925 ehrte die Stadt Wien den Friedensnobelpreisträger durch eine feierliche Beisetzung seiner Urne in einem Ehrengrab.121 Frieds Witwe Therese verkaufte, gezwungen durch wirtschaftliche Unbillen, die gesamte umfangreiche Bibliothek an die Hoover War Library der Universität Stanford in Kalifornien. Hans Wehberg begrüßte, dass die Bücher damit dem amerikanischen Volk, „in dem ein tiefer Wille zur Gerechtigkeit lebt,“ zur Verfügung gestellt wurden, was sie nunmehr in die Lage versetzte, „Frieds große Bedeutung [zu] erkennen“122 und seine Erkenntnisse zu nützen. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der internationalen Friedensorganisation ist der Rezeption Frieds in den USA besondere Bedeutung beizumessen.
Ergebnis Während in Deutschland in der Zwischenkriegszeit der revolutionäre bzw. ursächliche oder organisatorische Pazifismus, obwohl „in den 20er Jahren vor allem von den Völkerrechtlern Schücking und Wehberg . . . weiterentwickelt . . . als zu wenig zukunftsträchtig immer mehr in Vergessenheit geriet,“123 schien in den Vereinigten Staaten und in den Ländern, die schon im Haag eine positive Linie in Bezug auf die Abrüstung und obligatorische internationale Gerichtsbarkeit vertreten hatten, das Gegenteil der Fall gewesen zu sein.124 Die Haltung in Deutschland war offenbar auch nach 1945 gegenüber der – nach dem Haager Staatenverband (Schücking) und dem Völkerbund – dritten Generation der Weltorganisation verhalten bis ablehnend. Der Völkerrechtler und ehemalige Leiter des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel schreibt: „Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Aussichten für eine nachhaltige Einstellungsänderung . . . gegenüber einer friedenssichernden Weltorganisation nicht positiv . . . die politische Wirklichkeit in Deutschland“ war, historisch gesehen, „vornehmlich von der von Hegel beeinflussten machtstaatlichen ‚Realpolitik‘ geprägt gewesen, die dem Gedan121
„. . . in den Arkaden des neu errichteten Krematoriums.“ SB, S. 327. FW, Jg. 24, H. 12 (Dezember 1924), S. 333 f., zit. nach SB, S. 330. 123 SB, S. 353. S. auch Dieter Senghaas, Zum Irdischen Frieden, 2004, S. 26 f.: Der ursächliche Pazifi smus war „grundlegendes wissenschaftliches wie praktisches Anliegen. Zur Tragödie des vergangenen Jahrhunderts gehört, dass diese Perspektive in den pazifi stischen Strömungen an Aufmerksamkeit verlor, um schließlich zu einem Nicht-Thema zu werden.“ Allerdings scheint dies zu allererst auf Deutschland zuzutreffen. 124 Die These ist zu vertreten, dass diese Staaten in ihrer Außenpolitik meist ‚zweispurig‘ verfahren sind, d. h. sie haben immer zugleich die Möglichkeit eines nach Rechtsprinzipien organisierten Friedens im Auge behalten; Deutschland dagegen hat sich stets ‚einspurig‘, d. h. kompromisslos gezeigt. 122
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ken einer ‚internationalistischen‘ Friedensordnung mit Skepsis begegnete.“125 Es fand somit auch keine Weiterentwicklung (Schönemann-Behrens) statt – wenn man von der Weiterentwicklung des Friedensvölkerrechts im Bonner Grundgesetz einmal absieht, die allerdings bislang in der entscheidenden Sache ohne Folgen geblieben ist. Dass somit erst „[h]eute . . . eine Rückbesinnung im Hinblick auf eine konstruktive Auswertung“ von Frieds Forschungen und Ideen „für die moderne Zeit wieder möglich“126 und sinnvoll erscheint, ist für eine Nation im Zentrum Europas, die vorgibt, aus der Geschichte gelernt zu haben, ein Armutszeugnis. Es ist angesichts der Notwendigkeit, für globale Probleme globale Lösungsmechanismen und Institutionen zur Verfügung zu haben, katastrophal – nicht nur was die Bundesrepublik selbst betrifft.127 Reformpacifistisch ist daher die ganze Friedensbetätigung der zeitgenössischen Staatskunst, der Staatsoberhäupter, Minister, Parlamentarier und Diplomaten, die allerorten bestrebt sind, den Frieden ‚zu erhalten‘, die sich rühmen, Kriege ‚hinausgeschoben‘ oder ‚vermieden‘ zu haben, deren ganzes Tun einfach darin gipfelt, den Waffenstillstand zu verlängern, ohne dass sie an eine radikale Beseitigung der von allen gefürchteten Gefahr nur zu denken wagen. Sie bleiben immer nur an der Oberfläche haften, quälen sich an den Symptomen ab und bekunden durch die Art ihrer Betätigung, dass der Krieg den Hauptinhalt ihrer Politik, den Anfang und das Ende ihrer Staatskunst bildet.128
Man könnte dies als die Fortsetzung der Unkultur bezeichnen. Der österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat einmal festgestellt Krieg, „defined as strategically planned, destructive group aggression, is a product of cultural evolution [and] . . . can be overcome culturally.“129 Fried beschreibt die kulturelle Evolution: Wollten die Staaten, die heute bereits einen natürlichen, wenn auch noch nicht vollkommenen, doch in steter Entwickelung begriffenen Organismus bilden, auch ihre Lebensbetätigung danach einrichten; wollten sie die Lebenskräfte, die in ihnen schaffen, statt gegenein125 Jost Delbrück, Deutschland und die Vereinten Nationen – Rundschau und Perspektiven, in: Ernst Koch, Die Blauhelme. Im Einsatz für den Frieden, 1991, S. 212 und S. 13. 126 SB, S. 357. Jüngst hat ein Politiker der Partei Bündnis 90/die GRÜNEN, Winfried Nachtwei, Pazifi smus zwischen Ideal und politischer Realität, in: Barbara Bleisch, Jean-Daniel Strub (Hrsg.), Pazifi smus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis, 2006, S. 305, sich zu Fried geäußert: „Der ‚ursächliche‘ Pazifi smus . . . setzt prozesshaft auf zivile, d. h. politische, humanitäre und rechtliche Instrumentarien zur Eindämmung und Überwindung des Krieges. Dabei hat er vor allem die Staaten und die Staatenwelt im Blick. Im Prozess der Zivilisierung gehen eine allgemein anerkannte internationale Rechtsordnung, Gewaltverzicht, Gewaltmonopol und Schutzverantwortung Hand in Hand. Dieser Prozess der Entmilitarisierung, Verrechtlichung und Zivilisierung der innerstaatlichen und internationalen Beziehungen gehört auch heute noch zum Leitbild und Leitauftrag einer Friedenspolitik.“ Es ist jedoch fraglich, ob die reale Politik sich von ihrem Kriegskurs abbringen lässt. 127 „Hierbei ist zu beachten, dass die Initiative zum Kriege stets von einer kleinen Gruppe von Bürgern ausgeht, die einen Einfluss auf den Staat besitzen, und es geschickt verstehen, sich die Stimmung der Massen zu sichern. . . . Die internationale Unordnung und die dadurch erzeugte Nervosität begünstigt die unheilvolle Tätigkeit solcher Gruppen.“ Grundlagen, S. 9. 128 Grundlagen, S. 4. Siehe auch Dieter Senghaas, Zum Irdischen Frieden, S. 27: „Antimilitarismus will aggressions-, gewalt- und kriegsverursachende Strukturen und Mentalitäten abbauen. Demgegenüber geht es dem ‚ursächlichen Pazifi smus‘ um den Auf bau dauerhafter, friedensfördernder Strukturen und Mentalitäten.“ 129 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Human Ethology, 1989, S. 421, zit. nach Anthony Adolf, Peace, A World History, 2009, S. 21.
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ander richten, miteinander betätigen, so würde ein jedes Glied der Staatenfamilie beteiligt sein an den schaffenden Kräften des andern; sie würden miteinander sich entwickeln und würden mit einem Schlage die Gefahren beseitigt haben, mit denen sie sich jetzt gegenseitig bedrohen. Ein jeder Staat wird durch die Kräfte der andern geschützt werden, er wird nicht mehr nötig haben, sich mit Gewalt zu behaupten. Ein jedes Volk wird des andern Freund sein, eines jeden Volkes Fortschritt den Fortschritt des andern bedeuten. Alle Kräfte werden miteinander, füreinander wirken. Die Staaten würden die zur gedeihlichen Entwicklung nötige Ruhe und Sicherheit besitzen und Raum und Licht erlangen. Sie würden nicht mehr widernatürlich, sondern in der Linie der natürlichen Entwickelung leben, harmonisch leben, die internationale Ordnung, die in den Dingen bereits wirkt, erkannt haben und geniessen.130
Dabei „behauptet [noch keiner], dass wir einer Lage ganz nahe gerückt seien, in der es möglich sein wird, den Krieg gänzlich zu vermeiden,“ schreibt Fried im Handbuch der Friedensbewegung.131 Mit Recht hatte Fried argumentiert, dass der gegenwärtige Friedenszustand ein Zustand des (latenten) Krieges im Frieden ist. Erst wenn Konfl ikte schließlich „nicht mehr aus der Anarchie geboren sein [werden], nicht mehr das Merkmal der wider die Natur sich auflehnenden Unvernunft an sich tragen,“ dann werden sie „den Geist der Ordnung, des Normalen, der Vernunft in sich tragen und . . . nicht mehr durch tierische Gewaltanwendung, sondern nach den Grundsätzen der Vernunft – durch das Recht – zu lösen sein.“132 Die damit verbundene „Selbstbeschränkung der Mächtigen wird realen Ertrag zeitigen nach dem der Organisation zugrunde liegenden [bereits mehrfach erwähnten] Grundsatz: Austausch eigener Macht gegen fremde Pflichten.“133 Die Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts (Senghaas) ist, dass damit die Menschheit heute ‚einer Lage ganz nahe gerückt‘ ist, in der die totale Auslöschung des Planeten und allen Lebens möglich geworden ist. Wie positives Handeln zu positiven Reaktionen führt und ermöglicht, dass jeder Staat durch die Kräfte der Anderen geschützt und gestützt wird, so wird nach dem Gebot der Reziprozität das von den Staaten bzw. einem Staat begangene Übel von dem Widersacher notwendig rezipiert, der sich in der Folge auf gleiche Weise revanchiert. Im Krieg hat der angegriffene Staat keine andere Möglichkeit sein Überleben zu gewährleisten, als die Mittel des Angreifers ebenso zur Anwendung zu bringen wie dieser. Verbote bewirken wenig.134 Nach der Haager Landkriegsordnung ist die „Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen“ verboten,135 eine Regel, die – ebenso wie das Verbot des Werfens von Geschossen und Sprengstoffen aus Luftschiffen (Erklärung vom 18. 10. 1907) –
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Grundlagen, S. 10. Handbuch, S. 236. 132 Grundlagen, S. 10–11. 133 Alfred H. Fried, Die Grundlagen der künftigen Völkerorganisation, FW, Jg. 44, H. 6 (1944), S. 401, Nachdruck des Aufsatzes von 1919. Kursiv im Original. 134 Nach der Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907, Artikel 22, haben die Kriegführenden „kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes.“ Mit deutscher Gründlichkeit haben die Delegierten des Reiches auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz, welche die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit ablehnten, sich dem ius in bello gewidmet; im anschließenden Ersten Weltkrieg hat Deutschland dann als erstes dieses Recht gebrochen. 135 Artikel 23 der Haager Landkriegsordnung. 131
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zuerst von deutscher Seite gebrochen wurde.136 Es ist im Prinzip unmöglich, Regeln für den Krieg aufzustellen, da der Krieg prinzipiell den Zusammenbruch jedwelcher Rechtsordnung bedeutet und die im Krieg letztendlich einzig noch gültige Regel ist, den Krieg mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln so bald wie möglich (siegreich) zu beenden. Den Weg aus dem Teufelskreis haben Pazifisten wie Alfred Hermann Fried in deutlichen Worten beschrieben. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an Tobias Michael Carel Asser und Alfred Hermann Fried betonte der Vorsitzende des Nobel-Komittees Jørgen Gunnarsson Løvland am 10. Dezember 1911 Frieds Verdienste. Er habe sein Leben der Arbeit für den Frieden gewidmet und als Schriftsteller wie kein anderer dem Frieden gedient.137 Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann verlieh ein Jahr später bei der Verleihung des Literaturnobelpreises dem Wunsch Ausdruck,138 „daß das der Stiftung zugrunde liegende Ideal seiner Verwirklichung immer näher geführt werde; ich meine das Ideal des Weltfriedens, das ja die letzten Ideale der Wissenschaft und der Kunst in sich schließt. Die dem Kriege dienende Kunst und Wissenschaft ist nicht die letzte und echte, die letzte und echte ist die, die der Friede gebiert und die den Frieden gebiert. Und ich trinke auf den großen, letzten und rein ideellen Nobelpreis, den die Menschheit sich dann zusprechen wird; wenn die rohe Gewalt unter den Völkern eine ebenso verfemte Sache geworden sein wird, als es die rohe Gewalt unter den menschlichen Individuen der zivilisierten Gesellschaft bereits geworden ist.“ Dieser letzte und ideelle Nobelpreis könnte sehr wohl heute dem Wirken und Werk von Alfred Hermann Fried zugesprochen werden.
136 Ein weiteres, besonders eindrucksvolles Beispiel ist die von deutscher Seite propagierte Ideologie vom totalen Krieg, die u. a. in Japan aus der vermeintlichen Notwendigkeit der Selbsterhaltung Nacheiferer gefunden hat. Siehe Erich Ludendorff, Der totale Krieg, 1935; das Buch ist 1938 im Verlag Mikasashobo unter dem Titel Kokka sôryokusen (Der nationale totale Krieg) in japanischer Übersetzung erschienen. 137 Der Sprecher fährt fort: „The existing international anarchy (armed peace) will gradually disappear with increased organization and be succeeded by an ordered state of peace. Because of this viewpoint Fried places less emphasis on combating war; the method generally employed by friends of peace, that of arousing disgust at the idea of war, is not in his opinion sufficient. Instead of fighting the symptoms of war, he wants fi rst and foremost to fight its cause, namely, the anarchy in international relations.“ The Nobel Peace Prize 1911 – Presentation Speech. http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/ laureates/1911/press.html. 138 FW, 15. Jg. (1913), S. 24.
Im Reagenzglas der Ideen Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung von
Dr. Bernd Kunzmann, Dresden Am 6. Juni 2012 jährt sich zum zwanzigsten Mal der Tag, an dem die gegenwärtige sächsische Verfassung in Kraft trat. Es ist die Verfassung des Freistaates Sachsen, der am 3. Oktober 1990 wieder gegründet wurde. Die Sächsische Verfassung von 1992 (SächsVerf ) 1 ist seit über 20 Jahren unverändert geblieben. Sie gilt noch immer in der Fassung, in der sie der Sächsische Landtag am 26. Mai 1992 verabschiedet hat. Alle anderen Landesverfassungen haben im Gegensatz dazu bereits Änderungen erfahren. Diese reichen von einer Änderung (Sachsen-Anhalt) bis zu 37 Änderungen (Rheinland-Pfalz).2 Hier soll nach den Quellen geforscht werden, aus denen sich diese änderungsresistente sächsische Verfassung speist. Ein Ergebnis sei vorweggenommen: Es ist nicht in erster Linie die sächsische Verfassungstradition, auf die sich diese Verfassung stützt, auch wenn man die Präambel fast so verstehen kann.3 Sie ist es auch nicht in zweiter Linie. Diese Verfassung ist eher ein Traditionsbruch denn eine Fortsetzung sächsischer Tradition.4 Auffällig ist an vielen Stellen die Ähnlichkeit mit der Verfassung Baden-Württembergs.5 Das ist kein Wunder. Die Sächsische Verfassung stützt sich stark auf den Verfassungsentwurf der Fachgruppe Verfassungs- und Verwaltungsreform der Ge1 Die in diesem Beitrag verwendeten Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis in Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Sachsen, Kommentar, Berlin 2011 (im Weiteren „BHK“), S. 19 ff. 2 Siehe einen ausführlichen Vergleich mit anderen Verfassungen bei Kunzmann, „Wie in Stein gehauen – die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich“, in Vorbereitung für SächsVBl. Heft 6/2012. 3 „... gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte“ – immerhin ohne bestimmten Artikel, vgl. Kunzmann BHK Präambel Rn. 9; siehe dazu auch Abschnitt 2.1. 4 Kunzmann, „Z Božej pomocu“, Neues Archiv für sächsische Geschichte, Bd. 82 (2011) (in Vorbereitung). 5 Siehe beispielsweise Kaplonek BHK Vorb. vor Art. 82 Rn. 31 sowie Berlit BHK Vorb. vor Art. 93 Rn. 13.
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mischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg6 , der in der Fachgruppe von April bis Juli 1990 erarbeitet wurde.7 Es wäre aber eine unzulässige Verkürzung, wollte man meinen, die Sächsische Verfassung sei nichts anderes als eine Kopie der seinerzeitigen Verfassung Baden-Württembergs.8 Schon in der Fachgruppe der Gemischten Kommission („Gohrischer Gruppe“) wurde auch mit Anregungen aus anderen Quellen gearbeitet. Um die Einflüsse auf die Sächsische Verfassung von 1992 genauer zu ermitteln, ist es hilfreich, den ersten Gohrischer Entwurf (GohrVerf E) mit dem Erstentwurf zu vergleichen, der den Ausgangspunkt für die Arbeit der Gohrischer Gruppe bildete. Die erste Gesamtversion des Entwurfs wurde zwischen Ende Mai und Mitte Juni 1990 zusammengestellt. Diese Ausgangsfassung („Gohrischer Erstentwurf “ – GohrEE) wird im Anhang erstmals publiziert.9 Sie wird im Folgenden auf zahlreiche potenzielle Quellen näher untersucht: 1. den Verfassungsentwurf der „Gruppe der Zwanzig“ (Verf E-Gr20) 10 2. den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR (Verf E-DDR) 11 3. das Grundgesetz (GG) 4. die Verfassung Baden-Württembergs (BWVerf ) 5. die Bayerische Verfassung (BayVerf ) 6. den Entwurf zur Volksgesetzgebung der Demokratie-Initiative 9012 7. den Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966 (IPwirtR) 8. das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) 9. die reformierte Landesverfassung Schleswig-Holsteins (SchlHVerf ) Diese Quellen sind von der Fachgruppe in unterschiedlichen Bezügen, in unterschiedlicher Häufigkeit und in unterschiedlichem Ausmaß als Vorbilder herangezo6 Zur Struktur der Gemischten Kommission Sachsen/ Baden-Württemberg siehe Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, Göttingen 2004, S. 553 ff. 7 Zum Verfassungsentwurf siehe Heitmann/Vaatz, Verfassung des Landes Sachsen (Gohrischer Entwurf vom 05. 08. 1990), Koordinierungsausschuss für die Bildung des Landes Sachsen (Hrsg.), Dresden 1990, S. 53 f.; Heitmann, Entstehung und Grundgedanken der Verfassung des Freistaates Sachsen, in: Caesar/Heitmann/Lehmann-Grube/Limbach, Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in den neuen Bundesländern (Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 27), Heidelberg/Karlsruhe 1992, S. 11 ff.; Heitmann, Zur Entstehung des „Gohrischer Entwurfs“ der Sächsischen Verfassung, Rede zum 4. Jahrestag der Gründung des Koordinierungsausschusses zur Bildung des Landes Sachsen am 6. Mai 1994, Hrsg. Sächsischer Landtag, Dresden 1994, S. 17, erneut abgedruckt in: Heitmann, Die Revolution in der Spur des Rechts, Hamburg 1996, S. 33; Bönninger, Verfassungsdiskussion in den ostdeutschen Bundesländern – Beispiel Sachsen, Demokratie und Recht (DuR) 1991, 394; Kunzmann BHK Einleitung Rn. 30; ausführlicher zur Entstehungsgeschichte: Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, Göttingen 2004, S. 580 ff. 8 Man kann sinnvollerweise nur den Vergleich mit der Verfasssung Baden-Württembergs von 1992 ziehen, denn die späteren Entwicklungen der Baden-Württembergischen Verfassung hat die Sächsische Verfassung nicht mitvollzogen (vgl. dazu Fn. 2). 9 Ein Original befi ndet sich im Privatarchiv des Verfassers; siehe dazu auch Anhang I und II. 10 Wortlaut in JöR 39 (1990), 427; bis auf die letzten Artikel noch einmal in JöR 40 (1991/92), 413. 11 Wortlaut in JöR 39 (1990), 350. 12 Anhang III.
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gen worden.13 Es wird im Weiteren analysiert, was von dem Erstentwurf letztlich im dem Entwurf zu fi nden war, der am 5. August 1990 als (erster) „Gohrischer Entwurf “14 veröffentlicht wurde.
1. Die Hauptquellen des Gohrischer Entwurfs 1.1. Der Verfassungsentwurf der „Gruppe der Zwanzig“ als Initialzündung Der Verfassungsentwurf der „Gruppe der Zwanzig“15 ist entstanden als Gegenentwurf zu dem Verfassungsentwurf einer Arbeitsgruppe beim Bezirkstag Dresden.16 Er hat die Arbeit der Gohrischer Gruppe in Gang gebracht und die Regelungsmaterien des Gohrischer Entwurfs beeinflusst.17 So geht insbesondere die Entstehungsgeschichte der Staatszielartikel auf den Verf E-Gr20 zurück. In ihm ist im Zusammenhang mit der Berufswahl und Berufsausbildung ein Jedermann-Recht auf Arbeit (Art. 4 II 1 Verf E-Gr20), ein Jedermann-Recht „auf Obdach“ (Art. 5 Verf E-Gr20) und ein „besonderer Anspruch auf die Fürsorge des Landes“ für jedermann, der „wegen seines Alters oder wegen eines Gebrechens erwerbslos ist“ (Art. 7 I Verf E-Gr20), enthalten. Darüber hinaus enthält der Verf E-Gr20 auch Bestimmungen zu den Staatszielen Umweltschutz (Art. 8 Verf E-Gr20) und Kulturschutz (Art. 9 Verf E-Gr20) sowie zum Jugendschutz (Art. 20 Verf E-Gr20). Die Gohrischer Gruppe hat diese Materien aufgegriffen, dann aber überwiegend ausgehend von den Bestimmungen im I. Kapitel des Verfassungsentwurfs des Zentralen Runden Tisches, des Grundgesetzes und teilweise der Bayerischen Verfassung die Artikel 8 bis 20 GohrEE konzipiert, aus denen schließlich die Art. 7 und 9 bis 12 GohrVerf E hervorgegangen sind. Dabei folgen die Bestimmungen zum Kinder- und Jugendschutz in Art. 9 I GohrVerf E dem Art. 22 V Verf EDDR und in Art. 9 II GohrVerf E dem Art. 20 Satz 1 Verf E-Gr20 (dieser wiederum stützt sich auf Art. 13 Satz 1 BWVerf ). Die konstitutiven Bestimmungen zu Landesfarben und Landeswappen hat Art. 2 GohrVerf E (Art. 6 GohrEE) aus Art. 1 II und III Verf E-Gr20 übernommen. Das nach dem Vorbild von Art. 2 II BWVerf in Art. 3 Verf E-Gr20 vorgesehene „unver13 Zur Entstehung des Gohrischer Entwurfs siehe neben Fn. 7 auch Bönninger, LKV 1991, 9; Heitmann, SächsVBl. 1993, 2; v.Mangoldt, SächsVBl. 1993, 25; Deselaers, Der Prozess der Verfassungsgebung in den neuen Bundesländern, in: Neumann/Tillmanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, Berlin 1997, S. 28 ff. (Schriften des Instituts für Verwaltung und Verwaltungsrecht in den neuen Bundesländern e.V., Bd. 3). 14 Erster Gohrischer Entwurf im Unterschied zu der im Oktober 1990 von der Gohrischer Gruppe publizierten geänderten Fassung („Zweiter Gohrischer Entwurf “), welche dann die Grundlage des von den Fraktionen von CDU und FDP in den Landtag eingebrachten Verfassungsentwurfs war; dazu: Kunzmann BHK Einleitung Rn. 40 ff.; Wortlaut des ersten GohrVerf E in JöR 39 (1990), 439; Wortlaut des zweiten GohrVerf E in JöR 40 (1991/92), 425. 15 Erstmals publiziert in „Die Union“, 29./30. 03. 1990. 16 Vgl. Kunzmann BHK Einleitung Rn. 26 f.; Wortlaut des Entwurfes des Bezirkstages in JöR 39 (1990), 417. 17 Vgl. Heitmann, Zur Entstehung des „Gohrischer Entwurfs“ der Sächsischen Verfassung, a.a.O. (Fn. 7), Hamburg 1996, S. 33/44–45.
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äußerliche Menschenrecht auf Heimat“ ist im GohrVerf E nicht enthalten. Im Verfassungs- und Rechtsausschuss wurde es als „Recht auf die Heimat“ als Satz 2 in Art. 5 I SächsVerf aufgenommen. Sowohl Art. 12 Verf E-Gr20 (Schutz der „sorbischen Nationalität“) als auch Art. 34 Verf E-DDR enthalten Bestimmungen, die den Schutz der „nationalen Minderheit“ der Sorben, insbesondere ihr Recht auf Gebrauch und Pflege ihrer Sprache, Kultur und Tradition sowie die Berücksichtigung ihrer Lebensbedürfnisse in der Landesund Regionalplanung zum Gegenstand haben. Sie fi nden in Art. 6 GohrVerf E (Art. 6 GohrEE) in verallgemeinerter Form für nationale Minderheiten ihren Niederschlag. Im Grundrechtsbereich sieht Art. 2 Verf E-Gr20 wie Art. 2 I BWVerf generell die Inkorporation der Grundrechte des GG vor. Insofern hat der Verf E-Gr20 nichts Eigenes zum Grundrechtekatalog der Sächsischen Verfassung beigetragen. Im Bereich Bildung enthält der Verf E-Gr20 einen vergleichsweise ausführlichen, an der BWVerf orientierten und ähnlich wie in dieser an exponierter Stelle platzierten Teil zu Erziehung und Unterricht, der die Hochschul- und Erwachsenenbildung einschließt. In ihm ist das Grundanliegen deutlich, die stark auf christliche Erziehung orientierten Bestimmungen der BWVerf etwas zurückzunehmen. Innovativ am Verf E-Gr20 ist, dass er das Recht der Eltern auf innerschulische Mitbestimmung um das der Schüler erweitert.18 Den Abschnitt „Kirchen, Religionsgemeinschaften und wohltätige Zusammenschlüsse“ platziert der Verf E-Gr20 nach dem Vorbild der BWVerf in vorgezogener Stellung (im Abschnitt II vor der Staatsorganisation, sogar vor dem Abschnitt „Erziehung und Unterricht“). Er soll wie die BWVerf die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für das Gemeinwesen zum Ausdruck bringen. In gewisser Anlehnung an Art. 50 der Sächsischen Verfassung von 1947, wonach die ungestörte Religionsausübung „unter staatlichem Schutz“ steht und gewährleistet wird, stellt Art. 14 I Verf E-Gr20 die Kirchen insgesamt unter diesen Schutz. Dies bedeutet eine grundsätzliche Abwendung von dem Staat-Kirche-Verhältnis, das von der Sächsischen Verfassung von 1920 begründet wurde. Nach Art. 50 der Verfassung des Freistaates Sachsen von 1920 übte die Regierung „die staatliche Aufsicht über die Religionsgemeinschaften“ aus. Art. 16 III Verf E-Gr20 sieht vor, dass die Wohlfahrtspflege der Kirchen und Religionsgemeinschaften zusammen mit der der freien Wohlfahrtsverbände „geachtet, geschützt und gefördert“ werden soll. Art. 111 GohrVerf E (Art. 125 GohrEE) nimmt diese Wohlfahrtspflege, jetzt als „diakonische und karitative Arbeit“ bezeichnet, auf. Die freien Wohlfahrtsverbände hingegen fi nden dann zunächst einmal in Art. 111 I GohrVerf E (Art. 125 I GohrEE) keine Erwähnung mehr. Erst im Verfassung- und Rechtsausschuss werden sie als Abs. 2 in Art. 110 SächsVerf wieder eingeführt. Art. 14 II Verf E-Gr20 schlägt wie Art. 5 BWVerf die Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel auch in die SächsVerf vor. Das wird schließlich von Art. 110 III GohrVerf E (Art. 124 GohrEE) übernommen. Gegenstand des Verf E-Gr20 ist auch die Frage der Übernahme oder Nichtübernahme der zum Zeitpunkt der Länderbildung im öffentlichen Dienst Beschäftigten. Während der GohrEE diesbezüglich keine Aussagen macht, ging aus Art. 99 Verf18
Siehe dazu Abschnitt 2.4.
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E-Gr20, der eine grundsätzliche Kündbarkeit der Dienstverhältnisse im öffentlichen Dienst mit Ausnahme der Wahlämter vorsieht, schließlich Art. 117 GohrVerf E hervor, der binnen Jahresfrist eine Eignungsprüfung vorsieht, bei der eine eventuelle Mitarbeit für das MfS Berücksichtigung finden soll. Hinsichtlich des Inkrafttretens der Verfassung liegt dem Verf E-Gr20 die Vorstellung zu Grunde, dass die Sächsische Verfassung von 1947 noch in Kraft sei. Folglich habe die Annahme der neuen Verfassung unter Anwendung des Art. 96 der Verfassung des Landes Sachsen von 1947 zu erfolgen, also entweder durch Volksentscheid oder durch zwei Drittel der Mitglieder des Landtages. Dabei favorisiert der VerfE-Gr20 die Variante Volksentscheid. Auch in Art. 134 I GohrEE ist der Volksentscheid noch vorgesehen, in Art. 120 I GohrVerf E ist er hingegen durch die Annahme der Verfassung mit Zwei-Drittel-Mehrheit in der Verfassungsgebenden Landesversammlung ersetzt worden.
1.2. Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR als Anregung Gleich auf seiner ersten Sitzung am 7. Dezember 1989 verabschiedete der Zentrale Runde Tisch in Ostberlin eine Erklärung, in der er die Notwendigkeit der Erarbeitung einer neuen Verfassung für die DDR feststellte, dafür eine Arbeitsgruppe einsetzte und bis zur Neuwahl der Volkskammer einen Entwurf wünschte, über den nach der Volkskammerwahl im Jahre 1990 ein Volksentscheid durchgeführt werden sollte.19 Durch das Vorziehen der ursprünglich für den 6. Mai terminierten Volkskammerwahl auf den 18. März 1990 konnte die Arbeitsgruppe bis zum Wahltermin und der damit verbundenen Einstellung der Arbeit des Runden Tisches keinen Entwurf fertig stellen.20 Auf der letzten Sitzung des Runden Tisches am 12. März wurden lediglich „Gesichtspunkte“ für eine neue Verfassung vorgelegt und fünf Punkte zur weiteren Arbeit beschlossen.21 Danach sollte der Verfassungsentwurf bis April fertig gestellt und der Öffentlichkeit zur Diskussion unterbreitet werden.22 Der Volkskammer wurde der Vorschlag mit auf den Weg gegeben, für den 17. Juni 1990 einen Volksentscheid über die neue Verfassung der DDR auszuschreiben. Die Volkskammer entschied sich aber anders. In ihr hatten die Parteien die Mehrheit, die sich am Runden Tisch skeptisch bis ablehnend zum Entwurf einer neuen DDR-Verfassung verhalten hatten oder am Runden Tisch gar nicht vertreten gewesen waren.23 Dennoch war der Verfassungsentwurf das in den Plenarsitzungen der Volkskammer am häufigsten erwähnte Thema aus den Beratungen des Runden Tisches.24 Ganz anders als auf Republikebene verlief die Verfassungsdiskussion in den Bezirken der DDR. Hier bestehende Arbeitsgruppen wandten sich im Frühjahr 1990 vom 19 Erklärung des Zentralen Runden Tisches vom 07. 12. 1989 in: Verfassungsentwurf für die DDR, Redaktionsschluß 6. April 1990, BasisDruck Verlagsgesellschaft mbH/ Staatsverlag der DDR (eine für die Umbruchszeit bemerkenswerte Verlagskooperation!). 20 Thaysen, Der Runde Tisch, Opladen 1990, S. 143 ff. 21 Hahn, der Runde Tisch, Berlin 1998, S. 140 ff. 22 Zur Arbeit der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“: Häberle, JöR 39 (1990), 319. 23 Thayssen, a.a.O. (Fn. 20), S. 148. 24 Siehe Statistik bei Hahn, a.a.O. (Fn. 21), S. 178.
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Thema DDR-Verfassung ab und lenkten ihre Aufmerksamkeit auf die zur Konstituierung der Länder erforderlichen Landesverfassungen.25 Auf diese Weise erlebte auch der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches noch einmal eine zweite Phase der Aufmerksamkeit. So hat er schließlich auch die Sächsische Verfassung beeinflussen können. Sehr stark ist der Staatsziel- und Grundrechtsteil des Erstentwurfs vom Entwurf des Zentralen Runden Tisches geprägt.26 Auch im ersten Gohrischer Entwurf findet man noch an zahlreichen Stellen die Formulierungen des Verfassungsentwurfs des Zentralen Runden Tisches. Das betrifft insbesondere das Ausländerwahlrecht in Art. 5 II 2 GohrVerf E (Art. 21 II 2 Verf E-DDR), den Minderheitenschutz in Art. 6 I GohrVerf E (Art. 34 I 1–2 Verf E-DDR), den Schutz und die Förderung der sorbischen Kultur in Art. 6 II GohrVerf E (Art. 34 I 4–5 Verf E-DDR), den Kinderschutz in Art. 9 I GohrVerf E (Art. 22 V 1 Verf E-DDR), den Umweltschutz in Art. 10 I 1–2 GohrVerf E (Art. 33 I 1–2 Verf E-DDR), das Verbot bestimmter Eingriffe in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 15 II GohrVerf E (Art. 4 II Verf E-DDR), das Pluralismusgebot für die Presse in Art. 19 II 2 GohrVerf E (Art. 15 II 2 Verf E-DDR) und den Rundfunk in Art. 19 III 2–3 GohrVerf E (Art. 15 IV 2 Verf E-DDR), das Recht auf Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen in Art. 28 I GohrVerf E (Art. 24 I 1 Verf E-DDR), den Datenschutz in Art. 32 GohrVerf E (Art. 8 II 2–3 Verf E-DDR), das Informationsrecht bei umweltrelevanten Daten in Art. 33 GohrVerf E (Art. 33 III 2 Verf E-DDR) und beim Petitionsrecht in Art. 34 Satz 2 GohrVerf E den Anspruch auf begründeten Bescheid in angemessener Frist (Art. 21 V 2 2.Alt Verf E-DDR). Auch in die staatsorganisatorischen Normen sind einige wenige Anregungen des Verfassungsentwurfs des Zentralen Runden Tisches eingegangen, so bei den Aufgaben des Landtagspräsidenten in Art. 44 II GohrVerf E (Art. 56 II 1 Verf E-DDR), des Weiteren das Selbstauflösungsrecht des Landtages in Art. 54 I GohrVerf E (Art. 55 III Verf E-DDR), die Stimmalternative beim Volksentscheid in Art. 72 IV (Art. 98 V 1 Verf E-DDR) und der Anspruch auf ein gerechtes, zügiges und öffentliches Verfahren und auf Verteidigung vor Gericht in Art. 79 III GohrVerf E (Art. 13 I 2–3 Verf E-DDR). Auch einige eher indirekte Wirkungen kann man feststellen, wo vermutlich der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches eine gewisse Anregung gegeben hat. Das trifft etwa auf die Kulturförderung in Art. 11 I GohrVerf E (Art. 20 II Verf E-DDR) und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Art. 12 GohrVerf E (Art. 44 I 1 Verf E-DDR) zu. An anderer Stelle, wo der Erstentwurf zunächst eine Bestimmung des Verf E-DDR aufnahm, die ihrerseits aber auf das GG zurückgeht, hat die Gohrischer Gruppe im Verlaufe ihrer Arbeit dann doch der Formulierung des GG den Vorzug gegeben. In einigen wenigen Fällen, wo der Verf E-DDR das GG präzisiert, ist der Text des ersteren verblieben wie etwa bei der Mehrheit, mit der der Ministerpräsident im zweiten Wahl25
Vgl. Kunzmann BHK Einleitung Rn. 25. Das ist nicht verwunderlich. Wie der Leiter der Fachgruppe 11 Steffen Heitmann in seiner Einladung an die Mitglieder der Gohrischer Gruppe vom 21. 05. 1990 (Anhang I) schreibt, stammen die Entwürfe des zweiten und dritten Abschnitts des Erstentwurfs von Prof. Karl Bönninger. Prof. Bönninger hat aus Unzufriedenheit mit dem Gohrischer Entwurf später maßgeblich am Leipziger Hochschullehrerentwurf (siehe Fn. 73) mitgearbeitet, der seinerseits sehr stark vom Entwurf des Zentralen Runden Tisches beeinflusst ist (vgl. Bönninger, DuR 1991, 394). 26
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gang gewählt ist (Art. 56 II GohrVerf E entsprechend Art. 70 IV 1 Verf E-DDR in Abweichung von Art. 63 IV 1 GG). Sogar die sinnvolle Umkehrung der Sätze von Art. 101 I GG in Art. 79 I GohrVerf E darf wohl dem Einfluss von Art. 13 I 1 Verf EDDR zugeschrieben werden. Auch später ist bei der Erarbeitung der Sächsischen Verfassung gelegentlich auf den Verfassungsentwurf des Runden Tisches bei Sachverhalten zurückgegriffen worden, die im ersten Gohrischer Entwurf noch nicht enthalten waren. Das betrifft das Recht auf Mitbestimmung in Betrieben und Einrichtungen (Art. 26 SächsVerf ) und das Verbot erwerbsmäßiger Kinderarbeit (Art. 28 II SächsVerf ), die entsprechend in Art. 28 Verf E-DDR bzw. Art. 22 V 2 Verf E-DDR ihre Vorbilder haben. Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches ist wie auch der Gohrischer Entwurf der sächsischen Verfassung ein Produkt jener bewegten Auf bruchszeit des Jahres 1990, in der in der DDR allerorten Laboratorien der Ideen entstanden, in deren Reagenzgläsern die Ingredienzien verschiedenster Provenienz verarbeitet wurden.27 Insofern wäre es sicherlich aufschlussreich, dort, wo letztlich der Verfassungsentwurf des Rundens Tisches der DDR seine Spuren hinterlassen hat, wiederum nach dessen Quellen zu fragen. (Das aber soll im Einzelnen nicht Gegenstand dieser Analyse sein.) Eine wichtige Quelle für den Verf E-DDR ist fraglos das Grundgesetz gewesen. Das aber ist ohne Zweifel eine eigenständige direkte Quelle der Sächsischen Verfassung und darum Gegenstand einer besonderen Betrachtung.
1.3. Das Grundgesetz als stetige Quelle Der Gohrischer Entwurf lehnt sich in seinem Grundrechtsteil eng an die Grundrechte des Grundgesetzes an.28 Auch die Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt in Art. 4 GohrVerf E (Art. 3 III SächsVerf ) entstammt dem Grundgesetz (Art. 1 III GG). Doch auch außerhalb des Grundrechtsteils gibt es zahlreiche Entlehnungen aus dem GG. Im staatsorganisatorischen Bereich betrifft das die Länge, insbesondere das Ende der Wahlperiode in Art. 41 I 1–2 GohrVerf E (Art. 39 I 1–2 GG), die Frist für den Zusammentritt des neugewählten Landtages in Art. 41 III GohrVerf E (Art. 39 II GG), das Antragsquorum für den Ausschluss der Öffentlichkeit von Parlamentssitzungen in Art. 45 I GohrVerf E (Art. 42 I GG), die Beschlagnahme von Schriftstükken von Abgeordneten in Art. 52 III GohrVerf E (Art. 47 Satz 2 GG), die Norm für verfassungsändernde Gesetze in Art. 75 I GohrVerf E (Art. 79 I 1 GG) und das Verbot von Ausnahmegerichten in Art. 79 I GohrVerf E (Art. 101 I GG). Diese Entlehnungen aus dem GG hat bereits der Erstentwurf vorgenommen.
27 Zur Verfassungsdiskussion in den neuen Ländern: Häberle, JöR 41 (1993); 69; Häberle, JöR 42 (1994), 149; Häberle, JöR 43 (1995), 335. 28 Vgl. Baumann-Hasske/Berlit/Kaplonek/Kunzmann/Mittag/Rozek BHK Vorb. vor Art. 14 Rn. 3, Art. 14 Rn. 1, Art. 15 Rn. 1, Art. 16 Rn. 18, Art. 17 Rn. 1, Art. 18 Rn. 3, Art. 19 Rn. 1, Art. 20 Rn. 1 u. 49, Art. 21 Rn. 1 u. 17, Art. 22 Rn. 1, 3 u. 13 f., Art. 23 Rn. 1, Art. 24 Rn. 1, Art. 25 Rn. 1 f. u. 14, Art. 27 Rn. 1, Art. 28 Rn. 1 f. u. 34, Art. 29 Rn. 1 f., Art. 30 Rn. 1, 21 u. 25, Art. 31 Rn. 1 ff., Art. 32 Rn. 1 u. 26, Art. 35 Rn. 1 u. 11, Art. 36 Rn. 1, Art. 37 Rn. 1, Art. 38 Rn. 1, Art. 78 Rn. 1 u. 9, Art. 91 Rn. 1 f. u. 7 f., Art. 102 Rn. 7 ff., Art. 105 Rn. 3 ff.
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Auf das GG wurde ebenso im Bereich des Finanzwesens zurückgegriffen, insbesondere bezüglich des Haushaltsgesetzes in Art. 94 III GohrVerf E (Art. 110 IV GG) und Art. 96 GohrVerf E (Art. 115 I GG). Auch die Ausnahmebestimmung für Sonderkündigungen von Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Art. 117 des ersten GohrVerf E hat eine Parallele in Art. 132 GG.29 (Art. 131 und 139 GG betreffen hingegen die bereits ausgeschiedenen Angehörigen des öffentlichen Dienstes30 bzw. die mit einem Entnazifizierungsverfahren erfassten Personen 31.) Später wurde Art. 117 GohrVerf E durch die Sonderkündigungsrechte des Einigungsvertrages ersetzt, die aber im Juli 1990 dem ersten GohrVerf E noch nicht zur Verfügung standen. Die starke Orientierung am Grundrechtekatalog des GG ist erfolgt, weil dieser als ein „bewährter“ Verfassungsinhalt angesehen wurde.32 Die Diskussionen, die 1948/49 im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat um Umfang und Inhalt des Grundrechtekatalogs geführt wurden, insbesondere in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Weimarer Republik 33 , spielten in der Gohrischer Gruppe und anschließend im Landtag kaum eine Rolle. Es reichte, dass das Grundgesetz 40 Jahre Praxistest in der alten Bundesrepublik erfolgreich durchlaufen hatte. Nicht wenige Entscheidungen über die Akzeptanz von Vorbildern bei der Verfassungsgebung sind weniger auf Grund einer gründlichen und detaillierten Analyse gefällt worden als vielmehr wegen des Rufes, den das jeweilige Vorbild 1990 bei den verschiedenen politischen Akteuren in Sachsen hatte. Dabei spielte eine nicht geringe Rolle die Frage, welche Perspektive dem Staat DDR zuerkannt werden sollte. Der Aufruf „Für unser Land“ kontrastierte mit dem Aufruf „Keine Experimente mehr“, der sich dem Ruf „Wir sind ein Volk“ verpfl ichtet fühlte.34 Diese Auseinandersetzung wurde auch in die Verfassungsdiskussion hineinprojiziert. Auf Republikebene mündete sie in die Ablehnung des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches, auf Länderebene in die Konkurrenz der Vorbilder. Das Grundgesetz stand für den schnellen Lauf auf dem Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands, der Verfassungsentwurf des Runden Tisches für dessen Entschleunigung, Verzögerung oder gar Blockierung. In dieser aufgeheizten Atmosphäre war eine Diskussion um Inhalte nicht leicht zu führen. Sie traf auf sehr viele emotionale Reflexe und zugleich ertaubte Ohren.
29 Art. 132 GG hat wegen der sehr kurzen Frist in Abs. 1 Satz 1 kaum Bedeutung erlangt (Kunig in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., (MüKu III) Art. 132 Rn. 1). Art. 117 erster GohrVerf E hat diese Frist auf ein Jahr verdoppelt. Im Nachhinein beurteilt wäre auch diese Regelung sicher ähnlich wirkungsarm geblieben wie seinerzeit Art. 132 GG. 30 Nach dem Untergang des Deutschen Reiches 1945 bedurfte es einer Neuorganisation des Staates, die Vorrang vor der Erfüllung alter dienstrechtlicher Ansprüche haben sollte. Art. 131 GG wurde mit dem Einigungsvertrag nicht auf die DDR übertragen (Kunig MüKu III Art. 131 Rn. 1 f.). 31 Eine zur Entnazifi zierung unter Besatzungsrecht irgendwie vergleichbare Situation konnte für die DDR nicht unterstellt werden. Art. 139 GG ist dann auch bereits in den fünfziger Jahren obsolet geworden (Vedder MüKu III Art. 139 Rn. 5). 32 Heitmann/Vaatz: Verfassung des Landes Sachsen, a.a.O. (Fn. 7), S. 53; ebenso Heitmann, Entstehung und Grundgedanken der Verfassung des Freistaates Sachsen, a.a.O. (Fn. 7), S. 20. 33 Dazu beispielsweise Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, Paderborn 1998, S. 249 ff. 34 Richter, Die friedliche Revolution – Auf bruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, Bd. 2, Göttingen 2010, S. 850 ff.
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1.4. Die Verfassung Baden-Württembergs als Blaupause Ganz grundlos ist es nicht, dass die Sächsische Verfassung in dem Ruf steht, sie sei eine Art Kopie der Verfassung Baden-Württembergs. In der Tat findet man zahlreiche übereinstimmende oder doch sehr einander ähnelnde Formulierungen. Inwieweit dieser Ruf zu Recht besteht oder doch eher eine Übertreibung ist, soll in diesem Abschnitt näher untersucht werden. Sehr zahlreich sind die Übereinstimmungen des Gohrischer Entwurfs mit der Baden-Württembergischen Verfassung im Bereich der Staatsorganisation. Es gibt mit Ausnahme der Artikel über die Sachverständigenräte (Art. 47 und 65 GohrVerf E) und über die Ausschüsse (Art. 48 GohrVerf E) in allen Artikeln der Abschnitte Landtag, Landesregierung, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung starke Anklänge an die Verfassung Baden-Württembergs, teilweise mit wörtlicher Übereinstimmung. Zumeist stimmt diesbezüglich bereits der Erstentwurf mit der BadenWürttembergischen Verfassung überein. Die Übereinstimmungen im Einzelnen alle aufzuzählen wäre müßig.35 Auch im Bereich Finanzverfassung sind bei der Mehrzahl der Artikel deutliche Übereinstimmungen festzustellen.36 Geringer ist die Zahl der Übereinstimmungen in den Bereichen Bildungswesen 37 sowie Kirchen und Religionsgemeinschaften 38 . Bei den Übergangs- und Schlussbestimmungen hat die BWVerf bei Art. 115 GohrVerf E (Notparlament) als Vorbild gedient.39 Auch die Bestimmung zum Inkrafttreten der Verfassung (Art. 120 II 2 GohrVerf E bzw. Art. 134 II 2 GohrEE) gleicht der entsprechenden Formulierung in Art. Art. 94 II 1 BWVerf. Die Weitergeltung von Landesrecht aus der Zeit vor Inkrafttreten der Verfassung (Art. 118 GohrVerf E bzw. Art. 133 GohrEE) ähnelt in gewisser Weise sowohl Art. 94 III 1 BWVerf als auch Art. 186 II BayVerf. Die übrigen Artikel dieses Abschnitts des Gohrischer Entwurfs haben hingegen keinen Bezug zur BWVerf. Im Bereich Staatsziele und Grundrechte gibt es nur sehr wenige Anklänge an die BWVerf.40 Art. 1 Satz 2 GohrVerf E bzw. Art. 1 I–III GohrEE (Verfassungsgrundsätze, im GohrVerf E noch „grundlegende Staatsziele“ und im GohrEE „Staatsfundamentalnormen“ genannt) ähnelt sowohl Art. 23 I BWVerf als auch Art. 3 I 1–2 BayVerf. Art. 3 GohrVerf E bzw. Art. 2 GohrEE (Ausübung und Teilung der Staatsgewalt) geht auf Artikel 25 BWVerf zurück, wobei im GohrVerf E die Reihenfolge der 35 Vgl. für den Bereich Landtag Schulte/Kloos BHK Vorb. vor Art. 39 Rn. 3, für den Bereich Landesregierung Mittag BHK Vorb. vor Art. 59 Rn. 1 f., für den Bereich Rechtsprechung Baumann-Hasske/ Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 77 Rn. 3, für den Bereich Verwaltung Kaplonek BHK Vorb. vor Art. 82 Rn. 31. 36 Vgl. Berlit BHK Vorb. vor Art. 93 Rn. 13. 37 Vgl. Baumann-Hasske/Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 101 Rn. 3 f. 38 Im Bereich Kirchen und Religionsgemeinschaften werden Bezugnahmen auf die BadenWürttembergische Verfassung häufig über den Verfassungsentwurf der „Gruppe der Zwanzig“ vermittelt, der sich bereits an der BWVerf orientiert hat – vgl. Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 109 Rn. 4, 6, 9 f. (dazu auch Abschnitt 1.1.). 39 Das trifft grundsätzlich auch auf Art. 130 GohrEE zu, der aber Art. 62 BWVerf etwas variiert, indem er offenbar davon ausgeht, dass das Notparlament offenbar aus zufällig noch „verfügbaren Mitgliedern des Landtages“ gebildet werden soll. Das wurde in Art. 115 GohrVerf E schließlich wieder zurückgenommen. 40 Manche Bezugnahmen des GohrVerf E auf die BWVerf sind im Bereich Staatsziele über den Verf E-Gr20 vermittelt worden (vgl. Anschnitt 1.1.).
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Absätze verändert wurde, während der GohrEE noch genau der BWVerf folgt. Bei den Wahl- und Abstimmungsgrundsätzen geht Art. 5 I GohrVerf E bzw. Art. 4 I GohrEE auf Art. 26 IV BWVerf, Art. 5 II 1 GohrVerf E bzw. Art. 4 II GohrEE auf Art. 26 I BWVerf und Art. 5 III GohrVerf E bzw. Art. 4 IV 1 und 3 GohrEE41 auf Art. 26 VII BWVerf zurück. Art. 9 Satz 2 GohrVerf E bzw. Art. 13 II 1 GohrEE ( Jugendschutz) folgt Art. 13 BWVerf. Art. 28 I GohrVerf E bzw. Art. 41 I GohrEE schließlich weist sehr entfernte Anklänge an Art. 11 I BWVerf, aber auch an Art. 128 I BayVerf auf.42 Das ist verglichen mit der Staatsorganisation sehr wenig Ähnlichkeit. Es drängt sich natürlich die Frage auf, warum insgesamt gesehen die Verfassung Baden-Württembergs einen solch starken Einfluss auf den Gohrischer Entwurf und schließlich über ihn auf die Sächsische Verfassung hat ausüben können. Einen historischen Grund wird man dafür kaum nennen können. Die Geschichte Sachsens weist zu der Geschichte Badens oder Württembergs keine besonderen Bezüge auf, die eine herausgehobene Stellung dieser beiden südwestdeutschen Länder zu Sachsen erklären oder begründen könnten. Man muss für diese besondere Parallele eine Erklärung in der politischen Geschichte des Jahres 1990 suchen. Bereits Ende 1989 fasst die BadenWürttembergische Landesregierung den Beschluss, sich in besonderer Weise um das neue Bundesland Sachsen kümmern zu wollen.43 Schon beim Besuch des BadenWürttembergischen Ministerpräsidenten Späth im Dezember 1989 in Dresden sprach dieser eine Einladung auch an die Dresdner „Gruppe der Zwanzig“ aus, mit einer Delegation nach Stuttgart zu reisen. Ein solcher Besuch erfolgte Mitte Januar 1990.44 In seinem Verlauf wurde die Bildung einer Fachgruppe Verfassung und Verwaltungsreform innerhalb der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg verabredet. Eine ihrer Untergruppen war die Arbeitsgruppe „Länderbildung/ Landesverfassung“, die als Ergebnis ihrer Arbeit den Gohrischer Entwurf vorgelegt hat. Genau genommen ist es – zumindest aus sächsischer Perspektive – ein historischer Zufall, dass es heute eine solche enge Verbindung von Sachsen nach Baden-Württemberg gibt, von der die Landesverfassung ein Zeugnis ablegt. Genau so gut hätte es eine andere Landesverfassung irgendeines der westdeutschen Flächenländer sein können, die einen vergleichbaren Einfluss auf die neue sächsische Verfassung hätte ausüben können. Ein vergleichbares Phänomen zeigt auch die Entstehung der übrigen vier ostdeutschen Landesverfassungen, die alle mehr oder weniger in Länderpartnerschaft entstanden sind.45 Die Verfassungen der westdeutschen Partnerländer haben 41 Das in Art. 4 IV 2 GohrEE vorgesehene Wahlrecht für Ausländer und Staatenlose, das aus Art. 21 II 2 Verf E-DDR stammt, ist als Kann-Bestimmung in Art. 5 II 2 GohrVerf E zu fi nden. 42 Der Wortlaut ist eigentlich Art. 24 I 1 Verf E-DDR entnommen. Art. 41 I GohrEE postuliert ein Recht auf Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen für jedermann und geht damit sogar über Art. 24 I 1 Verf E-DDR („Jeder Bürger ...“) hinaus. Art. 28 I GohrVerf E reduziert es im Gegensatz zu Art. 11 I BWVerf („Jeder junge Mensch ...“) und Art. 128 I BayVerf („Jeder Bewohner Bayerns ...“) auf Deutsche, womit es wieder den Berechtigten von Art. 24 I 1 Verf E-DDR zukommt. 43 Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, Göttingen 2004, S. 184 ff. 44 Vgl. Heitmann, Zur Entstehung des „Gohrischer Entwurfs“ der Sächsischen Verfassung, a.a.O. (Fn. 7), Hamburg 1996, S. 40 ff. 45 Summarisch: Häberle, JöR 42 (1993), 69; Deselaers, a.a.O. (Fn. 13); Brandenburg: Franke/KneifelHaverkamp, JöR 42 (1994), 111/124; Franke/Kneifel-Haverkamp HbVerf Bbg § 2 Rn. 1 ff.; MecklenburgVorpommern: Hölscheidt, DVBl. 1991, 1066; Starck, ZG 1992, 1; Sachsen-Anhalt: Starck, ebd.; Kilian,
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dort aber deswegen etwas weniger Einfluss genommen, weil die Verfassungen der übrigen neuen Bundesländer inhaltlich mehr in der parlamentarischen Phase ausgeformt wurden, während die Sächsische Verfassung in wesentlichen Zügen bereits in der vorparlamentarischen Phase vorgeformt wurde.46
1.5. Die Bayerische Verfassung als Vorbild Wollte man ein Ranking aufstellen, in welchen Quantitäten die verschiedenen Quellen Einfluss auf die Sächsische Verfassung genommen haben, so würde nach der Verfassung Baden-Württembergs, dem Grundgesetz und dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR auf Platz vier vermutlich die Bayerische Verfassung landen. Insbesondere im Bereich der Staatsziele, aber auch an einigen anderen Stellen fi ndet man deutliche Bezüge zur Verfassung des Freistaates Bayern. Das betrifft hinsichtlich des Gohrischer Entwurfs neben Art. 1 Satz 2 GohrVerf E, der aus Art. 1 I–III GohrEE hervorgegangen ist, insbesondere auch Art. 1 Satz 3 GohrVerf E bzw. analog Art. 1 IV GohrEE, der Art. 3 I 1 BayVerf entspricht. Bei den Landesfarben in Art. 2 II GohrVerf E bzw. Art. 7 III GohrEE wurde Art. 1 II BayVerf entsprechend abgewandelt. Art. 141 III BayVerf (Genuss der Naturschönheiten und Erholung in freier Natur) lieferte das Vorbild für Art. 10 II 1 GohrVerf E bzw. bereits Art. 19 IV GohrEE, Art. 141 II BayVerf (Denkmalschutz) gab eine Anregung für Art. 11 II GohrVerf E bzw. Art. 20 II GohrEE. In Art. 128 I BayVerf (Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen) kann man entfernt einen Ansatz für Art. 28 I GohrVerf E finden47, in Art. 53 Satz 1 BayVerf (Geschäftsordnung der Staatsregierung) kann man das Vorbild von Art. 61 II GohrVerf E bzw. Art. 74 II GohrEE entdecken. Art. 54 Satz 2 BayVerf (Stimmengleichheit bei Entscheidungen der Staatsregierung) kann neben Art. 49 III 1 BWVerf als Vorbild für Art. 61 IV GohrVerf E bzw. Art. 74 IV GohrEE angesehen werden. Für Volksbegehren (Art. 71 I und III GohrVerf E) war neben Art. 59 II 1 u. 3 BWVerf auch Art. 74 II BayVerf bzw. Art. 74 VII BayVerf Impuls gebend.48 Die Fristen im Volksgesetzgebungsverfahren des Art. 72 III GohrVerf E sind unter Anlehnung an Art. 74 V BayVerf konzipiert. Das Quorum bei verfassungsändernden Gesetzen im Landtag (Art. 75 II GohrVerf E) folgt Art. 74 V BayVerf; die sächsische Vorschrift lässt aber den in Bayern nachgeschalteten Volksentscheid weg. Die Regelung für Laienrichter in Art. 78 III GohrVerf E bzw. Art. 90 IV GohrEE folgt Art. 88 BayVerf. Art. 93 I GohrVerf E bzw. Art. 104 II GohrEE (Beamte) ist konzipiert in Anlehnung an Art. 77 II BWVerf und Art. 96 BayVerf. Art. 136 III BayVerf (Religionslehrer) kann man in der Regelung des Art. 106 III GohrVerf E LKV 1993, 73/77; Thüringen: Linck, ThürVBl. 1992, 1; Rommelfanger, ThürVBl. 1993, 145; Huber, JöR 52 (2004), 323. 46 Klassifi zierung der Phasen nach Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 1 Rn. 1; Gegenüberstellung der Verfassungsgebungsprozesse in den neuen Bundesländern bei v.Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, Berlin 1997 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, Bd. 15). 47 Obgleich der Wortlaut Art. 24 I 1 Verf E-DDR entnommen ist, vgl. Fn. 42. 48 Im GohrEE sind in das Volksgesetzgebungsverfahren zunächst die Sachverständigenräte eng eingewoben gewesen (Art. 83 II GohrEE), die in der Bayerischen Verfassung nicht vorkommen, sondern eine eigenständige sächsische Idee sind (vgl. Abschnitt 2.5.).
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bzw. Art. 119 II GohrEE, Art. 136 IV BayVerf (Aufsicht über Religionsunterricht) in Art. 106 II 2–3 GohrVerf E bzw. Art. 119 I 2 GohrEE wiedererkennen. Art. 109 GohrVerf E bzw. Art. 122 GohrEE (Erwachsenenbildung) ist in enger Anlehnung an Art. 22 BWVerf und Art. 139 BayVerf, Art. 111 I GohrVerf E (diakonische und karitative Arbeit) bzw. Art. 125 I GohrEE (diakonische Arbeit) in Anlehnung an Art. 6 BWVerf und hinsichtlich Eigentumsfragen entfernt an Art. 146 BayVerf konzipiert worden. Art. 112 I 1 GohrVerf E bzw. Art. 126 I GohrEE (kirchliche Lehranstalten) ist in Anlehnung an Art. 150 I BayVerf und Art. 113 I GohrVerf E bzw. Art. 127 I GohrEE (altrechtliche Staatsleistungen an die Kirchen) in Anlehnung an Art. 7 I BWVerf und Art. 145 I BayVerf entstanden. Art. 183 BayVerf für Wiedergutmachungsansprüche von Geschädigten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hat bei Art. 116 GohrVerf E bzw. Art. 131 GohrEE Pate gestanden. In Art. 94 III 1 BWVerf und Art. 186 II BayVerf kann man schließlich ein Vorbild für Art. 118 GohrVerf E bzw. Art. 133 GohrEE (Weitergeltung bisherigen Rechts) sehen. Eine exemplarische Bedeutung hat die Bayerische Verfassung insbesondere für die sächsische Volksgesetzgebung erlangt. Wie die Bayerische Verfassung kennt die sächsische kein Quorum beim Volksentscheid, der über Gesetze stattfindet, die nicht die Verfassung ändern. Ein Grund dafür, warum die Bayerische Verfassung bei zahlreichen Einzelregelungen ein Vorbild für die Sächsische Verfassung abgab, ist im Unterschied zu BadenWürttemberg weniger in der Länderpartnerschaft des Freistaates Bayern zu Sachsen zu suchen als vielmehr in der Tatsache, dass die Bayerische Verfassung im Unterschied zu fast allen übrigen Verfassungen der alten Länder insbesondere im Staatszielbereich und bei der Volksgesetzgebung, aber auch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit Lösungen anbot, die die übrigen Landesverfassungen so nicht kannten. Aus dem gleichen Grund hat die Bayerische Verfassung auch den Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR beeinflusst. Ihre Wirkung auf die Sächsische Verfassung verdankt die Bayerische aber vor allem der Tatsache, dass sie im Unterschied zum Entwurf des Runden Tisches vielen Mitgliedern des Sächsischen Landtags weniger verdächtig war, die DDR weiterleben lassen zu wollen.
1.6. Der Entwurf der Demokratie-Initiative 90 zur Volksgesetzgebung Die sächsische Volksgesetzgebung ragt aus den Bestimmungen der deutschen Landesverfassungen heraus. Sie ist von Anfang an dreistufig angelegt, bestehend aus Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid. Einem sehr hohen Quorum beim Volksbegehren steht eine Regelung zum Volksentscheid gegenüber, die bei nicht die Verfassung ändernden Gesetzen überhaupt kein Quorum vorsieht. In einem Volksentscheid-Ranking von „Mehr Demokratie e.V.“ nahm Sachsen hinter Bayern und Hamburg Platz 3 ein, allerdings mit deutlichem Abstand.49 49
Siehe dazu Patzelt, Direkte Demokratie in Sachsen, insbesondere dort Fn. 7, in: Kost (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2005, S. 246 ff. (in späteren Rankings landet Sachsen weiter hinten, weil andere Länder inzwischen ihre Volksgesetzgebung im Sinne der angewandten Kriterien weiterentwickelt und verbessert haben, vgl. Stellungnahme von „Mehr Demokratie e.V.“
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Die sächsische Regelung zur Volksgesetzgebung folgt keinem direkten Vorbild in einer anderen Landesverfassung. Sie geht vielmehr zurück auf eine Intervention der Demokratie-Initiative 90. In einem Schreiben an die Fachgruppe 11 der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg vom 18. 04. 1990 schlug sie einen konkreten, sieben Absätze umfassenden Artikel zur Volksgesetzgebung vor50 , der in Teilen Eingang in den Erstentwurf und letztlich auch den Gohrischer Entwurf fand. Art. 71 I GohrVerf E nimmt davon das Initiativrecht jedes Stimmberechtigten für einen Volksantrag auf, der einen Gesetzesentwurf zum Gegenstand hat. Das Quorum wurde von 25.000 im Vorschlag der Demokratie-Initiative auf 40.000 Stimmberechtigte erhöht. Art. 72 I GohrVerf E übernimmt fast wörtlich Absatz 2 Satz 1 des Vorschlags der Demokratie-Initiative. Das Quorum für ein erfolgreiches Volksbegehren wurde von 60.000 Stimmberechtigten auf 200.000 Stimmberechtigte (im Erstentwurf 250.000 Stimmberechtigte) erhöht. Während die Demokratie-Initiative als Mindestfrist zwischen Volksbegehren und Volksentscheid sechs Monate fordert, übernimmt Art. 72 III GohrVerf E die Fristen aus Art. 74 V BayVerf. Die von der Demokratie-Initiative vorgesehen Informationspfl ichten der Massenmedien wurden nicht in den GohrVerf E übernommen. Nicht übernommen wurde auch der Vorschlag der Demokratie-Initiative für eine Drei-Fünftel-Mehrheit ohne Beteiligungsoder Zustimmungsquorum beim Volksentscheid über verfassungsändernde Gesetze. Bei den Quoren von Volksbegehren und Volksentscheid folgt der GohrVerf E grundsätzlich den Regelungen der Verfassung Baden-Württembergs. Der Verfassungs- und Rechtsausschuss strich später das Zustimmungsquorum bei nicht die Verfassung ändernden Gesetzen im Volksentscheid, allerdings verbunden mit einer erheblichen Anhebung des Quorums beim Volksbegehren. Dieses ist zu hoch angesetzt, wie auch entsprechende Analysen und Vergleiche belegen.51 Auch dem Vorschlag der Demokratie-Initiative, dass ein Volksantrag beim Landtag und nicht bei der Landesregierung einzureichen ist, den der Gohrischer Entwurf unter Berücksichtigung der Praxis Baden-Württembergs zunächst nicht übernommen hatte, hat der Verfassungsund Rechtsausschuss später entsprochen.52 Dass die Anregungen für die Sächsische Volksgesetzgebung nicht von der Landesverfassung Schleswig-Holsteins, die als erste deutsche Verfassung die dreistufige Volksgesetzgebung einführte, sondern vom Vorschlag der Demokratie-Initiative 90 ausgegangen sind, lässt sich nicht nur durch Textvergleich, sondern auch durch Dokumente zur Entstehungsgeschichte belegen.53
zur Sachverständigenanhörung am 09. 03. 2011 im Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtages zu Drs. 5/3705). 50 Schreiben von Ralf Donner, Sektion DDR der Demokratie-Initiative 90, vom 18. 04. 1990, eingegangen bei der Fachgruppe am 20. 04. 1990 (Anhang III). 51 Patzelt, a.a.O. (Fn. 49), S. 261 ff. m.w.N. 52 „Historischer“ Kompromiss vom 1. Februar 1992 im Sinne einer „bayerischen Lösung“, dazu Kunzmann, Die Entstehung der Sächsischen Verfassung, in: 5 Jahre Verfassung des Freistaates Sachsen, Vortragsabend am 27. Mai 1997, Sächsisches Staatsministerium der Justiz, August 1997, S. 16 f.; vgl. dazu Protokoll des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 7. Klausurtagung (31. 01.–01. 02. 1992), S. 85 ff. 53 Beispielsweise Heitmann, Zur Entstehung des „Gohrischer Entwurfs“ der Sächsischen Verfassung, a.a.O. (Fn. 7), Hamburg 1996, S. 47.
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1.7. Der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Formulierungshilfe Der Gohrischer Entwurf greift im Staatszielbereich im Prinzip die gleichen Staatsziele auf, wie sie auch der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR beinhaltet. Er verfolgt aber im Unterschied zu letzterem das Konzept, in der Verpfl ichtungswirkung einen deutlichen Unterschied zu den Grundrechten zu setzen. Darum werden erstens die Staatsziele abschnittsweise von den Grundrechten getrennt, aber auch durch eine andere Formulierung hinsichtlich der Verpfl ichtungswirkung von den Grundrechten gesondert. Die insbesondere in Artikel 7 GohrVerf E zusammengefassten Rechte auf menschenwürdiges Dasein, Arbeit, angemessenen Wohnraum, angemessenen Lebensunterhalt und soziale Sicherung sind in der Form aufgenommen, wie sie im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966 verankert sind.54 Bereits im Erstentwurf wird diese Formulierung für die Staatsziele benutzt, insbesondere in Art. 8 I 2, 8 II, 9 I, 10 I, 11 I, 19 IV GohrEE. Die daraus erwachsende Verpfl ichtung für das Land wird im GohrEE häufig im jeweils folgenden Absatz normiert, in der Sächsischen Verfassung schließlich in Art. 13 SächsVerf zusammengefasst. Die konkreten Handlungspfl ichten des GohrEE sind jedoch sowohl im GohrVerf E wie in der Sächsischen Verfassung nicht mehr enthalten.
1.8. Das Haushaltsgrundsätzegesetz als ordnendes Element Im Bereich der Haushaltswirtschaft enthält die Sächsische Verfassung einige grundsätzliche Aussagen des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGrG) 55 , die bereits im Erstentwurf enthalten waren und dann in den Gohrischer Entwurf Eingang fanden. Art. 95 I 1 GohrVerf E (Art. 106 I 1 GohrEE) folgt § 2 Satz 1 HGrG, Art. 95 I 2 GohrVerf E (Art. 106 I 2 GohrEE) § 2 Satz 2 HGrG, Art. 95 II GohrVerf E (Art. 106 I 3 GohrEE) § 2 Satz 3 HGrG und § 6 I 2. Alt HGrG. Art. 95 III GohrVerf E (Art. 106 II GohrEE) übernimmt § 3 I HGrG und Art. 95 IV GohrVerf E (Art. 106 III GohrEE) § 3 II HGrG. Diese grundsätzlichen Normen des Haushaltsrechts sind so weder explizit im GG noch in den meisten deutschen Landesverfassungen enthalten. Lediglich Berlin, Brandenburg, Bremen und Niedersachsen haben vergleichbare Regelungen in ihren Landesverfassungen.56 Die Sächsische Verfassung stellt auf diese Weise die Funktionen des Landeshaushalts klar und umreißt präzise die Grenzen des haushaltspolitischen Wirkens des Landes. 57
54 55 56 57
Vgl. Kunzmann BHK Art. 7 Rn. 1. Vgl. Berlit BHK Vorb. vor Art. 93 Rn. 13. Vgl. Berlit BHK Art. 94 Rn. 2. Dazu Berlit BHK Art. 94 Rn. 3 ff.
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1.9. Die reformierte Landesverfassung Schleswig-Holsteins als Merkposten Man mag vermuten, dass auch die Verfassung Schleswig-Holsteins, die aus der Verfassungs- und Parlamentsreform 1990 hervorgegangen war 58 , eine Quelle von Anregungen bildete. Hinsichtlich des ersten Gohrischer Entwurfs kam sie allerdings weitgehend zu spät.59 Lediglich Art. 8 GohrVerf E über die Förderung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern geht auf die Verfassung Schleswig-Holsteins zurück. Eventuell kann man daneben bedingt noch Art. 9 SchlHVerf neben Art. 140 I BayVerf als Ideenspender für Art. 11 I GohrVerf (Kulturförderung) ansehen. Mehr Einfluss hat die Verfassung Schleswig-Holsteins auf den Gohrischer Entwurf nicht nehmen können. Sie war aber später Orientierungspunkt für die weiteren Beratungen, die im Verfassungs- und Rechtsausschuss des Landtages stattgefunden haben. Dabei ging es unter anderem um die Themen Rechte der parlamentarischen Opposition, Informationspfl icht der Landesregierung an das Landesparlament, Auskunftspfl icht der Landesregierung bei Anfragen von Abgeordneten oder das Recht von Enquête-Kommissionen und Untersuchungsausschüssen. Hier hat die reformierte Verfassung Schleswig-Holsteins von 1990 grundlegende Neuerungen eingeführt.60 Die Rezeption dieser Neuerungen hat nach und nach die Verfassungsgebung zunächst in den neuen Ländern einschließlich Sachsen, später aber auch in den alten Ländern nachhaltig beeinflusst.61
2. Eigene sächsische Entwürfe ohne Vorbild Es gibt im Gohrischer Entwurf einige Bestimmungen, die kein Vorbild in anderen Landesverfassungen oder im GG haben. Das betrifft in gewissem Sinne die Bezugnahmen auf die historischen Vorläufer des Freistaates Sachsen, mehr aber die Bestimmungen zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, die Kirchenartikel sowie die Bestimmungen zur Berufsbildung (Art. 107 GohrVerf E), zu Schülervertretungen 58
Schleswig-Holsteinischer Landtag, Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungs- und Parlamentsreform, Baden-Baden 1989; Wuttke, Die Arbeit der Enquête-Kommission, in: Eine neue Verfassung für Schleswig-Holstein, Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Kiel 1990, S. 21 f. 59 Der Schleswig-Holsteinische Landtag beschloss die reformierte Landesverfassung am 30. Mai 1990 (zur Umsetzung des Schlussberichts der Enquête-Kommission siehe Hamer, Von der „Ministerpräsidenten-Verfassung“ zur „Parlaments-Verfassung“, in: Eine neue Verfassung für Schleswig-Holstein, a.a.O. (Fn. 58), S. 9 ff. Zu spät kam diese Verfassung für den Gohrischer Entwurf aber nicht nur, weil die entsprechenden Arbeiten in Schleswig-Holstein und Sachsen nahezu zeitgleich liefen, sondern vor allem deswegen, weil es in der DDR keine informationelle Infrastruktur gab, über die sich Informationen über Veränderungen im öffentlichen Leben eines westdeutschen Bundeslandes hätten schnell und effektiv verbreiten können. Nach 40 Jahren kommunikativer Abschottung der DDR-Gesellschaft musste jede Information erst mühsam durch langwierige und gezielte Anstrengungen beschafft werden. Noch bis weit ins Jahr 1991 hinein konnte beispielsweise selbst der Sächsische Landtag seinen Abgeordneten weder eine angemessen ausgestattete Bibliothek noch funktionierende Telefon- und Faxverbindungen in die alten Bundesländer bieten. Die wichtigste Informationsquelle der Abgeordneten war in dieser Zeit neben den ministerialen Vorlagen das „Hörensagen“. 60 Dazu insbesondere Hübner, Die Beratungen im Sonder-Ausschuß „Verfassungs- und Parlamentsreform“, in: Eine neue Verfassung für Schleswig-Holstein, a.a.O. (Fn. 58), S. 42 ff. 61 Vgl. dazu Fn. 2.
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(Art. 105 II GohrVerf E) und schließlich auch über die Sachverständigenräte (Art. 65 GohrVerf E).
2.1. Bezugnahmen auf historische Vorläufer des Freistaates Sachsen Konkrete Bezugnahmen auf historische Vorläufer des Freistaates Sachsen sind im ersten Gohrischer Entwurf nur rudimentär zu finden. Es gibt sie in der Präambel, bei den Staatskirchenverträgen und bei der Bestandsgarantie für die Sächsische Akademie der Wissenschaften. In Art. 132 GohrEE gab es noch eine Aussage zur Rechtsnachfolge des neuen Freistaates Sachsen zu seinen staatlichen Vorgängern, dem Freistaat Sachsen von 1919/20, dem Land Sachsen von 1946/47 und der preußischen Provinz Niederschlesien. Im ersten Gohrischer Entwurf war diese konkrete Bezugnahme aber bereits nicht mehr zu finden. Übernommen wurde lediglich die ebenfalls als historischer Bezug einzuordnende Bestandsgarantie für die Sächsische Akademie der Wissenschaften, die jedoch systematisch neu eingeordnet wurde. Sie wanderte vom Bereich Bildungswesen (Artikel 121 GohrEE), wo sie angesichts der Aufgaben der Akademie62 sachlich eigentlich nicht hingehört, in die Schlussbestimmungen (Artikel 119 GohrVerf E), die untereinander nicht notwendig sachlich zusammenhängen.63 Weitere konkrete historische Bezüge gibt es im ersten Gohrischer Entwurf nicht mehr. Die Präambel lässt zwar vermuten, dass die staatlichen Vorgänger des Freistaates Sachsen mit ihren Verfassungen auch für die Verfassung von 1992 eine wichtige Rolle gespielt hätten. Diesbezüglich hat aber der vermutlich als Wunsch durchaus vorhandene Vater des Gedankens keine realen Folgen nach sich gezogen. Die heutige Sächsische Verfassung zeichnet sich generell durch Ignoranz gegenüber ihren Vorgängerverfassungen aus, so wie der Freistaat Sachsen von 1990 einen deutlichen Traditionsbruch zu seinen staatlichen Vorgängern darstellt.64 Zwar waren, insbesondere in den ersten Jahren nach Verabschiedung der Verfassung, gelegentlich gegenteilige Behauptungen zu vernehmen. So äußerte Staatsminister Heitmann in einem Vortrag vor der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1992 unter Bezugnahme auf die Präambel, dass die Sächsische Verfassung von 1920 (Verf FreiSa) die neue Sächsische Verfassung „befruchtet“ habe, denn letztere habe von der Vorgängerverfassung die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten, die Volksgesetzgebung und die Antwortpfl icht der Landesregierung auf Anfragen aus dem Landtag übernommen.65 Diese Behauptungen stehen jedoch nicht mit den entstehungsgeschichtlichen Tatsachen im Einklang. Alle drei genannten Beispiele treffen gerade nicht zu. Die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten entstammt nicht Art. 29 Verf FreiSa, sondern Art. 49 I 1 BWVerf. In dieser Frage unterscheiden sich im Übrigen die Landesverfassungen der westdeutschen Flächenstaaten so gut wie überhaupt nicht. Die gleiche Regelung wie 62 63 64 65
Vgl. Kunzmann BHK Art. 121 Rn. 4 f. Vgl. Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 113 Rn. 1. Vgl. dazu Fn. 4. So Heitmann, SächsVBl. 1993, 2/4.
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in Sachsen und Baden-Württemberg gibt es auch in Bayern (Art. 47 II BayVerf ), Hessen (Art. 102 HessVerf ), Niedersachsen (Art. 28 I NdsVerf a.F., Art. 37 I NdsVerf n.F.), Nordrhein-Westfalen (Art. 55 I NWVerf ), Rheinland-Pfalz (Art. 104 RhPfVerf ), Saarland (Art. 91 SaarlVerf ) und Schleswig-Holstein (Art. 29 I SchlHVerf ). Nach Belieben hätte man statt der Sächsischen Verfassung von 1920 genau so gut von jeder Verfassung der genannten Länder behaupten können, sie habe die Sächsische Verfassung von 1992 „befruchtet“. Entscheidend für die Stellung, insbesondere die Handlungsmöglichkeiten des Ministerpräsidenten ist nicht seine formelle Richtlinienkompetenz, sondern seine Position innerhalb der Regierung und gegenüber dem Landtag. Die gegenwärtige sächsische Verfassung folgt hinsichtlich der Stellung des Ministerpräsidenten gerade nicht dem Konzept der Verfassung von 1920. Dort unterlag der Ministerpräsident wie auch jeder Minister der Landesregierung der permanenten Kontrolle des Landtages (Art. 27 Verf FreiSa).66 Der Landtag bestimmte auch über Zahl und Namen der Ministerien (Art. 28 II Verf FreiSa). In der gegenwärtigen Verfassung ist genau das Gegenteil der Fall. Nur noch der Ministerpräsident persönlich bezieht seine Legitimation aus dem Landtag. Vertrauensabstimmungen über den Ministerpräsidenten, einzelne Minister oder die Regierung als Ganzes sieht die jetzige Verfassung überhaupt nicht mehr vor. Der Landtag kann nun die Landesregierung im Gegensatz zu 1920 nicht mehr über ein Misstrauensvotum stürzen, sondern nur noch durch Wahl eines anderen Ministerpräsidenten in Form eines konstruktiven Misstrauensvotums. Bei der Auswahl der Minister hat der Landtag jetzt keinerlei Mitspracherecht mehr; eine Abwahl einzelner Minister ist ausgeschlossen. Das alles ist völlig dem Konzept der Kontrolle der Regierung durch den Landtag von 1920 entgegengerichtet. Von daher kann keine Rede davon sein, dass die Verfassung von 1920 die des Jahres 1992 in dieser Frage befruchtet habe. Auch die gegenwärtige Volksgesetzgebung folgt nicht dem Konzept von 1920. Sie geht vielmehr auf die Vorschläge der Demokratie-Initiative 90 zurück. Die Tatsache, dass auch die Verfassung von 1920 Volksbegehren und Volksentscheid vorsah, macht sie nicht zu einem Vorbild der heutigen sächsischen Verfassung. Genauso gut könnte man auf ein gutes Dutzend anderer deutscher Verfassungen hinweisen, die Volksbegehren und Volksentscheid vorsahen und vorsehen. Die sächsische Volksgesetzgebung von 1920 war nicht dreistufig, sondern nur zweistufig. Sie sah beim Volksentscheid ein Beteiligungsquorum von der Hälfte der Stimmberechtigten vor, die heutige sächsische Verfassung sieht ein solches im Regelfall gerade nicht vor. Auch sonst haben beide Verfassungen hinsichtlich Volksbegehren und Volksentscheid wenig Ähnlichkeit.67 66 Damit ist nicht gesagt, dass der Landtag seine ihm von der Verfassung zuerkannten Kontrollmöglichkeiten auch tatsächlich zu nutzen wusste. Der Sächsische Landtag lähmte sich zwischen 1920 und 1933 auf Grund seiner politischen Zusammensetzung nicht selten selbst, so dass die Regierung des Öfteren viel eigenständiger agieren konnte als dies von der Verfassung her vorgesehen war (vgl. dazu beispielsweise Reichelt, Das Staatsleben unter der sächsischen Verfassung vom 1. November 1920, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 32, Leipzig 1928; des Weiteren auch Szejnmann, Vom Traum zum Alptraum – Sachsen in der Weimarer Republik, Leipzig 2000, S. 132 ff. 67 Das Quorum des Volksbegehrens war 1920 mit 10 % der Stimmberechtigten niedriger als jetzt. Ein Volksbegehren musste 1920 bei der Landesregierung eingereicht werden, die es mit eigenen Vorschlägen an den Landtag zu senden hatte. Jetzt ist der Landtag der Partner; die Landesregierung ist kein Verfahrensbeteiligter mehr. 1920 konnte neben Gesetzentwürfen auch die vorzeitige Auflösung des
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Auch das dritte Beispiel geht in die Irre. Die Antwortpfl icht in Art. 51 SächsVerf geht nicht auf Art. 19 Verf FreiSa zurück, sondern auf die Verfassung Schleswig-Holsteins. Wäre die Verfassung von 1920 das Vorbild gewesen, so wäre eine entsprechende Bestimmung mit Sicherheit schon im ersten GohrVerf E enthalten gewesen. Dort sucht man sie aber vergebens. Auch im zweiten GohrVerf E gibt es sie nicht. Sie war sogar bis zum Jahre 1991 noch immer umstritten68 . Erst durch das nachhaltige Insistieren der Oppositionsfraktionen ist diese Bestimmung schließlich doch in die Sächsische Verfassung aufgenommen worden.69 Genauso falsch wie die Behauptung, die Verfassung von 1920 habe die heutige Sächsische Verfassung befruchtet, ist die Behauptung, die Verfassung von 1947 (VerfLandSa) habe „Einfluss“ auf die Verfassungsgebung von 1992 ausgeübt.70 Genau das hat sie nicht. Dafür gibt es weder ein plausibles grundsätzliches Argument noch einen Detailbeleg. Die in dem Vortrag von Staatsminister Heitmann genannten Beispiele für diese Behauptung sind allesamt nicht stichhaltig. Weder hat die Verfassung von 1947 den Grundrechtekatalog von 1992 beeinflusst, auch nicht die Verfahrensgarantien bei Freiheitsentzug, noch die Bestimmungen zum Jugendschutz oder die zum Bildungswesen oder zu den Religionsgemeinschaften, und auch nicht das Volksgesetzgebungsverfahren. Der Grundrechtekatalog hat die oben beschriebenen Quellen, insbesondere das Grundgesetz und den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR. Die Verfahrensgarantie bei Freiheitsentzug in Art. 17 SächsVerf (Art. 16 GohrVerf E) stammt nicht aus Art. 9 II Verf LandSa, sondern aus Art. 104 GG mit Ausnahme von Art. 17 I 2 SächsVerf (Art. 16 I 2 GohrVerf E), der auf Art. 12 II 1 Verf E-DDR zurückgeht. Die Bestimmung des Art. 23 III Verf LandSa zum Jugendschutz enthalten auch zahlreiche andere deutsche Verfassungen, die man stattdessen genauso gut als Vorbild hätte nennen können. Die Bestimmungen zum Jugendschutz in Art. 9 II SächsVerf entstammen nicht Art. 23 III Verf LandSa, sondern Art. 13 BWVerf bzw. Art. 20 Verf E-Gr20. Gleiches gilt allgemein für die Bestimmungen zum Bildungswesen. Auch der Hinweis auf die Bestimmungen über Religionsgemeinschaften überzeugt nicht. Die Verfassung von 1947 rezipiert im Wesentlichen die Weimarer Reichsverfassung. Das Gleiche gilt für zahlreiche andere Landesverfassungen. Die Sächsische Verfassung von 1992 verfährt genauso. Einer Bezugnahme auf die Verfassung von 1947 bedurfte es dafür nicht. Dass die Bestimmungen zu Volksbegehren und Volksentscheid von 1947 nicht die Verfassung von 1992 beeinflusst haben können, ergibt sich sowohl aus der Tatsache, dass auch jene Volksgesetzgebung nur zweistufig war, aber mehr noch aus Art. 59 I Verf LandSa, der das Antragsrecht beim Volksbegehren auf „Parteien und Organisationen“ beschränkt, „die Landtages Gegenstand eines Volksbegehrens sein, jetzt ist das nicht mehr möglich. Einen Volksentscheid auf Regierungsbeschluss wie 1920 (Art. 35 II Verf FreiSa) gibt es jetzt gleichfalls nicht mehr. Auch die Fristenregelungen sind völlig verschieden. Bestimmungen über Fristen beim Volksbegehren und Fristen zwischen Volksbegehren und Volksentscheid enthielt die Verfassung von 1920 überhaupt nicht, sondern überließ sie dem Gesetzgeber. Den Termin für Volksbegehren und Volksentscheid setzte gemäß Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid die Landesregierung (das Gesamtministerium) fest; das Volksbegehren dauerte nur 2 Wochen. 68 Siehe Dissenskatalog des Verfassungs- und Rechtsausschusses in JöR 41 (1993), 137/158. 69 Siehe Protokoll des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 7. Klausurtagung (31. 01.–01. 02. 1992), S. 23 ff. 70 So aber Heitmann, SächsVBl. 1993, 2/4.
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glaubhaft machen, daß sie wenigstens ein Fünftel aller Stimmberechtigten vertreten“. Von einer solchen Beschränkung gibt es in der jetzigen Verfassung keine Spur. Lediglich die Zahl der Abgeordneten des Landtages gleicht in der jetzigen sächsischen Verfassung der Zahl von 1947. Doch selbst hier kann man die Frage stellen, ob die Zahl 120 Abgeordnete71 wirklich aus der Verfassung von 1947 stammt, oder nicht doch aus der gleichen Zahl von Abgeordneten, die der Landtag von Baden-Württemberg aufweist. Die BWVerf legt diese Zahl nicht fest, aber die Mitglieder der Gohrischer Gruppe waren nach ihrem Besuch im Januar 1990 in Stuttgart sehr wohl vertraut mit der im Landtagswahlgesetz von Baden-Württemberg festgelegten Zahl von 120 Abgeordneten.72 Für die Vermutung, dass auch hier die Quelle in BadenWürttemberg zu suchen ist, spricht, dass laut Art. 37 IV GohrVerf E die Zahl 120 Abgeordnete nur „grundsätzlich“ gelten soll, was in Art. 27 I Verf LandSa so nicht steht, und ebenso, dass das Wahlverfahren nach Art. 38 I GohrVerf E sich von dem in Art. 27 II Verf LandSa klar unterscheidet. Das Wahlverfahren des GohrVerf E kann die Zahl 120 nicht für jeden Wahlausgang garantieren, das Wahlverfahren der Verfassung von 1947 kann hingegen sehr wohl die Einhaltung dieser Zahl für jeden Wahlausgang gewährleisten. Dass die Verfassung von 1947 nicht die heutige Sächsische Verfassung beeinflusst haben kann, ergibt sich aber auch und vor allem aus einer grundsätzlichen Überlegung. Es war doch gerade ein wiederholt geäußerter Vorwurf insbesondere an den Leipziger Hochschullehrerentwurf 73 , der ein Gegenentwurf zum Gohrischer Entwurf gewesen war, dass der Hochschullehrerentwurf sich viel zu sehr an „altem Denken“, wie es sich auch in der Sächsischen Verfassung von 1947 ausdrückt, orientiert habe. Genau dieses alte Denken vermeide hingegen der Gohrischer Entwurf, aus dem die Sächsische Verfassung hervorgegangen ist.74 Wie soll sich die neue Sächsische Verfassung dann von der Verfassung von 1947 haben beeinflussen lassen? Dann wäre sie doch von dem gleichen „alten Denken“ infi ziert! Man muss schon sehr viel Ideologie aufsaugen, um die Camouflage nicht zu bemerken, die bei diesen konstruierten historischen Parallelen den Traditionsbruch in der sächsischen Verfassungsgebung von 1990 bis 1992 verdecken möchte.75 71 Die Zahl 120 Abgeordnete sehen sowohl Art. 37 IV GohrVerf E (Art. 49 IV GohrEE) als auch Art. 65 I des Leipziger Hochschullehrerentwurfs vor. Dadurch war diese Zahl auch in allen im Landtag eingereichten Verfassungsentwürfen zu fi nden. In den Beratungen des Verfassungs- und Rechtsausschusses wurde diese Festlegung nicht ein einziges Mal thematisiert, was insofern erstaunlich ist, als dadurch zwangsläufig mindestens ein Viertel der 160 Abgeordneten des ersten Landtages mit Ablauf der Legislaturperiode im Jahre 1994 ihr Mandat verlieren mussten. 72 § 1 I LWG Baden-Württemberg. 73 Wortlaut des Leipziger Hochschullehrerentwurfs in JöR 42 (1994), 253. 74 So v.Mangoldt, SächsVBl. 1993, 25/28; ebenso v.Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Bd. 15, 2. Aufl., Berlin 1997, S. 29 f.; geradezu vernichtend das Urteil über die Verfassung von 1947 bei Drehwald/Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, Leipzig 1998, S. 58 ff. 75 Ganz unberechtigt ist der Hinweis in der Präambel auf „Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte“ dennoch nicht. Die jetzige Verfassung steht schon in der Tradition ihrer Vorgängerinnen bei dem sukzessiven Bemühen, die staatliche Gewalt an Gesetz und Recht zu binden und demokratisch zu legitimieren (so zutreffend Heitmann, SächsVBl. 1993, 2; dazu auch Kunzmann BHK Präambel Rn. 9). Die Begriffe „Befruchtung“ oder „Beeinflussung“ implizieren aber eine direkte Einflussnahme auf konkrete Regelungen. Dazu ist es entstehungsgeschichtlich eindeutig nicht gekommen.
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2.2. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit Bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit konnte bezüglich Wiedergutmachung begangenen Unrechts auf Art. 183 BayVerf, der sich mit der Wiedergutmachung von Unrecht aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befasst, zurückgegriffen werden. Für die Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst boten sich in gewissem Maße die Artikel 131, 132 und 139 GG als Vorbilder an.76 Der deutsch-deutsche Einigungsvertrag (EV) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entworfen. Erst im zweiten Gohrischer Entwurf wurde Art. 117 GohrVerf E durch Anlage I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 EV ersetzt. Art. 131, 132 u. 139 GG waren jedoch nur bedingt geeignet, als Vorbilder zu dienen, denn bei Inkrafttreten des GG war durch Zusammenbruch des NS-Staates 1945 und vier Jahre alliierte Besatzungsmacht viel mehr an Veränderungen im öffentlichen Dienst geschehen als in den wenigen Monaten von Dezember 1989 bis Juli 1990 in der DDR. Ausgehend von Art. 99 Verf E-Gr20 wurde mit der „Eignungsprüfung“ in Art. 117 GohrVerf E ein Verfahren eingeführt, das schließlich in die aus heutiger Sicht problematischen Artikel 118 und 119 SächsVerf mündete.77 Von den Verfassungen der anderen neuen Länder befasst sich nur die Thüringische Verfassung mit der Frage der Nichteignung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die für das MfS tätig waren (Art. 96 II ThürVerf ). Vergleichbares zu Art. 116 SächsVerf (Wiedergutmachung), 117 SächsVerf (Aufarbeitung der Vergangenheit) und 118 SächsVerf (Abgeordneten- oder Ministeranklage wegen Zusammenarbeit mit dem MfS) fi ndet man in den übrigen Verfassungen der neuen Länder nicht.78
2.3. Das Staat-Kirche-Verhältnis Die Kirchenartikel sind im Gohrischer Entwurf sehr ausführlich angelegt und gehen über das in Landesverfassungen übliche Maß hinaus. Im Erstentwurf waren sogar noch ausführlichere Bestimmungen vorgesehen, von denen Art. 123 III GohrEE (Recht zur Stellungnahme in gesellschaftliche Fragen) und Art. 128 GohrEE (Recht zur Seelsorge an Wehrpfl ichtigen) keinen Eingang in den Gohrischer Entwurf fanden. Dafür bestand auch keine echte Notwendigkeit, denn Art. 123 III GohrEE war bereits von Art. 110 I GohrVerf E abgedeckt und Art. 128 GohrEE von Art. 110 III GohrVerf E i.V.m. Art. 141 WRV. Ohne Vorbilder sind insbesondere Art. 112 I 2 GohrVerf E (Gleichstellung kirchlicher und staatlicher Ausbildungseinrichtungen) 79, Art. 113 II GohrVerf E bzw. 127 III GohrEE (staatliche und kommunale Unterstützung von gemeinnützigen Einrichtungen und Anstalten der Kirchen und Religionsgemeinschaften) und Art. 113 III GohrVerf E bzw. 127 IV GohrEE (bauliche Unterhaltung von kirchlichen Baudenkmalen). Teilweise ohne Vorbild ist 76
Vgl. Fn. 29 bis 31. Vgl. Kunzmann BHK Art. 118 Rn. 9 ff. u. Art. 119 Rn. 9. 78 Art. 116 SächsVerf ist bereits durch Art. 116 GohrVerf E bzw. Art. 131 GohrEE vorgeformt gewesen. Die Artikel 117 und 118 SächsVerf sind erst im Verfassungs- und Rechtsausschuss eingefügt worden. Art. 119 SächsVerf hat unter Bezugnahme auf den EV Art. 117 des ersten GohrVerf E ersetzt. 79 Im GohrEE noch nicht enthalten. 77
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auch Art. 112 II GohrVerf E bzw. Art. 126 II GohrEE, soweit es um die Besetzung von Lehrstühlen für Religionspädagogik geht. In diesen Bereichen hat die Erinnerung an die Schwierigkeiten der Kirchen in der DDR-Gesellschaft Pate gestanden, die nun auf dem Weg über spezielle Regelungen in der Verfassung behoben werden sollten.80 Die Bestimmung in Art. 111 II erster GohrVerf E bzw. Art. 125 II GohrEE über die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von kirchlichen Einrichtungen der Sozialarbeit ist dann im zweiten Gohrischer Entwurf aufgegeben worden. Mit den relativ ausführlichen Regelungen über Kirchen und Religionsgemeinschaften wurde in Sachsen für das Staat-Kirche-Verhältnis eine neue Grundlage gelegt. Obgleich sich wie in den anderen neuen Bundesländern auch in Sachsen nur eine Minderheit der Bevölkerung zu einer Religion bekennt 81, wird den Kirchen und Religionsgemeinschaften damit eine gewichtige Stellung im gesellschaftlichen Leben des Landes eingeräumt. Ein Stück weit wirkt hier die Bedeutung der Kirchen in der DDR nach, die für oppositionelle Gruppierungen eine gewisse, wenngleich begrenzte Schutzfunktion ausübten.82 Dem tragen auch die Verfassungen der anderen neuen Länder Rechnung, die allerdings im Bereich Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht so weit wie gehen wie die Sächsische.83
2.4. Der Bereich Bildung Der Artikel zur Beruf bildung (Art. 107 GohrVerf E) ist in der Gohrischer Gruppe entstanden aus der Feststellung, dass zwar die Schul- und die Hochschulbildung geregelt sind, nicht aber die Berufsbildung.84 Insoweit bildet er mit seiner Festschreibung des dualen Berufsbildungssystems eine sächsische Besonderheit.85 Auch die Festschreibung von Schülervertretungen, die neben die Elternvertretungen treten, füllt eine Regelungslücke anderer Landesverfassungen. Im Verf E-Gr20 taucht der Gedanke an eine Schülervertretung erstmals auf86 , wurde anschließend von Art. 118 II GohrEE konkretisiert und von Art. 105 II GohrVerf E übernommen. Bei den Erziehungszielen hat der Verfassungs- und Rechtsausschuss mit einer Ergänzung des Art. 102 GohrVerf E eine klare Absage an Art. 12 II BWVerf vorgenommen, indem er einen Absatz anfügte, der unzweideutig das Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, zur Grundlage des Erziehungs- und Schulwesens 80
Der GohrEE ist diesbezüglich im Bezirkskirchenamt Dresden der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen konzipiert worden, wo diese Schwierigkeiten über lange Jahre allgegenwärtig waren. Dadurch wird auch erklärlich, dass in Art. 126 II GohrEE zunächst nur vom Theologischen Lehrstuhl an der Universität Leipzig die Rede ist, der im Benehmen mit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen besetzt werden sollte. 81 Vgl. Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 109 Rn. 2. 82 Vgl. Heitmann, ZevKR 39 (1994), 402; kritisch insbesondere Besier, Der SED-Staat und die Kirche 1983–1991, Berlin 1995. 83 Vgl. Art. 36, 37 u. 38 BbgVerf, Art. 9 u. 19 II MVVerf Art. 27 III u. Art. 32 LSAVerf, Art. 25, 40 u. 41 ThürVerf. 84 Auch im GohrEE wird die Berufsbildung noch nicht genannt. 85 Vgl. Baumann-Hasske BHK Art. 106 Rn. 1. 86 Art. 23 I Verf E-Gr20: „An jeder Schule sind die Auszubildenden wesentlich in die Gestaltung des schulischen Lebens einzubeziehen.“
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erklärt (Art. 101 II SächsVerf ).87 Dem Land steht demgegenüber eine Wächterfunktion zu (Art. 22 III 2 SächsVerf ).88 Schließlich geht der Gohrischer Entwurf auch beim Religionsunterricht einen eigenen Weg. Er verzichtet bewusst auf die Anwendung der Bremer Klausel (Art. 141 GG) 89 und führt parallel zum Religionsunterricht abweichend von Art. 18 Satz 1 BWVerf Ethikunterricht als gleichwertigen Ersatzunterricht ein (Art. 106 I GohrVerf E).90 Von den Verfassungen der anderen neuen Länder führen nur die SachsenAnhalts (Art. 27 III LSAVerf ) und Thüringens (Art. 25 I ThürVerf ) den Ethikunterricht als gleichwertigen Ersatzunterricht zum Religionsunterricht ein. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern regeln diese Frage in ihrer Verfassung nicht, sondern überlassen diese Entscheidung dem Landesschulgesetz.91
2.5. Die Sachverständigenräte Die Sachverständigenräte des Gohrischer Entwurfs sind ein Projekt, das keinem Vorbild folgt. Sie entspringen einer Gesellschaftsvorstellung, nach der externer Sachverstand außerhalb der durch demokratische Wahlen legitimierten Verfassungsorgane in Legislative und Exekutive für diese zwei Säulen staatlicher Gewalt nutzbar gemacht und in ein verfassungsmäßig geregeltes Verfahren der Politikberatung und des gesellschaftlichen Diskurses eingebunden wird. Bei den ausgewählten Sachgebieten soll es um jene gehen, denen eine besondere Bedeutung in der modernen Gesellschaft zukommt (Art. 65 I GohrVerf E bzw. Art. 73 I GohrEE). Im Unterschied etwa zu fallweise gebildeten parlamentarischen Enquête-Kommissionen soll den Sachverständigenräten sogar ein Initiativrecht zustehen (Art. 65 II GohrVerf E bzw. Art. 73 II GohrEE). Ihre Mitglieder werden – etwa im Unterschied zu den Verfassungsrichtern – nur zur Hälfte von Regierung und Parlament ausgewählt. Zur anderen Hälfte sollen sie ähnlich wie die Mitglieder des früheren Bayerischen Senats (Art. 34 BayVerf92 ) von berufsständischen Organisationen kommen (Art. 65 VI GohrVerf E bzw. Art. 73 VI GohrEE). Der Verfassungsentwurf schweigt sich über ihre Amtszeit aus. Es ist daher eventuell beabsichtigt gewesen, sie möglicherweise sogar auf Lebenszeit zu berufen. 87 Vgl. Baumann-Hasske/Kunzmann BHK Vorb. vor Art. 101 Rn. 4; Art. 101 II SächsVerf atmet in dieser Frage den Geist des Verf E-Gr20, vgl. Art. 18 II Verf E-Gr 20 und Art. 23 II u. III Verf E-Gr20. 88 Vgl. Baumann-Hasske BHK Art. 101 Rn. 6. 89 Das wäre durchaus möglich gewesen: Kunzmann BHK Art. 105 Rn. 3. 90 Im GohrEE war der Ethikunterricht als gleichwertige Alternative zum Religionsunterricht noch nicht vorgesehen. Vielmehr folgt Art. 119 I GohrEE wörtlich Art. 18 Satz 1 und 2 BWVerf. Die Vermutung liegt nahe, dass die Alternative in Art. 106 I 1 GohrVerf E durch Art. 137 II BayVerf angeregt wurde. 91 In Brandenburg wurde das Fach Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde (LER) eingeführt (§ 11 II BbgSchulG), von dem man sich befreien lassen kann, wenn man nachweislich Religionsunterricht besucht, der aber kein ordentliches Lehrfach ist (§ 11 III 4 u. 5 BbgSchulG). In Mecklenburg-Vorpommern wird Religionsunterricht in den Schulen als ordentliches Lehrfach angeboten (§ 7 I MVSchulG), von dem man sich abmelden kann, was die Verpfl ichtung zum Besuch eines Ersatzunterrichts nach sich zieht, dessen Inhalt sich nach der Klassenstufe richtet (§ 7 II MVSchulG). 92 Seit dem 01. 01. 2000 aufgehoben.
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Ein in Form eines Sachverständigenrates konstituierter „Rat der Weisen“ wäre eine Perpetuierung einer des Öfteren, aber stets nur fallweise in der Politik angewandten Methode, mit der ein Weg aus einer besonders schwierigen Lage gefunden werden soll. So hat etwa der Europäische Rat im Dezember 2007 einen Rat der Weisen zur Zukunft Europas berufen. Ihm gehörten herausragende ehemalige Politiker sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft an.93 Er sollte zu wichtigen EU-Themen analysieren, wie nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages Lösungen zur Fortführung des Integrationsprozesses gefunden werden könnten. Zu dem umfassenden Themenspektrum des Rates zählten wirtschaftlicher Erfolg, soziale Verantwortung, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, Rechtsstaatlichkeit, nachhaltige Entwicklung, weltweite Stabilität, Migration, Energie und Klimaschutz sowie die Bekämpfung der Unsicherheit in der Welt, der internationalen Kriminalität und des Terrorismus.94 Ein Teil dieser Themen fiele in die Sachgebiete des Art. 65 I GohrVerf E: Ethische Grundlagen der Gesellschaft, Theologie und Religion, Wirtschaft, Recht, Finanzen, Ökologie, Arbeit und Soziales, Kunst und Kultur, Bildung. Gleichermaßen könnte die von der Bundesregierung zur Vorbereitung des Atomausstiegs im März 2011 berufene Ethikkommission als ein solcher Rat der Weisen verstanden werden. Die Bundesregierung hat die Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ berufen, um die verantwortungsethischen Entscheidungsgrundlagen und ihre Schlussfolgerungen ganzheitlich zu betrachten. Die Kommission sollte dabei die drei Säulen der Nachhaltigkeit berücksichtigen: intakte Umwelt, soziale Gerechtigkeit und gesunde Wirtschaftskraft.95 Auch eine solche Aufgabe wäre in den Kompetenzbereich der Sachverständigenräte gefallen. Die im Gohrischer Entwurf vorgesehenen Sachverständigenräte sind jedoch vom Verfassungs- und Rechtsausschuss des Landtages schließlich verworfen worden.96 Bei den Abgeordneten stieß die Idee der Sachverständigenräte von vorn herein und fraktionsübergreifend auf wenig Gegenliebe. Sie zogen ihre Funktionalität und insbesondere ihre Legitimation in Zweifel.97 Einige Abgeordnete wollten die Sachverständigenräte durch Enquête-Kommissionen oder auch eine Verbands- und Kommunal93
Der Rat bestimmte den ehemaligen Ministerpräsidenten von Spanien, Felipe González Márquez, zum Vorsitzenden und zu dessen Stellvertretern die frühere lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga und den früheren Vorsitzenden von Nokia Jorma Ollila. (Quelle: Rat der EU, Schlussfolgerungen des Vorsitzes vom 14. 12. 2007, Ratsdokument 16616/07/REV 1 vom 14. 02. 2008, Punkt 11). Mit dem Beschluss des Europäischen Rates vom 15./16. 10. 2008 wurde das Gremium vervollständigt. Zu den vom Vorsitzenden vorgeschlagenen und vom Rat ernannten weiteren Mitgliedern zählten Lykke Friis, (Prorektorin der Universität Kopenhagen), Rem Kohlhaas (Architekt), Richard Lambert (Generaldirektor für die Konföderation der britischen Industrie und ehemaliger Herausgeber der Financial Times), Mario Monti (ehemaliger Wettbewerbskommissar), Kalypso Nicolaidis (Professorin an der Universität Oxford), Nicole Notat (ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft CFDT in Frankreich), Rainer Münz (Wirtschaftswissenschaftler), Wolfgang Schuster (Oberbürgermeister von Stuttgart) und Lech Wałe˛sa (ehemaliger polnischer Staatspräsident). (Quelle: http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/rat-der-weisen-eu-droht-irrelevanz-003075 ). 94 Rat der EU, Schlussfolgerungen des Vorsitzes vom 14. 12. 2007, a.a.O. (Rn. 93), Punkt 8. 95 www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/2011/05/2011-05-30-abschlussbericht-eth ikkommission,property=publicationFile.pdf. 96 Vgl. Mittag BHK Vorb. vor Art. 59 Rn. 5; Protokoll des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 5. Klausurtagung (02-03. 05. 1991), S. 36 f. 97 Protokoll des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 1. Klausurtagung (21.–22. 12. 1990), S. 18 ff.
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repräsentanz ersetzt sehen.98 Aufnahme in die Sächsische Verfassung hat schließlich keiner dieser Vorschläge gefunden.99
3. Der Analysebefund Die Sächsische Verfassung ist das Produkt einer Reagenzmischung aus mehreren Ingredienzien. Löst man das Endprodukt oder auch die evolutionären Zwischenprodukte ihrer Ontogenese, die zu dem Endprodukt geführt haben, in einer wässrigen Lösung in ihre Einzelbestandteile auf und vergleicht sie wie bei einer Spektralanalyse mit signifi kanten Linien potenzieller Quellen auf Übereinstimmung, so kommt man zu einem durchaus aufschlussreichen Befund. Die meisten Rohstoffe kommen von der Plantage der Verfassung Baden-Württembergs, gefolgt vom Grundgesetz. Auf Platz drei landet der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, gefolgt von der Bayerischen Verfassung. Zieht man die Arbeit des Verfassungs- und Rechtsausschusses mit in Betracht, so liegt wohl die Verfassung Schleswig-Holsteins nahezu gleichauf mit der Bayerns. Schwierig einzuordnen ist der Beitrag des Verfassungsentwurfs der „Gruppe der Zwanzig“. Er ist ja nur in wenigen Teilen eine eigenständige Quelle.100 So wichtig er verfahrensseitig für den Gohrischer Entwurf war, so wenig hat er sich materiell niedergeschlagen. Die wenigen eigenständigen Beiträge dieses Entwurfs haben die Sächsische Verfassung letztendlich im Einzelnen nicht sehr viel stärker geprägt als die Beiträge der Demokratie-Intiative 90. Im Umfang noch etwas begrenzter war der Einfluss der beiden übrigen untersuchten Quellen: des Internationalen Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und des Haushaltsgrundsätzegesetzes, die am Ende jeweils in einem Artikel ihren Niederschlag gefunden haben. Die Sächsische Verfassung ist trotz der benutzten Quellen weder eine einfache Kopie einer oder mehrerer Originalquellen noch ein Sammelsurium verschiedener Quellbeiträge, sondern eine eigenständige Verfassung, die im Rahmen des Homogenitätsgebots von Art. 28 GG eigenen Grundprinzipien folgt, die einzelnen Beiträge und die wenigen eigenständigen Elemente nach ihrer Zweckdienlichkeit ausgewählt, gegebenenfalls modifiziert und in sich stimmig integriert, teilweise auch systematisch neu geordnet hat. So schuf sie die rechtliche Grundlage für den demokratischen Neuanfang in Sachsen nach 1989. Sie setzt insoweit ihren in der Präambel formulierten Anspruch auf eine eigene Art um:
98 Dieser Gedanke fand im sogenannten „Landesforum“ (Abschnitt 8 des Leipziger Hochschullehrerentwurfs, vgl. Fn. 73) eine konkrete Ausformung. 99 Vgl. Kunzmann in: Kunzmann/Haas/Baumann-Hasske, Die Verfassung des Freistaates Sachsen, Kommentierte Textausgabe, 2. Aufl., Berlin 1997, Vorb. vor Art. 39 Rn. 10 f. 100 In gewissem Sinne könnte man ähnliches von Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR sagen, der sich ja auch stark an das GG anlehnt und in wenigen Teilen auch an westdeutsche Landesverfassungen. Sein Innovationsgehalt gegenüber dem GG ist aber doch deutlich größer als der Entwurf der „Gruppe der Zwanzig“ gegenüber der Verfassung Baden-Württembergs. Das ist allein schon erklärlich durch die sehr unterschiedliche Bearbeitungszeit, Bearbeitungsintensität und Bearbeitungskapazität.
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„Anknüpfend an die Geschichte der Mark Meißen, des sächsischen Staates und des niederschlesischen Gebietes, gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte, ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft ...“
hat die vierte sächsische Verfassung eine neue, die dritte sächsische Republik entstehen lassen. Diese Republik ist mit ihren jetzt mehr als 20 Jahren bereits deutlich älter als ihre beiden Vorgängerinnen je geworden sind. Ob diese dritte Republik aus ihren Möglichkeiten mehr zu machen versteht als ihre kurzlebigen Vorgängerinnen wird dennoch erst die Zukunft zeigen.
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Textanhang Dokumente zur Entstehung des Gohrischer Entwurfs für eine neue sächsische Verfassung aus dem Jahre 1990 Nachfolgend werden erstmals drei entstehungsgeschichtlich relevante Dokumente aus der Arbeit der Unterarbeitsgruppe Länderbildung/Landesverfassung der Fachgruppe 11 der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg publiziert. Die Originale aus dem Jahre 1990 befi nden sich im Privatarchiv des Verfassers. In der nachfolgenden Dokumentation wurde die damalige (alte) deutsche Rechtschreibung der Originale beibehalten. Einige wenige offensichtliche orthografische und grammatikalische Schreibfehler im Originaldokument sind hingegen stillschweigend korrigiert worden. 1. Einladung des Leiters der Unterarbeitsgruppe Länderbildung/Landesverfassung der Fachgruppe 11 der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg, Steffen Heitmann, vom 21. 05. 1990 an die Mitglieder der Arbeitsgruppe zu einer Sitzung der sächsischen Mitglieder für den 28. 05. 1990 (in Faksimile) (Anhang I) Auf dieser Sitzung wurde eine erste Gesamtfassung der Abschnitte I bis VIII besprochen. Die Abschnitte I bis VIII waren für die Besprechung am 28. 05. 1990 im Bezirkskirchenamt Dresden vom Leiter des Amtes, Steffen Heitmann, aus verschiedenen Vor- und Zuarbeiten zusammengestellt worden. Die Entwürfe der Abschnitte IX bis XIII lagen erst auf der nächsten Klausurtagung am 14./15. 06. 1990 in Gohrisch vor. Während am 28. 05. 1990 in Dresden nur die sächsischen Mitglieder der Unterarbeitsgruppe zusammenkamen, nahmen an der Sitzung am 14./15. 06. 1990 in Gohrisch auch die Berater aus Baden-Württemberg teil. 2. Die Erstfassung des Entwurfs für eine neue sächsischen Verfassung von 1990 – der Gohrischer Entwurf in der Fassung vom 14. 06. 1990 („Gohrischer Erstentwurf“ – GohrEE) (Anhang II) Die Unterarbeitsgruppe Länderbildung/Landesverfassung der Fachgruppe 11 der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg hat sich für die Erarbeitung ihres Verfassungsentwurfes weitaus mehr Zeit genommen als alle anderen Gruppen, die 1990 mit Verfassungsentwürfen für Sachsen hervorgetreten sind. Während der Entwurf der „Gruppe der Zwanzig“ das Werk weniger Tage war, der Entwurf des Bezirkstages Dresden in 14 Tagen und der Leipziger Hochschullehrerentwurf in weniger als einem Monat entstanden waren, nahm sich die Fachgruppe der Gemischten Kommission mehr als 3 Monate Zeit. Die Ergebnisse ihrer Arbeit, der erste und der zweite Gohrischer Entwurf, sind hinreichend publiziert worden. Hier soll als Einblick in die Arbeit der Fachgruppe der Erstentwurf nachgereicht werden, der am 14.
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Juni 1990 erstmalig als Vollentwurf vorlag und die Grundlage der weiteren Beratungen bis zum 28. Juli 1990 bildete. Der hier publizierte erste Arbeitsentwurf stellt ein aussagekräftiges Bindeglied in der Genese der sächsischen Verfassung dar, das die Brücke bildet von den Entwürfen der Gruppe der Zwanzig und des Zentralen Runden Tisches der DDR sowie der Verfassung Baden-Württembergs und anderer Quellen zum ersten Gohrischer Entwurf für die neue sächsische Landesverfassung, der am 5. August 1990 veröffentlicht wurde. 3. Der Vorschlag der DEMOKRATIE INITIATIVE 90 zur Ausgestaltung der Volksgesetzgebung in der Verfassung des Landes Sachsen vom 18. April 1990 (Anhang III) Dieser Vorschlag wurde von dem Aktivisten der Demokratie Initiative 90 (Sektion DDR) Ralf Donner aus Dresden an die Fachgruppe 11 der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg gesandt, wo er am 20. 04. 1990 einging. Der Absender war später Mitglied des Sächsischen Landtages und dort Stellvertretender Vorsitzender des Verfassungs- und Rechtsausschusses.
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Anhang I: Einladung
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Anhang II: Verfassung des Landes Sachsen (Entwurf ) Präambel Ausgehend von den Erfahrungen aus Jahrzehnten nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und stalinistischer Willkür, anknüpfend an die mehr als tausendjährige Geschichte der Mark Meißen und des sächsischen Staates, gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte, hat sich in Fortführung der friedlichen Oktoberrevolution des Jahres 1989 das Volk des Landes Sachsen, die einen auf Gott vertrauend, die anderen dem Ideal einer besseren Zukunft verpfl ichtet, am …, im Jahr der nationalen und föderativen Wiedergeburt Ostdeutschlands, durch Volksentscheid die nachfolgende Verfassung gegeben: I. Abschnitt Die Grundlagen des Staates Artikel 1 Staatsfundamentalnormen (1) Das Land Sachsen ist ein demokratischer, republikanisch verfasster Staat im deutschen Bundesstaat. (2) Das Land Sachsen ist ein sozialer Rechtsstaat. (3) Das Land Sachsen ist ein ökologisch orientierter Staat. (4) Das Land Sachsen ist ein Kulturstaat. Artikel 2 Ausübung und Teilung der Staatsgewalt (1) Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (2) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (3) Die Gesetzgebung steht dem Landtag oder unmittelbar dem Volke zu. Die vollziehende Gewalt liegt in der Hand von Landesregierung und Verwaltung. Die Rechtsprechung wird durch unabhängige Richter ausgeübt. Artikel 3 Staatsziel- und Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt) (1) Die in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele sind bei allen grundsätzlichen Ent-
scheidungen der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt angemessen und gegeneinander abgewogen zu berücksichtigen. (2) Die in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Artikel 4 Wahl- und Abstimmungsgrundsätze (1) Alle nach der Verfassung durch das Volk vorzunehmenden Wahlen und Abstimmungen sind allgemein, frei, gleich, unmittelbar und geheim. (2) Wahl- und stimmberechtigt ist jeder deutsche Staatsangehörige, der im Lande seinen Wohnsitz hat und am Tage der Wahl oder Abstimmung das 18. Lebensjahr vollendet hat. (3) Ausgeschlossen vom Wahl- und Stimmrecht ist a) wem infolge Richterspruchs das Wahl- und Stimmrecht entzogen ist; b) wer entmündigt ist oder wegen eines geistigen Gebrechens unter Pflegschaft steht. (4) Im übrigen sind die Wahl- und Abstimmungsgrundsätze durch Gesetz zu bestimmen. Dabei kann ein Wahl- und Stimmrecht für Ausländer und Staatenlose eingeräumt werden. Das Wahl- und Stimmrecht kann von einer bestimmten Dauer des Aufenthaltes im Lande und, wenn der Wahl- und Stimmberechtigte mehrere Wohnungen inne hat, auch davon abhängig gemacht werden, daß seine Hauptwohnung im Lande liegt. Artikel 5 Völkerrecht, Bundesrecht und Landesrecht (1) Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Landesrechts. Sie gehen der Verfassung und den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pfl ichten unmittelbar die Bewohner des Staatsgebietes. (2) Das vom deutschen Bundesstaat nach Maßgabe seiner Verfassung gesetzte Recht geht dem Landesrecht vor. Artikel 6 Schutz nationaler Minderheiten (1) Das Land achtet die Interessen nationaler Minderheiten, die im Lande leben. Es gewährleistet und schützt ihr Recht auf Bewahrung ihrer
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung nationalen Identität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Tradition. (2) Sprache und Kultur der Sorben unterliegen besonderer Förderung des Landes. In der Landes- und Kommunalplanung sind die Lebensbedürfnisse der Sorben besonders zu berücksichtigen. Kandidaten sorbischer Volkszugehörigkeit dürfen bei Wahlen nicht benachteiligt sein. Näheres bestimmt ein Gesetz. Artikel 7 Landeshauptstadt und Landessymbole (1) Das Staatsgebiet des Landes umfaßt die ehemaligen Bezirke Chemnitz, Dresden und Leipzig der Deutschen Demokratischen Republik, ausgenommen die Kreise … und einschließlich der Kreise … (2) Die Hauptstadt des Landes ist Dresden. (3) Die Landesfarben sind Weiß und Grün. (4) Das Landeswappen ist ein in einem von Schwarz und Gold zehnfach quergestreiften Feld schrägrechter grüner Rautenkranz.
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Artikel 10 Anerkennung des Rechts auf Wohnraum (1) Das Land anerkennt das Recht eines jeden Menschen auf angemessenen Wohnraum. (2) Es ist Pfl icht des Landes, alles in seinen Kräften stehende zu tun, den Bewohnern angemessenen Wohnraum zu vermitteln, zu schaffen und zu erhalten. Es hat den sozialen Wohnungsbau und die Schaffung alters- und behindertengerechten Wohnraums zu fördern.
II. Abschnitt Die Staatsziele
Artikel 11 Anerkennung des Rechts auf soziale Sicherung (1) Das Land anerkennt das Recht eines jeden Menschen auf soziale Sicherung gegen die Folgen von Krankheit, Unfall, Invalidität, Behinderung, Alter und Arbeitslosigkeit. (2) Es ist Pfl icht des Landes, dieses Recht durch öffentlich-rechtliche Versicherungssysteme zu gewährleisten und in besonderen Notlagen Sozialfürsorgeleistungen zu gewähren. (3) Das Land und die Träger der Selbstverwaltung sorgen für die Rehabilitation Behinderter, die Pflege alter Menschen und die Pflege und Förderung von Waisen und verlassenen Kindern.
Artikel 8 Anerkennung und Schutz der Würde des Menschen (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Land anerkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein und auf angemessenen Lebensunterhalt. Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist Verpfl ichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Land anerkennt die unverletzlichen Menschenrechte, die sich sowohl in den politischen und zivilen Rechten als auch in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten darstellen.
Artikel 12 Schutz und Förderung von Ehe und Familie (1) Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutz und unter besonderer Förderung des Landes. Dabei sind andere, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften vor Diskriminierung zu schützen. (2) Das Land ist verpfl ichtet, jeder Mutter Schutz und Fürsorge zuteil werden zu lassen. (3) Die Pflege und Erziehung der Kinder in der Familie hat Vorrang. Sie ist zu fördern durch Gewährung angemessener Hilfen für die Erziehungsberechtigten.
Artikel 9 Anerkennung des Rechts auf Arbeit (1) Das Land anerkennt das Recht eines jeden Menschen auf Arbeit oder Arbeitsförderung. (2) Es ist Pfl icht des Landes, alles in seinen Kräften stehende zu tun, den arbeitsfähigen und –willigen Bewohnern Arbeitsplätze zu vermitteln, zu schaffen und zu erhalten, berufl iche Weiterbildung und Umschulung zu fördern sowie unverschuldet Arbeitslose zu unterstützen.
Artikel 13 Kinder- und Jugendschutz (1) Kinder genießen den besonderen Schutz des Landes vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung und Mißhandlung. Kinderarbeit ist verboten. (2) Die Jugend ist vor sittlicher, geistiger und körperlicher Gefahr besonders zu schützen. Hierzu trifft das Land Vorsorge durch entsprechende Gesetze. Dazu nötige Einrichtungen sind durch das Land und die Träger der Selbstverwaltung zu fi nanzieren.
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Artikel 14 Friedens- und Abrüstungspfl icht Das Land ist als Teil des deutschen Bundesstaates verpfl ichtet, nach seinen Kräften alles zu unterstützen, was dem friedlichen Miteinander der Völker und Staaten in Europa und in der Welt sowie der Abrüstung dient. Artikel 15 Gerechtigkeitspfl icht Das Land ist als Teil des deutschen Bundesstaates verpfl ichtet, nach seinen Kräften alles zu unterstützen, was der gerechten Verteilung der Güter dieser Welt unter den Völkern dient. Artikel 16 Pfl icht zur europäischen Integration Das Land ist als Teil des deutschen Bundesstaates verpfl ichtet, nach seinen Kräften alles zu unterstützen, was der europäischen Einigung dient. Es hat zu diesem Zweck grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit anzustreben und zu pflegen. Artikel 17 Gemeinwohlpfl ichtigkeit wirtschaftlicher Tätigkeit (1) Das Land fördert die wirtschaftliche Tätigkeit und schafft den rechtlichen Rahmen für die freie Entfaltung einer sozialen und ökologisch orientierten Marktwirtschaft. (2) Das Land hat nach Maßgabe seiner Möglichkeiten dafür Sorge zu tragen, daß die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit im Lande dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle, der allmählichen Verbesserung der Lebenshaltung aller Bewohner und den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit dient. Es hat die ökologische Verträglichkeit aller wirtschaftlichen Tätigkeit zu überwachen. (3) Das Land hat die Bildung von Kartellen und marktbeherrschenden Unternehmen zu unterbinden. Ausnahmen sind nur auf gesetzlicher Grundlage im Interesse der Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze, der Förderung strukturschwacher Regionen und der Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zuzulassen. Artikel 18 Umwelt- und Lebensschutz (1) Der Schutz der Umwelt als Lebensgrundlage gegenwärtiger und künftiger Generationen ist Pfl icht des Landes und aller seiner Bewohner. Die Umweltpolitik des Landes hat Vorsorge gegen das Entstehen schädlicher Umwelteinwir-
kungen zu treffen sowie auf den sparsamen Gebrauch und die Wiederverwendung nichterneuerbarer Rohstoffe und die sparsame Nutzung von Energie hinzuwirken. (2) Eine schwere Beeinträchtigung oder Gefährdung der natürlichen Umwelt darf nur in dem Umfang zugelassen werden, als dies zum Schutz überragend wichtiger Interessen der Allgemeinheit unerlässlich ist. (3) Niemandes Gesundheit darf durch nachteilige Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen unzumutbar gefährdet werden. (4) Wer Umweltschäden verursacht, haftet für die Folgen und ist für Ausgleichsmaßnahmen verantwortlich. (5) Tiere und Pfl anzen als Teile der natürlichen Umwelt und Partner des Menschen sind Träger eigener Würde und genießen den besonderen Schutz des Landes. (6) Genetische Forschung wird durch Gesetz geregelt. Eingriffe in das genetische Erbmaterial des Menschen zu dessen Manipulation sind auszuschließen. (7) Das Nähere bestimmen Gesetze. Artikel 19 Schutz von Grund und Boden (1) Grund und Boden sind Teil der Natur und wesentliche Grundlagen des Lebens. Die Nutzung des Bodens und der Gewässer ist deshalb in besonderem Maße den Interessen der Allgemeinheit und künftiger Generationen verpfl ichtet. (2) Bei der planerischen Umwandlung von Boden in Bauland durch die kommunale und regionale Bauplanung sind stetes ökologische und soziale Ziele durchzusetzen. Der Bodenspekulation ist mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen. (3) Der Abbau von Bodenschätzen bedarf der Genehmigung des Landes. Dabei ist dem öffentlichen Interesse an der schonenden Nutzung des Bodens besonderes Gewicht beizumessen. (4) Das Land anerkennt das Recht jeden Bewohners auf Genuss der Naturschönheiten und Erholung in der freien Natur. Das Land und die Träger der Selbstverwaltung sind verpfl ichtet, der Allgemeinheit die Zugänge zu Bergen, Wäldern, Feldern, Seen und Flüssen zu ermöglichen. Dabei ist jeder Bewohner zu verpfl ichten, mit Natur und Landschaft pfleglich umzugehen. (5) Das Nähere bestimmen Gesetze. Artikel 20 Kulturförderung (1) Das Land fördert das künstlerische, kulturelle und wissenschaftliche Schaffen. Es sichert die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft in
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung Forschung und Lehre. Die Erzeugnisse der künstlerischen, kulturellen und wissenschaftlichen Arbeit genießen den Schutz und die Fürsorge des Landes. (2) Denkmale der Architektur, der Kunst und der Geschichte stehen unter dem Schutz und der Pflege des Landes und der Träger der Selbstverwaltung. (3) Die Teilnahme an den Kulturgütern des Lebens ist dem gesamten Volk zu ermöglichen. Zu diesem Zweck unterhalten und fördern das Land und die Träger der Selbstverwaltung öffentlich zugängliche Museen, Bibliotheken, Archive, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten, musikalische und weitere kulturelle Einrichtungen sowie jedermann zugängliche Universitäten, Hochund andere Schulen und weitere Bildungsanstalten. III. Abschnitt Die Grundrechte Artikel 21 Recht auf Wahrung der Würde des Menschen Jeder hat das Recht auf Wahrung seiner Würde. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist Quelle aller Grundrechte. Artikel 22 Freiheitsgrundsatz (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder die allgemeinen sittlichen Anschauungen verstößt. (2) Niemand kann zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung gezwungen werden, wenn nicht ein Gesetz oder eine auf Gesetz beruhende Bestimmung es verlangt oder zulässt. Artikel 23 Gleichheitsgrundsatz (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, seiner sozialen Stellung, seines Alters, seiner Behinderung, seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung benachteiligt werden. (2) Frauen und Männer sind gleichberechtigt.
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Artikel 24 Recht auf Leben (1) Jeder hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Achtung seiner Würde im Sterben. (2) Niemand darf grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und ohne seine freiwillige und ausdrückliche Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Experimenten unterworfen werden. (3) In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. Artikel 25 Recht auf Freizügigkeit (1) Jeder Bürger und jeder Ausländer oder Staatenlose mit ständigem Wohnsitz im Gebiet des deutschen Bundesstaates haben das Recht auf Freizügigkeit im Lande. (2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder zur Bekämpfung von Seuchen und Katastrophen, zur Vermeidung besonderer Belastungen der Allgemeinheit, zum Schutz der Jugend gegen Verwahrlosung und zur Sicherung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen beschränkt werden. Artikel 26 Recht auf Schutz persönlicher Daten (1) Jeder hat Anspruch auf Achtung und Schutz seiner Persönlichkeit und Privatheit. (2) Personenbezogene Daten dürfen ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten nicht erhoben, gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden. Ausnahmen hiervon bedürfen eines Gesetzes und sind nur gestattet, wenn dies im überwiegenden Allgemeininteresse liegt. Die Weitergabe muss dem Berechtigten zur Kenntnis gebracht werden. (3) Jeder hat Anspruch auf Löschung seiner unberechtigt gespeicherten Daten. Artikel 27 Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen können nur durch Gesetz zugelassen werden. Sie bedürfen einer richterlichen Anordnung. Das Gesetz kann vorsehen, daß sie beim Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr und im Falle einer Verfolgung auf frischer Tat auch auf Anordnung anderer im Gesetz vorgesehener Organe angeordnet und durchgeführt werden. Die Anordnung unterliegt richterlicher Bestätigung. (3) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zum Zweck der Abwehr einer ge-
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meinen Gefahr oder einer Gefahr für Leib und Leben einzelner Personen, zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchen oder zum Schutz gefährdeter Jugendlicher aufgrund eines Gesetzes vorgenommen werden. (4) Es besteht Mieterkündigungsschutz. Eine Räumung von Wohnraum darf nur erfolgen, wenn Ersatzwohnraum zur Verfügung steht. Bei der Abwägung der Interessen des Mieters und des Eigentümers ist die überragende Bedeutung der Wohnung für ein menschenwürdiges Leben zu berücksichtigen. Das Nähere bestimmen Gesetze.
hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen. (3) Vor jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer eines Freiheitsentzugs ist unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. (4) Festgehaltene Personen dürfen weder körperlich noch seelisch mißhandelt und keinen Schikanen ausgesetzt werden. (5) Die Todesstrafe wird in Sachsen weder verhängt noch vollstreckt.
Artikel 28 Post- und Fernmeldegeheimnis (1) Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis ist unverletzlich. (2) Eingriffe sind nur durch Gesetz nach richterlicher Anordnung und nur zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität zulässig.
Artikel 31 Schutz bei strafrechtlicher Verantwortung (1) Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte sind unzulässig. (2) Jeder hat Anspruch auf ein faires, zügiges und öffentliches Verfahren und ein Recht auf Verteidigung durch sich selbst oder frei gewählte Verteidiger seines Vertrauens. Die Öffentlichkeit darf nur nach Maßgabe des Gesetzes durch Gerichtsbeschluß ausgeschlossen werden. (3) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch Gesetz bestimmt. Strafgesetze haben keine rückwirkende Kraft. Jeder gilt bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als nicht schuldig. (4) Niemand darf für dieselbe Handlung mehrfach strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
Artikel 29 Glaubens- und Gewissensfreiheit (1) Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens sowie die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Jeder hat das Recht, sich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen und sie allein oder mit anderen öffentlich oder privat zu bekunden. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Die Erziehungsberechtigten sind frei, die religiöse und weltanschauliche Bildung ihrer Kinder entsprechend ihren Überzeugungen zu gewährleisten. (4) Niemand darf gegen seinen Willen zum Dienst an der Waffe gezwungen werden. Ihm muß die Erfüllung anderer, gleichbelastender Pfl ichten eröffnet werden. (5) Gewissensprüfungen sind ausgeschlossen. Artikel 30 Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person (1) Jeder hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit seiner Person. Freiheitsbeschränkungen dürfen nur in dem Maße und in der Form erfolgen, als sie durch Gesetz vorgesehen und unumgänglich sind. (2) Jeder, dessen Freiheit eingeschränkt wird, muß unverzüglich über die Gründe der Freiheitsbeschränkung unterrichtet werden. Personen, deren Freiheit entzogen wird, müssen unverzüglich, spätestens aber am Tage nach der Festnahme einem Richter vorgeführt werden. Der Richter
Artikel 32 Zeugnisverweigerungsrecht (1) Niemand darf verpfl ichtet werden, andere Personen wegen begangener oder drohender Straftaten anzuzeigen. Für drohende schwere Straftaten kann das Gesetz Ausnahmen vorsehen. (2) Niemand darf gezwungen werden, gegen sich selbst oder durch Gesetz bestimmte nahestehende Personen auszusagen. (3) Für die Angehörigen von Heimberufen, rechtsberatenden Berufen, sozialen Diensten sowie für Seelsorger besteht ein Zeugnisverweigerungsrecht. Artikel 33 Informations- und Meinungsfreiheit (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in jeder Form frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Er darf daran durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis gehindert werden. Nur wenn die vereinbarte Tätigkeit einer bestimmten politischen, religiösen oder weltan-
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung schaulichen Richtung dienen soll, kann, wenn ein Beteiligter davon abweicht, das Rechtsverhältnis gelöst werden. (2) Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und anderer Massenmedien ist gewährleistet. Eine Zensur fi ndet nicht statt. (3) Diese Rechte fi nden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (4) Kriegspropaganda, rassistische, nazistische oder andere die Menschenwürde verletzende Bekundungen sind nicht gestattet. Artikel 34 Versammlungsfreiheit (1) Jeder hat das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen oder Umzüge unter freiem Himmel kann dieses Recht nur aufgrund dringender Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und nur durch Gesetz beschränkt werden. Artikel 35 Vereinigungsfreiheit (1) Jeder hat das Recht, Vereinigungen zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die gegen den Grundsatz der Völkerverständigung und Friedensbewahrung oder auf die Menschenwürde verletzende Ziele gerichtet sind, sind verboten. Artikel 36 Freiheit der Kunst und Wissenschaft (1) Die Kunst und die Wissenschaft in Forschung und Lehre sind frei. Eine Zensur fi ndet nicht statt. (2) Der Mensch und die natürliche Umwelt stehen höher als Technik und Maschine. Durch Gesetz kann die Weiterverwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Entwicklungen unter staatliche Aufsicht gestellt, beschränkt oder untersagt werden. Das Gesetz kann die Zulässigkeit von Mitteln und Methoden der Forschung beschränken und Informationspfl ichten in bezug auf risikobehaftete Forschungen vorsehen. (3) Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber und der Erfi nder sind geschützt.
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Artikel 37 Berufs- und Gewerbefreiheit (1) Jeder hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszuüben. In die Berufsausübung kann nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. (2) Es besteht Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder Arbeitende hat das Recht auf Urlaub und Erholung. (3) Es besteht Kündigungsschutz für Arbeitnehmer, insbesondere für Auszubildende, Schwangere, Alleinerziehende, Behinderte, Kranke und ältere Arbeitnehmer. Bei Arbeitslosigkeit besteht ein Recht auf Arbeitslosenunterstützung. Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung haben Vorrang. Das Nähere bestimmen Gesetze. Artikel 38 Eigentumsrecht (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. (2) Eigentum verpfl ichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. (3) Offenbarer Mißbrauch des Eigentumsund Besitzrechts genießt keinen Rechtsschutz. (4) Eine Enteignung ist nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfall der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. Artikel 39 Recht auf innerbetriebliche Mitbestimmung Jeder in einem Betrieb oder Unternehmen Beschäftigte hat das Recht, durch Vertretungsorgane in den wirtschaftlichen, sozialen und personellen Angelegenheiten des Betriebes oder Unternehmens mitzubestimmen. Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 40 Recht auf Schutz der Familie (1) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pfl icht. (2) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
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(3) Das nichteheliche Kind ist dem ehelichen gleichgestellt.
IV. Abschnitt Vereinigungen, Verbände, Massenmedien
Artikel 41 Bildungsfreiheit (1) Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen. (2) Jeder hat das Recht auf den Übergang zur nächsthöheren Bildungsstufe entsprechend seinen Fähigkeiten und Leistungen.
Artikel 45 Bürgerbewegungen (1) Jeder hat das Recht, sich in Bürgerbewegungen zur Beeinflussung öffentlicher Angelegenheiten zusammenzuschließen. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. (2) Bürgerbewegungen haben, soweit die Persönlichkeit und die Privatheit Dritter nicht verletzt werden, nach Abwägung entgegenstehender öffentlicher Interessen Anspruch auf Zugang zu den bei den Trägern der öffentlichen Verwaltung vorhandenen Informationen, die ihre Anliegen betreffen. (3) Die Bürgerbewegungen haben das Recht auf Anhörung bei den zuständigen Behörden des Landes und der Träger der Selbstverwaltung sowie bei den Vertretungskörperschaften. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz.
Artikel 42 Recht auf Umweltschutz (1) Jeder hat das Recht auf Zugang zu den seine Umwelt betreffenden Daten. (2) Jeder hat Anspruch auf Schutz seiner natürlichen Umwelt und seines Lebensraumes vor Zerstörung und Beeinträchtigung, soweit nicht das Gemeinwohl dies rechtfertigt. (3) Die Verbandsklage ist zulässig. Artikel 43 Petitionsrecht Jeder hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Anregungen, Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Vertretungskörperschaften zu wenden. Es besteht Anspruch auf begründeten Bescheid in angemessener Frist. Artikel 44 Einschränkung von Grundrechten/ Rechtsweg (1) Soweit nach dieser Verfassung ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. (2) In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. (3) Die Grundrechte gelten auch für juristische Personen mit Sitz innerhalb des deutschen Bundesstaates, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist zunächst der ordentliche Rechtsweg gegeben. Die Verfassungsbeschwerde bleibt unbenommen.
Artikel 46 Parteien (1) Parteien und politische Vereinigungen haben das Ziel, bei der politischen Willensbildung des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mitzuwirken, den politischen Willen des Volkes zu bündeln und insbesondere durch die Aufstellung von Kandidaten für die Wahlen sowie auf andere Weise im Rahmen der Verfassungen des Landes oder des deutschen Bundesstaates wirksam werden zu lassen. (2) Die Gründung von Parteien und politischen Vereinigungen ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. (3) Parteien oder politische Vereinigungen, die nach ihren Zielen oder nach dem verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die verfassungsmäßige Ordnung des Landes oder des deutschen Bundesstaates zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. (4) Das Nähere bestimmen Bundesgesetze. Artikel 47 Wirtschaftliche Interessenverbände und Gewerkschaften (1) Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Lebens-, Arbeits- und Wirt-
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung schaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. (2) Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Vereinigungsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig und nichtig. (3) Die Freiheit und Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist gewährleistet. Sie haben das Recht des Zutritts zu den Betrieben. (4) Zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften herrscht Tarifautonomie. (5) Das Streikrecht ist gewährleistet. Aussperrungen, die das Arbeitsverhältnis beenden, sind nicht gestattet. (6) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 48 Massenmedien (1) Presse, Rundfunk, Fernsehen und andere Massenmedien dienen der Information, der Meinungsbildung und der Unterhaltung. Sie haben die Vielfalt der Meinungen unverfälscht zum Ausdruck zu bringen. (2) Der Missbrauch wirtschaftlicher Macht zur Meinungsbeeinflussung ist widerrechtlich. (3) Ist ein über die Massenmedien verbreitete Darstellung erwiesenermaßen falsch, so besteht auf Verlangen Betroffener die Pfl icht zur Veröffentlichung der Gegendarstellung. Für den durch die Falschdarstellung entstandenen Schaden haftet der Verursacher. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. V. Abschnitt Der Landtag Artikel 49 Landtagsfunktionen/Freies Mandat (1) Der Landtag ist die gewählte Vertretung des Volkes. (2) Der Landtag übt die gesetzgebende Gewalt aus und überwacht die Ausübung der vollziehenden Gewalt nach Maßgabe dieser Verfassung. (3) Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. (4) Der Landtag besteht grundsätzlich aus 120 Abgeordneten. Artikel 50 Wahlsystem/Wählbarkeit (1) Die Abgeordneten werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.
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(2) Wählbar ist jeder Wahlberechtigte. Die Wählbarkeit kann von einer bestimmten Dauer der Staatsangehörigkeit und des Aufenthaltes im Lande abhängig gemacht werden. (3) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Es kann die Zuteilung von Sitzen davon abhängig machen, daß ein Mindestanteil der im Lande abgegebenen gültigen Stimmen erreicht wird. Der geforderte Anteil darf fünf vom Hundert nicht überschreiten. Den im Lande lebenden nationalen Minderheiten muß die Möglichkeit angemessener Vertretung eingeräumt sein. Artikel 51 Kandidatur/Ansprüche der Abgeordneten (1) Wer sich um einen Sitz im Landtag bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub. (2) Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis aus diesem Grunde ist unzulässig. (3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Sie haben innerhalb des Landes das Recht der freien Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 52 Erwerb und Verlust des Mandats (1) Wer zum Abgeordneten gewählt ist, erwirbt die rechtliche Stellung eines Abgeordneten mit der Annahme der Wahl. Der Gewählte kann die Wahl ablehnen. (2) Ein Abgeordneter kann jederzeit auf sein Mandat verzichten. Der Verzicht ist dem Präsidenten des Landtags schriftlich zu erklären. Die Erklärung ist unwiderrufl ich. (3) Verliert ein Abgeordneter die Wählbarkeit, so erlischt sein Mandat. Artikel 53 Wahlperiode/Zusammentritt/Einberufung (1) Der Landtag wird auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Landtages. Dies gilt auch für den Fall der vorzeitigen Auflösung des Landtags. (2) Die Neuwahl muß vor Ablauf der Wahlperiode, im Fall der vorzeitigen Auflösung des Landtages binnen sechzig Tagen stattfi nden. (3) Der Landtag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Neuwahl zusammen. Die erste Sitzung wird vom Alterspräsidenten einberufen und geleitet.
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(4) Der Landtag bestimmt den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident kann den Landtag früher einberufen. Er ist dazu verpfl ichtet, wenn ein Viertel der Mitglieder des Landtags oder die Regierung es verlangt. Artikel 54 Wahlprüfung (1) Die Wahlprüfung ist Sache des Landtags. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter seinen Sitz im Landtag verloren hat. (2) Die Entscheidungen können beim Landesverfassungsgericht angefochten werden. (3) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 55 Geschäftsordnung/Fraktionen (1) Der Landtag gibt sich eine Geschäftsordnung. (2) In der Geschäftsordnung sind Regelungen für den Zusammenschluß der Abgeordneten zu Fraktionen zu treffen. Die Rechte fraktionsloser Abgeordneter dürfen dadurch nicht beschränkt werden. (3) Eine Änderung der Geschäftsordnung bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten. Artikel 56 Landtagspräsidium (1) Der Landtag wählt einen Präsidenten und dessen Stellvertreter, die zusammen mit weiteren Mitgliedern das Präsidium bilden, sowie die Schriftführer. (2) Der Präsident leitet die Verhandlungen nach Maßgabe der Geschäftsordnung. (3) Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Sitzungsgebäude aus. Ohne seine Zustimmung darf im Sitzungsgebäude keine Durchsuchung oder Beschlagnahme stattfi nden. (4) Der Präsident verwaltet die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Landtags nach Maßgabe des Haushaltsgesetzes. Er vertritt das Land im Rahmen der Verwaltung des Landtags. Ihm steht die Einstellung und Entlassung der Angestellten und Arbeiter sowie im Einvernehmen mit dem Präsidium die Ernennung und Entlassung der Beamten des Landtags zu. Der Präsident ist oberste Dienstbehörde für die Beamten, Angestellten und Arbeiter des Landtags. Artikel 57 Verhandlungen/Beschlußfähigkeit/ Beschlußfassung/Berichterstattung (1) Die Verhandlungen des Landtags sind öffentlich. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen
werden, wenn der Landtag es auf Antrag von zwölf Abgeordneten oder eines Mitglieds der Regierung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten beschließt. Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. (2) Der Landtag ist beschlußfähig, wenn nicht auf Antrag eines seiner Mitglieder, der nur vor Beginn einer Abstimmung zulässig ist, vom Präsidenten festgestellt wird, daß weniger als die Hälfte der Abgeordneten anwesend sind. (3) Der Landtag beschließt mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, sofern diese Verfassung nichts anderes bestimmt. Für die vom Landtag vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. (4) Für wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Landtags und seiner Ausschüsse darf niemand zur Verantwortung gezogen werden. Artikel 58 Regierungsanwesenheit (1) Der Landtag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit eines jeden Mitglieds der Landesregierung verlangen. (2) Die Mitglieder der Landesregierung und ihre Beauftragten haben zu den Sitzungen des Landtags und seiner Ausschüsse Zutritt und müssen jederzeit gehört werden. Sie unterstehen der Ordnungsgewalt des Präsidenten und der Vorsitzenden der Ausschüsse. (3) Der Zutritt der Mitglieder der Landesregierung und ihrer Beauftragten zu den Sitzungen der Untersuchungsausschüsse und ihr Rederecht in diesen Sitzungen wird durch Gesetz geregelt. Artikel 59 Gutachten der Sachverständigenräte Der Landtag hat das Recht, zu jeder von ihm behandelten Angelegenheit das Gutachten der zuständigen Sachverständigenräte einzuholen. Er ist dazu verpfl ichtet, wenn er Beschlüsse zu grundlegenden Fragen der Gesellschaft und des Staates fassen oder Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Landtags behandeln will. Artikel 60 Ausschüsse (1) Der Landtag bildet ständige Ausschüsse. Aufgaben, Zusammensetzung und Arbeitsweise bestimmt die Geschäftsordnung. (2) Der Landtag kann auf Antrag von zwölf Abgeordneten oder einer Fraktion die Bildung zeitweiliger Ausschüsse beschließen. Gegenstand
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung und Ziel des zeitweiligen Ausschusses sind im Beschluß genau festzulegen. (3) Die Ausschüsse können öffentlich tagen. Sie haben das Recht, Sachverständige zu ihren Sitzungen zuzuziehen. Sie haben das Recht und nach Maßgabe der Gesetze die Pfl icht, Bürgerbewegungen im Sinne von Artikel 45 sowie einzelne Bürger anzuhören. Artikel 61 Ausschuß für Anregungen, Bitten und Beschwerden (1) Der Landtag bestellt einen Ausschuß zur Behandlung der an den Landtag gerichteten Anregungen, Bitten und Beschwerden. (2) Nach Maßgabe der Geschäftsordnung des Landtags können Anregungen, Bitten und Beschwerden auch einem anderen Ausschuß überwiesen werden. (3) Die Befugnisse des Ausschusses für Anregungen, Bitten und Beschwerden werden durch Gesetz geregelt. Artikel 62 Untersuchungsausschüsse (1) Der Landtag hat das Recht und auf Antrag von einem Viertel seiner Mitglieder die Pfl icht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Der Gegenstand der Untersuchung ist im Beschluß genau festzulegen. (2) Die Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich halten. Beweise sind zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses beantragt werden. Die Öffentlichkeit ist auszuschließen, wenn die Hälfte der Mitglieder des Ausschusses dies verlangt. (3) Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpfl ichtet. (4) Das Nähere über die Einsetzung, die Befugnisse und das Verfahren der Untersuchungsausschüsse wird durch Gesetz geregelt. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bleibt unberührt. (5) Die Beschlüsse und Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse unterliegen nicht der gerichtlichen Nachprüfung. Die Gerichte sind jedoch frei in der Würdigung und Beurteilung des Sachverhaltes, der der Untersuchung zugrunde liegt. Artikel 63 Indemnität und Immunität der Abgeordneten (1) Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Landtag oder sonst in Ausübung seines Mandates getan hat, gerichtlich oder
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dienstlich verfolgt oder anderweitig außerhalb des Landtags zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen. (2) Ein Abgeordneter darf nur mit Einwilligung des Landtags wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen, festgenommen, festgehalten oder verhaftet werden, es sei denn, dass er bei Begehung einer strafbaren Handlung oder im Lauf des folgenden Tages festgenommen wird. Die Einwilligung des Landtags ist auch bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten erforderlich. (3) Jedes Strafverfahren gegen einen Abgeordneten und jede Haft oder sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit ist auf Verlangen des Landtags für die Dauer der Wahlperiode oder einen kürzer begrenzten Zeitraum auszusetzen. Artikel 64 Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten (1) Die Abgeordneten können über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie als Abgeordnete Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis verweigern. (2) Personen, deren Mitarbeit ein Abgeordneter in Ausübung seines Mandates in Anspruch nimmt, können das Zeugnis über die Wahrnehmungen verweigern, die sie anläßlich dieser Mitarbeit gemacht haben. (3) Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig. Artikel 65 Abgeordnetenanklage (1) Erhebt sich der dringende Verdacht, daß ein Abgeordneter seine Stellung als solcher in gewinnsüchtiger Absicht missbraucht habe, so kann der Landtag beim Landesverfassungsgericht ein Verfahren mit dem Ziel beantragen, ihm sein Mandat abzuerkennen. (2) Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Drittel der Mitglieder des Landtags gestellt werden. Der Beschluss auf Erhebung der Anklage erfordert bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Landtags eine Zweidrittelmehrheit.
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Artikel 66 Vorzeitige Landtagsauflösung (1) Der Landtag kann sich auf Beschluß von zwei Dritteln seiner gesetzlichen Mitgliederzahl selbst auflösen. (2) Der Landtag ist vor Ablauf der Wahlperiode durch die Landesregierung aufzulösen, wenn es in einem Volksbegehren von einem Sechstel der Wahlberechtigten verlangt wird und bei einem binnen sechs Wochen vorzunehmenden Volksentscheid die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, jedoch mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten, diesem Verlangen beitritt. VI. Abschnitt Die Landesregierung Artikel 67 Regierungsfunktionen/Zusammensetzung/Geschäftsverteilung (1) Die Landesregierung übt die vollziehende Gewalt aus. Ihr obliegt die Leitung und Verwaltung des Landes. Sie führt die Aufsicht über die Träger der Selbstverwaltung im Lande. Sie hat nach Maßgabe dieser Verfassung Anteil an der Gesetzgebung. (2) Die Regierung besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern. Als weitere Mitglieder der Regierung können Staatssekretäre ernannt werden. (3) Die Regierung beschließt unbeschadet des Gesetzgebungsrechts des Landtags über die Geschäftsbereiche ihrer Mitglieder. Der Ministerpräsident kann einen Geschäftsbereich selbst übernehmen. Artikel 68 Regierungsbildung (1) Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Wählbar ist, wer zum Abgeordneten gewählt werden kann. (2) Kommt eine Wahl nach Absatz 1 nicht zustande, so fi ndet binnen einer Woche ein zweiter Wahlgang statt, bei dem gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält. (3) Der Ministerpräsident beruft und entläßt die Staatsminister und Staatssekretäre. Er bestellt seinen Stellvertreter. (4) Die Landesregierung bedarf zur Amtsübernahme der Bestätigung durch den Landtag. Der Beschluß muß mit mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen gefaßt werden.
(5) Die Berufung eines Mitglieds der Landesregierung nach der Bestätigung bedarf der Zustimmung des Landtags. Artikel 69 Mißungene Regierungsbildung Wird die Landesregierung nicht innerhalb von drei Monaten nach dem Zusammentritt des neugewählten Landtags oder nach Erledigung des Amtes des Ministerpräsidenten gebildet, so ist der Landtag aufgelöst. Artikel 70 Amtseid Die Mitglieder der Landesregierung leisten beim Amtsantritt den Amtseid vor dem Landtag. Er lautet: ,,Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohl des Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, Verfassung und Recht wahren und verteidigen, meine Pfl ichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. Artikel 71 Rechtsverhältnisse der Regierungsmitglieder (1) Das Amtsverhältnis der Mitglieder der Landesregierung, insbesondere die Besoldung und Versorgung, ist durch Gesetz zu regeln. (2) Die Mitglieder der Regierung dürfen kein anderes besoldetes Amt, keinen Beruf und kein Gewerbe ausüben. Kein Mitglied der Regierung darf der Leitung oder dem Aufsichtsorgan eines auf wirtschaftliche Betätigung gerichteten Unternehmens angehören. Ausnahmen kann der Landtag zulassen. Artikel 72 Richtlinien der Politik/Verantwortung (1) Der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. (2) Innerhalb der Richtlinien der Politik leitet jeder Minister seinen Geschäftsbereich selbständig unter eigener Verantwortung. Artikel 73 Sachverständigenräte (1) Bei der Landesregierung werden unabhängige Sachverständigenräte für die Sachgebiete Ethische Grundlagen der Gesellschaft, Theologie und Religion, Wirtschaft, Recht, Finanzen, Ökologie, Arbeit und Soziales, Kunst und Kultur, Bildung gebildet. Bei Bedarf können mit Zustim-
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung mung oder auf Antrag des Landtags Sachverständigenräte für weitere Sachgebiete gebildet werden. (2) Die Sachverständigenräte haben die Aufgabe, von sich aus oder auf Anforderung der Organe des Landes zu grundlegenden Fragen der Gesellschaft und des Staates, die ihr Sachgebiet betreffen, gutachtlich Stellung zu nehmen. (3) Die Landesregierung und der Landtag sind verpfl ichtet, zu allen Gesetzesvorlagen von grundsätzlicher Bedeutung sowie zu allen durch Volksantrag eingebrachten Gesetzesvorlagen die Stellungnahme der zuständigen Sachverständigenräte einzuholen. Die Sachverständigenräte können der Landesregierung oder dem Landtag Vorschläge für Gesetzesvorlagen unterbreiten. (4) Die Stellungnahmen der Sachverständigenräte sind grundsätzlich zu veröffentlichen. (5) Zu Sachverständigen gewählt oder berufen werden können nur auf dem Sachgebiet ausgewiesene Fachleute von hoher menschlicher Qualität, die wählbar sind. Sie versehen ihre Aufgabe ehrenamtlich. Sie dürfen weder einem der obersten Organe des deutschen Bundesstaates noch den entsprechenden Organen des Landes angehören. Sie dürfen nicht der Leitung oder dem Aufsichtsorgan eines auf wirtschaftliche Betätigung gerichteten Unternehmens angehören. (6) Die Sachverständigenräte bestehen aus jeweils zwölf Mitgliedern. Je drei Mitglieder werden von der Landesregierung und vom Landtag gewählt. Sechs Mitglieder werden durch berufsständische Vertretungen, Vereinigungen oder Körperschaften auf dem jeweiligen Sachgebiet gewählt oder berufen. (7) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 74 Aufgaben und Geschäftsordnung (1) Die Landesregierung beschließt insbesondere über Gesetzesvorlagen, über die Stimmabgabe des Landes im Bundesrat, über Angelegenheiten, in denen die Verfassung oder ein Gesetz dies vorschreibt, über Meinungsverschiedenheiten, die den Geschäftskreis mehrerer Ministerien berühren, und über Fragen von grundsätzlicher oder weittragender Bedeutung. (2) Die Landesregierung gibt sich eine Geschäftsordnung. (3) Der Ministerpräsident führt den Vorsitz in der Landesregierung und leitet ihre Geschäfte nach Maßgabe der Geschäftsordnung. (4) Die Landesregierung beschließt mit der Mehrheit der anwesenden Mitglieder. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Ministerpräsidenten.
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Artikel 75 Vertretung des Landes/Abschluß von Staatsverträgen (1) Der Ministerpräsident vertritt das Land nach außen. Für einzelne Fälle kann der Ministerpräsident mit Zustimmung der Landesregierung die Vertretungsbefugnis auf ein anderes Mitglied der Landesregierung übertragen. (2) Der Abschluss von Staatsverträgen bedarf der Zustimmung der Landesregierung und, soweit Gegenstände der Gesetzgebung berührt sind, des Landtags. (3) Staatsverträge mit auswärtigen Staaten bedürfen der Zustimmung der Regierung des deutschen Bundesstaates. Artikel 76 Richter- und Beamtenernennung (1) Die Landesregierung ernennt und entläßt die Richter und Beamten des Landes. Sie kann dieses Recht auf andere Landesbehörden übertragen. (2) Durch Gesetz kann bestimmt werden, daß bei der Ernennung und Anstellung der Richter ein Richterwahlausschuß mitwirkt. Artikel 77 Begnadigungsrecht/Amnestien/ Abolitionen (1) Der Ministerpräsident übt das Begnadigungsrecht aus. Er kann dieses Recht, soweit es sich nicht um schwere Fälle handelt, mit Zustimmung der Landesregierung auf andere Behörden übertragen. (2) Ein allgemeiner Straferlaß und eine allgemeine Niederschlagung anhängiger Strafverfahren können nur durch Gesetz ausgesprochen werden. Artikel 78 Ministeranklage/Vorwurfskontrolle (1) Erhebt sich der dringende Verdacht, daß ein Mitglied der Landesregierung vorsätzlich oder grobfahrlässig die Verfassung oder ein anderes Gesetz verletzt oder seine Stellung als Mitglied der Landesregierung in gewinnsüchtiger Absicht missbraucht habe, so kann der Landtag beim Landesverfassungsgericht ein Verfahren mit dem Ziel beantragen, ihm sein Amt abzuerkennen. (2) Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Drittel der Mitglieder des Landtags gestellt werden. Der Beschluß auf Erhebung der Anklage erfordert bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Landtags eine Zweidrittelmehrheit.
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(3) Das Landesverfassungsgericht kann einstweilen anordnen, daß das angeklagte Mitglied der Landesregierung sein Amt nicht ausüben darf. Die Anklage wird durch den vor oder nach ihrer Erhebung erfolgten Rücktritt des Mitglieds der Landesregierung oder durch dessen Abberufung oder Entlassung nicht berührt. (4) Im Ergebnis des Verfahrens kann das Landesverfassungsgericht Versorgungsansprüche ganz oder teilweise entziehen. (5) Wird gegen ein Mitglied der Landesregierung in der Öffentlichkeit ein Vorwurf im Sinne des Ansatzes 1 erhoben, so kann es mit Zustimmung der Landesregierung die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts beantragen. Artikel 79 Rücktritt/Amtsbeendigung/ Geschäftsführende Regierung (1) Die Landesregierung und jedes ihrer Mitglieder können jederzeit ihren Rücktritt erklären. (2) Das Amt des Ministerpräsidenten und der übrigen Mitglieder der Landesregierung endet mit dem Zusammentritt eines neuen Landtags, das Amt eines Ministers und Staatssekretärs auch mit jeder anderen Erledigung des Amtes des Ministerpräsidenten. (3) Im Fall des Rücktrittes oder einer sonstigen Beendigung des Amtes haben die Mitglieder der Landesregierung auf Verlangen des Landtags bis zur Amtsübernahme der Nachfolger die Amtsgeschäfte weiterzuführen. Artikel 80 Konstruktives Mißtrauensvotum (1) Der Landtag kann dem Ministerpräsidenten das Vertrauen nur dadurch entziehen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. (2) Zwischen dem Antrag auf Abberufung und der Wahl müssen mindestens drei Tage liegen. Artikel 81 Entlassungszwang Auf Beschluß von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtags muß der Ministerpräsident ein Mitglied der Landesregierung entlassen.
VII. Abschnitt Die Gesetzgebung Artikel 82 Gesetzesinitiative/Beschlußrecht (1) Gesetzesvorlagen werden von der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtages oder vom Volk durch Volksantrag eingebracht. (2) Die Sachverständigenräte haben das Recht, der Landesregierung und dem Landtag Vorschläge für Gesetzesvorlagen zu unterbreiten. (3) Die Gesetze werden vom Landtag oder unmittelbar vom Volk durch Volksentscheid beschlossen. Artikel 83 Volksantrag (1) Jeder im Land Wahlberechtigte hat das Recht, einen Volksantrag in Gang zu setzen. Er muß von mindestens 100 000 Wahlberechtigten durch ihre Unterschrift unterstützt sein. Ihm muß ein mit Begründung versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. (2) Der Volksantrag ist bei der Landesregierung einzureichen. Sie hat ihn unverzüglich, mit ihrer Stellungnahme und der Stellungnahme der zuständigen Sachverständigenräte versehen, dem Landtag zur geschäftsordnungsmäßigen Behandlung zuzuleiten. Sie ist verpfl ichtet, den Volksantrag zu veröffentlichen. Artikel 84 Volksbegehren und Volksentscheid (1) Stimmt der Landtag dem unveränderten Volksantrag nicht binnen sechs Monaten zu, können die Antragsteller ein Volksbegehren mit dem Ziel in Gang setzen, einen Volksentscheid über den Antrag herbeizuführen. (2) Ein Volksentscheid fi ndet statt, wenn mindestens 250 000 Wahlberechtigte das Volksbegehren durch ihre Unterschrift unterstützen. (3) Zwischen einem erfolgreich abgeschlossenen Volksbegehren und dem Volksentscheid soll mindestens eine Frist von vier Monaten liegen, die der öffentlichen Information und Diskussion über den Gegenstand des Volksentscheides dient. Dabei ist anzustreben, daß bei der Darstellung des Für und Wider die Antragsteller gleichberechtigten Zugang zu Presse, Rundfunk und Fernsehen erhalten. (4) Bei dem Volksentscheid wird mit Ja oder Nein gestimmt. (5) Das dem Volksentscheid zugrunde liegende Gesetz ist beschlossen, wenn die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, jedoch mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten, zustimmt.
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung Artikel 85 Volksentscheid auf Regierungsanordnung (1) Die Landesregierung kann ein vom Landtag beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung einem Volksentscheid unterwerfen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt. Der angeordnete Volksentscheid unterbleibt, wenn der Landtag das Gesetz mit Zweidrittelmehrheit erneut beschließt. (2) Wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt, kann die Landesregierung eine von ihr eingebrachte, aber vom Landtag abgelehnte Gesetzesvorlage einem Volksentscheid unterwerfen. (3) Der Antrag nach Absatz 1 und 2 ist innerhalb von zwei Wochen nach der Schlußabstimmung zu stellen. Die Landesregierung hat sich innerhalb von zehn Tagen nach Eingang des Antrages zu entscheiden, ob sie den Volksentscheid anordnen will. Artikel 86 Zulässigkeit eines Volksentscheids (1) Über Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetze fi ndet kein Volksentscheid statt. (2) Über die Zulässigkeit eines Volksantrags, Volksbegehrens und Volksentscheids entscheidet auf Antrag der Landesregierung oder der Antragsteller das Landesverfassungsgericht (3) Das Nähere über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid bestimmt ein Gesetz. Artikel 87 Verfassungsänderung (1) Die Verfassung kann nur durch Gesetz geändert werden. Die Änderung darf den Grundsätzen der Artikel 1 bis 3 dieser Verfassung nicht widersprechen. Die Entscheidung, ob ein Änderungsantrag zulässig ist, trifft auf Antrag der Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Landtags das Landesverfassungsgericht. (2) Ein verfassungsänderndes Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtags. (3) Die Verfassung kann durch Volksentscheid geändert werden, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Landtags dies beantragt. Sie kann ferner durch einen Volksentscheid gemäß Artikel 84 geändert werden. Das verfassungsändernde Gesetz ist beschlossen, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten zustimmt. (4) Ohne vorherige förmliche Änderung der Verfassung können Gesetze nicht beschlossen werden, die Bestimmungen der Verfassung durchbrechen.
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Artikel 88 Rechtsverordnungen/Verwaltungsvorschriften (1) Die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen kann nur durch Gesetz erteilt werden. Dabei sollen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. (2) Die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Verwaltungsvorschriften werden von der Landesregierung, dem zuständigen Minister oder von dem durch die Landesregierung damit betrauten obersten oder allgemeinen Landesbehörden erlassen. Artikel 89 Ausfertigung und Verkündung (1) Die verfassungsmäßig zustandegekommenen Gesetze werden vom Ministerpräsidenten ausgefertigt und binnen Monatsfrist im Gesetzund Verordnungsblatt des Landes Sachsen verkündet. Wenn der Landtag die Dringlichkeit beschließt, müssen sie sofort ausgefertigt und verkündet werden. (2) Rechtsverordnungen werden von der Stelle, die sie erläßt, ausgefertigt und, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, im Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Sachsen verkündet. (3) Gesetze und Rechtsverordnungen sollen den Tag bestimmen, an dem sie in Kraft treten. Fehlt eine solche Bestimmung, so treten sie mit dem vierzehnten Tag nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Gesetz- und Verordnungsblatt ausgegeben worden ist. VIII. Abschnitt Die Rechtsprechung Artikel 90 Gerichte/Unabhängigkeit der Rechtsprechung/Laienrichter (1) Die Rechtsprechung wird im Namen des Volkes durch die Gerichte ausgeübt, die gemäß den Gesetzen des deutschen Bundesstaates und des Landes errichtet sind. (2) Es bestehen Gerichte insbesondere für die Bereiche der Ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Sozialgerichtsbarkeit. (3) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.
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(4) An der Rechtsprechung sind Frauen und Männer aus dem Volke nach Maßgabe der Gesetze zu beteiligen. Artikel 91 Rechtsstellung der Richter (1) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, die die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Durch Gesetz können Altersgrenzen festgesetzt werden, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. (2) Im übrigen werden die Ernennung, der Amtseid und die Rechtsstellung der Richter durch Gesetz geregelt. Artikel 92 Richteranklage (1) Erhebt sich der dringende Verdacht, daß ein Richter im Amt oder außerhalb des Amtes gegen die verfassungsmäßige Ordnung des deutschen Bundesstaates oder des Landes verstoßen oder seine Stellung als Richter in gewinnsüchtiger Absicht missbraucht habe, so kann der Landtag beim Bundesverfassungsgericht ein Verfahren mit dem Ziel beantragen, ihm zu versetzen oder zu entlassen. (2) Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß mindestens von einem Drittel der Mitglieder des Landtages gestellt werden. Der Beschluß auf Erhebung der Anklage erfordert bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages eine Zweidrittelmehrheit. Artikel 93 Landesverfassungsgericht (1) Es wird ein Landesverfassungsgericht gebildet. Es entscheidet a) über die Auslegung dieser Verfassung aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pfl ichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtags oder der Landesregierung mit eigener Zuständigkeit ausgestattet sind, auf Antrag der obersten Landesorgane oder der anderen Beteiligten; b) bei Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dieser Verfassung auf Antrag eines Viertels
der Mitglieder des Landtages oder auf Antrag der Landesregierung; c) über die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit dieser Verfassung auf Antrag eines anderen Gerichts; d) über Verfassungsbeschwerden, die von jeder Person erhoben werden können, die sich durch die öffentliche Gewalt in einem ihrer Grundrechte verletzt fühlt; e) in den weiteren in dieser Verfassung ihm zugewiesenen Angelegenheiten; f ) in den ihm durch Gesetz zugewiesenen Aufgaben. (2) Das Landesverfassungsgericht besteht aus neun Mitgliedern, und zwar a) drei Berufsrichtern, b) drei Mitgliedern mit der Befähigung zum Richteramt, c) drei Mitgliedern ohne diese Voraussetzungen. (3) Die Mitglieder des Landesverfassungsgerichts werden auf Vorschlag eines Richterwahlausschusses vom Landtag auf die Dauer von neun Jahren gewählt. Aus jeder Gruppe ist ein Mitglied alle drei Jahre neu zu bestellen. Scheidet ein Richter vorzeitig aus, so wird für den Rest seiner Amtszeit ein Nachfolger gewählt. Zum Vorsitzenden ist einer der Berufsrichter zu bestellen. Die Mitglieder dürfen weder einem der obersten Organe des deutschen Bundesstaates noch entsprechenden Organen eines Landes angehören. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. IX. Abschnitt Die Verwaltung Artikel 94 Träger öffentlicher Verwaltung (1) Die Verwaltung wird durch die Landesregierung, die ihr unterstellten Behörden und durch die Träger der Selbstverwaltung ausgeübt. (2) Träger der Selbstverwaltung sind Städte, Gemeinden und Landkreise. Schließen sich Städte, Gemeinden und Landkreise zu Zweckverbänden zusammen, so sind auch diese Träger von Aufgaben der Selbstverwaltung. Artikel 95 Verwaltungsorganisation/ Organisationsgewalt (1) Auf bau, räumliche Gliederung und Zuständigkeiten der Landesverwaltung werden durch Gesetz geregelt. (2) Die Einrichtung der staatlichen Behörden im einzelnen obliegt der Landesregierung, auf
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung Grund von ihr erteilter Ermächtigung den Ministern. (3) Aufgaben, die von den nachgeordneten Verwaltungsbehörden oder von den Trägern der Selbstverwaltung zuverlässig und zweckmäßig erfüllt werden können, sind diesen zuzuweisen. Artikel 96 Selbstverwaltung (1) Das Land gewährleistet den Trägern der Selbstverwaltung das Recht, ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze unter eigener Verantwortung zu verwalten. (2) Die Gemeinden sind in ihrem Gebiet die alleinigen Träger der öffentlichen Aufgaben, soweit nicht bestimmte Aufgaben im öffentlichen Interesse durch Gesetz anderen Stellen übertragen sind. Die Landkreise haben innerhalb ihrer Zuständigkeit die gleiche Stellung. (3) Bevor durch Gesetz oder Rechtsverordnung allgemeine Fragen geregelt werden, welche die Städte, Gemeinden und Landkreise berühren, sind diese oder ihre Zusammenschlüsse rechtzeitig zu hören. Artikel 97 Übertragung öffentlicher Aufgaben (1) Den Trägern der Selbstverwaltung kann durch Gesetz die Erledigung bestimmter staatlicher Aufgaben übertragen werden. Sie sollen ihnen übertragen werden, wenn sie von ihnen zuverlässig und zweckmäßig erfüllt werden können. Dabei sind Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen. (2) Führt die Übergabe der Aufgaben zu einer Mehrbelastung der Träger der Selbstverwaltung, so ist ein entsprechender fi nanzieller Ausgleich zu schaffen. (3) Bei der Übertragung staatlicher Aufgaben kann sich das Land ein Weisungsrecht nach näherer gesetzlicher Vorschrift vorbehalten. Artikel 98 Vertretung der Selbstverwaltungskörperschaften (1) In den Städten, Gemeinden und Landkreisen muß das Volk eine entsprechend den Grundsätzen in Artikel 4 dieser Verfassung gewählte Vertretung haben. In kleinen Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Vertretung die Gemeindeversammlung treten. (2) Das Nähere bestimmt ein Gesetz.
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Artikel 99 Finanzierung/Finanzausgleich (1) Das Land sorgt dafür, daß die Träger der Selbstverwaltung ihre Aufgaben erfüllen können. (2) Die Träger der Selbstverwaltung haben das Recht, eigene Steuern und andere Abgaben nach Maßgabe der Gesetze zu erheben. (3) Die Träger der Selbstverwaltung werden unter Berücksichtigung der Aufgaben des Landes im Rahmen übergemeindlichen Finanzausgleiches an dessen Steuereinnahmen beteiligt. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 100 Gebietskörperschaften und Auflösung von Selbstverwaltungskörperschaften (1) Das Gebiet von Städten, Gemeinden und Landkreisen kann aus Gründen des öffentlichen Wohls geändert werden. (2) Das Gebiet von Städten und Gemeinden kann durch Vereinbarung der beteiligten Städte und Gemeinden mit staatlicher Genehmigung, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geändert werden. Die Auflösung von Städten und Gemeinden gegen deren Willen bedarf eines Gesetzes. Vor einer Gebietsänderung muß die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete gehört werden. (3) Das Gebiet von Landkreisen kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geändert werden. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 101 Kommunalaufsicht (1) Das Land überwacht die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Städte, Gemeinden und Landkreise. (2) Durch Gesetz kann bestimmt werden, daß die Übernahme von Schuldverpfl ichtungen und Garantien sowie die Veräußerung von Vermögen von der Zustimmung der mit der Überwachung betrauten Staatsbehörde abhängig gemacht und daß diese Zustimmung unter dem Gesichtspunkt einer geordneten Wirtschaftsführung erteilt oder versagt werden kann. Artikel 102 Anrufung des Landesverfassungsgerichts Die Träger der Selbstverwaltung können das Landesverfassungsgericht mit der Behauptung anrufen, daß ein Gesetz die Bestimmungen der Artikel 95 bis 101 verletze.
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Artikel 103 Öffentlicher Dienst (1) Die Ausübung hoheitlicher Gewalt ist als ständige Aufgabe in der Regel Beamten zu übertragen. (2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. Artikel 104 Beamte (1) Die Beamten des Landes und der Träger der Selbstverwaltung werden nach Maßgabe der Gesetze vom Volk unmittelbar oder mittelbar gewählt oder von den zuständigen Behörden ernannt. (2) Sie sind Diener des ganzen Volkes, nicht einer Partei oder sonstigen Gruppe, und haben ihr Amt und ihre Aufgaben unparteiisch und ohne Rücksicht auf die Person nur nach sachlichen Gesichtspunkten auszuüben. (3) Jeder Beamte leistet folgenden Amtseid: „Ich schwöre, daß ich mein Amt nach bestem Wissen und Können führen, Verfassung und Recht achten und verteidigen und Gerechtigkeit gegenüber allen üben werde, so wahr mir Gott helfe.“ Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. (4) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. X. Abschnitt Das Finanzwesen Artikel 105 Haushaltsplan und -jahr (1) Für jedes Rechnungsjahr (Haushaltsjahr) ist ein Haushaltsplan aufzustellen. (2) Rechnungsjahr ist das Kalenderjahr. Der Finanzminister kann für einzelne Bereiche etwas anderes bestimmen. Artikel 106 Bedeutung und Wirkungen des Haushaltsplans (1) Der Haushaltsplan dient der Feststellung und Deckung des Finanzbedarfes, der zur Erfüllung der Aufgaben des Landes im Bewilligungszeitraum voraussichtlich notwendig ist. Der Haushaltsplan ist die Grundlage für die Haushalts- und Wirtschaftsführung. Bei seiner Aufstellung und Ausführung ist den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes Rechnung zu tragen.
(2) Der Haushaltsplan ermächtigt die Verwaltung, Ausgaben zu leisten und Verpfl ichtungen einzugehen. (3) Durch den Haushaltsplan werden Ansprüche oder Verbindlichkeiten weder begründet noch aufgehoben. Artikel 107 Aufstellung des Haushaltplans (1) Der Haushaltsplan enthält alle im Haushaltsjahr a) zu erwartenden Einnahmen, b) voraussichtlich zu leistenden Ausgaben und c) voraussichtlich benötigten Verpfl ichtungsermächtigungen. Bei Landesbetrieben und bei Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu werden. (2) Der Haushaltsplan soll in Einnahme und Ausgabe ausgeglichen sein. (3) Das Vermögen und die Schulden sind in einer Anlage des Haushaltplans nachzuweisen. (4) Der Haushaltplan kann für zwei Haushaltjahre zugleich, jedoch nach Jahren getrennt, aufgestellt und festgestellt werden. Artikel 108 Haushaltsgesetz (1) Der Haushaltplan wird mit Beschluß des Haushaltsgesetzes durch den Landtag festgestellt. Die Feststellung soll vor Beginn des Zeitraumes erfolgen, auf den sich der Haushalt bezieht. (2) In das Haushaltsgesetz dürfen nur Vorschriften aufgenommen werden, die sich auf die Einnahmen und die Ausgaben des Landes und auf den Zeitraum beziehen, für den das Haushaltsgesetz beschlossen wird. Artikel 109 Kreditaufnahme/Gewährschaften Die Aufnahme von Krediten sowie jede Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Haushaltsjahren führen können, bedürfen einer Ermächtigung durch Gesetz. Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes. Das Nähere bestimmt das Gesetz. Artikel 110 Über- und außerplanmäßige Ausgaben (1) Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpfl ichtungen bedürfen der Zustimmung
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des Finanzministers. Sie darf nur im Fall eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden. Die Genehmigung des Landtags ist nachträglich einzuholen. Näheres kann durch Gesetz bestimmt werden. (2) Beschlüsse des Landtags, welche die im Haushaltplan festgesetzten Ausgaben erhöhen oder neue Ausgaben mit sich bringen, bedürfen der Zustimmung der Landesregierung. Das gleiche gilt für Beschlüsse des Landtags, die Einnahmeminderungen mit sich bringen. Die Deckung muß gesichert sein. (3) Die Landesregierung kann verlangen, daß der Landtag die Beschlußfassung nach Absatz 2 aussetzt. In diesem Fall hat die Landesregierung innerhalb von sechs Wochen dem Landtag eine Stellungnahme zuzuleiten.
Artikel 113 Rechnungsprüfung/Landesrechnungshof (1) Zur Prüfung der Rechnung sowie der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung des Landes wird ein Landesrechnungshof gebildet. (2) Die Mitglieder des Landesrechnungshofes besitzen die gleiche Unabhängigkeit wie die Richter. Die Ernennung des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofes bedarf der Zustimmung des Landtags. (3) Der Rechnungshof berichtet jährlich unmittelbar dem Landtag und unterrichtet gleichzeitig die Landesregierung. (4) Das Nähere, insbesondere Stellung und Aufgaben des Landesrechnungshofes, bestimmt ein Gesetz.
Artikel 111 Vorläufige Haushaltswirtschaft (1) Ist bis zum Schluß eines Haushaltsjahres weder der Haushaltplan für das folgende Haushaltsjahr festgestellt worden noch ein Nothaushaltsgesetz ergangen, so kann bis zur gesetzlichen Regelung die Landesregierung diejenigen Ausgaben leisten, die nötig sind, um a) gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen, b) die rechtlich begründeten Verpfl ichtungen des Landes zu erfüllen, c) Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für diese Zwecke weiter zu gewähren, sofern durch den Haushaltplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind. (2) Soweit die auf besonderem Gesetz beruhenden Einnahmen aus Steuern, Abgaben und sonstigen Quellen oder die Betriebsmittelrücklage die in Absatz 1 genannten Ausgaben nicht decken, kann die Landesregierung den für eine geordnete Haushaltsführung erforderlichen Kredit beschaffen. Dieser darf ein Viertel der Endsumme des letzten Haushaltplanes nicht übersteigen.
XI. Abschnitt Das Schul- und Hochschulwesen
Artikel 112 Rechnungslegung Der Finanzminister hat dem Landtag über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden des Landes zur Entlastung der Landesregierung jährlich Rechnung zu legen.
Artikel 114 Erziehungsziele (1) Die Jugend ist im Geiste der Ehrfurcht vor Menschen, Tieren, Pfl anzen und der natürlichen Umwelt, im Geiste der Nächstenliebe und Brüderlichkeit aller Menschen, zur Friedensliebe, zur Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlichem, sozialem, ökologischem und politischem Verantwortungsbewußtsein, zu berufl icher Bewährung zu freiheitlich-demokratischer Gesinnung zu erziehen. (2) Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, das Land, die Kirchen und Religionsgemeinschaften und die Verbände der Jugend. Artikel 115 Lehranstalten/Toleranzgebot (1) Für die Bildung der Jugend sorgen öffentliche und vom Lande zugelassene private Lehranstalten. (2) In den Lehranstalten waltet ein Geist der Duldsamkeit, der Achtung vor dem Auszubildenden, der Wahrung des Rechts der Schwachen und der sozialen Ethik. Artikel 116 Schulpfl icht/Unterrichtsund Lernmittelfreiheit (1) Es besteht allgemeine Schulpfl icht. (2) Unterricht und Lernmittel an den öffentlichen Schulen sind unentgeltlich. Die Unentgeltlichkeit wird stufenweise verwirklicht. Auf gemeinnütziger Grundlage arbeitende private Schulen, die einem öffentlichen Bedürfnis ent-
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sprechen und eine gleichartige Befreiung gewähren, haben Anspruch auf Ausgleich der hierdurch entstehenden fi nanziellen Belastung. (3) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 117 Schulaufsicht (1) Die Schulaufsicht wird durch fachgerecht ausgebildete, hauptamtlich tätige Beamte ausgeübt. (2) Prüfungen, durch die eine öffentlich anerkannte Berechtigung erworben werden soll, müssen vor den hierfür zuständigen Landesbehörden oder den vom Lande hierzu ermächtigten Stellen abgelegt werden. Artikel 118 Innerschulische Mitbestimmung (1) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, durch gewählte Vertreter an der Gestaltung des Lebens und der Arbeit der Schule mitzuwirken. (2) Das gleiche Recht steht den Schülern zu. (3) Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Artikel 119 Religionsunterricht (1) Der Religionsunterricht ist an den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach. Er wird nach den Grundsätzen der Kirchen und Religionsgemeinschaften und unbeschadet des allgemeinen Aufsichtsrechts des Landes von deren Beauftragten erteilt und beaufsichtigt. (2) Die Teilnahme am Religionsunterricht und an religiösen Schulfeiern bleibt der Willenserklärung der Erziehungsberechtigten, die Erteilung des Religionsunterrichts der des Lehrers überlassen. Artikel 120 Hochschulfreiheit (1) Die Hochschule ist frei in Forschung und Lehre. (2) Die Hochschule hat unbeschadet der Aufsicht des Landes das Recht auf eine ihrem besonderen Charakter entsprechende Selbstverwaltung im Rahmen der Gesetze und ihrer vom Lande anerkannten Satzungen. (3) Bei der Ergänzung des Lehrkörpers wirkt sie durch Ausübung ihres Vorschlagsrechts mit. Artikel 121 Sächsische Akademie der Wissenschaften Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bleibt in ihrem Bestand erhalten.
Artikel 122 Erwachsenenbildung Die Erwachsenenbildung ist vom Land und den Trägern der Selbstverwaltung zu fördern. XII. Abschnitt Die Kirchen und Religionsgemeinschaften Artikel 123 Ungestörte Religionsausübung (1) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet und steht unter dem Schutz des Landes. (2) Die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt. (3) Kirchen und Religionsgemeinschaften haben das Recht, zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen. Artikel 124 Weimarer Kirchenartikel Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieser Verfassung. Artikel 125 Diakonische Arbeit (1) Die diakonische Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften wird gewährleistet. (2) Die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften oder ihren Organisationen unterhaltenen Krankenhäuser, Schulen, Fürsorgeanstalten und ähnlichen Häuser gelten als gemeinnützige Einrichtungen. Artikel 126 Kirchliche Lehranstalten/Theologische Fakultät (1) Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind berechtigt, eigene Lehranstalten zur Ausbildung von Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern zu unterhalten. (2) Die Lehrstühle an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig werden im Benehmen mit der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens besetzt.
Zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung Artikel 127 Staatsverpfl ichtungen gegenüber der Kirche (1) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Leistungen des Landes an die Kirchen werden gewährleistet. (2) Die Höhe dieser Leistungen wird durch Gesetz oder Vertrag geregelt. (3) Werden durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften gemeinnützige Einrichtungen oder Anstalten, wie Friedhöfe, Kindergärten, Krankenhäuser, Sozialhilfestationen, Alters- und Pflegeheime, öffentliche Parkanlagen, unterhalten, so besteht Anspruch auf angemessene Kostenerstattung des Landes oder der Träger der Selbstverwaltung. (4) Die denkmalswerten Kirchen- und anderen Gebäude der Kirchen und Religionsgemeinschaften sind, unbeschadet des Eigentumsrechtes, Kulturgut der Allgemeinheit. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben daher Anspruch auf angemessene Kostenbeteiligung des Landes oder der Träger der Selbstverwaltung an ihrer baulichen Unterhaltung. Artikel 128 Seelsorge an Wehrpfl ichtigen und Zivildienstleistenden Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben das Recht zur Seelsorge an Wehrpfl ichtigen und Zivildienstleistenden ihres Bekenntnisses. Ihnen ist hierzu sowie für die Abhaltung gottesdienstlicher Veranstaltungen die Möglichkeit einzuräumen und der Zugang zu den entsprechenden Einrichtungen zu gewähren. Artikel 129 Kirchenverträge Rechte und Pfl ichten, die sich aus Verträgen des ehemaligen Freistaats und Landes Sachsen mit der evangelischen und katholischen Kirche ergeben, werden anerkannt. Soweit solche Rechte und Pfl ichten dieser Verfassung oder der Verfassung des deutschen Bundesstaates widersprechen, gelten sie als ruhend, bis sie durch neue vertragliche Regelungen ersetzt oder aufgehoben sind. XIII. Abschnitt Schlußbestimmungen Artikel 130 Notstand/Notparlament (1) Ist bei drohender Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes oder für die lebensnotwendige
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Versorgung der Bevölkerung sowie bei einem Notstand infolge einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglücksfalles der Landtag verhindert, sich alsbald zu versammeln, so nimmt ein vom Präsidenten des Landtags aus den verfügbaren Mitgliedern des Landtags berufener Ausschuß als Notparlament die Rechte des Landtags wahr. Die Verfassung darf durch ein von diesem Ausschuß beschlossenes Gesetz nicht geändert werden. Die Befugnis, dem Ministerpräsidenten das Vertrauen zu entziehen, steht dem Ausschuß nicht zu. (2) Solange eine Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes droht, fi nden durch das Volk vorzunehmende Wahlen und Abstimmungen nicht statt. Die Feststellung, daß Wahlen und Abstimmungen nicht stattfi nden, trifft der Landtag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder. Ist der Landtag verhindert, sich alsbald zu versammeln, so trifft der in Absatz 1 genannte Ausschuß die Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder. Die verschobenen Wahlen und Abstimmungen sind innerhalb von sechs Monaten, nachdem der Landtag festgestellt hat, dass die Gefahr beendet ist, durchzuführen. Die Amtsdauer der in Betracht kommenden Personen und Körperschaften verlängert sich bis zum Ablauf des Tages der Neuwahl. (3) Die Feststellung, dass der Landtag verhindert ist, sich alsbald zu versammeln, trifft der Präsident des Landtages. Sie bedarf der Zustimmung des Ministerpräsidenten. (4) Beschlüsse des in Absatz 1 genannten Ausschusses sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt dem Landtag zur Bestätigung vorzulegen. Erfolgt keine Bestätigung, sind sie sofort außer Kraft zu setzen und ihre Folgen, soweit möglich, rückgängig zu machen. Artikel 131 Wiedergutmachung Alle durch die nationalsozialistische oder stalinistisch-kommunistische Gewaltherrschaft wegen ihrer politischen, religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung oder wegen ihrer Rasse, Abstammung oder Nationalität oder wegen ihrer sozialen Stellung Geschädigten haben nach Maßgabe der Gesetze Anspruch auf Wiedergutmachung. Artikel 132 Rechtsnachfolge/Vermögen (1) Das mit dieser Verfassung neubegründete Land Sachsen ist Rechtsnachfolger des ehemaligen Freistaats Sachsen sowie des im Jahre 1952 zwangsweise aufgelösten Landes Sachsen.
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(2) In die Rechte und Pfl ichten der ehemaligen preußischen Provinz Schlesien tritt das Land Sachsen insoweit ein, als sich solche Rechte und Pfl ichten auf das zum jetzigen Lande Sachsen gehörige Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz Schlesien beziehen. (3) Das Vermögen des ehemaligen Freistaats Sachsen, des 1952 aufgelösten Landes Sachsen sowie das in dem zum jetzigen Lande Sachsen gehörige Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz Schlesien belegene Vermögen ist, soweit es nicht bis zum 31. Dezember 1951 rechtmäßig veräußert wurde, in das Eigentum des Landes zurückzuführen.
Artikel 133 Weitergeltung bisherigen Rechts Das im Gebiet des Landes Sachsen geltende Recht bleibt in Kraft, soweit es dieser Verfassung nicht widerspricht. Artikel 134 Inkraftsetzung (1) Die Verfassung bedarf zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten in einem Volksentscheid. (2) Die Verfassung ist unmittelbar nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses des Volksentscheids, sofern es der in Absatz 1 genannten Bestimmung entspricht, durch den Ministerpräsidenten auszufertigen und unverzüglich im Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Sachsen zu verkünden. Sie tritt mit ihrer Verkündung in Kraft.
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Anhang III: Vorschlag (1) Mindestens 25.000 Bürger können dem Landtag einen mit Begründung versehenen Gesetzesentwurf oder eine politische Forderung in Form einer allgemeinen Anregung zur geschäftsordnungsmäßigen Behandlung vorlegen (= Volksantrag). Jeder Bürger ist berechtigt, einen Volksantrag in Gang zu setzen. (2) Stimmt der Landtag dem Anliegen der Initiative innerhalb einer Frist von sechs Monaten nicht unverändert zu, kann die Initiative ein Volksbegehren einleiten. Die Massenmedien (Presse, Funk, Fernsehen) sind verpfl ichtet, den Antrag im Wortlaut zu veröffentlichen. (3) Ein Volksentscheid fi ndet statt, wenn mindestens 60.000 Bürger durch ihre Unterschrift ein Volksbegehren unterstützen. (4) Zwischen einem erfolgreich abgeschlossenen Volksbegehren und dem Volksentscheid muß mindestens ein halbes Jahr Zeit für die öffentliche Information und Diskussion über den Abstimmungsgegenstand zur Verfügung stehen. Dabei sind die Massenmedien verpfl ichtet, Pro und Contra gleichberechtigt zu veröffentlichen. Die Träger des Volksbegehrens haben das Recht, ihre Position in allen Medien selbst zu vertreten. (5) Bei der Abstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Soll durch einen Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, ist die 3/5-Mehrheit erforderlich. (6) Ob ein Volksbegehren verfassungsändernden Charakter hat, entscheidet im Konfl iktfall das Verfassungsgericht. (7) Das Nähere regelt das Ausführungsgesetz. Ralf Donner Demokratie Initiative 90 Sektion DDR Dresden 18. April 1990
Politische Texte von Schriftstellern der Auf klärungszeit als Quelle der Verfassungsgeschichte* von
Dr. Bernhard Weck, Hof I. Wer es unternimmt, aus historischen Quellen Erkenntnisse für die Gegenwart zu schöpfen, dem schlägt nicht selten Argwohn entgegen, weil der Wert der Einsichten wegen ihrer Zeitgebundenheit zweifelhaft scheint. Als der Dichter Gottfried August Bürger 1793 seinen umfangreichen „Prosaische(n) Aufsatz“ über „Die Republik England“1 verfasste, beschrieb er das Anliegen seiner geschichtlichen Betrachtungen vortreffl ich: „In der Vergangenheit spiegelt sich manche Erscheinung der Zukunft; obgleich dämmernd und täuschend auch für das Auge des schärfsten Sehers. (…) Die ruhige, unpartheiische Muse Geschichte überläßt es der Weltweisheit2 und deren Tochter, der Staatsklugheit, über die Wahrheit (…) zu entscheiden, um ungekränkt und ungehindert von Usurpationen, lediglich durch unbefangene Erzählung dessen, was die Menschen gedacht, gesagt und gehandelt haben, unterrichten zu können.“3 Literaturhistorische Zeugnisse, die die politischen Verhältnisse des „Zeitalter(s) der Auf klärung“ (Kant) abbilden, geben den Blick frei auf Fundamente moderner Verfassungsstaatlichkeit; sie lassen ideengeschichtliche Entwicklungslinien sichtbar werden und erschließen Hintergründe und Tiefenschichten verfassungsrechtlicher Begriffsprägungen. Aufgeklärte Schriftsteller debattierten in Zeitschriftenbeiträgen, Streitschriften, Romanen, Theaterstücken, Erzählungen, Reiseberichten und Gedichten elementare Prinzipien der Herrschaftslegitimation, diskutierten die Begründung und Ausübung * Mit Anmerkungen versehener Text eines Vortrags, den der Verfasser am 6.6.2011 am Institut für Europäisches Recht und Rechtskultur (Universität Bayreuth) im Rahmen des gemeinsamen Seminars von Prof. P. Häberle und Prof. M. Kotzur gehalten hat. 1 G.A. Bürger, Sämmtliche Werke, 4. Bd., 1844, S. 1–105. Zu der Zeit der Republik in England (1649–1660) s. H.-C. Schröder, Englische Geschichte, 4. Aufl. 2003, S. 28 f. 2 Gemeint ist im Sprachgebrauch der Zeit die Philosophie (S. dazu W. Schneiders, Das Zeitalter der Auf klärung, 3. Aufl. 2005, S. 90 f.). 3 G.A. Bürger, o. Fußn. 1, S. 1, 10.
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staatlicher Hoheitsgewalt und erörterten Fragen der Volkssouveränität und der Menschenrechte.4 Auf diese Weise trugen politisch engagierte Literaten maßgeblich zur Ausbreitung und Verfestigung der gedanklichen Grundlagen freiheitlicher und (früh)demokratischer Verfassungsvorstellungen bei.5 Wenn „Verfassungsentwürfe und Verfassungen (…) ihre Zeit in Gedanken (fassen)“6 , dann eröffnet die Auseinandersetzung mit literarischen Wegbereitern modernen Verfassungsdenkens Möglichkeiten der kritischen Selbstvergewisserung und Standortbestimmung des gegenwärtigen Zustandes realisierter Verfassungsstaatlichkeit.
II. 1787 erkannte der schwäbische Journalist, Poet und Komponist Christian Friedrich Daniel Schubart der Dichtkunst den Zweck zu, „nicht mit Geniezügen zu prahlen, sondern ihre himmlische Kraft zum Besten der Menschheit zu gebrauchen.“7 Politisch dezidierter formulierte der österreichische Dichter Johann Pezzl sein Selbstverständnis der Literaten: Die Schriftsteller seien „Sachwalter der niedergetrampelten Vernunft, der gekränkten Menschheit, der unterdrückten Unschuld, der entrissenen Freiheit.“ „Sie bringen“ – schreibt er in seinen „Marrokanische(n) Briefen“ aus dem Jahr 1784 – „die Faustschläge der Tyrannei, die Meuchelschliche der Ränkesucht, die Schandstreiche des Fanatismus an das Licht des Tages, vor das Tribunal der Welt…“ und, so fügt Pezzl in übersteigertem Sendungsbewusstsein hinzu: „Ihnen (den Schriftstellern) haben es die Menschen zu verdanken, daß sie Menschen sind.“8 Als im Dezember 1796 das letzte Exemplar der „Berlinische(n) Monatsschrift“ erschien, verband Johann Erich Biester, der Herausgeber dieses bedeutendsten Journals der deutschen Spätauf klärung, seinen „Abschied von den Lesern“ mit dem Aufruf: „Aufklärung und Moralität müssen immer das Losungswort, immer der Hauptgedanken aller Schriftsteller und aller Leser in Deutschland bleiben!“9 Mit Sympathie verfolgten politische Schriftsteller des deutschen Sprachraums die Freiheits- und Verfassungsentwicklungen in der Neuen Welt der werdenden ameri4 Vgl. B. Weck, Literaten der Spätauf klärung und ihr Beitrag zur Entwicklung moderner Verfassungsstaatlichkeit, NJW 2000, 2153–2157 (Wiederabgedr. in: H. Weber (Hrsg.), Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung, 2003, S. 41–53.). 5 M. Stolleis, Vom Nutzen der Historie vor 1806, JuS 1989, S. 871 ff. hebt u.a. hervor, dass Staat und Staatsrecht historische Produkte sind, aus deren „Veränderungen im Verlauf der Geschichte (…) Erfahrungsrohstoff für die Gegenwart“ gewonnen werden kann (S. 875); zu Recht warnt er „wegen der Mannigfaltigkeit, Unausschöpf barkeit und Interpretierbarkeit des Materials“ vor „simple(n) ,historia docet‘“ Schlussfolgerungen (S. 874); zum „Problem des hermeneutischen Zirkels“ s. D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., 2009, S. 4. 6 P. Häberle, Verfassungsentwicklungen in Osteuropa – aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, in: ders., Europäische Rechtskultur, 1997, S. 101 ff. (101), als Variation des HegelZitats, „Philosophie“ sei „ihre Zeit in Gedanken gefaßt“. 7 C.D.F. Schubart, Briefe, 1984, S. 276 (Brief vom 22.2.1787 an C.F. Himburg). 8 J. Pezzl, Marrokanische Briefe, 1784, S. 243. 9 Abgedr. in: F. Gedike/J.E. Biester (Hrsg.), Berlinische Monatsschrift (1783–1796) – Auswahl (hrsg. v. P. Weber), 1986, S. 354.
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kanischen Staaten. Den Unabhängigkeitskampf erhob Christian Friedrich Daniel Schubart für die Leser der Zeitschrift „Deutsche Chronik“ zum leuchtenden Vorbild, wobei dessen poetische Gestaltung wegen des überschwänglichen politischen Enthusiasmus und zeittypischen propagandistischen Kolorits sowie eines für volkstümlich gehaltenen Tonfalls10 an unübersehbaren Schwächen leidet: „Freiheitslied eines Kolonisten// (…) Die Göttin Freiheit mit der Fahn‘ / (Der Sklave sah sie nie) / Geht – Brüder, seht! sie geht voran! (…) // Da seht Europens Sklaven an, / In Ketten rasseln sie! / Sie braucht ein Treiber, ein Tyrann/ Für würgbares Vieh./ Ihr reicht den feigen Nacken, ihr / Dem Tritt der Herrschsucht dar? – / Schwimmt her! – hier wohnt die Freiheit, hier! / Hier flammt ihr Altar! / (…).“11 Wenn Schubart Jahre später die „ewigfeste(n), der reinen Vernunft einleuchtende(n) Grundsätze“, über die Gesetzgebungsbefugnis der Nation, welche die „alleinige Basis einer guten Verfassung“ seien, als „Bollwerk der Freiheit“12 bezeichnet, so schrieb er mit dieser Wendung einen Sprachgebrauch fort, der verfassungstextlich in der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 angelegt war: Dort erklärten die „Repräsentanten der guten Leute von Virginia“ in Art. 12, „ daß die Freiheit der Presse eines der großen Bollwerke der Freiheit ist und niemals eingeschränkt werden kann, außer durch despotische Regierungen.“13 Schon 1774 hatte Schubart das Engelländische Volk gerühmt, „ mit unbeugsamem Muth, die Wahrheit dicht an den Schranken des Gerichts oder am Fuße des Throns zu sagen“ und er bekannte, zu „Bacon, Locke, Newton und Shakespeare nicht ohne Schauer und Ehrfurcht emporzublicken.“14
III. Die nach den Worten Adolph Freiherr von Knigges „große, beyspiellose (…), der ganzen Menschheit wichtige Begebenheit“15 der französischen Revolution löste unter den der Auf klärung verpfl ichteten Literaten eine wahre Freiheitseuphorie aus. 10
S. zu diesem B.J. Warneken, Schubart. Der unbürgerliche Bürger, 2009, 15, 19, 128, 177. Chr.Fr.D. Schubarts Gedichte (Historisch-kritische Ausgabe von Gustav Hauff ), 1920, S. 193 f. Zu den Einflüssen der amerikanischen Verfassungsentwicklungen auf die verfassungsrechtliche Entwicklung in Deutschland s. D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1988, S. 36 ff. („Der Ursprung der modernen Verfassung in Amerika“); H. Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert, 1994 sowie P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002 (inbes. S. 60 ff. (Die Genese der Verfassungsbegriffs des Grundgesetzes in der Amerikanischen Revolution.“)). – Zum großen „Widerhall“, den der Befreiungskrieg der Kolonien in Europa insbes. in Kreisen des auf klärerischen Illuminatenordens gefunden hatte s. H. Schüttler, Einleitung zu: J.J.C. Bode, Journal einer Reise von Weimar nach Frankreich im Jahr 1787, 1994, S. 34 f. 12 Zit. nach B.J. Warneken, o. Fußn. 10, S. 367. 13 Der Begriff vom „freiheitssichernden Bollwerk“ verfassungsrechtlicher Bestimmungen fand häufige Verwendung: s. z. B. G. Forster, Ansichten vom Niederrhein (1791), Insel-Tb.-Ausg. 1989, S. 131 („Genehmigt die Stadt Aachen den ihr vorgeschlagenen Constitutionsplan, so wird sie in dem darin bestimmten Bürgerausschuß (kursiv im Original) das Bollwerk ihrer bürgerlichen Freiheit (im Original nicht kursiv) fi nden.“); s. auch W. Ogris, Joseph von Sonnenfels und die Entwicklung des österreichischen Strafrechts, in: L. Berlinguer/F. Colao, Illuminismo E Dottrine Penali, Milano 1990, S. 459 ff. ( 468). 14 Zit. nach B.J. Warneken, o. Fußn. 10, S. 170 f. 15 A. v. Knigge, Joseph von Wurmbrand, Ausgew. Werke in zehn Bänden, Bd. 8, 1994, S. 94 ff. (127). 11
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Insbesondere die „Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers“ vom 26. August – 3. November 178916 beflügelte die Autoren, Verfassungsgrundsätze des Republikanismus begeistert weiter zu tragen und den Individualrechten der Menschen durch allgemein verständliche Verbreitung möglichst wirkmächtige Geltung zu verschaffen. Dem Lesepublikum der politischen Zeitschrift „Das neue graue Ungeheuer“ stellte der radikal-demokratische Schriftsteller und Jurist Georg Friedrich Rebmann 1796 seine „Einfälle bei Durchlesung der neuesten fränkischen Konstitution“ – so der Titel des auf französische Revolutionsverfassungen bezogenen Aufsatzes – vor: „Es ist bekannt, daß der fränkischen Konstitution die Rechte und Pfl ichten des Menschen und des Bürgers vorausgeschickt sind. Diese lassen sich nicht dekretieren, nicht befehlen, nicht aufzwingen. Sie sind keine Gesetze und sollen es auch nicht sein: Aber sie sind die Basis aller Gesetze, der Grundstein jeder guten Staatsverfassung. Sie sind das, was in der Mathematik die vorausgeschickten Grundsätze sind, die keines Beweises bedürfen.“17 Im folgenden Satz benennt Rebmann Kernelemente des natur- und vernunftrechtlich fundierten Staatsverständnisses der Auf klärung: „Jedermann der sie (Die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers) lieset, der sie höret, muß ihnen Beifall geben; denn sie fl ießen aus der Natur des Menschen, sind auf die unumstößlichen Vernunftprinzipie gebaut, ohne sie läßt sich keine glückliche Menschengesellschaft denken.“18 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entsprach es alltäglicher Praxis, die Ideen der Menschen- und Bürgerrechte möglichst vielen Bevölkerungsschichten nahe zu bringen. So verlegte Trierer Buchdrucker Hetzrodt 1799 einen „Republicanische(n) Katechismus, Handbuch für den Unterricht in den Pfl ichten und Rechten des Menschen und des Bürgers. Zum Gebrauche in den Primärschulen vorzüglich in der II. Classe. Tugend und Recht.“19 Ob diese Unterweisung – wie vermutet – aus der Feder des Historikers, Pädagogen, Schriftstellers Johann Hugo Wyttenbach stammt, der zu den Gesprächspartnern Goethes gehörte, als dieser sich 1792 auf dem Weg in die Champagne und auf der Rückreise von Valmy in Trier auf hielt, ist allerdings nicht sicher geklärt.20 Nach der „Angliederung des linksrheinischen Gebiets an Frankreich“ legte der Beschluss der Zentralverwaltung vom 5.12.1799 für die Schulen des „Saar-Departements“ fest, dass Volksschullehrer „imstande seyn (müssen,) die französische Sprache lesen und schreiben, die Dezimal-Rechnung, die Rechte und Pfl ichten des Menschen und Grundsätze der republikanischen Moral zu lehren.“21 16 Franz. Text und deutsche Übers. bei: D. Willoweit/U. Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, 2003, S. 250–254; s. hierzu auch H.-G. de Riqueti, Graf Mirabeau, Die Menschenrechte, Rede vor der Nationalversammlung am 17.8.1789, abgedr. in: C. Menke/F. Raimondi, Die Revolution der Menschenrechte, 2011, S. 35–40. 17 Abgdr. bei C. Träger, Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, 3. Aufl. 1989, S. 701 f. (701). 18 C. Träger, o. Fußn. 17, S. 701. 19 F.X. Kraus, J. H. Wyttenbach, in: Allgemeine deutsche Biographie (ADB), Bd. 44 (1898), S. 431 ff. 20 Ebd. 21 H. Schiffl er, Die pfälzische Schule in bayerischer Zeit, Abschnitt: Allgemeine Entwicklung; http://www.schulmuseum-ottweiler.net/mason/site/view.html?sectio. . . (aufgerufen am 1.9.2011).
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Schon am 10. Juli 1789 hatte Schubart seine Landsleute ebenfalls in volkspädagogischer Absicht aufgefordert, von den Franzosen zu lernen, „was Gefühl von Menschenwürde, was Freiheitsgeist sei.“22
IV. Aus der kosmopolitischen Geisteshaltung der aufgeklärten Schriftsteller folgte die Überzeugung, dass aus ihren verfassungspolitischen und menschenrechtlichen Ideen universelle Geltungs- und Achtungsansprüche fl ießen, die zum Wohle aller Menschen verwirklicht werden müssten. Georg Friedrich Rebmann behauptete dieses Credo trotzig:“ Wahrheit und Recht sind ewig Wahrheit und Recht. (…) Wir kämpfen nicht für Mirabeau, Robespierren oder Carnot, wir kämpfen für die Wahrheit! Wir streiten nicht für uns, wir streiten für die Menschheit!“23 Versuchen der Revolutionsgegner, demokratisch gesonnene Schriftsteller als jakobinische Sympathisanten des revolutionären Terror- und Schreckensregimes in Frankreich zu diskreditieren, trat Rebmann entgegen: „Wer eine Reformation wünscht, will deshalb keine Revolution; wer dem Volke Rechte zugesteht, ist kein Jakobiner; wer behauptet, daß er tyrannischen Gesetzen zu gehorchen nicht schuldig sei, kein Rebell.“24 Von der Welt des alten Herrschaftsgefüges, dessen Überwindung die Schriftsteller der Auf klärungsepoche anstrebten, zeichneten sie in ihren literarischen Werken düstere Bilder. Sie standen in schroffem Gegensatz zu gesellschafts-, staats- und menschenrechtlichen Vorstellungen der maßgeblich von den Philosophen T.Hobbes, J. Locke, S. Pufendorf, C. de Montesquieu, I.Kant, J.J.Rousseau beeinflussten neuzeitlichen Staatsphilosophie. Das überkommene, aus ihrer Sicht überlebte Machtsystem präsentierten die Literaten als kaum entwirrbares Geflecht von feudalistischen, ständestaatlichen und absolutistischen Strukturen und Herrschaftspraktiken. Der von ihnen ausgemachte despotische Unterdrückungsapparat, ohne den die Ausbeutung unfreier, rechtlos gestellter Menschen, gemeiner Leute und Untertanen 25 nicht aufrecht zu erhalten gewesen wäre, gab ihren Feindbildern Konturen. Schwerlich zu übersehen ist, dass die nicht selten drastischen, satirisch überzeichnet und karikaturesk verzerrt wirkenden Schilderungen propagandistische Ziele verfolgten, um den Kontrast zwischen dem morschen und verdammungswürdigen ancien regime einerseits und den utopischen Verheißungen der propagierten neuen philanthropischen Ordnung andererseits zuzuspitzen. 22 C.F.D. Schubart, Deutsche Chronik – Eine Auswahl (hrsg. v. E. Radczun), 1988, S. 314 (Aus dem 55. Stück der Vaterlandschronik v. 10. Juli 1789); geradezu prophetisch muten die im 47. Stück vom 10. Juni 1789 (a.a.O., S. 310 f.) formulierten Vorahnungen an: „Aber jetzt scheint es, unsrer europäischen Republik – wo Königsgewalt, Hierarchie, Herrschaft des Adels und des Volks seit vielen Jahrhunderten wie eiserne Widder aufeinanderstießen, stehe eine ernste Veränderung bevor. In allen großen und kleinen Staaten bemerkt man eine Gärung, die immer gewaltiger wird, so, daß die Reife unserer bisherigen Verfassungen schon da und dort zu springen beginnen wie ein Faß, worin brausender Most rumort. – In weniger als einem Jahrhundert wird Europa eine ganz andere Gestalt haben (…).“ 23 G.F. Rebmann, Werke und Briefe, Bd. 2, 1990, S. 176. 24 Ebd., S. 24. 25 S. zur grundlegenden Klärung dieser Begriffe P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, 2. Aufl. 2006 S. 96, 99, 291 f. u.ö.
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V. Dies sei an einigen Beispielen aufgezeigt. Die Maßlosigkeit des absoluten Gehorsamsanspruchs der Obrigkeit illustriert der Dichter Johann Jakob Bodmer drastisch: In seinem 1762 entstandenen Stück „Wilhelm Tell oder, der gefährliche Schuß“, der ersten deutschsprachigen dramatischen Bearbeitung des Tell-Stoffes im 18. Jahrhundert,26 maßt sich der Vogt Geßler schrankenlose Herrschaftsgewalt an: „Ich verlange Gehorsam für meine Befehle, weil es meine Befehle sind. Mein Wille macht sie unverbrüchlich. Die Bauern müssen nicht fragen, ob sie gegeben sind, Nutzen oder Schaden zu thun; was so gleichgültig war als in die Luft zu blasen, wird durch mein Gebot oder Verbot so gesetzmäßig als eines der zehn Gebote Gottes.“27 Eine für manche Territorien des „Heiligen Römischen Reichs“ historisch korrekte Charakterisierung der „Leibeigenschaft“28 , die in „Teutschland“ zu rechtsstatusmindernden Einschränkungen des freien Zugs, des Eigentums- und Erbrechts, der Freiheit der Eheschließung sowie zu Fronpfl ichten und der Unterwerfung unter die Rechtsprechungsgewalt begründende Gutsherrschaft führte,29 lieferte der Aufklärungsschriftsteller Christoph Friedrich Cotta 30 : „Die Leibeigenschaft. Da betrachtet man unseres Herrn Gottes freie Menschen wie ein Stück Vieh, welches keinen eigenen Willen hat, und läßt die Leute nicht einmal unentgeltlich sterben, sondern nimmt noch dem Witwer oder der Witwe und den Waisen ein Stück Geld dafür ab, daß Vater oder Mutter gestorben ist; die armen verlassenen Kinder müssen wieder leibeigen sein und sogar, wenn sie in eine nicht leibeigene Gemeinde ziehen wollen, fünfzehn Prozent ihres Vermögens zurücklassen.“31 Die von Friedrich Cotta beschriebenen Abgabelasten von Todes wegen wurden unter den Begriffen „Todfall“, „Gewandfall“ und (Herausgabepfl icht des) „Besthaupt(es)“ von den Leibherrschaften, Klöstern und weltlichen Leibherren, eingetrieben. Sie sind durch historische Studien als Charakteristikum bestehender Leibeigenschaftsverhältnisse gut dokumentiert.32 Immer wiederkehrende Propagandaformeln, die Herrschaft behandele die einfachen Menschen, die Landleute, den gemeinen Mann wie Sklaven, Vieh 33 , Fliegen34 oder Dreck, wurden derart häufig verwendet, dass sie sich ohne große Mühe dut26
A.M. Debrunner, Nachw., in: J.J. Bodmer, Schweizerische Schauspiele, 1998, S. 51 ff. (61). J.J. Bodmer, Wihelm Tell oder der gefährliche Schuß, o. Fußn. 26, S. 11 ff. (16). 28 Grundlegendes bei P. Blickle, o. Fußn. 25. 29 S. z. B. W. Trossbach, Bauern 1648–1806, 1993, S. 12 ff.; s weiterhin etwa H. Pohl, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vom Spätmittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, in: K.G.A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1 , 1983, S. 253 ff. 30 Zur Biographie von Friedrich Christoph Cotta, dem älteren Bruder des Verlegers Johann Friedrich Cotta s. M. Neugebauer-Wölk, Revolution und Constitution – Die Brüder Cotta, 1989, S. 29 ff. 31 Aus: „Wie gut es die Leute am Rhein und an der Mosel jetzt haben können“ (1792), abgedr. in: J. Hermand (Hrsg.), Von deutscher Republik. 1775–1795 I. Aktuelle Provokationen, 1968, S. 152 ff. (153). 32 P. Blickle, o. Fußn. 25, S. 30 f., 39, 42 47, 49, 54, 56, 62, 230 ff.u.ö. 33 S. die charakteristischen Beispiele aus der Dichtkunst von Johann Heinrich Voß, Werke in einem Band, 1976, S. 6 („Die Leibeigenen// Der, mit Diensten des Rechts (sei Gott es geklagt) und der Willkür,/uns wie die Pferde abquälet, und kaum wie Pferde beköstigt(…)/Der die Mädchen des Dorfes mißbraucht und die Knaben wie Lastvieh/Aufzöge, wenn nicht sich erbarmeten Pfarrer und Küster,/ 27
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zendweise in Pamphleten, Gedichten, Reiseberichten und anderen Literaturgattungen nachweisen ließen.35 Ein Musterbeispiel satirisch überspitzer Zeichnung spätabsolutistischer Fürstenherrschaft bietet Carl Ignaz Geigers Skizze „Der Mannheimer Hof “, die der Schriftsteller und Jurist 1790 publiziert hat. Ihre Lebendigkeit, ihr bissiger, für kritische Autoren der damaligen Zeit typischer Tonfall und ihre stilistische Brillanz rechtfertigt die nur geringfügig gekürzte Wiedergabe des Textes: „Der hiesige Fürst ist ein guter Mann, aber auch der größte Schwachkopf, den die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert aufzuweisen hat. Seine herrschende Leidenschaft ist das andere Geschlecht. Er wird daher ganz von Mätressen und Pfaffen gegängelt; und beide Gattungen haben sich so in seinen Besitz geteilt, daß keine, was sonst selten ist, der Macht der anderen Abbruch tut. Er teilt vielmehr seine Stunden ordentlich zwischen Bigotterie und Liebe, und läßt sich täglich um 9 Uhr Morgens richtig von der Mätresse weg nach der h. Messe tragen, und von der h. Messe zur Mätresse. Außerdem ist seine wesentlichste Beschäftigung, gut essen, und trinken. (…) Man kann leicht denken, wie es unter einem Regimente von Weibern und Pfaffen in diesem Lande hergeht. Es wimmelt von Heuchlern, Proteges, Pfaffendienern und Weiberknechten. Wer nicht unter diese Klasse gehört, sucht hier sein Glück vergebens: er müßte dann Geld genug haben, um es zu kaufen. Dies ist das Mittel, wodurch der verdienstloseste Mensch, ohne alle Konnexion und Ansprüche, plötzlich zu einer der ersten Stellen im Staate gelangen kann. Man nennt diese Dienstmäkler hier öffentlich, und es sind erste Minister darunter, zu denen man nur geradezu hingehen darf, wie zu einem Handelsmanne, um zu feilschen. Da sind dann zu haben: ein Oberamtmann, ein Geheimerat, ein Hofrat, ein Sekretär, ein Kanzlist und ein Stubenheizer: kurz, alle die höchsten und geringsten Stellen, alles für gutes bares Geld in billigen Preisen. Hat aber einer keine Glücksgüter; ist nicht Protege, nicht Pfaffen- noch Weiberknecht: so hat er immer noch eine Resource hier; er heiratet eine ausgemusterte Mätresse des Fürsten, oder irgend eines Ministers, von denen es hier wimmelt – und sein Glück ist gemacht. Banqueroutiers, Faquins und Abenteurer sind daher die Männer, die hier die ersten Stellen im Staate begleiten.“36 Geigers grell kolorierte Satire über den Mannheimer Fürstenhof verspottet nicht lediglich imaginierte Phantasiebilder, sondern trifft im Kern reale Missstände der 34
welche gehaßt vom Junker, /Vernunft uns lehren und Rechttun?“) und S. 30 („Die Freigelassenen// Mensch sei der Bauer, nicht Vieh…“). 34 G.A. Bürgers Freund L.F.G. Goeckingk dichtete: „…alles Blut/Muß mit der Gall’ ein Herz durchwühlen,/Wenn Fürstengroll und Uebermuth/Mit Menschen wie mit Fliegen spielen.“ – abgedr. bei: A. Strodtmann, Bürger’s politische Ansichten, Neue Monatshefte für Dichtkunst und Kritik, Erster Band. 1875, S. 216 ff. (217). 35 Zahlreiche Beispiele solcher Formeln und der weit verbreiteten Sklavenrhetorik sind bei P. Blickle, o. Fußn. 25 aufgeführt (z. B. 119, 124, 133, 156 u.v.a.). 36 C.I. Geiger, Reise eines Engelländers durch Mannheim, Bayern, und Österreich nach Wien (Amsterdam 1790), zit. nach: J. Hermand, Von deutscher Republik. 1775–1795, I. Aktuelle Provokationen, 1968, S. 76 f. Der Doktor der Rechte C.I. Geiger (1756–1791) veröffentlichte 1790 anonym den „verschlüsselte(n) Flugroman“ ( J. Hermand) „Reise eines Erdbewohners in den Mars“ (FaksimileAusg. 1967), in dem sich „Satire und Utopie, Zweckform und Kunstcharakter zu einer relativ gelungenen Synthese vereinigen(.)“ ( J. Hermand, Nachw. zur Faksimile-Ausg. 1967, S. 28) und der Maximen guter Staatspraxis mit den Übelständen diktatorischer Herrschaftsformen konfrontiert.
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Regierungspraxis in Duodezfürstentümern und größeren Staatsgebilden 37 im „Deutschen Reich“, die den Ruf nach Rationalisierung der Herrschaftsverhältnisse durch der Vernunft gemäße moderne „Staats-“ oder „Regierungs-“Verfassungen heraufbeschworen. Wenn Fürsten Staatsbediente nach Willkür ein- und absetzen, willkürlich neue Gesetze machen und alte widerrufen, dispensieren, begnadigen, mildern und die Strafe verdoppeln, Freiheit und Leben rauben ohne vorhergegangenen öffentlichen Prozeß, ohne Bekanntmachung des Verbrechens, dann ist ihre Herrschaft nichts anderes als Despotismus38 , befand der Auf klärungsschriftsteller Adolph von Knigge. Sein Urteil über solche Zustände variiert und verschärft ein vielzitiertes Diktum des Kirchenvaters Augustinus39 : „Eine Staats-Verfassung, in welcher es nur möglich ist, daß dergleichen geschehen kann und darf, ist nicht besser wie eine Mördergrube und Räuberhöhle.“40 Einen impliziten Bezug zu Kants Menschenwürdekonzeption41 weist Johann Gottfried Seumes Verständnis des Despotie-Begriffs auf: „Nicht wo einer regiert ist Despotie, sondern wo einer herrscht, das heißt, nach eigener Willkür schaltet und die übrigen unbedingt als Instrumente zu seinem Zwecke braucht.“42
VI. Die den als despotisch eingestuften Regimen von Literaten der Auf klärung entgegengesetzten verfassungsrechtlichen Vorstellungen sollen hier zumindest in wenigen Grundzügen umrissen werden.43 Grundlegend für die von Schriftstellern des ausgehenden 18. Jahrhunderts postulierten materiellen verfassungsrechtlichen Regelungen sind das Menschenbild der späten Auf klärungsära und das hieraus abgeleitete Freiheitsverständnis. Zwecke, Inhalte und Ausformungen wohlgestalteter Gesellschafts-, Staats- und Regierungs-Verfassungen, wie sie literarische Auf klärer in ihren politischen Texten propagierten, lassen sich nur vor dem Hintergrund der für das Bild vom Wesen des Menschen prägenden und eng miteinander verwobenen Schlüsselbegriffe Vernunft 37 Das belegen beispielsweise die Memoiren der Markgräfi n Wilhelmine von Bayreuth, die spöttisch distanziert die Zustände an provinziellen Höfen schildert (neu übers. von G. Berger, 2007). 38 A. v. Knigge, Joseph von Wurmbrand, o. Fußn. 15, S. 146 ff., (146, 148); s. zum Despotismus s. auch ders., Benjamin Noldmann, Ausgew. Werke, 1993, Bd. 9, S. 261 f. (Dieser „besteht in der Befugnis, die Einem oder Mehrern verstattet, von Einem oder Mehrern genommen wird, Andern willkürlich vorzuschreiben, was sie in einzelnen Fällen thun oder unterlassen sollen.“). 39 De civitate dei, IV, 4 (Vom Gottesstaat, 4. Buch, 4: „Was sind Staaten, wenn die Gerechtigkeit fehlt, anderes als große Räuberbanden?“). 40 A. v. Knigge, Joseph von Wurmbrand, o. Fußn. 15, S. 148 f. 41 Z. B. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke in sechs Bänden, Bd. IV, 7. Aufl age 2011, S. 569 (Kernaussage: Der Mensch ist „als ein solcher nicht bloß als Mittel zu anderer ihren (…) Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen…“). 42 J.G. Seume, Apokryphen, Ausg. 2002, S. 137. 43 Vertiefend „Zum Staats- und Verfassungsverständnis der deutschen Jakobiner“ s. O. Lamprecht, Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten am Ende des 18. Jahrhunderts, 2001.
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und Vollkommenheit bestimmen. Der Mensch ist von der Natur mit Vernunft begabt und seiner Natur ist es wesensgemäß, nach Vollkommenheit zu streben. Friedrich Schillers erste medizinische Dissertation „Philosophie der Physiologie“ (1779) 44 – die in der Heilkunde ohne wissenschaftliches Echo geblieben ist – stellt die Gleichung auf: „. . . der Mensch ist da, um glücklich zu sein: oder – Er ist da, um vollkommen zu sein. Nur dann ist er vollkommen, wann er glücklich ist. Nur dann ist er glücklich, wann er vollkommen ist.“45 Dass das Glücksstreben allen Menschen eigen ist, beschwört Johann Carl Wezel in dem von Voltaires „Candide“ beeinflussten Roman „Belphegor“ (1776) 46 : Selbst die Schwachen und Elenden, die bereit sind, des Mächtigen „und der übrigen Menschheit Diener (zu) seyn,“ wollen „nur als Menschen behandelt werden, die zu ihrer Glückseligkeit so wohl als “ die Mächtigen „auf diese Kugel gesetzt sind.“ Da Schiller – wie zahlreiche Philosophen und Dichter der Auf klärungszeit – davon ausging, dass der Mensch als vernünftiges Wesen verpfl ichtet sei, unablässig nach Vollkommenheit zu streben, auch wenn dieser Zustand auf der irdischen Lebensbahn niemals vollständig werden könne47, steht das Prinzip der stets auf Vervollkommnung ausgerichteten Lebensführung für das Programm und das natürliche Recht des Menschen auf persönliche Entfaltung und Ausbildung aller seiner in ihm angelegten Fähigkeiten. Forster appellierte an die Fürsten und Priester: „Anstatt uns Glück zu verheißen, laßt eure alleinige Sorge sein, die Hindernisse wegzuräumen, die der freien Entwicklung unserer Kräfte entgegenstehen; öffnet uns die Bahn, und wir wandeln sie, ohne Hülfe eures Treibersteckens, an das Ziel der sittlichen Bildung.“48
VII. Vernunft und Streben nach Vervollkommnung fundieren den Freiheitsbegriff des in seinem Willen nicht determinierten Menschen; 49 in ihnen kristallisieren sich zentrale Anliegen der Ideenwelt Auf klärung.50 44
F. Schiller, Sämtl. Werke Bd. V, 2004, S. 250 ff. Ebd., S. 251. S. weiterhin Karl v. Knoblauch, Die Rechte der Menschheit (1792), abgedr. bei J. Garber, Revolutionäre Vernunft, 1974, S. 25 ff. (S. 26 („Es ist der Natur eines perfektiblen Wesens – mithin des Menschen – gemäß, daß es sich zu vervollkommnen strebt.“)). 46 Insel-Tb.-Ausg. 1984, S. 39 f. 47 S. z. B. G. Forster, Ansichten vom Niederrhein, 1790, Insel-Tb. Ausg. 1989, S. 159 (Das „Ideal(.) der sittlichen Vollkommenheit“ kann „wie das Ideal des sinnlichen Vollkommenen (…) nur in der Phantasie des Philosophen existiren…“.) und A. Weishaupt, Grössere Mysterien…, in: H. Schüttler, J.J.C. Bode, o.Fußn. 11, S. 367 („Du mußt also auch fi nden, daß es eine leicht zu erweisende Thatsache (…) sey, daß (…) die Natur zum Besserseyn und zur Vollkommenheit arbeite, und daß es unphilosophisch sey, zu glauben, daß die Erde und das Menschengeschlecht keiner weiteren Vervollkommnung, ausser der jezigen fähig – daß unmöglich ein Ding, dessen Wesen im beständigen Wachsen besteht, auf Einmal in seinem Fortschritt zum Besserseyn stillstehen oder wohl gar sich vermindern müsse.“). 48 G. Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften, Ausg. 1966, S. 169. 49 Die Natur des Menschen sah z. B. Samuel v. Pufendorf nicht nur physisch bedingt, sondern durch Vernunft und den freien Willen spezifi ziert; auch nimmt er „eine natürliche Tendenz des Menschen zur Vervollkommnung des menschlichen Lebens“ an (s. H. Denzer, Pufendorf, in: H.Maier u.a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 5. Aufl. 1987, S. 27 ff. (39)). 45
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Durch Vernunft51 und „Vervollkommnungsfähigkeit“ unterscheidet „der Mensch sich von andren Tieren.“52 Wer das natur- und vernunftgegründete menschliche Vervollkommnungsstreben 53 hindert, beschränkt in vernunftwidriger, die natürlichen Rechte kränkender Weise die Freiheit des Menschen. Deshalb lässt sich Schillers Formel von der Koinzidenz des Glücks und der Vollkommenheit zu dem Satz modifizieren: Der Mensch ist, um frei zu sein. 1797 paraphrasierte Friedrich Schiller Jean-Jacques Rousseaus berühmte Einleitungssentenz des Ersten Kapitels seines Werkes „Vom Gesellschaftsvertrag“ : „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ durch idealistische Dichterworte: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei/ Und würd‘ er in Ketten geboren.“54 Gottfried August Bürger beantwortet die Frage: „Welches ist die Freiheit, darob wir kämpfen sollen?“ mit dem Bekenntnis: Die, „welche uns als denkenden und empfi ndenden Geschöpfen unentbehrlich (ist), zu physischer sowohl als moralischer Vollkommenheit und Glückseligkeit, hinanzustreben.“55 Den Weg zur Selbstentfaltung sollte die Bildung ebnen. Garlieb Helwig Merkel definierte sie 1796 exemplarisch: „Ich verstehe darunter nicht Lesen oder Schreiben, sondern Selbstgefühl, Liebe zur Thätigkeit und Moralität.“56 Dem Glücksbegriff ordneten Auf klärungsliteraten als essentielle Bedeutungsgehalte ethische Wertorientierungen zu. „Das wahre Glück“ sei „allein (. . .) in der Weisheit und Tugend“ zu fi nden“, proklamierte ein 1795 gedrucktes „Manifest“ von Adolph. v. Knigge.57 C.F. Bahrdt hält die „Zufriedenheit mit sich selbst“58 für das wichtigste und wesentliche Element der menschlichen Glückseligkeit.59 50
50 Zum „Epochenbegriff “ Auf klärung s. W. Schneiders, o. Fußn. 2, S. 115 (S. auch S. 11: Schneiders bezeichnet die Auf klärung des 18. Jahrhunderts anschaulich als eine „geistige und gesellschaftliche Reformbewegung, die sich von der Klarheit des Denkens nicht nur geistige Fortschritte, sondern auch Besserung aller Verhältnisse versprach.“ Ihre Anliegen sind gebündelt genannt von G. Radbruch, Das Strafrecht der Zauberflöte, Geistige Welt, 1. Jahrg., Heft 1, April 1946, S. 23 ff. (29), wenn er die „Strafrechtsideologie der Freimaurer“ durch „die Worte: Humanität, Toleranz, Vernunft, Vervollkommnung, Freiheit Gleichheit, Brüderlichkeit“ gekennzeichnet sieht. 51 C.I. Geiger, Reise eines Erdbewohners, o. Fußn. 36, S. 65 f. („…Vernunft, dieses edlen Geschenks der Gottheit, das uns allein über andere Thiere erhebt.“). 52 G. Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, o. Fußn. 48, S. 138 ff. (143). 53 Wie intensiv sich diese Überzeugung in der Welt der Gebildeten durchgesetzt hatte, belegt die deutsche Ansprache „Geneigter Leser“ des von Mauvillon 1761 „Aufs neue vermehrt(en) und verbessert(en)“ Französisch=Teutschen und Teutsch=Französischen Wörter=Buch(s): „Siehe dieses Wörter= Buch nicht an, wie es sein sollte und könnte, nämlich viel vollkommener als es ist; sondern siehe nur zu, ob es nicht gleichwohl besser ist, als alle, die bisher in Teutschland heraus gekommen sind.“ 54 Die Worte des Glaubens, Sämtl. Werke Bd. I, 2004, S. 214. 55 Ermunterung zur Freiheit (Freimaurerrede 1790), abgedr. bei J. Hermand, Von deutscher Republik. II. Theoretische Grundlagen, 1968, S. 32 ff. (36). 56 G.H. Merkel, Die Letten, Ausg. 1998, S. 148. Zur Bedeutung der Erziehung s. I. Kant, Über Pädagogik, Werke in sechs Bänden, Bd. 6, 2011, S. 691 ff. (S. 699: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.“). 57 Ausgew. Werke, Bd. 8, 1994, S. 171 ff. (S. 180). 58 C.F. Bahrdt, Handbuch der Moral für den Bürgerstand,1789, Neudr. 1979, S. 16. 59 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Tb.-Ausg. 1977, S. 267 spricht in § 107 der 2. Abhandl. vom „politische(n) Glück“, das „die Menschen in der Gesellschaft suchten“.
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G. A. Bürger und nicht wenige andere der diesem Menschenbild verpfl ichteten Auf klärungsschriftsteller erkannten dem Staat, dem Gemeinwesen, der bürgerlichen Gesellschaft die Aufgabe zu, die Verwirklichung der Vervollkommnung zu fördern und ihre Hemmung zu verhindern.60 Der Schriftsteller Johann Kaspar Riesbeck rügte 1783 die diesen Obliegenheiten zuwiderlaufenden Verhältnisse am „Münchner Hof “: „Wie ist es möglich, daß ein Hof die zum Glück des Volks erforderliche Bildung und die Grundsätze haben kann, worauf der Wert einer Regierung beruht, wenn man bloß durch eine glänzende Geburt, durch Verwandtschaften, durch Geld, durch Weiber und Pfaffen zu den höchsten Ehrenstellen kömmt?“61
VIII. Die Vorstellung vom natürlichen Streben des Menschen nach Vervollkommnung lag in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch den universitären Naturrechtslehren zugrunde. Karl Anton von Martini62 , der bedeutende österreichische Zivilrechtsreformer, Inhaber des Lehrstuhls für Naturrecht an der Universität Wien während der Regentschaft Maria Theresias und Lehrer der späteren Kaiser Joseph II. und Leopold II., defi niert in § 79 seines seinerzeit weitverbreiteten Lehrbuchs des Naturrechts den Zweck des Gesetzes. Dieser „ist die Erreichung der Vollkommenheit durch das Gute, Vermeidung der Unvollkommenheit durch das Unterlassen des Bösen.“63 Staat und staatliche Gesetze sichern so die Freiheit. Da „kein Mensch (…) mehr oder weniger (…) Mensch (ist) als der andere“ steht allen nach dem Prinzip der Gleichheit des gleiche Recht auf Freiheit unter den gleichen Bedingungen zu.64 Nach Christoph Friedrich Cottas Überzeugung ist „Freiheit (,) das Recht alles zu tun, was nicht verboten ist.“ Das „ist aber nur das (…), was jeder vernünftige Mensch sich selbst verbietet, nämlich das, was den anderen schadet.“ Die Wahrung der eigenen Freiheit durch andere verbürgt das Prinzip der Wechselseitigkeit. Auch dieses beruht auf der Gleichheit, die Cotta zu Folge das Recht ist, „von anderen zu verlangen, daß sie das tun, was man selbst tun muß, und das nicht tun, was man selbst nicht tun darf.“65 Der mit diesem Prinzip eng verwandte ethische Imperativ Johann Gottfried Seumes lautet: „Du sollst, weil ich will, ist Unsinn, fast ebenso sehr Unsinn ist die Vollmacht von Gottes Gnaden. Aber Du sollst, weil ich soll, ist ein richtiger Schluß und die Base des Rechts.“66 60 S. G. Forster („Wem der Staat etwas anderes ist, als diese für die sittliche Vervollkommnung waltende Macht, der darf mich nicht nach der Tugend und Sittlichkeit meiner Landsleute Fragen.“, abgedr. in: Über die Beziehung der Staatskunst, o. Fußn. 48, S. 113.) und Karl v. Knoblauch („Die bürgerliche Gesellschaft selbst ist ein Mittel unserer Vervollkommnung.“, Die Rechte der Menschheit, o. Fußn. 45, S. 26). 61 Zit. nach H.J. Schütz, Vernunft ist immer republikanisch, 2. Aufl. 1980, S. 172. 62 1726–1800. 63 K.A. v. Martini, Lehrbegriff des Naturrechts, Neudr. der Ausg. Wien 1799, 1970, S. 23. 64 K. v. Knoblauch, Urrechte der Menschheit (1792), abgedr. in: K.M. Michel (Hrsg.), Politische Katechismen, 1966, S. 146 ff. (S. 149.). 65 Alle Zit. Cottas bei C. Träger, o. Fußn. 17, S. 463. 66 J.G. Seume, Apokryphen, Ausg. 2002, S. 60.
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Niemand ist berechtigt, sein Glück zu Lasten oder unter Kränkung anderer zu verwirklichen; individuelle Freiheit ist auf das Sittengesetz, auf die Moralität67 verpfl ichtet und zur Förderung des eigenen Wohls angehalten, das allgemeine Beste zu achten und zu wollen.68 Die Freiheit stößt hier an ihre Schranken. Auf die von der Vernunft erheischte „Freiheit des Willens“ darf „nur da Verzicht gethan werden“, „wo gewisse Handlungen der fremden Willkür zum gemeinschaftlichen Besten Aller, das heißt, zur Beförderung der allgemeinen Vollkommenheit, unterworfen werden müssen. Jede Einschränkung des Willens, die nicht zur Erhaltung des Staats unentbehrlich ist, wird der Sittlichkeit seiner Glieder gefährlich.“69 Allein die Verfolgung hochrangiger Zwecke des – modern gesprochen – öffentlichen Interesses unter strikter Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit vermögen Rechtsbeschränkungen und Freiheitseingriffe zu rechtfertigen. Dann steht dem Regenten das Recht zu, „die Ausübung der Rechte und Freyheiten jedes Unterthanen in so weit einzuschränken und an eine Regel zu binden, in so weit die Einschränkung für das Wol des Staats wirklich und unumgänglich nothwendig ist. Ein Regent, der mehr sich anmaßt, ist ein Usurpator…“70 Die ethischen Grundsätze zu beachten, zählt zu den unumstößlichen Pfl ichten der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Vor sittlicher Desorientierung, vor dem Missbrauch der Freiheit, vor Gewaltexzessen des Volkes selbst, warnt Schubart eindringlich: „Freiheit// Wie wenig weiß ein Volk die Freiheit zu gebrauchen!/ Es wähnt, wenn nur von Blut die Mörderfäuste rauchen,/ Wenn es den Peiniger mit Tigergrimm zerfleischt,/ So sei es frei. O Volk! Du hast dich selbst getäuscht./ Die Freiheit, die du suchst, ist Wuth, ist Mordgetümmel;/ Sie wird verflucht von Gott, verflucht vom ganzen Himmel./ Ein Volk, bespritzt mit Blut, verdient nicht frei zu sein,/ In härtre Sklaverei stürzt es sich selbst hinein.“71
IX. Die in zahllosen Schriften verwendeten Begriffe Menschenwürde, Würde des Menschen, Würde der Menschheit oder des Menschengeschlechts und sogar „Würde der Menschlichen Seele“72 und das Recht der Selbsterhaltung, stehen in untrennbarem Zusammenhang mit der Vernunft und dem Vervollkommnungsstreben. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass John Locke dem Selbsterhaltungsrecht entgegen der sonst von ihm vertretenen Position zu den natürlichen Gesetzen, derzufolge sie erst durch die Verstandestätigkeit konstruiert werden, den Rang eines angeborenen, von Gott eingepflanzten Rechtes beimisst.73 Es ist unveräußerlich. 67 Zum Verständnis des sehr häufig von Auf klärungsliteraten aufgegriffenen Begriffs „Moralität“ im Sinne Kants s. O. Höffe, Immanuel Kant, 7. Aufl. 2007, S. 180 ff. 68 S. z. B. A. v. Knigge, Manifest, o. Fußn. 57, S. 176. 69 G. Forster, Ansichten vom Niederrhein, o. Fußn. 47, S. 159. 70 C.F. Bahrdt, Handbuch der Moral für den Bürgerstand, o. Fußn. 58, S. 142, kursiv im Original. 71 C.F.D. Schubart, Gedichte, o. Fußn. 11 , S. 193. 72 K.A. v. Martini, o. Fußn. 63, S. 9 (§ 29); K. v. Knoblauch, Urrechte der Menscheit, o. Fußn. 64, S. 146 („Würde der menschlichen Natur“). 73 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1977, S. 136 (s. auch ebd. S. 138 „Der erste und stärkste Trieb, den Gott den Menschen eingepfl anzt und zum eigentlichen Prinzip ihrer Natur gemacht hat, ist der Selbsterhaltungstrieb.“ – Aus diesem leitet sich das Selbsterhaltungsrecht ab (Ebd. S. 138:
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Wer den Menschen seiner Vernunft, seiner Natur, seinem Streben nach dem Besseren zuwider behandelt, kränkt seine Würde.74 Menschenwürde und die Teilhabe an der Würde der Menschheit wurden dem Menschen kraft seiner Vernunft zuerkannt, die ihn über die Tiere erhebt oder – wie manche Schriftsteller meinten – von anderen Tieren unterscheidet.75 Der „Götterfunke“76 Vernunft begründet als universelles Prinzip den Anspruch auf alle Menschenrechte, die dem Menschen unentbehrlich sind, um alle Anlagen entfalten und – im Sinne Schillers – seine Lebensbahn77 beschreiten zu können. Das Recht auf Eigentum, zu dem in der Tradition des Grundverständnisses John Lockes78 Leib, Leben, Vermögen und Sachgüter gezählt wurden, grundierte die der Sicherung dieser Güter dienenden Menschenrechte79 – „Urrechte der Menschheit“ – wie etwa das Recht des freien Zugs und daraus folgend Gewährleistungen der Freizügigkeit, der Freiheit der Ausübung von Handwerk und Gewerbe im Sinne von Ausformungen und Verbürgungen der Berufsfreiheit.80 Sie wurden neben der Religions-, Denk- 81, Gedankenäußerungs-, Meinungs- und Preßfreiheit 82 als elementare Existenzbedingungen begriffen, deren Missachtung gegen die Würde des Menschen oder – wie es zeitgenössischer Sprachgebrauch häufig ausdrückte- die Würde der Menschheit verstießen. Wer Selbsterhaltung und Selbst„Und darin liegt auch die Begründung für ein Benutzungsrecht an den Geschöpfen zum persönlichen Unterhalt und Nutzen jeder individuellen Person.“; – s. ferner ebd. den Einleitungstext von W. Euchner, S. 32). 74 Essenz aus Knoblauch, Urrechte, o. Fußn. 64, S. 146. 75 S. z. B. C.I. Geiger und G. Forster o. Fußn. 51 u. 52 . 76 G. Forster, Fragment einer Rede …, abgedr. in: Über die Beziehung der Staatskunst …, o. Fußn. 48, S. 75; s. auch J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Tb.-Ausg. 1977, S. 136 (Die „Vernunft als die Stimme Gottes in ihm“ (dem Menschen)). 77 „Laufet Brüder eure Bahn“ heißt es in Schillers von Beethoven vertonter „Freuden Ode“. 78 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, o. Fußn. 76, S. 278 (§ 123; s. auch L. Siep, Kommentar, in: J. Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, Ausg. 2007, S. 189, 380 (S. Kommentierung zu § 239: Locke führt aus, dass „Zweck aller Regierung(…) das öffentliche Wohl und die Erhaltung des Eigentums“ ( S. 189) seien; L. Siep unterstreicht, dass der Eigentumsbegriff „natürlich auch an dieser zentralen Stelle alle Grundrechte“ umfasst. (S. 380). S. auch H.E. Bödeker, „Menschenrechte“ im deutschen publizistischen Diskurs vor 1789, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur ständischen Gesellschafft, 1987, S. 392 ff. (405). 79 Zu den Begriffsentwicklungen und Zusammenhängen s. H.E. Bödeker, o. Fußn. 78, S. 396. 80 Zu diesen Zusammenhängen s. P. Blickle, o. Fußn. 25. M. Stolleis, o. Fußn. 5, S. 873 f. weist darauf hin, dass die „klassischen Grundrechtskataloge(.), wie sie im späten 18. Jahrhundert fi xiert wurden, (…) schon damals ihre lange Geschichte hinter sich“ hatten und dass „die theoretischen und praktischen Umrisse der Grundrechte im 17. Und 18. Jahrhundert“ auf Grund „typisierte(r) üble(r) Erfahrungen religiöser Intoleranz, willkürlicher Verhaftungen und Verurteilungen (…), rechtswidriger Enteignungen, zünftischer Berufsbeschränkungen“ u.a. „vorgezeichnet worden“ sind. 81 Ludwig van Beethovens einstmaliger Lehrer der Philosophie, Prof. Eulogius Schneider, lobte in seiner „Trauerrede auf Joseph II“, die er am 26.3.1790 vor dem Reichskammergericht zu Wetzlar gehalten hat, den am 20.2.1790 verblichenen Kaiser dafür, dass er „den Menschen ihr Recht, selbst zu dencken, dies so unstreitige und doch so lange verkannte Urrecht, wieder“ gegeben habe (Druckfassung, Wetzlar 1790, S. 31 (im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar – Der Verf. dankt der Leiterin, Frau Dr. Irene Jung für die Überlassung einer Kopie.)). (Kritisches) Selberdenken ist der zentrale Imperativ der Auf klärung. 82 Zu diesem Zusammenhang auch T. J. Reed, Mehr Licht in Deutschland, 2009, S. 119 („Denk-, Rede-, Druckfreiheit“).
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entfaltung des Menschen gefährdet oder hindert, vereitelt dadurch die Möglichkeit der Vervollkommnung, so dass die Sicherung der existenziellen Grundlagen durch Menschenrechte das Gebot von Vernunft, Vervollkommnungsstreben, Glück und Menschenwürde darstellt und damit den Zweck staatlicher Gemeinwesen begründet.
X. Carl Friedrich Bahrdts „Handbuch der Moral für den Bürgerstand“ (1789) und Traktate anderer Schriftsteller zeigen auf, wie tief Traditionen der Menschenwürdediskurse in der Literaturgeschichte verankert sind. Manchen Begriffsformeln sind terminologischer Scharfsinn und zeitlose Gültigkeit nicht abzusprechen. „Jeder Mensch,“ schreibt Bahrdt, „als Mensch, hat einen gewissen Anspruch auf Achtung seiner Mitmenschen(…). Denn er ist so gut, wie jeder andere Mensch, und hat also die natürliche Würde des Menschen(…). Er kann verlangen, daß man ihn als Menschen behandele, und dasjenige äußerliche Betragen gegen ihn beobachte, wodurch ein Mensch den anderen vom Thier oder von leblosen Dingen unterscheidet.“83 Menschenwürde geht dem Menschen nicht verloren. C.F.D. Schubart verteidigt die Rechte von Straftätern: „Wie hebt sich mein Herz bei dem Gedanken, daß der Brittische Genius dem Menschen da noch mit Würde begegnet, wo er der abscheulichsten Frevelthaten beschuldigt wird. (…) In Deutschland wird jeder schwacher oder starker Verbrecher meist hundemäßig behandelt (…). Daß leider auch die Missethäter in Frankreich so unter der Menschenwürde behandelt werden (…)“ ist „zur Schmach der Nazion erwiesen. (…) Und wären sie die größten Verbrecher; so bleiben sie Menschen.“84 Und er fügt hinzu: „Ich glaube, daß Gott selbst, seinen gefallenen Geschöpfen noch mit Achtung begegnet.“85 Emphatisch feierte Schubart die Abschaffung der Folter im Habsburgerreich: „Wien// wer singt mir ein Lied im höhern Chor auf Kaiserin Maria Theresia und ihren Danischmende Sonnenfels? – Die Tortur ist nun in allen kaiserlichen Landen abgeschafft. – Im Heiligtum der Menschheit wird deine Bildsäule in Göttergestalt dastehen, erhabene Maria Theresia, und Sonnenfels und Beccaria um dich her.“ (Deutsche Chronik aus dem 19. Stück vom 4. März 1776).86
83
C.F. Bahrdt, Handbuch, o. Fußn. 58, S. 138. C.F.D. Schubart, Chronik 1788 und 1789, zit. nach: E. Schairer, Christian Friedrich Daniel Schubart als politischer Journalist, 1914, S. 90. 85 Ebd. 86 C.F.D. Schubart, Deutsche Chronik, o. Fußn. 22, S. 176. S. auch J. v. Sonnenfels, Ueber die Abschaffung der Tortur (1775), vollst. abgdr. in: ders., Auf klärung als Sozialpolitik (hrsg. v. H. Kremers), 1994, S. 131 ff. (Die von J. v. Sonnenfels (einem Schüler von K.A. v. Martini und sein Nachfolger auf dem Naturrechtslehrstuhl an der Universität zu Wien) betriebenen Strafrechtsreformen führten nicht zu einer vollständigen Abschaffung der Folter, da sich diese – vermutlich – gegen die politischen Widerstände nicht durchsetzen ließ.). 84
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XI. Die Erörterung der von Auf klärungsliteraten in der Menschenrechts- und Menschenwürdedebatte vertretenen Standpunkte lässt das Problemfeld der Subjektivierung bzw. der subjektbezogenen Interpretation (verfassungs-)politischer, ethischer und insbesondere rechtlicher Postulate deutlich zu Tage treten. Deshalb ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass die in ihren politischen Texten anzutreffende Gepflogenheit, natur- und vernunftrechtlich begründete Menschenrechte als „Rechte der Menschheit“ zu bezeichnen, differenzierter Sinnermittlung bedarf. Die Formulierung „Rechte der Menschheit“ ist kontextuell entweder als kollektiver, auf das Menschengeschlecht als Ganzes oder die Menschheit als Gattung bezogene Begriffl ichkeit zu deuten oder aber individuell im Sinne einer Zuordnung eines (subjektiven) 87 Rechtes eines einzelnen Menschen. Die Behauptung, die „Würde der Menschheit“ sei durch die Misshandlung eines Menschen gekränkt worden, lässt sich als Vorwurf verstehen, dass der Peiniger (auch) das individuelle Recht des Misshandelten verletzt habe. Als Mensch ist er der menschliche Wesen auszeichnenden Würde teilhaftig; sie macht sein Wesen als Mensch aus, so hat er Teil an der Würde der Menschheit. Diesen Interpretationsansatz erhellt eine Belegstelle aus Immanuel Kants Abhandlung „Über Pädagogik“. Um die „Pfl ichten gegen sich selbst“ zu erläutern, führt Kant aus: „Diese bestehen (…) darin, (…), daß der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, die ihn vor allen Geschöpfen adelt, und seine Pfl icht ist es, die Würde der Menschheit in seiner eignen Person nicht zu verleugnen.“88 Bruchstücke aus Georg Forsters „Anrede an die Gesellschaft der Freunde der Gleichheit und Freiheit am Neujahrstage 1793 89“ fügen sich zu einen Gesamtbild aufgeklärter humaner Vorstellungen vom Menschen: Er ist ein moralisches, denkendes, freies Wesen, das sich selbst durch Vernunftgründe bestimmt; weise und tugendhaft zu werden, ist eines jeden eigenes Werk, eines jeden eigene Pfl icht; der echte Wegweiser des Lebens (ist) Menschenwürde; dem Volk obliegt die Aufgabe, sich eine zur sittlichen Vervollkommnung führende Verfassung zu schaffen.
XII. Selten wurde der Vorgang der Staatsgründung so lapidar wie einleuchtend und bildmächtig geschildert, wie Friedrich Schiller es in seiner zweiten Dissertation 87 Hier (zumindest) zu verstehen als von Mitmenschen, Regierenden usf. („zwingend“ und deshalb) verbindlich zu beachtende Gewährleistung (Die Attribute „heilig“, „heiligstes“ Recht usw. signalisieren, dass die Missachtung oder Verletzung das Verdikt der Unrechtmäßigkeit bzw. Ungerechtigkeit nach sich zieht.). Dass es sich hier – im Wesentlichen – allenfalls um „prototypische“ Vorprägungen moderner – vor allem einklagbarer – individualrechtlicher (subjektiver) Rechtspositionen handeln kann, liegt auf der Hand. 88 I. Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. 6, 7. Aufl. 2011, S. 691 ff. (749). S. zudem H.E. Bödeker, o. Fußn. 78, S. 398 ff. (Insbes. S. 398: Zur Diskussion über die Ausstattung des Individuums mit konkreten Rechten sowie S. 399: Hinsichtlich der individuellen Würde zieht H.E. Bödeker ein Zitat von Isaac Iselin heran: „Dieses der Menschheit eigene Recht (…) sich der angeborenen natürlichen Rechte zu bedienen, ist dem empfi ndenden Menschen äußerst kostbar.“ (1760)). 89 Abgedr. in: Über die Beziehung der Staatskunst . . ., o. Fußn. 48, S. 77 ff.
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(1780) 90 unternommen hat: „Die Kollision der tierischen Triebe stößt Horden wider Horden, schmiedet das rohe Erz zum Schwert, zeugt Abenteurer, Helden und Despoten. Städte werden befestigt, Staaten errichtet, mit den Staaten entstehen bürgerliche Pfl ichten und Rechte, Künste, Ziffern, Gesetzbücher, schlaue Priester – und Götter.“91 Eine Defi nition des Staatsbegriffs aus zeitgenössischer juristischer Feder, die für Schriftsteller der Spätauf klärung konsensfähig gewesen sein dürfte, soll Schillers schnörkellose Darstellung ergänzen: „Ein Staat ist eine Gesellschaft freier Menschen, die sich ihrer Sicherheit wegen unter einer gemeinschaftlichen Oberherrschaft vereinigt haben(.)“, lautet die in § 220 des Naturrechtslehrbuchs von Karl Anton von Martini nachzulesende Begriffsbestimmung staatlicher Gemeinwesen.92 Johann Gottfried Seume, dessen Menschenbild pessimistisch gefärbt ist, votiert in seinem Reiseroman „Mein Sommer 1805“ zur Sicherung der Lebensverhältnisse für ein Gewaltmonopol des Staates: „ In Verhältnissen des Völkerrechts und des Staatsrechts muß es leider ein Grundsatz der Sicherheit seyn: das Böse, das ein Mensch thun kann, wird er wahrscheinlich tun. Die Geschichte hat mehr Bestätigungen, als Widerlegungen desselben. Wo noch jemand anders des Personenzwang hat, als der Staat, ist es um das Palladium der Menschheit gethan.“93 Selbst von auf klärerischen Autoren als Beiträge zu den Reformdebatten entworfene Verfassungstexte räumen den Sicherheitsbedürfnissen der Menschen und Bürger bedeutsamen Stellenwert ein:
90 Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, Sämtl. Werke Bd. V, 2004, S. 287 ff. 91 Ebd., S. 303 f. Aus dem Blickwinkel Adam Weishaupts, des Gründers des auf klärerischen Geheimbunds der Illuminaten, hat „… zunehmende Menschenmenge die Entstehung der menschlichen Gesellschaften hervorgeführt (…). Zunehmende Volksmenge hat aus Wilden und Jägern, durch den von ihnen veranlaßten Mangel des Unterhalts, Schäfer und Hirten, aus Hirten Ackersleute, aus Ackersleuten am Ende Bürger, Handelsleute und gesittete Menschen gemacht.“ (abgedr. in: H. Schüttler, J.J.C. Bode, o. Fußn. 11, S. 368); auch Schiller erkennt in einer solchen Entwicklung „die ersten Wurzeln der geselligen Pfl ichten.“ (o. Fußn. 90, S. 303). 92 K. A. v. Martini, Lehrbegriff des Naturrechts, Wien 1799, Neudr. 1970, S. 79. Die Vorstellungen unterscheiden sich gelegentlich geringfügig oder aber in wesentlichen Grundannahmen und Ausgangspunkten; vgl. z. B. J.H. v. Lilienfeld (1716–1785) – Der baltische Dichter und politische Schriftsteller – Eine Auswahl aus seinen Werken (hrsg. v. W. Preuß), 1997, S. 116: “Ein Staat soll eine Gesellschaft freyer Menschen ausmachen, die zu ihrer eigenen Beruhigung und Glückseligkeit gewisse Gesetze und Ordnungen unter sich eingeführt haben.“ Den Sicherheitsaspekt betont F.C. Laukhard, Leben und Schicksale (1792–1802), Ausg. 1989 (gekürzter Abdr. der Originalausg. 1792,1796/1797), S. 407 besonders nachdrücklich. Er erkennt keine natürliche Freiheit des Menschen an, da dieser „im Stande der Natur ein Barbar, ein Ding“ sei, „das mehr dem Viehe als eines vernünftigen Wesens ähnlich sieht (…). Eine solche eingebildete natürliche Freiheit wäre auch nicht einmal ein Gut; denn sie wäre ohne Sicherheit und könnte jeden Augenblick geraubt werden. (…) Freiheit existiert nur in Gesellschaft.“ A. v. Knigge, Benjamin Noldmann’s Geschichte der Auf klärung in Abyssinien (1791), Ausgew. Werke Bd. 9, 1995, S. 260 beschreibt die Ausgangslage bei der Staatenbildung wie folgt: „Der Mensch in dieser Welt sucht Glückseligkeit, sucht sie vorzüglich, wenn er mit anderen Menschen in Verbindung tritt; allein fühlt er sich hilflos und unbehaglich…“ sowie S. 261: „Die Freyheit des Menschen im natürlichen, rohen, wilden Zustande besteht darin, daß jeder Einzelne alle seine Handlungen willkürlich einrichten, thun darf, was ihm beliebt und wozu er Kräfte hat, und nehmen, was ihn gelüstet und was er bekommen kann.“. 93 Ausgabe 1987, S. 135.
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„Wer in einem Staate keine Sicherheit genießet, der genießet auch die Früchten des Glücksstandes nicht, welchen die Vergsellung zum Zwecke hat.“94
XIII. Mit nur marginalen Unterschieden ist das neuzeitliche kontraktualistische Legitimationsmodell95 auf der Basis der Volkssouveränität zur Begründung staatlicher Herrschaftsgebilde in einer großen Zahl von literarischen Diskussionsbeiträgen anzutreffen. Den Begriff Verfassung handelten Schriftsteller der Auf klärung unter den verschiedensten Bezeichnungen ab. Geläufig sind etwa vielfältig variierte Begriffsbildungen wie Staats-Verfassung, Regierungs-Verfassung, Grundgesetz, Konstitution, Staats-Grundgesetz, aber auch nur Vertrag oder Gesetz. Die solchen grundlegenden Regelungen zugeschriebenen Funktionen entsprachen gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bisweilen nur punktuell, zumeist aber in umfassenderem Sinne modernen Vorstellungen: Sie sollten Herrschaftsbegrenzung, Volkssouveränität, Willkürverbote und den Schutz des Individuums durch Menschenrechte verbürgen; Verfassungsentwürfe (z. B. von Knigge) oder Erläuterungen von Menschenrechtserklärungen und französischen Verfassungen (etwa durch G. Wedekind) enthielten umfangreiche staatsorganisationsrechtliche Teile.96 Gesteigerte Aufmerksamkeit widmeten die Auf klärungsschriftsteller der Legitimation und den Grenzen der Herrschaftsbeziehungen. Eulogius Schneider vertrat den Standpunkt, „daß die ganze Bürgerliche Gesellschaft (…) die Grundgewalt besitzt, und der Fürst nur (…) der erste Beamte und der Geschäftsträger seines Volkes“ sei.97 Adolph von Knigge erinnerte die Fürsten daran, „daß alle Oberherrschaft ursprünglich von freiwilliger Übertragung herrührt und alle Gewalt vom Volke abstammt, dessen Stellvertreter sie sind.“98 An anderer Stelle schlägt Knigge einen harscheren Ton an, wenn er für die Gewalt des Volkes Partei ergreift und die Fürsten mahnt : „daß sie was sie sind und was sie haben, nur durch Übereinkunft des Volkes sind und haben; daß man ihnen diese Vorrechte wieder nehmen kann, wenn sie Mißbrauch davon machen;(…) endlich, daß in diesen Zeiten der Auf klärung bald kein Mensch mehr daran glauben wird, daß ein Einziger, vielleicht der Schwächste der ganzen Nation, ein angeerbtes Recht haben könnte, hunderttausend Weisern und bessern Menschen das Fell über die Ohren zu ziehen.“99 94 J. Rendler, Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pfl ichten des Menschen, zur Gründung des bürgerlichen Glücksstandes abgefaßt und angenommen in der Volksversammlung zu . . ., abgedr. in: H. Dippel (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland – Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, 1991, S. 51 ff. (60). 95 S. dazu: W. Kersting, Thomas Hobbes, 3. Aufl. 2005 (Insbes. S. 103 ff.). 96 Hierzu wäre die umfangreiche Darstellung gründlicher Einzelanalysen erforderlich. S. als Beispiel etwa G. Wedekind, Die Rechte des Menschen und des Bürgers, 1793, Reprint 1989. 97 Zit bei W. Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern – Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, 1984, S. 118. 98 A. v. Knigge, Joseph von Wurmbrand, o. Fußn. 15, S. 148. 99 A. v. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Ausgew. Werke Band 6, 1993, S. 300. Nach F.C.
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Das Motiv der Menschen sich in „bürgerlichen Societäten zu vereinigen“ sieht Carl Friedrich Bahrdt in dem Ziel, „unter sich ruhiger und glücklicher zu leben…“100 Für den Fall, daß sich das „Band der Gesellschaft wieder auflösen“ sollte, befürchtete Friedrich Christian Laukhard „ein bellum omnium contra omnes“.101
XIV. Der Vernunftmaximen widerstreitende Legitimationsgrund des in archaischem102 Dunkel wurzelnden sakralen103 monarchischen „Gottesgnadentums“104 der Herrschaftsberechtigung war von Literaten der Auf klärung – aus ihrer Sicht – endgültig verabschiedet worden; ihm sollte keine legitimierende Kraft mehr zu kommen.105 Gottfried August Bürger sah eine maßgebliche Ursache der Englischen Revolution von 1649 in dem „alten asiatischen Glauben“ der „Könige, daß sie ihre Kronen unmittelbar nur von Gottes, nicht aber Volkes Gnaden tragen (. . .) und daß sie wohl Herrscherrechte, nicht aber Herrscherpfl ichten ausübten.“ An späterer Stelle seines Aufsatzes über „Die Republik England“ macht er sich die „feierlich anerkannte und ausgesprochenen Wahrheit des Hauses der Gemeinen von England“ zu eigen, nämlich, „daß nächst Gott das Volk die Urquelle aller rechtmäßigen Gewalt auf Erden sey.“ Schließlich pfl ichtet Bürger auch der eigenwilligen Formulierung bei, der Umsturz der Königsherrschaft habe, „durch Gottes Gnade“ die „Freiheit wiederhergestellt.“106 Wiederum war es Gottfried August Bürger, der in seiner am 1. Februar 1790 vor Freimaurerbrüdern gehaltenen Rede „Ermunterung zur Freiheit“ republikanische Grundsätze der Gesetzgebung und des Gesetzesgehorsams aussprach und den Einklang der Gesetze mit der Würde der Menschheit als Rechtmäßigkeitskriterium angewendet wissen wollte: „Kein menschliches Gesetz kann uns verbinden, als das jenige, welches wir uns selbst, oder so gut als selbst durch diejenigen auferlegt haben, denen wir unser Recht dazu freiwillig übertrugen. Aber auch kein solcher Gestalt zustande gebrachtes Gesetz kann und darf uns verbinden, wenn es uns an unseren Fortschritten zu leiblicher und geistiger Vollkommenheit und Glückseligkeit hindert.
Laukhard, o. Fußn. 92, S. 409 gehört „die Erbfolge der Regenten zum orientalischen Despotismus und zum Lehnssytem, welches mit der gesunden Vernunft und mit gemeinen Menschenrechten ganz und gar nicht bestehen kann.“. 100 C.F. Bahrdt, Handbuch der Moral für den Bürgerstand (1789), o. Fußn. 58, 140 f. 101 F.C. Laukhard, o. Fußn. 92, S. 409; geprägt von T.Hobbes, Leviathan, Ausg. 2005, S. 98 („Krieg(.) eines jeden gegen jeden…“). 102 D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., 2009, S. 25 (Über das fränkische Königtum). 103 J. Rogge, Die deutschen Könige im Mittelalter, 2006, S. 8. 104 D. Willoweit, o. Fußn. 102, S. 26 (Zu den Ursprüngen). 105 Selbst die Reichsverfassung von 1871 hielt aber noch an der Formel „von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser“ fest. 106 Bürger – Zitate s. o. Fußn. 1, S. 2, 3, 4 u. 5.
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Wer sich solche Gesetze gutwillig (…) gefallen läßt (…), der ist ein Beleidiger, ein Verräter an der Würde der Menschheit“.107 Bürger erkannte hierin einen Prüfstein, „um zwischen Recht oder Unrecht“108 unterscheiden zu können. Karl von Knoblauch Die Verbindlichkeit von Gesetzen knüpfte auch Friedrich Christian Laukhard daran, dass sie „vernünftig, das ist der Würde des Menschen und dem Wohl des Staates so angemessen sein“ müssen, „daß alle einzelne Mitglieder veredelt und, so viel nur immer möglich ist, versorgt und beglückt werden.“109
XV. Entschieden bestritten Adolph v. Knigge und Carl Friedrich Bahrdt die in älteren Naturrechtslehren verbreitete Annahme, dass der Mensch, indem er „das Band der bürgerlichen Gesellschaft geknüpft, seinen natürlichen Rechten entsagt.“ Knigge qualifiziert diese Annahme als „grobe(n) Irrthum! Seinen natürlichen Rechten kann niemand entsagen; sie machen einen Theil seiner Menschheit aus (…)“.110 Mit der Logik des Motivs der Staatsgründung argumentierte hingegen Bahrdt: „Wenn sie also eine gesetzgebende Macht freywillig errichteten, so war es ihre Absicht nicht, sich zu Sklaven zu machen und ihre Freyheit mit ihren natürlichen Rechten an die Gesetzgeber zu verkaufen“111 Und Karl von Knoblauch betont: „Ich kann ein Mensch sein, ohne Bürger zu sein; aber ich kann nicht Bürger sein, ohne Mensch zu bleiben. (…) Wie könnte er (der Mensch) Rechte verlieren, die von der Natur eines eines vernunftfähigen und perfektiblen Wesens unzertrennlich sind, in der bürgerlichen Gesellschaft und durch dieselbe verlieren?“112
XVI. Wer das Freiheits-, Staats-, Verfassungs- und Menschenrechtsverständnis der Schriftsteller der Auf klärung ergründen will, der darf nicht aus dem Blick verlieren, dass die Frage nach der verbindlichen Geltungskraft von Rechten, die in der vorstaatlichen Sphäre begründet und staatlich gesetzten positiven Rechtsnormen übergeordnet sein sollen, zu erbitterten Kontroversen geführt hat. Sie können in diesem Rahmen ebenso wenig aufgezeigt und bewertet werden wie die nicht minder heftigen Debatten über die Anerkennung und Durchsetzung von Grundrechten als subjektiver Individualrechtspositionen im Verlauf der Genese moderner Verfassungsstaatlichkeit. Auf Grund des gesichteten umfangreicheren Textmaterials dürfte es aber nicht allzu fernliegend sein anzunehmen, dass aufgeklärte Schriftsteller des späten 18. Jahr107 108 109 110 111 112
S. o. Fußn. 55, S. 36 f. Ebd., S. 37. F.C. Laukhard, o. Fußn. 92, S. 409. A. v. Knigge, Joseph von Wurmbrand, o. Fußn. 15, S. 147. C.F. Bahrdt, Handbuch …, o. Fußn. 58, S. 141. K. v . Knoblauch, Urrechte …, o. Fußn. 64, S. 148.
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hunderts vom rechtlichen Geltungsanspruch ihrer Verfassungs- und Menschenrechtspostulate überzeugt gewesen sind und ihren übergeordneten Rang behaupteten. Bereits 1775 publizierte Christian Friedrich Daniel Schubart einen Zeitschriftenartikel, in dem ahnungsvoll das Prinzip des Vorrangs der Verfassung anzuklingen scheint: „ (. . .) Diese Freiheit gründet sich nicht auf den Gehorsam einzelner Personen, sondern bloß der Gesetze, davon ein Theil zu den Grundgesetzen des Staats gehört, die das Parlament selbst nicht berühren darf.“113 1790 unterwarf Georg Forster selbst die Verfassung höherrangigen Prinzipien der Vernunft und sah sie im Kollisionsfall ihrer Legitimität enthoben: „Ein Vertrag ist nichtig, der die Sittlichkeit verletzt, und eine Staatsverfassung hat keinen Augenblick eine rechtmäßige Existenz, wenn sie sogar ihren Gliedern die Möglichkeit einer sittlichen Vervollkommnung raubt.“114 Ein bemerkenswertes Fundstück zu diesem Themenkreis enthält Carl Friedrich Bahrdts Lustspiel „Das Religionsedikt“ aus dem Jahr 1789. In der 8. Szene des 2. Aufzugs lässt der Autor die Person des Holle, eines Streiters für Religionsfreiheit, folgenden Text aussprechen: „Das Kammergericht hat in der bekannten Sentenz in Sachen Stark contra Biester, das in Wien gedruckte Buch über Preßfreiheit (…) als eins der vortreffl ichsten Bücher aufgeführt, und die Grundsätze dieses Buches als den Maßstab richterlicher Aussprüche empfohlen.“115 Die Analyse dieser Passage ergibt, dass sich Bahrdts Lustspieltext an dieser Stelle auf den 1787 vor dem Königlichen Kammergericht geführten „Proceß über den Verdacht des heimlichen Katholicismus zwischen dem Darmstädtischen Oberhofprediger D.Starck als Kläger und den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift, Oberkonsistorialrath Gedike und Bibliothekar D. Biester als Beklagten“ bezieht, der „vollständig nebst der Sentenz (=Urteilsspruch) aus den Akten herausgegeben von den loßgesprochenen Beklagten in Berlin, 1787 bei Johann Friedrich Unger“ (dem Verleger der Berlinischen Wochenschrift) als Buch im Umfang von 280 Seiten veröffentlicht worden ist. – Die beiden vorstehenden wörtlichen Zitate bilden den vollständigen Titel dieser Edition.116 Bei dem von Bahrdt erwähnten Buch über Preßfreiheit handelt es sich um sein 1787 veröffentlichtes Werk „Ueber Preßfreiheit und deren Gränzen“. Die Lektüre der Sentenz , also des Urteils offenbart, dass die Gründe des Kammergerichts für den Freispruch auf Bahrdts Streitschrift, in der er die Preßfreiheit als ein „heiliges und unverletzliches Recht der Menschheit“ bezeichnet, das „als allgemeines Menschenrecht über alles Fürstenrecht erhaben ist“117, eingegangen
113
Deutsche Chronik v. 4. 9. 1775, S. 563. G. Forster, Ansichten vom Niederrhein, o. Fußn. 47, S. 159. A. v. Knigges Manifest von 1795 (o. Fußn. 57, S. 176) vertritt ähnliche Positionen: Wenn der Zweck einer „Staats-Verbindung“, nicht das allgemeine Wohl“ war, „so ist ein solcher (Staatsgründungs)Vertrag an sich selbst null und nichtig, für niemand verbindlich…“. 115 Faksimile-Ausgabe, 1985, S. 71. 116 Vorhanden im Bestand der Forschungsbibliothek des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth. Der Verf. dankt dem Direktor Herrn T. Peterson herzlich für die Möglichkeit der Einsichtnahme. 117 Ueber Preßfreiheit, S. 44. Auch I. Kant bezeichnet die Freiheit, seine Gedanken öffentlich ausstellen zu dürfen, als heiliges Recht (Kritik der reinen Vernunft, Werke II, 7. Aufl. 2011, S. 640.). 114
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sind.118 Es trifft also zu, dass die menschenrechtlich fundierte Preßfreiheit zum Maßstab eines richterlichen Rechtsspruchs herangezogen worden ist.
XVII. Ob sich in der bürgerlichen Societät, der Gesellschaft, dem politischen Körper des staatlichen Gemeinwesens dem Wesen des Menschen und der Menschheit gerecht werdende, rechtlich wohlgeordnete Lebensverhältnisse durch Verfassungen sichern lassen, beurteilte Georg Friedrich Rebmann nach Jahrzehnten schriftstellerischen Engagements für Menschenrechte und Demokratie skeptisch. Seine in heftigen publizistischen Kämpfen für die Humanisierung menschlicher Lebensbedingungen gewonnenen Erfahrungen blieben nicht ohne Spuren der Erbitterung. Die von ihm 1816 veröffentlichten „Aussichten von der Zeit in die Zukunft“, deren Reflektionen über „das Heil der Menschheit“ nicht den Zweck verfolgten, „zu den tausend und tausend Entwürfen und Abhandlungen über Landstände und landständische Rechte etwas Neues hinzuzufügen“, sondern die „Idee der rohen Willkür“ und des unumschränkten Despotismus anzuprangern, enthalten neben der Kritik an unfähigen „Konstitutions-Fabrikanten“ eine weise Mahnung, die Wirkmacht von Verfassungsregelungen nicht zu überschätzen. Rebmanns scharfsinnige Erkenntnis soll das Schlusswort dieses Vortrags bilden: „Alle Verfassungen, je einfacher, desto besser, sind nichts als papierne Laternen ohne Licht, wenn sie nicht in der zu ihnen passenden Volksbildung die Gewähr ihrer Fortdauer tragen. Die beste ist die schlechteste für ein schlechtes Volk, und auch eine höchst unvollkommene wird besser, wenn das Volk reifer ist.“119
118 Die am 18. 8. 1787 als Erkenntnis und nicht nur im Namen des Königs Friedrich Wilhelm ausgefertigte Sentenz (S. 246–280) zitiert auf S. 276 Bahrdts Schrift wörtlich unter Angabe des Titels, aber ohne Nennung des Autors. Die zwölfzeilige Textpassage von S. 166 wird vom Kammergericht ausdrücklich in analogischer Anwendung zur Verteidigung der Beklagten herangezogen. Sie betrifft das Recht der freien Beurteilung öffentlicher Reden. 119 Georg Friedrich Rebmann, Aussichten von der Zeit in die Zukunft, Werke und Briefe Bd. 2, S. 637 ff. (Alle Zitate dieses Abschnitts auf S. 701, 703, 704).
Musik und „Recht“ – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft* von
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Ein Theorierahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Musik und „Recht“ – „Verfassungsstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Musik – Ein Hohelied auf die Musik aus der Feder eines Dilettanten bzw. Staatsrechtslehrers – Sieben Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aspekte einer Musikgeschichte im Lichte der Entwicklung des „Verfassungsstaates“ . . . . . . . . . . . . Dritter Teil: Referenzgebiete, Ausdrucksformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nationalhymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein Kanon von Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aspekte einer musikalischen Analyse der Melodien von Nationalhymnen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die ideale Textstufe einer verfassungsstaatlichen Nationalhymne – der „verfassungsimmanente“ Hymnen-Artikel – „Verfassungshymnen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Präambeln von Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfassungsinterpretation – Interpretation von Rechtstexten und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sprache und Musik – ihr Zusammenhang im „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. „Musikerjuristen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Urheberrechtsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Sonstige Ausdrucksformen des Zusammenhangs von „Musik und Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung „Prima la musica – poi le parole“ – diese berühmte These war im Wien von A. Salieri und W. A. Mozart sehr umstritten. Können wir heute die Frage wagen: „Prima la musica – poi il diritto?“ Der Zusammenhang von Musik und Staat war schon ein * Eröffnungsvortrag des Verfassers auf dem internationalen Kongress „Arte e limite – la misura del diritto“ an der Universität Tor Vergata in Rom (16. Juni 2011).
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klassisches Thema bei Platon. Wir begegnen ihm heute fast täglich: so als im unabhängig gewordenen Kosovo Beethovens „Neunte“ als quasi europäische Nationalhymne zusammen mit dem Verfassungstext des Kosovo im dortigen Parlament gefeiert wurde, überhaupt beim Erklingen von Nationalhymnen aus feierlichen Anlässen in anderen Ländern. – Die heutige Tagung befasst sich auch mit der anderen Seite unseres Themas: mit Literatur und Recht (hierüber wird Prof. F. Balaguer sprechen). Ich selbst bemühte mich 1983 um das mittlerweile große Konjunktur erfahrende Thema in dem Büchlein: „Das Grundgesetz der Literaten“. Beide Themen, Musik und Recht einerseits, Literatur und Recht andererseits, sind wie zwei Altarflügel eines großen „Altars“: Verfassung als Kultur.
Erster Teil: Ein Theorierahmen „Musik und Recht“ lässt sich nur auf dem Forum der 1982 konzipierten, 1998 fortgeschriebenen Verfassungslehre als Kulturwissenschaft behandeln und ist auch dort erörtert worden. Aus dem Grundsatzprogramm sei wiederholt1: Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten 2. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert kulturell betrachtet ist es in (mehr oder weniger guter) Verfassung! Die Akzeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung im Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesen etc. – all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierungen zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, dass ein Verfassungsstaat hic et nunc „wirklich“ ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur.) Ob dies gelungen ist, zeigt sich nur in Fragestellungen wie: Besteht ein gelebter Verfassungskonsens? Hat der juristische Verfassungstext eine Entsprechung in der „politischen Kultur“ eines Volkes? Sind die spezifi sch kulturverfassungsrechtlichen Teile einer Verfassung so in die Wirklichkeit umgesetzt, dass sich der Bürger mit ihnen identifizieren kann? M. a. W.: Die rechtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates ist nur ein 1 Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 19 f.; 2. Aufl. 1998, S. 83 f.; zur Musik: ebd. S. 512 ff. 2 Im nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff „Verfassung“ nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142.
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Ausschnitt der Wirklichkeit einer „lebenden Verfassung“, die – weit und tiefgreifend – kultureller Art ist. Verfassungstexte müssen buchstäblich zur Verfassung „kultiviert“ werden.
Zweiter Teil: Musik und „Recht“ – „Verfassungsstaat“ I. Musik – Ein Hohelied auf die Musik aus der Feder eines Dilettanten bzw. Staatsrechtslehrers – Sieben Perspektiven Fragen Sie mich nicht nach Begriff und Sache von „Musik“; sie ist nicht nur „tönend bewegte Form“ (E. Hanslick), doch lassen Sie mich hier vorläufig an die vielen Erscheinungsformen vom Lied (z. B. „Lieder ohne Worte“ von F. Mendelssohn) bis zu F. Schuberts „Forellen-Quintett“ oder der Filmmusik eines N. Rota erinnern, auch an die Kirchenmusiktradition vom Gregorianischen Choral über die „Notre DameSchule“ um 1200 bis zu M. Luther. Zur Vorbereitung der verfassungstheoretischen bzw. kulturwissenschaftlichen Einordnung vor allem der Nationalhymnen3 in den Typus Verfassungsstaat ist ein Wort zur Musik als Kunst des und für den Menschen unverzichtbar. Dies könnte professionell freilich nur ein Musikwissenschaftler bzw. Kritiker leisten, eine gerade in Deutschland von F. und J. A. P. Spitta bis E. Hanslick, von Alfred Einstein 4 bis J. Kaiser blühende Disziplin5. Der Verf. kann auf diesem Felde nur dilettieren und sich als praktizierender Musikliebhaber zu erkennen geben. Freilich sagte J. W. v. Goethe: „Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit. Der Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit.“ In einer späten Altersphase wie der seinigen, mag dies vielleicht erlaubt sein. Freilich, kann sich der Verfasser gewiss nicht auf die vielen Komponisten berufen, die zunächst als Juristen begonnen haben: von R. Schumann 6 bis I. 3 Zu Wort- und Kulturgeschichte der „Hymne“: Meyers Großes Universallexikon, 1982, Art. „Hymne“. S. auch Art. Hymnologie, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 4, 2. Aufl. 1996, Sp. 459 ff.; Art. Hymnus ebd. Sp. 464 ff. mit vielen Notenbeispielen. Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bd. 16, 9. Aufl. 1976, S. 780 sagt: „Zu Nationalhymnen wurden religiöse Kampfl ieder des MA, Königshymnen, Freiheits- und Revolutionshymnen, patriotische Volkslieder, Militärmärsche, Stücke aus Bühnenwerken oder Neukompositionen erklärt“. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 15 in 24 Bänden, 19. Aufl. 1991, S. 351 sagt zu Nationalhymnen in 5 Zeilen: „im Gefolge der Französischen Revolution seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts sich ausbreitende, patriotische Gesänge mit meist populärer Melodie, die als Ausdruck des nationalen Selbstverständnisses gelten und bei friedlichen politischen und sportlichen Anlässen gespielt und gesungen werden bzw. zum Protokoll gehören“. Aus der jüngsten Lit. H. D. Schurdel, Nationalhymnen der Welt – Entstehung und Gehalt, 2006. Nur wenig ergiebig Art. Hymnen, Lexikon der Kunst, Bd. III, 2004, S. 372. Auffällig ist, dass viele andere Lexika das Thema auslassen: z. B. Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl. 1987 sowie Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 1956 oder Lexikon der Politikwissenschaft (Hrsg.) von D. Nohlen u. a., 2002, oder Politiklexikon von E. Holtmann, 3. Aufl., 2000. Unergiebig ist auch das EvStL (Neuausgabe 2006). Zum Folgenden schon P. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, S. 65 ff. 4 Von ihm die Bearbeitung von „Das neue Musiklexikon“, 1926. 5 Die deutsche Musikwissenschaft hat bis heute hohes Ansehen: Man denke an T. Adorno oder heute an G.-S. Mahnhopf. Drei Zeitschriften sind höchst lebendig: „Musik-Konzepte“, „Musik-Texte“ und „Musik und Ästhetik“. 6 Ausführliche Nachweise und Angaben bei H. Weber, Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines
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Strawinsky 7 oder P. I. Tschaikowskij8, oder auf solche, die gar eine Doppelexistenz wagten, wie E. T. A. Hoffmann9. Die folgenden Zeilen können sich eher „naiv“ nur von der Liebe zur Musik tragen lassen. Sie hat keinen geringeren als L. v. Beethoven10 zu einem berühmten Klassiktertext angeregt: „Musik ist höhere Weisheit als alle Offenbarung und Philosophie“, und sie hat F. Schubert zu seinem Preislied auf die Musik als „holde Kunst“ inspiriert. Sieht man mit H. Prantl sogar in der Verfassung eine „Liebeserklärung an ein Land“11, so darf ein Verfassungsrechtler wenigstens insoweit um die Musik bemüht sein, als er seinerseits mit freilich professionellen Mitteln sich um die Verfassung (z. B. ihre Nationalhymne) bemüht. Man erinnere sich des Textes von W. Shakespeare: „Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist . . .“. Mit diesen wenigen Hinweisen sei der Boden auf bereitet, auf dessen Humus letztlich auch die Ergründung des Themas „Verfassungsstaat und Musik“ bzw. ihrer besonderen Gattung „Nationalhymne“ gedeihen kann. Im Einzelnen: (1) Die Musik12 dringt in allen ihren Erscheinungsformen vom Choral bis zum „Lied“, vom Streichquartett bis zur Oper, vom Oratorium bis zur Nationalhymne am unmittelbarsten zur Seele eines Menschen, seinen Gefühlen, vor. Sie berührt diese wie wohl keine andere Kunst (allenfalls die Lyrik eines Goethes – „Wanderers Sturmlied“13 – oder F. Hölderlin: „Wie wenn am Feiertage“, „Friedensfeier“, „Patmos“) kann die Seele ähnlich intensiv berühren, vielleicht auch die Gesänge „Homers“. Musik ist primär nicht zu „denken“, sondern zu empfinden. Musik ergreift den Menschen buchstäblich als Ganzes: vom Kopf über das Herz und ggf. bis zum Fuß (etwa im Tanz). Bezieht man im Blick auf die Geschichte des Verfassungsstaates auch anThemas, in: ders. (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 1 ff. (S. 2 f. „Musikerjuristen“: insbes. über R. Schumann (S. 3, Fußnoten 5–9)). – R. Schumann, Schriften über Musik, Reclam (U-B Nr. 2472), 1982. Zur Aufnahme des Jura-Studiums in Leipzig 1818 und zur Fortsetzung der juristischen Studien in Heidelberg (bei Thibaut und Mittermaier) 1829. S. auch A. Boucourechlier, R. Schumann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1974, S. 24 ff. Zum Jurastudium in Leipzig und Heidelberg und zur Aufgabe des Jurastudiums sowie zur Aufnahme des Musikstudiums in Leipzig im Herbst 1830 s. auch: K. H. Wörner, R. Schumann, Tb.-Ausg. 1987, S. 29–45. 7 Beginn des Jurastudiums an der St. Petersburger Universität 1902 und 1905 Abschluss des juristischen Studiums, vgl. V. Scherliess, I. Strawinsky und seine Zeit, 2002, S. 14. 8 E. Helm, Tschaikowskij in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1983, S. 22 ff. (S. 22: Eintritt in die Petersburger Schule für Jurisprudenz 1850; Mai 1859 mit dem Rang eines Titularrats, Entlassung aus der Juristenschule und angestellt als Beamter des Justizministeriums (S. 25); S. 29: 1862 Eintritt in das Petersburger Konservatorium zur Aufnahme des Musikstudiums; in der Folgezeit scheidet er aus dem öffentlichen Dienst aus (1863)). S. auch: E. Garden, Tschaikowskij – Eine Biographie, Insel-Taschenbuch 1998, S. 17 ff. (insbes. S. 21 zur Anstellung als Verwaltungssekretär im Justizministerium und S. 24 zum Ausscheiden aus dem Justizministerium). 9 Aus der neueren Literatur: K. Kastner, E. T. A. Hoffmann – Jurist, Dichter und Musiker, in: H. Weber (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 72–88, sowie mit weiterführenden Nachweisen; H. Weber, Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines Themas, in: ders. (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 2 (vor allem: Fußnote 4). S. auch H. Steinecke, Die Kunst der Phantasie, 2004. 10 Dazu: B. Weck, „Euch werde Lohn in besseren Welten!“ – L. van Beethoven und die Entwicklung moderner Menschenrechts- und Verfassungsutopien, in: H. Weber (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 48–71. 11 H. Prantl, Ein deutscher Liebesbrief, SZ Nr. 238 vom 16. 10. 2006, S. 8. 12 Bald klassisch: H. Maier, Cäcilia, Essays zur Musik, 1998/2005. 13 Von ihm der Sammelband: „Goethes Gedanken über Musik“, hrsgg. von H. Walwei-Wiegelmann, 1985.
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dere Lieder als die Nationalhymnen mit ein, etwa den Song des 2006 verstorbenen Popsängers J. Brown als Kampfl ied der schwarzen Bürgerbewegung in den USA14 oder die Kampf hymnen der deutschen Sozialdemokratie („Brüder zur Sonne“) oder der Kommunisten, nimmt man die Vielfalt der bei katholischen (hymnisch bewegten) Prozessionen gesungenen Kirchenlieder hinzu, so wird zugleich erkennbar, dass Musik viele Tätigkeiten und Vorgänge, von einzelnen Menschen und ihre Vergesellschaftungsformen mit prägen kann (Stichwort „Marschmusik“15, wie in vielen Verfassungen). Musik hat also eine höchst-persönliche, personale Seite bzw. Funktion und sie kann auch eine gemeinschaftsbildende, integrierende Funktion entfalten. Man denke an Jazz- und Rockkonzerte16 („Woodstock“) oder Fußballhymnen (wie 2006) oder die Chartshow „The Dome“, aber auch an die mindestens momentane, rein geistige Verzauberung „einer Menge Menschen“ durch Musik: etwa im Konzertsaal des Wiener Musikvereins oder in der Berliner Philharmonie17. Das „Requiem“ von Mozart bis Verdi hat Sterben und Tod zum Thema und besitzt seine eigene Prägung. Die Musik erweist sich so als kulturanthropologische Konstante, aber auch Variante des Menschen in seinen verschiedenen Kulturräumen. Der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe gibt all dem Raum. Zuweilen stellt er die Musik direkt in seinen Dienst: eben in Gestalt der Nationalhymnen (in der Zeit des Absolutismus in Auftragswerken18 wie einer „Festoper“). (2) Die („Macht“ der) Musik ist heute tendenziell/universal/abstrakt/immateriell und zugleich emotional/konkret. Diese fast „heilige“ Kombination von Gegensätzlichem kann nur unter einem Vorbehalt gewagt werden. Gewiss ist die abendländische Musik (mit ihren Anfängen in der Gregorianik sowie der Notenschrift eines G. von Arezzo) heute tendenziell von universaler Bedeutung: Sie wird in der Gestalt des Werkes eines L. van Beethoven in Japan ebenso verehrt wie in China. Das Umgekehrte gilt kaum: Einem Europäer fällt das Verständnis der chinesischen, arabischen oder tibetanischen Musik sehr schwer; leichteren Zugang hat er zu musikalischen Ausdrucksformen in Lateinamerika, insbesondere im Musikland Brasilien ( Jobim, Villalobos). Die chinesische Nationalhymne ist eher westlich. Schwer erträglich wirkt die „Peking-Oper“. (3) Bei aller grenzüberschreitender Kraft der Musik geht es um Kontinente oder Nationen: Es gibt aber auch spezifisch nationale Einfärbungen, die die Musikgeschichte 14 Dazu SZ vom 27. Dezember 2006, S. 13: „Bei ihm wurde alles zum Rhythmus: Zum Tode von J. Brown, dem Paten des Soul“. 15 S. Giesbrecht, „Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein“ – Musik und Nationalismus im deutschen Kaiserreich, in: H. Lück/D. Senghaas (Hrsg.), Vom hörbaren Frieden, edition suhrkamp 2401, 2005, S. 413 ff. (S. 429 ff. zur „Omnipräsenz der Marschmusik“). – Sogar Mozart wird ein „Hang zu Marschmodellen“ nachgesagt (G. R. Koch, in FAZ vom 23. Juni 2006, S. 46). 16 Aus juristischer Sicht: Speziell zur „Musikrichtung“ des Rock & Roll’s die Untersuchung von M. Ronellenfitsch, Rock & Roll und Recht, 1998. 17 Treffend W. Schreiber, Ton der Nation, SZ vom 20. Februar 2007, S. 11: „Auch der Raum macht die Musik“. 18 Ein besonderer Fund ist m. E. „Die Geburt der modernen Staatsmusik“, in: E. Buch, Beethovens Neunte – Eine Biographie, 2000, S. 19 ff. Es wird eine „erste Theorie einer vom Staat befohlenen Nationalhymne“ nachgezeichnet (S. 23); ebd.: Musikwerke als „Katalysator der nationalen Einheit“. S. auch S. 30 zur „Marseillaise“ und „God Save the King“ als Vorbilder aller modernen Nationalhymnen.
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im Lauf der Zeit hervorgebracht hat. So konnte ein I. Strawinsky den zu seiner Zeit als „westlich“ geltenden und kritisierten P. I. Tschaikowskij wohl zu Recht als „besonders russisch“ qualifizieren. So gibt es eine „russische Schule“ von Scriabin (1872– 1915) bis D. Schostakowitsch, die etwa durch ihre spezifischen Rhythmen und ihre eigene Instrumentalisierung charaktisiert ist. Die französische Musik von M. Ravel bis C. Debussy , auch E. Satie und F. Poulenc ist dem ebenfalls französischen Impressionismus in der Malerei kongenial. Und die Oper ist nicht zufällig in Italien entstanden (Monteverdi, 1607). G. Verdi hat im „Nabucco“19 fast eine italienische Nationaloper komponiert, nicht nur im „Gefangenenchor“, und als Beginn der deutschen Nationaloper gilt bekanntlich der „Freischütz“ von C. M. v. Weber 20. Die Grenzüberschreitungen innerhalb der Werkgattungen könnten aber nicht kreativer sein: Ein Mozart komponierte „Türkische Märsche“, ein J. Brahms „Ungarische Tänze“, ein J. S. Bach selbst lernte von italienischen Meistern wie Palestrina und A. Vivaldi, ehe er „Englische Suiten“ komponierte. Nationale Ausprägungen von Musik (z. B. aus Andalusien) und ihre grenzüberschreitend bis in die ganze Welt ausgreifende Kraft schließen sich also nicht aus. Man denke an F. Smetanas „Moldau“ und J. Sibelius’ „Finlandia“, die die Sehnsucht nach Heimat bzw. nationaler Unabhängigkeit ausdrücken wollen (Sibelius begründete damit sein Ansehen als Nationalkomponist). Das wird auch für das Verständnis von Nationalhymnen relevant. Sie können wie Beethovens „Neunte“ i.V. mit F. Schillers „Ode“ ganz Europa, ja die Welt faszinieren. Gleiches gilt für eine „Personalhymne“, das „Happy Birthday“ Amerikas, oder das Weihnachtslied (es gibt auch noch andere Weihnachtslieder): „Stille Nacht“. Nationalhymnen können anderwärts Respekt einfordern, auch wenn sie musikalisch nicht vergleichbar gelungen sind: weil sie Ausprägungen einer eigenen Nationalkultur bzw. Kulturnation sind – freilich auf dem immer noch hohen Niveau der der Musik eigenen Abstraktion, und weil sie von einem Volk verinnerlicht werden. (4) Musik zeichnet sich durch ihren spezifischen Zeitbezug aus. Sie konstituiert sich (neben der Poesie) als einzige Kunst recht eigentlich erst und nur in der Zeit. Sie hat einen „tönenden Anfang“ (z. B. Ouvertüre, Präludium) und ein erkennbares Ende (z. B. „Finale“ oder „Coda“). Alle anderen Künste weisen, abgesehen von der Literatur, einen räumlichen Charakter auf: man denke an die zweidimensionale Malerei oder an die dreidimensionale Architektur und Skulpturenkunst (Plastik) – Lessing hat in seinem „Laokoon“ Malerei und Poesie voneinander abgegrenzt. Gewiss: Man ist versucht, Analogien zur „lebenden Verfassung“ zu ziehen. Sie wirkt ebenfalls auf der Zeitschiene und verarbeitet die Zeit entsprechend und höchst differenziert (von der „Totalrevision“ bis zum „feinen“ Sondervotum der Verfassungsgerichte, etwa in 19 Zu Verdi/„Nabucco“/Nationaloper: U. Bermbach, Opernsplitter – Aufsätze. Essays, 2005, S. 117 ff. („oh, mia patria si bella e perduta“ – Über Macht und Ohnmacht in Verdis Nabucco (insbes. S. 118: „Ziele . . . waren für Verdi: die nationale Unabhängigkeit Italiens, beste und stabile, wenn möglich republikanische Institutionen . . .“); ders., Über Leichen geht der Weg zur Macht – Gesellschaftliche und politische Aspekte in Giuseppe Verdis Opern, in: ders., Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht – Politik und Gesellschaft in der Oper, 1997, S. 146 ff. Schließlich E. Schmierer, Kleine Geschichte der Oper, Reclam (U-B 18154), 2001, S. 150 ff. (S. 150 „Verdi verdankt seinen Ruhm nicht zuletzt der Tatsache, dass sein Leben und sein Opernschaffen eng mit dem Risorgimento, der Freiheits- und Einheitsbewegung in Italien verknüpft sind.“) 20 U. Bermbach, Freikugeln für die Freiheit – Zu Webers Der Freischütz, in: ders., Opernsplitter – Aufsätze, Essays, 2005, S. 109 ff.
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den USA und Deutschland, leider noch nicht in Rom). Sie gliedern sich auch oft in Präambeln, kulturwissenschaftlich dem Präludium oder Prolog vergleichbar, und sie enden in „Übergangs- und Schlussvorschriften“ (Finale). Zeit und Verfassung 21 ist ein kulturwissenschaftlich belegbares Verfassungsthema. Indes tut die Zeit in der Musik doch ganz anders ihr Werk. Die „Sätze“ einer Sonate und Symphonie unterscheiden sich u. a. durch ihr Tempo (z. B. Lento, Adagio oder Allegro con brio sowie Presto), und vor allem ist der Rhythmus prägend, insbesondere die Taktform 22. Mitunter gibt es bei den Nationalhymnen Streit um den Text der Strophen, so in Deutschland und in Chile23, auch in Bosnien-Herzegowina; Spanien kann sich nicht auf einen Text einigen. All dies ist für Nationalhymnen nicht unerheblich. Ein Musikwissenschaftler müsste sie auf ihren Rhythmus, ihre Symbiose mit dem Text untersuchen (analog der Arie, dem Rezitativ oder dem Oratorium). Auch das kann hier nur eingefordert, nicht selbst geleistet werden. Das friedliche „Andante“ einer Nationalhymne hat im stürmischen aggressiven „Allegro“, im „Marsch“ oder gar Presto einer Nationalhymne nach Art der französichen „Marseillaise“ ihr Gegenstück. All dies wird hier angedeutet, um die Zugehörigkeit der Nationalhymne als Musik und als Text zur Musik im Ganzen zu dokumentieren (Für Mozart war in der Oper24 die Musik der Poesie „gehorsame Tochter“, in Wahrheit oft freilich deren Überhöhung und Vertiefung). (5) Grundsätzlich konzentriert sich die Wahrnehmbarkeit der Musik auf ein einziges Sinnesorgan: das Ohr. Doch bedarf es der Korrektur dieser These: Es gibt Musikarten, die auch andere Sinnesorgane „ansprechen“ (sollen): etwa das manche „Pathosformeln“ nutzende Ballett (erfunden in Paris um 1700), den Tanz (vom Walzer bis zum Tango) oder die Oper: die Augen. Besonderes gilt für die Filmmusik (groß die eines E. Morricone, der endlich 2006 für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, oder eines N. Rota). Wird Musik spezifisch mit Texten verbunden wie im „Kanon“, in der katholischen Liturgie, im protestantischen Kirchenlied dank der von M. Luther geschaffenen deutschen Sprache (P. Gerhardt), so kommt es zu Symbiosen höchsten Glücks (z. B. „Befiehl du deine Wege“). Man denke auch an die „Winterreise“ von F. Schubert mit den Texten des oft unterschätzten W. Müller oder an R. Schumanns Liederzyklus „Dichterliebe“. Die Medizin kennt sogar das Fach „Musiktherapeutik“, die die Wirkung der Musik auf Körperfunktionen zur Heilung einsetzt. Mit solchen Überlegungen „im Hinterkopf “ muss man sich letztlich auch der Verbindung von Text und Musik in Nationalhymnen nähern. In „vertonten Gedichten“ ereignet sich zwar die Musik auch nur in der Zeit, die Sprache kann aber neben der emotio auch die ratio ansprechen. In der protestantischen Gemeinde schafft das Kirchenlied eines M. Luthers „Gemeinde“. Kultische liturgische Handlungen sind in den katholischen Gottesdiensten von bestimmter ruhiger Musik begleitet („Kirchenmu21 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, Zf P 1974, S. 111 ff. – Zu „Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen“ von Verfassungen, mein Beitrag in FS Lendi, 1998, S. 137 ff. 22 Vereinzelt wurde eine alte Nationalhymne durch einen „friedlichen Wortlaut“ ersetzt, so geschehen in Chile, 1847, vgl. Reclam, Nationalhymnen, 11. Aufl. 2006, S. 38. 23 Dazu Reclam, aaO., S. 38. 24 Zur Oper als „Magie des Augenblicks“: M. Brug, Die Welt vom 24. Februar 2007, S. 28 mit der Frage: „Hat die Kunstgattung noch eine Zukunft?“.
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sik“ hat ihre eigenen Gesetze; H. Pfitzner vertonte sogar sehr schön ein Konzil (!)) 25. Insofern geht es, wie bei diesen Handlungen, nicht nur um das Ohr oder das Auge, auch das Wandeln und Gehen oder Schreiten, also der ganze Körper („Polonaise“), sind einbezogen. Die Musik hat ihrerseits Wirkungen auf Körperfunktionen (laut Bibel befreite Davids Harfenspiel König Saul von seiner Schwermut; Bachs GoldbergVariationen sollten einen schlaflosen Auftraggeber „heilen“). Auch all dies ist für die später speziell behandelten Nationalhymnen nicht ohne Belang. Sie werden oft im Stehen gesungen, in bestimmter „Haltung“, eröffnen bestimmte Vorgänge oder schließen sie ab, haben eine integrierende Funktion: auf das ganze Land bezogen, in der Bayernhymne26 auf ein besonderes Bundesland, im „Schweizer Psalm“ auf die ganze Nation. (Historisch ist an die „Krönungsmesse“ eines Mozart oder an seine als absolutistische Huldigungsoper kritisierte „La Clemenza di Tito“ zu erinnern. J. S. Bach komponierte wohl alles seinem „Gott in der Höhe“, auch die Brandenburgischen Konzerte). (6) Die Musik scheint (nur) auf den ersten Blick weniger dem Wandel zu unterliegen als etwa die Sprache. Sie grenzt sich aber auch durch den erwähnten Zeitfaktor von anderen Künsten ab: von der Architektur mit ihren „bleibenden“ Monumenten, Denkmälern, Bauten oder Brücken, von der Skulptur des „Lakoon“ oder dem Parthenon in Athen und dem Pantheon in Rom, von der Malerei des göttlichen Raffael oder der Sixtinischen Kapelle des Michelangelo in Rom. Und doch gibt es Wandel in dreifacher Hinsicht. Zum einen: Die Musikgeschichte zeigt enorme Entwicklungsvorgänge, auch „Revolutionen“ insgesamt: Man denke an die Entwicklung von Palestrina bis Pergolesi, von J. S. Bach bis zur ersten und zweiten „Wiener Klassik“, an Strawinskys „Sacre du Printemps“. (An Busonis „Neue Ästhetik der Tonkunst“ sei erinnert.) Zum anderen: Die einzelnen Musikstücke werden zu verschiedenen Zeiten verschieden interpretiert: Stichwort: Wandel der Aufführungspraxis (der Rezeptionsgeschichte) bis hin zur heutigen Ideologie der „Werktreue“ oder zur unseligen „Dekonstruktion“ von einzelnen Opern wie etwa von „Othello“ (in Düsseldorf als Theaterstück im Oktober 2006). Der respektlose Eingriff in Klassiker – seit dem „Regietheater“ – ist eine Verletzung von deren Werken. Interpretation ist Dienst! Die Rückkehr zum sog. „Originalklang“ mit Originalinstrumenten (N. Harnoncourt) gehört – neben der Suche nach dem „Urtext“ – ebenfalls hierher, wie die Versuche, Bach in den Jazz zu transportieren ( J. Loussier) oder für Ballettmusik zu „verwenden“. Auch „Transkriptionen“ und „Adapationen“ seien genannt, vor allem von F. Liszt in Bezug auf L. van Beethoven. Schließlich: Einzelne Komponisten erfahren eine „Renaissance“: G. Mahler in den 70er Jahren, die Barock-Oper von G. F. Händel heute. Manche Komponisten bleiben fast vergessen: so J. Halevy. Im Vorgriff: Die Nationalhymnen dürften von solchen Entwicklungen nicht ganz unberührt bleiben, weder in ihrer Entstehungszeit, noch in ihrer späteren Aufführungspraxis. Dennoch bilden sie ein „relativ statisches“ Stück Musik auch im Wandel eines konkreten Verfassungsstaates. 25
Leider schrieb er auch eine Huldigungskomposition für H. Frank, den „Schlächter von Polen“: „Krakauer Begrüßung“ (FAZ vom 25. Januar 2007, S. 31). 26 Zur Entstehung und den mit ihrer verbundenen Intentionen: M. Treml, Die Geschichte des modernen Bayern – Königreich und Freistaat, 3. Auf. 2006, S. 80, 131, 148.
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(7) Damit sind wir bei der Rolle der Interpretation (und ihrer Geschichte). Jede Musik schafft, ja lebt von offenen Interpretationsspielräumen – ähnlich wie Werke der Dichtkunst. Man hat früh Parallelen zwischen der Interpretation von „Gesetz und Recht“ und der von Werken der Poesie gezogen 27. Jüngst wurde der Richter im Verhältnis zum Gesetz mit einem Pianisten verglichen 28. Große Solisten und Dirigenten zeichnen sich gerade durch die neue – schöpferische Interpretation – von Partituren aus. Das gilt auch für Chorwerke und Opern 29. Es geht um relativ „offene“ Kunstwerke und Libretti, Texte, Handlungen, Regieanweisungen. Vielleicht darf man G. Radbruchs bekanntes Dictum umwandeln in: Das Kunstwerk, z. B. die Musik, ist „klüger als sein (bzw. ihr) Schöpfer“. Das Besondere bei Nationalhymnen ist, dass sie nicht (nur) von „Professionellen“ gespielt bzw. gesungen werden, sondern tendenziell und gewollt von allen Menschen gleicher Nation. Die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ hat auch in der Nationalhymne ein Forum. Gewiss, Nationalhymnen müssen in ihrer Melodie oft kurz sein, wenngleich ihre mitunter verschiedenen Strophen eine „Verlängerung“ ermöglichen. Ihnen eigen ist in der Regel auch nicht die ganze musikalische Fülle und Dichte eines „Kunstliedes“, eines Hymnus, eines Chorals, eines „Agnus dei“ von W. A. Mozart oder eines Jubelsatzes wie im Weihnachtsoratorium von J. S. Bach. Dennoch bleiben sie als Musik untrennbar mit anderen Ausdrucksformen von „Musik“ verknüpft: ästhetisch-ideell wie real. Sie sind ein Stück menschliche Kultur und Verfassung sowie „Verfassung als Kultur“ in einem Falle. (Archäologen fanden „Knochenflöten“, die ca. 35000 Jahre alt sind. Das alte Ägypten kannte bereits Trommeln und Trompeten). Heute ist der Ruf „Rettet das Volkslied“! (C. Tewinkel) nur zu berechtigt. Dabei sind Musik und Text gleichermaßen hochrangig. Speziell die Nationalhymne lebt jenseits der früher so umstrittenen Alternative „prima la musica poi le parole“. Doch ist sie auf eine Weise „Programmmusik“: ihre Texte verarbeiten oft Geschichte und entwerfen Zukunft, oft sehr konkret wie der Präambeln! Oder sie geben der Liebe zur Heimat, zur Natur oder zu Gott Ausdruck30.
II. „Recht“ Fragen Sie mich nicht nach dem Begriff „Recht“! Laut Ovid unterscheiden sich Mensch und Tier durch die Scham und das Recht, wir fügen hinzu: auch durch die Freiheit und die Möglichkeit zur Religion. So wie wir seit Jahrtausenden um den Begriff der Gerechtigkeit als „Wahrheit des Rechts“ ringen, suchen wir – den Theologen bei der Gottesfrage ähnlich – nach dem Begriff „Recht“. Eine erste Hilfe ist 27
Dazu P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 22 f. Dazu den im FAZ-Feuilletton ausgetragenen Streit, z. B. FAZ vom 26. Oktober 2006 unter Beteiligung von C. Möllers, BGH-Präsidenten G. Hirsch, G. Rollecke, B. Rüthers, FAZ vom 30. Januar 2007, S. 34. 29 Dazu aufschlussreich B. Beyer (Hrsg.), Warum Oper?, Gespräche mit Opernregisseuren, 2006. – S. auch Pierre Boulez, FAZ vom 13. Mai 2006, S. 37: „Musik mit Bürgersinn, Laudatio auf D. Barenboim“. 30 Dazu P. Häberle, Nationalhymnen, aaO., S. 11 ff., 83 ff. 28
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die Unterscheidung unseres deutschen Grundgesetzes zwischen „Gesetz“ einerseits und „Recht“ andererseits (Art. 20 Abs. 3). „Recht“ indiziert einen Verweis auf die Gerechtigkeit, während das Gesetz das positive Recht meint. Das Spannungsverhältnis liegt auf der Hand, die Idee des Naturrechts wird sichtbar. Im Folgenden sei unter „Recht“ das positive Recht und das vorstaatliche Recht verstanden, vor allem der Menschenwürde-Grundsatz als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates. Musik und Literatur sind nicht nur quasi parallel im Zusammenhang mit dem Recht zu sehen, sie stehen auch untereinander in vielfältigen Beziehungen. Ihnen wird im Folgenden nachzuspüren sein.
III. Aspekte einer Musikgeschichte im Lichte der Entwicklung des „Verfassungsstaates“ Die Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates kann ohne die sie z. T. „begleitende“ Musikgeschichte nicht geschrieben werden31. Bei einer Betrachtung der Behandlung und Verarbeitung politischer, der Auf klärung verhafteter, revolutionär-republikanischer (staats-)philosophischer Ideen und der damit verbundenen – freilich erst in moderner Diktion so bezeichneten – staatsbzw. verfassungsrechtlichen Themenstellungen in der Musik, steht der „musikalische Jacobiner“ Ludwig van Beethoven (1770–1827) dominierend im Mittelpunkt der Musikgeschichte. Vor allem in Werken wie seiner 3. Symphonie (1804/1805 – „Eroica“), der Musik zu Goethes „Egmont“ (1810), der 9. Symphonie (1824; mit der „Ode an die Freude“ Friedrich Schillers als Schlußchor, die ursprünglich sogar „die Freiheit“ besungen haben soll) und ganz besonders in seiner einzigen Oper „Fidelio“ (3 Fassungen 1805/06, 1814; Text von Sonnleithner und Treitschke nach N. J. Bouilly) bezog er Stellung gegen Machtmißbrauch und Willkürherrschaft und beschwor ein humanistisches Freiheits- und Befreiungspathos, welches ganz im Bann des (spät-)aufgeklärten Zeitgeistes der postrevolutionären Epoche nach der französischen Revolution stand 32. Zuvor hatte schon W. A. Mozart (1756–1791) in seiner Opera buffa „Le nozze di Figaro“ (Libretto: Lorenzo da Ponte nach Beaumarchais) die freche Kritik des Autors der Komödie „Le mariage de Figaro“ an verkrusteten feudalen Gesellschafts31
Zum Folgenden schon P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 512 ff. 32 Zu Beethovens politischer Prägung durch den „Josephinismus“ und die reformerischen Gedanken der Auf klärung: S. Kross, Beethoven und die rheinisch-katholische Auf klärung, in: ders. (Hrsg.), Beethoven – Mensch seiner Zeit, 1980, S. 9–36; zur Wirkung: D. B. Dennis, Beethoven in German Politics, 1870–1989, 1996; zur Eroica: M. Geck/P. Schleuning, „Geschrieben auf Bonaparte“ – Beethovens „Eroica“: Revolution, Reaktion, Rezeption, 1989; P. Schleuning, Frieden durch Krieg – Beethovens „Sinfonia eroica“, in: H. Lück/D. Senghaas (Hrsg.), Vom hörbaren Frieden, 2005; zur Ode an die Freude: D. Hildebrandt, Die Neunte – Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs, 2005; zu Fidelio: E. Poettgen, Fidelio und die Menschenrechte. Eine sehr persönliche Annäherung an ein zentrales Werk der Musikgeschichte, in: P. Csobádi u. a. (Hrsg.), Fidelio/Leonore – Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions, 1996, 1998, S. 257 ff.; zur Josephs-Kantate: K. Küster, Beethoven, 1994, S. 29 ff.; B. Weck, in: Verfassung im Diskurs der Welt, Liber amicorum Peter Häberle, 2004, S. 856 f. m. w. N.
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strukturen aufgegriffen und mit dem Deutschen Singspiel „Die Zauberflöte“ (Libretto: E. Schikaneder) die in den Dienst der Humanität gestellten Ideale der Freimaurer mit tiefer Anteilnahme verwendet und überhöht 33. In diesem Kontext ist zu unterstreichen, daß zahlreiche Geheimbünde (Illuminatenorden etc.) die zeitgenössische Dramatik des ausgehenden 18. Jahrhunderts und auch zumindest indirekt Komponisten wie Beethoven34 durch ihren auf klärerisch-humanistischen Ansatz beeinflußt haben. (Es ist besonders erwähnenswert, dass Beethoven 1790 zwei Kantaten auf den Tod des Kaisers Joseph II. und auf die Erhebung Leopolds zur Kaiserwürde komponierte, deren Texte (Severin Anton Averdonk) nachhaltig diesen Geist atmeten.) Die politisch-sozialen Umwälzungen während des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts führten auch zu einer „ästhetischen Revolution“ der Dramaturgie der Oper35, die neue „Subgattungen“ hervorbrachte: Schreckens- und Rettungsopern36, die mit den Namen von Komponisten wie Luigi Cherubini (1760–1842), E. N. Méhul (1763–1817) und F. Paer (1771–1839) verbunden sind (auch Beethovens „Fidelio“, möglicherweise von Paers „Leonora“ (1804) angeregt, zählt zu diesem Genre). Heroisches und leidenschaftliches Freiheitspathos findet sich eine Generation später auch in G. Verdis (1813–1901) Oper „Nabucco“, die die Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft schildert und die bis heute die „geheime Nationalhymne“ Italiens bildet 37. R. Wagner sei nur als Merkposten genannt 38. Satire und Spott über Kritik an den politischen Zuständen, vor allem im Blick auf das Regime Napoleons III. in Frankreich39, übte die sich in dieser Zeit entwickelnde Operette, die damals besonders unter dem Einfluß von Jaques Offenbach stehend, ein freches kritisches Genre war und mit dem die heutige Aufführungspraxis (nicht zuletzt wegen der grundlegend gewandelten politischen Rahmenbedingungen) nichts mehr gemein hat. Von den zeitgenössischen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts haben einige der berühmtesten entschiedene Bekenntnisse gegen den Krieg und die Missachtung elementarster Menschenwürde-Grundsätze, gegen Gewaltstaat und Gewaltherrschaft abgelegt: Arnold Schönberg (1874–1951) schrieb im Jahr 1949 die 33 Die freimaurerischen („illuminatischen“) Hintergründe und die auf klärerischen Gehalte behandeln eindrucksvoll: J. Assmann, Die Zauberflöte – Oper und Mysterium, 2005; H. Perl, Der Fall „Zauberflöte“. Mozarts Oper im Brennpunkt der Geschichte, 2000; Herbert Lachmeyer (Hrsg.), Experiment Auf klärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts – Essayband zur Mozart Ausstellung des Da Pote Instituts Wien (Albertina Wien), 2006. S. auch G. Falke, Mozart oder über das Schöne, 2006. 34 Vgl. S. Kross, aaO. 35 W. Oehlmann, Oper in vier Jahrhunderten, 1984, S. 321 ff. (321). 36 W. Oehlmann, aaO., S. 322 ff. u. 330. 37 U. Bermbach, Zwischen Inquisition und Freiheit – zum Kernkonfl ikt in Verdis Don Carlos, in: ders, Opernsplitter – Aufsätze, Essays, 2005; zu: Frieden/Krieg/Friedenssehnsucht: M. Geck, Musik dringt höher, tiefer und weiter als die Fanfare von Krieg und Frieden, in: H. Lück/D. Senghaas (Hrsg.), vom hörbaren Frieden, 2005. 38 Aus der Lit.: U. Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks – Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, 1994; ders., Blühendes Leid – Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, 2003. 39 Vgl. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, 1983. – Allgemein aufschlußreich: K. Kastner, Die Kunst der Kritik – in der Literatur, auf der Bühne und in der Musik, NJW 1995, S. 822 ff. – Eine Trouvaille ist: M. Stolleis, Komponierende Staatsrechtslehrer, in: „Recht, Geist und Kunst“, K. Reichert u. a. (Hrsg.), 1996, S. 373 ff. Gleiches gilt für den Aufsatz von B.-R. Kern, Rossini und Metternich, in: M. Kilian (Hrsg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudentia literarisch, 2006, S. 61 ff. Heute steht m. E. das Thema an: „Verfassungsrecht musikalisch.“!
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Kantate „Ein Überlebender aus Warschau“ über das dortige Ghetto; schon während des 2. Weltkrieges hatte Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) in höchst expressiven Instrumentalwerken seine Verzweiflung über die Friedlosigkeit seiner Zeit zum Ausdruck gebracht (Violinkonzert „Musik der Trauer“, 1939 (Uraufführung 1940 in St. Gallen); „Symphonia Tragica“, 1941 (UA 1989 (!) in München)). Auch Arthur Honegger (1892–1955) setzte sich in seiner 3. Symphonie (1946) „Liturgique“ (Dreisätzig: „Dies irae“, „De profundis clamavi“ und „Dona nobis pacem“) mit den Schrecknissen des Krieges und der Friedenssehnsucht der Menschen auseinander. Der 1933 geborene polnische Komponist Krysztof Penderecki schließlich schuf 1959/61 „Threnos“ in Angedenken der „Opfer von Hiroshima“ (1945). Ein ergänzender Hinweis auf Ernst Bloch (1880–1959), „Shelomo“ (1917), und Gustav Holst, „Mars“ in der Orchestersuite „Die Planeten“ (1914 (!)), muß genügen. In der Zeitspanne nach dem ersten Weltkrieg bis hin in unsere Tage waren es von den modernen Tonsetzern in erster Linie osteuropäische Komponisten, die in ihren Werken Spannungen zwischen dem Individuum und „kollektiven Instanzen“ (i. S. von Staat und Gesellschaft) spiegelten. Große Bedeutung kommt hier Dimitri Schostakowitsch (1906–1975) zu, der nach Maßregelungen durch die stalinistische Kulturbürokratie im Jahre 1936 (Der Vorwurf „Chaos statt Musik“ wurde wegen der Oper „Lady Macbeth des Mzensker Kreises“ (nach N. Leskow) erhoben) in eine Art „innere Emigration“ ging und in seinen Tonschöpfungen fortan verschlüsselt das Aufeinanderprallen kollektiver Anforderungen und der Interessen der einzelnen Menschen behandelte (vor allem 5. Symphonie (1937)40 ). Um die Konfrontation zwischen Volk und Macht geht es auch in Schostakowitschs 11. Symphonie „Das Jahr 1905“, die er unter dem Eindruck des ungarischen Aufstands von 1956 begonnen hat (Uraufführung 1957) und die „thematisch dem niedergeschlagenen Volksaufstand gegen den Zaren von 1905 gewidmet“ ist41. Großen Mut bewies dieser große Symphoniker unseres Jahrhunderts auch in seiner 13. Symphonie „Babij Jar“ (1962), in der Texte des verfehmten Dichters Jewgenij Jewtuschenko (geb. 1932) vertont wurden, die an die „Massenmorde an ukrainischen Juden zur Zeit der deutschen Besatzung“ erinnern, zugleich aber auch eine Abrechnung mit dem russischen Antisemitismus enthalten42. Der nach Auffassung S. Volkows in der Tradition des in Rußland bekannten religiösen Phänomens des „Gottesnarrentums“ zurückgezogen lebende Schostakowitsch 43 schuf zunehmend zergrübelte Werke, die die Ausweglosigkeit der menschlichen Situation umkreisen (z. B. 8. Streichquartett op. 110 (1960) und eine Vielzahl der späteren noch folgenden Streichquartette 9–15). Die plakative Bezeichung „gefeierter Vasall“44 wird ihm insgesamt betrachtet nicht gerecht45. Stockhausens „Weltparlament“ bzw. Musik unserer 40 Zum in diesem Zusammenhang erhobenen „Formalismus“-Vorwurf s. vor allem: Zeugenaussage – Die Memoiren des Dimitri Schostakowitsch, aufgezeichnet und herausgegeben von Solomon Volkow, 1979 (TB-Ausgabe 1981, S. 35 und 356); S. Wolkow, Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler, 2004. 41 Vgl. D. Gojowy, Dimitri Schostakowitsch, TB 1983, S. 92. 42 D. Gojiwy, aaO., S. 97. 43 Vgl. S. Volkow, aaO., S. 23, 35, 38. 44 Nachruf in „Die Zeit“ vom September 1975. 45 Der absolute deutsche „Tiefpunkt“ im Nationalsozialismus sei hier nur Merkposten: die „entartete Kunst“, die „verbotene Musik“ (z. B. A. Schönberg) bzw. E. Noldes „ungemalte Bilder“. Zu diesem vielbehandelten Thema unter einem neuen Aspekt S. A. Reich/H. J. Fischer, Wem gehören die als „ent-
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Tage kann vom Verf. noch nicht beurteilt werden, H. W. Henzes Kritik-Arsenal („Reiselieder“, 1996)46 schon eher. Des griechischen Komponisten M. Theodorakis „Kosmische Harmonie“ bzw. „Weltallmusik“ mit dem „Gesang von Walen und Elefanten“47 war dem Verf. noch nicht zugänglich. Vieles lässt sich ablesen an den meist nur auf Europa bezogenen, Nationalhymnen „als Zitat“ (B. Glaner, Art. Nationalhymne, MGG, Sachteil 7/1997, Sp. 16 (23 ff.)).
Dritter Teil: Referenzgebiete, Ausdrucksformen I. Nationalhymnen 1. Ein Kanon von Fragen Nationalhymnen sind „kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“. Sie bilden rationale und emotionale Konsensquellen für ein politisches Gemeinwesen. An anderer Stelle habe ich vor vier Jahren in einer kleinen Monographie etwa 80 Nationalhymnen unter sprachlichen, musikalischen und juristischen Aspekten untersucht48. Hier einige Hinweise: Vorweg sei unterschieden zwischen der verfassungsrechtlichen Fixierung von Musik (Komponist) und Text (Dichter) einer bestimmten Nationalhymne oder der bloßen Festlegung auf das eine oder das andere. Eine musikwissenschaftliche Untersuchung der „Kongenialität“ von Musik (Melodie) und Text (Sprache) ist nicht einmal tendenziell möglich. Nur besondere Auffälligkeiten seien beim Namen genannt: etwa die Aggressivität der „Marseillaise“ in Text und Melodie oder ein etwaiger „Marsch“ (z. B. Philippinen, Indonesien, Albanien, Monaco, Senegal, Sri Lanka, Libyen, Libanon, Kuba, Kolumbien, Indonesien, Algerien, Türkei, Spanien, freilich mit Unterschieden). Doch erlaubt sich der Verfasser letztlich kein Urteil über die künstlerische Qualität der einzelnen Nationalhymnen. Man darf allenfalls sagen, die eine oder andere Hymne sei in Sachen Musik besonders „schön“, etwa dank J. Haydn für Deutschland („Langsam“), Bulgarien hat ein „Andante Maestoso“; ein „Allegro“ haben Belgien, Saudi-Arabien, Uruguay und Venezuela, ein „Adagio“ spielt Japan, ein „Moderato“ Liberia; die Niederlande haben ein „Allegro risoluto“; beliebt ist das „Maestoso“: z. B. USA, Ungarn, Ukraine, Serbien und Montenegro, Malta, Malaysia, Großbritannien, Griechenland, Schweden, Litauen, Lettland. Portugal leistet sich ein „Grandioso“, der Vatikan kokettiert mit einem „Allegretto maestoso“). Manche Hymne ist etwas weniger ansprechend. Alle Tempi-Angaben sind charakteristischerweise in italienischer Sprache fi xiert – ein Kompliment an Ihr Land Italien. Reizvoll ist auch, welche (Verfassungs-)Geschichte zu einer „offiziellen“ Nationalhymne geführt hat, wer sie zu einer solchen „gemacht“ hat, welcher Autor bzw. Komponist etwa (von wem?), z. B. einem Verfassunggeber, Gesetzgeber artete Kunst“ verfemten, von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Werke?, NJW 1993, S. 1417 ff.; F. K. Prieburg, Musik im NS-Staat, Neuausgabe 2000. 46 Bewegend waren die Gespräche bzw. der Film zu dem Gedankenaustausch zwischen H.-W. Henze und I. Bachmann (bei 3sat am 9. September 2006 um 21.45 Uhr). 47 Dazu sein Interview in der SZ vom 10. März 2006. 48 Nationalhymnen, aaO., S. 83 ff.
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oder einem Verfassungsorgan wie dem Staatspräsidenten, so in Südafrika) beauftragt worden ist, eine Nationalhymne zu schreiben bzw. zu komponieren? Waren Wettbewerbe erfolgreich? (z. B. Mexiko, Iran, Libanon). Die Frage der Ausführungspraxis im Alltag oder an Festtagen bleibe ein Merkposten. Im Folgenden sei das riesige Verfassungsmaterial unter folgenden Gesichtspunkten aufgeschlüsselt: (1) An welche Stelle einer geschriebenen Verfassung wird die Nationalhymne platziert: Dazu gehört auch die Frage nach dem „Kontext“49. Wird die Nationalhymne in die Nähe der anderen Symbol-Artikel wie Siegel, Flagge, Wappen, Feiertage, Hauptstädte als kulturelle Identitätselemente gelegt oder an anderer Stelle „für sich“? (2) Welches sind die Beispielsformen für konstitutionell festgelegte Nationalhymnen, gibt es Grundmuster, Varianten oder Typen? Sind – neben den Texten (Strophen) – auch (welche?) Tonarten und Tempi festgeschrieben? (so zumeist) – das einfache C-Dur herrscht vor (z. B. Estland, Australien, Belgien, Bolivien, Bulgarien, Chile, Estland, Indien, Japan, Kenia, Kolumbien, Luxemburg, Mexiko, Norwegen (Nationalhymne), Portugal, Rußland, Schweden (Königshymne), Senegal, Thailand (Nationalhymne). Welche Themen behandeln die Texte? etwa Vaterland, Heimat, Ruhm, Kampf, „Recht und Freiheit“, die Natur, Gott, König, Märtyrer, Afrika. (3) Gibt es „Fehlanzeigen“, d. h. viele oder nur einzelne Verfassungen, in denen das Thema „Nationalhymne“ bewusst oder versehentlich nicht geregelt ist. Oder wird wenigstens auf Ausführungsgesetze (Delegation, auch „Schedules“) verwiesen? Gibt es auch hier Unterschiede in Raum und Zeit: nach den historischen Epochen (Monarchien, Republiken, Demokratien), klassischen Nationalstaaten hier, modernen Entwicklungsländern dort, Unterschiede auch nach Kontinenten? Und Verfassungskulturen? Wo und wann sind Nationalhymnen Kontinuitätselemente? (so in Polen, Litauen und Lettland, auch Weißrussland).
2. Aspekte einer musikalischen Analyse der Melodien von Nationalhymnen Im Folgenden sei keine musikwissenschaftliche Behandlung von Nationalhymnen gewagt, dazu fehlt dem Verfasser jede Kompetenz; doch seien Fragestellungen aus der Sicht eines musikliebenden Verfassungsjuristen in vergleichender Sicht formuliert. Drei Grundsatzfragen stellen sich im Blick auf die Melodien bzw. die Musik von Nationalhymnen: (1) Welches sind ihre Tempi: „flotte Märsche“, dynamisch aggressiv, i. S. eines Allegro, besinnlich-langsame „Andantes“ etc. oder gar „Lenti“? (2) In welcher Taktart sind sie komponiert? die Frage nach dem Rhythmus: Dreivierteltakt, Vier-Viertel-Takt? (3) Für welche Tonart hat sich der Komponist einer Nationalhymne entschieden, jedenfalls im „Urklang“ oder die gängige Praxis. Denn hier kann es große Unterschiede in der „Stimmung“ einer Nationalhymne geben: etwa das strahlende C-Dur, 49
Zur Kontext-These: P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff. u. ö.
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das weiche d-Moll eines Mozart, das freudige A-Dur eines Beethoven. Zu vermuten ist, dass der Komponist für Nationalhymnen möglichst „einfache“ Tonarten wählt, damit die Bürger nicht überfordert sind. Die Tonarten haben in der Musik ihre je „eigene Färbung“, „Stimmung“, auch „Botschaft“. Auch die in der jeweiligen Nation bevorzugte Praxis der Orchestrierung bzw. Instrumentierung sei ein Merkposten. Eine Dorf kapelle wird die Nationalhymne in anderer „Besetzung“ spielen als ein Symphonieorchester aus „präsidialem“ Anlass, eine Militärkapelle anders als das Rundfunkorchester bei Sendeschluss um Mitternacht. Wenn anhand von kompetenten (älteren) Stimmen bzw. Autoren die Tonarten charakterisiert werden, so muss der Vorbehalt von R. Schumann erwähnt werden. Er relativiert deren Aussagekraft bzw. Kennzeichnung (Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig, 3. Februar 1835, S. 43 f.). Die Empfi ndungen des Verf. beim Hören der Musik können freilich auch durch Art und Qualität der jeweiligen Einspielung beeinflusst sein.50 Denkbar ist auch, dass die Tonarten im Wandel der Zeit dank neuer Kompositionen heute gewandelt empfunden werden (F. Schuberts G-Dur- Sonate!). Die Rechtsordnung fi xiert in vielen Verfassungen sowohl den musikalischen als auch den sprachlichen Text von Nationalhymnen. Darüberhinaus regeln viele Verfassungen den rechtlichen Schutz von Nationalhymnen – ähnlich den anderen kulturellen Identitätselementen, nämlich Feiertagen und Nationalflaggen. Nur wenige offizielle Nationalhymnen begeistern durch hohe Musik: Deutschlands Hymne von Haydn oder auch die Hymne des Vatikan (C. Gounod) seien als Ausnahme höchster Qualität erwähnt.
3. Die ideale Textstufe einer verfassungsstaatlichen Nationalhymne – der „verfassungsimmanente“ Hymnen-Artikel – „Verfassungshymnen“ (1) Drei Beispiele für Verfassungshymnen: von der Nationalhymne zur nationalen Verfassungshymne Dem Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ist in drei Ländern eine Textstufe in Sachen Nationalhymne geglückt, die besonders gewürdigt sei. Die Verfassungen der Philippinen (1986/87), der Mongolei (1992) und Äthiopiens (1994) haben sie geschaffen. So wie Präambeln und „Geist-Klauseln“ ein Konzentrat der Ver50
Die folgenden Zitate zu den Tonarten sind entnommen: A. Bartolus, Musica Mathematica, Das ist: Das Fundament der allerliebsten Kunst der Musicae, wie nemlich dieselbe in der natur stecke, vnd ihre gewisse proportiones, das ist, gewicht vnd mass habe, vnd wie dieselben in der Mathematica, Fürnemlich aber in der Geometria vnd Astronomia beschrieben sind, Leipzig 1614; L. H. Berlioz, Grand Traité d’Instrumentation et d’Orchestration modernes, Paris 2/1856. – M.-A. Charpentier, Règles de composition, Paris 1692; A. E. M. Grétry, Memoires, ou Essais sur la Musique, Bd. 2, Paris 1797; J. J. W. Heinse, Hildegard von Hohenthal. 1. Bd., Berlin 1795, S. 55; J.-P. Rameau, Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturels, Paris 1722; J. J. H. Ribock, Ueber Musik, an Floetenliebhaber insonderheit; in: Magazin der Musik, hrsg. von Carl Friedrich Cramer, Jg. 1, Hamburg 1783; J. Rousseau, Méthode claire, certaine et facile pour apprendre à chanter la Musique, Paris 1691; C. F. D. Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806; R. Schumann, Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig, 3.Feb.1835, S. 43; G. J. Vogler, Système de Simplification pour les Orgues. [Ms. Mannheim 1798]. – Aufschlussreich zur allgemeinen Fragestellung W. Auhagen, Studien zur Tonartencharakterstik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1983.
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fassung bilden, können Nationalhymnen im Idealfall analog „orchestriert“ sein. Sie sollten auf die Grundwerte der Verfassung abgestimmt sein, ihren „Geist“ bewusst machen und zugleich an die Verfassungsgeschichte eines Volkes anknüpfen sowie seine Zukunftshoffnungen skizzieren. Im Idealfall könnte dies in der Melodie und im Text bzw. den einzelnen Strophen der Hymne gelingen. Freilich dürfte es schwer sein, dieses Ideal auch praktisch umzusetzen: Man bräuchte einen Montesquieu oder F. Hölderlin (für 1848) oder einen G. Leopardi plus G. Verdi (für Italien), einen Rousseau plus H. Berlioz (für Frankreich), einen Shakespeare plus Bird oder Elgar für (Großbritannien) 51. Es ginge darum, die Grundwerte einer nationalen Verfassung wie Bürgerfreiheit und Demokratie, verfassungsgeschichtliche Höhepunkte wie die deutsche Wiedervereinigung (1990) oder in Polen die Ideen der ersten Maiverfassung von 1791 (in den Klängen F. Chopins) erlebbar zu machen: in Partitur, (Melodie), Rhythmus, Tempo, Takt, Klangfarbe52. (2) Zwei Arten: präkonstitutionelle und postkonstitutionelle Nationalhymnen Zwei Arten von Nationalhymnen zeichnen sich ab: die von der konkreten (neuen) Verfassung in ihrem „Geist“ geschaffene und die vorverfassungsrechtlich (präkonstitutionelle): Letztere ist etwa bei aller musikalischen Schönheit im Blick auf das GG und die WRV das Deutschland-Lied von J. Haydn bzw. Hoffmann von Fallersleben. Auch die französische „Marseillaise“ ist eher vorverfassungsrechtlich-revolutionär; immerhin kann sie in Anspruch nehmen, durch die Revolution von 1789 den Weg für den französischen Verfassungsstaat freigemacht zu haben. Aufgabe wäre es, alle hier systematisierten bzw. aufgelisteten Nationalhymnen in Melodie und Texten auf die zugehörige Verfassung bzw. ihre Grundwerte und ihre Verfassungsgeschichte hin wissenschaftlich zu untersuchen. Das ist aus vielen Gründen nicht möglich. Genauso schwer ist es, Dichter und Komponisten zu fi nden, die zur „gesamten Hand“ die „kongeniale“ Nationalhymne aus dem Geist ihrer Verfassung erarbeiten. Der Verfasser kann nicht beurteilen, ob dies in den Philippinen, Äthiopien und in der Mongolei geglückt ist. Doch wäre der Versuch einer genaueren Analyse dort gewiss lohnend. (3) Der verfassungstheoretische Ertrag Entscheidend bleibt der verfassungstheoretische Ertrag: die innere Nähe guter Nationalhymnen zu den Präambeln, kulturelles Erbe- und Geist-Klauseln, auch Flaggen und Eide, im Ganzen zu den Grundwerten einer Verfassung, auch zu ihren „Geschichten“ und ihrer Geschichte. Dass die Verfassungsgebung in den drei genannten Ländern solche reife Textstufen erarbeitet hat, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Verfassungstheorie kommt wieder einmal „zu spät“. Immerhin kann 51 Vereinzelt hat ein Land das Glück, einen Dichter-Präsidenten als Autor der Texte zu haben: so der Senegal in Gestalt von L. S. Senghor, seit 1960: vgl. Reclam, Nationalhymnen, 11. Aufl. 2006, S. 173 (Melodie in C-Dur, Alle marcia, Vier-Viertel-Takt), und so in Liberia, wo der Ministerpräsident den Text schrieb, Hymne seit 1847, vgl. Reclam, aaO., S. 103. 52 Der seltene Fall eines Dichter-Komponisten fi ndet sich in Indien. Seine Nationalhymne stammt in Text und Melodie von Rabindranath Tagore (1861–1941). 1950 von der verfassunggebende Versammlung angenommen, vgl. Reclam, aaO., S. 62. Die Melodie ist in C-Dur, das Tempo: „Maestoso“.
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sich die Verfassungsvergleichung als Kulturwissenschaft dank der Textstufenanalyse einmal mehr bewähren und ein neues Anwendungsfeld eröffnen. Freilich: So wie die Demokratie es schwer hat, ein guter „Bauherr“ zu sein, so wird sie sich schwer tun, die für eine konkrete Nation „beste Nationalhymne“ musikalisch und textlich auch tatsächlich zu schaffen bzw. zu fi nden. Absolutistische Staaten taten sich mit ihren vielen Formen der Selbstdarstellung in Dichtkunst, Baukunst, Malerei und Musik, auch Plastik leichter. Man denke nur an das Frankreich Ludwig XIV. (Molière/Lully, Ballett), auch an den Preußenkönig Friedrich II. ( J. S. Bachs „Musikalisches Opfer“ war seinerzeit freilich zunächst „umsonst“) oder auch den Hohenstaufen-Kaiser Friedrich II. nicht nur in Sizilien (seine Burgen und Schlösser, etwa Castel del Monte). Unsere Zeit dürfte in Sachen verfassungsimmanenter Melodien und Textstrophen eher überfordert sein, was nicht heißen kann, dass die Idee der „idealen Nationalhymne“ eines konkreten Verfassungsstaates falsch wäre. Am Anspruch ist festzuhalten – so wie am Anspruch an Feiertage und ihre Wirklichkeit. Neue Länder und junge Staaten mit neuen Verfassungen könnten sich daran orientieren. Man denke an den unabhängig gewordenen Kosovo.
II. Präambeln von Verfassungen Präambeln von Verfassungen53 gleichen, kulturwissenschaftlich betrachtet, Präludien, Ouvertüren und Prologen. Bürgernah und in besonders feierlicher Sprache verarbeiten sie Geschichte, fassen sie als „Verfassung in der Verfassung“ das Konzentrat der folgenden Texte zusammen und entwerfen ein (mitunter konkret-utopisches) Zukunftsprogramm. Sprachlich klingen sie oft sehr feierlich, damit leisten sie einen Beitrag zum Thema „Literatur und Recht“54. Vorbildlich sind die Präambeln der US-Bundesverfassung sowie des deutschen Grundgesetzes, auch die der Verfassung von Andorra (1993), Südafrika (1996), Polen (1997) und Albanien (1998). Leider missbraucht die Präambel der neuen Verfassung Ungarns vom April dieses Jahres die Kunstform der Präambel, die in der Hand anderer Verfassunggeber oft ein „Textereignis“ geworden ist. Das zeigt sich im Ungarn von 2011: negativ in der einseitigen, überzogen nationalistischen Ausgestaltung der Präambel, ihrer Nähe zu einem bloßen Parteimanifest und in der nicht alle Schichten und Perioden der ungarischen Staats- und Verfassungsgeschichte umfassenden Auswahl der Themen und Beteiligten. Festgehalten sei an der These von der Musikalität, dem sprachlichen Glanz der Präambeln, die eine besondere Erscheinungsform des Verhältnisses von Musik und Verfassungsrecht darstellen.
53 Dazu P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; ders., Verfassungslehre, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff. 54 Aus der überreichen Literatur: K. Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Recht in Literatur, Theater und Film, 2004. Zum Thema „Literatur und Verfassungstaat“: P. Häberle, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1998, S. 504 ff.; ders., Das Grundgesetz der Literaten, 1983.
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III. Verfassungsinterpretation – Interpretation von Rechtstexten und Musik Dieser Zusammenhang ist insbesondere von italienischer Seite prominent behandelt worden – von G. Resta 55. An dieser Stelle muss Folgendes genügen: Manche juristischen Interpretationsmethoden – Klassiker ist über Italien hinaus E. Betti56, neuerdings lernen wir von den Arbeiten zur Verfassungsinterpretation von A. A. Cervati und P. Ridola 57 – fi nden ihre Entsprechung in der Interpretation musikalischer Werke. Besonders auffällig geschieht dies bei der historischen Auslegung („Werktreue“), man denke an die umstrittene historische, sogenannte „authentische“ Aufführungspraxis eines N. Harnoncourt – ihr entspricht die entstehungsgeschichtliche Wortlautauslegung. So wie sich die Interpretation von Rechtstexten im Laufe der Zeit wandelt, so verlebendigt sich in der jeweiligen Zeit aber auch in einer unterschiedlichen Aufführung von Sinfonien, Opern und Konzerten. Der Zeitgeist tut hier sein – vielleicht nur dem Weltgeist offenbares – Werk. Die teleologische Interpretation fi ndet eine Entsprechung in der Programmmusik z. B. eines Richard Strauss oder P. Tchaikovsky, man denke auch an dessen Ballette. Das Verständnis von Musik wird ebenso von unterschiedlichen nationalen Kontexten in Raum und Zeit geprägt (Ungarische Tänze von J. Brahms, Werke von B. Bartok), wie derselbe Rechtstext einen unterschiedlichen Inhalt annehmen kann. Man spricht in Bezug auf Musikwerke und Orchester auch von ganz bestimmten „Schulen“ (etwa der Leipziger oder Berliner Schule bzw. der deutschen im Gegensatz zur französischen), ähnlich den Schulen in der Jurisprudenz (etwa von H. Kelsen oder R. Smend). Dem Dirigenten kommt in der Musik eine Leitfunktion zu, die wir in der Jurisprudenz aus meiner Sicht nicht praktizieren (sollten): denn in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten hat nicht einmal das deutsche Bundesverfassungsgericht das „letzte Wort“, wie es sich leider erst vor kurzem in dem missglückten Lissabon-Urteil anmaßt (E 125, 385).58 Es besteht eher ein Zusammenhang zwischen „Dirigieren und Regieren“, bei Orchesterproben lässt sich dies beobachten (wir denken an Fellini). Bei Streichquartetten oder Klaviertrios sind alle Musiker gleichberechtigt.
IV. Sprache und Musik – ihr Zusammenhang im „Recht“ Schon bei den Verfassungspräambeln sowie Nationalhymnen wurde dargetan, dass Sprache, Musik und Recht in einem kulturwissenschaftlichen Ansatz zusammenzuführen sind. Bei Oratorien ( J. Haydn / G. F. Händel) und Opernlibretti (da Ponte / Mozart: Cosí fan tutte), auch bei den Passionen und Kantaten eines J. S. Bach erkennen wir einen engen Zusammenhang zwischen musikalischer Partitur und Text, auch bei Volks- und Kirchenliedern kommt es zu engen Symbiosen. Wichtig ist nun an die Inhalte zu erinnern, die in manchen musikalischen Werke auch sprach55 Vgl. G. Resta, Variazioni Comparatistiche Sul Tema: „Diritto e Musica“, in: www.comparazionedirittocivile.it., S. 1 ff. – Bemerkenswert aus Deutschland: M. T. Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007. 56 Dazu G. Resta, aaO., S. 8 ff. 57 A. A. Cervati, Per uno studio comparativo del diritto costituzionale, 2007; P. Ridola, Diritto Comparato e Diritto Costituzionale Europeo, 2010. 58 Dazu meine Kritik: Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 729 ff.
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lich ins Recht verweisen. Man denke an Rechtsfälle in der Musik, z. B. in der Oper „Freischütz“ von C. M. von Weber oder an die massive Ansammlung von Kriminalfällen in den Opern von R. Wagner (Mord und Totschlag, Inzest und Verrat). Es gibt Literatur zu diesen Themen von juristischer Seite aus. R. Wagner ist vor allem für das Strafrecht ungemein interessant.59 Eigens erwähnt seien auch die großen Rechtsbegriffe, die sich in den Texten von Nationalhymnen finden (etwa Freiheit, Vaterland, Heimat, Recht, Einheit, Natur, Gott und Volk etc.).
V. „Musikerjuristen“ Nicht zu unterschätzen ist die auffallende Tatsache, dass viele Komponisten zunächst als Juristen begonnen haben. Ich nenne erneut R. Schumann, P. Tschaikowsky, I. Strawinsky. So wie es viele „Dichterjuristen“ gibt (an erster Stelle J. W. von Goethe, auch E. T. A. Hoffmann) 60, ein in der deutschen Literatur oft behandeltes Thema, so gibt es auch nicht wenige „Musikerjuristen“. Es lohnte eigens zu erforschen, ob Zusammenhänge zwischen dem rechtswissenschaftlichen Beginn einer Biographie und ihrer Wendung in die Kompositionskunst nachweisbar wären, etwa im Satzbau, Rhythmus und Stil. Der biographische Wechsel großer Schöpferpersönlichkeiten in die Musik sollte freilich kein Argument gegen den Zusammenhang von Musik und Recht sein.
VI. Urheberrechtsfragen Eine besonders heikle Frage des Verhältnisses von Musik und Recht stellt sich in Gestalt der Frage, ob und wie die Rechtsordnung mit den Urhebern, d. h. den Schöpfern und Interpreten von musikalischen Werken in der Informationsgesellschaft von heute umgeht. Angesichts der vielen Raubkopien und der unbegrenzten Möglichkeiten des Internets von heute, stellen sich dramatische Fragen. Wird der Autor von „Musik“ aller Gattungen noch genügend und genügend lang geschützt? – Konsequenz seines Persönlichkeitsrechts. Auch hier kann das Problem nur als Merkposten behandelt werden. Das „geistige Eigentum“ an der Musik (vgl. Art. 14 GG, dazu BVerfGE 31, 229; 36, 281) 61 sollte jedenfalls rechtlich genügend geschützt werden – eine rechtspolitische Aufgabe. Erwähnt sei auch der mögliche Konfl ikt zwischen der Kunstfreiheit des Urhebers gegenüber der Kunstfreiheit des Interpreten62.
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Vgl. E. von Pidde, Richard Wagners „Ring der Nibelungen“ im Lichte des deutschen Strafrechts,
2003. 60 Aus der klassischen Literatur: H. Fehr, Das Recht in der Dichtung, 1931; Erik Wolf, Das Wesen des Rechts in deutscher Dichtung, 1946; P. Schneider, „ein einig Volk von Brüdern“, 1987; weitere Nachweise in P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983, passim, bes. S. 9 ff.; s. aber auch R. Posner, Law and literature, A Missunderstood Relation, 1988. 61 Aus der Lit.: F. Fechner, Geistiges Eigentum und Verfassung, 1999. 62 Dazu F. Hufen, Staatsrecht II, 2. Aufl. 2009, S. 584 ff.
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VII. Sonstige Ausdrucksformen des Zusammenhangs von „Musik und Recht“ Eigens erwähnt sei das Problem Musik im Kirchenrecht bzw. in der Kirche. Zu diesem Thema gibt es sogar eine Oper: „Palästrina“ von H. Pfitzner. Bekannt ist der Streit auf so manchem Konzil im Mittelalter zur Frage, ob und welche Musik in den katholischen Kirchen aufgeführt werden darf: z. B. in Vienne, 1311/12, und vor allem in Trient, 1545. Der CIC von 1983 regelt unser Thema (z. B. Can. 1173: „in Gesang und Gebet“), zuvor erging eine Enzyklika von Papst Pius XII. (1955): „Musicae Sacrae Disciplina“. Auch das weltliche Feiertagsrecht beschäftigt sich mit der Frage der erlaubten oder nicht erlaubten Musik (gemeindeutsches Feiertagsrecht in Sachen „Stille Feiertage“, vgl. das BayFeiertagsG mit Tanz- und Musikverbot, etwa am Karfreitag).
Ausblick Meine Skizze ähnelt eher einem „Spaziergang“ durch unser Thema. Er entspricht insofern dem genius loci von Rom. Manche von Ihnen kennen das schöne Dictum eines römischen Gelehrten: Es gibt kein römisches Recht, sondern: das Recht ist römisch; A. D’Atena hat mir dieses Bonmot vermittelt (das Verfassungsrecht freilich ist gegenüber „Rom“ etwas Neues). Die Musik indes ist wohl das universalste Geschenk, das wir den Göttern verdanken. Das alte Griechenland soll dem Vernehmen nach die eigene Musik (uns heute leider unbekannt) als höchste Schöpfung seiner Kultur bewundert haben. Wir verehren das römische Recht als Geschenk Roms an Europa, ja die Welt. Das Verfassungsrecht freilich ist eine besondere Hervorbringung der Neuzeit, d. h. das Verfassungsrecht des Verfassungsstaates. Mag dieser seine frühen Klassikertexte bei Platon und Aristoteles, auch Cicero gefunden haben (in Sachen Gerechtigkeit bzw. salus publica): der Verfassungsstaat ist eine kulturelle Errungenschaft vieler, vor allem neuer Zeiten, Räume und Personen: ich nenne nur Montesquieu, Rousseau, die Federalist Papers der werdenden USA sowie I. Kant (Menschenwürde) und aus England T. Hobbes und J. Locke. Die „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ kann auf den Schultern solcher Riesen zwergenhaft manche Verbindungslinien zwischen Musik und Recht erkennbar werden lassen, wenngleich hier und heute – selbst in Rom – nur im Ansatz.
Antrittsvorlesungen
Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat* Standort, Funktion, Herausforderungen von
Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Universität Bayreuth I. Einleitung: Bildung als Grundfaktor des Verfassungsstaats Wer in der Rechtswissenschaft von Bildung und ihren Institutionen spricht, begibt sich in Gefahr. Es drohen die sphärisch angelegte Sonntagsrede, die medial orientierte Brandrede oder die Randständigkeit des Spezialistentums. In der Trägheit eingeübter Grundverständnisse geht es hier jedenfalls nicht um die großen und drängenden Fragen unserer Disziplin. Die aktuelle „Phase“ des Öffentlichen Rechts ist danach von der Internationalisierung der Rechtsordnung im Mehrebenensystem und der Öffnung hin zu disziplinenübergreifenden Governance-Ansätzen geprägt; sie fi ndet ihre „Referenzgebiete“ wie zuvor im Umweltrecht jetzt etwa im Regulierungsrecht oder im Recht der Sozialwirtschaft, wo neuartige Fragestellungen mit neuen Instrumenten beackert werden, unbekanntes Territorium zu erkunden ist.1 Warum also trotzdem rechtswissenschaftlich von Bildung sprechen? Die folgende Untersuchung möchte auf diese Frage in dreifacher Weise antworten: Zum Ersten ist – nach allen empirischen Befunden, aber genauso auch in theoretischem Zugriff – der „Bildungssektor“ von kaum zu überschätzender Wirkungsmacht für das Gemeinwesen. Durch die Schule, aber auch durch die anderen Bildungseinrichtungen und -instrumente werden nach der bekannten Formel Helmut Schelskys2 Lebenschancen zugeteilt, in keinem anderen Bereich nehmen öffentliche * Überarbeitete und erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung an der Universität Bayreuth am 23. 10. 2009. Gewidmet der Erinnerung an Anke Wißmann (1942–2009). Ich danke meiner Assistentin Frau wiss. Mit. C. Richter für die Hilfe bei der Vorbereitung der Druckfassung. 1 Zur Rede von den Phasen des Öffentlichen Rechts zuletzt R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, passim; zur Bedeutung von Referenzgebieten für die Systembildung E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 12 ff. 2 H. Schelsky, Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft, 1957, S. 18.
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Institutionen so intensiv Einfluss auf das Selbstverständnis und damit auf das Verhältnis von Bürger und Staat; hier zeigt der Verfassungsstaat also sein wahres Gesicht, hier (ver)baut er sich die Brücken in die eigene Zukunft. Zum Zweiten sind – verfassungsrechtlich – die im Bildungsbereich vielfältig anliegenden Streitstände bei genauerem Blick eben doch ein stetig laufender Motor für die Modernisierung der Rechtsdogmatik: Die Verarbeitung zunehmender Individualität und Pluralität als Herausforderung, ja als mögliche Grenzmarkierung für die „Vergrundrechtlichung des Verfassungsrechts“ soll dafür als ein erster Platzhalter genannt werden; die Probleme der Entgrenzung von Bildung durch den „erziehenden Staat“ jenseits der gewohnten Formen und Institutionen ist ein anderer. Und schließlich ist drittens – verwaltungswissenschaftlich – festzustellen, dass öffentliche Bildungseinrichtungen schon wegen ihrer schieren Größe, wegen ihrer Kosten, wegen der offensichtlichen Eigensinnigkeit ihres Personals, besondere Aufmerksamkeit verlangen: Schule und Universität sind wie alle sonstigen Institutionen dieses Sektors keine „Vollzugsverwaltung“ – wie ist dann aber begründet, dass ihr Personal primär in konventionellen Mustern des öffentlichen Dienstrechts und der „gesetzlichen Verwaltung“ organisiert wird, und welchen funktionalen Grund mag dieses offensichtlich kontrafaktische Steuerungsarrangement haben? In einer so gefassten Sicht stellt sich Bildung insgesamt gesprochen nicht als partikularer Gegenstand am Rand der Rechtswissenschaft dar, sondern als eine der tragenden, vertikal verlaufenden Grundschichten unserer öffentlichen Ordnung, die mit den Modellannahmen des Verfassungsstaats existentiell und in Wechselseitigkeit verbunden ist. Dieser Einsicht muss – so der Kerngedanke der folgenden Ausführungen – heute wieder neue Kontur verliehen werden, weil die gewachsene Bildungsverfassung in der Gegenwart auf Herausforderungen trifft, die bisherige Grundannahmen vielfach in Frage stellen. Um zu einer entsprechenden Anschauung zu gelangen, sollen im folgenden die Entwicklung bis zur Schwelle der Gegenwart und die gegenwärtigen Herausforderungen miteinander kontrastiert werden (II.). Pars pro toto kann am Beispiel des Umgangs mit religiöser Pluralität in der Schule dann näher gefragt werden, welche Modelle für die Zukunft bereitstehen, und wie sie mit den tieferliegenden Grundannahmen des freiheitlichen Verfassungsstaats zu vereinbaren sind (III.). Dies führt zu abschließenden Thesen zur Zukunft der Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat (IV.)
II. Erfolge und Herausforderungen im Bildungssektor 1. Rückblick a) Expansion der Bildung und Mobilisierung der Gesellschaft Eine erste Orientierung über den Stand und die Herausforderungen des Bildungswesens lässt sich aus ihrer zahlenmäßigen Entwicklung heraus gewinnen. Danach ist festzuhalten, dass die Bundesrepublik von den Auf baujahren bis an die Schwelle der Gegenwart davon geprägt wurde, dass Bildung als emanzipative Chance zu begreifen, als Chance jedes Einzelnen wie auch als Chance des Gemeinwesens. Mit einer
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solchen Formel sollen erbitterte Auseinandersetzungen, das Scheitern oder Versiegen vieler Ansätze, die Fragwürdigkeit mancher bildungspolitischer „Erfolge“, die Unfertigkeit und Ungerechtigkeit im Einzelnen, insbesondere auch das weiter bestehende Problem der sozial vererblichen Bildungsarmut nicht überdeckt werden.3 Dennoch sind einige wenige Kennziffern ein nicht zu übergehender Hinweis darauf, dass das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland von fundamentalen Veränderungen geprägt worden ist, die in erster Linie von der Ausweitung qualifi zierter Bildungsgänge und -abschlüsse auf einen immer weiter wachsenden Teil der Bevölkerung bestimmt sind: Besuchten 1952 noch 73,41 Prozent der Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen die Volksschule und 18,18 Prozent das Gymnasium (und schlossen 1960 nur 8,69 Prozent die Schule mit dem Abitur ab, während 55,27 Prozent die Schule mit dem (Haupt-)Volksschulabschluss verließen), sind aktuell im Schuljahr 2010/11 55,55 Prozent der Schüler Gymnasiasten, während nur noch 18,28 Prozent die Hauptschule besuchen.4 An den Anschlussstellen der Schule, dem Bereich vorschulischer Bildung und der Hochschulen, sind ähnliche Entwicklungen zu verzeichnen. Begannen Anfang der 1950er Jahre lediglich fünf Prozent der jeweiligen Jahrgänge ein Hochschulstudium,5 betrug der Anteil der Studienanfänger 2008 schon über 40 Prozent.6 Zuletzt hat der Ausbau der institutionellen frühkindlichen Bildung mit dem Anspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem 4. Lebensjahr,7 aber auch die Etablierung eines allgemeinen El-
3
Zum letzten Aspekt statt vieler H.-E. Tenorth, Die pädagogische Dimension des Grundgesetzes, RdJB 2009, S. 422 (428). Vgl. weiter unten bei Anm. 24. 4 Im Jahr 2009 beendeten 21,48 Prozent der Schüler die schulische Lauf bahn mit dem Hauptschulabschluss (inkl. Externe) und 30,05 Prozent mit der Hochschul-/Fachhochschulzugangsberechtigung. Auch bei der Geschlechterverteilung hat sich seit den 1960er Jahren eine Verschiebung gezeigt: Waren 1960 39,92 Prozent der Schüler weiblich, bilden heute Mädchen die Mehrzahl der Schülerschaft in Gymnasien (52,87 Prozent). Zum vollständigen Bild gehören weiter auch die Schulabbrecher: 1960 beendeten 17,77 Prozent der Schüler die Schule ohne Abschluss. Das sind mehr als doppelt so viele Schüler, wie die Anzahl derer, die die Hochschulreife erreichten. Die Zahl der Schulabbrecher sank kontinuierlich (1970 17,53 Prozent, 1980 10,11 Prozent, 1991 6,68 Prozent), stieg dann noch einmal leicht an auf 7,78 Prozent im Jahr 2000 und liegt heute (Abschluss 2009) bei etwa 6,53 Prozent (davon 39,15 Prozent weibliche Schulabbrecher). Heute verlassen fast fünfmal mehr Schüler die deutschen Schulen mit allgemeiner Hochschulreife als gänzlich ohne Schulabschluss. Die den prozentualen Angaben dieses Abschnittes zugrundeliegenden Zahlen für 1952 bis einschließlich 2000 sind entnommen G. Franzmann, Bildung in Deutschland: Bildungsstatistische Zeitreihen von 1960 bis 2000 zur Schülerund Studentenzahl, zum Lehrpersonal und zu den Bildungsausgaben, GESIS-Datenkompilation auf Grundlage der amtlichen Statistik, HISTAT, Köln; GESIS, Köln, 2006, abzurufen unter http://www. histat.gesis.org/ (14. 6. 2011). Die Zahlen des Jahres 2009 entstammen Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 2009/10, 2010, S. 17, 56, 262. Die zugrundegelegten statistischen Angaben für 2010 sind unter http://www.destatis.de (14. 6. 2011) zu fi nden. 5 N. Merkator/U. Teichler, Strukturwandel des tertiären Bildungssystems, Arbeitspapier Hans Böckler Stiftung, S. 12. 6 Statistisches Bundesamt, Hochschulen auf einen Blick, 2010, S. 10. 7 § 24 Abs. 1 SGB VIII, vom 26. 6. 1990, BGBl. I 1990, S. 1163, neugefasst 14. 12. 2006, BGBl. I 2006, S. 3134, zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. 12. 2008, BGBl. I 2008, S. 2403 bestimmt: „(1) Ein Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen oder ergänzend Förderung in Kindertagespfl ege zur Verfügung steht.“
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terngelds für die ersten 14 Lebensmonate8 tiefgreifenden Einfluss auf das Bildungssetting genommen, in dem sich (potentielle) Eltern und Kinder zu orientieren haben, weil zunehmend standardisierte Voraussetzungen für den Besuch der Pfl ichtschule geschaffen werden. Jenseits aller Anfragen an diese Entwicklung, auf die zurückzukommen sein wird, ist festzuhalten: Im Bildungswesen haben sich bestimmte Strukturen geradezu umgekehrt (etwa das Verhältnis von Volksschule zu Gymnasium) und damit ist auch die Funktion der Bildung umgewidmet worden: Vielfältige Bildung und die damit verbundenen Chancen zu selbstbestimmter Lebensführung sind von einem elitär-abgeschlossenen Privileg weitgehend zu einer Normalität geworden. So nimmt die Bildung ihren ambivalenten Anteil an der Mobilisierung der Gesellschaft, die in allen Feldern in immer höherem Maß Beweglichkeit ermöglicht und einfordert. Um freilich die Entwicklung im Bildungswesen auch in ihrer Tiefenstruktur zu erfassen, ist mehr erforderlich als der Ausweis einiger statistischer Kennziffern. Das Recht stellt für eine solche Analyse nur einen limitierten Zugriff zur Verfügung, kann aber einige Besonderheiten offenlegen. Was also hat das Recht zu dieser Entwicklung beigetragen? Und was ist in den Kategorien des Rechts der Kern dieser Entwicklung?
b) Insbesondere: Schule als Zentrum des Bildungssystems Weil nach wie vor nur die Schule als allgemeiner Ort des Bildungswesens gelten kann, ist sie der zentrale Mittelpunkt des Bildungssystems. Um sie näher zu charakterisieren, müssen verschiedene Faktoren unterschieden werden: Schon zu Beginn der Bundesrepublik war das Schulwesen durch die flächendeckende öffentliche PflichtIn der ab 1. 8. 2013 gültigen Fassung (BGBl. I 2008, S. 2403) wird § 24 Abs. 2–3 SGB VIII dann auch einen Anspruch für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr gewähren: „(2) Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespfl ege. Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. (3) Ein Kind, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, hat bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht. Das Kind kann bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespfl ege gefördert werden.“ Die Bundesländer gehen teilweise in ihren Regelungen jetzt schon über dieses vorgegebene Mindestmaß hinaus. Brandenburg spricht in § 1 Abs. 2 KitaG vom 27. 6. 2004, GVBl. I/04, S. 384 auch unter dreijährigen Kindern einen Betreuungsanspruch zu, soweit dies bspw. wegen Berufstätigkeit der Eltern notwendig ist. Hamburg gewährt Kindern bis zum zwölften Lebensjahr einen Anspruch auf Betreuung, sofern dies erforderlich ist, § 6 Abs. 2 KibeG vom 27. 4. 2004, HmbGVBl. 2004, S. 211. Weit geht auch Thüringen, welches Kindern ab vollendetem ersten Lebensjahr bis Schuleintritt einen Anspruch auf ganztägige Betreuung zuspricht, § 2 II ThürKitaG vom 16. 12. 2005, GVBl. 2005, S. 371. Noch weitreichender ist der Anspruch auf Betreuung nur in Sachsen-Anhalt, § 3 Abs. 1 KiFöG vom 5. 3. 2003, GVBl. LSA 2003, S. 48. Hier besteht bis zum Eintritt in das siebenten Schuljahr immer zumindest ein Anspruch auf einen halbtägigen Betreuungsplatz, unter bestimmten Voraussetzungen sogar auf einen ganztägigen. Dieser Anspruch besteht bedingt auch in der Zeit, in der Mütter dem Beschäftigungsverbot unterliegen. 8 Dazu Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) vom 5. 12. 2006, BGBl. I 2006, S. 2748, zuletzt geändert durch Gesetze vom 9. 12. 2010, BGBl. I 2010, S. 1885.
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schule gekennzeichnet – und in der Gegenwart ist dieser Befund dem Grunde nach nicht verändert.9 Weder musste also ein Schulwesen im heutigen Sinn unter der Geltung des Grundgesetzes in äußerlich neuer Weise überhaupt erst aufgebaut werden, noch haben die Privatschulen eine grundsätzlich andersartige Rolle im System übernommen. Wenn dennoch von grundlegenden Veränderungen zu sprechen ist, betreffen diese also in erster Linie die innere Verfassung der öffentlichen Schule. Dabei ist der erste große Modernisierungsschub nach den frühen Notjahren der Bundesrepublik einer gesellschaftspolitischen Entscheidung geschuldet. Der schon damals ausgerufene Befund einer deutschen „Bildungskatastrophe“10 zielte vor allem auf Limitierung der Schulbildung im alten Volksschulsystem für einen ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung, was zunächst insbesondere als Problem für die steigenden Anforderungen der komplexen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft erkannt wurde.11 Höhere bzw. ausdifferenzierte Schulbildung, auch für Kinder auf dem Land, auch für Kinder jenseits der Kaste der Akademikerfamilien, war das Gebot der Stunde und wurde zum Ausgangspunkt für voll durchgegliederte Grund- und Hauptschulen, zahllose neue Landgymnasien, neuartige Ober- und Mittelpunktschulen. Freilich war von Anfang an eine Spannung zwischen der äußeren Zweckhaftigkeit dieses Unternehmens und seinem (reform-)pädagogischen Fundament gegeben: Dienen Bildungsreformen der „Produktion“ zusätzlicher Absolventen mit bestimmten Fertigkeiten oder der Menschwerdung der Schüler (was zugegebenermaßen eine polemische Gegenübersetzung ist)? Dass die zweite Alternative in den Schulen bis an die Schwelle der Gegenwart vorherrschend blieb, ist – so unwahrscheinlich es für Pädagogen klingen mag – zu einem wichtigen Teil ihrer rechtlichen Rückbindung zu verdanken. Vor allem die Geltung der Grundrechte in der Schule hat hier das ältere Anstaltsmodell trotz der äußerlichen Kontinuität der Schulorganisation grundsätzlich neu aufgestellt.12 Vom landesverfassungsrechtlichen „Recht auf Bildung“ mit seinen individuellen Implikationen13 über das allmählich durchgesetzte Verbot der 9 Zu den Vorstufen dieser Entwicklung und dem gegenwärtigen Befund H. Wißmann, Das allgemeine Schulwesen: Projekt der Moderne, Programm der Freiheit?, in: F. Reimer (Hrsg.), Homeschooling – Bewährung oder Bedrohung des freiheitlichen Rechtsstaats?, i. E. 2011, Manuskript S. 20 ff. und 29. 10 Georg Picht veröffentlichte 1964 unter diesem Schlagwort eine Artikelserie in der Wochenzeitung Christ und Welt, die eine lebhafte Diskussion hervorrief. Zusammengefasst sind diese Artikel nachzulesen in G. Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, 1964, passim. 11 So schon 1957 H. Schelsky (Anm. 2), S. 18; ähnlich G. Wirsing, Einführender Leitartikel, in: Picht (Anm. 10), S. 13; bezogen auf den durch die „höhere Schule“ vermittelten Lehrstoff E. Haag, Die höhere Bildung im Strukturwandel der Gesellschaft, in: F. Messerschmidt/H. Becher/H. Becker/E. Haag/G. Möbius/J. Derbolav/K. Forster, Die Bildungsaufgabe der höheren Schule in der heutigen Gesellschaft, 1960, S. 104 ff. 12 Ausgangspunkt BVerfGE 33, 1. Für die Schule BVerfGE 34, 165 (192 f.). Vgl. zum „Sonderstatusverhältnis“ K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rn. 321 ff. 13 Dazu F.-R. Jach, Die Entstehung des Bildungsverfassungsrechts in den neuen Bundesländern, RdJB 1992, S. 268 (269 f.); J. Dietlein, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993, S. 150 ff. Mit kritischen Anmerkungen zur Ausgestaltung der einzelnen Länderverfassungen K. Diercks, Soziale Grundrechte der neuen Landesverfassungen Ein Fortschritt in der deutschen Verfassungsentwicklung?, LKV 1996, S. 231 (235). Der rechtliche Bedeutungsgehalt des (landesverfassungsrechtlichen) „Rechts auf Bildung“ wird unterschiedlich gesehen: ablehnend gegenüber der Annahme eines subjektiven Rechts kurz R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 7 Rn. 65; anders J. Rux, in: N. Niehues/J. Rux, Schul- und Prüfungsrecht Bd. 1, 4. Aufl. 2006,
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körperlichen Züchtigung in der Schule14 bis hin zur Stärkung der Kinder- und Elternrechte etwa bei der Auswahl der Schullauf bahn15 waren es oft ganz konkrete Rechtsentscheidungen, die Veränderungen hin zu einer kindorientierten Schulwirklichkeit jedenfalls im Modell ermöglichten. Zugleich hat das öffentliche Schulwesen die ältere Idee des eigenständigen staatlichen Erziehungsauftrags nicht aufgegeben, die bereits vorverfassungsrechtlich mit dem eigentümlichen Begriff der „staatlichen Schulaufsicht“ verbunden wurde16. Schulen sind danach eben nicht Agenten des Eltern- bzw. Kinderwillens auf dem Weg zur selbstbezogenen Entfaltung eigener Wünsche und Vorstellungen. Ihre Ziele wurden vor allem durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber festgelegt17 und im weiteren durch die beteiligten staatlichen Institutionen, aufgeteilt vom Kultusministerium bis zum einzelnen Lehrer, konkretisiert.18 Zusammengenommen mit der stetigen grundrechtlichen Rückbindung des Vorgangs entsteht ein nicht nur pädagogisch, sondern auch verfassungsrechtlich hochkomplexes Gebilde: Die räumliche Abgrenzung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre ist in der Schule suspendiert, weil beides notwendig zusammenfällt. Die Entfaltung der Grundrechte und die Vermittlung von „Gesellschaftsgängigkeit“ sind in einem ständigen dialektisch verschränkten Prozess ineinander verwoben.19 Daher kann Schule auch von Verfassungswegen nicht in Vollzugsmustern organisiert werden, der konkrete Unterricht bleibt ein fragiles, jeweils erst von der Vermittlung der konkreten Parameter (Schüler, Lehrplan) her zu schaffendes Szenario.
Rn. 169, der aus dem Wortlaut auf den Status des subjektiven Rechtes schließt, zum Inhalt dann weiter Rn. 172 ff. Zu den Vorgaben zur Bildung im Landesrecht insgesamt H. Wißmann, Verfassungsrechtliche Vorgaben der Verwaltungsorganisation, in: W. Hoffman-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, § 15 Rn. 12. 14 BGHSt 6, 263 (269 f.); 11, 241 (242 ff.); 12, 62 (64 ff.) sahen die körperliche Züchtigung zwar als tatbestandliche Körperverletzung, ließen aber eine Rechtfertigung zu, sofern sich der Lehrer auf eine gesetzliche Regelung oder Gewohnheitsrecht berufen konnte. So auch noch BayObLG, NJW 1979, 1371 (1372). Anders dann BGH, NStZ 1993, 591: Hier war eine Rechtfertigung unter Berufung auf das Gewohnheitsrecht schon deswegen ausgeschlossen, weil das Landesrecht körperliche Bestrafung bereits ausdrücklich verbot. Heute wird in der Literatur nahezu einhellig angenommen, dass eine Rechtfertigung der körperlichen Züchtigung nicht mehr denkbar ist, vgl. nur Di Fabio, in: Th. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz, Stand: 60. EGL 2010, Art. 2 Abs. 2 Rn. 75 m. w. N. 15 BVerfGE 34, 165 (182 ff.); 45, 400 (415 f.); BayVerfGH, NVwZ 1984, S. 97. 16 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 3./4. Aufl age 1926, Art. 144 Rn. 1 (S. 378); vgl. als Stationen weiter A. v. Campenhausen, Erziehungsauftrag und staatliche Schulträgerschaft. Die rechtliche Verantwortung für die Schule, 1967; Th. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969; P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; umfassend zur geschichtlichen Entwicklung des staatlichen Erziehungsauftrages M. Thiel, Der Erziehungsauftrag des Staates in der Schule, 2000, S. 29 ff.; A. Dittmann, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54, S. 50 ff. 17 BVerfGE 47, 46 (83) – Sexualkundeunterricht. 18 Zum Zusammenwirken insbesondere in Bezug auf die pädagogische Freiheit des Lehrers H. Wißmann, Pädagogische Freiheit als Rechtsbegriff, 2002, S. 63 ff.; J. Rux, Die pädagogische Freiheit des Lehrers, 2002, S. 141 ff. 19 Die ursprüngliche Konzeption des staatlichen Erziehungsauftrags hatte noch in einem Sphärenmodell gedacht und dem Staat für den schulischen Bereich das alleinige Bestimmungsrecht zugewiesen, vgl. G. Anschütz, (Anm. 16), Art. 144 Rn. 1 (S. 378).
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c) Zwischenfazit: Die verfassungsrechtliche Grundrelation von Schule, Bildung und Verfassungsstaat Nimmt man die Grundlinie auf, die die Entwicklung des öffentlichen Schulwesens unter der Geltung des Grundgesetzes kennzeichnet, und entkleidet man sie von allen Nebenschauplätzen und Unfertigkeiten, ist die Annäherung von Schule und demokratisch-sozialstaatlicher Verfassungsordnung die prägende Substanz des Vorgangs. Die Schule ist von der Anstaltsschule zur „Parlamentsschule“ geworden, neue Kohorten von Lehrern und Schülern haben die ständische Aufgliederung durchmischt, und dabei bleibt es bei der allgemeinen Pfl ichtschule, die individuelle Ausweichbewegungen streng limitiert und eben in die Schule zurückverweist. Die grundlegende Neuausrichtung der Schule ist dabei dank der Grundrechtsorientierung eine gemeindeutsche Entwicklung. Viel weiter an der Oberfläche (wenn auch durchaus wirkungsmächtig und mentalitätsbildend) spielen die Fragen nach der tatsächlichen Organisation im dreistufigen System oder der Einheitsschule, der Zentralisierung oder Dezentralisierung von Schlussprüfungen, der Förderung religiöser Einheit oder Vielfalt. Diese Anschauung einer im Grunde gemeinsamen Entwicklung des Schulwesens in der Bundesrepublik – die von vielen schulpolitischen Reformern und Bewahrern bestritten wird – soll noch einmal auf ihren Kernpunkt hin zugespitzt werden: Auch im Bildungsbereich verabschiedet erst das Grundgesetz den Staat aus seinem Eigenrecht. Arkanbereiche bestehen nur noch aus begründungsbedürftigen funktionalen Gründen (und selbstverständlich in der Verfassungswirklichkeit in den nur langsam abschmelzenden Traditionsbeständen) – aber eben nicht mehr auf Dauer aus eigenem Recht. Die Schule ist endgültig und vor allem von Rechts wegen von einer Anstalt zur Formatierung von Untertanen zu einer Einrichtung auf Gegenseitigkeit geworden.20 Die staatsrechtliche Pointe liegt nun darin, dass dieser Vorgang nicht eindimensional grundrechtlich-individualisierend aufzufassen ist. Entscheidend ist vielmehr die Wechselwirkung zur demokratischen und sozialstaatlichen Organisation des Staates selbst: Wahlrecht wie sonstige Beteiligungsformen wie auch der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Ämtern setzen offenkundig eine ungefähr einheitliche Verantwortungshöhe der Staatsbürger voraus, soll aus ihnen nicht Chaos, Ineffizienz und Korruption entstehen. Es liegt in dieser Sichtweise nicht fern, in der materiellen Öffnung des Bildungssektors neben der wirtschaftlichen Prosperität den entscheidenden Faktor zu sehen, der die zweite deutsche Republik so viel erfolgreicher machte als ihren strukturell gleichläufigen Vorgänger, die Weimarer Republik.21 20
Die pädagogische Modernität ist bekanntlich deutlich älter. In Deutschland kam sie aber typischerweise in der Anstaltsschule als etatistische Reform zum Zuge, nicht aus dem Eigenrecht der Eltern und Schüler, vgl. dazu H. Wißmann, Allgemeines Schulwesen (Anm. 9), S. 10 f. 21 Zu den Vorgaben der Alliierten im Bildungsbereich P.-L. Weinacht, Bildung und Forschung, Das allgemeinbildende Schulwesen, in: K. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band V, 1987, § 10, S. 625 ff. Vgl. dazu auch C. Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, in: C. Führ/C.-L. Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 1998, Band VI, 1. Teilband, S. 8 ff.; E. Weniger, Politische Bildung und Staatsbürgerliche Erziehung, 2. Aufl. 1963, S. 6 ff.
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2. Die Herausforderungen der Gegenwart a) Veränderungen im Bereich der Schule In einem seltsamen Kontrast zu der bis hierhin gezeichneten Fortschrittsgeschichte steht der Befund grundsätzlicher wie aktueller Problemlagen.22 Ist der bisherige Bericht nicht eine verträumt-romantische Rückschau auf ein längst versunkenes Land? Ist die Leistung des Bildungssektors in der Wirklichkeit tatsächlich überzeugend? Sind die Zeiten nicht in jedem Fall grundlegend rauer, heterogener geworden, was nach neuen Instrumenten verlangt? Muss also die Bildungsverfassung nicht neu geschrieben werden? Einige Aspekte seien genannt, die eine solche Frage nahelegen: So ist unter dem Stichwort des „Rechts auf Bildung“23 der Zugang zu höheren Bildungsgängen, aber auch die erfolgreiche Absolvierung der grundständigen Schulbildung trotz der geschilderten Ausweitung nach wie vor ein drängendes Problem, da in Deutschland stärker als anderswo die Bildung bzw. die Herkunft der Eltern über die Chancen der Kinder entscheidet; 24 eine besondere Variante der Zugangsproblematik bildet das Schulangebot für behinderte Kinder, das vom früheren Ziel der Integration zur Inklusion fortgeschritten ist.25 22 Anders gewendet: Praktisch jeder Aspekt des öffentlichen Bildungssektors hat seine eigene Konfl iktgeschichte, vgl. etwa die knappe Zusammenstellung bei H.-E. Tenorth, Pädagogische Dimension (Anm. 3), S. 24 ff. 23 Zur verfassungsrechtlichen Debatte allgemein R. Poscher/J. Rux/T. Langer, Das Recht auf Bildung, 2009, S. 86 ff. und J. Orth, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Schulstruktur, NVwZ 2011, S. 14 (17); zuletzt insbesondere unter teilhaberechtlichen Aspekten aus der Menschenwürde BVerfGE 125, 175 (223 ff., insbesondere S. 240 ff. und S. 245 ff.) – Hartz IV. Zum europarechtlichen Hintergrund nach Art. 14 Grundrechte-Charta T. Kingreen, in: C. Callies/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 4. Aufl age 2011, Art. 14 EU-GRCharta Rn. 2. 24 So statt vieler die Erkenntnisse der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 C. Artelt et al. (Hrsg.), PISA 2000 – Zusammenfassung zentraler Ergebnisse, S. 40 ff. 25 Ein Umdenken markiert hier der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 6. 5. 1994, Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 2: „Die Erfüllung sonderpädagogischen Förderbedarfs ist nicht an Sonderschulen gebunden; ihm kann auch in allgemeinen Schulen, zu denen auch berufliche Schulen zählen, vermehrt entsprochen werden.“, abzurufen unter http://www.kmk.org/fi leadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1994/1994_ 05_06-Empfehl-Sonderpaedagogische-Foerderung.pdf (14. 6. 2011). Aktuell knüpft an diese Entwicklung der Beschluss vom 18. 11. 2010, Pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der schulischen Bildung, S. 2, an, in dem die Kultusministerkonferenz festhält: „Eine solche inklusive Bildung ist ein ständiger Prozess, der hochwertige Bildung für alle gewährleisten soll. Gruppen, in denen Vielfalt anerkannt und wertgeschätzt wird, bieten Chancen für alle Kinder, ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln. Die Länder stellen sich ausdrücklich diesen Herausforderungen und dem damit verbundenen pädagogischen Perspektivwechsel bezogen auf Kinder mit Behinderungen.“, abzurufen unter http://www.kmk.org/fi leadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2010/2010_ 11_18-Behindertenrechtkonvention.pdf (14. 6. 2011). Zur (Nicht-)Anwendbarkeit dieses Übereinkommens im Einzelfall aber VGH-Kassel, NVwZ-RR 2010, S. 602 (603) und hierzu E. Riedel/J-M. Arend, Im Zweifel Inklusion: Zuweisung an eine Förderschule nach Inkrafttreten der BRK, NVwZ 2010, S. 1346 (1348 f.). Neben der Beschulung für Behinderte stellt sich die Zugangsproblematik besonders auch für kranke Kinder. Als Schulformen stehen hier der Krankenhausunterricht, Schulen für Kranke oder der Hausunterricht zur Verfügung. Siehe hierzu den Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20. 3. 1998,
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In gewisser Weise gegenläufig zu der Forderung nach weiterer Öffnung der Bildungsgänge wird aber immer dringlicher hinterfragt, welcher Leistungsstand mit bestimmten Bildungsabschlüssen tatsächlich noch abgebildet wird bzw. abgebildet werden soll: Nach einem allzu langen, introvertiert-selbstgewissen Dornröschenschlaf ist die deutsche Schullandschaft durch internationale Vergleichsstudien („PISA“!) darauf hingewiesen worden, dass in vielen dunklen Ecken selbstverständliche Bildungsvoraussetzungen nicht verlässlich vermittelt werden konnten. Daraus ist eine massive Bewegung hin zu Standardisierung und Zentralisierung im Bildungswesen entstanden, die ihrerseits grundsätzliche Fragen zur Tiefe und Nachhaltigkeit der Bildungsziele aufwirft.26 Wiederum in einem gewissen Gegensatz dazu stehen neue Teilfreiheiten, die mit dem Stichwort der „Autonomie der Schule“ verbunden sind: Gesetzlich vorgeschriebene „Schulprogramme“ zur „Profi lbildung“ der Einzelschule,27 Möglichkeiten der Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Unterricht kranker Schülerinnen und Schüler, S. 3, abzurufen unter http://www.kmk.org/fi leadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1998/1998_03_20-Empfehlung-Foerderschwerpunkt-kranke-Schueler.pdf (14. 6. 2011) oder beispielgebend die Bayerische Krankenhausschulordnung (KRASO), vom 1. 7. 1999, GVBl. S. 288. 26 Für die Introvertiertheit der früheren Debatten ist kennzeichnend, dass die Bundesrepublik schon Anfang der 1960’er Jahre an der FIMS (First International Mathematics Study) und Ende der 1960er an der FISS (First International Science Study) teilnahm, zu den Ergebnissen vergleiche beispielsweise T. N. Postlethwaite, Leistungsmessung in der Schule, 1968, passim. Dennoch erregten die schon damals wenig überzeugenden Befunde kein allgemeines Aufsehen. Der öffentliche Umgang mit den Ergebnissen des Bildungsvergleiches änderte sich erst in den späten 1990ern mit der Teilnahme an der TIMSSStudie (Trend in International Mathematics and Science Study) und gipfelte 2001 in einem allgemeinen Aufschrei als die Ergebnisse der ein Jahr zuvor durchgeführten PISA-Studie bekannt wurden. Seitdem ist in Deutschland eine wahre Vergleichs-Hysterie ausgebrochen: Nach viermaliger Teilnahme an der PISA Studie (2000, 2003, 2006, 2009) und dreimaliger Teilnahme an der IGLU-Studie (Internationaler Grundschul-Lese-Untersuchung) (2001, 2006 und 2011) wird Deutschland 2011 auch wieder an der TIMSS-Studie teilnehmen, zum zweiten Mal nach 2007. Außerdem ist die Teilnahme an einem Vergleichstest geplant, der die PC-Fertigkeiten von Schülern testet. Darüber hinaus werden auch innerdeutsch immer mehr Vergleichsstests vorgenommen, sei es eigenständig (so etwa VERA VERgleichsArbeiten in der Schule) oder als Ergänzung zu anderen, internationalen Studien, bspw. zu PISA oder IGLU. Das neue Verständnis von der Wichtigkeit des internationalen und nationalen Vergleiches in der Bildungspolitik formuliert der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 2. 6. 2006, Gesamtstrategie der Kultusministerkonferenz zum Bildungsmonitoring, 2006, S. 1 ff., abzurufen unter http://www. kmk.org/fi leadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2006/2006_06_02-Bildungsmonitoring.pdf (14. 6. 2011) . Zum deutschen Umgang mit der Vergleichsstudie W. Mitter, Das deutsche Bildungswesen im internationalen Vergleich, Bildung und Erziehung, 2007, S. 135 ff., sehr kritisch dazu, insbesondere mit Verweis auf die Aussagekraft der PISA-Studie G. Lind, Jenseits von PISA – Für eine neue Evaluationskultur, in: Institut für Schulentwicklung an der pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd (Hrsg.), Standards, Evaluation und neue Methoden, 2004, S. 1 ff. 27 Mittlerweile fordern die meisten Bundesländer (mit Ausnahme des Saarlandes, Thüringens, Bayerns und Baden-Württembergs) in ihren Schulgesetzen das Erstellen eines Schulprogramms. Das Land Rheinland-Pfalz lässt Schulen in einem „Qualitätsprogramm“ pädagogische Ziele und Schwerpunkte festlegen. Inhaltlich ähneln sich die Vorgaben, die die einzelnen Länder machen: Die Schule hat in ihrem Schulprogramm in Grundsätzen festzulegen, wie sie ihren Bildungsauftrag erfüllt (Niedersachsen (§ 32 NSchG vom 3.3. 1998, Nds. GVBl. 1998, 137, zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. 3. 2011, Nds. GVBl. S. 83), Hamburg (§ 51 HmbSG vom 16. 4. 1997, HmbGVBl. 1997, S. 97, zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. 9. 2010, HmbGVBl. S. 551), Schleswig-Holstein (§ 3 SchulG SH vom 24. 1. 2007, GVOBl. 2007, S. 39, zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. 1. 2011, GVOBl. S. 23, ber. S. 48), Mecklenburg-Vorpommern (§ 4 VII SchulG MV vom 13. 2. 2006, GVOBl. M-V 2006, S. 41 in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. 9. 2010, GVOBl. M-V 2010, S. 462), Berlin (§§ 4 VI und 8 SchulG B vom
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Lehrerrekrutierung vor Ort,28 die Auflösung von Schulbezirken 29 und die Begrenzung des Elternwillens bei der Schulformwahl zugunsten des schulischen Votums,30 26. 1. 2004, GVBl. S. 26, zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. 12. 2010, GVBl. S. 549, 560), Hessen (§§ 3 V und 127b HSchG in der Fassung vom 14. 6. 2005, GVBl. I S. 442, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. 7. 2009, GVBl. S. 265), Nordrhein-Westfalen (§ 3 II SchulG NRW vom 15. 2. 2005, GV NRW S. 102, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. 4. 2011, GV NRW S. 205), Sachsen-Anhalt (§ 24 IV SchulG LSA in der Fassung vom 11. 8. 2005, GVBl. LSA 2005, S. 520, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. 1. 2011, GVBl. LSA S. 2), Sachsen (§ 1 III SchulG Sachs vom 16. 7. 2004, SächsGVBl. Jg. 2004 S. 298, Rechtsbereinigt mit Stand vom 5. 6. 2010)). Der Inhalt erstreckt sich auf (Entwicklungs-)Ziele bzw. Perspektiven und Schwerpunkte sowie Leitbilder (Niedersachsen, Hamburg, Bremen (§ 9 I BremSchulG vom 28. 6. 2005, Brem. GBl. S. 260, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. 6. 2009, Brem. GBl. S. 237), Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (§ 23 II SchulG RhPf vom 30. 3. 2004, GVBl. 2004, S. 239, zuletzt geändert durch Gesetz vom 9. 7. 2010, GVBl. 2010, S. 167), Sachsen-Anhalt, Brandenburg (§ 7 II BbgSchulG vom 12. 4. 1996, GVBl. I/96 S. 102, in der Fassung vom 2. 8. 2002, GVBl. I/02, S. 78, zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. 7. 2009, S. 262, 269), Berlin, Hessen), Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeit der Schülervertretungen, des demokratischen Engagements und der politischen Bildung (Mecklenburg-Vorpommern), Zusammenarbeit mit den Eltern und außerschulischen Kooperationspartnern (Berlin), Fragen über die Fortbildung und den Beratungsbedarf von Lehrkräften (Berlin, Hessen). Besonders zu berücksichtigen sind dabei die Zusammensetzung der Schülerschaft und Umfeld der Schule (Niedersachsen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Hessen, SachsenAnhalt) bzw. der Besonderheiten der Schule (Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, SachsenAnhalt). Unterschiede bestehen hinsichtlich der Genehmigungs- und Mitwirkungsbedürftigkeit. Diese reichen von der bloßen Beteiligung/Unterrichtung über Anhörungen bis zur Genehmigung. 28 Niedersächsische und Hamburger Schulen nehmen die Ernennung von Lehrern inzwischen in der Regel selbständig vor, vgl. dazu beispielhaft den (niedersächsischen) RdErl. des MK vom 31. 5. 2007, Nds. MBl. 2007 S. 487, zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 3. 5. 2010, Nds. MBl. 2010, S. 511; Einschränkung in Bezug auf Mangelfächer durch RdErl. vom 31. 3. 2011, SVBl. 146, um von vornherein absehbare „Wettbewerbsergebnisse“ im Run auf gute bzw. knappe Lehrer, etwa zwischen Stadt und Land, wieder aufzufangen. Mecklenburg-Vorpommern verbeamtet Lehrer nicht, hier darf die einzelne Schule die Einstellung übernehmen. Daneben gibt es andere, weniger weitreichende Ansätze, die einzelne Schule stärker an der Personalplanung teilhaben zu lassen: Einige Bundesländer führen sogenannte „schulscharfe Ausschreibungsverfahren“ durch, bei denen, mit verschiedenen Abstufungen, die Schule durch das Festlegen von zusätzlichen Einstellungsvoraussetzungen, wie z. B. einer Trainerlizenz, Einfluss auf die Qualifi kation der einzustellenden Lehrperson nehmen kann. Diese Möglichkeit sehen Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Hessen, Berlin und Nordrhein-Westfalen vor. Andere Bundesländer beteiligen Schulen bei der Besetzung der Lehrstellen bspw. durch Anhörung (Bremen, Brandenburg, Thüringen, Schleswig Holstein). Weiterhin gar keine Teilnahmemöglichkeit bietet sich bayerischen, sächsischen und saarländischen Schulen. 29 In Hamburg (vgl. § 42 Abs. 7 HmbSG), Bremen (vgl. 6 Abs. 3 BremSchVwG vom 28. 6. 2005, Brem. GBl. S. 280, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. 6. 2009, Brem. GBl. 237) und SchleswigHolstein (vgl. § 24 SchulG SH) besteht auch für Grundschüler keine Sprengelpfl icht mehr. Auch in Nordrhein-Westfalen (vgl. §§ 46, 84 SchulG NRW) galt bis Ende 2010 die absolute Wahlfreiheit. Hier wurde aber den einzelnen Kommunen die Möglichkeit gegeben, Schulbezirke einzuführen. In allen übrigen Bundesländern gilt für Grundschüler noch die Sprengelpfl icht. Die Sekundarstufen I bzw. II betreffend sehen aber alle Bundesländer Lockerungen der Schulzuweisung vor. 30 Die Entscheidungskompetenz über den Bildungsweg ihrer Kinder nach der Grundschule ist in mehreren Bundesländern den Eltern mehr oder weniger weitreichend zugunsten der Entscheidung durch den Lehrer genommen. In Sachsen (§ 34 SchulG Sachs, § 21 SOGS vom 3. 8. 2004, SächsGVBl. S. 213, § 32 SOGY vom 3. 8. 2004, Sächs GVBl. S. 213), Sachsen-Anhalt (§ 34 SchulG LSA) und Thüringen (§§ 124 ff. ThürSchulO vom 20. 1. 1994, GVBl. S. 185, zuletzt geändert durch Verordnung vom 10. 6. 2009, GVBl. S. 511) wird die weitere Schullauf bahn immer noch vorrangig durch die maßgeblich durch Schulnoten beeinflusste Bildungsempfehlung eines Lehrerkollegiums bestimmt. In diesen Ländern können Eltern nur erreichen, dass ihr Kind an einer Prüfung teilnimmt, bei deren Bestehen es auf die von den Eltern gewünschte Schule wechseln darf. In Baden-Württemberg (§ 1 Aufnahmeverord-
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zuletzt auch Entscheidungs- bzw. Beteiligungsmöglichkeiten für die Kommunen als Schulträger bei Qualitätsentwicklung und Planung.31 Dem entspricht, dass die Schulgesetzgeber insgesamt die Typenvielfalt im Schulwesen immer noch weiter vermehren: Vom geordneten dreigliedrigen Schulsystem kann generell nicht mehr die Rede sein, die Tendenz geht zu einer strukturellen Zweigliedrigkeit (im Bereich der Sekundarstufe I) 32 bei großer Ausgestaltungbreite insbesondere im Bereich der Obernung vom 10. 6. 1983, GBl. 1983, S. 507) ist das Verfahren ähnlich. Auch hier ist die letztliche Entscheidung den Eltern abgenommen. In Bayern (Art. 44 BayEUG in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. 5. 2000, GVBl. 2000, S. 414, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. 7. 2010, GVBl. S. 334, § 29 VSO vom 11. 9. 2008, GVBl. 2008, S. 684, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. 7. 2010), Brandenburg (§ 53 BbgSchulG) und Nordrhein-Westfalen (§ 8 AO-GS vom 23. 3. 2005, GV NRW S. 102, zuletzt geändert durch Verordnung vom 23. 3. 2005, SGV NRW, S. 223) kann der Grundschüler bei negativer Bildungsempfehlung an einem Probeunterricht teilnehmen. Sprechen sich zwei bzw. drei von drei überwachenden Lehrern gegen einen Wechsel des Kindes in die gewünschte Schulform aus, muss dieses die empfohlene Schule besuchen. Bremen und Schleswig-Holstein sehen grundsätzlich zwar die freie Elternwahl vor, wollen Eltern von der empfohlenen Schulart abweichen müssen sie jedoch verpfl ichtend an einem Beratungsgespräch in der Schule teilnehmen. Hamburg (§ 42 HmbSG), Hessen (§ 77 HSchG) und Mecklenburg-Vorpommern (§ 66 SchulG MV) sehen zwar ebenfalls eine freie Wahl der Eltern vor, behalten aber die zwangsweise Abschulung bei fehlender Leistung vor. In den übrigen Ländern gilt das Elternrecht bei der Wahl der Schulform. 31 In Nordrhein-Westfalen ist als Ausgestaltung des Wettbewerbs zwischen Schulträgern die Schulversuchsklausel des § 25 SchulG zur Einführung der „neuen Gemeinschaftsschule“ auf Antrag des Schulträgers genutzt worden. Das OVG Münster hat diese Praxis im Eilverfahren auf Klage benachbarter Schulträger (!) verboten, Entscheidungen vom 9. 6. 2011, Az. 19 B 478/11, 19 B 479/11. BadenWürttemberg bietet Kreisen und Städten die Möglichkeit der Teilnahme am Impulsprogramm Bildungsregionen. Kommunen erhalten die Möglichkeit der Beteiligung an sog. Regionalen Steuerungsgruppen, die neben kommunalen Vertretern auch mit Vertretern der Schulaufsicht (Regierungspräsidium und Staatliches Schulamt) besetzt sind. Sinn der Einführung solcher Steuerungsgremien ist die Möglichkeit die Struktur für Bildungsplanung und -entwicklung vor Ort, also in den staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaften steuern zu können. Vgl. für weitergehende Informationen zum Impulsprogramm Bildungsregion http://www.schule-bw.de/entwicklung/bildungsregionen/ (14. 6. 2011). 32 Viele Bundesländer haben das dreigliedrige System Hauptschule-Realschule-Gymnasium bereits aufgegeben oder dies zumindest vor. Berlin bietet mit Beginn des Schuljahres 2010/11 nur noch integrierte Sekundarschule und Gymnasium an, §§ 22 und 26 SchulGB. Ähnlich in Brandenburg: Gymnasien und Oberschulen (sowie Gesamtschulen), § 16 BbgSchulG, Bremen: Gymnasien und Oberschulen, § 16 BremSchulG, Hamburg: Gymnasium und Stadtteilschule (ab Schuljahr 2011/12), §§ 15, 17 HmbSG, Mecklenburg-Vorpommern: Gymnasium und Regionalschule (und Gesamtschule), §§ 16,19 SchulG MV, Rheinland-Pfalz: Gymnasium und Realschule Plus (sowie Gesamtschule), § 9 SchulG RhPf, Saarland: Gymnasium und erweiterte Realschule (sowie Gesamtschule und Schengen-Lyzeum), § 3a SchOG vom 5. 5. 1965, in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. 8. 1996, Abl. S. 846, zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. 5. 2009, Abl. S. 706, Sachsen: Mittelschule und Gymnasium, § 4 SchulG Sachs, Sachsen-Anhalt: Gymnasium und Sekundarschule, § 3 SchulG LSA und Thüringen: Regelschule und Gymnasium (außerdem Gesamtschule), § 4 ThürSchulG. Bayern ersetzt die Hauptschulen durch Mittelschulen, an denen zusätzlich der mittlere Bildungsabschluss erworben werden kann, daneben sollen Realschulen aber (zunächst) erhalten bleiben, Art. 7 ff. BayEUG. Hessen plant (mit dem neuen Schulgesetz, das ab 1. 8. 2011 in Kraft treten soll) Mittelstufenschulen einzuführen. Diese führen zu mittlerem und Hauptschulabschluss, sollen aber bestehende Schulformen wohl nicht ersetzen, vgl. Gesetzesentwurf der Landesregierung vom 25. 1. 2011, LT-Drs. 18/3635. Ähnlich auch die Überlegung in Niedersachsen: Hier bestehen ab dem Schuljahr 2011/12 sog. Oberschulen, welche Haupt- und Realschule aber nicht ersetzen, § 5 SchulGNds. Einige dieser Schulformen fassen nicht nur die bisherige Haupt- und Realschule zusammen, sondern ermöglichen darüber hinaus auch das Abitur (Berlin in 13 statt 12 Jahren am Gymnasium, § 22 SchulGB; Bremen in ebenfalls 13 statt 12 Jahren am Gymnasium,
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stufen.33 Auf einem anderen Sektor hingegen ist die Vielfalt chronisch instabil: Die Privatschulen, die nach 1990 eine erhebliche Aufwertung erfahren hatten, sehen sich seit einiger Zeit Einschränkungen bei der fi nanziellen Förderung ausgesetzt, was durch die Erhöhung der Selbstbeteiligung (etwa auch bei den Fahrtkosten) gegen die Intention der Verfassung schnell zu einer Veränderung der Klientel führen kann.34
b) Veränderungen jenseits der Schule In gleicher Weise sind auch für die vorschulische Bildung und den Bereich der Hochschulen kritische Rückfragen für die geschilderte Entwicklung der quantitativen Ausweitung und ihrer Folgen zu formulieren: Die Ausweitung der vorschulischen Bildungsangebote – die sich ganz auf die Bereitstellung von Chancen, also auf die Voraussetzungen realer Freiheit ausrichten will – führt eben auch zu Standardisierung mit potentiell freiheitsverkürzender Wirkung.35 Durch den Bologna-Prozess wurde die Hochschulbildung aus ihrer früheren funktionalen Einbindung herausgelöst, die auf die Bereitstellung kritischer Intelligenz als Selbstwert zielte und für eine kleine Funktionselite insoweit auch ihren ökonomisch unbestrittenen Sinn hatte.36 Die Berufsqualifizierung nach einem möglichst nur dreijährigen Studium ist nunmehr zum ersten Ziel des Studiums geworden, und dies gilt insbesondere auch für die dadurch fundamental veränderten geisteswissenschaftlichen Studiengänge, die früher im Magister ihren gerade nicht berufsorientierten Regelabschluss hatten.37 Auch die Ein§ 20 BremSchulG; auch in Hamburg bietet die Stadtteilschule einen im Gegensatz zu Gymnasium 13jährigen Abiturgang an, § 15 HmbSchG auch die niedersächsische Oberschule kann eine gymnasiale Oberstufe einführen, § 10a SchulGNds. 33 In Bayern gibt es verschiedene Formen von Oberschulen: Die Fachoberschule, Art. 16 BayEUG, baut auf einem Mittleren Abschluss auf und führt in 2 Jahren zur Fachhochschulreife bzw. in drei Jahren zur allgemeinen Hochschulreife. Die Berufsoberschule, Art. 17 BayEUG, setzt demgegenüber neben einem Mittleren Abschluss zusätzlich eine abgeschlossene Berufsausbildung voraus. In 2 Jahren führt die Berufsoberschule zur allgemeinen Hochschulreife, nach einem Jahr kann die Fachhochschulreife abgelegt werden. Schließlich kann die Fachhochschulreife nach Zusatzprüfung an der Fachakademie erworben werden, Art. 18 BayEUG. 34 Vgl. paradigmatisch zuletzt BayVerwGH, Urteil vom 17. 2. 2011, Az. 7 BV 10.3030, 7 BV 09.1827, mit dem die gesetzlich vorgegebene Förderleistung für notwendige und genehmigte Baumaßnahmen zwar festgesetzt, aber unter den Vorbehalt einer (dann nicht erfolgenden) Bereitstellung von Haushaltsmitteln gestellt wird. 35 Vgl. zum Problem H. Wißmann, Kulturelle Differenz und Prozeduren der Integration, RdJB 2008, S. 153 (157 ff.). 36 Der bereits geschilderte rasante Ausbau der Hochschulen seit den 1960er Jahren verband sich zwar mit einer Neuorganisation in der Universität. Dennoch ist zu beachten, dass die damaligen strukturellen Neuformatierungen gerade noch nicht mit einer Abkehr von älteren Zielstellung der Universität verbunden waren: Ganz im Gegenteil wurde in einem emanzipativen Vorgriff das ältere Ideal der zweckfreien Bildung nochmals aufgenommen und mit einer neuen Stoßrichtung erneuert. 37 Für die Bereiche von Diplom- und Staatsexamensstudiengängen haben die entsprechenden Strukturreformen nicht in der gleichen Weise fundamentale Veränderung bedeutet, hier war die Bildung als Fortsetzung des schulischen Bildungsansatzes seit alters her gemischt mit einer klaren Außenorientierung und Anschlussverwertbarkeit – nunmehr stellen sie sich in historischer Dialektik als Verteidiger der (vergleichsweise) freien Universität dar. Vgl. zum aktuellen Stand der Debatte M.-E. Geis, Chr. Bumke, Universitäten im Wettbewerb, VVDStRL 69 (2010), S. 364 ff., 407 ff. (insb. S. 435 f. zum Bildungsideal).
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führung von Studienbeiträgen hat den ökonomisch wertbildenden Dienstleistungscharakter der Hochschulbildung betont. Für die Frage nach der Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat ist die „Funktion Universität“ mit anderen Worten zur Zeit in existentieller Weise fraglich. Nochmals ganz anders liegen die Probleme hinsichtlich der staatlichen Erziehung der Gesellschaft jenseits abgegrenzter Bildungsinstitutionen: Die Entgrenzung von Erziehungsansprüchen, die die Bürger zum „guten Leben“ führen soll, feiert in der postmodernen Informationsgesellschaft etwa unter dem Stichwort des Verbraucherschutzes ein bemerkenswertes Comeback: Denn wo der Staat nicht zwingt, sondern nur informiert, fördert und unterstützt, scheint nach einer bemerkenswerten etatistischen Wende in der staatsrechtlichen Wahrnehmung zunächst einmal kein grundrechtliches Problem vorzuliegen.38 Der Paternalismus bleibt aber auch (und gerade) in der Demokratie die große Versuchung der Staatstätigkeit.39 Ein strukturelles Problem ist schließlich die Kompetenzverteilung im Mehrebenensystem. Die Zuständigkeit der Bundesländer für Bildungsfragen ist ebenso unter Druck 38 Anfang dieser Entwicklung in BVerfGE 105, 252 – Glykol (in scharfem Gegensatz zur SenatsRechsprechung zu Art. 10 GG, etwa BVerfGE 113, 348 (383 ff.) – vorbeugende Telefonüberwachung); 120, 260 (342) – Online-Durchsuchung; 125, 260 (318 ff.) – Vorratsdatenspeicherung; programmatisch W. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: M. Bäuerle et al. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, 2004, S. 53 (71 ff.); ders., Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Staat 43 (2004), S. 203 (214, 217 f.); kritisch W. Kahl, Vom weiten Schutzgehalt zum engen Gewährleistungsgehalt, Staat 43 (2004), S. 267 (174 ff., 184 ff.); ders., Neuere Entwicklungslinien der Grundrechtsdogmatik, AöR 131 (2006), S. 579 (605); H. Wißmann, Generalklauseln, 2008, S. 132 ff. 39 Der Zugriff des Staates auf grundsätzlich alle Lebensbereiche, die mindestens mit den weichen Instrumentarien von Information und Auf klärung beackert werden, schwankt zwischen Emanzipation und Paternalismus. In knappen Stichworten gefasst, zeichnen sich hier weiter zunehmend erhebliche Ordnungsprobleme ab: Der Schutz der Kinder vor psychischer und physischer Gewalt, gerade auch in ihrem familiären Umfeld, ist der vornehmste Ausdruck einer materiell grundrechtsfreundlichen, empathiefähigen Gesellschaftsordnung, die das Schicksal wehrloser Kinder und Jugendlicher zu ihren Thema macht. Dieser Ansatz, der gegenüber den älteren Vorstellungen von Elternrechten zu teilweise erheblichen Verschiebungen geführt hat und Familienverhältnisse in neuer Weise öffentlich rechenschaftspfl ichtig gestellt hat, ist weitgehend und zu Recht außer Streit gestellt. Allerdings wohnt dieser Neuorientierung – die nicht zuletzt von der Kenntnis früherer Verhältnisse in staatlichen bzw. kirchlichen Heimen, also jenseits familiärer Strukturen, ihren Ausgang nimmt – eine doppelte Problemlage inne: Zum einen wird institutionell das Verhältnis zwischen freiläufiger Gesellschaft und den Institutionen des Sozialstaats verändert, je mehr Etappen pfl ichtmäßiger Berichterstattung über den Verlauf von Kinderbiografien formal geregelt werden. Statt der sozialen Kontrolle des Normalumfeldes wird Verantwortung an Institutionen delegiert. Dies mag allerdings als Gefährdungsbekämpfung kaum zu umgehen sein. Das weitergehende Problem dieses Engagements liegt darin, dass den Institutionen des Sozialstaats über die Gefahrenabwehr hinaus das Mandat „richtiger Lebensführung“ übertragen wird. Diese Entwicklung ist bis auf Weiteres nicht durch eine jakobinische Programmatik zu befürchten, sondern durch den Ausbau der Förderinstrumente zur Betreuung, Förderung, ja zur Bildung von Kindern, etwa durch die vorschulischen Einrichtungen oder die Ganztagsbetreuung im Schulbereich. Es sollte klar ausgesprochen bleiben, dass die emanzipative Seite dieser Vorhaben, die insbesondere auf die vollkommen berechtigte Gleichstellung von Frauen und Männern in der Erwerbswelt zielt, für die traditionelle Kindererziehung strukturelle Auswirkungen hat. Sie sind nicht per se richtig oder falsch, jedenfalls aber wirkungsmächtig. In einem freiheitlichen Verfassungsstaat wird dieser Ausgriff auf die Bildung außerhalb der Familie und außerhalb der gesetzlich klar geregelten Schulpfl icht nur dann zu einem Zukunftsmodell reifen können, wenn sie binnenpluralistisch und transparent organisiert ist; zum ganzen H. Wißmann, Kulturelle Differenz (Anm. 35), S. 159 ff.
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wie die Aufteilung von innerer und äußerer Schulhoheit zwischen Kommunen und Bundesländern.40 Im Hochschulbereich wie insbesondere auch im Bereich der beruflichen Bildung sind die Entwicklungen nochmal besonders unter dem Stichwort der Europäisierung zu erfassen. Während nach der Maßgabe des EU-Vertrags und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon der eigentliche Kernbereich von Bildung nationaler Gestaltung obliegt,41 ist die Hochschullandschaft durch den Bologna-Prozess faktisch europäisiert und damit unitarisiert worden. Auch die berufl iche Bildung wird sich zunehmend darauf einstellen müssen, dass durch die Geltung von Grundfreiheiten und auch durch die europäische Sozialpolitik die Angleichung von Ausbildungsstandards notwendige Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit in manchen Sektoren sein wird.42
c) Wirkung der Veränderungen Zu fragen bleibt, ob die skizzierten Veränderungen der Gegenwart ein neues Niveau erreichen oder letztlich nur die jederzeit typische Unruhe und Instabilität in der Bildungslandschaft mit neuen Akzenten rückkoppeln. Um hier zu einer angemessenen Einordnung zu gelangen, ist folgender Umstand zu beachten: Für eine lange Zeit, bis an die Schwelle der Gegenwart, ist das Bildungswesen in gewisser Weise „ungleichzeitig“ organisiert gewesen: Für das „eigentliche Geschäft“ in Unterricht und Vorlesung an Schulen und Hochschulen wirkten sich in einer langgestreckten Bewegung (nur) die grundsätzlichen Verschiebungen des verfassungsstaatlichen Anspruchs hin zur grundrechtlich-personalisierten Bildungsanstrengung aus, weil sie das Leitbild der praktischen Tätigkeit unmittelbar beeinflussen mussten. Die schon immer bestehenden jeweiligen aktuellen Aufgeregtheiten der Bildungspolitik mochte man dagegen relativ unbeeindruckt wahrnehmen – Studienrat wie Ordinarius konnte es im letzten egal sein, wer „unter ihm“ Kultusminister war. Genau diese Ungleichzeitigkeit scheint nun aber in Auflösung begriffen, und darin liegt ein fundamentaler Wechsel in den bildungspolitischen Steuerungsvorstellungen und -ansprüchen. Äußere Vorgaben verändern nun tatsächlich schnellwirkend das Bildungswesen, weil sich (insbesondere für die Schule) ein neues Gesamtarrangement abzeichnet: Die Schulen (und nicht mehr die Lehrer) werden mit bestimmten vorläufigen Gestaltungsräumen ausgestattet, der Erfolg ihrer Arbeit wird zugleich in neuer Qualität evaluiert und kontrolliert am Maßstab zentraler Standards. Über das nach außen gestellte Profi l sollen öffentliche Bildungseinrichtungen durch die Nachfrage ihrer „Kunden“ in ihrem Erfolg messbar werden, was mit zusätzlichen Zuweisungen belohnt, im Extremfall durch Schließung (insbesondere bei mehreren Gymnasien am Standort) bestraft werden kann. Damit einher gehen notwendig stärkere Direktionsrechte bis in den einzelnen Unterricht hinein. Nur ergänzend sei bemerkt, dass die Universitäten diese Entwicklung in paralleler Weise ganz ähnlich 40 Wesentliche Impulse zur Unitarisierung gehen hier von der Rechtsprechung zu Hartz IV aus, vgl. BVerfGE 125, 175 (241 f.); zum Bildungspaket A. Groth/H. Siebel-Huffmann, Das neue SGB II, NJW 2011, S. 1105 (1107 f.). 41 BVerfGE 123, 267 (358 f., 363) – Lissabon. 42 Zu diesen Fragen W. Frenz, Europäische Bildungspolitik, DÖV 2011, S. 249 ff.
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erfahren, insbesondere durch das veränderte Verhältnis von Grundbudget und gesondert-projektbezogener Förderung. Eine solche Neuaufstellung hat nun an der Oberfläche offensichtlich eine gewisse Konsistenz. Zu fragen bleibt, wie sich die Neuorientierung mit den Maßstäben des verfassungsrechtlichen Bildungsverständnisses vereinbaren lässt – anders gewendet: wie sich das Bildungsverfassungsrecht weiterentwickeln und neujustieren muss, um den neuen bildungspolitischen Taktschlag aufzunehmen.
III. Der Umgang mit religiöser Pluralität als Prüfstein der Bildungsverfassung 1. Ausgangslage und Fragestellung Die genannten Herausforderungen stehen in einem vielschichtigen Spannungsverhältnis zueinander, vielfach reagieren sie auch schon aufeinander. So lässt sich die Gemengelage denn auch nicht mit einem einzigen griffigen Stichwort zusammenklammern. Als eine besonders wichtige übergreifende Herausforderung in der gegenwärtigen Lage kann jedoch der Umgang mit kultureller und sozialer Pluralität erkannt werden: Hier greifen die älteren Lösungsmuster der Selektion und Segregation nicht mehr, und zugleich scheint insbesondere die emanzipative Schulverfassung der letzten Dekaden in besonderer Weise hilflos zu sein, mit ihrem eigenen Erfolg der Individualisierung und Pluralisierung umzugehen. Dabei hat vor allem die religiöse Pluralisierung neue Fragen aufgeworfen. Hier werden – schon das ein Indikator für die Dringlichkeit der Problemlage – vielfach Gerichte in Stellung gebracht, um neue schulische Verhältnisse zu klären. Die entsprechenden Stichworte sind bekannt: Sie reichen vom islamischen Schulgebet43 über den Islam-Unterricht44 bis zum Kopftuch der Lehrerin45. Wo liegen nun die neuartigen Herausforderungen? Und vor allem: Wie sollen sie bewältigt werden? Um einer Antwort näher zu kommen – und so paradigmatisch die anstehenden Grundfragen der öffentlichen Bildungsverfassung zu traktieren – soll das folgende Beispiel das bisher ausgebreitete Panorama verdeutlichen und vertiefen: Im Frühjahr 2009 stellten die Eltern einer muslimischen Schülerin, die ein Gymnasium in Nordrhein-Westfalen besuchte, einen Antrag auf Befreiung ihrer Tochter vom koedukativen Schwimmunterricht. Anders als bislang in solchen Fällen gewohnt und durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorgezeichnet, wies das OVG Münster als letzte Instanz des Eilrechtsschutzes diesen Antrag ab; im Hauptsacheverfahren wurde im Anschluss nicht mehr entschieden, das Verfahren ist erledigt.46 Das Gericht stellt darauf ab, dass die Mutter im Rahmen des Aufnahmeverfahrens auf den 43 OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ-RR 2010, S. 1310 ff. Vgl. zum „allgemeinen“ Schulgebet dagegen BVerfGE 52, 223. 44 BVerwG 123, 49. 45 BVerfGE 108, 282. Zur Debatte H. Wißmann, Religiöse Symbole im öffentlichen Dienst, ZevKR 52 (2007), S. 51 ff.; zuletzt H. Hofmann, Religiöse Symbole in Schule und Öffentlichkeit, NVwZ 2009, S. 74 ff. 46 Aktenzeichen des Hauptverfahrens 18 K 3202/09.
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verpfl ichtenden Charakter des gemeinsamen Unterrichts in dieser Schule hingewiesen worden sei und zugestimmt habe, dass ihre Tochter mit spezieller Kleidung daran teilnehmen würde. Dieses Einverständnis gelte nach den Maßstäben der Anscheinsvollmacht auch für den Vater sowie für das Mädchen selbst und die Schule habe dieses Einverständnis als Voraussetzung für die Aufnahme auch verlangen dürfen, weil sich der gemeinsame Sport- und Schwimmunterricht als Teil des profi lbildenden Schulprogramms darstelle.47 Damit werden in diesem Fall viele der genannten Herausforderungen für die Bildungsverfassung der Gegenwart wie unter einem Brennglas zusammengestellt: Zu fragen ist, wie sich der Schutz von Grundrechten, hier der Religionsfreiheit, verändert, wenn sich seine gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen verändern: Ist es notwendig, angezeigt, gar wünschenswert, von statisch abgesicherten, optimistischen Grundrechtsgewährleistungen Abstand zu nehmen? Gilt das zumindest für bestimmte Religionen oder religiöse Verhaltensweisen? Was soll die staatliche Pfl ichtschule bewirken und was darf sie voraussetzen und einfordern? Und dahinterliegend und wieder allgemeiner gewendet: Mit welchen Maßgaben und welchen inneren und äußeren Zielstellungen organisieren wir überhaupt öffentliche Einrichtungen, von denen wir größere Effektivität und höhere Effizienz verlangen?
2. Schutz der Religion in der Schule a) Umfang der Religionsfreiheit Zunächst ist zu klären, ob es im Schwimmbadfall wirklich um Religionsfreiheit geht und sie durch die Pfl icht zum gemeinsamen Schwimmunterricht in rechtlich relevanter Weise beeinträchtigt wird. Täte nicht begriffl iche Abrüstung not, ist nicht ein Hinweis an die Betroffenen, welche Handlungsalternativen ihnen zur Verfügung stehen, angemessener als eine komplizierte Abwägung zwischen hochstehenden Verfassungsrechtsgütern, Religion gegen schulisches Erziehungsmandat, die solche Auseinandersetzungen in die Schreibstuben der Verfassungsrechtler und die Beratungszimmer von Verfassungsgerichten verlegt? Zwei Ansatzpunkte können hier unterschieden werden: Man kann bestreiten, dass die Frage der Bekleidung im Schwimmunterricht überhaupt etwas mit der Religionsfreiheit zu tun hat, und man kann getrennt davon eine Beeinträchtigung mit dem Hinweis auf ein mögliches zumutbares Alternativverhalten verneinen. Der erste Weg ist der radikalere Ansatz. Religion gehört danach als geschütztes Gut höchstens dann in die Öffentlichkeit, wenn sie als Religion eindeutig erkennbar ist, als Gottesdienst, als Prozession. Abzulehnen wäre danach eine Religionsfreiheit, die sich als Parallelgrundrecht zur allgemeinen Handlungsfreiheit geriert, also sämtliche Lebensäußerungen verfassungsrechtlich unzulässig veredelt und ihre Einschränkung verkompliziert. Wer sich in die Öffentlichkeit begibt und so handelt, wie andere es auch ohne religiöse Überzeugung tun, könnte sich danach nicht auf besondere Rechte berufen. Ganz verschiedene Begründungen sind für eine solche Sichtweise 47
OVG Münster, Beschluss vom 30. 6. 2009, Az. 19 B 801/09, juris Rn. 3.
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erkennbar, die zuletzt in der rechtswissenschaftlichen Literatur wiederholt formuliert worden ist: Sie reichen vom Schutz der anderen vor aufgedrängter Religion über die Kritik an überzogenen Privilegien der Religionsgemeinschaften bis hin zum Kalkül, der Kernbereich religiöser Betätigung könne bei einer solchen Konzentration ohne substantielle Verluste besser geschützt werden.48 Eine solche Engführung kann jedoch nicht überzeugen: Die Kleidungsvorschriften des Islam taugen vielmehr geradezu mustergültig dazu, die frühe Einsicht des Bundesverfassungsgerichts zu verteidigen, dass die Religionsfreiheit sich – verstanden als einheitliches Grundrecht – potentiell auf die gesamte Lebensführung bezieht. Denn soviel wissen wir durch die Kultur- und Religionsgeschichte ganz sicher: Der Anspruch der großen und kleinen Religionen greift auf den Menschen im Ganzen aus, will ihn erfassen und umwandeln, will gerade kein beliebig begrenzbares Hobby neben anderen sein, das man mit der Kleidung eben auch ablegen kann. Wenn also die Verfassung auch in ihrem Wortlaut in Art. 4 Abs. 2 GG gesondert vom Schutz der Religionsausübung spricht und sie neben Glaube und Bekenntnis stellt, hat dies danach einen einleuchtenden Sinn und eigenen Gehalt und ist nicht nur deklaratorische Verfassungslyrik. Und es ist dann auch ein Teil der grundrechtlichen Erfolgsgeschichte, dass das Bundesverwaltungsgericht die entsprechende weite Fassung des Schutzbereichs, die vom Bundesverfassungsgericht zunächst als eine Art wirtschaftsrechtliches Privileg der großen Kirchen entwickelt worden war49, ohne Ansehen der Religionen auch auf den Islam und 1993 auch ganz konkret auf den vorliegenden Sachverhalt „Schwimmunterricht und Islam“ bezogen hat.50
b) Besonderheiten im Ordnungsraum Schule? Wenn nun danach Kleidungsregeln zum Schutzbereich der Religion gehören, bleibt getrennt davon zu klären, ob in der Verpfl ichtung zur Teilnahme am Schwimmunterricht auch eine Beeinträchtigung besteht. Eine solche Unterscheidung mag den Nichtjuristen Sophismus sein. Sie hat aber ihren guten funktionalen Sinn in der Abschichtung von Problemen, weil einmal auf die Grundrechtsträger, also die Schülerin, einmal auf den Grundrechtsverpfl ichteten, also die staatliche Anordnung, geschaut wird, und erst beide Elemente zusammen den einschlägigen Tatbestand bilden.51 Die Frage nach der Beeinträchtigung kann jedoch zunächst sehr kurz und knapp beantwortet werden: Zweifellos liegt hier zunächst auch eine rechtserhebliche Be48 Vgl. F. Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, FS Hollerbach, 2001, S. 149 ff.; E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Staat 29 (1990), S. 1 ff.; für eine Trennung der Schutzbereiche des Art. 4 I, II GG zusammenfassend St. Mückl, in: R. Dolzer/K. Vogel/K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (2008), Art. 4 Rn. 55 ff. Zur Debatte insgesamt als Stimmen der vorherrschenden Meinung A. v. Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl age 2006, S. 51 f., 67 ff.; Ch. Waldhoff, Neue Religionskonfl ikte und staatliche Neutralität, Gutachten D zum 68. DJT, 2010, D 66 ff. 49 BVerfGE 24, 236 (250 f.) – Lumpensammler. 50 BVerwGE, 94, 82. 51 F.-J. Peine, Der Grundrechtseingriff, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR III, 2009, § 57 Rn. 4 f., 8 ff.
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schränkung einer Freiheit vor, eine staatliche Anordnung, die im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Schulpfl icht ein grundrechtlich geschütztes Verhalten unmöglich macht. Es wird also notwendig sein, nach der möglichen Rechtfertigung einer solchen Freiheitsverkürzung Ausschau zu halten. Das führt zu der Frage, ob nicht in der Schule, damit sie funktionieren kann, ein Miteinander vonnöten ist, das auch Einschränkungen „freier“ Bürgerrechte erfordert? Oder noch viel einfacher: Wer an eine weiterführende Schule möchte, muss eben deren Bedingungen erfüllen, wer nicht will, kann und muss ausweichen – ganz im Sinn eines „Wettbewerbs“ zwischen Schulen mit unterschiedlichem Profi l?
3. Grundrechtsentfaltung in der Schule: Die Konzepte von Veräußerlichung und Verinnerlichung a) Vorüberlegung Hinter den so gegeneinander gestellten Sichtweisen auf das Selbstbestimmungsrecht von Schule und Schülern tun sich nun elementar unterschiedliche Vorverständnisse auf. Für eine gewisse Orientierung soll ein kurzer geschichtlicher Hinweis gegeben werden: Historisch ist die Erziehung in öffentlichen Schulen ein Signum des modernen Staates seit der frühen Neuzeit, jedenfalls deutlich älter als die Gewährleistung bürgerlicher Freiheit. Für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist es daher nicht nur naiv, sondern auch ahistorisch, eine natürwüchsige Freiheit des Einzelnen als realen Ausgangspunkt zu behaupten. Die Freiheit, die der Einzelne vernünftig oder unvernünftig in Anspruch nimmt, ist immer schon verfertigte Freiheit. Und jedenfalls in Deutschland nimmt der Staat traditionell einen dezidierten Anteil an dieser Verfertigung, indem er sich selbst einen allgemeinen Erziehungsauftrag erteilt und durch eine allgemeine Schulpfl icht durchsetzt.52 Daher liegt schon nach der historischen Vorerfahrung nur ein schwacher Grenzposten vor der unzulässigen (gleichwohl weit verbreiteten) Verkürzung, Grundrechtsprobleme erst bei Erwachsenen zu vermuten, und daher musste wie oben geschildert die Schule unter verfassungsrechtliche Kuratel genommen werden.53 Zugleich weist die Entwicklung aus, dass die Schule wie bereits geschildert kein anstaltliches Eigenrecht mehr besitzt, sondern auf die (Mit-)Bestimmung ihrer Inhalte und Prozeduren in Rückkopplung zur Gesellschaft verwiesen ist, professionelle Pädagogik also erst in zweiter Linie, nämlich zur Realisierung der Bildungsziele, ihren Gestaltungsraum besitzt. Vor dieser Folie ist zu fragen: Mit welchen Grundrechten gehen Schüler und Eltern in die Schule hinein, und wie kommen sie hinaus? In der Tat: Staatlicher Erziehungsauftrag heißt immer auch Veränderung und Einwirkung auf Grundrechtssubstanz – und zugleich sind die Grundrechte stets auch schon vorhanden, das Elternrecht, das Persönlichkeitsrecht der Kinder, aber eben auch die Religionsfreiheit. Wie kann das Rechtssystem nun diese Spannungslage bearbeiten, und wie kann eine öffentliche Institution dabei sinnvoll aufgestellt werden? 52 53
Für diesen Zusammenhang H. Wißmann, Allgemeines Schulwesen (Anm. 9), Manuskript S. 2 ff. Siehe oben Anm. 12.
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b) Schule als Verwaltungsanstalt Um nicht gegen die formalen Rechte der Betroffenen zu verstoßen, bildet sich zum einen die Verwaltungsanstalt aus. In Bayern ist dies im Schulwesen zu höchster Blüte gelangt: Mit möglichst vollständigen Vorgaben wird eine Gleichförmigkeit im Output erzeugt. Schon die Grundschule ist geprägt von ständigem Wettbewerb, zwischen Kindern, Klassen, Schulen, alles dieses unter dem Rubrum, straffe Vergleichbarkeit weise gerechte Chancen aus, und diese Formierung der Verfahren legitimiere zugleich die verbindliche staatliche Prognose über Schullauf bahnen. Das sieht dann nach der aktuellen Verordnungslage etwa so aus: Weil nach Auffassung des bayerischen Kultusministeriums für Eltern eine unterschiedliche Handhabung bei der Leistungsbewertung zwischen unterschiedlichen Grundschulen nicht zu verstehen sei, wird für das 4. Schuljahr, das berüchtigte „Übertrittsjahr“, in § 43 Abs. 3 der Volksschulordnung verfügt: „In der Jahrgangsstufe 4 soll bis zum Erhalt des Übertrittszeugnisses [also bis zum Halbjahr], in den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht eine angemessene Zahl von Probearbeiten abgehalten werden; als Richtwerte gelten im Fach Deutsch zwölf, in den anderen beiden Fächern fünf bewertete Probearbeiten.“ 54
Im voranstehenden Absatz wird geregelt, dass in dieser Klasse 4 sämtliche „Proben“ spätestens eine Woche vorher angekündigt werden müssen, und im ersten Absatz der Vorschrift wird schließlich auch noch vorgegeben – weil zugleich ein für Bayern noch ungewohntes neukoalitionäres Tauwetter in der Bildungspolitik ausgebrochen ist – dass die Schüler der 4. Klasse in jedem der Hauptfächer einen Monat pro Halbjahr von den sogenannten „Proben“ zu verschonen seien. Nimmt man hinzu, dass ja auch in allen anderen Fächern Klassenarbeiten geschrieben werden müssen, führt das zu einem Ankündigungs-, Prüfungs- und Rückgabemarathon, der jede pädagogische Arbeit unmöglich macht bzw. in die Elternhäuser verlagert; Schule ist nur noch Zertifi zierungsstelle. Als Typus ist hier eine Profilbildung durch Uniformierung auszumachen.
c) Schule „im Wettbewerb“ Ein Gegenmodell, von vornherein widersprüchlich und nicht in der gleichen Konsequenz betrieben, ist im geschilderten „Schwimmbadfall“ und damit im nordrhein-westfälischen Schulsystem zu beobachten: Einerseits ist unter Pisa-Schock nun ebenfalls flächendeckend der propädeutisch-freie Zugriff auf Lernstoffe zugunsten des Zentralabiturs abgeschafft worden, andererseits sollen aber die Schulen je eigenständig Profi l bilden.55 Genau hier setzte die materielle Begründung des OVG-Be-
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§ 46 Abs. 3 VSO. Dazu § 3 Abs. 2 SchulG NRW: [. . .] „(2) Die Schule legt auf der Grundlage ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags die besonderen Ziele, Schwerpunkte und Organisationsformen ihrer pädagogischen Arbeit in einem Schulprogramm fest und schreibt es regelmäßig fort. Auf der Grundlage des Schulprogramms überprüft die Schule in regelmäßigen Abständen den Erfolg 55
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schlusses an: Die Schule habe festlegen dürfen, dass Koedukation auch im Sportunterricht zu ihrem Schulprogramm zählt. Zunächst ist festzuhalten, dass es das Gericht nicht sehr genau nimmt mit den formellen Vorgaben eines solchen Schulprogramms: „Die Schule kann im Rahmen ihres von der Schulkonferenz [. . .] zu beschließenden Schulprogramms [. . .] schuleigene Unterrichtsvorgaben bestimmen [. . .]. In diesem Rahmen kann sie auch einen für alle Schülerinnen und Schüler verbindlichen koedukativen Schwimmunterricht vorsehen. Das ist hier bei summarischer Prüfung der Fall. Das [. . .] Gymnasium hat offenbar [!] auf der Grundlage ihres auf der Website der Schule [. . .] nicht vollständig abgedruckten Schulprogramms unter anderem ein ‚Schulinternes Curriculum Sport‘ beschlossen. Danach ist in den Klassen 5 und 6 koedukativer Sportunterricht vorgesehen.“56
Und weiter: „Selbst wenn der koedukative Schwimmunterricht nicht Bestandteil der verbindlichen schuleigenen Unterrichtvorgaben im Schulprogramm sein sollte, ist die Einholung der Einverständniserklärung [. . .] nicht zu beanstanden. Nach § 42 Abs. 5 SchulG NRW sollen sich Schule, Schülerinnen und Schüler und Eltern auf gemeinsame Erziehungsziele und -grundsätze verständigen und wechselseitige Rechte und Pfl ichten [. . .] festlegen.“57
Es kommt also letztlich auf die Einhaltung formaler Abläufe schon nicht an, auch die Schulleitung kann in Aufnahmegesprächen extemporieren über wünschenswerte Verhaltensweisen, weil dies „für die am Schulverhältnis Beteiligten Klarheit über die Erziehungsziele und -grundsätze in der Schule sowie (auch) über konkrete Pfl ichten von Eltern und Schülern schafft und dadurch die schulische Erziehungs- und Bildungsarbeit von möglichen künftigen (Rechts-) Streitigkeiten entlastet“ wird.58
Der Typus, der hier erkennbar wird, ist die Schule „im Wettbewerb“. Um am Bildungsmarkt agieren zu können, muss ihr Vorstand möglichst große Handlungsfreiheit haben. Durch Kooptation von Kollegen kann auch inhaltlich ein möglichst scharfes Profi l gebildet werden, durch die Auf hebung der Schulsprengel wird der Markt aktiviert. Die Kunden, die die Dienstleistung Bildung in Anspruch nehmen, werden über das Angebot aufgeklärt, es bleibt ihnen die Freiheit, das Angebot zurückzuweisen.
d) Der Maßstab der Verfassung Wo liegt nun das gemeinsame dieser Typen (die im Übrigen in der Schulpolitik rhetorisch vielfältig ineinander verschnitten werden)? Aus unterschiedlichen Gründen verfehlen sie beide ihre verfassungsstaatlich formulierte Aufgabenstellung in fundamentaler Weise. Die Schule als Verwaltungsanstalt drückt in ihrer immer weiihrer Arbeit, plant, falls erforderlich, konkrete Verbesserungsmaßnahmen und führt diese nach einer festgelegten Reihenfolge durch.“ [. . .] Zu den anderen Ländervorschriften vgl. Anm. 27. 56 OVG Münster, Beschluss vom 30. 6. 2009 (Anm. 47), juris Rn. 4. 57 OVG Münster, Beschluss vom 30. 6. 2009 (Anm. 47), juris Rn. 5. 58 OVG Münster, Beschluss vom 30. 6. 2009 (Anm. 47), juris Rn. 5.
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ter getriebenen, fast besinnungslosen Perfektionierung von Vorgaben das tiefe Misstrauen des Verwaltungsstaats gegen Schüler, Eltern und eben auch die Lehrer aus, und sie verhindert im Ergebnis vor allem nachhaltige Leistungsfreude und damit -fähigkeit. Und die in das Belieben der Schulkonferenz oder gleich des Schulleiters gestellte Selektion von Unterrichtszielen und damit mittelbar von Schülern behauptet eine Verfügungsmacht, die nicht nur gegenüber den Betroffenen, sondern auch gegenüber dem Schulgesetzgeber eine Anmaßung ist. Hinter beidem steckt je für sich ein verkürztes Verständnis von der Grundsubstanz öffentlicher Institutionen. Deren Aufgabenstellungen sind natürlich weitläufig aufgegliedert, von der Ordnungsverwaltung über die vielfältigen Dienstleistungen der Infrastrukturverwaltung bis hin zu den vermischten Aufgaben im Bildungswesen. Nie ist es aber so, dass öffentliche Verwaltung für sich selbst steht. Sie kann und sollte um Bürger werben, ihnen ihr Handeln erklärlich machen. Doch können Bürger nie im Vollsinn zu Kunden werden. Hier ist die Kraft der Unterscheidung gefragt: Eine Behörde ist nur in einem funktionalen Sinn Gegenüber der Bürger. Wettbewerb und Profi lbildung sind in öffentlichen Institutionen nicht Ausdruck von Freiheit, sondern funktional rückgebundene Gestaltungsmittel zweiter Ordnung. Viel stärker als bisher müssen in unseren Blick, der durch materiellgesetzliche Steuerungsansätze geprägt war und sich so die vielschichtige Wirklichkeit handhabbar machte, als Handlungsmodelle der Zukunft faire Verfahrensabläufe als zentrale Verwaltungsressource geraten – und dies gilt eben nicht nur für neuartige Verwaltungsaufgaben, sondern als allgemeines Muster, um den Staat angesichts seiner neuen Handlungsmöglichkeiten insgesamt grundrechtsfreundlich zu erhalten und nicht in eine bürgerfeindliche Diversifizierung zu laufen. Diese allgemeine Einsicht gilt nun in besonderer Weise für den Bereich der Schule. Es ist daran zu erinnern, dass im Bereich der religiösen Imprägnierung der Schule schon das Schulsystem der „alten“ Bundesrepublik einen erheblichen Transformationsprozess durchlaufen hatte. Die Stärkung der christlichen Gemeinschaftsschule gegen das ältere Grundmodell der Bekenntnisschule war die Konsequenz aus der konfessionellen Vermischung nach dem zweiten Weltkrieg, der Umbau dieser gemeinsamen Schule hin zu einer religiös offenen Schule „für alle Kinder“ unabhängig von ihrer tatsächlichen konfessionellen Bindung der evolutionär bewältigte nächste Schritt.59 Das Bundesverfassungsgericht hat für diese Entwicklung immer wieder entscheidende Weichen gestellt und die grundrechtliche Orientierung des Schulwesens betont und gestärkt. Die Entscheidungen zur inneren Orientierung der Gemeinschaftsschulen,60 zum Schulgebet,61 auch zum Kruzifi x62 und zum Kopftuch der Lehrerin63 gaben hier wichtige Wegmarken hin zu einer integrativ-offenen und dabei zugleich religionsfreundlichen Schule vor, wenn auch die Schulwirklichkeit oftmals nur sehr allmählich darauf reagierte. Gegen die jeweiligen Reflexe der (schul- und verfassungs-)politischen Lager muss betont werden, dass die Pointe dieser Rechtsprechung gerade in ihrer Konsistenz 59 60 61 62 63
Dazu im Überblick H. Wißmann, Allgemeines Schulwesen (Anm. 9), S. 31. BVerfGE 41, 29, 65 und 88. BVerfGE 52, 223. BVerfGE 93, 1. BVerfGE 108, 282.
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liegt, die die Mehrheit und den Einzelnen in ihren widerstreitenden Zielen auf ein Gebot der Rücksichtnahme verpfl ichtet, bei dem die Exekution eines Mehrheitswillens nur solange möglich ist, wie für den Einzelnen zumutbare Möglichkeiten bestehen, innerhalb der gemeinsamen Pfl ichtschule zurückzutreten oder auszuweichen – ein Musterbeispiel praktischer Konkordanz.64 Und vor diesem Maßstab ist die Entscheidung des OVG Münster ein Rückfall in etatistische Anmaßung, die sich mit Modernität nur tarnt, tatsächlich aber der Willkür Tor und Tür öffnet.
4. Mitwirkungspflichten als Freiheitsgrenze Diese Einsicht, die gegen eine formale Ausgrenzung gerichtet ist, führt dennoch zu einem zentralen Punkt: Öffentliche Institutionen, die auf den Bürger hin organisiert werden, erfordern regelmäßig seine Mitwirkung. In der Schule ist das besonders sichtbar. Weder Ersatzvornahme noch unmittelbarer Zwang funktionieren hier als Mittel der Verwaltungsvollstreckung. Ist nicht also am Ende doch darauf abzustellen, dass Schule nur in einem Miteinander gelingt, das auch die Grenze der eigensinnigen Rechte ist, auch religiöser Rechte? Darauf hatte die erste Instanz des geschilderten Rechtsstreits abgestellt, die darauf verwies, dass es heutzutage ausreichend funktionale Badebekleidung gäbe, mit der die Vorgaben des Korans in genügender Weise umzusetzen seien.65 Der damit ins Spiel gebrachte „Burkini“ mag in der Tat für viele Eltern eine ausreichende Lösung des Problems darstellen. Doch der Duktus der Entscheidung, der auf die emanzipative Wirkung des gemeinsamen Schwimmunterrichts verweist, zeigt eine Überhebung an. Der schonende Ausgleich von individuellen Rechten und Gemeinschaftszielen muss zunächst danach fragen, ob Grundrechtsschutz nicht durch Organisation und Verfahren gelingen kann, ohne ein schulisches Ziel aus den Augen zu verlieren. Die sehr schlichte Behauptung, es bestünden organisatorische Schwierigkeiten, den Unterricht nach Geschlechtern zu trennen, verfängt nun ganz offensichtlich nicht, da ja andere Bundesländer bzw. Jahrgangsstufen so verfahren. So bleiben die Entscheidungen zum Schwimmbadfall auch unter dieser Perspektive ein kulturell unfreundlicher Akt, der Integration als Anpassung missversteht, weil er die personal-konkrete Basis des Erziehungsvorgangs in der Schule des Grundgesetzes nicht verstanden hat und so die verfassungsrechtlichen Anforderungen verfehlt. Zwei Aspekte gilt es hinzuzufügen. Zum einen macht die Gegenprobe das hier gefundene Ergebnis aus praktischen Gründen geradezu zwingend: Denn ansonsten wäre der Hebel gefunden, mit dem Schulleiter endlich ihre Klientel steuern könnten. Scheinbar ohne Ansehen der Person könnte ein religionsunfreundliches, wahlweise auch religionsfreundliches oder anderswie bestimmtes Profi l festgelegt werden, dass zur nötigen Abschreckung nicht gewünschter Interessenten beiträgt. Das kann nicht richtig sein, weil es in unerträglicher Weise ein Schulprogramm zur Fassade ganz anderer Zielstellungen machen würde. Und schließlich: Es gilt nicht, die Kapitulation der gemeinsamen Schule zu erklären. Unterricht erfordert Begegnung, eine Bur64 65
Dazu Hesse (Anm. 12) Rn. 72. VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. 5. 2009, Az. 18 L 695/09, juris Rn. 32.
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ka oder Vollverschleierung etwa ist daher unzulässig, und auch die Teilnahme an allen Unterrichtsfächern und Schulveranstaltungen muss durchgesetzt werden und darf nicht durch einfaches Nachgeben ausgehöhlt werden. Wenn die Schule der gemeinsame gesellschaftliche Ort bleiben und eine ethnische Schulsegregation vermieden werden soll, wird die Abschichtung von zumutbaren und unnötigen Anpassungsleistungen statt der hier eingeforderten Unterwerfungsgeste nottun. Auch unter emanzipativen Gesichtspunkten gilt es deshalb, Schule als gemeinsamen Ort zu erhalten. Die Ausweichbewegung in Privatschulen oder Staatsschulen mit eingeschränkten Bildungsabschlüssen nützt jedenfalls gerade auch den muslimischen Mädchen weniger als die verständnisvolle, aber auch in der Begegnung herausfordernde allgemeine Schule, die Koedukation und Liberalität nicht als Kampfprogramm versteht, sondern gegenseitige Achtung eines unterschiedlichen Herkommens zum Arbeitsprogramm erhebt.
5. Zwischensumme: Religion – (noch immer) Bewährungsprobe des Bildungsstaats Religion ist der klassische Konfl iktfall des öffentlichen Schulwesens. Der deutsche Verfassungsstaat hat dabei bisher den Weg der Integration gewählt: Die Integration kirchlich-religiöser Belange überhaupt (um das Privatschulwesen begrenzt zu halten) wie die Integration der Konfessionen (um nach der Durchmischung nach den Kriegen eine neue Segregation in Bekenntnisschulen zu verhindern).66 Mit einer Verzögerung von 30 Jahren hat das Bildungsrecht nun seit einiger Zeit die Integration religiöser Pluralität als Fortführung dieses Modells – oder eben als sein Ende – zu bewältigen. Zu schildern war hier zunächst, dass die Staatsschule und die Rechtsprechung aktuell mit einer neuartigen Verengung reagieren: Während früher unterschiedliche Belange in das System integriert wurden und (jedenfalls im Modell) allen Seiten eine praktische Konkordanz mit den Belangen Andersdenkender abverlangt wurde,67 wird religiöse Freiheit heute „privatisiert“ und aus dem Lebensraum Schule verdrängt, um auf einem geringeren Level Friedlichkeit zu gewährleisten. Der vorliegende Fall illustriert freilich das Problem: Eine verdeckte oder gar offene Bevorzugung angestammter Religionen ist von Verfassungswegen verboten. Damit ist die notwendige Folge aber, dass die Religion insgesamt an Raum in der Schule verliert. Nun mag dieser Umstand nicht allseits als Problem einleuchten – zumal es einen schmalen Grad zwischen Freiheitsschutz und hohlem Privileg gibt. Deswegen gilt es auf die tieferliegende Substanz des Vorgangs zu schauen: Die religiöse Neutralisierung steht als Musterbeispiel für die Rücknahme der personalen Anteile, für die Verdrängung des „Schüler- und Elternanteils“, den einzubeziehen doch gerade der Kerngedanke des neuen, grundrechtsorientierten Bildungswesens war. Damit ist die Frage der Religion der Spiegel einer allgemeinen Entwicklung. Diese führt pointiert formuliert zu einer Konzentration auf oberflächliche Lernzielerreichung nach An66
H. Wißmann, Allgemeines Schulwesen (Anm. 9), S. 10 ff., 27 ff. Am deutlichsten in den Entscheidungen zur Gemeinschaftsschule, zur Sexualkunde und zum Schulgebet, BVerfGE 41, 29, 65, 88; 47, 46; 52, 223 ff. 67
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passung. Dem Bildungswesen droht, dass es sich nunmehr von personaler Interaktion als Ziel verabschiedet und die Messbarkeit kurzfristig erlangter Qualifi kationsmerkmale zum Maßstab von Schulerfolg nimmt.68 Hier erreicht die vorliegende Frage als Teil einer Gesamtschau dann noch einmal allgemeine Relevanz: Es geht eben nicht nur um den Schutz des Außenseiters – obwohl dies für die Grundrechte eine vornehme und unverzichtbare Aufgabe ist. Sondern die Grundrechte wirken in der öffentlichen Schule als Ausgangspunkt und Zielstellung, nicht als lästige Grenze eines ansonsten frei vagabundierenden exekutiven Gestaltungswillens. Das Bildungswesen steht – so ist an dem vorgetragenen Beispiel pars pro toto zu sehen – an einer Schwelle, an der veräußerlichte Professionalität zum Kennzeichen des Verwaltungsstaats zu werden droht. Hier ist es Aufgabe der Verfassungslehre, auf die innere Kohärenz von Freiheit und demokratischer Staatlichkeit hinzuweisen, und also die Vielzahl zulässiger Modelle von „Schule und Religion“ auf ihre verfassungsstaatliche Stimmigkeit zu überprüfen sowie auf die jeweils entstehenden Folgelasten hinzuweisen.69 Nur so bleibt Bildung als großartige Aufgabe in zulässiger Weise im Zentrum des Verfassungsstaats, wo sie hingehört. Andere Wege, die zur Anpassung zwingen wollen, weisen im Ergebnis in die getrennten Welten von Parallelgesellschaften, deren veräußerlichte Freiheit dann keinen Weg mehr zurück in die Mitte des Gemeinwesens findet.
IV. Schluss: Fünf Thesen zur Zukunft der Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat 1. Bildung ist für den freiheitlichen Verfassungsstaat Voraussetzung seiner Existenz: Die Gestaltung der öffentlichen Ordnung nach dem Willen der Bürger und unter Achtung ihrer gleichen Rechte setzt nachhaltig erworbenes Wissen und die Fähigkeit zur Mitgestaltung voraus. Ohne Bildung wird Demokratie zur Fassade, der Rechtsstaat zum elitären Privileg, der Sozialstaat Ruhigstellung der Beherrschten. Nur durch einen leistungsfähigen Bildungssektor wird der Verfassungsstaat zum generationen68 Das Zentralabitur, das inzwischen praktisch fl ächendeckend eingeführt worden ist, ist der strukturelle Ausweis dieser Haltung: Nicht mehr die in Oberstufenkursen über einen längeren Zeitraum ermittelte Studierfähigkeit, die von akademisch ausgebildeten Gymnasiallehrern je individuell beurteilt wird, sondern die standardisierte Abfrage von Basiswissen ist in den Mittelpunkt der Abiturprüfungen gerückt. Dies mag, so ist zuzugeben, in vielen Fällen notwendige Gegenbewegung gegenüber amtsvergessener Beliebigkeit gewesen sein. Zugleich ist aber doch auch festzuhalten: Echte Studierfähigkeit wird nicht durch, sondern bestenfalls trotz des Zentralabiturs erreicht, wenn sich Bildung nicht auf halten lässt durch die Hetze eines eng gesteckten und fremdbestimmten Lehrplans. 69 Musterbeispiel bleiben insofern die Ausgestaltungsmöglichkeiten nach der Kopftuchentscheidung des BVerfG (BVerfGE 108, 282): Offensichtlich unzulässig, wenn auch geduldet, ist zunächst die Privilegierung der christlichen Religion, was durch die Verbrämung der Kreuze als Kulturstaatssymbol in unwürdiger Weise kaschiert wird. Möglich wäre dann sowohl die generelle Rücknahme religiöser Symbole als auch die Entscheidung über die praktische Konkordanz im Einzelfall (so auch BVerfGE 108, 282 (309)). Und insofern ist im vorgenannten Sinn darauf hinzuweisen, dass die Einzelfallentscheidung die besseren Gründe für sich hat, weil sie die Tiefenstruktur des freiheitlichen Bildungswesens im Verfassungsstaat besser erfasst und die damit verbundenen Einschränkungen zurecht auf eine zweite (Pfl ichten-)Ebene verlegt.
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übergreifenden Kontinuum. Der Zugang zur umfänglichen Bildung als individuelles Recht steht daher nicht zur Disposition des notleidenden „Leistungsstaats“. 2. Der tatsächliche Zuschnitt und die Qualität von Bildung müssen in erster Linie politisch verantwortet werden. Die „Bildungsverfassung“ im supranationalen und föderalen Mehrebenensystem kann die Ausgestaltung des Bildungswesens nicht vorwegnehmen. Daher sind der Wettbewerb und die Vielfalt der Ansätze kein Mangel – sie bewahren vielmehr vor doktrinärer Systemgläubigkeit an erreichte Lösungen. Fragen der äußeren Schulorganisation bleiben daher – zum Schrecken aller Reformer – stets vorläufige Entscheidungen zweiter Ordnung. 3. Der von Verfassungswegen vorgegebene, verbindliche Kern der Bildung im öffentlichen Sektor liegt in der Achtung der Kinder- und Elternrechte: Weil insbesondere die Grundrechte „immer schon da“ sind und die Fähigkeit zum mündigen Grundrechtsgebrauch zugleich „immer erst geschaffen“ werden muss, kann Erziehung und Bildung nur konkret-personal verantwortet werden. In dieser pädagogischen wie verfassungsrechtlichen Dialektik liegt eine Grenze für Veräußerlichungen des Bildungsbetriebs, die sich in Vollzugs- oder Wettbewerbsszenarien verlieren. Die Stärkung pädagogischer Freiheit im Unterricht (einschließlich der damit verbundenen Pfl ichten) statt äußerer Autonomie der Schulen bleibt daher das Gebot der Stunde. 4. Die Ausweitung höherer Bildungsgänge und die Verkürzung der Bildungszeiträume fordern einen Preis: Es droht die Veräußerlichung des „Bildungsbetriebs“ bei Schwächung der inneren Substanz. Vor dem verfassungsrechtlichen Leitbild ist aber die „Produktion“ von oberflächlichem Wissen und aussagelosen Abschlüssen ein Irrweg. Im letzten ist sie insbesondere a-sozial: Denn gleichgemachte Bildungsabschlüsse verhindern Aufstieg durch Leistung, weil gekaufte Zusatzqualitäten dann über Zugangschancen entscheiden; deutlich erkennbar ist dies bereits in vielen Feldern der Universitätsbildung. Gefordert ist materielle Chancengleichheit – eine freie Gesellschaft muss dann aber auch Unterschiede im Ergebnis von Bildungsanstrengungen ertragen können und nicht verdecken. 5. Bildung wird in der Informationsgesellschaft immer mehr zum Zentrum staatlicher Tätigkeit. Gerade deshalb muss sie erkennbar und begrenzt bleiben. Die Erziehung des Bürgers außerhalb der Institutionen bleibt die große Versuchung des paternalistischen Staates, der gutes Leben anordnet, statt auf Freiheit zu vertrauen.
Der Rechtsstaat und sein Henker* Gezieltes Töten als Mittel der Terrorbekämpfung von
Prof. Dr. Kirsten Schmalenbach, Universität Salzburg I. Einleitung Im Jahre 795 n. Chr. erzählt Paulus Diakonus in seinem Werk Historia Langobardorum von einer bemerkenswerten Tat des Frankenherrschers Pippin des Mittleren, Urgroßvater Karls des Großen.1 Pippin, so berichtet der Mönch, habe sich mutig den Angeln in den Weg gestellt, die – von der britischen Insel kommend – durch das Frankenland auf dem Weg nach Rom waren. Er habe sogar mit nur einem Gehilfen des Nachts den Rhein überquert, um den Anführer der Angeln und sein Gefolge in ihrer Behausung, d. h. in den Schlafgemächern, zu töten. 800 Jahre später, im Jahr 1625, erwähnt Hugo Grotius den Bericht des Mönches in seinem epochalen Werk „De jure belli ac pacis libri tres“2. Für Grotius ist Pippins nächtlicher Ausflug ein Beleg dafür, dass das Recht der Natur und das Recht der Völker das Töten eines Feindes überall erlauben, d. h. auch außerhalb des Schlachtfeldes durch einen gezielten Mordanschlag. Dieser Mordanschlag ist zumindest dann erlaubt, wenn man dem getöteten Feind keine Treue schuldet. Treue schuldete die USA dem mutmaßlichen Al Qaida-Mitglied Ali al-Harithi keinesfalls. Al-Harithi wird von der CIA verdächtigt, im Jahr 2000 die treibende Kraft hinter dem Sprengstoffanschlag auf das US-Kriegsschiff USS Cole gewesen zu sein. 17 Marines kamen damals ums Leben3. Zwei Jahre nach dem Attentat, am 3. November 2002, fährt Al-Harithi in einem zivilen PKW zusammen mit fünf Be* Antrittsvorlesung an der Universität Salzburg, Rechtswissenschaftliche Fakultät, gehalten am 10. Dezember 2010. 1 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, Libri VI, S. 326 f. 2 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, Book III, Chapter 4, S. 653 f.; durch Diaconus Verweis auf Pippin und dessen Sohn Karl geht Grotius fälschlicherweise davon aus, es handle sich um Pippin den Jüngeren, Vater Karls des Großen; zeitlich kommt jedoch nur Pippin der Mittlere in Frage, dessen nicht so berühmter Sohn Karl Martell der Großvater von Karl dem Großen war. 3 Noam Lubell, Extraterritorial Use of Force against Non-state Actors, 2010, S. 177; Report to the Committee on Foreign Relations, United States Senat, Al Qaeda in Yemen and Somalia: a ticking Time Bomb, 111th Congress, 2nd Session, January 21, 2010, S. 3.
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gleitern auf einer Wüstenstrasse im Jemen, als eine unbemannte CIA-Drone eine Rakete auf seinen Wagen abfeuert. Alle Insassen sind sofort tot4. Der damalige stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz lobt den Einsatz als erfolgreiche Militäroperation.5 Die schwedische Außenministerin Anna Lindh zeigt sich weniger enthusiastisch: Die Aktion sei eine „menschenrechtswidrige Massenexekution“ gewesen.6 Es lohnt sich nicht, Hugo Grotius zu konsultieren, um zu klären, ob die Tötung von Al-Harithi ein erlaubter Militäreinsatz gegen einen Feind der USA war. Das Völkerrecht hat sich seit dem 17. Jahrhundert erheblich weiterentwickelt. Die Militärstrategie des Frankenherrschers Pippin scheint dagegen die Jahrhunderte überdauert zu haben. Die USA7, das Vereinigte Königreich8, Israel9 und Russland10 bekennen sich heute offen zum gezielten Töten von Terrorverdächtigen.11 Insgesamt ist zu beobachten, dass sich nach den Anschlägen vom 11. September immer mehr Staaten zu einer Sicherheitsstrategie bekennen, die das gezielte Töten mit umfasst. Das „gezielte Töten“ im Sinne dieser Sicherheitsstrategie bezeichnet den Einsatz von tödlicher Gewalt durch Staatsorgane oder durch Private, die im Auftrag des Staates handeln12. Die staatliche Gewalt richtet sich gegen genau identifizierte Personen, mit dem Ziel, eben diese zu töten. Anders als es die Kritik von Außenministerin Anna Lindh13 vermuten lässt, handelt es sich dabei aber nicht um Hinrichtungen im Rechtssinne, da sich die anvisierten Personen zum Zeitpunkt der Tötungshandlung nicht im Gewahrsam des gewaltanwendenden Staates befinden. Bei der hier untersuchten Praxis sind die Opfer in Freiheit – man könnte sagen in freier „Wildbahn“; sie gehen also ihrem Berufs- oder Privatleben nach, oder entfalten gerade jene Aktivitäten, weswegen sie im Fadenkreuz des Staates stehen. Das so defi nierte „gezielte Töten“ von Terrorverdächtigen wirft die Frage auf, ob das Völkerrecht des 21. Jahrhunderts diese Praxis erlaubt. Es kann nicht verwundern, 4 Siehe zur „Jagd“ auf Al-Harithi: Micah Zenko, Between Threats and War – U. S. discrete military operations in the post-cold war world, 2010, S. 84 f. 5 Zenko (Fn. 4) S. 87; Jack M. Beard, The Presidency and Building a Coalition to Wage a War on Al Qaeda and the Taliban Regime, in: Robert W. Watson [ed.] White House Studies Compendium, Vol. 4, 2007, S. 140. 6 Brian Whitaker, Killing probes the frontiers of robotics and legality, The Guardian, 6. November 2002. 7 BBC, US Drones Take Combat, 5.November 2002; Council of Europe, Secret Detentions and Illegal Transfers of Detainees Involving Council of Europe Member States, Bericht vorgelegt von Dick Marty, Dok, 11302 Rev. ( Juni 2007), Ziff, 58–64. 8 Nils Melzer, Targeted Killing in International Law, 2008, S. 22 f. 9 Presseerklärung vom 15. November 2000, Colonel Daniel Reisner, IDF Legal Division, abruf bar unter http://www.mfa.gov.il. 10 Federal Law No. 35-FZ on Counteracting Terrorism (2006), abruf bar unter http://www.legislationline.org/topics/country/7/topic/5. 11 Siehe hierzu Philip Alston, Bericht des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Addendum, Studie über gezielte Tötungen, Generalversammlung der Vereinten Nationen, Menschenrechtsrat, 14. Tagung, Tagesordnungspunkt 3, 28. Mai 2010, UN Doc. A/HRC 14/24/Add.6, S. 6 Rn. 13 f. (Israel), S. 7 Rn. 18 f. (USA) und S. 9 Rn. 23 f. (Russland). 12 Siehe etwa Alston (Fn. 11) S. 4 f.; für eine umfassende Defi nition des gezielten Tötens siehe etwa Melzer (Fn. 8) S. 4 ff. 13 Nachweis in Fn. 6.
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dass Juristen diese Frage nicht pauschal mit ja oder nein beantworten, sondern mit ihrem Lieblingssatz: „Es kommt darauf an!“ Die rechtliche Beurteilung ist in der Tat komplex und vor allen Dingen situationsabhängig.
II. Gezieltes Töten als Mittel der Rechtsdurchsetzung Die Praxis des gezielten Tötens – dieser unschöne Begriff hat sich im Völkerrecht als terminus technicus eingebürgert14 – fi ndet in allen Staaten der Welt statt und zwar im Rahmen von Exekutivmaßnahmen, insbesondere Polizeieinsätzen als Mittel der Rechtsdurchsetzung.15 Um ein Beispiel zu geben: 1988 observierten britische SAS Beamte drei mutmaßliche IRA Terroristen. Es lagen Geheimdienstinformationen vor, diese planten in Gibraltar ein Attentat durch eine Autobombe und trügen einen dazugehörigen Zünder am Körper. Erst in Gibraltar sollte der polizeiliche Zugriff erfolgen. Als die mutmaßlichen Terroristen allerdings unmittelbar vor der Verhaftung verdächtige Bewegungen machen, eröffnen die SAS Beamten das Feuer und töten die drei aus nächster Nähe; erst im Nachhinein stellte sich dann heraus, dass sie weder Waffen noch einen Zünder bei sich trugen.16 Die völkerrechtliche Bewertung derart tödlicher Polizeieinsätze beginnt mit den internationalen Menschenrechten, genauer mit dem Recht auf Leben. Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bindet den staatlichen Eingriff in das Recht auf Leben an strenge Voraussetzungen. Liegt die Tötungshandlung in der Vollstreckung einer Todesstrafe, die gesetzlich vorgesehen und durch ein Gericht verhängt wurde, dann liegt keine Menschenrechtsverletzung vor17, es sei denn, der Staat hat das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ratifiziert18. Abgesehen von diesen Fällen darf die Tötung eines Menschen gem. Art. 2 EMRK durch staatliche Organe, nur aus drei Gründen erfolgen, die in Art. 2 EMRK abschließend genannt werden: 1. um eine Person – z. B. eine Geisel – gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; 2. um eine Person festzunehmen oder an der Flucht zu hindern, vorausgesetzt die Freiheit wird bzw. wurde dieser Person rechtmäßig entzogen, oder 3. um eine Aufruhe oder einen Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen. Aber selbst wenn mit der staatlichen Tötungshandlung eines dieser drei legitimen Ziele verfolgt wird, so muss die Tötung dennoch ultima ratio sein, d. h. absolut notwendig, und sie darf nicht unverhältnismäßig im Lichte der abzuwendenden Bedrohung erscheinen19. Der Einsatz der britischen SAS Beamten in Gibraltar, der als McCann Fall in die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 14
Vgl. Nils Melzer (Fn. 8), S. 5 mit einer Zusammenstellung von Defi nitionen anderer Autoren in
Fn. 8. 15
Ibid, S. 9. EGMR, McCann, Farrell and Savage v. The United Kingdom, Application No. 18984/91, Urteil vom 27. 09. 1995, S. 4 ff. 17 Hubert Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihr Zusatzprotokoll in Einwirkung auf das deutsche Recht, 1965, S. 80. 18 Vgl. Harald Eberhard, Recht auf Leben, in: Gregor Heissl [Hrsg.], Handbuch Menschenrechte, 2009, S. 84, Rn. 4/9. 19 UNDoc A/61/311, Ziff. 33–45. 16
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einging20, hat den ultima ratio-Test nicht bestanden: Da die Beamten trotz ihrer Informationsstandes den mutmaßlichen Terroristen tatenlos bis nach Gibraltar folgten – also bis zum Ort des geplanten Attentates – erachtet der Gerichtshof die Tötungshandlung in der selbst provozierten Gefahrenlage als nicht absolut notwendig, da sie nicht der einzige Ausweg war21. Ein so strikt verstandenes Menschenrecht auf Leben lässt den tödlichen Einsatz der CIA Drone im Jemen in einem wahrlich schlechten Licht erscheinen. Auch wenn die USA nicht an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden ist, so hat sie doch den Internationalen Pakt für Bürgerliche und Politische Rechte ratifiziert22 : In wesentlich kargeren Worten wird dort in Art. 6 das willkürliche Töten von Personen durch staatliche Organe als menschenrechtswidrig gebrandmarkt. Dem Adjektiv „willkürlich“ kommt dabei eine bedeutende Rolle zu: Nach der Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses ist das vorsätzliche Erschießen von Verdächtigen ohne Warnung und ohne Vorliegen einer akuten Gefahrensituation eine willkürliche Tötung und damit ein Verstoß gegen Art. 6 des Internationalen Paktes.23 Trotz dieser sehr klaren Vorstellungen des Menschenrechtsausschusses zeigt aber gerade der Jemen-Fall, dass das gezielte Töten von mutmaßlichen Terroristen nicht so ohne weiteres unter den internationalen Menschenrechtsschutz zu subsumieren ist: Al-Harithi ist im Jemen getötet worden; es handelte sich also um eine sog. extraterritoriale Operation 24 der USA.
III. Der europäische Menschenrechtsschutz bei extraterritorialen Tötungshandlungen Die Praxis extraterritorialer Antiterror-Operationen ist keineswegs selten! So sind beispielsweise in Pakistan seit 2004 ca. 200 CIA Drohnen-Angriffe gegen mutmaßliche Terroristen geflogen worden, die mindestens 1300 Todesopfer forderten, die meisten davon Zivilisten. Die Drohnen-Flotte lenkt die CIA von Langley, Virginia aus, wobei US Piloten am Einsatzort den Start und die Landung der Drohnen kontrollieren.25 Aber nicht nur die USA, auch europäische Staaten wenden außerhalb 20 EGMR, McCann, Farrell and Savage v. The United Kingdom, Application No. 18984/91, Urteil vom 27. 09. 1995. 21 EGMR Mc Cann (Fn. 20), S. 53, Rn. 213. 22 Georg Nolte, Messias oder Machiavell? Die Menschenrechtspolitik der USA, in: Georg Nolte/HansLudwig Schreiber [Hrsg.], Der Mensch und seine Rechte, Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2004, S. 95. 23 Human Rights Committee, Baumgarten v. Germany, Communication No. 960/2000, CCPR/ C/78/D/960/2000, Rn. 6.2 und 9.4; Suárez de Guerrero v. Colombia, No. 45/1979, Rn. 13.1 ff.; K. Baboeram-Adhin, and J. Kamperveen et al. v. Suriname, Communication Nos. 146/1983 und 148– 54/1983, CCPR/C/21/D/146/1983 (1984), CCPR/C/OP/2 AT 5 (1990), Rn. 14.3 f.; Jiménez Vaca v. Colombia, Communication No.859/1999, CCPR/C/74/D/859/1999 Rn. 7.3; Bleier v. Uruguay, Communication No. 7/30, U. N. Doc. Supp. No. 40 (A/37/40) at 130, Rn. 14; Miango Muiyo v. Zaire, Communication No. 194/1985, CCPR/C/OP/2 at 219, Rn. 10; Arhuacos v. Colombia, No. 612/1995, CCPR/C/56/D/612/1995, Rn. 5.5; für die die Spruchpraxis des Interamerikanischen Menschenrechtskommission siehe Alejandre et al. v. Cuba, Case No. 11/589, 29 September 1999, Rn. 42. 24 Für die Defi nition von Exterritorialität siehe etwa Lubell (Fn. 3) S. 13 f. 25 Jane Mayer, The Predator War, The New Yorker, 26.Oktober 2009.
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ihres eigenen Staatsgebietes physische Gewalt an – nicht nur im Kampf gegen den Terror. Das wirft die Frage auf, ob die europäischen Staaten in dieser Situation an die Menschenrechte gebunden sind. Diese Frage mag auf den ersten Blick überraschen, sie hat aber ihre Berechtigung: Nach Art. 1 EMRK sind die Vertragsstaaten verpfl ichtet, allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die Konventionsrechte zu gewährleisten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner berühmten Bankovic-Entscheidung26 den Art. 1 EMRK in erster Linie territorial verstanden, d. h. die Vertragsstaaten sind vor allem auf ihrem eigenen Staatsgebiet an die EMRK gebunden.27 Weil die EMRK als regionales Instrument nicht auf der ganzen Welt Heil bringen kann, müsste – so der EGMR – bei extraterritorialen Aktionen eine Lücke im europäischen Menschenrechtschutz hingenommen werden. Mit diesem Argument verneinte der Gerichtshof die Anwendbarkeit der EMRK auf die NATO-Bombenabwürfe über der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien.28 Die Rechtsprechung des EGMR ist allerdings im Detail zu komplex, um das extraterritoriale Töten mit der Bankovic-Rechtsprechung aus dem Anwendungsbereich der EMRK zu verbannen. Übt nämlich der gewaltanwendende Vertragsstaat effektive Kontrolle über das fremde Territorium aus, insbesondere im Rahmen einer militärischen Besetzung, ist er an die EMRK gebunden (sog. Loizidou Rspr.).29 Dasselbe gilt, wenn der Vertragsstaat extraterritorial hoheitliche Gewalt mit Einwilligung des Territorialstaates ausübt,30 oder wenn er – ohne die Einwilligung – eine militärische Aktion auf dem fremden Territorium durchführt und die Bodentruppen auf diese Weise zumindest temporäre Kontrolle über fremdes Gebiet erlangen (sog Issa Rspr.) 31. Und schließlich sind die Vertragsstaaten immer dann an die EMRK gebunden, wenn sie auf einem fremden Territorium Personen in Gewahrsam nehmen (sog. Öcalan Rspr.) 32. Die einzelnen Puzzlestücke ergeben nun folgendes Gesamtbild: Da der Einsatz ferngesteuerter Drohnen keine militärische Operation auf dem Boden verlangt, wird zu keinem Zeitpunkt effektiv Kontrolle über das Territorium oder die getötete Person ausgeübt. Die einzige Möglichkeit, die Bindung des gewaltanwendenden Vertragsstaates an die EMRK zu argumentieren, wäre die Einwilligung des Territorialstaates in die Drohnen-Operation. In diesem Fall wäre das gezielte Töten eine Maßnahme der hoheitlichen Rechtsdurchsetzung, die üblicherweise durch den 26
EGMR, Bankovic and Others v. Belgium and Others, Entscheidung vom 12. 12. 2001, App. No. 52207/99, EuGRZ 2002, S. 133 f. 27 Siehe Fn. 26, para 18. 28 EGMR, Bankovic and Others v. Belgium and Others, Fn. (26); siehe hierzu auch Elisabeth Strüwer, Zum Zusammenspiel von humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten am Beispiel des Targeted Killing, 2010, S. 154 f. 29 EGMR, Loizidou v. Turkey, App. No. 15318/89, Urteil vom 23. März 1995 (Preliminary Objections), Rn. 62. 30 EGMR, Bankovic and Others v. Belgium and Others (Fn. 26) Rn. 71; s. dazu auch Gerhard Thallinger, Extraterritoriale Anwendbarkeit, in: Gregor Heissl [Hrsg.], Handbuch Menschenrechte, 2009, S. 54, Rn. 2/12. 31 EGMR, Issa and others v Turkey, Appllication No. 31821/96, Urteil vom 16. November 2004, Rn. 74. 32 EGMR, Öcalan v Turkey, Application No. 46221/99, Urteil vom 12. Mai 2005, Rn. 91.
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Territorialstaat vorgenommen wird. Dessen Einwilligung in die Operation könnte also dem Drohnen-lenkenden Staat Herrschaftsgewalt i. S. d. Art 1 EMRK vermittelt. An dieser Stelle ist aber in faktischer Hinsicht Vorsicht geboten: Staaten wie Pakistan und Jemen werden schon aus innenpolitischen Gründen nie offen zugeben, dass sie Personen auf ihrem Territorium zu Abschuss freigeben. Läßt sich also die Einwilligung nicht nachwiesen, fallen vereinzelte extraterritoriale Drohnen-Angriffe nach bisheriger EGMR Rechtsprechung nicht unter die EMRK, es sei denn, der Vertragsstaat, der die tödliche Gewalt einsetzt, hat auf die eine oder andere Weise effektive Kontrolle über das fremde Territorium oder die getötete Person. Wenn, wie berichtet, die britische Royal Air Force eine kleine Flotte an unbemannten Reaper-Drohnen einsetzt, um ausgesuchte Personen in Afghanistan anzugreifen, dann wird hier jedenfalls die EMRK anwendbar sein: Die permanente Präsenz der britischen Armee in Afghanistan und die Einwilligung der afghanischen Regierung in die Ausübung von Hoheitsgewalt erfüllen die vom EGMR aufgestellten Anforderungen des Art. 1 EMRK.33 Ist der Anwendungsbereich der EMRK eröffnet, bleibt den Vertragsstaaten nur die Möglichkeit, den öffentlichen Notstand i. S. d. Art. 15 EMRK zu erklären.34 Nach dem 11. September hat der EGMR die kontinuierliche Terrorbedrohung als eine Notstandssituation i. S. d. Art. 15 EMRK anerkannt 35. Eine Derogation von Konventionsrechten ist also gestattet.36 Erklärt ein Vertragsstaat, dass er aufgrund der konstanten Terrorbedrohung Art. 2 EMRK – das Recht auf Leben – derogiere, dann sind nach Art. 15 EMRK gezielte Tötungshandlungen immer dann erlaubt, wenn sie nach humanitärem Völkerrecht rechtmäßig sind.37 Daraus ergibt sich zugleich, dass das Recht auf Leben nur dann derogiert werden kann, wenn eine Situation vorliegt, in der das humanitäre Völkerrecht tatsächlich anwendbar ist. Es reicht also nicht aus, dass die konstante Terrorbedrohung einen öffentlichen Notstand schafft; es muss vielmehr ein bewaffneter Konfl ikt im Sinne des humanitären Völkerrechts vorliegen. Interessanterweise hat bislang kein Vertragsstaat der EMRK mit einer derartigen Begründung eine Derogationserklärung abgegeben, auch nicht die Briten. Der Notstand muss natürlich nicht erklärt werden, wenn im Lichte der Bankovic Entscheidung38 die EMRK ohnehin auf den extraterritorialen Sachverhalt nicht an33 Die Frage der Anwendbarkeit des Paktes für Bürgerliche und Politische Rechte in Afghanistan ist zumindest für Deutschland geklärt: Die Anwendbarkeit dieses Vertrages wurde von der Deutschen Bundesregierung mit Notifi kation an den Menschenrechtsausschuss vom 5. Januar 2005 akzeptiert, siehe dazu Eckhart Klein, Der Schutz der Grund- und Menschenrechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: Merten/Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band VI/1, Europäische Grundrechte 1, 2010, S. 624, Rn. 59. Hinsichtlich der Anwendbarkeit der EMRK siehe etwa EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Application no. 61498/08, 30 June 2009, S. 38, Rn. 84 ff., insbes. Rn. 89. 34 EGMR, Brogan and Others v. The United Kingdom, Urteil vom 20. November 1988, App. No. 11290/84, 11234/84, 11266/84, 11386/85, Rn. 48. Auch der ehemalige U. S.-Präsident Bush rief am 14. 9. 2001 den nationalen Notstand aus. Presidential Documents, Proclamation 7643 of September 14, 2001 „Declaration of National Emergency by Reason of Certain Terrorist Attacks“. 35 EGMR, A. and Others v. UK, Urteil vom 19. Februar 2009, App. No. 3455/05, Rn. 176. 36 Tilmann Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2010, S. 243. 37 Jörg Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten/Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band VI/1, Europäische Grundrechte 1 (Fn. 33], S. 496, Rn. 61. 38 EGMR, Bankovic and Others (Fn. 26), S. 133 f.
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wendbar ist.39 Die durch die restriktive EGMR-Rechtsprechung entstehende Lücke im europäischen Menschenrechtsschutz kann nur noch durch die universellen Menschenrechte geschlossen werden.
IV. Universeller Menschenrechtsschutz bei extraterritorialen Tötungshandlungen Der Internationale Pakt für Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR) ist ein möglicher Lückenfüller, wenn auch kein besonders durchsetzungsstarker. Er ist im Übrigen für die USA im Jemen Fall der entscheidende Menschenrechtsvertrag, der das willkürliche Töten verbietet. Sein Art. 2 regelt den Anwendungsbereich des Internationalen Paktes auf den ersten Blick eher eng: Er verlangt die Gewährleistung der Paktrechte gegenüber Personen, die sich auf dem Territorium des Vertragsstaates befi nden und die der Herrschaftsgewalt des Vertragsstaates unterworfen sind. Der Menschenrechtsausschuss, der mit der Überwachung des Internationalen Paktes betraut ist, hat allerdings aus dem kumulativ wirkenden „und“ ein „oder“ gemacht, das zwei Alternativen für eine Paktbindung eröffnet: Territorialgewalt oder Hoheitsgewalt.40 Dieser interpretative Kunstgriff ermöglicht es dem Menschenrechtsausschuss, den Pakt immer dann anzuwenden, wenn ein Vertragsstaat Herrschaftsgewalt über Personen ausübt und zwar egal, ob sich diese Personen auf seinem Territorium oder außerhalb befi nden. Der erweiterte Anwendungsbereich ratione loci ist freilich nicht unumstritten!41 Insbesondere die USA haben der „Uminterpretation“ des Art. 2 IPBPR nachdrücklich widersprochen.42 Der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) tendiert allerdings dazu, sich der weitreichenden Rechtsauffassung des Menschenrechtsausschusses anzuschließen.43 Vor allem hat der IGH in seinem Gutachten zum Einsatz von Nuklearwaffen aus dem Jahr 1996 eine denkwürdige Feststellung getroffen, die in vielerlei Hinsicht für das extraterritoriale Töten relevant ist. Der IGH betonte hier, dass das Verbot des Internationalen Paktes, willkürlich zu töten, auch während bewaffneter Feindseligkeiten gelte. Die Frage aber, was während eines bewaffneten Konfl ikts „willkürlich“ sei, müsse auf Basis spezieller Rechtsnormen beurteilt werden und das sei das humanitäre Völkerrecht.44 Diese apodiktische Feststellung des IGH verlangt ein paar erläuternde Worte: Da der Einsatz von Atomwaffen wohl selten mit der effektiven Territorialkontrolle des waffeneinsetzenden Staates einher geht, wird man dem IGH unterstellen müssen, dass er den Anwendungsbe39 Jörg Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten/Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band VI/1, Europäische Grundrechte 1 (Fn. 33], S. 496, Rn. 62. 40 Bernhard Schäfer, „Guantánamo Bay“, Status der Gefangenen und habeas corpus, Studien zu Grund- und Menschenrechten, Heft 9, 2003, S. 46. 41 Siehe etwa Michael J. Dennis, Application of Human Rights Treaties Extraterritorially in Times of Armed Confl ict and Military Occupation, AJIL 99 (2005), S. 119, 122. 42 Siehe dazu etwa Aniciée van Engeland, Civilian or Combatant? A Challenge for the 21st Century, 2011, S. 150. 43 Etwa in IGH, Legal Concequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 9. July 2004, ICJ Rep (2004) S. 136. 44 IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons (Advisory Opinion), 8. Juli 1996, ICJ Reports (1996) S. 226 (240).
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reich des Internationalen Paktes auf alle extraterritorialen Akte erstreckt. Damit ist das Verbot, Menschen willkürlich zu töten, von den Vertragsstaaten überall auf der Welt zu beachten und zwar auch während eines bewaffneten Konfl ikts, der auf einem fremden Territorium ausgetragen wird. Wie schon im Falle der EMRK können auch einige Menschenrechte des Internationalen Paktes nach Art. 4 IPBPR von den Vertragsstaaten temporär derogiert werden, wenn diese den öffentlichen Notstand erklären. Im Falle des Art. 6 Abs. 1 IPBPR – des Rechts auf Leben – erübrigt sich aber eine derartige Erklärung: Art. 4 IPBPR erklärt das Recht auf Leben für nicht-derogierbar und verbietet damit auch in Zeiten bewaffneter Konfl ikte das willkürliche Töten. Da aber bewaffnete Konfl ikte naturgemäß mit der Tötung von Menschen einhergehen, muss der Schutzbereich des Rechts auf Leben den Umständen angepasst werden. Diese Anpassung ermöglicht das Adjektiv „willkürlich“. Erlaubt das humanitäre Völkerrecht im Zuge eines bewaffneten Konfl iktes tödliche Gewalt, dann kann diese nicht „willkürlich“ im Sinne des Internationalen Paktes sein. Es kann also nicht verwundern, dass nahezu alle Staaten, die sich zur Sicherheitsstrategie des gezielten Tötens bekennen, besonders viel Energie darauf verwenden, die Rechtmäßigkeit ihrer Handlung nach dem humanitärem Völkerrecht aufzuzeigen45.
V. Gezieltes Töten im Lichte des humanitären Völkerrechts Der von den USA nach dem 11. September ausgerufene „War on Terror“46 richtet sich grundsätzlich gegen jede Terrorgruppen, die die USA und ihre Alliierten bedrohen,47 vor allem aber gegen AlQaida sowie deren Nebenorganisationen, Ableger und Helfershelfer.48 Da deren Aktivitäten nicht staatlich kontrolliert und gelenkt werden, hat der „Krieg gegen den Terror“ keinen zwischenstaatlichen Charakter, ist also kein internationaler Konfl ikt. Im Rahmen von nicht-internationalen Konfl ikten ist die Rechtmäßigkeit der tödlichen Gewaltanwendung in erster Linie auf Basis der wortgleichen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 (GA) zu beurteilen. Mit jeweils 194 Vertragsstaaten verlangen alle vier Genfer Abkommen weltweit Beachtung.49 Artikel 3 GA regelt sehr rudimentär den Mindestschutz in nicht-internationalen bewaffneten Konfl ikten. Die Norm verbietet Angriffe auf Personen, die nicht unmittelbar an den Feindselig45 Für die Rechtfertigungsargumentation der Bush-Administration für die USA siehe Anicée van Engeland, (Fn. 42), 2011, S. 150 f. 46 Herbert Wulf, Mit Militär gegen Terrorismus?, in: Bruno Schoch/Corinna Hauswedell/Christoph Weller/Ulrich Ratsch/Reinhard Mutz [Hrsg.], Friedensgutachten 2002, 2002, S. 150. 47 Siehe die Erklärung des Präsidenten Buch vor dem Kongress, Address to a Joint Session of Congress and the American People of 20 September 2001, wiedergegeben in Christopher Daase, Terrorismus: Der Wandel von einer reaktiven zu einer proaktiven Sicherheitspolitik der USA nach dem 11. September 2001, in: Christopher Daase/Susanne Feske/Ingo Peters (Hrsg.), Internationale Risikopolitik, BadenBaden 2002, S. 120. 48 Daase (Fn. 47) S. 113. 49 Da die Cook-Islands und der Heilige Stuhl die vier Genfer Abkommen ratifi ziert haben, allerdings nicht der UN beigetreten sind, übersteigt der Vertragsstaatenstand der Genfer Abkommen denjenigen der UN-Charta (von 192 Staaten ratifi ziert).
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keiten teilnehmen50. Anders gewendet erlaubt also Art. 3 GA, dass im Falle eines bewaffneten Konfl iktes Personen getötet werden, die unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligt sind. Die erste entscheidende Frage ist also, ob das gezielte Töten von mutmaßlichen Terroristen im Rahmen eines bewaffneten Konfl iktes zwischen der Terrorgruppe und dem gewaltanwendenden Staat stattfi ndet.51 Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da Terroranschläge in der Regel puktuelle Gewalttaten sind. Insofern ließe sich argumentieren, die Schwelle zum bewaffneten Konfl ikt sei bei Terroranschlägen regelmäßig unterschritten. In bezug auf diese Schwelle, die die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 3 GA ist, trifft das zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen in Art. 1 Abs. 2 eine sehr generelle Feststellung, die allerdings allgemein anerkannt ist: Fälle von inneren Unruhen und Tumulten sowie vereinzelt auftretender Gewalttaten können nicht als bewaffnete Konfl ikte im Sinne des humanitären Völkerrechts gelten, ganz egal wie hart der Staat zurückschlägt. Folglich muss der Konfl ikt zwischen den gewalttätigen Gruppen und dem Staat, damit er unter Art. 3 GA fällt, eine solche Intensität, Schwere und Dauer haben, dass die Situation objektiv nicht mehr mit den staatlichen Mitteln der Rechtsdurchsetzung zu bewältigen ist. Es ist durchaus denkbar, dass Terroranschläge einen solchen Schweregrad haben, dass sie zu einem bewaffneten Konfl ikt auswachsen52. Grundsätzlich aber zeichnen sich Terroranschläge durch eine sog. Nadelstichtaktik aus, die mal mehr, mal weniger Todesopfer fordern und die längere Ruhephasen kennt.53 Israel hat mit der Nadelstichtaktik militanter Palästinenser54 und der Hisbollah55 leidvolle Erfahrungen gemacht, ebenso wie die USA mit vereinzelten Angriffen auf US-Botschaften56 und Militärbasen57. Dagegen kann im Irak und Afghanistan schon lange nicht mehr von vereinzelten Anschlägen mit längeren Unterbrechungen geredet werden. Hier sind 50
ICRC, Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, Genf 2009, S. 994, abruf bar unter: http://www.icrc.org/eng/assets/fi les/ other/irrc-872-reports-documents.pdf. 51 Van Engeland (Fn. 42) S. 148. 52 Für die konkreten Erfordernisse dieser Annahme („a. if hostilities rise to a certain level and/or are protracted beyond what is known as mere internal disturbances or sporadic riots, b. if parties can be defi ned and identified, c. if the territorial bounds of the confl ict can be identified and defi ned, and d. if the beginning and end of the confl ict can be defi ned and identified“) siehe Gabor Rona, When is a war not a war? The proper rule of the law of armed confl ict in the ‘global war on terror’, ICRC, Statement of 16 March 2004, abruf bar unter: http://www.icrc.org/eng/resources/documents/misc/5xcmnj.htm; siehe ebenso van Engeland (Fn. 42) S. 147; Andrew Byrnes, More Law or Less Law? The Resilience of Human Rights Law and Institutions in the ‘War on Terror’, in: Miriam Gani/Penelope Mathew [Hrsg.], Fresh Perspectives on the „War on Terror“, 2008, S. 143. 53 Heiko F. Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, Die völkerrechtliche Zulässigkeit der gezielten Tötung von Terroristen im Ausland, 2007, S. 79. 54 Siehe etwa Kirsten Schmalenbach, Die Beurteilung von grenzüberschreitenden Militäreinsätzen gegen den internationalen Terrorismus aus völkerrechtlicher Sicht, NZWehrr 2000, S. 177, 181 f. 55 Zum Beispiel Victor Kottan, The Use and Abuse of Self-Defence in International Law: The IsraelHezbollan Confl ict as a Case Study, Yearbook of Islamic and Middle East Law 12 (2005–06), S. 31, 43 ff. 56 Zu den Anschlägen auf die US-Botschaften in Bali und in Karachi (Pakistan) siehe Friedrich Schneider/Bernhard Hofer, Ursachen und Wirkungen des weltweiten Terrorismus, 2008, S. 28. 57 Siehe hierzu Wolfgang Schreiber [Hrsg.], Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF), Das Kriegsgeschehen 2008, 2010, S. 112.
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die USA und ihre Verbündeten zweifelsohne in bewaffnete Konfl ikte verstrickt, zumal die Terroristen in diesen beiden Konfl ikten als organisierte „Freiheitskämpfer“ auftreten. Es gelingt aber nicht immer, jede terroristische Aktivität in dieser Welt mit den Kämpfen im Irak und Afghanistan in Verbindung zu bringen. Man denke nur an die Anschläge auf die Pendlerzüge in Madrid 200458 oder die Anschläge auf die Londoner U-Bahnen 200559. Die USA argumentieren, diese Gewalttaten seien Teile eines globalen bewaffneten Konfl ikts mit dem internationalen Terrornetzwerk, mit der Folge, dass das humanitäre Völkerrecht die Rechtsbeziehungen der beteiligten Konfl iktparteien beherrscht.60 Nach anderer Auffassung handelt es sich lediglich um vereinzelte Gewalttaten von Kriminellen, die von dem betroffenen Territorialstaat ausschließlich auf dem Boden der Menschenrechte zu verfolgen und zu bestrafen sind; 61 für Tötungshandlungen auf Basis des humanitären Völkerrechts wäre dann kein Raum. Allerdings ist zuzugestehen, dass seit 1992 eine enorme Anzahl von Terrorschlägen in den USA, Europa, dem Nahen Osten und Asien verschiedenen Al Qaida-Gruppen zugeschrieben wird. Hinzu kommen zahlreiche vereitelte Anschläge z. B. im Jahr 2000 auf den Straßburger Weihnachtsmarkt62. Unterstellt man, dass die Statistiken der Geheimdienste stimmen, dann ließe sich mit den USA durchaus argumentieren, dass die besonders betroffenen Staaten im Angesicht von geballten Terroraktivitäten in einen transnational ausgetragenen, bewaffneten Konfl ikt verstrickt sind.63 Aber wer genau ist die gegnerische Konfl iktpartei? Damit der sachliche Anwendungsbereich der Genfer Abkommen eröffnet ist, bedarf es nicht nur Kampf handlungen von einem gewissen Schweregrad, darüber hinaus müssen die Konfl iktparteien, denen die einzelnen Kampf handlungen zugerechnet werden, auch als solche identifizierbar sein. Letzteres ist bei einem Terrornetzwerk wie Al Qaida ein durchaus schwieriges Unterfangen. Das 2. Zusatzprotokoll zu den GA verlangt in seinem Abs. 1 Satz 2 von einer nicht-staatlichen Konfl iktpartei, dass sie minimal organisiert ist und unter einer verantwortlichen Führung operiert64. Wenn sie diese Voraussetzungen nicht erfüllt, dann ist nicht gewährleistet, dass die kämpfenden Elemente ihre Verpfl ichtungen aus den Genfer Abkommen erfüllen können. Das Minimalerfordernis von Organisation und Führung, also die Identifizierbarkeit der Gruppe, hat aber noch eine andere Bedeutung: Fehlt es nämlich an einem organisierten Zurechnungssubjekt für die örtlich verstreuten Anschläge, dann sind diese trotz ihrer Gesamtintensität im Ergebnis nur isolierte Einzeltaten, begangen von getrennt operierenden und allenfalls ideologisch verbundenen Kriminellen. Unter diesen Voraussetzungen gäbe es keinen globalen bewaffneten Konfl ikt zwi58 Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind, Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, 2005, S. 91 f. 59 Siehe Antje Glück, Terror im Kopf, Terrorismusberichterstattung in der deutschen und arabischen Elitepresse, 2008, S. 78. 60 Alston (Fn. 11), para 47, 53 f. 61 Strüwer, (Fn. 28), S. 70 ff. insb. S. 74. 62 Siehe hierzu Jan Reckmann, Außenpolitische Reaktionen der Europäischen Union auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, 2004, S. 3, mit weiteren Beispielen vereitelter Anschläge in Europa. 63 Alston (Fn. 11) S. 20. 64 Michael Bothe. in: Weltinnenrecht – Liber amicorum Jost Delbrück, S. 67 (78); Strüwer (Fn. 28) S. 80.
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schen den USA und Al Qaida, da Al Qaida lediglich ein Sammelbegriff für verschiedenste regional operierende Gruppen wäre, halb zweckdienliche Etikette, halb identitätsstiftender Mythos. Der UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Exekutionen Philip Alston hat im Mai 2010 eine Studie über die Praxis des gezielten Tötens erstellt.65 Er kam zu dem Schluss, dass die regionalen und überregionalen Al Qaida-Verbände, sowie die mit ihnen assoziierten Gruppen, sehr lose – wenn überhaupt – miteinander verbundenen sind. Es ist sogar oft zweifelhaft, ob überhaupt von einer Gruppenstruktur gesprochen werden kann! Manche Attentäter scheinen nur über Ideologie und Sendungsbewusstsein mit dem Namen Al Qaida verbunden zu sein.66 Berufen sich also die USA darauf, dass ihre Drohnen-Praxis in Pakistan und im Jemen dem humanitären Völkerrecht unterliegt, weil sie sich mit Al Qaida in einem globalen bewaffneten Konfl ikt befi nden67, dann müssen sie nachweisen, dass das Gros der gegen sie gerichteten Attentate einer organisierten und militärisch geführten Al Qaida-Organisation zuzuschreiben ist und die getöteten Personen für eben diese Organisation tätig waren. Das dürfte im Einzelfall eine schwere Beweislast sein, aber zumindest wird sich ein Teil der Terroraktivitäten in Pakistan mit dem bewaffneten Konfl ikt in Afghanistan in Verbindung bringen lassen, der von grenzüberschreitend organisierten Taliban und Al Qaida Gruppen geführt wird.68 Im Jemen-Fall aber ist der Bezug Al-Harithi’s und seiner jemenitischen Al Qaida-Gruppe zum Irak oder zu Afghanistan nicht herzustellen. Liegt also der Grund der Tötung von Al Harithi in der Zerstörung der USS Cole im jemenitischen Hafen von Aden und verbindet seine lokale Terrorgruppe mit anderen Al-Qaida Verbänden nur der Hass gegen die USA, dann war der CIA-Drohnen-Einsatz kein Fall des humanitären Völkerrechts, sondern schlicht eine menschenrechtswidrige Massenexekution – ganz so wie es die schwedische Außenministerin Anna Lindh sagte69. Aber auch die gezielten Tötungen in Pakistan, selbst wenn man sie aufgrund der Intensität der Kampf handlungen und der Identifizierbarkeit der Konfl iktparteien einem bewaffneten Konfl ikt im Sinne des Art. 3 GA zuordnet, sind nicht ohne weiteres völkerrechtlich erlaubt. Nicht jeder mutmaßliche Terrorist ist per definitionem ein zulässiges militärisches Ziel. Art. 3 GA bestimmt sehr pragmatisch, wer in einem nicht-internationalen bewaffneten Konfl ikt vor Tötungshandlungen geschützt ist, und wer nicht. Alle Personen, die unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, können ohne Verletzung des Völkerrechts im Rahmen des bewaffneten Konfl iktes getötet werden, alle übrigen sind geschützt. Art. 3 GA unterscheidet dabei nicht zwischen den Mitgliedern der irregulären Streitkräfte und Zivilisten: Da nicht-staatliche bewaffnete Gruppen nicht unbedingt eine formelle Mitgliedschaft kennen, würde diese Unterscheidung auch wenig Sinn machen. Art. 3 GA vertritt eine pragmatische Perspektive: Entscheidend ist allein, ob eine Person unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligt ist. Allerdings bereitet dieses Kriterium „unmittelbare Teilnahme“ 65
Nachweis in Fn. 11. Ibid, S. 55. 67 Vgl. Harold Koh, The Obama Administration and International Law, Keynote Address at the Annual Meeting of the American Society of Interantional Law (25. März 2010). 68 Bernadette Linder, Terror in der Medienberichterstattung, 2011, S. 90. 69 Nachweis in Fn. 6. 66
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bei terroristischen Aktionen durchaus Probleme, wie folgendes Beispiel veranschaulicht: Der radikal-islamische Hamas-Führer Mahmud Al-Mabhuh checkte im Januar 2010 in ein Luxushotel in Dubai ein, allerdings endete sein Aufenthalt recht früh mit seinem Erstickungstod.70 Die Vereinigten Arabischen Emirate verdächtigen den israelischen Geheimdienst Mossad, den Tod des Hotelgastes gewaltsam herbeigeführt zu haben. Al-Mabhuh wurde 20 Jahre lang von Israel gesucht, weil ihm die Entführung von zwei israelischen Soldaten im Jahr 1989 angelastet wird. Die Ermordung von Al-Mabhuh gehört zu den eher abenteuerlichen Varianten des gezielten Tötens; üblicherweise setzt das israelische Militär auf punktgenaue Luftangriffe, wie zum Beispiel in den Fällen der getöteten Hamas-Führer Adani im Jahr 2001, Shahadeh im Jahr 2002 und Sheikh Yassin im Jahr 2004 und Hamas-Funktionär Shahadah im Jahr 2008. Man kann sich durchaus mit dem Israelischen Supreme Court auf den Standpunkt stellen, Israel sei schon seit der ersten Intifada, also seit 1987, aber spätestens mit der 2000 beginnenden zweiten Intifada kontinuierlich in einem bewaffneten Konfl ikt mit verschiedenen Terrororganisationen, darunter auch die Hamas.71 Die Frage aber bleibt: Hat Al-Mabhuh während seines Aufenthalts im Luxushotel unmittelbar an Feindseligkeiten gegen Israel teilgenommen? Art. 3 GA erläutert leider nicht, was genau unter einer unmittelbaren Teilnahme an Kampf handlungen zu verstehen ist. Es kann also nicht überraschen, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) – der Hüter der Genfer Abkommen – ein enges Verständnis vertritt72. Nach dem Willen des IKRK sollen nur diejenigen Personen direkt an Feindseligkeiten teilnehmen, deren Handlungen unmittelbar kausal für Personen- oder Sachschäden beim Gegner sind.73 Das Entführen von Soldaten wird ebenso dazu gehören wie das Planen von Sprengstoffattentaten. Die bloße fi nanzielle Unterstützung von Terrororganisationen ist dagegen keine unmittelbare Teilnahme an terroristischen Aktivitäten. Daher verstößt die neue CIA-Strategie, Drogenbosse durch Drohnen gezielt zu töten, weil sie mit ihren Drogengeldern terroristische Aktivitäten in Afghanistan fi nanzieren, eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht. Es sind willkürliche Tötungen, die zugleich das Menschenrecht auf Leben verletzen. In anderen Fällen stellt sich die Frage, für welchen Zeitraum der Terrorist aufgrund seiner einmaligen Teilnahmehandlung – z. B. des Zündens einer Bombe – ein zulässiges Militärziel ist. Bleibt der Funktionär einer Terrororganisation auch dann ein legitimes militärisches Ziel, wenn er Monate nach dem Anschlag für seine Familie auf dem Markt Gemüse einkauft oder sich den Annehmlichkeiten eines Dubaier Luxushotels hingibt? Der Israelische Supreme Court befasste sich im Jahr 2006 eingehend mit dieser Frage und kam zu folgendem Ergebnis:74 Zwei Kategorien ergeben ein klares Bild, dazwischen liegt eine große rechtliche Grauzone: Die erste, eindeu70 Ulf Häusler, Gezieltes Töten: legale Methode der Kriegsführung?, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, vol. 4 2011/2, S. 195–204. 71 Supreme Court Israel, The Public Committee Against Torture in Israel v. Israel, Urteil vom 16. Dezember 2006 (HCJ 769/02), in: ILM 2007, S. 375 (381). 72 Siehe Fn. 50. 73 Nils Melzer (IKRK), Interpretive Guidance on the notion of direct participation in hostilities under international humanitarian law Guidance, 2009, S. 65 f. 74 Supreme Court Israel, PCATI v. Israel (Fn. 71), S. 393.
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tige Kategorie betrifft Personen, die früher unmittelbar an Terrorschlägen beteiligt waren, sich aber dann von diesen Aktivitäten losgesagt haben. Derartige Personen sind keine zulässigen Militärziele, wobei sich der geneigte Leser des Urteils fragt, wo der ehemalige Terrorist seinen Gesinnungswandel bekannt geben soll, ohne sein Leben oder seine Freiheit zu riskieren. Unter die zweite, eindeutige Kategorie fallen Personen, die mit kürzeren oder längeren Unterbrechungen immer wieder an Terroranschlägen teilnehmen. Da in diesem Fall die Zeit nach dem Attentat die Zeit vor dem Attentat ist, bleiben die Personen auch in ihrer inaktiven Zeit ein zulässiges militärisches Ziel. Der Israelische Supreme Court geht folglich davon aus, dass die Terroristen aufgrund ihrer fortdauernden Assoziierung in einer organisierten Terrorgruppe wie Mitglieder einer regulären Armee zu behandeln sind: Sie sind immer im Kampfeinsatz und daher auch immer ein zulässiges militärisches Ziel75. Lässt sich aber nicht ohne weiteres feststellen, wie die anvisierte Person derzeit zur Terrororganisation steht, muss das Militär nach dem Willen des Supreme Court sorgsam prüfen, ob sie dem Terrorismus abgeschworen hat. Im Zweifel ist die Person kein zulässiges militärisches Ziel.76 Generell verlangt der Gerichtshof, dass das gezielte Töten verhältnismäßig im Lichte des verfolgten Zieles ist. Ist also eine Verhaftung möglich, dann ist das Töten des Terrorverdächtigen nach humanitärem Völkerrecht unzulässig.77 Das Urteil des Israelischen Supreme Court hat dem gezielten Töten von mutmaßlichen Terroristen einen sichtbaren und definierten Rechtsrahmen gegeben. Bereits das ist ein großer rechtsstaatlicher Gewinn. Allerdings sei kritisch angemerkt, dass die These von der „konstanten Teilnahme an Feindseligkeiten kraft Bekenntnis“78 wohl mehr der Bewegungsfreiheit des Militärs und der Geheimdienste dient als dem Schutz von Zivilisten, die in den Dunstkreis der Terrorgruppe geraten sind. Die Tötung Al-Mabhuh’s im Dubaier Luxushotel Anfang des Jahres 2010 zeigt jedenfalls, dass sich der Kampf gegen den Terror rechtsstaatlich nur schwer zähmen lässt.
VI. Schlußbemerkung Das letzte und prominenteste Beispiel einer gezielten Tötung, das viel mediale Aufmerksamkeit fand, ist die Erschießung Osama Bin Ladens durch eine US-Eliteeinheit in Pakistan. Der Einsatz erfolgte am 2. Mai 2011, also vier Monate nach dieser Antrittsvorlesung. Auch dieser Fall ist ein weiteres Beispiel dafür, dass bei gezielten Tötungen die Tatsachengrundlagen nebulös sind und sich schon deshalb die Handlungen nur mit großem Argumentationsaufwand dem humanitären Völkerrecht zuordnen lassen. Außerdem nagt der Zweifel, ob mit der schnellen Tötung nicht ein langwieriges Gerichtsverfahren umgangen werden sollte. Die vielen, hier angeführten Beispiele von gezielten Tötungen zeigen jedenfalls eines in aller Deutlichkeit: Angesichts der globalen Terrorbedrohung befindet sich der Rechtsstaat in einem Notstand. Scheinbar schafft er es nicht, sich mit legalen Mitteln zu wehren. In 75 76 77 78
Ibid. Ibid. Ibid, S. 394. Ibid, S. 393.
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der Tat, die rechtsstaatlichen Verfahren vor nationalen Behörden und Gerichten sind lang, die internationale Kooperation ist schwierig, die Beweiserhebung oft unmöglich. Warum also nicht Gerechtigkeit und Sicherheit mit rechtswidrigen, aber effektiven Mitteln suchen? So wie Dürrenmatt’s Kommissar Bärlach, der als gerechter Richter seinen Henker entsendet, um den überlegenen Täter zumindest mit rechtswidrigen Mitteln zur Strecke zu bringen. Nun, die Antwort liegt auf der Hand: Weil der Rechtsstaat ein Rechtsstaat ist, und kein Unrechtsstaat.
„Alles, was wir geben mussten“ Die Inanspruchnahme der Leiblichkeit für andere* von
Prof. Dr. Heinrich Lang, Universität Greifswald I. Einleitung Mindestens vier Bücher sind in den letzten Jahren zum Thema der Inanspruchnahme von Leiblichkeit für andere – meist im Kontext von Klonen und Organspende – erschienen. 1997 Birgit Rabischs Werk Duplik Jonas 7, 2002 Nancy Farmers Skorpionenhaus, 2004 Jodi Picoults Roman „Beim Leben meiner Schwester“ und schließlich legte 2005 der in England lebende Japaner Kazu Ishiguro sein Buch „Alles, was wir geben mussten“ vor, von dem ich den Titel entlehnt habe. Bei allen handelt es sich um Kinder- bzw. Jugendbücher und das verwundert nicht: geht es doch, namentlich beim Klonen, vor allem ihnen an den Kragen. Auf zwei der Bücher will ich im Folgenden näher eingehen, genauer gesagt die juristischen Fragen diskutieren, die durch die in den Büchern erzählten Geschichten aufgeworfen werden und da auch meine Kinder anwesend sind, worüber ich mich ganz besonders freue, hoffe ich, dass es Ihnen (groß- und kleingeschrieben) und mir nicht so ergeht, wie beim – ich glaube vorletzten Mal – als meine Kinder eine Vorlesung von mir besuchten. Einer meiner Söhne, offensichtlich am Rande des Zumutbaren angelangt, warf sich mitten in der Vorlesung quer über den Tisch und stöhnte laut vernehmlich: „Ist das langweilig!“, was jedenfalls die Studenten mit anhaltender Heiterkeit quittierten. Mein Sohn aber, meine leichte Verzweiflung ob seiner Aussage spürend, suchte hinterher alles wieder gut zu machen, was ihn zu der – Sie kennen diese Art von entschuldigenden Einlassungen, die alles nur noch schlimmer machen – ernst gemeinten Frage veranlasste: „Papa, das war doch so langweilig, bist Du da nicht selber eingeschlafen?“. Nun, so schlimm, so hoffe ich jedenfalls, wird es heute nicht werden, was sicher auch an den erwähnten spannend geschriebenen Büchern liegt.
* Um Fußnoten ergänzte Fassung der am 16. Juni 2011 vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald gehaltenen Antrittsvorlesung.
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II. „Beim Leben meiner Schwester“ ( Jodi Picoult, 2004)
1. Die Story Zunächst zur ersten Geschichte, die den schon erwähnten Titel „Beim Leben meiner Schwester“ trägt und die einen, wenn man so will, klassischen Fall der Inanspruchnahme von Leiblichkeit für andere zum Gegenstand hat. Erzählt wird die Geschichte der Familie Fitzgerald. Das Glück der Eltern wird jäh zerstört, als ihr zweites Kind Kate an Leukämie erkrankt und nur noch wenige Überlebenschancen hat. Verzweifelt suchen die Eltern Rat und werden bei einem Arzt fündig, der anbietet, ihnen eine genetisch maßgeschneiderte Retortentochter als Ersatzteillager zu produzieren. Neun Monate später wird Anna geboren und von der Geburt an als Spenderin von Knochenmark und anderen lebenswichtigen Stoffen gebraucht. Diese Prozeduren sind schmerzhaft und traumatisch für Anna, verlängern aber stets Kates Leben.
2. Die rechtliche Beurteilung Dass Anna artifi ziell und unter Zuhilfenahme einer Präimplantationsdiagnostik1 erzeugt wurde, sei hier nur am Rande erwähnt. Meine am deutschen Verfassungsund einfachen Recht ansetzende rechtliche Beurteilung soll einsetzen als Anna etwa 13 Jahre alt ist und sich zu weigern beginnt, weiterhin als Spenderin zu Verfügung zu stehen. Kommt sie in dieser Situation trotzdem noch oder schon oder gerade nicht mehr als Spenderin in Betracht?
a) Regelungsgehalt des Transplantationsgesetzes Einschlägig ist insoweit das Transplantationsgesetz (TPG) und ein erster Blick in das Gesetz wirkt beruhigend. § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG lässt eine Lebendspende nur zu, wenn der Spender volljährig und einwilligungsfähig ist.2 Die Vorschrift scheint damit der fremdnützigen Inanspruchnahme nicht einwilligungsfähiger Minderjäh1 Dazu vertiefend Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, 2000, Kollek, Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, 2. Aufl. 2002, BöckenfördeWunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem: Ärztliches Standesrecht, Embryonenschutzgesetz, Verfassung, 2002; zur aktuellen Diskussion die unterschiedlichen Gesetzesentwürfe zu einem Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) BT-Drucks. 17/5451–17/5452 sowie 17/5450; aus strafrechtlicher Perspektive vgl. neuestens Sowada, Der strafrechtliche Schutz am Beginn des Lebens, GA 2011, 389/394 ff. 2 Die mit „Entnahme von Organen und Geweben“ überschriebene Vorschrift lautet auszugsweise: „Die Entnahme von Organen oder Geweben zum Zwecke der Übertragung auf andere ist bei einer lebenden Person, soweit in § 8a nichts Abweichendes bestimmt ist, nur zulässig, wenn 1. die Person a) volljährig und einwilligungsfähig ist“.
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riger einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Allerdings hat der Gesetzgeber im Jahre 2007 in § 8a TPG3 eine Sonderregelung geschaffen, die die für unseren Fall relevante Entnahme von Knochenmark bei minderjährigen Personen betrifft. Danach ist eine Knochenmarkspende durch minderjährige Personen abweichend von § 8 TPG u. a. zulässig, wenn die Verwendung für Verwandte ersten Grades oder Geschwister der minderjährigen Person vorgesehen ist.4 Diese Voraussetzung wäre in unserem Fall gegeben. Nun begehrte Anna allerdings auf, suchte sich der fortgesetzten Inanspruchnahme zu widersetzen, womit sie und ihre Eltern naturgemäß in ein grundlegendes ethisches Dilemma gestürzt wurden. Juristisch bewältigt diesen Konfl ikt § 8a Nr. 4 S. 4 TPG.5 Leicht zweideutig heißt es dort: „Lehnt die minderjährige Person die beabsichtigte Entnahme oder Verwendung ab oder bringt sie dies in sonstiger Weise zum Ausdruck, so ist dies zu beachten“. Was aber bedeutet „beachten“? Befragt man die einschlägigen Wörterbücher, verschlechtern sich Annas Aussichten, ihre Leiblichkeit vor dem Zugriff anderer zu schützen. Beachten bedeutet so viel wie berücksichtigen, bedenken, einberechnen, in Betracht ziehen, ins Kalkül ziehen, zur Kenntnis nehmen.6 Eine Beachtenspfl icht bewirkt aber keine Verpfl ichtung des Entscheidenden, seine Entscheidung an dem entgegenstehenden Willen des Entscheidungsbetroffenen auszurichten. In der Kommentarliteratur wird deshalb auch herausgestellt, dass die durch die minderjährige Person erklärte Ablehnung nicht zwingend dazu führen müsse, die Einwilligung zu versagen.7 Anders ausgedrückt: Eltern können in die aus Sicht des spendenden Kindes fremdnützigen Eingriffe auch dann einwilligen, wenn das Kind seine Ablehnung deutlich zum Ausdruck bringt.
3 § 8a TPG (Entnahme von Knochenmark bei minderjährigen Personen) lautet: Die Entnahme von Knochenmark bei einer minderjährigen Person zum Zwecke der Übertragung ist abweichend von § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a und b sowie Nr. 2 mit folgender Maßgabe zulässig: 1. Die Verwendung des Knochenmarks ist für Verwandte ersten Grades oder Geschwister der minderjährigen Person vorgesehen. 2. Die Übertragung des Knochenmarks auf den vorgesehenen Empfänger ist nach ärztlicher Beurteilung geeignet, bei ihm eine lebensbedrohende Krankheit zu heilen. 3. Ein geeigneter Spender nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 steht im Zeitpunkt der Entnahme des Knochenmarks nicht zur Verfügung. 4. Der gesetzliche Vertreter ist entsprechend § 8 Abs. 2 aufgeklärt worden und hat in die Entnahme und die Verwendung des Knochenmarks eingewilligt. § 1627 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist anzuwenden. Die minderjährige Person ist durch einen Arzt entsprechend § 8 Abs. 2 aufzuklären, soweit dies im Hinblick auf ihr Alter und ihre geistige Reife möglich ist. Lehnt die minderjährige Person die beabsichtigte Entnahme oder Verwendung ab oder bringt sie dies in sonstiger Weise zum Ausdruck, so ist dies zu beachten. 5. Ist die minderjährige Person in der Lage, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Entnahme zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten, so ist auch ihre Einwilligung erforderlich. Soll das Knochenmark der minderjährigen Person für Verwandte ersten Grades verwendet werden, hat der gesetzliche Vertreter dies dem Familiengericht unverzüglich anzuzeigen, um eine Entscheidung nach § 1629 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit § 1796 des Bürgerlichen Gesetzbuchs herbeizuführen. 4 § 8a Nr. 1 TPG. 5 Text der Regelung in Fn. 3. 6 Etwa im Duden, Bedeutungswörterbuch, 2010. 7 Roth, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010, § 8a TPG Rn. 10.
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b) Vorbild: fremdnützige Arzneimittelforschung Dass der entgegenstehende Wille des Kindes überwunden werden kann, war auch die Auffassung des Gesetzgebers. In geradezu treuherziger Offenheit, indes problemverkürzender Perspektive fi ndet sich dazu in den Gesetzesmaterialien zu § 8a TPG der Hinweis, die Regelung orientierte sich an den „Vorbildern“, die im Rahmen fremdnütziger Forschungen an nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen im Arzneimittelrecht beständen.8 Und in der Tat: Mit der 12. Änderungsnovelle zum Arzneimittelgesetz9 hatte der Gesetzgeber im Jahre 2004 eine mit dem überkommenen Schutz der Leiblichkeit brechende fundamentale Neuerung im Arzneimittelrecht eingefügt. War bis zu dieser Reform Voraussetzung, dass die Prüfung bei kranken Erwachsenen und Kindern einen individuellen Vorteil für die an der Prüfung beteiligten Personen erwarten ließ, genügt nach § 41 Abs. 2 Nr. 2 lit. a) AMG jetzt bei Kindern auch ein so genannter Gruppennutzen, d. h. das betreffende Kind muss zumindest der Gruppe der an einer bestimmten Erkrankung leidenden Personen angehören, für die das Arzneimittel einen Vorteil erwarten lässt.10 Ein direkter Vorteil für das an der Prüfung teilnehmende Kind ist damit nicht mehr erforderlich.11 Der Gesetzgeber hatte die Änderung seinerzeit damit begründet, die Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen sei erforderlich, um den sonst bei Kindern üblichen off-label-use von Medikamenten entgegenzuwirken.12 Lassen wir einmal beiseite, dass pharmakritische Stimmen insoweit u. a. geltend gemacht hatten, der weit verbreitete off-label-use bei Kindern beruhe nur darauf, dass der Pharmaindustrie die Forschung an Kindern schlicht zu teuer sei13, wirft das Verfassungsrecht aber doch die Frage auf, ob man es rechtfertigen kann, an nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen auch dann zu forschen, wenn die Arzneimittelprüfung ihnen keinen unmittelbaren Nutzen bringt.
c) Die verfassungsrechtliche Perspektive Arzneimittelversuche stellen in aller Regel Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 GG dar.14 Die Vorschrift schützt u. a. die körperliche Unversehrtheit, die Integrität der körperlichen Substanz. Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit liegen jedenfalls immer dann
8 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz über Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und Zellen (Gewebegesetz), BT-Drucks. 16/3146, S. 29. 9 12. Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 30. 07. 2004, BGBl I, Nr. 41, S. 2031. 10 Vgl. Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drucks. 15/2109, S. 31. 11 Allgemeine Meinung vgl. nur Listl, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2011, § 41 AMG Rn. 2. 12 Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drucks. 15/2109, S. 31; ebenso Listl (Fn. 11) § 41 AMG Rn. 3. 13 Pekuniäre Aspekte sind seinerzeit selbst von Befürwortern fremdnütziger Forschung betont worden, vgl. die Stellungnahme von Taupitz, Kom-Drs. 15/50, S. 6, der als einen Grund für die zu geringen Daten hinsichtlich der Wirkungsweisen von Medikamenten bei Kindern „fehlende fi nanzielle Anreize für die Pharmaindustrie“ anführt. 14 Lang, Forschung an nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen, GesR 2004, 167/167.
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vor, wenn Schmerzen zugefügt oder empfunden werden.15 Davon eingeschlossen sind Schädigungen und Gefährdungen der Gesundheit.16 Auch geringfügige Beeinträchtigungen unterfallen dem Schutzbereich.17 Die Frage der Intensität eines solchen Eingriffs ist erst im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs von Belang. Der damit grundsätzlich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Schutz wird hinsichtlich fremdnützig motivierter Zugriffe auf Leiblichkeit angereichert durch die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG.18 Wie auch immer man diese Vorschrift konturiert: zu ihrem überkommenen Inhalt gehört jedenfalls auch das sog. Verzweckungsverbot.19 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das Gesetzesvorhaben von Anfang an umstritten und auch in der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ kontrovers diskutiert worden war.20 Gegen die an sich naheliegende Annahme einer Verzweckung durch die an nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen vorgenommene fremdnützige Forschung wurde in der seinerzeitigen Debatte in Anhörungen und Aufsätzen in gewisser Verdrehung nun ausgerechnet die Menschenwürde der Probanden ins Feld geschickt.21 Dem Grundgesetz sei kein ausschließlich individualistisch und eigennützig ausgerichtetes Menschenbild zu entnehmen und der Verzicht auf fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen beraube diesen Personenkreis der Möglichkeit, einen solidarischen und von Einbindung in die Gemeinschaft gekennzeichneten Beitrag für eben diese Gemeinschaft zu leisten.22 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist dem allerdings entgegenzuhalten, dass weder die Gruppen- noch die Altersgruppennützigkeit Mitglieder dieser gesellschaftlichen Teilgruppen dergestalt zu einer Solidargemeinschaft verbindet, dass von einem Mitglied die Aufopferung seiner Rechtsgüter zum Vorteil anderer Gruppenmitglieder verlangt werden kann.23 Das Verfassungsrecht kennt jedenfalls keine Schicksalsgemeinschaft der Minderjährigen, Kranken oder Alten.24 Die Körperintegrität eines Menschen der Nützlichkeit für einen noch so hohen Zweck zu opfern, reduziert diesen Menschen – jedenfalls wenn der Eingriff ohne seinen Willen erfolgt – auf ein bloßes Mittel für andere und spricht ihm so seinen Eigenwert ab.25 Diese Überlegungen werfen allerdings die Frage auf, ob eine solche Einwilligung überhaupt wirksam erteilt werden kann? 15 BVerfGE 56, 54/75.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 83; Pieroth/Schlink, StaatsR II, 25. Aufl. 2009, Rn. 422. 16 BVerfGE 66, 39/57 f. 17 Pieroth/Schlink (Fn. 15) Rn. 422; Lang (Fn. 14), S. 167. 18 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 1 Rn. 20 ff. 19 Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 2009, Art. 1 Rn. 13. 20 Vgl. Bericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, BT-Drucks. 15/6980, S. 53 ff. 21 Taupitz, JZ 2003, 109/116. 22 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 113 ff.; ders. (Fn. 22), S. 116; Fröhlich, Forschung wider Willen, 1999, S. 168 ff. 23 Lang (Fn. 14), S. 169. 24 Lang a.a.O. 25 Vgl. dazu Seelmann, Paternalismus und Solidarität bei der Forschung am Menschen, in: Amelung et al. (Hrsg.), Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie, Festschrift für Schreiber, 2003, S. 853/863.
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Bereichsspezifisch ausgedeutet erfordert Art. 2 Abs. 2 GG zunächst, dass medizinisch motivierte Eingriffe in die Leiblichkeit nur nach Maßgabe einer im informed consent erklärten Einwilligung zuzulassen sind.26 Das hört sich gut an, ist auch gut, nur, wie kann der integritätsschützende Gehalt des Erfordernisses einer im informed consent erklärten Einwilligung in Ansatz gebracht werden, wenn der Betroffene nicht einwilligungsfähig ist.27 Das führt bei Kindern zu den durch Art. 6 Abs. 2 GG erfassten elterlichen Bestimmungsrechten, aktiviert aber zugleich die Kindeswohlgrenze, wenn die Eltern kindeswohlinkompatible Einwilligungserklärungen abgeben. Sicher sind derartige elterliche Einwilligungsbefugnisse einer je grundrechtsbezogenen Abschichtung zugänglich 28, begegnen also etwa elterlicherseits erklärte Einwilligungen zum bloßen Beobachten oder Wiegen des Kindes keinen Bedenken. Ob allerdings eine Einwilligung der Eltern auch bei erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit rechtfertigend wirken kann, wenn die prinzipielle Integritätsgarantie fremdnützig geopfert wird, erscheint doch mehr als fraglich.29 Was auch immer von slippery sloap Argumenten zu halten ist: Dass sich der Änderungsgesetzgeber des Transplantationsgesetzes ohne eigene argumentative Untermauerung auf das Vorbild der fremdnützigen Forschung beruft, erscheint schon deshalb unglücklich, weil jenes Vorbild seinerseits erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt ist. Ein fader Beigeschmack bleibt auch, weil die mit der Arzneimittelforschung verbundenen Eingriffe seinerzeit grob verharmlost worden waren. Man sprach von „Wiegen und Beobachten“ und gesetzlich zugelassen sind, wie es jetzt im Arzneimittelgesetz (§ 41 Abs. 2 Nr. 2 lit d) heißt, solche Forschungen, die für die betroffene Person nur mit einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung verbunden sein dürfen. Eine derartige Beschränkung fi ndet sich im Transplantationsgesetz nicht. Das geht auch gar nicht. Denn das Risiko, dass es durch die Narkose oder durch das Punktieren des Knochenmarkraumes zu ernsten Komplikationen kommt, wird mit etwa 1:20.000 angegeben.30 Anna mag also ihren Widerstand artikulieren: sind ihre Eltern der Auffassung, Annas Verweigerung entspreche nicht ihrem „wohlverstandenen, mutmaßlichen Willen, sondern lasse sich vielmehr etwa auf kindliche Abwehrreaktionen gegen Unbekanntes zurückführen“ – um eine Formulierung einer einschlägigen Kom26 Dazu allgemein Quaas/Zuck in: Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, § 52 Rn. 27; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Aufl. 2009, V. Rn. 5–7; Laufs, in: Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010; § 6 Rn. 2, 22–31. 27 Einwilligungsfähigkeit ist nicht mit Volljährigkeit identisch. Die früher einsetzende Einwilligungsfähigkeit wird im Arzneimittelrecht grundsätzlich einzelfallbezogen beurteilt (Rehmann, AMG, 3. Aufl. 2008, § 40 Rn. 5). Die Gesetzesbegründung ging davon aus, dass ab einem Alter von 16 Jahren in der Regel vom Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit auszugehen ist (BT-Drucks. 15/2109, S: 31), die Kommentarliteratur schwankt zwischen 12 und 14 Jahren Listl (Fn. 11) § 40 AMG Rn. 36; Gesetzesbegründung und Kommentarliteratur gehen davon aus, dass ab einem Alter von 14 Jahren in der Regel vom Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit auszugehen ist, vgl. etwa Rehmann, a.a.O. 28 Vgl. zu diesem Ansatz allgemein Schmitt-Kammler/von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 6 Rn. 59 ff. 29 Lang (Fn. 18), S. 168; Schmitt-Kammler/von Coelln (Fn. 24), Art. 6 Rn. 61. 30 Zu dieser Zahl etwa Führer/Bender-Götze, Blutstammzelltransplantation, in: Reinhardt, Therapie der Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, 2007, S. 2024/2027; allgemeiner Hasskarl/Ostertag, Gewinnung und Anwendung hämatopoetischer Stammzellen aus Nabelschnurblut – Medizinische und arzneimittelrechtliche Aspekte –, PharmR 2002, S. 81/82 f.
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mentierung zu zitieren31, vermag sie dem fremdnützigen Zugriff auf ihren Körper nicht zu entrinnen. Erst wenn sie volljährig (bzw. was damit nicht identisch sein muss einwilligungsfähig) ist, muss sie bei einer Weigerung verschont werden und dies gilt selbst dann, wenn sie weiterhin nichteinwilligungsfähig wäre oder dies würde. Bei nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen ist weder eine fremdnützige Forschung noch eine Knochenmarkspende zulässig.32 Im Sinne einer Salamitaktik sind vom ehedem vollständigen Schutz der körperlichen Integrität vor Zugriffen mit der fremdnützigen Arzneimittelforschung und der fremdnützigen Knochenmarkspende schon zwei Scheibchen abgeschnitten. Übrigens ließen sich bei näherem Nachdenken weitere Problemfelder ausmachen. Z. T. auf den ersten Blick eher fernliegende wie beispielsweise das Leichenöffnungen ermöglichende Sektionsrecht, aber durchaus auch ganz aktuelle und hochkontrovers diskutierte „Scheibchen“, wie etwa die Organlebendspende mit ihren besonderen Drucksituationen gerade innerhalb einer Familie33 und namentlich die durch den Fall Steinmeier mit hohem medialen und moralischen Druck beförderte Diskussion um die sog. Widerspruchslösung im Transplantationsrecht. Damit aber zu einem Buch, das nicht die bloß scheibchenweise Inanspruchnahme von Leiblichkeit für andere zum Gegenstand hat, hier wird direkt und zugleich die gesamte Wurst präsentiert.
III. Alles, was wir geben mussten 1. Die Story Kazuo Ishiguro kombiniert in „Alles, was wir geben mussten“ die Themen Klonen und Organspende. Sein Buch erzählt die Kindheit und Jugend dreier Protagonisten, die in einem englischen Internat aufwachsen. Alle Schüler dort sind Klone, die in die Welt gesetzt wurden, um später lebenswichtige Organe zu spenden. Die Originale werden routinemäßig weit über hundert Jahre alt. Um ihre kollabierenden Organismen am Laufen zu halten, werden Menschen geklont, denen man, sobald sie erwachsen sind, nach und nach Organe entnimmt und in Kranke und Greise transplantiert. Nach durchschnittlich drei bis vier Organspenden kommt es im Alter von Mitte zwanzig zur letzten und tödlichen Spende. Durch eine nur kurz an der Schule tätige Lehrerin erfahren die geklonten Kinder schon früh die Wahrheit. Vielleicht wegen der japanischen Herkunft des Autors, vielleicht auch um die mit der Geschichte angesprochenen ethischen Probleme auf die Spitze zu treiben, akzeptieren indes alle Protagonisten ihr Schicksal, anders als in manch anderer literarischer oder fi lmischer Beschäftigung mit dem Thema liegt ihnen jeder Gedanke an Flucht fern. Die drei Hauptfiguren des Buchs spenden ebenso wie alle anderen Schüler mehrfach bis sie – wie es im Buch in orwellschem Neusprech heißt – „vollenden“. 31
Listl (Fn. 11), § 40 AMG Rn. 36 unter Hinweis auf BT-Drucks. 15/2109, S. 31. Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes BT-Drucks. 15/2109, S. 32; Listl (Fn. 11), § 41 AMG, Rn. 5. 33 Dazu etwa Feuerstein, in: Höfl ing (Hrsg.), TPG, 2003, Anhang 2 zu § 8 Rn. 2 und 3. 32
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2. Die rechtliche Beurteilung Auf sämtliche im Buch aufgeworfenen normativen und/oder ethischen Fragen kann ich selbstredend nicht eingehen, würde aber gerne die Geschichte – wenn ich Politiker wäre, würde ich wahrscheinlich formulieren – einem namentlich grundund embryonenschutzrechtlichen Stresstest unterziehen. Betrachtet man die beiden Zentralnormen des Grundgesetzes – die in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Menschenwürde als archimedischen Punkt des Verfassungsstaats34 und das in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Recht auf Leben als – wie das Bundesverfassungsgericht sagt35 – Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung – scheint das Ergebnis schnell gefunden. Die in „Alles, was wir geben mussten“ geschilderten Strukturen wären ja wohl verfassungswidrig. Und das einfache Recht? Immerhin verbietet § 6 ESchG das Klonen.36 Indessen, jenseits solcher Evidenzappelle offenbaren sich eine Fülle von schwierigen und keinesfalls eindeutig zu beantwortenden Einzelfragen. Ich möchte für die nachfolgende rechtliche Beurteilung problemabschichtend hauptsächlich auf die einem Klon zustehenden Rechte bzw. deren Verletzungen eingehen, diejenigen des „Originals“ also nur gelegentlich streifen.
a) Notwendige Begriffsklärungen Ein Klon ist ein Organismus, der aufgrund ungeschlechtlicher Vermehrung von einem Mutterorganismus abstammt und deshalb mit diesem genetisch (jedenfalls weitestgehend) identisch ist.37 Beim Klonen können derzeit vereinfachend zwei unterschiedliche Techniken unterschieden werden. Erstens das sog. Embryonensplitting: aus eins mach zwei, oder drei oder vier. Im Falle des sog. Embryonensplittings wird ein Embryo in mehrere einzelne Zellen geteilt, die selbst wiederum totipotent sind, also die Fähigkeit besitzen, sich als Individuum auszudifferenzieren.38 Die so gewonnenen Embryonen können sich wie ein ungeteilter Embryo weiterentwickeln, befi nden sich im selben Entwicklungsstadium und sind genetisch vollständig identisch.39
34
Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 142; Höfling (Fn. 18), Art. 1 Rn. 51. BVerfGE 46, 160/164; 49, 24/53. 36 Die mit „Klonen“ überschriebene Vorschrift des § 6 ESchG lautet: „(1) Wer künstlich bewirkt, dass ein menschlicher Embryo mit der gleichen Erbinformation wie ein anderer Embryo, ein Foetus, ein Mensch oder ein Verstorbener entsteht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer einen in Absatz 1 bezeichneten Embryo auf eine Frau überträgt. (3) Der Versuch ist straf bar.“ 37 Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG, 2008, § 6 Rn. 1; Graf, Der Embryo im Visier der Biomedizin: Präimplantationsdiagnostik, Gewinnung embryonaler Stammzellen, Klonen, in: Beckmann/Löhr (Hrsg.), der Status des Embryo, 2003, S. 9/15. 38 Graf (Fn. 37), S. 16. Vgl. auch die Defi nition der Totipotenz in § 3 Nr. 4 StZG, § 3 (Begriffsbestimmungen) lautet auszugsweise: „Im Sinne dieses Gesetzes . . . 4. ist Embryo bereits jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag,“. 39 Kersten, Das Klonen von Menschen, 2004, S. 8. 35
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Kann man sich diese Methode angesichts der auch in der Natur vorkommenden Entwicklung von Mehrlingen noch einigermaßen vorstellen, komplizieren sich die Dinge bei der zweiten Methode, dem Klonen durch Zellkerntransfer. Dabei wird eine Zelle (die Körperzelle der genetischen Mutter) mit einer entkernten unbefruchteten Eizelle (der Eimutter) zusammengebracht. Durch die Verbindung des transplantierten Kerns mit dem Zytoplasma der entkernten Eizelle wird die genetische Information des übertragenen Kerns „reprogrammiert“. Was dabei genau geschieht, ist derzeit nicht bekannt.40 Bekannt ist nur das Ergebnis des Prozesses: es entstehen neue totipotente Zellen, die jedenfalls im Tierversuch (jeder kennt Dolly) nach der Implantation in den Uterus einer Leihmutter zu Lebendgeburten geführt haben.41 Nach dem Motiv unterscheidet man – mehr oder minder sinnvoll – das reproduktive vom therapeutischen Klonen. Während es beim ersteren um die Erschaffung von Nachwuchs geht, steht beim therapeutischen Klonen die Gewinnung von Organen zu therapeutischen Zwecken im Vordergrund.
b) Der Herstellungsakt aa) Das einfache Recht Blicken wir zunächst auf die Entstehung der Kinder des Internats, wenn man so will also auf das reproduktive Klonen. Lapidar heißt es in der mit Klonen überschriebenen Vorschrift des § 6 Abs. 1 ESchG: „Wer künstlich bewirkt, dass ein menschlicher Embryo mit der gleichen Erbinformation wie ein anderer Embryo, ein Foetus, ein Mensch oder ein Verstorbener entsteht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. Die Vorschrift, ersichtlich eine strafrechtliche Regelung, löst freilich unsere Probleme nur halb. Denn die biomedizinische Entwicklung ist auch über diese Normierung mit – wie gelegentlich treffend formuliert worden ist – implementationsloser Direktheit hinweggefegt.42 § 6 ESchG erfasst allein das Klonen in Form des sog. Embryonensplittings, nicht aber die Gewinnung eines Klons mittels Zellkerntransfer. Das liegt daran, dass es der Gesetzgeber des Embryonenschutzgesetzes – wie ich gerne annehmen will – besonders gut machen wollte und in § 8 ESchG legaldefinierte, was unter einem Embryo i. S. d. Embryonenschutzgesetzes zu verstehen ist: nämlich (bereits) die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an. Indes, wie auch immer man den Vorgang des Zellkerntransfers bewerten will, um eine Befruchtung, also das Zusammenkommen männlicher und weiblicher Keimzellen handelt es sich dabei nicht.43
40
Kersten (Fn. 39), S. 10; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 4. Kersten (Fn. 39), S. 11; Müller-Terpitz (Fn. 40), S. 4; Günther (Fn. 37), § 6 Rn. 2. 42 Höfling, Verfassungsrechtliche Aspekte der Verfügung über menschliche Embryonen und „humanbiologisches Material“. Gutachten für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin“, 2001, S. 25. 43 Kersten (Fn. 39), S. 36; Höfling, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010, § 6 ESchG Rn. 6; das räumt auch Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2011, § 6 ESchG Rn. 2 ein. 41
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Dabei hilft es auch nicht viel, dass das Embryonenschutzgesetz dem legaldefinierten Embryo im Grunde die totipotente Zelle gleichstellt, denn dies gilt nach der eindeutigen Formulierung in § 8 Abs. 1 S. 1 2. HS ESchG nur für eine dem Embryo entnommene totipotente Zelle. Genau das aber geschieht beim Klonen mittels Zellkerntransfer ebenfalls nicht.44 Analogien scheitern an Art. 103 Abs. 2 GG.45 Klonen im Wege des Zellkerntransfers verstößt daher jedenfalls nicht gegen § 6 Abs. 1 ESchG.
bb) Das Verfassungsrecht Insofern muss man – für die rechtliche Bewertung moderner biomedizinischer Herausforderungen geradezu paradigmatisch – beim Verfassungsrecht Zuflucht suchen. Ich konzentriere mich hinsichtlich der Entstehung des Klons auf die Menschenwürde. Deren Schutzgehalt ist wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht herausgestellt hat, mit dem Beginn des Lebens verbunden.46 Wo Leben besteht, kommt ihm Würdeschutz zu.47 Indessen: im Moment der für unsere jetzige Betrachtung relevanten Verletzungshandlung, der Herstellung des Klons, ist der Träger des Grundrechts noch nicht existent. Und: Folgte man dem Ansatz, dass die Herstellung des Klons dessen Würde verletzte48, brächte man dessen Würde gegen seine Existenz in Stellung49, ein absurdes Ergebnis. Die Beachtung der Würde des Klons verlangte dann, dass der Träger des Grundrechts erst gar nicht entsteht. Für das Lebensgrundrecht gilt nichts anderes, es kann nicht gegen sich selbst in Stellung gebracht werden.50 Am Rande: Im Schrifttum ist versucht worden, das im Grunde weltweit geltende Klonverbot auf andere Weise zu legitimieren, etwa unter Rückgriff auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte, konkretisiert als Gefährdung der Würde künftiger Menschen. Art. 1 Abs. 1 GG garantiere auch die Bedingungen der Möglichkeit, als körperlich kontingente Individuen der biologischen Gattung Mensch selbstverantwortlich Persönlichkeit zu entwickeln51 und bei aller Schwierigkeit der inhaltlichen Konturierung des Art. 1 Abs. 1 GG sei davon jedenfalls der tradierte Schutz im Sinne eines Instrumentalisierungsverbots umfasst.52 Dem kann man sicher folgen, nur eine perverse Konsequenz darf man – anders als der Gesetzgeber des Embryonenschutzgesetzes und Teile des Schrifttums53 – daraus nicht ziehen. 44
Kersten (Fn. 39), S. 37 f. Höfling (Fn. 43), § 6 ESchG Rn. 6; Kersten (Fn. 39), S. 36 ff.; a. A. Müller-Terpitz (Fn. 43), § 6 Rn. 3. 46 BVerfGE 39, 1/41 f.; 88, 203/251 f.; Hillgruber (Fn. 20), Art. 1 Rn. 4. 47 BVerfGE 39, 1/41; 88, 203/252. 48 Günther (Fn. 37), § 6 Rn. 4, der aber zwischen der Existenz des Klons und dem Verfahren seiner Entstehung differenziert und nur hstl. letzterem eine Kollision mit Art. 1 Abs. 1 GG annimmt. 49 So aber Günther, in: Keller/Günther/Kaiser, ESchG, 1992, § 6 Rn. 11. 50 Höfling (Fn. 43), § 6 ESchG Rn. 8. 51 Höfling (Fn. 43), § 6 ESchG Rn. 4; wohl auch Müller-Terpitz (Fn. 43), § 6 ESchG Rn. 1, vertiefend zu den unterschiedlichen Rechtfertigungsansätzen Kersten (Fn. 39), S. 308 ff. 52 Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 6; das BVerfG spricht davon, der Mensch müsse Subjekt sein, nicht Objekt, etwa BVerfGE 30, 1/26; 50, 166/175. 53 Günther, in: Keller/Günther/Kaiser, ESchG, 1992, § 6 Rn. 11. 45
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Nach der vielkritisierten54 Regelung in § 6 Abs. 2 ESchG macht sich straf bar, wer einen geklonten Embryo auf eine Frau überträgt. Die evident verfassungswidrige Vorschrift statuiert eine straf bewehrte Tötungspfl icht. Die dafür in der Literatur angeführte Rechtfertigung, es müsse die Würde des Originals geschützt werden55, stellt einen perfiden und nun wahrhaft existentiellen Fall der Inanspruchnahme von Leiblichkeit für andere dar. Auf diese Weise darf der Gesetzgeber seinen eigenen und in Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerten Schutzziele nicht konterkarieren.
c) Die spätere „therapeutische“ Verwendung und Verwertung der Klone aa) Die Situation im Buch Ishiguros Buch hat nun nicht allein die Entstehung von Klonen – etwa zur Erfüllung anderweitig nicht realisierbarer Kinderwünsche – zum Gegenstand. Vielmehr werden die Klone im Falle der Erkrankung der Originale zu deren Therapie eingesetzt. Darin könnte zunächst ein Eingriff in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Klone liegen, vorausgesetzt ein solches Recht stünde Klonen überhaupt zu.
(1) Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (a) Leben im verfassungsrechtlichen Sinne Der Einwand scheint absurd, wirft uns indes auf ein oben schon angeführtes Problem zurück, wie es sich nämlich auswirkt, dass das Embryonenschutzgesetz nur auf Embryonen bezogen ist und mittels Zellkerntransfer erzeugte Klone hiervon nicht erfasst werden. Nun befi nden wir uns allerdings auf der Ebene des Verfassungsrechts. Für dessen Kategeorienbildung ist die auf die Befruchtung abstellende und damit Klone nicht erfassende Definition in § 8 Abs. 1 ESchG nicht entscheidend. In verfassungsrechtlicher Perspektive wird aus meiner Sicht zu Recht eine normative Äquivalenz von totipotenten menschlichen Zellen, die einmal auf dem Befruchtungswege, das andere Mal als Resultat eines Zellkerntransfers entstanden sind, postuliert.56 Die sich anschließende zellbiologische Ausdifferenzierung mag sich einer je anderen Initialzündung verdanken, das Ergebnis aber, die Entwicklung bzw. das Entwicklungspotential zu einem „vollständigen“ Menschen ist grundsätzlich gleichermaßen vorhanden.57 54 Vgl. nur Höfling (Fn. 43), § 6 ESchG Rn. 2 „Vorschrift begegnet durchgreifenden Bedenken“; Hillgruber (Fn. 19), Art. 1 Rn. 22. 55 Günther (Fn. 53), § 6 Rn. 11. 56 Höfling (Fn. 42), S. 224; Röger, Verfassungsrechtliche Probleme, medizinischer Einflussnahme auf das ungeborene menschliche Leben im Lichte des technischen Fortschritts, 1999, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Typoskript, S. 214; Müller-Terpitz, (Fn. 40) S. 263 f.; Günther (Fn. 37), § 6 Rn. 11. 57 Müller-Terpitz (Fn. 40), S. 264 f. unter treffender Zurückweisung der Qualifi kation als „LaborArtefakte“; Höfling (Fn. 42), S. 224; Röger (Fn. 56), S. 214.
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Das zeigt nicht zuletzt Ishiguros Buch, weil hier die Klone tatsächlich geboren und zu erwachsenen Menschen wurden. Es ist immer ein sicheres Indiz der Abwesenheit des Rechts- und Verfassungsstaats, wenn in einer Gesellschaft Menschen existieren, denen insbesondere der Lebens- und Würdeschutz vorenthalten wird. Leben i. S. v. Art 2 Abs. 2 GG meint zunächst das körperliche Dasein, also die biologisch-physische Existenz. Das Recht auf Leben ist das Recht zu leben.58 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt nach dem o.a. weiterhin die Integrität der körperlichen Substanz. In beide Rechte wird in „Alles, was wir geben mussten“ eingegriffen, in die körperliche Unversehrtheit bei den ersten, in das Leben bei der letzten Spende, der Vollendung.
(b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Das Grundrecht auf Leben ist allerdings nicht absolut gewährt, Eingriffe sind also unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, wie insbesondere der gezielte Todesschuss zeigt.59 Kann man die insoweit angestellten Erwägungen übertragen, was uns vielleicht etwas leichter fällt, wenn wir statt des hässlichen Ausdrucks „gezielter Todesschuss“, die euphemische Variante „fi naler Rettungsschuss“ wählen, gleichsam die Verwendung des Klons als fi nale Rettungstherapie? Dass eine solche Parallele nicht trägt, liegt auf der Hand. Beim finalen Rettungsschuss reagiert das Polizeirecht schutzpfl ichtenrechtlich auf den Angreifer zum Schutz des Opfers, der Klon aber greift nicht in die Rechte des Originals ein, er ist umgekehrt Opfer der Zugriffe des ihn schädigenden Originals. Nichts anderes ergibt sich, wenn man – wofür aus meiner Sicht einiges spricht – die Existenz von Schutzpfl ichten nicht zwingend an das Vorliegen der Dreiecksstruktur von privatem Schädiger, privatem Opfer und agierenden Staat bindet, Schutzpfl ichten etwa im Gesundheitsrecht also insbesondere auch bei nicht durch andere Menschen ausgelösten Gesundheitsgefahren in Betracht zieht.60 Denn wie auch immer eine Schutzpfl icht begründet wird, einlösen kann sie der Staat jedenfalls nicht, in dem er im Interesse des Lebens oder der Gesundheit etwa des Zellkernspenders die Tötung eines anderen Menschen, des Klons legitimiert.61
(2) Menschenwürde Derart motivierte Zugriffe auf die Leiblichkeit des Klons sind auch mit dessen Menschenwürde unvereinbar, eine stärkere Verzweckung als diejenige, die eigene Existenz der Verlängerung des Lebens anderer opfern zu müssen, lässt sich kaum denken.
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Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 2 Rn. 58. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 182. Dazu etwa Lang (Fn. 58), Art. 2 Rn. 75. Verfehlt daher Günther (Fn. 49), § 6 Rn. 11.
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bb) Die „frühe“ therapeutische Verwendung von Klonen Angesichts der bisher gefundenen Ergebnisse bietet es sich an, den Zugriff auf Klone früher anzusetzen, zumal nach dem gegenwärtigen Stand der Medizin die Geburt eines geklonten Menschen auch noch nicht realisierbar erscheint. Angesprochen ist damit das sog. „therapeutisches Klonen“, das die Klontechnik mit den Möglichkeiten verbindet, die durch die Stammzellforschung eröffnet werden. Stammzellen sind Zellen, die sich durch Teilung selbst erneuern und in einzelne, mehrere oder alle Zelltypen des menschlichen Körpers ausdifferenzieren können.62 Sie können insbesondere auch aus Klonen gewonnen werden.63 Mit ihrer Hilfe ließe sich also ein richtiges Ersatzteillager zusammenstellen. Wenn man sich neben der Organknappheit nun das zweite Hauptproblem der Organtransplantation vor Augen hält, dass Organe abgestoßen werden können, liegt der Gedanke nahe, mittels Eigenzellspende im Wege der Klonierung eine Stammzelle zu erzeugen, derartige Zellen dann zu kultivieren und sie gezielt als Zell-, Gewebe- und Organersatz für den Zellkernspender bereit zu halten. Im Vergleich zu der bei „Alles, was wir geben mussten“ geschilderten Situation hätte dies den entscheidenden Vorteil, dass kein Zugriff auf geborene Menschen erfolgte, der mit der „Vollendung“ verbundene moralische Schauer uns also nicht ganz so kalt über den Rücken laufen würde. Immerhin mag es im Erleben, auf einer rein phänomenologischen Ebene einen Unterschied machen, ob „etwas“ einem geborenen, im Buch gar erwachsenen Menschen oder einer wenige Tage alten Blastozyste entnommen wird. Und ein klassischer Menschheitstraum – die Verheißung ewigen Lebens – rückte in greif bare Nähe.
(1) Rechtsprechung und Literatur zum Beginn des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes Verfassungsrechtlich – das Stammzellgesetz möchte ich für die Betrachtung außen vor lassen – dreht sich alles um die Frage, ob der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG auch dann berührt wird, wenn aus einem wenige Tage alten Klon (embryonale) Stammzellen gewonnen werden, die entsprechend kultiviert sich im Labor zu spezialisierten Körperzellen und Organen entwickeln? Das hängt ersichtlich davon ab, ab wann der Lebensschutz bei einem mittels Zellkerntransfer gewonnenen Klon einsetzt.64 Bei der Beantwortung dieser Frage helfen uns direkt weder die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch die herrschende Auffassung des verfas62 Vgl. § 3 Nr. 1 und 2 StZG. Die mit „Begriffsbestimmungen“ überschriebene Vorschrift des § 3 StZG lautet auszugsweise: Im Sinne dieses Gesetzes 1. sind Stammzellen alle menschlichen Zellen, die die Fähigkeit besitzen, in entsprechender Umgebung sich selbst durch Zellteilung zu vermehren, und die sich selbst oder deren Tochterzellen sich unter geeigneten Bedingungen zu Zellen unterschiedlicher Spezialisierung, jedoch nicht zu einem Individuum zu entwickeln vermögen (pluripotente Stammzellen), 2. sind embryonale Stammzellen alle aus Embryonen, die extrakorporal erzeugt und nicht zur Herbeiführung einer Schwangerschaft verwendet worden sind oder einer Frau vor Abschluss ihrer Einnistung in der Gebärmutter entnommen wurden, gewonnenen pluripotenten Stammzellen. . .“ 63 Kersten (Fn. 39), S. 23. 64 Dazu vertiefend Kersten (Fn. 39) S. 541 ff.; Müller-Terpitz (Fn. 40), S. 133 ff.
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sungsrechtlichen Schrifttums weiter. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden Abtreibungsentscheidungen – vom Streitgegenstand her verständlich – für den Beginn des grundrechtlichen Lebensschutzes auf die Nidation abgestellt65, sich in einem freilich umstrittenen obiter dictum aber für einen früheren Schutz ausgesprochen.66 Soweit das Schrifttum auf den früheren Zeitpunkt der Vorkernverschmelzung abstellt67, hilft das für unsere Frage ebenfalls nicht eindeutig weiter, weil wir eben keine Verschmelzung von väterlichen und mütterlichen Keimzellen haben.
(2) Die vier relevante Kriterien Wir müssen uns daher auf allgemeinere Überlegungen besinnen, die für die Fixierung des Lebensbeginns beim Menschen angeführt werden können. Vier Kriterien sind es, die für die Annahme des Lebensbeginns kumulativ vorliegen müssen: das Spezies-, das Kontinuitäts-, das Potentialitäts- und schließlich das Identitätskriterium.68 Sämtliche Kriterien sind bei einem im Wege des Zellkerntransfers entstandenen Klon erfüllt, einige Kritikpunkte möchte ich gleichwohl ausräumen.
(3) Keine durchgreifenden Bedenken am Vorliegen des Potentialitätskriteriums Kritik ist namentlich mit Blick auf das Potentialitätskriterium geübt worden. Jene Potentialität, an die der verfassungsrechtliche Lebensbeginn anknüpfe, verlange, dass die in Rede stehende Zelle die Potenz aufweist, sich zu einem Individuum zu entwickeln, was bei Vorliegen der Totipotenz zu bejahen sei.69 Gerade das Klonen im Wege des Zellkerntransfers habe indes den naturwissenschaftlichen Begriff der Totipotenz und damit dessen juristische Unterscheidungskraft aufgelöst.70 Dahinter steht folgende Überlegung: Bis zu Dolly galt das Dogma einer nicht rückholbaren Spezialisierung der Zellen, gerade die Dollymethode beruhe aber darauf, dass reife Körperzellen wieder zu Embryonen umprogrammiert werden könnten.71 Wenn es aber der technische Fortschritt erlaube, so die Kritik weiter, aus nahezu jeder beliebigen Zelle mittels Kerntransfer einen Embryo zu erzeugen, müsse gleichsam alle Zellen 65
BVerfGE 39, 1/37; 88, 203/251 f. BVerfGE 88, 203/251. 67 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Bd. 1, 2. Aufl. 2008, Art. 2 II Rn. 29; Lang (Fn. 58), Art. 2 Rn. 59; Steiner/Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, 2011, Art. 2 GG Rn. 20; Höfling, Reprogenetik und Verfassungsrecht, 2001, S. 18; das entspricht auch der Auffassung des Gesetzgebers des ESchG, vgl. BT-Drucks. 11/6460, S. 6; a. A. etwa Jarass (Fn. 15), Art. 2 Rn. 82. 68 Kersten (Fn. 39) S. 544 ff.; Müller-Terpitz (Fn. 40), S. 49 ff. 69 Kersten (Fn. 39) S. 545. 70 Vgl. zu dieser Kritik etwa Schulz, Klonen an den Grenzen strafrechtlicher Wissenschaftsordnung, ZRP 2003, 362/363: „. . . Totipotenz wird sich weder in ihrer naturwissenschaftlichen Defi nition, noch in ihrer juristischen Maßgeblichkeit halten lassen. Nach den Erfolgen der Reprogrammierung und Transdifferenzierung adulter Stammzellen, aber auch somatischer differenzierter Zellen wird dies vor dem Hintergrund der Schöler’schen Beobachtungen erneut deutlich. 71 Müller-Terpitz (Fn. 40), S. 4; Kersten (Fn. 39) S. 11. 66
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Totipotenz zugebilligt werden, insbesondere eben auch nahezu allen Körperzellen eines bereits erwachsenen Menschen. Für die Markierung des Lebensbeginns könne der Totipotenz dann allerdings keiner Bedeutung mehr zukommen.72 Diese Kritik unterliegt allerdings einem Missverständnis. Denn genau genommen ist nicht nahezu jede beliebige Zelle totipotent, sie kann es nur in bestimmten Konstellationen werden. Beim Zellkerntransfer etwa sind weder die ursprüngliche somatische Zelle, noch deren Kern, noch die entkernte Eizelle für sich genommen totipotent.73 Zellulär totipotent ist allein die nach dem Transfer des isolierten Kerns in die entkernte Eizelle entstehende „neue“ Zelle.74 Mit dieser Maßgabe besteht keine Veranlassung vom Kriterium der Totipotenz bzw. der Potentialität zur Bestimmung des Lebensbeginns Abstand zu nehmen.
(4) Keine durchgreifenden Bedenken am Vorliegen des Kontinuitätskriteriums Auch am Kontinuitätskriterium wird Kritik geübt. Die im Falle der Erzeugung in vitro notwendigen Unterstützungshandlungen, insbesondere die noch erforderliche Übertragung in den Uterus markierte einen qualitativen Sprung, der ein so frühes Einsetzen des Lebensschutzes nicht angezeigt sein lasse.75 Indes, im Zeitpunkt der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes war man sich noch bewusst, dass die biomedizinischen Zugriffsmöglichkeiten auf den Embryo in vitro gerade dessen besondere Schutzbedürftigkeit76, nicht wie es in der Kritik aufscheint, dessen besondere Schutzlosigkeit indizierten. Und: Würde die Notwendigkeit von außen kommender Stimulation der weiteren Entwicklung der totipotenten Zelle als Qualitätseinschnitt verbucht, könnte gleiches auch auf für einen gerade geborenen Menschen gelten, der ebenfalls ohne Hilfe von außen nicht überlebensfähig ist.77
(5) Keine durchgreifenden Bedenken am Vorliegen des Identitätskriteriums Ein letzter Kritikpunkt betrifft das Identitätskriterium. Dessen Bedeutung wird mit der Überlegung in Zweifel gezogen, etwa das Embryonensplitting, aber auch die natürliche Mehrlingsbildung zeigten doch, dass das Identitätskriterium im Hinblick auf eine totipotente Zelle nicht erfüllt sein könne.78 Allerdings, Identität bedeutet nicht Singularität. Offen mag in der Tat die Singularität des neuen Embryos sein, nicht aber dessen genetische Individualität, gerade die Erbsubstanz des neuen Lebe72
Dazu Schulz (Fn. 70), S. 363. Müller-Terpitz (Fn. 40), S. 257. 74 Kersten (Fn. 39) S. 547. 75 Nüsslein-Volhard, Das Werden des Lebens. Wie Gene die Entwicklung steuern, 2006, S. 190; Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 2002; Kaufmann, Ethikbegründung und Ethikanwendung, Jahrbuch für Recht und Ethik 1996, S. 575 ff. 76 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG), BT-Drucks. 11/5460, S. 6. 77 Kersten (Fn. 39), S. 551; Höfling (Fn. 42), S. 63. 78 Taupitz, Import embryonaler Stammzellen – Konsequenzen des Bundestagsbeschlusses vom 31. 1. 2001, ZRP 2002, 111/114. 73
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Heinrich Lang
wesens liegt vielmehr bereits jetzt verbindlich und unabänderlich fest.79 Nach alldem setzt der verfassungsrechtliche Lebensschutz im „Normallfall“ mit der Vorkernschmelzung von männlichen und weiblichen Keimzellen ein80, beim Zellkerntransfer mit der Einbringung eines isolierten Zellkerns in eine entkernte Eizelle und der damit entstehenden neuen totipotenten Zelle.81 Dieser Zeitpunkt erscheint aus meiner Sicht plausibel, weil im Verlaufskontinuum der natürlichen Befruchtung oder wie im Falle des Klonens zu ergänzen ist der Herstellung der totipotenten Zelle im Wege des Zellkerntransfers und deren Entwicklung jede weitere Zäsur als willkürlich erscheint. Die Herstellung eines menschlichen Ersatzteillagers und das therapeutische Klonen sind damit unvereinbar. Denn, was der Ausdruck „therapeutisches Klonen“ in geradezu skandalöser Weise verschleiert, ist, dass der Klon beim hier diskutierten therapeutischen Klonen nicht wie in „Alles, was wir geben mussten“ nach höchstens 20 oder 25 Lebensjahren, sondern sofort „vollendet“. Für ihn ist das Klonen also alles andere als therapeutisch.
IV. Fazit Also doch, der Traum vom ewigen oder zumindest deutlich verlängerten Leben ausgeträumt? Ich darf zumindest versuchen Sie zu beruhigen, neueste biomedizinische Hoffnungen ruhen darauf, dass es in Zukunft gelingen werde, im Wege des Zellkerntransfers ausdifferenzierte Körperzellen und Organe ohne das bisher notwendige Durchschreiten eines totipotenten Durchgangsstadiums zu erschaffen. Vielleicht, liebe Zuhörer, stimmt es deshalb, was ich letztens im Kontext der Explosion biomedizinischer Behandlungsoptionen gelesen habe, vielleicht sind wir die letzten Hässlichen, die letzten, die mit zu großen Nasen oder Ohren, dem falschen Geschlecht, menschlichen Gebrechen, Alter und Tod umgehen müssen. Aber, einen Vorteil hat das, wie Simon de Beauvoir in „Alle Menschen sind sterblich“, ihrer ebenso wunderbaren wie verstörenden Schilderung über die fürchterliche Qual und Sinnlosigkeit unendlichen Lebens bindend gezeigt hat: Wahrhaft den Augenblick genießen, kann nur, wer um dessen Vergänglichkeit und um die Unmöglichkeit weiß, ihn zu wiederholen. In diesem Sinne genieße ich unser heutiges Zusammensein und freue mich jetzt darauf den Satz zu sagen, auf den ich selbst immer besonders warte, wenn ich zu vergleichbaren Veranstaltungen eingeladen bin: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und: Das Buffet ist eröffnet!
79 80 81
Röger (Fn. 56), S. 105. Nachweise oben in Fn. 67. Kersten, (Fn. 39) S. 554.
Abschiedsvorlesungen
Res publica: Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feudalismen von
Prof. Dr. Daniel Thürer*, Zürich Vorwort In vielfacher Hinsicht befi ndet sich, wie mir scheint, die Entwicklung von Staat und Gesellschaft in einer Krise oder – weniger dramatisch ausgedrückt – in einem Malaise. Die Situation ist gekennzeichnet durch zunehmende Enge und Parzellierung, Spezialisierung und Professionalisierung des Denkens und Handelns und des Verlusts einer Sicht für das Ganze. Es bestehen aber Anzeichen und Hoffnungen für verbesserte, innovative Formen des Zusammenwirkens von Akteuren aus den verschiedenen Bereichen von Theorie und Praxis. Ziel der nachfolgenden Vorlesung ist, auf ein vermehrtes Engagement der Menschen und ihre erhöhte Mitverantwortung für das öffentliche Ganze hinzuwirken. Dieses Anliegen möchte ich mit dem (offenen) Begriff der „Res publica“ thematisieren. Es kommt diesem Konzept, wie mir scheint, eine traditionserhaltende, aber auch eine moderne, die zersplitterte Rechtsteile integrierende Funktion zu. Einen wesentlichen Auftakt für eine Analyse der aktuellen Befindlichkeit von Staat und Gesellschaft gab bereits im Jahr 1840 Alexis de Tocqueville; in seinem Buch über die „Demokratie in Amerika“ prognostizierte er: „Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich ratlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber: Seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das Menschengeschlecht; was die übrigen Mitmenschen angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; * Prof. em. Dr.iur.Dr.rer.publ.h.c., LL.M. (Cambridge). Bis Sommer 2010 Lehrstuhl an der Universität Zürich für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und vergleichendes Verfassungsrecht. Zurzeit Swiss Chair of International Humanitarian Law at the Academy of International Humanitarian Law, Geneva. – Ich danke ganz herzlich Frau lic.phil. Karin Spinnler für ihre kompetente und engagierte Mitarbeit. Insbesondere danke ich auch meinem Kollegen Prof. Dr. Wolfgang Portmann für ein interessantes Gespräch über „republikanische Gehalte“ des Privatrechts, das ich mit ihm führen durfte.
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er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat.“1
150 Jahre später bestätigte der Amerikaner Robert Putnam die Prophezeiung einer allmählichen Auflösung von zwischenmenschlichen Bindungen in der modernen Gesellschaft, die er als einen Verfall von „social capital“ bezeichnete.2 In der deutschen Rechtsgeschichte war der Gegensatz zwischen den Lehren des seinerzeit (d.h. gegen Ende des 19. Jahrhunderts) führenden deutschen Staatsrechtlers Paul Laband und Otto von Gierkes interessant: Laband begriff den Staat vornehmlich als anstaltlichen Herrschafts- und Verwaltungsapparat und die Gesamtheit der im Staatsvolk vereinigten Bürger in erster Linie als der Hoheitsgewalt des Staates unterworfene „Zwangsgemeinschaft“, während von Gierke eine „Zurückverlegung des Staates in das Volk“ forderte.3 In der Schweiz wurden Gedanken der volksverwurzelten „Res publica“ seit langem praktisch gelebt, ja sie prägten Idee und Identität und des Gemeinwesens über die Jahrhunderte in vielfältiger Weise. Republikanische Gedankenströmungen haben aber – erstaunlicherweise – in der schweizerischen Rechtswissenschaft keine ausgeprägte Resonanz gefunden. Der hier wiedergegebene Text stellt eine leicht erweiterte Form der (an ein breites Publikum gerichteten) Abschiedsvorlesung dar, die ich am 23. November 2010 an der Universität Zürich gehalten hatte. Ich habe sie als „Zwischenbilanzvorlesung“ bezeichnet, denn viel bleibt – in den hier aufgeworfenen und benachbarten Forschungsund Betätigungsfeldern – zu tun. Die „Res publica“ verkörpert eine wertvolle staatspolitische Tradition, stellt aber auch einen wesentlichen Schlüssel der zukünftigen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Gestaltung dar. Ich danke meinem Kollegen Peter Häberle für die Aufnahme des Textes ins renommierte „Jahrbuch des öffentlichen Rechts“. Für den schweizerischen Interessentenkreis ist die Vorlesung auf Anregung eines grosszügigen Sponsors bereits im Sommer 2011 als Sonderdruck beim DIKE Verlag in Zürich erschienen, dies aber in einer mit dem vorliegenden Text nicht in identischen Form.
1 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Teil 2 (1840), Zürich 1987, S. 463. Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann, Tocquevilles „Demokratie in Amerika“ und die gesellige Gesellschaft seiner Zeit, in: Herfried Münkler und Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 303 ff. 2 Robert D. Putnam, Bowling Alone, New York 2000. Putman beobachtete: “For the fi rst two-thirds of the twentieth century a powerful tide bore Americans into ever deeper engagement in the life of their communities, but a few decades ago – silently, without warning – that tide reversed and we were all overtaken by a treacherous rip current. Without fi rst noticing, we have been pulled apart from one another and from our communities over the last third of the century.” (S. 27). 3 Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, S. 10. Zum Ganzen vgl. Karsten Malowitz, Freiheit und Gemeinschaft – Zur Rezeption und Bedeutung der Gemeinwohlidee in der Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes, in: Herfried Münkler und Karsten Fischer (Hsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Berlin 2002, S. 141 ff.
Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feudalismen
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Zwei Geschichten zur Einleitung “The State is – regardless of how scientifi c this may sound to the ear of a political scientist – human, moral, intellectual and spiritual, and cultural.” Vaclav Hável 4 “The most important change that people can make is to change their way of looking at the world.”5
Da war – mit dieser kleinen Geschichte seien meine Überlegungen eingeleitet – ein Professor in einer (hier nicht genannten) europäischen Stadt. Dies erzählte mir ein Freund aus dem betreffenden Land. Der Professor ging durch die Strassen und über die Plätze. Er sprach – versunken in sich – nur mit sich selbst. Da sprach ihn eine Bürgerin an aus der Stadt: „Why do you speak, Professor, with yourself alone? Why don’t you share your wisdom with the citizens of the town?” “I do so”, antwortete der Professor, “because there is nobody in town so interesting to talk to.” Der Professor ist nicht mein Vorbild. Ich meine, dass wir auch – oder gerade – als Wissenschafter das Gespräch mit unseren Kollegen und Mitbürgern pflegen sollen. Denn gibt es nicht – trotz Ernüchterungen – so etwas wie „collective, collaborative wisdom“? Sind wir als Wissenschafter nicht herausgefordert, unentwegt nach neuen und grundsätzlichen Ideen zu suchen und diese im Laboratorium der gesellschaftlichen Wirklichkeit, im Gespräch mit unseren Kollegen und Mitbürgern, zu testen? Das ist der Geist, aus dem heraus ich diesen Text gestaltet habe. Das Thema lautet: „Res publica – Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feudalismen“. Ich möchte Ihnen erklären, wie ich auf das Thema gestossen bin. Einige Wochen vor dieser Vorlesung befanden wir uns auf einer Reise durch die Ukraine. Wir besuchten eine Stadt – sie wurde als „Renaissancestadt“ bezeichnet –, die seinerzeit vom König von Polen mitten in einer eintönigen Ebene aus dem Nichts heraus errichtet wurde. Die Stadt bestand aus einem grossen, geometrisch geformten Platz, an dem sich zwei Kirchen erhoben: eine russisch-orthodoxe und eine römischkatholische, und in der Nähe befand sich eine mächtige, vom Zerfall bedrohte Synagoge. Die Gebäude wurden dominiert von der früheren Residenz des Königs. Im Innern der einen Kirche soll es schöne Ikonen gegeben haben, sagte ein Historiker, deren stilisierte Gesichter aber neuerdings durch Bilder von Mächtigen im Lande – Präsidenten und vielleicht sogar von Wirtschaftsoligarchen – übermalt worden seien. „Wo ist denn aber das Rathaus?“, fragte ich. „Ein solches Haus gibt es hier nicht“, meinte der uns begleitende ukrainische Historiker. „Was heisst denn ‚Bürger’, ‚Citoyen’ auf Ukrainisch?“, fragte ich weiter. „Ein solches Wort, so wie es in diesen Sprachen verstanden wird, gibt es auf Ukrainisch nicht“, lautete seine Antwort.
4
Václav Havel, Politics, Morality, and Civility, in: Don E. Eberly (ed.), The Essential Civil Society Reader, London, New York, Toronto and Oxford 2000, p. 401. 5 Report of the Commission on Global Governance – Our Global Neighbourhood, Oxford 1995, p. 47.
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Da war das Thema geboren: „Res publica: Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feudalismen“ – darüber wollte ich an meiner Abschiedsvorlesung sprechen. Es ist mein Plan, wie folgt vorzugehen: Ich erörtere zunächst das Konzept der „Res publica“, wie ich es dieser Arbeit zugrunde lege. Dann widme ich jedem weiteren Teilelement des Themas einen kleinen Abschnitt. Ich schliesse mit einigen Folgerungen normativer Art, die ich auf einen neu gestalteten „Platz der Republik“ verlege; denn die Rechtswissenschaft soll nicht nur den Status quo beschreiben, sondern auch werten: „de lege lata“ und „de lege ferenda“ tätig sein. Insgesamt verfolge ich die Intention, mit „Res publica“ einen alten, aber nicht verbrauchten Begriff neu zu lancieren, neu ins Bewusstsein zu rücken.
I. Begriff und Phänomen der Res publica Für viele Jahre lehrte ich Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität Zürich und als Gastprofessor an manchen anderen Universitäten und Institutionen. Immer begleitete mich ein Unbehagen, unsere Grundbegriffe betreffend. So erklären wir den Staat als Schlüsselelement des Staats- und des Völkerrechts traditionellerweise als ein Gebilde, das anhand von drei Elementen defi niert wird: Dem Staatsgebiet, also der nach aussen begrenzten Fläche; dem Staatsvolk als der Summe der Staatsbürger; und der Staatsmacht, noch immer bezeichnet als Hoheits“gewalt“ oder, im Völkerrecht, als Souveränität (der „suprema potestas“) nach innen und nach aussen. Wir sprechen im Staatsrecht von Konzepten der rechtlichen Machtzuweisung und der rechtlichen Machtbindung. Wir sprechen von „Freiheits“rechten als Rechtssphären der Menschen, in die der Staat nicht intervenieren darf. Wir sprechen von Schemen der Kompetenzverteilung im föderativen Staat oder der Mechanik der Gewaltenteilung (bzw. „checks and balances“) zwischen den Funktionen des Staates. Wir sprechen von der Abgrenzung von Rechtssphären, wie etwa der Trennung zwischen öffentlichem Recht – der Domäne des Staates – und Privatrecht – der Domäne von Gesellschaft und Wirtschaft. Wir haben starre Gehäuse von engen Begriffl ichkeiten entwickelt, und ich fragte mich schon lange, ob es denn nicht Prinzipien gäbe, die umfassender, holistisch, den Sinn der Phänomene zu erklären vermögen, die hinter dem Staat stehen: Prinzipien und Sichtweisen, die den „Geist“ und die „Dynamik“ der Ordnungssysteme sichtbar zu machen vermöchten, Prinzipien, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die Institutionen und Ethos, die Staat und internationale Gemeinschaft als Ganzes erfassen, Konzepte, die sich – so meine ich – vom Wohl der Gemeinschaft (der „salus publica“) als einem umfassenden Richtpunkt leiten lassen.6 „Change our fundamental angle of vision“, schrieb denn auch eine britische Historikerin, und ich zitierte sie, als ich (seinerzeit) an der Universität Zürich meine Studenten „be“lehrte: „Change our fundamental angle of vision and everything
6 Zum Ganzen: Josef Isensee, Republik – Sinnpotenzial eines Begriffs, in: Juristen Zeitung 1981, S. 1 ff.
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changes: our priorities, our values, our judgements, our pursuits.”7 Ich versuche nun also, unter Rückgriff auf die „Res publica“8 eine alternative Sichtweise zu gängigen Schemen der rechtlichen Gestaltung des öffentlichen Raumes zu entwickeln. Dabei berufe ich mich auf verschiedene Autoritäten der Klassik und der Gegenwart. Ich beginne mit dem römischen Philosophen Marcus Tullius Cicero. Cicero unterschied in „De legibus“ zwischen der „patria loci“ und der „partria legis“: der Verbundenheit mit der Heimatstadt und dem Staat als Rechtsgemeinschaft.9 In „De re publica“ defi nierte Cicero das Gemeinwesen als Sache des Volkes, nämlich einer „Vielzahl von Menschen, welche in der Rechtsauffassung übereinstimmen und zum gemeinsamen Nutzen vereint sind.“10 Ciceros Begriff der Republik ist offen: – nicht auf starre territoriale Grenzen eingeengt (zur Republik gehörte Rom wie auch etwa Ciceros Heimatstadt Arpinum); 11 – der Begriff des Bürgers ist nicht rein formal oder national (ethnisch), sondern nach dem Rechtsprinzip definiert (als Teil einer Vielzahl von Menschen, welche in der Rechtsauffassung übereinstimmt); – und es ist nicht von Staats“gewalt“ (Obrigkeit), sondern vom „gemeinsamen Nutzen“ des Staates die Rede. Jean-Jacques Rousseau, der sich auch als „Citoyen de Genève“ bezeichnete, erläutert im 6. Kapitel des Ersten Buches des „Contrat social“ den Ausdruck „Republik” bzw. „Polis“ mit folgenden Worten: „… die meisten verwechseln Stadt (= ville) und Polis (= cité), Städter (= bourgeois) und Bürger (= citoyens). Sie wissen nicht mehr“, schrieb er, „dass die Häuser die Stadt, die Bürger die Polis ausmachen.“ Und von diesen citoyens sagt Rousseau, dass ihr wesentliches Definitionselement die Teilhaberschaft am Grundgut der öffentlich-republikanischen Autonomie ist: „Was die Mitglieder (der Polis) betrifft, so tragen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als Einzelne nennen sie sich citoyens, sofern sie Teilhaber an der Souveränität des Staates sind.“12 Charles de Montesquieu thematisierte in seinem „Esprit des lois“ Schlichtheit und Verantwortungsbewusstsein als besondere Tugenden des Bürgers in einer Republik.13/14 7 Barbara Ward, paper to the Pontificial Commission on Justice and Peace, zitiert in: Report of the Commission on Global Governance, Oxford 1995, p. 47. 8 Vgl. dazu: Thomas Maissen, Republik, Historisches Lexikon der Schweiz, URL: http://www.hlsdhs-dss.ch/textes/d/D9925.php, sowie Hartmut Galsterer, „Res publica.“ In: Der Neue Pauly, hrsg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider (Antike), Brill 2009. URL: http://brillonline.nl/subscriber/ entry?entry=dnp_e1021420 [Stand 12. 9. 2011], 9 Näheres bei Manfred Fuhrmann, Cicero und die Römische Republik, eine Biographie, München 1997, S. 15. 10 In Cicero, De re publica 1, 39 heisst es: „Est igitur“, inquit Africanus, „res publica res populi, populus autem, non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus (…)“. Sinn des (das Volk verkörpernden) Staates ist demnach vor allem die Verwirklichung des Rechts und sodann der gemeinsame Nutzen der Bürger. 11 Fuhrmann, a.a.O., S. 15. 12 Georg Kohler, Bürgertugend und Willensnation – Über den Gemeinsinn und die Schweiz, Zürich 2010, S. 22. 13 Charles de Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Genève (1758), Livre 5, Chapitre III. 14 Vgl. auch Edgar Mass (Hrsg.). Montesquieu zwischen den Disziplinen, Berlin 2010, mit einem Beitrag von Alois Riklin, Was Montesquien noch nicht wissen konnte, S. 239 ff.
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Der spanische Theologe und Philosoph Francisco Suarez (1548–1617) sah schon früh, dass das Ziel des Völkerrechts das „allgemeine Wohl des Menschengeschlechts“ sein müsse, da einzelne Gemeinschaften nicht selbst genügsam seien und gegenseitige Unterstützung bedürften.15 Und eine fünfte Gestalt des republikanischen Denkens schliesslich, die ich hervorheben will, Barack Obama, sagte, als hätte er gerade Montesquieu gelesen, in seiner Inaugurationsrede als 44. Präsident der Vereinigten Staaten vom 20. Januar 2009: „What is required of us now is a new era of responsibility – a recognition on the part of every American that we have duties to ourselves, our nation, and the world, duties that we do not grudgingly accept but rather seize gladly, fi rm in the knowledge that there is nothing so satisfying to the spirit, so defi ning of our character, than giving our all to a difficult task. This is the price and the promise of citizenship.”
Und diejenigen, die sich mit ihrem Leben für die Vereinigten Staaten eingesetzt hatten, würdigte Barack Obama in der Tradition früher grosser amerikanischer Präsidenten wie George Washington, Abraham Lincoln oder John F. Kennedy mit den Worten: „They saw America as bigger than the sum of our individual ambitions, greater than all the differences of birth or wealth or fraction.“16 Wir haben verschiedene Sinngehalte der „Res publica“ aufgegriffen.17 Ich nenne fünf konstituierende Elemente: – Die Sache der Allgemeinheit ist in der Res publica wichtiger als die Person, die Macht ausübt. – Politik ist Sache der Öffentlichkeit: sie soll sich im öffentlichen Raum abspielen und transparent sein. – Politik und verfassungsrechtliches Denken haben grundsätzlich Primat über Wirtschaft und andere gesellschaftliche Mächte. – Die Freiheit des Bürgers – sein schöpferisches Tun und Handeln – trägt den Verfassungsstaat. – Politik erschöpft sich nicht im Aushandeln von Interessenpositionen; ihr Ziel ist die Wahrnehmung von Verantwortung durch Behörden und Bürger für das unmittelbare Umfeld wie auch für das Ganze. Oberstes Ziel der „Res publica“ ist, national und international, das Wohl aller, das Gemeinwohl.18 Das Konzept der „Res publica“ soll uns nun gleichsam als Prisma dienen, durch welches die nachfolgenden Topoi angesehen werden: Menschenrechte, Bürgertugenden und neue Feudalismen. Wir befassen uns mit einem Begriff, der zurzeit zwar in der Alltags- und Wissenschaftssprache verblasst ist, aber – wie ich meine – ein hohes Gestaltungspotenzial für die Zukunft besitzt. Nicht umsonst deklarieren sich mehr als 100 Staaten der Welt sowie alle französischsprachigen Kantone der Schweiz 15
De legibus ac Deo legislatore, II, cap. 19.9. http:www.whitehouse.gov/. 17 Interessant sind parallele Entwicklungen in Afrika. Hier spricht man von “people-driven constitutional processes”. Es liegt diesem Demokratieverständnis der Glaube zugrunde “that without a general sense of ‘ownership’ that comes from sharing authorship, today’s public will not understand, respect, support and live within the constraints of constitutional government.” Näheres bei Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich/Berlin 2005, S. 33. 18 Ausführliche Erläuterungen zum Gemeinwohlgedanken: Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aktualisierte und erweiterte Aufl., Baden-Baden 2011, S. 369–395. 16
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und das Tessin als „Republiken“.19 Anhand der Ideen der „Res publica“ wollen wir die verschiedenen Themenbereiche durchleuchten.
II. Menschenrechte: unverzichtbar und wandelbar Wenden wir uns zunächst den Menschenrechten zu, mit denen ich von meiner bisherigen Arbeit her am besten vertraut bin.20 Menschenrechte, als zentraler Teil des modernen Gemeinwohlverständnisses21, haben sie viele Wurzeln. Einer der wichtigsten Ursprünge des modernen Menschenrechtsschutzes waren, wie in Expertenzirkeln und in der breiten Öffentlichkeit zu wenig bekannt ist, die Rotkreuzbewegung und die Genfer Rotkreuzkonvention von 1864. Henri Dunant, wie Rousseau ein Bürger von Genf, hatte die Vision, dass im Völkerrecht unmittelbar auch der Mensch, in diesem Fall das Opfer eines Krieges, seinen Platz haben solle. Das war neu und präzedenzlos in der damaligen Welt des Völkerrechts: des Völkerrechts als der von souveränen Staaten monopolisierten internationalen Ordnung und der sie repräsentierenden Monarchen, Generäle und Diplomaten. Erst viele Jahrzehnte später gab der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, aus der amerikanischen Verfassungstradition schöpfend, den Anstoss zur Schaffung der modernen internationalen Menschenrechtssysteme. In einer Rede vor dem Kongress verkündete Roosevelt 1941 die Vision einer Weltordnung, die auf vier Grundfreiheiten des Menschen beruht: – “freedom of speech and expression – everywhere in the world”; – “freedom of every person to worship God in his own way – everywhere in the world”; – “freedom from want … – everywhere in the world”; – “freedom from fear – which, translated into world terms, means a worldwide reduction of armaments …– anywhere in the world.”22 Elementare Menschenrechte bedürfen des effektiven Schutzes. Sie müssen von Tag zu Tag neu erkämpft werden. So ist es etwa ein Skandal und muss stigmatisiert werden: 19 Der aus der Französischen Revolution hervorgegangene Staat bezeichnete sich als „République une et indivisible (in späteren Verfassungen als „liberale“, „arbeitssame“ Republik). In der Schweiz wurden zur Zeit der Helvetik eine ganze Anzahl von Republiken ausgerufen, von der Republik Léman, der Raurachischen Republik im früheren Bistum Basel bis zur Cisalpinen Republik in Graubünden, ja der helvetische Staat bezeichnete sich selbst als Republik. In Zürich erhob sich die Landbevölkerung „im Namen der Republik“ gegen die Herrschaft der Stadt. Genf war schon seit langem als Republik konstituiert, und heute deklarieren sich alle (rein) französischsprachigen Kantone und das Tessin in ihren Verfassungen als Republiken. Auch in der föderativen Homogenitätsklausel der Bundesverfassung von 1874 erscheint der Begriff der „Republik“. 20 Vgl. Thomas Buergenthal/Daniel Thürer, Menschenrechte – Ideale, Instrumente, Institutionen, Zürich und Baden-Baden 2010; Daniel Thürer, International Humanitarian Law: Theory, Practice, Context, in: Hague Academy of International Law, Collected Courses, Volume 338, Leiden and Boston 2011. 21 Das Gemeinwohl und synonym die „öffentlichen Interessen“ sind Teil einer breiten rechtswissenschaftlichen Diskussion. Nachweis in: Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 768ff. 22 US President Franklin Delano Roosevelt, The four freedoms, Speech at the 77th Congress, January 6th, 1941.
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– dass Dissidenten oder Regimekritiker wie der Chinese Ai Weiwei unter Verletzung fundamentaler Prinzipien des “Rule of Law” inhaftiert wurden; – dass ein Staat wie die USA mit einer so stolzen Tradition des Rule of Law in Guantánamo und Abbi Graib gefoltert hat und sich heute in Guantánamo noch über 170 Menschen in Haft befinden; – dass im Gazakrieg Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht schwerwiegend verletzt wurden; – dass unlängst in Frankreich Romas massenhaft abgeschoben wurden, und unzählige weitere Beispiele liessen sich anführen. Insgesamt haben wir aber den Eindruck, dass die Menschenrechtsbewegung heute nicht nur in eine Konsolidierungsphase, sondern in eine Phase der Stagnation eingetreten sei.23 Menschenrechte sind, in den Händen einer grossen Zahl von Experten, wohl zu sehr dogmatisiert und bürokratisiert worden. Der Geist, die Uranliegen des Menschenrechtsschutzes treten in der technischen Sprache vieler Judikate und Expertenberichte zu wenig kraftvoll in Erscheinung. Wir sind uns auch zu wenig bewusst, wie mangelhaft und unstabil das Gebäude des modernen Menschenrechtsschutzes als Ganzes noch immer ist: unfertig und wenig ausbalanciert, Stückwerk, wie ich meine. Gerade aus dem Blickwinkel der „Res publica“ lassen sich grundlegende Mängel identifizieren. Ich nenne sechs: – Zunächst leidet der moderne Menschenrechtsschutz – oder besser: das Menschenrechtsbewusstsein – noch immer unter einer historischen Schwäche. Menschenrechte wurden weit herum und auch in europäischen Ländern lange als „Gabe“, „Geschenk“, eine „Begünstigung“ aus der Hand der Obrigkeit verstanden und gelebt, nicht als eigentliche subjektive Rechte. Dies im Unterschied etwa zu England, den Vereinigten Staaten und Frankreich, deren Bürger in grossen Revolutionen selbstbewusst, in republikanischem Geist, klassische Menschenrechtserklärungen gefordert und hervorgebracht hatten. Diese historische Schwäche lebt in einer Mentalität des passiven Menschenrechts“konsums“ noch heute vielerorts fort.24 – Eng damit zusammen hängt, zweitens, die Tatsache, dass die politischen Rechte des „citoyen actif“, im Gegensatz zu den klassischen Freiheitsrechten und den Sozialrechten, nicht im Zentrum des modernen Menschenrechtsverständnisses stehen. Demgegenüber hatte etwa Hannah Arendt dargetan und gefordert, dass politische Betätigung Selbstzweck und nicht Mittel zur Erreichung anderer Zwecke sei. Ihr plastisch formuliertes Leitbild des engagierten Bürgers und Intellektuellen 25 muss in modernen Menschenrechtssystemen einen stärkeren Widerhall fi nden.26 23
Vgl. David Kennedy, The Rights of Spring, Princeton and Oxford 2009. Vgl. Joseph H.H. Weiler, The Geology of International Law – Governances, Democracy and Legitimation, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 547 ff., 558; Daniel Thürer, Völkerrecht als Fortschritt und Chance – Grundidee Gerechtigkeit (International Law as Process and Prospect), Band 2, Zürich und Baden-Baden 2009, S. 241 ff. 25 Treffend dazu auch Denis de Rougemont: „La décadence d’une société commence quand l’homme se demande: Que va-t-il arriver? au lieu de se demander: Que puis-je faire?“ aus: L’Avenir est notre Affaire, Paris 1977, p. 368. In eine ähnliche Richtung gehen auch Claus Leggewie und Harald Welzer. In ihrem Buch: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, plädieren sie dafür, dass die „gefühlte Partizipation“ der Zuschauerdemokratie einer echten Teilhabe an der Gestaltung der Lebensverhältnisse weiche. Frankfurt a. Main 2009. 24
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– Als dritte Unvollkommenheit nenne ich gewisse weltregionale Einseitigkeiten. Die in Europa und Amerika vorherrschenden Menschenrechtskonzeptionen werden nicht überall auf der Welt geteilt. Sie gelten als „products of the west“, aber nicht ohne weiteres auch “of the rest of the world“. Dies gilt insbesondere für den amerikanischen Menschenrechtsdiskurs, der geprägt ist von Legalismus, Hyperindividualismus und übertriebener Absolutheit.27 Völkerrechtler und Philosophen in Asien und Afrika träumen aber nicht so sehr von einem „Day in Court“, sondern von Verfahren der „Vermittlung“, des „Vergleichs“ und der „Versöhnung“. Netze der Kommunikation erscheinen ihnen wichtiger als hierarchische Verfahren zur Implementierung formalisierter Texte.28 Ein Zulu-Sprichwort sagt, den Kern der Menschenrechte in der Mitmenschlichkeit erblickend: “A person is a person through other people.“29 Scheinen hier nicht Gedanken auf, die wir der republikanischen Geistestradition zuordnen können? – Menschenrechte sind, viertens, so wie sie heute konzipiert sind, fast ausschliesslich auf das Verhältnis zwischen Menschen und Staat bezogen. Es ist aber wichtig, dass wir beginnen, Rechte in einem breiteren Kontext zu verstehen. Wir müssen davon ausgehen, dass der Staat nicht die einzige Quelle von Bedrohungen der Menschenrechte ist und dass staatliche Massnahmen oft nicht genügen, um zentrale Menschenrechte zu schützen. Das bedeutet, dass auch die Bürger, als Individuen und Glieder von Gruppen und Vereinigungen, sowie Institutionen privater Macht verpfl ichtet sind, die Rechte Anderer anzuerkennen, und dazu beitragen sollen, sie zu schützen.30 – Fünftens fällt auf, dass in modernen Menschenrechtskonzepten – zwar (noch) nicht zentral, aber doch klar und deutlich – den „Rechten“ auch Pfl ichten, Verantwortlichkeiten zur Seite gestellt werden.31 Mahatma Gandhi soll, zum Projekt der nach dem Zweiten Weltkrieg debattierten Allgemeinen Menschenrechtserklärung befragt, kommentiert haben, seine Mutter habe ihn gelehrt, dass primäres Gebot die Loyalität zur staatlich-mitmenschlichen Gemeinschaft sei; denn ohne ein fest errichtetes Gemeinwesen könne es auch keine Rechte gegen die Behörden des Gemeinwesens geben. In der Afrikanischen und in der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention nehmen pionierartig, wie mir scheint, die Menschenpfl ichten einen prominenten Platz ein. 26
26 Vgl. z. B. Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago and London 1958, p. 248 ff.; dies., Ich will verstehen – Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München und Zürich, S. 44 ff.; Phillip Hansen/ Hannah Arendt, Politics, History and Citizenship, Stanford 1993, p. 89 ff. 27 So die Kritik von Mary Ann Glendon, Human Rights Talk – The Impoverishment of Political Discourse, New York 1993, p. iX ff. 28 Onuma Yasuaki, A Transcivilizational Perspective on International Law – Questioning Prevalent Cognitive Frameworks in the Emerging Multi-Polar and Multi-Civilizational World of the TwentyFirst Century, in: Recueil des Cours, Hague Academy of International Law, Volume 342 (2009), p. 100 ff. 29 Übersetzung vom authentischen Wortlaut („Umuntu ngumuntu ngabantu“) bei Richard Stengel, Mandela’s Way – Fifteen Lessons on Life, Love and Courage, New York 2009, p. 231. 30 So in „The Report of the Commission on Global Governance, Our Global Neighbourhood”, New York 1995, p. 56. 31 Thomas Buergenthal/Daniel Thürer, Menschenrechte – Ideale, Instrumente, Institutionen, Zürich und Baden-Baden 2010, S. 297 ff., 319 ff.
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– Und sechstens glaube ich, dass verschiedene Positionen des Menschenrechtschutzes breiter interpretiert werden sollen. Nennen wir ein erstes Beispiel: Präsident Roosevelt hatte zur „freedom from fear“ auch an die weltweiten Anstrengungen zur Reduktion militärischer Rüstung gedacht. Diese wird – wenn überhaupt – von Ministern, Diplomaten, Funktionären und Experten als „bargain“ und „deal“ zwischen den interessierten Staaten aufgefasst und betrieben. Abrüstung sollte aber unmittelbar als existenzielles Anliegen der Menschen gesehen und im Lichte der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts und der Werte der Allgemeinheit interpretiert werden.32 Kalkulationen über den Abbau von Sprengköpfen berühren die Intuition von Menschen nicht, die Vorstellung von menschlichem Leiden aber macht betroffen. Ein zweites Beispiel: Aktuelle Ausgestaltungen traditioneller Menschenrechtskonzepte scheinen, im historischen Vergleich, fragwürdig geworden zu sein. Eigentum etwa wurde in früheren Zeiten vorab als Recht auf „Zugang“ („acces“) zu öffentlichen Gütern (Flüssen, Gebäuden, Wäldern usw.) und nicht als egoistisch motiviertes, Ausschliesslichkeit beanspruchendes „subjektives“ Recht verstanden. Die Gemeinnützigkeit von Eigentum sollte wieder vermehrt in den Vordergrund treten. Dies also sind einige Punkte der Kritik und Vorschläge zur republikanischen Neuinterpretation des zeitgenössischen Menschenrechtsschutzes. Die Liste liesse sich verlängern. Fazit ist: Das Menschenrechtssystem ist bei weitem nicht perfekt, sondern in höchstem Masse entwicklungsbedürftig. Es befi ndet sich im Fluss. Es bedarf der stetigen Anpassung und Fortbildung. In diesem Prozess kann, wie ich meine, die republikanische Tradition essenzielle Anstösse geben.
III. Bürgertugend – traditionell, aber doch neu Bürger„tugend“ ist kein juristischer Begriff. Auch scheint das Wort etwas veraltet, antiquiert. Dennoch ist „virtus“, „virtue“, „vertue“, „virtú“ eingewurzelt im klassischen Vokabular der politischen Philosophie.33 Und wir brauchen die Figur der Bürger-Gesinnung, das Bürger-Ethos, die Zuwendung der Menschen zum Gemeinwesen, um die Kultur und das gute Funktionieren des demokratischen Staates zu verstehen und fortzuentwickeln.34 32 „A world free of nuclear weapons would be a global public good of the highest order.“ United Nations Secretary-General Ban Ki-moon in his address to the East-West Institute, 24 October 2008. Näheres zum Thema bei Daniel Thürer, International Humanitarian Law, a.a.O., S. 11 ff. 33 Der Begriff erscheint auch in klassischen Rechtstexten wie der Virginia Bill of Rights von 1776 oder in politischen Reden z. B. von General George Washington. 34 Für mich war prägend, dass ich in einem Landsgemeindekanton aufgewachsen war. Die ganze Familie begleitete jeweils am letzten Sonntag im April den Vater zur Landsgemeinde. Er trug – als Beweis seiner Teilnahmeberechtigung – einen Degen mit sich. Er sagte, die Waffe symbolisiere, dass der Bürger nicht nur Rechte, sondern auch Pfl ichten habe. Auf seinem Degen war „suum cuique“ eingraviert. Auf meinen 20. Geburtstag schenkte der Vater auch mir ein „Seitengewehr“, auf das er eine Stelle aus der Gefallenenrede von Perikles in griechischen Lettern eingravieren liess, nämlich: „To eudaimon to eleutheron” („Seht das Glück in der Freiheit“.) Mein Vater war der Meinung, dass es nicht
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Lassen Sie mich konkretisieren, was ich meine. Bürgertugend im Kontext der Demokratie und insbesondere der halb-direkten Demokratie, bedeutet – in die heutige Sprache übertragen – verschiedene Dinge: die Fähigkeit zur Deliberation; die Fähigkeit zum selbständigen, das heisst nicht experten-hörigen Denken als Generalist; Imagination und Repräsentierung des Ganzen; Einordnung politischer Vorgänge in die internationalen Zusammenhänge; und schliesslich politische Willensbildung und Beschlussfassung auf faire Weise und in geordneten Prozeduren.
1. Bürgertugend heisst zunächst Deliberation, dann Dezision In der Schweiz wurden, wenn man Bund und Kantone zusammennimmt, bisher weit über 1000 Abstimmungen durchgeführt. Mehr als die Hälfte aller weltweit abgehaltenen Referenden fand in der Schweiz statt. Die Dichte der Volksabstimmungen ist in der Schweiz im Steigen begriffen. Der Stimmbürger befi ndet sich dauernd im Einsatz. Wir betrachten die Demokratie vor allem formal, unter dem Gesichtspunkt des Urnengangs. Hier wird autoritativ festgehalten (gleichsam abgestempelt), was der Wille des „Souveräns“ ist. Es ist aber interessant festzustellen, dass es in anderen politischen Kulturen nicht die Dezision, sondern vor allem die Deliberation – nämlich die Kunst des Argumentierens, der Auseinandersetzung, des Abwägens, des Verhandelns – ist, die substanziell das Wesen der Demokratie ausmacht.35 Insgesamt hat wohl Keiner die deliberative Demokratie besser beschrieben als der berühmte Ökonom Amartya Sen, der in klarer und überzeugender Sprache vor allem die alte Dialogkultur Indiens zur Darstellung brachte.36 Und vielleicht hat Keiner, in Bezug auf lokale Versammlungen, die von Fairness des Verfahrens und gegenseitigem Respekt der Beteiligten geprägte, würdige Rede- und Diskussionskultur schöner und anschaulicher beschrieben als Nelson Mandela in seinen Erinnerungen an Zusammenkünfte von Stammesgenossen in seiner alten Heimat.37 Im schweizerischen politischen Alltag nimmt die Kultur des differenzierten Deliberierens, des Austausches und des Abwägens von Gesichtspunkten traditionellerschade sei, wenn einige Landsgemeindemänner auch die Gerechtigkeitsformel von Justinian und das Freiheitsbekenntnis von Perikles, des grössten Staatsmannes des klassischen Athen, kennen würden. 35 Vgl. Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht – Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich 2005, S. 41 ff. 36 Amartya Sen, The Argumentation – Indian-Writings on Indian Culture, History and Identity, London 2005, p. 3 ff. 37 Nelson Mandela, Long Walk to Freedom – The Autobiography of Nelson Mandela, London 1994, p. 24: “My later notions of leadership were profoundly influenced by observing the regent and his court. I watched and learned from the tribal meetings that were regularly held at the Great Place … Soon the Great Place became alive with important visitors and travellers from all over Thembuland. The guests would gather in the courtyard in front of the regent’s house and he would open the meeting by thanking everyone for coming and explaining why he had summoned them. From that point on he would not utter another word until the meeting was nearing its end. Everyone who wanted to speak did so. It was democracy in its purest form. There might have been a hierarchy of importance among the speakers, but everyone was heard: chief and subject, warrior and medicine man, shopkeeper and farmer, landowner and labourer. People spoke without interruption and the meetings lasted for many hours. The foundation of self-government was that all men were free to voice their opinions and were equal in their value as citizens (Women, I am afraid, were deemed second-class citizens).”
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weise einen hohen Stellenwert ein. Dies ist in der Wissenschaft und den anspruchsvolleren Medien der Fall. Dennoch stellen wir neuerdings fest, dass in Abstimmungskampagnen zunehmend populistische, emotionsgeladene, demagogische und stillose, niveaulose und unanständige Formen der Auseinandersetzungen um sich greifen. Texte, die zur Abstimmung vorliegen, werden oft gar nicht zur Kenntnis genommen. Es wird eine Meta-Auseinandersetzung über Propagandaslogans und Werbebilder geführt, oft angeheizt durch Angst und Vorurteile. Personen (mit ihren Eitelkeiten) und nicht die Sache, Sound-bytes und standardisierte „Argumentarien“ und nicht die unabhängige, vernünftige Beurteilung der in Frage stehenden Entscheidung sind zu treibenden Kräften der politischen Willensbildung geworden. Verderben (gewisse) Massenmedien mit ihrem Zug zur Banalisierung und Degenerierung der öffentlichen Auseinandersetzung das sachliche Funktionieren der (halb-direkten) Demokratie? Die Welt Gutenbergs (und vielleicht nunmehr das Internet 38 ) war den Idealen von (rational gestalteter) Republik und Bürgerverantwortung wohl eher geneigt als die Welt der marktbeherrschenden, effekthaschenden Medienkonzerne.39 Dem Idealbild der Agora steht die Sorge um eine Verunstaltung des öffentlichen Raumes, im geistigen und physischen Sinn, gegenüber. Subterran weiten sich Emotionen zunehmend aus, die sich nur schwer kontrollieren lassen. Die „Res publica“ aber bedarf der öffentlichen, wesentlichen und reinigenden, vernünftigen Deliberation.
2. Bürgerkultur heisst nicht Expertengläubigkeit Die Kehrseite der emotionalen Verwilderung der politischen Kultur ist Hörigkeit Experten gegenüber. Auch übertriebene Expertengläubigkeit widerspricht der Idee der Republik und der Bürgertugend. Ein englischer Autor kritisierte die technokratische Verarmung der politischen Kultur mit den Worten: “Not many ‘lay people’ are likely to challenge the Chancellor of the Exchequer, or the Secretary of the Treasury or their expert advisors in such matters.” Würden sie dies tun, so würde ihnen gesagt – wie der mittelalterliche Priester seine Gläubigen belehrte –, dass dies Fragen seien, um die sie sich nicht zu kümmern bräuchten; die Liturgie müsse in einer obskuren Sprache gesungen werden, zugänglich nur für die Eingeweihten; für alle anderen genüge der Glaube.40 Verstehen Sie mich, meine verehrten Damen und Herren, bitte nicht falsch. Ich säge nicht am Ast, auf dem ich selber sitze. Natürlich braucht es die Expertise, von Physikern und Geo-Forschern etwa in Fragen über die ökologischen Folgen der Standortwahl für eine Atommülldeponie, von Juristen etwa über die Vereinbarkeit einer Volksinitiative mit völkerrechtlichen Verträgen usw. Was ich aber bedaure, ist die Art und Weise, wie Wissenschafter oder andere Sachverständige agieren und 38 Perlot untersuchte in einer Studie das deliberative Potential von Internetforen und kam zum Schluss, dass dieses nicht normativen Vorstellungen deliberativer Prozesse entspreche, vor allem weil zum Teil emotional anstelle von rational diskutiert wird. 39 Siehe Al Gore, The Assault on Reason, New York 2007, p. 6: “The Republic of Letters has been invaded and occupied by the empire of television.” 40 Tony Judt, Ill fares the Land, New York 2010, p. 161.
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wahrgenommen werden: als Verwalter von spezialisiertem, parzelliertem, sog. professionellem Wissen, das nicht in Frage zu stellen ist. Dabei gehört es – so glaube ich – gerade zur politischen Tugend des Bürgers, dass er das für das gute Funktionieren einer komplexen Gesellschaft erforderliche Einzelwissen in einen Gesamtzusammenhang, eine Gesamtwertung hineinzustellen vermag. Wesentlich in einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Welt ist, dass der Bürger und die Bürgerin gerade ihre ureigene Rolle als Generalisten wahrnehmen. Ihre Alltagserfahrung, ihre Imagination und ihr politischer Instinkt können sie in die Lage versetzen, zu Urteilen zu gelangen, die mehr sind als eine Summe von Einzelanalysen.
3. Bürgertugend meint repräsentatives, ganzheitliches, ja kosmopolitisches Denken Was ist hiermit gemeint? Vielleicht lässt sich das am besten erklären mit Bezug auf einen jüngeren wichtigen, grundsätzlich bedeutsamen Entscheid des amerikanischen Supreme Court. Im Fall Roper v. Simmons41 befasste sich das Gericht mit der Zulässigkeit der Verhängung der Todesstrafe für Jugendliche. Im Rahmen der Verfassungsklausel über das Verbot von „cruel and unusual punishment“ äusserte sich das Gericht zur Figur von „evolving standards of decency“. Darf dabei, so fragte es sich, auf die Rechtsprechung nicht-amerikanischer Gerichte wie des deutschen Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen werden? Chief Justice John G. Roberts hatte hierzu im Rahmen des “confi rmation hearing” vor dem Senat ausdrücklich festgehalten, die Tatsache, dass er, mit „advice and consent of the Senate“, vom amerikanischen Präsidenten in sein Amt eingesetzt worden sei, verbiete es ihm, sich bei der Auslegung der Verfassung auf ein Urteil eines deutschen Richters zu stützen. Hierauf antwortete Richterin Ruth Bader Ginsburg: “Why shouldn’t we look to the wisdom of a judge from abroad with at least as much ease as we would read a law review article written by a professor?”42 Gleiche Überlegungen treffen auf die Stimmbürger zu. Sie stehen in der noch grösseren Gefahr als die Richter, in die Falle des Provinzialismus („trap of parochialism“) zu geraten43. Dabei ist es eine Eigenheit aufgeklärter Bürger und Behörden, in grösseren Zusammenhängen, eben „ganzheitlich, kosmopolitisch“ – wie Richterin Ginsburg – zu denken.44 Es geht hier aber nicht nur um eine Methode der Reflexion, sondern auch um eine Maxime des politischen, internationalen Verhaltens. In unserer Welt der nachbarlich und global immer enger zusammenrückenden Staaten
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543 U.S. 551, 2005. Siehe Amartya Sen, The Idea of Justice, London and New York 2009, p. 406. 43 A.a.O., p. 403 ff. 44 Gottfried Keller schrieb in den Entwürfen zum „Grünen Heinrich“: „…dieses schöne Eigenschaft [der Patriotismus, Anm. D. Thürer] muss gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden, und ohne die grosse und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgerthumes ist der Patriotismus ein wüstes, unfruchtbares und todtes Ding.“ Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Bd. 19, Zürich und München 1926, S. 354. 42
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muss sich auch der Staat selber als ein „good neighbour and global citizen“ benehmen.45 Dazu kommt die folgende, wichtigste Dimension: Das Korps der Stimmbürgerinnen und Wähler deckt sich in keinem Land – in besonders hohem Masse aber nicht in der Schweiz – mit der Summe der von Entscheiden Betroffenen. Es gehört aber zu den Grundgeboten der politischen Fairness gerade in einer direkten Demokratie, dass die Minderheit der nicht stimmberechtigten Ausländer eine Stimme in den Prozessen der Willensbildung besitzt, und zwar eine Stimme, die auch effektiv gehört wird. Dieses Gebot, Angehörige von Minderheiten als Mitmenschen ernst und auf sie Rücksicht zu nehmen, ist etwa in der Minarettabstimmung dem muslimischen Bevölkerungsteil gegenüber sträfl ich verletzt worden.46 Viele von ihnen haben das Verdikt der Stimmbürger, auch wenn sie selbst nicht die Moschee aufsuchen, als einen pauschalen Akt der Ausgrenzung, als einen Akt mangelnden Respekts, erlebt. Natürlich ist es richtig – und dafür müssen wir uns einsetzen –, dass den traditionellen Menschenrechten ein Vorrang vor religiösen oder ideologischen Fundamentalismen jeglicher Observanz zukommt 47. Beim Urnengang vom November 2009 ging es aber nicht um die abstrakte, symbolische Frage der Zügelung religiöser Arroganz im rechtlich verfassten Staat als solche: Abgestimmt wurde über einen konkreten Text, und diesen galt es zu beurteilen. Die Ungerechtigkeit des Minarettartikels besteht schlicht in der Absolutheit seiner Formulierung, in der Verletzung der Verhältnismässigkeit. Die Abstimmung hatte zur Folge, dass sich viele Muslime – ob gläubig oder nicht – in der Schweiz diskriminiert, als Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen. Auch Minderheiten, die in der Schweiz leben, sind Teil der Republik.
4. Bürgertugend ist eingebettet in die Welt des Völkerrechts Schweizerinnen und Schweizer üben ihre politischen Rechte auf drei Stufen des Staates aus, derjenigen der Gemeinde, des Kantons und des Bundes. Zunehmend tangieren Volksentscheide auch Sphären des Völkerrechts. Zu gefährlichen Konflikten zwischen Landesrecht und Völkerrecht kann es insbesondere im Zusammenhang mit Volksinitiativen kommen. Die Frage des Verhältnisses von Völker- und Landesrecht ist aber viel weiter. Zur Bürgertugend gehört heute – von Tag zu Tag stärker – eine Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger für die Existenz und die besonderen Belange des Völkerrechts. Was ist gemeint? Gemeint ist die Einsicht, einfach ausgedrückt, dass jeder Staat auf der Grundlage und im Rahmen übergreifender Ordnungsgefüge lebt und funktio-
45 Alyson Brysk, Global Good Samaritans – Human Rights and Foreign Politics, Oxford 2009, p. 223. 46 Lorenz Langer, Panacea or Pathetic Fallacy? The Swiss Ban on Minarets, in: Vanderbuilt Jounal of Transnational Law 2010, p. 863 ff. 47 Näheres bei Daniel Thürer/Karin Furer, La religion contre le principe fondamental d’humanité?, in: Economie, Environnement, Ethique, Liber Amicorum Anne Petitpierre-Sauvain, Zürich 2009, p. 367 ff.
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niert.48 Kein Staat besteht für sich allein. Die staatliche Republik ist Teil der „Res publica“ im weltweiten Sinn.49 Drei Horizonte des völkerrechtlichen Denkens eröffnen sich. – Völkerrecht ist zunächst schieres Produkt der Notwendigkeit des Zusammenlebens einer Vielzahl von Staaten und Völkern auf unserem Erdball. So wie es, im Rechtssinn, kein Grundeigentum gibt ohne Berücksichtigung der Rechte des Nachbarn und der gestaltenden Vorgaben des Bau- und Planungsrechts, so ist ohne Einbindung in ein System übergreifender Regeln ein friedliches, erspriessliches Zusammenleben von Staaten und Völkern in der Welt nicht denkbar. – Dazu kommt eine weitere, wie ich meine, ebenso elementare ethische Dimension: das Gebot der Gestaltung einer humanen Welt. Hier verfl iessen die Horizonte der nationalen, der transnationalen und der internationalen „Res publica“. Menschen sind Menschen diesseits und jenseits von staatlichen Grenzen, wo immer sie leben, überall auf der Welt. Schutz elementarer Rechte der Menschen und Solidarität mit Menschen in Not sind Angelegenheiten der „Res publica“, die weit über den Staat hinausreichen. Wir brauchen Foren wie etwa die Generalversammlung der UNO, welche das Problem des Wohlstandsgefälles und des Hungers in der Welt thematisieren 50 ; wir brauchen Institutionen universeller und regionaler Natur, die andere Formen der Ungerechtigkeit wie Rassismus bekämpfen 51 ; Klimawandel und seine Folgen sind zu einer Schicksalsfrage der Menschheit geworden. Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Völkerrechts, zum „Common Heritage of Mankind“ Sorge zu tragen, handle es sich dabei um die Ozeane, die Atmosphäre oder den Schutz der Kultur oder der Landschaft.52 – Hinzu kommen, als dritter Horizont, die Interaktionen mit andern Subjekten des internationalen Lebens als Alltagsgeschäft des Völkerrechts. In diesem Zusammenhang vertrete ich nicht die Meinung, dass völkerrechtlichen Verträgen – mit Ausnahme des sog. „ius cogens“53 – automatisch, gleichsam mechanisch, Vorrang vor dem Lan48 Noch immer bedeutend, ja gerade heute aktuell ist die Schrift von Immanuel Kant „Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1912, Bd. VII, S. 15 ff. 49 Marco Polo beschrieb Kublai Khan eine Brücke, Stein für Stein. „Aber welches ist der Stein“, fragte Kublai Khan, „der die Brücke trägt?“ „Die Brücke ist nicht durch den einen oder anderen Stein getragen“, antwortete Marco, „sondern durch den Bogen, der die Brücke formt.“ Kublai Khan schweigt und denkt nach. Dann fragt er: „Warum sprichst Du von den Steinen? Es kommt für mich nur auf den Bogen an.“ Polo antwortet: „Ohne Steine gäbe es auch keinen Bogen.“ In: Daniel Thürer, Völkerrecht als Fortschritt und Chance, Grundidee Gerechtigkeit, Band 2, Zürich und Baden-Baden 2009, S. 222. 50 Stéphane Hessel, Indignez-vous! Paris 2011, p. 21. 51 Vgl. Richard Stengel, Mandela’s Way – Fifteen Lessons on Life, Love, and Courage, New York 2009, p. 103 ff. 52 Näheres bei Rüdiger Wolfrum, Common Heritage of Mankind, in: Rudolf Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, Amsterdam, London, New York and Tokyo 1992, p. 692 ff. 53 Die Schweizerische Bundesverfassung nennt „zwingendes Völkerrecht“ als Schranken der Verfassungsrevision (Art. 139 Abs. 3, Art. 193 Abs. 4 und Art. 194 Abs. 2). Der Ausdruck „zwingend“ ist, nach dem allgemeinen Sprachverständnis, nicht glücklich gewählt. Besser wäre es, von einem „minimalen“ (oder „elementaren“) „Kern“ (oder „ordre public“) zu sprechen. Auch ist nicht klar, ob ein völker- oder ein staatsrechtliches Konzept gemeint ist (Rezeption eines Begriffs aus dem Völkerrecht oder autonomer staatsrechtlicher Begriff ). Richtig wäre es m.E., bei der Defi nition von Schranken der Verfassungsrevision nicht von der Unterscheidung der Systeme des Völkerrechts und des nationales Rechts, sondern vom Gedanken auszugehen, dass sowohl dem Völkerrecht als auch dem Staatsrecht
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desrecht zukommt. Vielmehr haben von Fall zu Fall Güterabwägungen zu erfolgen, wobei dem Prinzip „pacta sunt servanda“ (besser: „ius internationale est servandum“) ein sehr wichtiger Stellenwert zukommt und allgemein vom Primat des Völkerrechts auszugehen ist. Auch sollte sich bei Gerichten und politischen Behörden das Bewusstsein schärfen, dass der Staat nicht einfach dem Völkerrecht „unterworfen“ ist, sondern er dieses – als „Herr“ der Völkerrechtsordnung – mitgestalten kann. Mit der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen nimmt auch das Risiko von Sanktionen bei Rechtsverletzungen zu. So wäre es bei Verletzungen des Freizügigkeitsabkommens der Schweiz mit der Europäischen Union denkbar, dass die EU-Kommission dessen Kündigung androht oder vornimmt, und mit diesem Vertrag würden sämtliche 1999 von der Schweiz mit der Europäischen Union geschlossenen bilateralen Abkommen dahinfallen. Es ist fahrlässig, solche Risiken nicht ernsthaft zu diskutieren, einzukalkulieren, ja ohne weiteres in Kauf zu nehmen, dies als Preis für eine schäbige, ungerechte Ausländerbestimmung in unserer Verfassung! Gedacht ist hier an die unsorgfältige Redaktion der Ausschaffungsinitiative, welche am 28. November 2010 vom Stimmvolk angenommen wurde. Quintessenz: Auch als Bürger unserer nationalen Republiken dürfen wir nicht verkennen, dass diese in einer zeitlich und räumlich schrumpfenden Welt in eine Dynamik des Wandels hineingestellt sind, die wir nicht auf halten können. Internationales Recht ist auch unser Recht geworden. Als Staatsbürger müssen wir in der Lage sein, auch weltbürgerlich zu denken. Wie abwegig ist es, wie Don Quichotte Phantome von uns angeblich bedrohenden internationalen Bürokratien und „fremden Richtern“ zu bekämpfen! Die Frage ist doch: Wie schaffen wir es in einer Kultur der direkten Demokratie, mit weltweit um sich greifenden Herausforderungen wie etwa derjenigen eines neu auf brechenden Nationalismus umzugehen: offen und ohne die Probleme unter den Teppich zu kehren?
5. Bürgerkultur verwirklicht sich im verfassungsrechtlich geordneten Raum In der Schweiz sind die Bürger Verfassungsgeber. Die Mehrheit der Bürger insgesamt und in den Kantonen beschliesst über Revisionen der Verfassung. Eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern hat das Recht, mittels Volksinitiativen Texte zu formulieren, die dem Stimmvolk als solche zur Aufnahme in die Verfassung vorgeschlagen werden. Die Verfassung ist das höchste, richtungweisende Gesetz im Lande. In der Verfassung werden, in einem kohärenten System von Prinzipen, die Grundwerte und die Struktur des Staates festgehalten. Verfassungen geniessen in vielen Staaten höchste Wertschätzung, oft sogar eine beinahe sakrale Autorität; und sie werden oft unter besonderen höchstrichterlichen Schutz gestellt. Voraussetzung für die Schaffung von gewisse gemeinsame, unaufgebbare Rechtsprinzipien immanent sind. So wurde denn auch – René Cassin zufolge – die von der UNO-Generalversammlung 1948 verabschiedete Menschenrechtserklärung als „Déclaration universelle“ und nicht als „Déclaration internationale“ bezeichnet. Zur Problematik des zwingenden Völkerrechts vgl. Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht – Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich und Berlin 2005, S. 72 ff.
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neuem Verfassungsrecht ist, dass dies mit Blick aufs Ganze in einem geordneten Verfahren geschieht. Fairness von Prozeduren und Respekt vor Institutionen sind wichtig, gerade für Verfahren der direkten Demokratie. Nun aber haben wir es in jüngster Zeit mehrfach erlebt, dass ad hoc, beliebig und unsorgfältig redigierte Texte in den Prozess der Verfassungsgebung gelangten. Dies geschieht oft aus verständlichen Motiven. Wer bestreitet es, dass die Menschen vor Triebtätern geschützt werden müssen oder dass Ausländer, die massiv gegen die Ordnung des Gaststaates verstossen, weggewiesen und ausgeschafft werden können? Ich vertrete auch die Auffassung, dass Menschenrechten und der Forderung nach Toleranz im öffentlichen Raum der Vorrang vor Dogmen und Praktiken religiöser Natur zukommt. Wir denken an die Minarettabstimmung. Aber diese Anliegen dürfen nicht mit rechtsstaatswidrigen Methoden verfolgt werden. Neue Minarette im ganzen Lande vollumfänglich verbieten und Ausländer nach schematischen Vorgaben und ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Verhältnisse ausschaffen zu wollen, verstösst gegen das Willkürverbot und das Verhältnismässigkeitsprinzip und damit auch gegen den allgemeinen Gerechtigkeitssinn. Die Befürworter dieser Vorlagen (oder besser ihre Anführer) betreiben ein übles Spiel auf dem Rücken von Minderheiten, die – obwohl sie nicht mitbestimmen können – dem Recht des Staates unterworfen sind und daher gerade des Schutzes durch die Mehrheit bedürfen. Solche Urnengänge führen zu einem Verlust unseres Selbstrespekts und des Respekts der Andern. Diese Konsequenzen wollten vielleicht oft auch diejenigen nicht, welche die Texte verfasst haben. Sie haben die Sätze als Slogan geschrieben, aber nicht bedacht, dass sie Rechtstexte, Verfassungstexte schrieben. Solchen Missständen ist ein Riegel zu schieben. Verfassungsgebung darf nicht der Lust und Laune einiger Weniger überlassen werden, die unbekümmert um das Wohl des Ganzen und um elementare Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit ohne Kenntnis der völkerrechtlichen Prinzipien, in die der Staat eingebettet ist, sich anmassen, aus der Eingebung des Augenblicks Verfassungstexte zu schreiben. Zur Tugend der Bürger in der direkten Demokratie gehört es, dass sie sich nicht bloss um Ziele, sondern auch um die Mittel der Zielverwirklichung kümmern und dass sie die Worte ernst nehmen. Werte sind wichtig. Worte sind wichtig. Und es gehört zu den Aufgaben der politischen Behörden, sich nicht vor der vermeintlichen „Souveränität des Volkes“ (oder besser den Autoren von Abstimmungstexten) zu verbeugen, sondern dem Völkerrecht und grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Gute Vorschläge zur Vermeidung solcher Missbräuche liegen auf dem Tisch. Viele Kolleginnen und Kollegen, die heute in dieser Aula versammelt sind, könnten in wenigen Stunden demokratisch und rechtsstaatlich überzeugende Modelle der Problemlösung präsentieren. Ein (von Arnold Koller entwickelter) Gedanke, der mir – aus republikanischer Sicht – einleuchtet, wäre die Errichtung einer aus angesehenen Bürgern zusammengesetzten Kommission („Bürgerkommission“), welche die Texte für Volksinitiativen noch vor der Sammlung von Unterschriften mit den Initianten beraten und, sofern notwendig, die Beseitigung von Verletzungen grundlegender Prinzipien des Völkerrechts und des Verfassungsrechts empfehlen könnte; die Emp-
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fehlungen wären – wenn von den Initianten nicht befolgt – Gegenstand der Abstimmungsunterlagen.54 Wie haben es die Urbilder der schweizerischen Demokratie formuliert, so wie sie Friedrich Schiller beim Rütlischwur geschildert hat? Rief da nicht der Schwyzer Stauffacher aus: „Doch könnten Worte uns zu Taten führen.“55 Und der Unterwaldner Melchthal fügte an: „Warum bis morgen sparen, was wir heut’ vermögen.“56
IV. Neue Feudalismen Wir sind damit befasst, Vorgänge des modernen Lebens im Lichte und mit dem Fokus der „Res publica“ zu analysieren und zu bewerten. Wir gelangen zum dritten Topos, den ich mit „neue Feudalismen“ überschreibe. Dieser Ausdruck hat bei denjenigen, die sich zur Wahl des Themas meiner Abschieds- oder Zwischenbilanz-Vorlesung äusserten, eine gewisse Verwunderung, aber auch ein besonderes Interesse hervorgerufen. Ich meine Systeme und Strukturen der politischen oder gesellschaftlichen Aktualität, die sich hinter der Fassade des etablierten Rechts entwickelten und im Widerspruch zur Idee der „Res publica“ stehen. Der Begriff der „neuen Feudalismen“ ist unscharf und provokativ, eignet sich aber wohl gerade deshalb in besonderem Masse als Katalysator zur Kritik von Zuständen des Status quo.57 Als Feudalismus wird – wir wissen es – das vorstaatliche, vorvölkerrechtliche, mittelalterliche Rechts- und Gesellschaftssystem bezeichnet, das durch ein Geflecht von im metaphysischen Raum verankerten, quasi-kontraktuellen Machtbeziehungen zwischen Feudalherren und Lehensmännern bestand. Dass die Machtsysteme metaphysisch begründet wurden, besagte, dass sie keiner rechtlichen, öffentlichen Verantwortlichkeit unterstanden. Auch haben wir hierarchisch aufgebaute und nicht auf die Allgemeinheit ausgerichtete Machtbeziehungen vor uns, die nicht am Ideal des allgemeinen Gesetzes und des allgemeinen Wohls orientiert waren. Und schliesslich hatten die feudalen Netze einen gleichsam „privatrechtlichen“ Charakter, waren nicht öffentlich und nicht transparent. Genau solche Erscheinungen zeichnen sich tendenzmässig auch in der Gegenwart ab, und zwar im internationalen wie auch im nationalen Bereich. Ich möchte sie mit der „Res publica“ im soeben aufgezeigten Sinn konfrontieren und aus diesem Geist, wenn auch nur mit einigen Stichworten, einer Kritik unterziehen.
54 Dieser Vorschlag wurde von alt Bundesrat Arnold Koller in einem Zeitungsinterview gemacht. Ein solches konziliarisches System könnte mit einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle kombiniert werden. 55 Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, I. Aufzug, 3. Szene. 56 A.a.O., 4. Aufzug, 2. Szene. 57 Näheres bei Otto Brunner, Feudalismus, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, Stuttgart 1976, S. 337 ff.
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1. Illegitime internationale Regime? Zunächst zum Forum der internationalen Politik. Hier stellt der Anhänger der Idee, wonach auch die internationale Gemeinschaft als „Res publica“ zu konzipieren sei, mit einem gewissen Befremden fest, dass sich ausserhalb oder hinter der Architektur der Welt der internationalen Organisationen Machtgebilde zu entfalten beginnen, welche die fundamentalen Bauprinzipien dieser Organisationen „de facto“ relativieren und untergraben.58 Ich denke konkret an Gipfeltreffen im Rahmen von G-7, G-8 und heute vor allem von G-2O, an denen sich selbsternannte „leaders of the world“ zusammentun und sich anmassen, Einfluss auf die Staaten und internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds zu nehmen, ja sogar „verbindlich“ gemeinte Weisungen an internationale und innerstaatliche Institutionen zu erlassen. G-20, bestehend aus den führenden Industrienationen, einigen bedeutenden Schwellenländern und der Europäischen Union, preist sich als „premier forum“ für internationale Wirtschaftsfragen an.59 Solche Gipfelkonferenzen sind aber nicht repräsentativ für alle Staaten zusammengesetzt; G-20 erfasst nur zwei Drittel der Weltbevölkerung und – direkt oder indirekt – längst nicht alle der 193 in der UNO vertretenen Staaten. Die neuartigen Gebilde verletzen die Prinzipien der (absoluten und proportionalen) Gleichheit der Staaten und können nur schwer mit den international anerkannten Legitimationsprinzipien60 in Einklang gebracht werden. Es scheint, als ob die Regel: ein Staat, eine Stimme ersetzt wurde durch „one dollar, one vote“.61 Anerkannte Legitimationsprinzipien aber sind „rule of law“, Demokratie und „good governance“. Das erste Prinzip62 gebietet, dass sich öffentliche Institutionen und Organe in ihren Aktivitäten an den ihnen vorgegebenen Kompetenzrahmen halten und festgeschriebenen, fairen Prozeduren folgen. Das Demokratieprinzip verlangt die (gleiche) Beteiligung der Betroffenen am politischen Prozess; und zwar – nach moderner Auffassung – nicht nur der Regierungen, sondern auch gewählter Repräsentanten (Vertretungen nationaler Parlamente sowie lokaler Körperschaften und nichtstaatlicher, u.a. zivilgesellschaftlicher Organisationen). „Good governance“ schliesslich gebietet, als drittes Kriterium legitimer Entscheidfindung, Offenheit von Verfahren („transparency“), gleiche Teilhabe („participation“), Verantwortlichkeit („accountability“) und Interessensensibilität („responsiveness“). Intergouvernementale Netzwerke wie G-20 entsprechen den Legitimitätsidealen einer modernen internationalen Ordnung nicht. 58 Die Architektur der heutigen Weltorganisation hat klassische Wurzeln. So forderte Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (1795), „dass sich die Staaten intern als ‚Republiken‘ konstituieren und weltweit zu einem ‚Föderativen Gebilde‘ zusammenschliessen.“ Zukunftsweisend etwa Mireille Delmas-Marty, Trois déficits pour un droit mondial, Paris 1998, p. 172 ff. 59 Vgl. http://www.g20.org./about_what_is_g20.x. 60 Thomas Franck defi nierte Legitimität als „(…) a property of a rule or rule making institution which itself exerts a pull toward compliance on those who are addressed normatively because those addressed believe that the rule or institution has come into being and operates in accordance with generally accepted principles of right process.” In: The Power of Legitimacy among Nations, New York 1990, p. 24 61 Stéphane Hessel, Engagez-vous!, Paris 2010, p. 28. 62 Vgl. hierzu Daniel Thürer, Internationales „Rule of Law“ – innerstaatliche Demokratie, in: Schweizerische Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht, 1995, S. 455.
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Vielmehr gleichen sie in mancher Hinsicht Zusammenkünften von Fürsten und Diplomaten zur Zeit, als Europa im 19. Jahrhundert dem Regime der Pentarchie unterstand. Das nicht ausbalancierte System der Gipfeltreffen, die hinter verschlossen Türen stattfi nden und von denen die Öffentlichkeit nur über dürre Communiqués und Gruppenfotos der Teilnehmer erfährt, bedarf der festen rechtlichen Fundierung, der Demokratisierung und vermehrter Transparenz, dies etwa im Zeichen einer Reform des Systems von Bretton Woods. Die neue Welt der Gipfeltreffen darf nur einen transitorischen Charakter haben. Sie soll aber, über Finanz- und Wirtschaftsfragen hinaus, auch in eine Welt gestärkter internationaler Organisationen, zum Beispiel der UNO und ihrer Hauptorgane, führen. Die Schweiz könnte einen konstruktiven Beitrag leisten.
2. Missbräuche wirtschaftlicher Macht Das zweite Szenario von neuen Feudalismen betrifft vornehmlich, aber nicht ausschliesslich, den internen Bereich verschiedener sog. Industriestaaten. Ich denke an die Wirtschafts- und Finanzkrise, wie sie sich in den letzten Jahren abgespielt hat, aber noch nicht vorüber ist. Wir wissen es: Banken und andere Finanzinstitute haben versagt. Profitgier von Managern war eine Triebfeder von Machtmissbrauch.63 Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman sprach – die Wallstreet anvisierend – in einem Artikel der International Herald Tribune vom 20. April 2010 von „Plünderern in Geschäftsanzügen“, die Verbraucher und Investoren irreführten und ausbeuteten, und er sagte, dass die Finanzkrise zum grössten Teil Ergebnis eines korrupten Systems gewesen sei. Ebenso schlimm und symptomatisch für den heutigen Zeitgeist ist, dass nicht nur Unmoral, sondern Amoral am Werke ist: Es scheint – wie Susanne Schmidt ausführte – die Finanzwelt einfach nicht zu interessieren, wie man von den Normalmenschen wahrgenommen wird, oder besser: Normalmenschen interessierten nur insofern, als ihr Verhalten in ökonomische Indices eingespeist wird, die dann ihrerseits die Finanzmärkte beeinflussen.64 Hans Küng hat diese Missstände eindrücklich zur Sprache gebracht und nachdrücklich kritisiert. 65 Das wirtschaftliche System, wie es nach dem Kalten Krieg entstanden ist, hat zu grossen Machtakkumulationen geführt. Macht verleitet zu Missbrauch und Arroganz. Macht muss aber im Interesse aller eingeschränkt, aufgeteilt und kontrolliert werden. Das lehren wir im Staatsrecht, wenn wir von Grundrechten, föderalen und 63 Das Phänomen ist nicht neu. Gottfried Keller schrieb vor weit mehr als hundert Jahren: „Das Eisenbahnfieber kam über die Schweiz wie ein ausgeschüttelter Sack voll Nüsse. Man fiel darüber her, wie die Kinder; einige erwischten gute, andere taube Nüsse, und nun steht der schweizerische Zank um das Geld wieder einmal in voller Blüte.“ Und: „Das Schweizervolk ist da gewesen, eh’ es Eisenstrassen gab; es wird hoffentlich noch bestehen, wenn sie längst fertig gebaut und dem Wegknecht übergeben sind; denn sie sind kein Zweck, sondern nur ein Mittel. Dass sie vorübergehend zu einem verhängnisvollen Zwecke werden konnten, daran ist die Unruhe und Gewinnsucht aller schuldig.“ In: Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich und Berlin 2005, S. 293 f. 64 Vgl. Hans Küng, Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht, Zürich und München 2010, S. 125 ff., 144. 65 A.a.O., Anm. 45.
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dezentralen Staatsstrukturen oder von politischen bzw. richterlichen Verfahren der Verantwortlichkeit von Machthabern sprechen. In der englischen Verfassungsgeschichte hiess es lange: „The King can do no wrong.” Heute ist der Staat umfassenden richterlichen und demokratischen Kontrollen der Machtausübung unterworfen. Soll es anders sein bei mächtigen Wirtschaftskonzernen? 66 Sollen sich diese nicht als „good citizens“ verhalten müssen? Wie ist es zu rechtfertigen, dass Manager zivil- und strafrechtlich praktisch weitgehende Immunität geniessen? Darf es in einem Staat, dessen Ziel die Sicherung des Gemeinwohls ist, Oasen (“no man’s lands”) der Un-Verantwortlichkeit geben? Ist es nicht so, dass eine Symmetrie zwischen Macht und Verantwortlichkeit bestehen muss, dass Macht ein Einstehenmüssen für Verfehlungen impliziert, dass es nicht angängig ist, dass sich Einzelne unverhältnismässig bereichern und die Allgemeinheit die Folgeschäden von Misswirtschaft bereinigen, die „bits and pieces“ auflesen muss? Die Allgemeinheit hat ein eminentes Interesse daran, dass die Wirtschaft nicht nur effizient, sondern auch integer und anständig – eben im Sinn des Gemeinwohls – funktioniert. Dazu gehört – so Roger de Weck – vor allem, dass Unternehmen Menschenrechte respektieren und umsetzen sowie Gebote des Umweltschutzes oder der Korruptionsbekämpfung erfüllen, wie sie etwa in dem zwischen der UNO und führenden Unternehmen abgeschlossenen „Global Compact“ niedergelegt sind.67 Gesetzgeber und Rechtspraxis sind herausgefordert. „Colère publique“, wie ihn Emile Durkheim beschrieben hat, kann Triebfeder für fällige Reformen sein.68 Vielversprechend ist aber eine Mentalität, die ich immer wieder aus der jungen Generation heraushöre: dass Wirtschaft nicht unbedingt egoistisch und hierarchisch, befehlsmässig und unkontrolliert – eben „feudalistisch“ – sein muss, sondern auch empathisch sein kann, dass auf der Basis von „peer to peer“-Kommunikation neue Formen des Produzierens entstehen, dass freier Zugang und freie Nutzung von „digital commons“ einen Schlüssel zu Kreativität und Innovation darstellen können. Möglicherweise schlummern unter der Decke eines Wirtschafts- und Finanzsystems, das sich von der hässlichen Seite gezeigt hat, Kräfte der „Res publica“, die bald einmal hervorbrechen und auch unsere Welt des Rechts neu defi nieren können.69 An dieser Stelle danke ich auch den vielen intelligenten und unorthodoxen Studierenden, von denen ich auch meinerseits viel gelernt habe. *** Ich komme, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kollegen und Freunde, zum Schluss. Sie erwarten vielleicht, dass ich Ihnen nun in einigen abstrakten, komple66
Thürer, Völkerrecht als Fortschritt und Chance, a.a.O., Anm. 12, S. 927 ff.; ders., An den Grenzen des Rechts, in: Franz Matscher/Peter Pernthaler/Andreas Raffeiner (Hrsg.), Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky, Wien/Graz 2010, S. 759 ff. 67 Vgl. – sehr zutreffend – den Vorschlag für eine dahingehende Verpfl ichtung von Anlegern wie Pensionskassen von Roger de Weck, Nach der Krise – Gibt es einen anderen Kapitalismus? München 2009, S. 85. 68 Emile Durkheim, De la division du travail social, Livre I, chap. 2, 1893, p. 70 f. 69 Vgl. vor allem auch Jeremy Rifkin, The Empathic Civilization – The Race to Global Consciousness in a World in Crisis, New York 2009, p. 512 ff.
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xen, dichten Sätzen die Quintessenz meiner Überlegungen präsentiere. Denn eine Rede soll, wie die alten Rhetoriker lehrten, eine „expositio“ (oder „provocatio“), eine „explicatio“ (oder „demonstratio“) und eine „conclusio“ enthalten. Wir haben den Versuch unternommen, uns bekannte Institutionen, Verfahren und Gegebenheiten des Staates und des Völkerrechts mit der Linse der „Res publica“ neu zu betrachten, zu beleuchten und zu bewerten. Wir haben mit dem Bild einer Stadt in der Ukraine begonnen, die sich Renaissancestadt nannte. Ich möchte hier das Bild einer „Renaissance“ der „Renaissancestadt“ inszenieren, einer Bürger-Stadt, deren Leben sich nach dem Leitbild der „Res publica“ wie folgt gestaltet. Am fi ktiven Platz, wie ich ihn mir vorstelle, stünden nach wie vor die Gotteshäuser, allerdings nicht mehr so monströs, und die Ikonen in der russisch-orthodoxen Kirche wären in ihrer alten, vergeistigt-stilisierten Form wieder hergestellt, die Abbildungen der Machthaber und Oligarchen wären entfernt. An beherrschender Stelle stünde nun aber ein Rathaus mit seinen Annoncen über vielfältige Veranstaltungen, wo die Bürger frei eingehen und ausgehen, Rat holen, Sorgen deponieren und sich treffen können. Daneben stünden Schulhäuser und eine Universität. Eine Universität, deren proklamiertes Ziel es wäre, nicht segregiertes, enzyklopädisches Einzelwissen zu „unter“ richten, sondern als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden Bewährtes zu konsolidieren, „Terra incognita“ zu erschliessen, Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den Disziplinen zu suchen, die „philosophische“ Seite jedes „Fachs“ herauszuarbeiten, Sprache, Geschichte und logisches Denken zu pflegen und zu fördern und insgesamt eine Geisteshaltung zu entwickeln, in der Demokratie und Exzellenz keine Widersprüche sind, so wie dies auf die besten Universitäten der Welt zutrifft. An der Stelle der königlichen Residenz wäre ein Pavillon des Friedens errichtet worden, mit vielen Passerellen, in denen Vertreter verschiedener Weltkulturen und Zivilisationen zirkulieren und ihre Gedanken austauschen sowie Konzerte und Ausstellungen veranstalten. Auch ein „Palais de Justice“ mit der Inschrift „Salus publica suprema lex“ erhöbe sich auf dem Platz. Das Gericht verstünde sich mitunter als Hüter der grundlegenden Rechte der Menschen sowie des demokratischen und föderativen Systems. Zu seinen vornehmsten Aufgaben würde es gehören, für die Integrität und Fairness des demokratischen Prozesses zu sorgen und Ungleichgewichten im verfassungsstaatlichen System, auch plebiszitären Auswüchsen der direkten Demokratie, entgegenzutreten; denn auch die (halb-)direkte muss verfassungsrechtlich geordnet sein. In der Mitte des Platzes befände sich – eine Institution der Auf klärung aufgreifend – ein „patriotischer Tisch“, an dem Gespräche über das allgemeine Wohl des Gemeinwesens geführt werden. An diesem Tisch sässen etwa: – Eine Publizistin, die von tiefgreifenden gestaltenden Einflüssen der Literatur auf das (kollektive) Bewusstsein der Menschen und das Gemeinwesen spricht; Namen wie Peter von Matt oder Jacques Chessex werden genannt. – Ein Völkerrechtler, der dafür kämpft, dass der Staat den internationalen Waffenhandel massiven Beschränkungen unterstelle; denn Kleinwaffen forderten zurzeit, meint er zu Recht, die meisten Opfer von Kriegen und organisierter Gewalt, sie seien die eigentlichen Massenvernichtungswaffen der Gegenwart; Waffenhändler
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bezeichnet er als „merchants of death“. Eine drohende nukleare Katastrophe, verursacht durch Waffeneinsatz, würde von den Regierungen ignoriert, die sich wie Nachtwandler durch eine Wirklichkeit voller Gefahren bewegen.70 Dieser Zustand schrecklicher Gefährdungen für Menschen, Zivilisationen, ja die Fortexistenz der Menschheit als solcher stehe in krassem Widerspruch zum Gedanken einer globalen „Res publica“, meint der Völkerrechtler. Eine engagierte Bürgerin fragt sich, ob denn die freiwillige gemeinnützige Arbeit, die in einem Zwischenfeld zwischen Staat und Gesellschaft angesiedelt sei, im Vokabular der Staatsrechtler wirklich keinen Platz habe; das „Milizsystem“ sei, wenn auch in sich wandelnder Form, ein besonders wertvolles Erbe des Landes. Auch ein früherer Offizier befi ndet sich am republikanischen Tisch, der dafür eintritt, dass die allgemeine Wehrpfl icht durch einen Dienst Aller für die Allgemeinheit ersetzt werde und dass freiwillige, gemeinnützige Einsätze Einzelner bei Stellenbewerbungen eigens aufgeführt und bei Anstellungen berücksichtigt werden sollten. Zwei Staatsrechtler schlagen vor, einen religiösen Ausnahmeartikel in der Verfassung durch einen Toleranzartikel zu ersetzen; nur ein allgemein formulierter, nichtdiskriminierender Grundsatz sei einer Verfassung würdig; wichtig sei, dass im Falle von Missständen das Volk auf demokratischen Wegen selbst für Remedur sorge, bevor Gerichte darüber entscheiden müssen. Eine Kommunalpolitikerin weist auf die Kreativität und prägende Kraft hin, die in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft aus kleinen Netzwerken – seien dies Vereine oder lokale Behörden – von unten her wirken. Eine Regierungsrätin findet, sie sei Europäerin aus Patriotismus. Ein besorgter Bürger fragt sich, weshalb es in der Schweiz trotz grossen Reichtums so wenig Mäzene und Sponsoren gäbe: wegen mangelnder fiskalischer Anreize, aus moralischer Blindheit und mangelnder Sensibilität oder aus purem Egoismus? Ein Wissenschafter unterhält sich mit einem Politiker über ein Projekt, die Zahl der Mitglieder der Landesregierung von sieben auf neun oder elf zu erhöhen; in diesem Prozess sollte ein von anderen Departementen unabhängiges Wissenschaftsministerium eingerichtet werden, denn nur auf diese Weise könne das Land seinen Rang und sein Ansehen als weltweit anerkannter Wissenschaftsplatz sicherstellen. Auch meint er, dass ein starkes, dreiköpfiges Bundespräsidium geschaffen werden sollte, das „Leadership“-Funktionen im Staat wahrnähme. Ein Wirtschaftsführer lobt die tragende und treibende Kraft von kleinen und mittleren Unternehmen in der Schweiz. Eine Bürgerin postuliert, dass parallel zu Statistiken des Wirtschaftswachstums solche über ökologische Schäden publiziert würden; auch Zerstörungen und Verunstaltungen von Orts- und Landschaftsbildern sollten vermehrt ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.
70 Vgl. Daniel Thürer/Martin Zobl, Are nuclear weapons really legal? Thoughts on the sources of international law and a conception of the law imperio rationis instead of ratione imperii, in: Ulrich Fastenrath, Rudolf Geiger, Daniel-Erasmus Khan, Andreas Paulus, Sabine von Schorlemer and Christoph Vedder (eds.), From Bilateralism to Community Interest, Essays in Honour of Judge Bruno Simma, Oxford 2011, p. 184 ff.
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– Eine fröhliche Gruppe von Bürgern, die sich in einer ortsfremden Sprache unterhalten, meinen, solche gemischte patriotische Tische sollte es übers ganze Land verstreut geben. – Ein seriös wirkender Herr fi ndet schliesslich, eine Abschiedsvorlesung drüben an der Universität sei doch etwas fragmentarisch ausgefallen. Dem entgegnet eine junge Studentin, dass es sich hier eben bloss um einen Vortrag für ein allgemein interessiertes Publikum gehandelt habe. Das ursprünglich ausgearbeitete Manuskript des Professors sei ohne Zweifel viel umfassender und differenzierter. Die neue Renaissance-Stadt ist, liebe Freunde, keine Utopie, denn Schweizer sind, meinte Max Frisch, zu nüchtern, um Utopien zu ersinnen.71 Es ist dies ein einfaches Bild, das Vieles von dem enthält und zusammenfasst, was wohl Viele von Ihnen unter republikanischem Gesichtspunkt für richtig erachten. Ich weiss: Viele der Probleme, die ich aufgeworfen oder angedeutet habe, liegen auch Vielen von Ihnen am Herzen. Es sind dies Fragen, über die wir alle nachgedacht haben und für die Viele viel bessere Antworten wüssten als ich. Patriotische, republikanische Tische bestehen schon – unsichtbar in diesem Saal – und müssen aktiviert werden. Es bestehen schon heute Abend und später unzählige Gelegenheiten, Gespräche aufzunehmen und weiterzuführen!
Nachwort Res publica ist ein weites Konzept. Es wurde auf den vorstehenden Seiten aus der Sicht des öffentlichen Rechts beleuchtet. Der Begriff kann (und soll) aber in verschiedenen Richtungen weiter entwickelt werden. Ich denke etwa an das Privatrecht, das Verhältnis von nationalem und internationalem Recht und das Konzept des Rechts als solchen. 1. Privatrecht und öffentliches Recht stellen in den europäischen Rechtsordnungen seit dem 16. Jahrhundert getrennte Rechtssphären dar. Auf dem Wege von Kodifi kationen wurden im Privatrecht in sich geschlossene Regelungssysteme geschaffen, in deren Zentrum die Autonomie des Individuums (wie Vertragsfreiheit, Privateigentum) steht. Dennoch ist erstaunlich, wie ausgeprägt auch die soziale Dimension des Privatrechts ist. Eugen Huber hatte schon anlässlich der Ausarbeitung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs geschrieben: „(Es) vermag denn auch das heutige Privatrecht kein rein individualistisches zu sein, vielmehr gehorcht es der Aufgabe, wie sie früher den Genossenschaftern zugefallen, die Schwachen zu schützen, und die Starken in die Schranken einer allgemein zuträglichen Ordnung zurückzuweisen, die einen zu begünstigen, die anderen zu belasten.“72 71 Max Frisch, Schwarzes Quadrat, Frankfurt am Main, 2008, S. 79: „Gerade in der Schweiz gibt es kein utopisches Denken. Und die Schweiz betrachtet sich ja selbst nicht als eine Utopie, auch nicht als das Paradies, sondern als einen gut funktionierenden Klub, der nicht kritisiert werden möchte.“ 72 Eugen Huber, System und Geschichte des Schweizerischen Privatrechts, 4. Band, Basel 1893, S. 263. In diesem Sinn vgl. auch etwa Peter Liver, Allgemeine Einleitung, in: Berner Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Band I, Einleitung und Personenrecht, Bern 1966, S. 44: „Die soziale Aufgabe des Privatrechts besteht darin …, die sozialen Gebilde, deren Glied das Individuum ist, zu schützen und zu stärken. Der Einzelne soll in ihnen den Halt fi nden, des-
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In der Gestalt, welche die privatrechtlichen Gesetze in ihrer Folgezeit erhalten haben, tritt der Zug zum Gedankengut des Gemeinwohls noch stärker in Erscheinung. Man denke insgesamt etwa an entsprechende Haftungsformen im Obligationenrecht (Solidarhaftung, Gefährdungshaftungen, Haftung des Werkeigentümers usw.), an die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder (neben einer Pfl icht zur Respektierung der Rechte der Kinder), an die Verantwortung des Arbeitgebers für die Arbeitnehmer und viele weitere Formen der Pfl icht zur Solidarität von Menschen gegenüber ihren Mitmenschen.73 Das Gemeinwesen (Staat und der sog. „dritter Sektor“) ist insofern gleichsam „stiller Beteiligter“ bei der Ausgestaltung von Rechtsverhältnissen unter Privaten. Jeder Mensch ist eine individuelle und eine soziale Person. Die soziale Seite des Menschen, d.h. die Mit-Verantwortung des Menschen für das Wohlergehen Anderer, sollte im Privatrecht als ein Grundwert, Auf bauelement und Auslegungsmassstab noch systematischer und vertiefter erfasst werden. „Republikanische Inhalte“ und Ziele des Privatrechts sollten von der Wissenschaft inskünftig noch vermehrt sichtbar gemacht und ausgebaut werden. 2. Eine andere, im Zeitalter des Nationalismus betonte Dichotomie ist die Unterscheidung zwischen nationalem und internationalem Recht. Im Zeichen des Nationalismus und Positivismus, die in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Kulminationspunkt erreichten, wurde das staatliche Recht im Wesentlichen mit dem Recht als solchem gleichgesetzt. Internationales Recht wurde, nach dieser Sichtweise, höchstens auf dem Wege der Umwandlung in nationales Recht für die Einzelnen und die Gesellschaft wirksam. Das nationale Recht hat die in früheren Epochen viel weiter gefassten ausserstaatlichen und überstaatlichen Bezüge des Rechts gleichsam „verschlungen“ und eine schöpferische Interaktion der Systeme behindert. Dabei ist offensichtlich, dass die Menschen heute in „einer Welt“ leben.74 Netze der Kommunikation, der wirtschaftlichen Beziehungen und der intergouvernamentalen und nichtgouvernamentalen Aktionen umspannen den Planeten. Zentrale Aufmerksamkeit geniessen die Menschenrechte. Doch ist mit Martti Koskenniemi zu bedenken, dass Menschenrechte – als Kristallisationspunkte von Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Furcht entstanden – zwar Kerngehalte der internationalen Rechtsordnung sind und bleiben müssen, dass ihnen gleichwertig aber auch der Schutz öffentlicher Güter zur Seite stehen muss. Koskenniemi schrieb: „The priority of the right over the good leaves little room for political values: citizenship is reduced to private reliance on right. Civic virtue, public-mindedness and political participation become a profession that seems indissociable from advancement of private interests, and object of contest and source of popular cynism.”75 sen er bedarf, um seine Kräfte zu entfalten, aber zugleich auch den Bindungen unterworfen sein, die ihn daran hindern, von seinen Kräften einen gemeinschaftswidrigen Gebrauch zu machen.“ 73 Vgl. Wolfgang Portmann/Jean-Fritz Stöckli, Schweizerisches Arbeitsrecht, 2. Aufl., Zürich und St. Gallen 2007, S. 351 ff. 74 Peter Singer, One World – The Ethics of Globalization, Princeton 2002. Vgl. etwa Daniel Thürer, Recht der internationalen Gemeinschaft und Wandel der Staatlichkeit, in: Daniel Thürer, Jean-François Aubert und Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, S. 37 ff. 75 Martti Koskenniemi, The Politics of international Law, Oxford and Portland (Oregon) 2011, S. 137 (Priority of rights over good).
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Auch im universellen und weltregionalen Ordnungsrahmen ist eine angemessene Balance zwischen „rights thinking“ und „civic thinking“ zu finden. „Common heritage“ und „Common goods of mankind“ sind zentrale Elemente der internationalen Ordnung. Ich denke an den Schutz der Atmosphäre und der Weltmeere. Zu denken ist in diesem Zusammenhang aber auch etwa an die Bekämpfung von internationalem Terrorismus und internationalen Verbrechen und viele andere Aufgaben der internationalen Gemeinschaft. 3. Rechtsbegriff. Schliesslich glaube ich, dass – jenseits der traditionellen Rechtsschulen – der Rechtsbegriff als solcher zu überdenken ist. Zutreffend urteilte Harold J. Berman: „Überwinden müssen wir … die Irrtümer einer rein politischen oder analytischen Rechtsauffassung („Rechts-Positivismus“), einer rein philosophischen und moralischen Rechtsauffassung („Naturrecht“) wie auch einer rein historischen und sozialökonomischen Rechtsauffassung („historische Schulen“, „gesellschaftliche Theorie des Rechts“). Wir brauchen eine Rechtswissenschaft, die die drei herkömmlichen Schulen vereinigt und über sie hinausgeht. Eine solche integrative Rechtswissenschaft müsste darauf verweisen, dass man an das Recht glauben muss, wenn es etwas bewirken soll; es hat nicht nur mit Vernunft und Willen zu tun, sondern auch mit Gefühl, Intuition und Glauben. Es enthält ein umfassendes gesellschaftliches Engagement.“76
Recht ist also nicht bloss, wie viele meinen, ein Apparat zur Erledigung bestimmter Probleme wie der Durchsetzung von Rechten und Interessen. Recht besteht auch nicht nur als eine Masse von Prinzipien, Vorschriften, Entscheidungen. Nein, Recht beruht auch auf einer „Vision“ eines geordneten, gerechten Zusammenlebens von Menschen. Es stellt einen unablässigen Prozess zur Verwirklichung von Werten dar. Der legitime Sinn und das Potenzial des „rule of law“ wurzeln in der politischen Welt demokratisch verfasster Öffentlichkeit. Dem Konzept der Res publica kommt – rechtsschöpfend und integrativ – zentrale Bedeutung zu.
76 Harold J. Berman, Recht und Revolution – Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt am Main 1991, S. 11.
Auf der Suche nach dem europäischen Juristen* von
Prof. Dr. Albrecht Weber, Universität Osnabrück Die Wahl und Formulierung des Themas für eine Abschiedsvorlesung angesichts so zahlreicher prominenter europäischer Juristen und am hiesigen genius loci des „European Legal Studies Institute“ (ELSI) mag erstaunen. Bilden wir nicht tagtäglich unsere Juristen in den verschiedenen Teildisziplinen angesichts der unauf haltsam fortschreitenden Europäisierung des gesamten Rechtsstoffes, der wachsenden Umsetzungsdichte durch die Harmonisierungsvorgaben des EU-Rechts direkt oder indirekt am europäischen Recht aus? Die Europarechtler, in den 70er und frühen 80er Jahren noch eine seltene Spezies, die zwischen Staatsrechtlern und Völkerrechtlern ihren besonderen Standort suchten und schließlich behaupteten, mögen auf diese Entwicklung zugleich erstaunt und ein wenig selbstzufrieden zurückblicken. Inzwischen ist das Europarecht zum Pfl ichtstoff – zum Teil mit Leistungsnachweisen in den Anfängerübungen – avanciert, freilich mitunter unter dem wenig glücklichen Titel „Staatsrecht III“, als ob das Europarecht trotz seiner verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht längst eine eigenständige, jedenfalls aus der Sicht des EuGH autonome Rechtsordnung entfaltet hätte. Und dennoch beschleicht mich seit Jahren das seltsame Gefühl, dass wir trotz Vermittlung von Grundkenntnissen und der Auffächerung und dem Eindringen des Europarechts in die verschiedenen Teildisziplinen des Rechts einschließlich unserer Wahl- und Wahlpfl ichtfächer die gemeinsamen historischen Grundlagen Europas immer mehr aus den Augen zu verlieren drohen. Die Fragestellung ist freilich nicht neu. Einer unserer prominenten Staatsrechtslehrer, Peter Häberle, hat in seiner Abschiedsvorlesung in St. Gallen diese Frage vor rund zehn Jahren unter dem Titel „Der europäische Jurist“ gestellt. Aus kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichender Sicht skizziert er einige Konturen europäischer Rechtskultur, zu denen er u. a. die Geschichtlichkeit und Wissenschaftlichkeit des Rechts, die Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität der europäischen Rechtskultur zählt. Ich möchte diese Stichworte im Einzelnen nicht kommentieren, sondern – um in einem von Häberle selbst gerne verwendeten Bilde zu bleiben –, auf seine Schultern als auf die eines Riesen steigen, um weitere Umschau zu halten. Die *
Abschiedsvorlesung gehalten am 25. Juni 2010 an der Universität Osnabrück.
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vorsichtigere Formulierung „auf der Suche nach“ meint nicht nur die Selbstverständlichkeit, dass wir als Juristen immer auf der Suche nach der gerechten Falllösung und dem möglichst widerspruchsfreien System oder dem methodisch wissenschaftlichen Studium sind, das in möglichst kurzer Zeit von acht bis neun Semestern auch noch das Handwerkszeug für die juristische Praxis mitliefern soll. Tieferliegend stellt sich die Frage nach der verlorenen Zeit – ganz im Sinne Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“, ob wir unsere Identität in der Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit wiederfi nden oder zumindest daran anknüpfen können. Gemeint ist das sogenannte „ius commune“, das nach dem römischen Recht und dem kanonischen Recht im Mittelalter entstandene Gemeine Recht. Diese Begriffe werden heute im Zivilrecht, aber auch zunehmend im Verwaltungs- und Verfassungsrecht verwendet, um alte bzw. neue gemeineuropäische Traditionen zu beschwören.
I. Gestattet sei hier ein kurzer historischer Exkurs, um die Tauglichkeit dieses Konzepts vor dem Hintergrund des säkularen Vernunftrechts und der großen nationalen Kodifi kationen unter den Bedingungen einer globalisierten Industriegesellschaft zu testen. Für die Ausbildung des „ius commune“ war zunächst die Wiederentdeckung des römischen Rechts der Antike an den oberitalienischen Universitäten, allen voran Bologna entscheidend. Auf der Grundlage des corpus iuris civilis Justinians entstand durch die Glossatoren eine kritische Rezension der Digesten, die eine wissenschaftliche Durchdringung, in Anlehnung an den juristischen Curialstil und die Erläuterungstechnik des Trivialunterrichts in Logik, Grammatik und Rhetorik ermöglichte. Die Gründung der Schule von Bologna 1088 mit besoldeten Lehrern zur Ausbildung öffentlicher Funktionäre wird von Wieacker nicht weniger als die „Geburt der Rechtswissenschaft in Europa“ bezeichnet (Privatrechtsgeschichte, S. 49). Sie habe das öffentliche Leben in Europa juridifi ziert und rationalisiert. Reichsrechtlich kam unterstützend die sogenannte Translatio-imperii-Lehre hinzu, also die Übertragung des altrömischen Kaisergedankens über das oströmische Imperium auf das Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Bologna wurde zum Ausgangspunkt des Studiums des römischen Rechts an rund 60 Universitäten, die von Neapel bis Uppsala, Oxford, Cambridge bis Krakau und Wien reichten und nach einem wesentlich gleichen Studienplan erfolgten. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts kam eine große Anzahl deutscher Studenten zum Studium des ius civile nach Bologna, aber auch Padua, Perugia, Pavia, die jeweils die deutsche Nation – die natio teutonica – bildeten; ähnliches gilt übrigens auch in Frankreich für Orléans, Angers, Montpellier und Avignon mit deutschen Studentengemeinschaften. Es ist mehr als eine skurrile Fußnote der Zeitgeschichte, dass die vor zehn Jahren eingeführte Reform der Bachelor- und Masterstudiengänge gerade den Namen Bologna trägt. Das Studium an den oberitalienischen Universitäten führte zwar zu weitgehend gleichen Ausbildungsinhalten infolge der an den römischen Rechtsquellen orientierten Auslegung der Digesten. Die als offene Koordinierung getarnte Form der Studiengänge der
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Bologna-Reform verrät jedoch eine an die 70er Jahre erinnernde Planungseuphorie und Machbarkeitswahn, die an der formalen Anpassung der Studiengänge ansetzt statt sich um die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit von Studieninhalten und abschlüssen eingehend zu bemühen. Dass gerade die Studenten gegen den formalen Anpassungsdruck und die fortschreitende Verschulung der Universitäten in Österreich und Deutschland protestierten, um eine Reform der Reform zu erzwingen, stimmt nachdenklich und hoffnungsvoll zugleich. Ein germanistischer Kollege der Queen Mary University London, Gründungsdirektor des Instituts für deutsch-englische Kulturbeziehungen, betitelte die Reform in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt: „Bologna war etwa so geistvoll wie die Rechtschreibreform“. Um hier nicht missverstanden zu werden: Eine duale Ausbildung im Sinne von fachspezifischen Bachelor-Abschlüssen im Rahmen des Jurastudiums mag für Bereiche der Tätigkeit von Juristen in der Wirtschaft, bei Banken und Versicherungen durchaus sinnvolle Alternativen bieten; ob sie in einem verkürzten Studium trotz Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse den „Europäischen Juristen“ in einem vertieften Sinne prägen, steht auf einem anderen Blatt; es ist tröstlich zu erfahren, dass inzwischen Italien selbst von der Bologna-Reform Abstand zu nehmen gedenkt. Aber kehren wir nach diesem zeitgeschichtlichen Seitenblick mit unseren Bologneser Studenten nochmal ins Heilige Römische Reich zurück. Ein gutes Beispiel war bekanntlich das 1495 gegründete Reichskammergericht, dessen Urteile zur Hälfte aus „Gelehrten“, d. h. im römischen Recht ausgebildeten, und zur anderen Hälfte aus adeligen Assessoren bestand, die „auch recht gelehrt sein sollten“, „sofern man die haben kann; so man aber die nicht bekommen möcht, die sonst gerichtliche Übung erfahren und gebräuchig sind“. Die Rezeption des römischen Rechts zusammen mit dem kanonischen Recht entfaltete sich in der Arbeit der Kommentatoren oder Konsiliatoren im 14. Jahrhundert und bildete die Grundlage des gemeinen Rechts in Deutschland, das neben den Territorial- und Lokalrechten bis weit ins 18. Jahrhundert die Rechtsordnung des Alten Reiches prägte. Mit der Entwicklung der Auf klärung des rationalistischen Naturrechts und dem Zeitalter der Kodifi kation im 19. Jahrhundert ist diese Basis geschmolzen und lebte mehr als Idee einer einheitlichen Rechtswissenschaft fort, so etwa in Savignys historischer Rechtsschule. Bedenkt man diesen Entwicklungsprozess, erscheint zwar eine unmittelbare Anknüpfung an das „ius commune“ verwehrt. Gleichwohl bleibt die Suche nach den gemeinsamen Grundprinzipien und Regeln der europäischen Rechtsordnungen im Sinne eines „Gemeinen Rechts“ interessant und aktuell. Im Gegenteil: Die Verästelung in nationale Rechtskulturen im 19. Jahrhundert fordert und fördert den Gedanken der Suche nach einem gemeinsamen Nenner im Zuge der europäischen Integration gerade heraus. Das vielleicht beste Beispiel ist das langjährige Bemühen um einen gemeinsamen Referenzrahmen im Bereich des Schuldrechts und Vertragsrechts, das in Osnabrück in Zusammenarbeit mit vielen anderen europäischen Instituten und Institutionen seinen besonderen Standort innehat. Die Suche nach dem „ius commune“ setzt sich in den Materien des Verwaltungsrechts und seinen Teildisziplinen als europäisches Verwaltungsrecht und europäisiertes Verwaltungsrecht fort, auch unter dem Aspekt wachsender Mischverwaltung zwischen europäischer und nationaler Verwaltung. Frau Prof. Galetta hat in ihrer jüngsten Monographie die schwindende Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten
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infolge der Einwirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als „unsafe haven of procedural autonomy“ bezeichnet und in Anspielung auf John Miltons „Paradise lost“ wohl eher ironisch vom möglichen Verlust des Paradieses gesprochen. Man mag sich freilich fragen, ob die Bewahrung nationaler Verwaltungskulturen einen Verbleib im Paradies garantieren würde. Die Frage der Auflösung nationaler verwaltungsrechtlicher Traditionen ist offenbar eine unvermeidliche Folge der Kommunitarisierung unserer Rechtsordnungen und als Teil gewachsener Verwaltungskultur auch ein Element der nationalen Identität, die gerade auch der Lissabonner Vertrag schützen will. Hier wie an anderen Schnittstellen offenbart sich die Suche nach der Abgrenzung zwischen europäischer und nationaler Identität der Rechtskulturen als eine permanente Aufgabe des europäischen Juristen. Im Bereich der Verfassungsvergleichung – zumindest der Staaten der Union wie des Europarats – scheint die vergleichende Erarbeitung gemeinsamer Prinzipien oder allgemeiner Rechtsgrundsätze, die sich wesentlich, aber nicht ausschließlich aus dem Vernunftrecht der Auf klärung speisen, fast schon selbstverständlich. Jeder europäische Jurist kennt oder sollte zumindest die langjährige Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen kennen. Auch hier vollzieht sich wie im Bereich des Verwaltungsrechts durch Kautelarjurisprudenz die Grundlegung eines gemeinen Rechts wie auch die systematisierende Erfassung durch die Wissenschaft, nicht ganz unähnlich der Entstehung des alten ius commune. Der gemeinsame Verfassungskern der europäischen Union als Teil einer europäischen Identität wird – unabhängig von der Titelatur der Verträge als Verfassung, Unionsvertrag oder Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – ein wachsendes Betätigungsfeld nicht nur für den Europäischen Gerichtshof, die obersten nationalen Gerichte, sondern auch für den angehenden europäischen Juristen bilden. In diesem Feld schöpft die Rechtsvergleichung nicht primär aus Rechtskreisen oder Rechtsfamilien, sondern aus den gemeinsamen Werten und Prinzipien der Auf klärung, die den modernen westlichen Verfassungsstaat – bei allen historischen Unterschieden, zumal Englands – prägen. Gerade deshalb ist, das sei hier schon angemerkt, eine europäisierte Verfassungsgeschichte ein Gebot der Stunde, also eine Geschichte der europäischen Verfassungen, die neben den nationalen Kontexten die gemeinsamen Grundlagen rechtsvergleichend herausarbeitet. Dass wir eine deutsche Rechtsgeschichte nur als europäische Rechtsgeschichte begreifen und lehren können, dürfte bei den Rechtshistorikern längst Gemeingut sein; bei den Verfassungshistorikern scheint sich diese Erkenntnis erst langsam durchzusetzen, wie bereits Dietmar Willoweit und Reiner Schulze schon vor längerer Zeit gefordert haben. Immerhin verfügen wir heute über Textsammlungen, die die historischen Verfassungsdokumente zum Teil zweisprachig zur Verfügung stellen und damit auch dem Studenten ein Lernmaterial an die Hand geben.
II. Der zweite Teil befasst sich mit der Suche nach der europäischen und nationalen konstitutionellen Identität. Die Achtung der nationalen Identität war bereits im Maastricht-Vertrag aufgenommen und in Art. 6 Abs. 3 EGV von Amsterdam und Nizza
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verankert. Der Verfassungskonvent und Art. 4 Abs. 2 Lissabon-Vertrag haben das Achtungsgebot mit Blick auf die grundlegenden verfassungsrechtlichen und politischen Strukturen einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung konkretisiert und um ein Gebot zur Achtung der grundlegenden Funktionen des Staates erweitert. Dies schließt die wesentlichen staatlichen Struktur- und Ordnungsprinzipien ein und dürfte sich weitgehend mit der nationalen Verfassungsidentität decken; ihr Schutz ist meist durch Kern- oder Wesensgehaltsklauseln der nationalen Verfassungen gesichert oder wird zumindest durch die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte – in unterschiedlichen Formulierungen – umschrieben. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht legt in seiner langjährigen Rechtsprechung besonderen Wert auf den Schutz materialer Kerngehalte, sondern auch andere höchste Gerichte umschreiben – wenngleich in geringerem Umfang oder weniger lehrbuchartig – die Kerngehalte europäischer Verfassungen. Das Achtungsgebot umfasst eine Rechtspfl icht der Union und ihrer Organe, die nationale verfassungsrechtliche Identität zu wahren und bildet eine äußerste Grenze der Kompetenzausübung der Union. Es verwundert daher nicht, dass auch der 2. Senat in seinem Lissabon-Urteil diesen Hebel argumentativ ansetzt und meint, dass „die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität Hand in Hand“ gehe (Rdnr. 240). Nach Ansicht des Senats ist freilich für die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität und eines kompetenzwidrigen Aktes der Union (ultra vires) nur das Bundesverfassungsgericht zuständig (Rdnr. 241). Während Ersteres weitgehend Zustimmung verdient, ist Letzteres zu Recht auf teilweise heftige Kritik gestoßen. Es ist sicher richtig, dass mit wachsender Integrationsdichte und Übertragung weiterer Kompetenzen sich die Frage nach der demokratischen Legitimation der Union dringlicher stellt als vielleicht noch vor 20 Jahren vor Gründung der Europäischen Währungsunion, der Überführung und Vergemeinschaftung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und Ansätzen einer Politischen Union. Der 2. Senat stellt zutreffend fest, dass auch die schon seit Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft nichts „kulturell oder normativ dem geltenden Vertragsrecht Vorausliegendes“ ist, da sie eben von der nationalen Staatsangehörigkeit abgeleitet und ein ergänzender Status sei. Das deutsche Staatsvolk bewahre solange seine Existenz, wie die Unionsbürgerschaft die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nicht ersetzt oder überlagert. Die identitätsstiftende Wirkung der Unionsbürgerschaft, die sich vor allem in der grundrechtlichen Freizügigkeit, dem kommunalen europäischen Wahlrecht, konsularischen und diplomatischen Schutzrechten konkretisiert, sollte gleichwohl nicht unterschätzt werden. Ob allerdings das Demokratieprinzip wie das Subsidiaritätsprinzip – wie der Senat meint – gerade in zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse, zu denen er vor allem das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das polizeiliche und militärische Gewaltmonopol, die fiskalischen Grundentscheidungen, kulturell besonders relevante Bereiche wie Familienrecht, Schul- und Bildungssystem wie das Religionsverfassungsrecht zählt, unter demokratischen Legitimationsgesichtspunkten abgrenzbar ist, bleibt fraglich. Die verfassungsrechtliche Umschreibung mag legitim sein, sollte aber in wechselseitiger Rücksichtnahme anderer Verfassungsordnungen erfolgen. Auf der Suche nach nationalen Identitätskriterien mögen Bereiche besonders grundrechts-
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sensibler Hoheitsentfaltung und kulturell geprägter Lebensbereiche schützenswert erscheinen. Wo aber verläuft die Grenze mit Blick auf spezifische Traditionen und Erfahrungen der Mitgliedstaaten, damit die politische Gemeinschaft „Subjekt demokratischer Legitimation“ bleibt? Kann ein Mitgliedstaat einseitig, d. h. praktisch in Deutschland das BVerfG, die Grenzen der Souveränitätsentäußerung bestimmen und damit mittelbar die Entwicklung der EU bremsen? Zwar hüten auch andere Verfassungsgerichte den Kern der Verfassungsidentität und üben notfalls eine Kontrolle aus, verhalten sich aber bei der Bestimmung der Übertragbarkeit von Souveränitätsrechten deutlich zurückhaltender. Ist es nicht primär Aufgabe der demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen im Zusammenwirken der verfassungsgebenden Gewalt, die jeweiligen Grenzen des Souveränitätstransfers zu bestimmen? Sicher ist es Aufgabe der Verfassungsgerichte, eine „Integrationsverantwortung“ – um es in den Worten des BVerfG auszudrücken – am Maßstab deutscher Verfassungsidentität wahrzunehmen. Aber sollte man nicht auch die europäische Verfassungsidentität in ihrer spezifischen Entwicklung, etwa des Demokratieprinzips, berücksichtigen? Liegt nicht eher ein Komplementärverhältnis der nationalen und europäischen Ebene vor, wie es das BVerfG noch im Maastricht-Urteil – freilich als asymmetrisches Verhältnis – gedeutet hat? Das tschechische Verfassungsgericht in Brünn hat dies bereits im 1. Lissabon-Urteil angedeutet und im 2. Urteil, das schließlich die Ratifi kation des Lissabon-Vertrags durch Tschechien ermöglichte, als duales, sich wechselseitig ergänzendes Legitimationsverhältnis interpretiert. Im Blick auf ein kulturell geprägtes Verständnis nationaler und europäischer Identität erscheint heute eine Rückkehr zum Begriff einer deutschen Kulturnation, wie ihn die deutsche Romantik, vor allem Novalis und Fichte unter dem Eindruck der napoleonischen Vorherrschaft vertrat, nicht mehr denkbar. In einem unvollendeten Gedicht Schillers über „Deutsche Größe“ bezeichnet er die deutsche Würde als eine sittliche Größe, die in der Kultur wohne; ähnlich bildet sich nach Novalis der Deutsche, da ihm der Weg zur politischen Nation versperrt bleibt, mit allem Fleiß zum Genossen einer höheren Kultur aus. Ich zitiere: „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.“ Diese Mission Deutschlands war anfänglich bei Novalis und Fichte noch universalistisch formuliert, verengt sich dann in Fichtes Reden an die deutsche Nation 1807/1808, wenn das deutsche Volk als germanisches Urvolk zum Subjekt der Freiheit erklärt wird. Dem heutigen Verständnis der Vielfalt der Kulturen und der Verwobenheit europäischer und nationaler Identität dürfte eher Herders Vorstellung der Volkskulturen entsprechen, die in Abgrenzung, Austausch und wechselseitiger Befruchtung ihre Möglichkeiten entwickeln: „Was ist Nation? ein großer ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebauet werden . . . So darf sich auch kein Volk Europas vom anderen abschließen und töricht sagen: Bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit“. Die nationale kulturelle Identität fi ndet ihre normative Verankerung im Kulturartikel des AEUV. Nach Art. 167 AEUV leistet die Union einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitig der Hervorhebung des kulturellen Erbes“. Auch unter Berücksichtigung der Präambel zielt die kulturelle Förderkompetenz auf die Verbesse-
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rung und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker wie auch Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung. Der Kulturartikel enthält eine ergänzende Kulturzuständigkeit der Union und Querschnittsklausel, wonach die EU – ähnlich wie im Bereich Umweltschutz, Gesundheit oder Verbraucherschutz – die kulturellen Aspekte ihrer Tätigkeit immer mit beachten muss. Die komplementäre Zuständigkeit verleiht aber keine Harmonisierungskompetenz; sie wäre bei der Förderung nationaler Kulturen ein europäischer Alptraum, sondern bleibt dem Grundsatz der Subsidiarität verpfl ichtet. Zu den gemeinsamen kulturellen Werten wird man mit einem weit verstandenen Kulturbegriff auch das rechtskulturelle Erbe zählen können. Das gemeinsame kulturelle Erbe schlägt sich hier in den oben schon genannten Prinzipien und Institutionen eines werdenden Gemeinen Rechts neuer Prägung nieder. Die besondere Wechselwirkung und Dialektik nationaler und europäischer Identität entfaltet sich schließlich im Wertekanon der Union. Nach Art. 2 EUV ist die Union auf die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte und Minderheitenrechte begründet. Diese Werte entsprechen den Grundwerten und Prinzipien und Freiheiten der Mitgliedstaaten, entfalten im Unionskontext aber auch spezifische Ausprägungen. Es bleibt abzuwarten, wie diese Werte in ihrer Interaktion mit nationalen Grundprinzipien und -werten höchstrichterlich – auch unter dem Aspekt des Beitritts der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention ausgelegt werden. Der Abgrenzung um nationale und europäische Identität, die mannigfaltige Aspekte aufweist, liegt in der öffentlichen Wahrnehmung und medialen Berichterstattung die höchst praktische Frage nach der Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten zugrunde. Im Zentrum steht letztlich die Frage nach der Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips nicht nur im rechtstechnischen, sondern einem allgemeinen Sinne. Es entspricht offenbar verbreiteter Wahrnehmung, dass die Union zu viele Kompetenzen an sich zieht oder zumindest in zahlreichen Materien zu detaillierte Regelungen erläßt. Dies gipfelt häufig in einer pauschalen Schelte der Brüsseler Bürokratie, die einem Leviathan gleich ihre Fangarme um die Glieder der nationalen Körper schlingt. Im Jargon der Volkstümlichkeit, gepaart mit einem gut Schuss Populismus, dient Brüssel als willkommener Sündenbock für alle möglichen Defizite und Schieflagen auch auf nationaler Ebene. Dabei wird häufig übersehen, dass zwar die Kommission über das Gesetzesinitiativrecht verfügt, aber zahlreiche Anstöße über die Vertretungen der Mitgliedstaaten oder die in Brüssel ansässige Lobby erfolgen. Eine statistische Gewichtung der informellen Initiativen ist freilich nicht bekannt und wohl auch kaum möglich. Künftig wird sich auch das EP durch Vorschläge an die Kommission stärker an der Gesetzesinitiative beteiligen können. Es stimmt allerdings bedenklich, wenn diese Kritik auch von intellektueller Seite in überzogenem Maße geschieht. In einem früheren Artikel in der FAZ war der frühere Bundespräsident Herzog bereits massiv gegen die Anmaßung des EuGH im Mangold-Urteil, einem Fall der Altersdiskriminierung nach dem deutschen Gleichstellungsgesetz, zu Felde gezogen. Im Januar dieses Jahres hat er mit zwei weiteren Autoren, darunter dem ehemaligen Binnenmarktkommissar Bolkestein, unter dem verkürzten Titel „Die EU schadet der Idee Europa“ eine breite Philippika gegen die Regulierungssucht Brüssels abgefeuert, zugleich aber neue Kompetenzausübungen
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im Bereich Klimaschutz, erneuerbare Energien und teils dem Verbraucherschutz gefordert. Noch provokanter und fast satirisch hat Hans Magnus Enzensberger in der gleichen Zeitung, die für Europarechtler eine Pfl ichtlektüre bleibt, unter der Überschrift „Wehrt Euch gegen die Bananendemokratie“ die Kompetenzgier Brüssels bei „Käse, Kondomen und Kruzifi xen“ gegeißelt: Eine eigenartig alliterative Komposition. Dies kulminiert in der Zwischenbemerkung „Viel gibt es nicht mehr in Europa, wofür Brüssel nicht zuständig wäre. Nun ist die Umerziehung von 500 Mio. Menschen freilich eine herkulische Aufgabe. Die Frage ist nur, ob unsere Vormünder ihr gewachsen sind.“ Das ist starker Tobak, der nur in seiner pointiert satirischen Zuspitzung noch genießbar erscheint. Dennoch verbirgt sich dahinter die grundlegende Sorge nach der Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips. Bereits im Maastrichter Vertrag als Kompetenzausübungsregel aufgenommen, ist es für die Ausübung der der Union zustehenden konkurrierenden oder geteilten Kompetenzen maßgeblich, wenn „die angestrebten Ziele nicht oder nicht ausreichend erreichbar sind und daher wegen ihres Umfangs oder Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“. Die Strukturschwäche des Subsidiaritätsprinzips liegt nicht in einer fehlenden Justitiabilität durch den Europäischen Gerichtshof, auch wenn dieser das Prinzip – wie etwa im Fall Tabakwerbung British American Tobacco – recht zurückhaltend überprüft. Das Subsidiaritätsprotokoll sieht zudem neben dem Frühwarnsystem der nationalen Parlamente auch die Klagemöglichkeiten der Mitgliedstaaten bzw. ihrer Parlamente oder Kammern vor. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Lissabon-Urteil die Bedeutung des Minderheitenquorums des Bundestags bei Erhebung der Subsidiaritätsklage zu Recht betont. Zu beachten ist auch, dass Kommission, Europäisches Parlament und Rat bei der Vorlage von Vorschlägen bzw. Änderungen die fehlende Subsidiarität begründen müssen, auch wenn dies meist nur formelhaft geschieht. Und dennoch weist der Grundsatz bisher eine deutliche Durchsetzungsschwäche auf, obwohl nicht erst seit Lissabon die Möglichkeiten der Überprüfung im sogenannten Frühwarnsystem deutlich gestiegen sind. Wahrer der Subsidiarität – eines tragenden Konstruktionsprinzips jeder föderalen oder präföderalen Ordnung – sind nicht allein die Gesetzgebungsorgane der Union, sondern auch die nationalen Parlamente und Regierungen. Der Gerichtshof in Luxemburg wird seine richterliche Kontrolldichte nicht mehr auf den gesetzgeberischen Ermessensspielraum bei der Einschätzung der Subsidiaritätskriterien beschränken können. Die Effizienz hängt – wie auch die Erfahrung mit der konkurrierenden Gesetzgebung in Deutschland zeigt – von der höchstrichterlichen Durchsetzung der Verhältnismäßigkeitsprüfung grenzüberschreitender Regelungen ab. Für die angehenden europäischen Juristen ergeben sich gerade hier unter vergleichenden Gesichtspunkten der Föderalismusforschung auch für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten neue spannende Themen. Denkt man an die Unitarisierungserfahrungen föderaler Systeme wie in den USA oder Kanada, erscheint auch hier ein historisch-vergleichender Ansatz unverzichtbar, der die europäische Perspektive noch erweitern könnte.
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III. Im dritten und letzten Teil greife ich noch mal die historisch-ideelle Perspektive auf. Europäische Verfassungsvergleichung, die zugleich einen notwendigen Bestandteil des europäischen Verfassungsrechts wie der europäischen Verfassungslehre bildet, ist ohne die historische Perspektive der europäischen Verfassungsgeschichte mithin kaum sinnvoll. Die Suche nach dem europäischen Juristen ist so gesehen auch eine Suche nach der europäischen Identität. Sie ist nicht nur normative Selbstkonstruktion, die sich an Unionszielen, verfassungsstaatlichen Prinzipien und Werten der Unionsbürgerschaft oder der in Lissabon wieder entfernten Unionssymbolik festmacht, sondern dialektisch verknüpft ein langfristiger Bewusstseinsprozess. Ohne rechtshistorisch-vergleichende Perspektive wird der europäische Jurist diesen Namen kaum verdienen. In einem Beitrag in der Juristenzeitung vor 20 Jahren unter dem Titel „Juristen für Europa“ haben der Rechtshistoriker Willoweit aus Würzburg und der Zivilrechtler und Rechtsvergleicher Großfeld aus Münster Folgendes festgestellt: „Die Unkenntnis der geschichtlichen Grundlagen unserer Rechtskultur und das Unvermögen, sich über die theoretischen Probleme unserer Staats- und Gesellschaftsordnung zu orientieren, haben Dimensionen erreicht, von denen sich ältere Juristen, die keinen Kontakt mit einer nicht humanistisch, sondern naturwissenschaftlich ausgebildeten Jugend haben, kaum eine Vorstellung machen können.“ ( JZ 1990, 605). Dies mag ein in seiner Überspitzung hartes Urteil sein, aber es ist nicht grundverschieden von meinen Erfahrungen bei historischen und theoretischen Anfragen in Lehre und Prüfung. Vielleicht sollten wir uns als Lehrende auch selbstkritisch die Frage gefallen lassen, ob wir von den europäisch auszubildenden Juristen nicht mehr erwarten dürfen als wir selber zu leisten bereit oder im Stande sind. Wir sollten die rechtshistorischen und theoretischen Grundlagenfächer nicht weiter ausdünnen und in Schwerpunkt-, Pfl icht- oder Wahlfächer verlagern, wo ohnehin nur ein geringer Anteil der Studenten im Hinblick auf die Arbeitsmarktsituation eher die wirtschaftsrechtlichen und anwaltsbezogenen Fächer wählen wird. Eine fehlende Venia legendi bei der Berufung sollte kein Grund sein, auch rechtshistorische und theoretische Vorlesungen zu übernehmen, die wie die Rechtsgeschichte, Staatslehre, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie zur Grundausstattung des europäischen Juristen gehören. Dass hier die Verschulung durch den Bologna-Prozess einer vertieften Ausbildung nicht gerade förderlich ist, erscheint nach dem Gesagten offenkundig. Das Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union hat im Jahr 2006 unter österreichischem Vorsitz eine interessante Initiative gestartet, die die Überlegungen und Entwürfe, die im Laufe der Jahrhunderte zur Einigung Europas entstanden sind, zu sammeln und in Textauszügen zu veröffentlichen. Dieser Band unter der Leitung des früheren Justiziars des Rates Jean Paul Jacqué unter dem Titel „Europa – Eine Idee nimmt Gestalt an“ versammelt Beiträge von Dantes Universalmonarchie über Kants Weltfrieden bis Jean Monnets und Robert Schumans Europaplänen. Darunter fi nden sich auch weniger bekannte Namen und Projekte, wie etwa der „Große Plan“ des Herzogs von Sully, eines Freunds Heinrich IV, des Frühsozialisten Graf SaintSimons „Reorganisation der europäischen Gesellschaft“ in Form eines europäischen Zweikammerparlaments oder Johann Caspar Bluntschlis „Organisation des europäischen Staatenvereins“ von 1881 als Staatenbund. Die Pläne zeigen das jahrhunderte-
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lange Bemühen um eine gerechte Friedensordnung in und außerhalb Europas und die dauerhafte Suche nach der konstitutionellen Form Europas als Bund souveräner Staaten oder föderierter Ordnung. An Europas Wiege stand der griechische Mythos der von Zeus in Gestalt eines Stieres nach Kreta entführten phönizischen Prinzessin, die die bildende Kunst und Literatur vielfach inspiriert hat. Heute ist Europa mehr als ein gelebter Mythos. Es ist gelebte konstitutionelle Wirklichkeit. Ihr bleibt der europäische Jurist des 21. Jahrhunderts verpfl ichtet.
Lectiones Aureae
Wachsende Parteienvielfalt in Deutschland und Europa – gut für die Demokratie? von
Prof. Dr. Thomas Oppermann*, Tübingen Die Promotion mit der Arbeit „Britisches Unterhauswahlrecht und Zweiparteiensystem“ vor fünfzig Jahren war der Abschluss meiner juristischen Sozialisation, die ich beim Studium an der großartigen Freiburger Juristenfakultät 1951–1955 erfahren durfte.1 In der Rechtsphilosophie bei Erik Wolf, im Zivilrecht bei Ernst v. Caemmerer und Franz Wieacker und im Strafrecht bei Adolf Schönke und Hans Heinrich .Jescheck – um nur einige Namen zu nennen. Ins Öffentliche Recht, dem ich treu geblieben bin, führten mich vor allem Ernst Rudolf Huber und mein Doktorvater Wilhelm G. Grewe. Die Themenwahl der Dissertation ergab sich aus Grewes Leitung der ersten Bonner Wahlrechtskommission, die das Parteiensystem der Bundesrepublik stabilisieren wollte.2 Ich bin Ihnen, Spectabilis und Ihren verehrten Fakultätskollegen und Kolleginnen dankbar, dass Sie mir mit Ihrer Einladung Gelegenheit geben, diese unvergesslichen Jahre noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. On revient toujours á ses premiers amours. Das wesentliche Ergebnis meiner Dissertation, die ich großenteils 1955–1956 in Oxford schreiben konnte, lag in der Erkenntnis, dass das Wahlrecht unter bestimmten soziologischen Voraussetzungen starken Einfluss auf das Parteiensystem des betreffenden Landes ausübt. So hat die britische Unterhauswahl, bei der die Abgeordneten ausschließlich über den Gewinn der relativen Mehrheit in Wahlkreisen bestimmt werden (sog. relative Mehrheitswahl) seit Jahrhunderten immer wieder ein Zweiparteiensystem hervorgebracht. Die heutige Koalition der konservativ-liberalen Regierung Cameron dürfte eine der seltenen Ausnahmen bleiben, die diese Regel bestätigen.3 Alles in Allem gesehen, ist die englische * Prof. Dr. iur. Dres h.c. Thomas Oppermann, Tübingen – Vortrag („Lectio Aurea“) vor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. am 11. November 2011 anlässlich des fünfzigjährigen Doktorjubiläums. 1 Oppermann, Britisches Unterhauswahlrecht und Zweiparteiensystem, 1961 = Freiburger Rechtsund Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Band 15. 2 Grundlagen eines deutschen Wahlrechts. Bericht der vom Bundesminister des Inneren eingesetzten Wahlrechtskommission, 1955. 3 Webb, Unterhauswahl 2010, Aus Politik und Zeitgeschichte 49/2010, 6.
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Demokratie mit einem für grundlegende Änderungen offenen Zweiparteiensystem seit langer Zeit nicht schlecht gefahren. Anfang des 21. Jahrhunderts gibt der vergleichende Blick zwischen dem parteipolitischen System in Großbritannien und im westlichen Kontinentaleuropa einschließlich Deutschlands erneut Anlass, über die Zusammenhänge zwischen Wahlrecht und Regierbarkeit in der Demokratie nachzudenken.4
I. Diversifizierung der Parteienlandschaft in Deutschland Die letzten Jahrzehnte haben in Deutschland und im übrigen westlichen Kontinentaleuropa überall zu einer Vermehrung der Zahl der politischen Parteien und ihrer Repräsentation in den Parlamenten geführt. Betrachten wir zunächst die jüngsten Landtagswahlen 2011 in Deutschland. Überall traten ungefähr sechs relevante Parteien (kleinste Splittergruppen beiseite gelassen) zur Wahl an (CDU, SPD, FDP, GRÜNE, LINKE, NPD). In Baden-Württemberg gelangten am 27. März dieses Jahres wie bisher vier Parteien (CDU, GRÜNE, SPD und FDP) in den Landtag. Dabei haben sich durch den Erfolg der GRÜNEN und durch Verluste der CDU die Abstände zwischen den drei größeren Parteien wesentlich verringert. Ähnlich errangen am 20. April in Sachsen-Anhalt die vier Parteien CDU, SPD, LINKE und GRÜNE Sitze im Landtag. In beiden Ländern verhinderte die sog. 5% -Klausel eine stärkere Parteienvielfalt. Noch deutlicher wird die Diversifizierung der Parteienlandschaft, wenn fünf Parteien im Parlament vertreten sind. In Mecklenburg-Vorpommern gelang dies am 4. September SPD, CDU, LINKE, GRÜNEN und der NPD.5 Auch die Bundestagswahl 2009 bestätigte mit dem Erfolg von CDU/CSU, SPD, FDP, GRÜNEN und der LINKEN das in Deutschland derzeit mehr und mehr übliche 5-Parteiensystem.6 Die Ergebnisse der bisher genannten Wahlen haben zu Konstellationen geführt, die ungeachtet der gewachsenen Parteienzahl eine stabile Regierungsbildung ermöglichten. Die Problematik eines 5-Parteien-Parlamentes bei bestimmtem Wahlausgang wurde jedoch 2010 in Nordrhein-Westfalen sichtbar. Hier blieb letztlich nur die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung möglich. Sie benötigt für wichtige Vorhaben die Duldung der Linkspartei. Das kostet politische Preise und lähmt bedeutsame Vorhaben. Weshalb geben diese Zahlen Anlass zu einigen nachdenklichen Überlegungen? Blickt man in die Geschichte der Bundesrepublik zurück, wird seit ungefähr den achtziger Jahren deutlich, verstärkt sodann durch die Wiedervereinigung 1990, dass die politischen Auffassungen innerhalb der Bevölkerung sich zunehmend differenzieren. Un4 Umfassend Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Isensee/Kirchhof (Hrg.), HStR 3. Aufl. 2005, Bd. III, § 45; Für Deutschland v. Prittwitz, Hat Deutschland ein demokratisches Wahlsystem?, Aus Politik und Zeitgeschichte, 4/2011, 9. 5 Folgende Wahlen ab Mitte September 2011 konnten bei Abschluss dieses Beitrages noch nicht berücksichtigt werden. 6 Die Unionsparteien dürfen im Zusammenhang der Fragestellung dieses Beitrags zusammengerechnet werden. Die Eigenständigkeit der CSU beruht wesentlich auf dem beiderseitigen Verzicht von CDU und CSU, im Wahlgebiet des Partners anzutreten.
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mittelbar nach 1949 ergab sich zunächst der gegenläufige Trend einer zunehmenden Geschlossenheit des politischen Spektrums. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 traten in Nachklang Weimarer Verhältnisse zwar noch sieben Parteien an, von denen jedoch lediglich vier (CDU/CSU, SPD, FDP und KPD) die 5% -Marke übersprangen. Bayernpartei, Deutsche Partei, Zentrum, Bund der Heimatvertrieben und Entrechteten (BHE) sowie die rechtsextreme Deutsche Reichspartei blieben unterhalb dieser Grenze. Mangels einer 5% -Klausel bei der ersten Bonner Wahl errangen sie zunächst einige Mandate. Bereits in dieser ersten Wahl und noch deutlicher anschließend wurden im Vergleich zur Weimarer Republik und wilhelminischem Kaiserreich jedoch zwei wichtige Konzentrationen sichtbar, die das politische Bild der Bonner und Berliner Republik abgeschwächt bis auf den heutigen Tag prägen.7 Mit der Gründung der Unionsparteien wurde die seit 1871 typische konfessionelle Spaltung der bürgerlich/konservativen Kräfte zwischen katholischem Zentrum und evangelischen konservativen Parteien durch die Gründung einer gemeinsamen Partei überwunden. Die SPD, einziges parteipolitisches Urgestein Deutschlands seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erhielt in der Bundesrepublik erstmals einen gleichwertigen Widerpart. Ebenso gelang dem deutschen politischen Liberalismus in Gestalt der einzigen FDP die Beendigung seiner jahrzehntelangen Trennung zwischen bürgerrechtsbetontem Linksliberalismus, zuletzt in der Weimarer DDP und der nationalen und wirtschaftsliberalen DVP Gustav Stresemanns. Im Gefolge der „Wirtschaftswunderjahre“ unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard setzte sich seit der 3. Bundestagswahl 1957 für ungefähr drei Jahrzehnte im Bundestag die Konzentration auf ein Dreiparteiensystem mit Unionsparteien, SPD und der FDP als „Zünglein an der Waage“ durch. 1957 erreichte mit CDU/CSU eine politische Gruppierung zum bisher einzigen Mal in der Bundestagsgeschichte mit 50,2% die absolute Mehrheit. Wie kam es anschließend seit den achtziger Jahren zum Übergang in eine zunehmende Parteienvielfalt? Zunächst traten die GRÜNEN in Erscheinung. Ihr Erfolg beruhte wahrscheinlich auf der anfänglichen Vernachlässigung der Problematik um Umwelt und Atomenergie seitens der drei etablierten Parteien. Die GRÜNEN brachten sich hier ein und zogen zum ersten Mal 1983 mit 5,6% in den Bundestag ein. Mit Ausnahme der „Wiedervereinigungswahl“ 1990 haben sie sich dort inzwischen als vierte Größe festgesetzt und bereits einmal 1998–2005 unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer Regierungsverantwortung übernommen. Seit 2011 wird Baden-Württemberg von einem grünen Ministerpräsidenten regiert. Nach 1990 fand der deutsche Kommunismus, der in Gestalt der SED in der DDR 40 Jahre faktische Alleinherrschaft ausgeübt hatte, in gewissen Wandlungen zunächst im Osten als PDS und seit 2005 zunehmend als gesamtdeutsche Partei DIE LINKE Eingang in Landesparlamente und in den Bundestag. Das deutsche Fünf-Parteiensystem war entstanden.8 Bleibt es dabei oder geht die Parteienvermehrung noch weiter? Heute kann man nur spekulieren. Eine wirkliche Rechtspartei ist in Deutschland im Schatten der Verbrechen 7
Mintzel/Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Kontinuität und Wandel, 1992. 8 Eingehend und zu weiteren Zusammenhängen H. Bauer, Die Verfassungsentwicklung des wiedervereinten Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof HStR 3. Aufl. Bd. I, 2003, § 14, bes. 758 ff.
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des Dritten Reiches bisher nicht in Sicht. Zu den Axiomen von CDU und besonders CSU gehört seit langem, dass in ihr Christliche, Liberale und Konservative gleichermaßen ihre politische Heimat fi nden sollen und dass es „rechts von der Union keine Partei geben darf “ (Franz-Josef Strauss). Unter der schillernden Kanzlerschaft Merkel seit 2005 sind jedoch öfters Zweifel geäußert worden, ob sich die breite Positionierung der Union auf Dauer aufrechterhalten lässt. Das politische Lavieren der Bundesregierung seit 2009 trägt nicht dazu bei, Vermutungen zu zerstreuen, dass konservative Kräfte eine Tages einen neuen Platz außerhalb der Union suchen könnten. Eine andere Gruppierung, welcher der Sprung in die Parlamente gelingen könnte, ist die PIRATENPARTEI. Sie verkörpert Lebensgefühl innerhalb der jungen „Generation Facebook“. Auf der anderen Seite verdunkelt sich die Zukunft der FDP. Der Weg von der Parteienvielfalt zur Parteienzersplitterung ist insgesamt kürzer geworden. Fünf oder noch mehr Parteien im Bundestag: so sieht das Spektrum des deutschen Parlamentarismus für eine schwer voraussehbare Zeit aus.
II. Parteienvielfalt in Europa Die deutsche Entwicklung ist kein Einzelfall. Mit der bemerkenswerten Ausnahme Großbritanniens hat sich seit längerem unter den verschiedensten Verfassungsformen und regelmäßig der Verhältniswahl verpfl ichteten Wahlgesetzen. in den meisten westeuropäischen Staaten die Parteienlandschaft diversifiziert. Der postkommunistische Osten steht noch am Anfang dieser Entwicklung. Zwar gibt es überall mit „Rechte Mitte“ (Bürgerliche und Konservative), „Linke Mitte“ (Sozialisten/Sozialdemokraten) und „Liberale“ drei große politische Familien, die das Spektrum prägen und an deren Rändern sich öfters Rechts- und Linksextreme absondern. Neuerdings ist das grüne Milieu schwierig in dieses Gesamtspektrum einzuordnen. Dabei blieb vor allem die bürgerlich/konservative Großfamilie in vielen europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg von Anfang an oder nach einer bestimmten Zeit aufgrund besonderer, oft religiöser Überzeugungen zersplittert. Ich kann hier nur wenige Beispiele für den europäischen Trend wachsender Parteienvielfalt herausgreifen. In den Niederlanden gewannen bereits in der ersten Nachkriegswahl 1946 nicht weniger als sieben katholische, calvinistische, liberale, sozialistische und kommunistische Parteien Sitze im Parlament. Bis heute ist Holland von politischen Unsicherheiten geprägt geblieben, die nur durch das Band der Krone und wirtschaftliche Stabilität erträglich bleiben. Im heutigen holländischen Parlament sind wieder sieben Parteien vertreten. Erst vier Monate nach der Wahl im Sommer 2010 kam eine wackelige Minderheitsregierung aus Rechtsliberalen und Christlichen Demokraten unter Duldung des Rechtspopulisten Geert Wilders zustande.9 Der noch problematischere Fall Belgien gehört nicht zu unserem Thema.10 Hier konnte seit über einem Jahr nach den letzten Parlamentswahlen noch keine neue Regierung gebildet werden. Die Unregierbarkeit Belgiens erklärt sich jedoch nicht aus Parteienzersplitterung, sondern aus dem scharfen Antagonismus der beiden groß9 10
Ross, Unheiliger Bund, FAZ 9. 10. 2010, 1. Schümer, Am Siechbett des belgischen Patienten, FAZ 10. 1. 2011, 25.
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en Volksgruppen des Staates, frankophone Wallonen und immer mehr erstarkende Flamen. Unter solchen Umständen kann selbst ein Zweiparteienparlament nicht Regierbarkeit gewährleisten. Ein anderer Sonderfall ist die Schweiz. In ihrer sog. Konkordanzdemokratie gibt es keinen offenen Gegensatz zwischen Regierung und Opposition. Die vier großen Parteien (Sozialdemokraten, Freisinnige, Christliche Demokraten und Schweizerische Volkspartei) sind in der Regierung (Bundesrat) proportional zum Wähleranteil vertreten. Die Parteienvielfalt im Parlament wird auf diese Weise mit der Ermöglichung politischer Willensbildung durch die Regierung in Einklang gebracht. Dagegen war die IV. Französische Republik (1946–1958) ähnlich wie das Weimarer Deutschland ein klassischer Fall für Regierungsinstabilität infolge Parteienzersplitterung unter Verhältniswahl.11 Zum Glück fand sie ihr Ende nicht wie in Deutschland 1933 in einer Diktatur, sondern wandelte sich unter dem staatsmännischen de Gaulle in eine präsidialen Demokratie, in der die starke Stellung des seit 1965 unmittelbar gewählten Präsidenten komplizierte Parteienkonstellationen bewältigt.12 Meist kreiert die Autorität des Präsidenten im Parlament eine präsidiale Mehrheit seiner Couleur. Als hilfreich erweist sich dabei das heutige absolute Mehrheitswahlrecht mit nötigenfalls zwei Wahlgängen. Hiermit konnte der Rechtsextremismus mehrfach an parlamentarischer Entfaltung gehindert werden. Italien vermochte trotz früher Parteienvielfalt (8 Parteien im ersten 1948 gewählten Parlament) durch die starke Stellung der Democrazia Christiana trotz häufiger Regierungswechsel bis Anfang der neunziger Jahre hinreichend Regierungsstabilität zu wahren. Anschließend ergab sich jedoch aus verschiedenen Gründen (Staatsverschuldung, Nord-Süd-Gefälle, organisierte Kriminalität, Schmiergeldaffären, Niedergang des europäischen Kommunismus) eine radikale Umwälzung des Parteiensystems. Die Christlichen Demokraten lösten sich auf und in der Mitte wie links bildeten sich zunächst verschiedene Nachfolgeparteien. Erst Berlusconi schuf Mitte der neunziger Jahre auf der rechten Seite mit dem Bündnis aus seiner Forza Italia, der halb separatistischen Lega Nord und der postfaschistischen Allianza Nazionale eine neue Kraft, der gegenüber sich das Mitte-links-Spektrum zu eigenen größeren Verbindungen („Olivenbaum“ 1996, heute Demokratische Partei) zusammenschliessen musste. Mit der Hilfe von Wahlrechtsreformen, die in Abwandlung der Verhältniswahl der siegreichen Seite zusätzliche Parlamentssitze zusprechen, hat sich das parlamentarische Bild in Rom ungefähr ab 2005/2006 bis zu einem gewissen Grade stabilisiert und mehrjährige Regierungsperioden ermöglicht.13
III. Die „angelsächische Ausnahme“ Damit sind wir bei dem entscheidenden Stichwort unseres Themas: Wahlrecht! Seit dem Beginn moderner Wahlen in Europa im 19. Jahrhundert besteht ein enger 11
Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht, 3.Aufl. 2000, 33 f. Zum Wandel des Demokratie- und Parlamentarismusbildes von der IV. zur V. Französischen Republik Maus/Favoreu/Parodi L’Ecriture de la Constitution de 1958, 1992, bes. 281 ff. 13 Arens/Schwarz, Berlusconi ändert Wahlrecht, um an der Macht zu bleiben, 2005 (Man.). 12
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Zusammenhang zwischen den Wahlsystemen und der parteienmäßigen Zusammensetzung der Parlamente.14 Das ist nirgendwo so deutlich sichtbar wie in England, öfters als Mutterland der Demokratie bezeichnet. Seit über 700 Jahren gilt dort für die Wahl zum Unterhaus in aristokratischen wie demokratischen Zeitläufen die sog. relative Mehrheitswahl. Hier wird ausschließlich in Wahlkreisen – ohne Listen – derjenige Kandidat gewählt, der die relative Mehrheit errungen hat (also u.U. weniger Stimmen als 50% und weniger als mehrere Gegenkandidaten zusammengerechnet). Es ist das gleichzeitig einfachste und unter Gesichtspunkten lupenreiner zahlenmäßiger Gerechtigkeit gröbste und manchmal brutalste Wahlrecht.15 In den allermeisten Fällen hat es bisher unter bestimmten tatsächlichen Voraussetzungen (insbesondere wegen der soziologischen Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung) zur absoluten Mehrheit einer Partei geführt, der im Rahmen eines Zweiparteiensystems eine starke Opposition gegenüber steht, während dritte Parteien erheblich unterrepräsentiert bleiben oder den Einzug ins Unterhaus verfehlen. Nach den Wahlen wird zügig eine handlungsfähige Einparteienregierung gebildet, die während 4 bis 5 Jahren Zeit hat, ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen. Das aus langjähriger Tradition und Erfahrung gefestigte Bewusstsein in Großbritannien hat sogar zugelassen, dass die Konservativen einmal 1951 unter Churchill die Labourregierung mit einer komfortablen Unterhausmehrheit von 321:295 Sitzen ablösten, obwohl Labour die knappe Mehrheit der Wählerstimmen für sich gewonnen hatte.16 In Deutschland hätte das Bundesverfassungsgericht ein solches Wahlergebnis mit Sicherheit für verfassungswidrig erklärt. Die Engländer nahmen die eklatante Abweichung vom demokratischen Prinzip 1951 ohne ein korrigierendes Verfassungsgericht sportlich: „Es wird sich demnächst wieder ausgleichen“. So geschah es in der Tat. Hingenommen wird in Großbritannien auch die krasse Benachteiligung dritter Parteien durch das relative Mehrheitswahlrecht. Seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts trifft dies regelmäßig die Liberalen. Stabile Regierungsmehrheiten gelten als ein so hohes Gut, dass die Verzerrung der Proportionalität wenig Beachtung fi ndet. Bei der letzten Unterhauswahl 2010, bei der die siegreichen Konservativen seit langem erstmals wieder die absolute Mehrheit verfehlten und eine ungeliebte Koalition mit den Liberalen eingehen mussten, erzielten diese mit 23% der Stimmen lediglich 57 Mandate, ihr konservativer Koalitionspartner mit 36,1% dagegen 306 Sitze und die Labourpartei mit 29% 258 Sitze.17 Die Liberalen machten zur Koalitionsbedingung eine zaghafte und komplizierte Reform des Wahlrechts, die am Grundcharakter der relativen Mehrheitswahl nichts geändert hätte.18 Dieses „Alternative Wahlrecht“ wurde Anfang Mai 2011 von der Bevölkerung in einem Referendum mit großer Mehrheit abgelehnt. 14
Etwa Hans Meyer (Fn. 5); Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 5. Aufl. 2007. Zum sogenannten britischen „Wahlunrecht“ Oppermann (Fn. 2), 126. 16 Labour 48,77%, Konservative 47,98%. 17 Ergebnisse der Unterhauswahl 2010 bei Webb (Fn. 4), 8. 18 Bei diesem „Alternativen Wahlrecht“ sollte es grundsätzlich bei der überkommenen Mehrheitswahl bleiben. Sollte ein Kandidat jedoch im Wahlkreis nicht die absolute Mehrheit erreichen, würden die Zweitpräferenzen auf die übrigen Kandidaten in folgenden Auszählungen unter Ausscheiden des jeweils Schwächsten solange verteilt werden, bis ein Kandidat über 50% der Stimmen erreicht hätte. Im Regelfall wäre dies auch beim „Alternativen Wahlrecht“ der Kandidat mit der relativen Mehrheit bei der Erstauszählung geblieben. 15
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Es darf schließlich noch daran erinnert werden, dass die andere alte Demokratie, die seit bald 250 Jahren ihr Repräsentantenhaus und die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten mittels relativem Mehrheitswahlrecht zusammensetzt, keine geringere als die Vereinigten Staaten von Amerika ist. Wie in England Konservative und Labour, wechseln sich in den USA Demokraten und Republikaner in der Verantwortung ab. Wahrscheinlich wäre effektive politische Willensbildung in einem von den verschiedenen Einwanderungsnationalitäten und Ethnien zusammengewürfelten Kontinent wie den USA gar nicht anders möglich als mit Hilfe des eisernen Zwanges der relativen Mehrheitswahl.
IV. Meinungsmessung oder politische Willensbildung? Zurück nach Deutschland. Wie die meisten kontinentaleuropäischen Staaten hat sich Deutschland bei der Gründung der Weimarer Republik 1919 (damals sogar in Art. 22 WRV) für das Verhältniswahlrecht entschieden. Hier gilt die Priorität möglichst genauer Spiegelung der Stimmenzahlen in der Zusammensetzung des Parlamentes. Man spricht von „Meinungsmessung“ als wichtigstes Charakteristikum der Verhältniswahl. Vorkämpfer der Verhältniswahl war 1919 die SPD. Sie hatte vor dem ersten Weltkrieg bei den Reichstagswahlen lange unter dem absoluten Mehrheitswahlrecht des Kaiserreiches zu leiden.19 Der Kandidat musste unter diesem System im Wahlkreis die absolute Mehrheit erreichen, notfalls erst in einem zweiten Wahlakt eine oder zwei Wochen nach dem ersten Durchgang. Im Kaiserreich pflegten sich bei diesem zweiten Anlauf nichtsozialistische Parteien gegen die damals noch als revolutionär geltende SPD zusammenzuschließen, so dass deren Mandatszahl wesentlich hinter dem sozialdemokratischen Stimmenanteil zurückblieb. Erst 1912 gelang der SPD der Durchbruch zur stärksten Reichstagspartei, ohne in die Regierung zu gelangen, die im konstitutionellen System bis 1918 von der Zusammensetzung des Reichtags unabhängig blieb. Das nach 1919 lupenrein ausgestaltete Verhältniswahlrecht führte unter den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen nach der Niederlage 1918, der Inflation 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929 zu den „Weimarer Verhältnissen“ eines zersplitterten Reichstages. Immer wieder kam es zu Niederlagen der Regierungskoalitionen, zu raschen Regierungsneubildungen und vorzeitigen Neuwahlen, bis die Misere nach 1929 der NSDAP Adolf Hitlers solchen Zulauf brachte, dass er 1933 Kanzler einer Mehrheitsregierung der extremen Rechten werden konnte. Der Diktator machte bekanntlich nach wenigen Monaten mit der demokratischen „Wählerei“ endgültig Schluss. Die traumatische Erfahrung des Scheiterns der ersten deutschen Republik bestimmte in Bonn nach 1949 lange Jahre eine politische Diskussion, die sich auf das Wahlrecht konzentrierte. Bonn sollte nicht Weimar werden. Die Verhältniswahl galt vielen damaligen Politikern und Wahlforschern als eine wichtige Ursache des Unterganges der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Eine gewichtige 19 Näher Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band V – Die geschichtlichen Grundlagen des Deutschen Staatsrechts, 2000, 398 ff.
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Stimme war der Kölner Politologe F.A. Hermens. Er plädierte 1951 in seinem Buch unter dem bezeichnenden Titel „Demokratie oder Anarchie“ leidenschaftlich für den Übergang zur relativen Mehrheitswahl nach englischem oder amerikanischem Vorbild.20 Das große Stichwort der Mehrheitswahlbefürworter lautete: „Primat der politischen Willensbildung vor der exakten Meinungsmessung“. Die deutsche Tradition zugunsten des Verhältnissystems blieb jedoch stark, obwohl das Grundgesetz im Gegensatz zur Weimarer Verfassung eine ausdrückliche Festlegung auf die Verhältniswahl vermied. Die ersten Wahlgesetze nach 1945 und 1949 bekannten sich in Bund und Ländern grundsätzlich zur Proportionalität. Daneben gab es eine lange politische Debatte, ob man die Verhältniswahl, wenn schon nicht durch das radikale britische System, wenigstens durch ein mehrheitserleichterndes Wahlsystem ersetzen sollte. Hierfür wurden verschiedene Varianten wie das sog „Grabensystem“ oder eine Wahl in Dreier- oder Viererwahlkreisen theoretisch entwickelt. Beide von der CDU getragenen Anläufe in diese Richtung Mitte der fünfziger und in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre scheiterten jedoch an der FDP.21 Sie war naturgemäß dagegen, dass ihr das Lebenslicht ausgeblasen werden sollte. Die Große Koalition Kiesinger/Brandt 1966–1969 war allerdings aufgrund der Vorarbeiten ihrer wissenschaftlichen Wahlrechtskommission bereits nahe an einem solchen Systemwechsel.22 Die Pläne zugunsten der Annäherung an ein Zweiparteiensystem verliefen jedoch Anfang 1969 im Sande, nachdem Herbert Wehner ein für die SPD sehr ungünstiges Ergebnis der ersten Mehrheitswahl errechnet hatte. Damit war der Weg frei für die sozialliberale Koalition Brandt/Scheel. Die FDP hatte nicht vergessen, wer sie aus dem Bundestag hinauswerfen wollte. Seit den fünfziger Jahren erfolgte mit dem Bundeswahlgesetz 1956 23 immerhin eine gewisse Abkehr von der „lupenreinen“ Weimarer Verhältniswahl, um auch in einem Mehrparteienparlament Regierungsbildungen zu erleichtern beziehungsweise deren Abwahl zu erschweren. Das GG hatte bereits mit der „leichten“ Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 GG) und seiner erschwerten Abwahl nur durch konstruktives Misstrauensvotum sowie der erschwerten Auflösung des Bundestages (Art. 67, 68 GG) in diese Richtung verfassungsrechtlich vorgearbeitet. Anschließend begünstigte das Bundeswahlgesetz mit der sog. personalisierten Verhältniswahl die politische Willensbil-
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Hermens, Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, 1951; kritisch später Poscher, Das Weimarer Wahlrechtsgespenst, in: Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten, 2003. 21 Grundlagen eines deutschen Wahlrechts. Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechtskommission, 1955 (vgl. auch Fn. 2); Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts. Bericht des vom Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform, 1968. 22 Die Positionen zweier Tübinger Professoren in dem in Fn. 22 genannten Beirat entbehren nicht einer gewissen Ironie. Der große Liberale Theodor Eschenburg war einer der vordersten Befürworter des Mehrheitswahlrechts und brachte ein nahezu einstimmiges Votum des Beirates zugunsten des Systemwechsels zustande. Der eher CDU-nahe Günter Dürig hielt in seinem abweichenden Votum an der deutschen Tradition der Verhältniswahl fest und sollte Recht behalten. Die FDP verzieh ihrem prominenten Mitglied Eschenburg nach dem Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition 1969 rasch seine große Sünde. 23 Seither vielfach geändert, geltende Fassung in Sartorius I Verfassungs- und Verwaltungsgesetze, Ziff. 30.
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dung unter grundsätzlichem Festhalten an der Proportionalität mit drei wesentlichen Entscheidungen.24 Erstens sollte die Aufteilung des Bundesgebietes in Wahlkreise mit direkt zu wählenden Abgeordneten neben den über die Zweitstimme um der Proportionalität willen zu bestimmenden Listen-Abgeordneten eine gewisse personale Nähe zwischen Wähler und „seinem“ MdB schaffen. Dafür nahm man die Kompliziertheit des Zweistimmensystems in Kauf, das bis heute dem „Mann auf der Straße“ Schwierigkeiten bereitet. Zweitens wurde um der Mehrheitsbildung willen hingenommen, dass es bei einer hohen Zahl von Direktmandaten für eine Partei zu sog. Überhangmandaten kommen kann, welche gewisse Verzerrungen der Proportionalität mit sich bringen. Die seit den neunziger Jahren oft steigende Zahl der Überhangmandate verschärfte diese „Delle“ der Verhältniswahl. Bei der Bundestagswahl 2005 trat mit der Möglichkeit des „negativen Stimmengewichts“ eine weitere Problematik der personalisierten Verhältniswahl zu Tage. Das Bundesverfassungsgericht hat 2008 eine Revision des Bundeswahlgesetzes in diesem Punkt gefordert.25 Die hierdurch erforderliche Reform soll gleichzeitig einer größeren Zahl von Überhangmandaten künftig vorbeugen. Dieses Problem wurde 2009 besonders offenbar, nachdem CDU/CSU bei der Bundestagswahl mit 24 Überhangmandaten ihre parlamentarische Mehrheit stark überproportional ausbauen konnten. Die „Befrachtung“ mit dieser zweiten Frage hat allerdings die vom Bundesverfassungsgericht bis Mitte 2011 geforderte Revision des negativen Stimmgewichts bisher verhindert. Wichtigstes mehrheitsförderndes Element des Bundeswahlsystems ist drittens die sog. 5% –Klausel, nach der eine Partei mit weniger als 5% der Stimmen (oder drei Direktmandaten) von der Sitzverteilung im Bundestag ausgeschlossen bleibt. Diese Regelung gegen den Eintritt sog. Splitterparteien in das Parlament hat sich seit langem als wirksame Maßnahme gegen eine für die politische Willensbildung schädliche „Zerfaserung“ des Parlaments bewährt.26 Sie wird deswegen trotz der damit verbundenen Nichtberücksichtigung eines manchmal nicht unbeachtlichen Wählerwillens weithin akzeptiert. Bei der Bundestagswahl 1969 hat die 5% -Klausel Geschichte geschrieben, indem sie den Einzug der mit 4,8% Wählerstimmen ausgestatteten rechtsextremen NPD in den Bundestag verhinderte und auf diese Weise der SPD erstmals nach 20 Jahren Bundesrepublik die Kanzlerschaft Willy Brandts ermöglichte. 24 Darstellung der heutigen Gesetzeslage bei Leichleitner, Das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes, JURA 2002, 602; Hans Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 46. 25 BVerfGE 121,266. Nach §§ 6,7 BWG ist es möglich, dass unter bestimmten Umständen ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann. Das BVerfG sah hiermit die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 GG) verletzt. Dazu auch Decker, Brauchen wir ein neues Wahlrecht? Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2011, 3. 26 Becht, Die 5% -Klausel im Wahlrecht, 1990. Das Bundesverfassungsgericht hat die 5% -Klausel sogar im deutschen Europawahlgesetz bei der Wahl zum Europäischen Parlament mit Berufung auf die Willensbildungsfunktion gerechtfertigt, obwohl es dort nach der Wahl keine „Regierungsbildung“ wie auf nationaler Ebene gibt, BVerfGE 51,222. Neuerdings ist die europäische 5% -Klausel erneut in Karlsruhe angegriffen worden.
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V. Regieren unter dem Fünfparteiensystem Wie schon erwähnt, hat das personalisierte Verhältniswahlrecht ungeachtet seiner mehrheitsfördernden Elemente seit den achtziger Jahren und insbesondere nach der deutschen Einheit in den neunziger Jahren die allmähliche Umwandlung des alten „Zweieinhalb-Parteiensystems“ (Unionsparteien, SPD, FDP) in das heutige Fünfparteiensystem im Bund und in den meisten Bundesländern nicht verhindert. Dabei handelt es sich nicht lediglich um eine Vermehrung der Parteienzahl von 3 auf 5. Es erfolgte damit gleichzeitig eine starke Angleichung der Parteiengrößen. Der Politikwissenschaftler Korte hat formuliert, aus den früheren „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD seien „Volkspartei-Ruinen“ geworden. Nach einer bundesweiten Umfrage im Oktober 2010 hatten die GRÜNEN mit 24% erstmals die SPD eingeholt, wobei auch die Unionsparteien mit 29% recht schmalbrüstig geworden waren. Diese Zahlen schwanken immer wieder etwas. Jedoch scheint die Hürde der 40%, die lange als Markenzeichen einer wahren Volkspartei galt, inzwischen für keine der Bundestagsparteien in Berlin auch nur annähernd mehr erreichbar. Wenn nicht Vieles täuscht, wird Deutschland auf schwer voraussehbare Zeit mit dem erreichten 5-Parteien-System politisch leben müssen. Es mag hier und da auf eine Viererkonstellation zurückgehen oder sich auf 6 oder noch mehr Parteien im Parlament erweitern. Es bleibt die Frage, wie diese Entwicklung zu beurteilen ist, beziehungsweise, ob man ihr gegensteuern sollte oder könnte. Als Erstes : Es bleibt gar nichts Anderes übrig, als diese Entwicklung zugunsten 5 und morgen vielleicht noch mehr Parteien im Bundestag und in vielen Landtagen zu akzeptieren, mag sie gut für die Demokratie sein oder schlecht für wirkungsvolles Regieren. Die heutige Parteienvielfalt ist Ausdruck eines demokratisch auf der Grundlage verfassungsmäßiger Gesetze zustande gekommenen Wählerwillens. Diese Diversifizierung der Wählermeinungen reicht offensichtlich weit über die politischen Wahlen hinaus und entspricht einer tiefer liegenden Zeitströmung. Nicht nur die meisten Parteien kämpfen mit abnehmenden Mitgliederzahlen, sondern ebenso jeder Buchclub. Jede dritte Ehe wird geschieden. All dies hat viel mit einem allgemeinen Trend vor allem in den jüngeren Generationen zu Individualisierung in den bald siebzig Jahren friedlichen und insgesamt wirtschaftlich guten Zeiten in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun. Politisch drückt sich diese Abneigung, sich in großen Organisationen zusammen zu schließen, auch im Drang einer größeren Zahl von „Wutbürgern“ aus, sich in Bürgerbegehren, Demonstrationen oder anderen Forderungen nach direkter Demokratie jenseits der politischen Parteien und öfters auch gegen Maßnahmen zu artikulieren, die gemäß den Gesetzen der repräsentativen Demokratie rechtsgültig zustande gekommen sind.27 Ein abrupter Übergang zur relativen Mehrheitswahl oder auch nur zu anderen stark mehrheitsfördernden Wahlsystemen, welcher die Parteienzahl „künstlich“ wieder verkleinern wollte, ist daher in Deutschland nicht nur politisch im 5-ParteienParlament undenkbar. Er widerspräche auch der seit einem Jahrhundert gewachsenen deut27 Jung, Direkte Demokratie als Gegengewicht gegen Kartelle der herrschenden Klasse? in: Wieland (Hrsg.), Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache (Festcolloquium von Arnim), 2011, 81.
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schen und kontinentaleuropäischen politischen Tradition zugunsten der Verhältniswahl. Unangetastet sollten jedoch im Interesse der Regierbarkeit die wichtigsten Instrumente des deutschen Wahlrechts zur Förderung der politischen Willensbildung wie vor allem die 5% -Klausel bleiben. Auch bei der Zahl denkbarer Überhangmandate täte der deutschen Politik ein wenig von der englischen Gelassenheit gut, die darauf vertraut, dass solche Abweichungen von der reinen Lehre der Proportionalität mal die eine und dann wieder die andere politische Seite begünstigen und ihr das Regieren erleichtern.28 Bisher hat die Parteienvielfalt in den deutschen Parlamenten kaum zu ernsthaften Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung geführt. Auch bei künftigen parlamentarischen Schwierigkeiten bleibt das Wichtigste nicht gesetzgeberisches Herumdoktern, um die Wahlgesetzgebung nach irgendwelchen Prinzipien zu perfektionieren, sondern Erhalt und Pflege eines bei allen Gegensätzen toleranten politischen Geistes zwischen den demokratischen Parteien.29 Die nötigen Kompromisse, eine stabile Regierung zu bilden, lassen sich fi nden, solange politische Gegnerschaft und Konkurrenz zwischen den Parteien nicht in fundamentale Feindschaft umschlägt, die das Zusammengehen nach der Wahl schwierig macht oder gar ausschließt. Leider sind in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten gelegentlich ideologische Verhärtungen aufgetreten, die besorgt machen. Wir sollten Alles daran setzen, dass nicht wieder „Weimarer Verhältnis“ oder auch nur belgisch-niederländische Zustände bei uns einreißen. Sie erschweren nicht nur die Regierungsbildung, sondern ebenso die Herstellung einer handlungsfähigen parlamentarischen Mehrheit nach der Wahl, die politische Sacharbeit im Interesse der Bürger zu leisten vermag. Bleiben die politischen Konkurrenten auch in grösserer Zahl nach dem Wahlkampf untereinander gesprächsfähig, ist wachsende Parteienvielfalt vielleicht nicht optimal für die Demokratie, aber doch erträglich und entspricht heutigem Zeitgeist.
28 Im Laufe der Zeit haben sowohl die Unionsparteien als auch die SPD ihre Mehrheit mit Hilfe von Überhangmandaten stärken können. Der Kampf der „Proportionalisten“ gegen dieses im Interesse von Regierungsfähigkeit legitime Instrument geht freilich weiter, vgl. etwa Hans Meyer, Der Überhang und anderes Unterhaltsame aus Anlaß der Bundestagswahl 1994, KritVj 1994, 312 oder Behnke, Grundsätzliches zur Wahlreformdebatte, Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2011,14. Demgegenüber das Plädoyer zugunsten eines „gemischten“ Wahlsystems mit Elementen des Mehrheits- und Verhältniswahlrechts bei Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, 412. 29 Dazu wichtig H.-H. Klein, Metamorphose der Demokratie, FAZ 29. 8. 2011, 7.
Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft* von
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Verfassungsentwürfe in Zeiten von 1989 bzw. 2011, insbesondere sogenannte Privatentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Die Charta 08 aus China als Text in Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Vorverständnis und Methodenwahl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kontexte der Charta 08 aus China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Texte der Charta 08 aus China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Teil „Unser grundsätzliches Konzept“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der dritte Teil: „Wofür wir grundsätzlich eintreten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der vierte Teil: der sogenannte „Schluss“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Selbst bei einer „lectio aurea“ muss die Sache vor der Person stehen. Die „Lectio aurea“ ist der letzte Takt in der Vita eines Gelehrten: Promotion, Habilitation, Antrittsvorlesung, Abschiedsvorlesung und eben lectio aurea. Eine große Tradition wird in Freiburg gepflegt: mit Namen wie Otto Bachof, Hans Schneider, Paul Feuchte, Karl Josef Partsch, E. Bund, T. Ramm. Die Lectio aurea bildet eine eigene Literaturgattung. Es gibt freilich Beispiele für andere Formen der Ehrung, etwa regelmäßige Gedenkvorlesungen (wie die Lectures für K. Vogel in Wien). Doch ist der heutige Tag kaum Verdienst des Laureaten, denn es sind ja die Götter, die ihm die Zeit zumessen. Wohl aber bleibt er das Verdienst der Lehrer, die den Doktoranden auf den Weg gebracht haben: an erster Stelle Konrad Hesse, der Begründer der jetzt vor Ort jäh erloschenen, *
Rede zum Goldenen Doktorjubiläum am 11. November 2011 an der Universität Freiburg/Br.
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von Roman Herzog früh so genannten „Freiburger Schule“, sodann Mentoren wie H.-H. Jescheck, E. Wolf, F. von Hippel, A. Bergstraesser, F. Pringsheim, W. von Simson. Für jemanden, der die Rechtswissenschaften als „Lebensform“ versteht, so der Titel meiner Bayreuther Abschiedsvorlesung 20021, ist die Möglichkeit zur lectio aurea ein Geschenk, wofür ich der gastgebenden Fakultät danke. Als alter Professor sollte man sich vor der Autobiographie als Großform hüten, für W. Apelt (1965) oder R. Thoma, soeben Hans Maier (2011) mag anderes gelten. Erlaubt sind allenfalls „Pädagogische Briefe“ als kleine Erfahrungsberichte. Die Themenwahl einer lectio aurea ist dem Redner freigestellt. Während Antrittsvorlesungen kühne Programme entwerfen sollten, Abschiedsvorlesungen im „Herbst des Mittelalters“ als Rückblick konzipiert sein dürfen, auch wenn manche Leuchtspuren noch in Horizonte der Zukunft ausgreifen könnten, stellt die lectio aurea die Grundsatzfrage, wie man ihr am besten altersgemäß am Ende gerecht werden soll und kann. Doch genug der captatio benevolentiae gegenüber einem gewiss über alle Maßen kritischen Publikum, hier und heute?!
Erster Teil: Verfassungsentwürfe in Zeiten von 1989 bzw. 2011, insbesondere so genannte Privatentwürfe Das „annus mirabilis 1989“ brachte viele Verfassungsentwürfe hervor, auch viele Privatentwürfe, wie sie in der Schweiz seit langem eine besondere Tradition haben; man denke nur an den erfolgreichen Privatentwurf Kölz/Müller (1984) 2, der ein bewundernwertes Gegenstück in dem grenzüberschreitenden Freiburger Privatentwurf von Seiten Schwarze/Flauss in Sachen Europäische Verfassung gefunden hat (2002). Verwiesen sei auf die Dokumentationen im Jahrbuch des öffentlichen Rechts3, dessen Treuhänder auf Zeit ich seit 1983 dank des Verlegers Dr. G. Siebeck sein darf: zwergenhaft auf den Schultern der Riesen G. Jellinek und G. Leibholz. Das „annus mirabilis 1989“, das meines Erachtens selbst heute noch trotz aller Enttäuschungen dieses Prädikat beanspruchen darf (auch trotz des „11. Septembers“), hat im Jahre 2011 für alle überraschend ein zweites annus mirabilis, freilich gepaart mit einem „annus horribilis“, gefunden. Ich meine die Freiheits- und Demokratiebewegung in vielen arabischen Staaten, so offen deren Ausgang noch ist, als zweites „annus mirabilis“ einerseits, andererseits als „annus horribilis“ die Atomkatastrophe in Japan. Noch vor diesem fast dialektisch zu sehenden weltgeschichtlichen Doppelereignis kam es zu einer Aufsehen erregenden Publikation, der Charta 08 aus China (am 09. Dezember 2008 veröffentlicht, im Jahre 303 in China). Nach einer Zeitungsmeldung (Rheinischer Merkur Nr. 5/2009, S. 5) war sie zu diesem Zeitpunkt schon von mehr als 8000 Chinesen unterzeichnet. Mitverfasser ist der spätere Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo (FAZ vom 26. März 1011, S. 33). Er bekam dafür 11 Jahre Gefängnis. Die Charta erreichte schon 303 Unterschriften, als er verhaftet 1
Vgl. JöR 53 (2004), S. 155 ff. JöR 34 (1985), S. 551 ff. (3. Aufl. 1995). 3 Dazu P. Häberle, Verfassunggebung in Europa, JöR 54 (2006), S. 629 ff., ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 600 ff.; ebd. zum Privatentwurf Schwarze/Flauss, S. 621 f. 2
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wurde. Zuletzt stieg die Zahl der Unterzeichner auf 10 000 (FAZ vom 26. März 2011, S. 33). Nach Zeitungsmeldungen verschwinden immer mehr Unterstützer der Charta 08 im Gefängnis. Die SZ ( Jahresrückblick 2010, V2, S. 3) kommentierte das Dokument als „Charta gegen China“, was so nicht zutrifft. Ihre Bemerkung, die Charta sei ein „eher rationales, fast langweiliges Pamphlet“, ist abwegig, wie jetzt zu zeigen sein wird. Die Charta sei im Folgenden auf dem Hintergrund der 1982 konzipierten „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ gewürdigt. Ihr Name erinnert gewiss bewusst an die wirkungsmächtige Charta 77 eines V. Havel in Prag. Doch zuvor in Stichworten einiges zur heutigen recht widersprüchlichen NochWirklichkeit in China (rekonstruiert aus Tageszeitungen, die sich aus rhetorischen Gründen hier nicht im Einzelnen nachweisen lassen). Gerade im Kontrast zwischen aktuellen Meldungen einerseits und Verfassungs- bzw. Klassikertexten andererseits, lassen sich Funken schlagen. China gilt als asiatische Wirtschafts- und Entwicklungsdiktatur. China erwägt derzeit eine Beteiligung am europäischen Rettungsfond. Es kritisiert die westlichen Medien aus Anlass des Murdoch-Skandals. Seine KP ist heute die „wahrscheinlich mächtigste Partei der Welt“. Der chinesische Staatskapitalismus, so schreiben die Medien, „zieht davon“. China gilt als „unberechenbarer Riese“, Taiwan als „unsichere Republik“. Auf der anderen Seite ist von „Unsicherheit der Mächtigen“ die Rede. Unbestritten ist, dass nach nur etwas mehr als 30 Jahren die Volksrepublik China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde aufgestiegen ist. China selbst sieht den Westen nicht mehr als Vorbild an (FAZ vom 6. Juni 2011, S. 12). Es gibt aber auch Anzeichen für einen Richtungsstreit innerhalb der kommunistischen Partei. Westliche Politiker und Wirtschaftsleute biedern sich an oder halten sich zurück, so dass eine Zeitung von „Kriecherei in Fernost“ geschrieben hat. Speziell in Tibet, wo laut dem Dalai Lama ein kultureller Völkermord begangen wird, will China die Ursachen des sogenannten „Separatismus“ bekämpfen. Ein Wort zur Kultur: Erinnert sei an den vor allem in Deutschland geführten Streit um die Kunstausstellung über die „Auf klärung“ in Peking. Peking proklamiert eine Stärkung der von der Zentralmacht gesteuerten Kulturpolitik. Großes Aufsehen erregte die Verhaftung des regimekritischen Künstlers Ai Weiwei, des „Gewissens China“. Dieser hatte kurz vor seiner Verhaftung in der SZ ein Interview gegeben: Die „gegenwärtige Situation“ in China ist „absolut verrückt“, auch 100 Jahre nach der Auf klärung sind wir Chinesen dazu noch nicht bereit (SZ vom 5. April 2011). Manche Stimmen bei uns fordern, dass deutsche Museen nach wie vor mit China kooperieren sollten. Im Westen erinnert man sich in Bezug auf das Exil des chinesischen Dissidenten-Dichter Liao Yiwu an Boris Pasternak und Dr. Schiwago. Freilich hören wir auch erstaunt von einer Mahnung Chinas an den Dalai Lama zur „Wiedergeburt“ (FAZ vom 28. September 2011, S. 27). Dieser hatte in einem Interview Folgendes resümiert (FAZ vom 25. August 2011, S. 7): „China mangelt es an Selbstbewusstsein“. Der Dalai Lama spricht über die Ängste und Dämonen der Pekinger Führung, das Beharren Tibets auf seiner Identität, seinen Weg zur Demokratie, den Glauben an einen Dritten Weg in der Wirtschaft und die Sehnsucht nach „Spiritualität“. China selbst spricht von den „fünf Giften“: Tibet, Taiwan, Falun-Gong und Demokraten sowie die Muslime im Norden (SZ vom 7. Juni 2011, S. 13). Einerseits beeindrucken die vielen neuen Konfuzius-Institute in fast 100 Ländern, sie dienen der auswärtigen Kulturpolitik, andererseits verbergen sich hinter ihnen „Pekinger Zensoren und Ein-
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heitsfrontspezialisten“ (FAZ vom 8. Nov. 2011, S. 9). Bemerkenswert ist, dass in diesen Tagen acht chinesische Intellektuelle nach Berlin kommen, um „von Europa zu lernen“ (FAZ vom 7. Nov. 2011, S. 25). Offen bleibt die Frage, ob das Internet die Revolution in China bringen kann (dazu der chinesische Dissident Bei Ling (FAZ vom 5. Nov. 2011, Z 6) – auf lokaler Ebene nutzen unabhängige Kandidaten schon das Internet für einen Wahlkampf, den sie auf der Straße und in den Staatsmedien nicht führen dürfen (FAZ vom 7. Nov. 2011, S. 5).
Zweiter Teil: Die Charta 08 aus China als Text in Kontexten I. „Vorverständnis und Methodenwahl“ Ohne Josef Esser, dem Tübinger Genie der Rechtswissenschaften, wäre diese Fragestellung trotz der Vorarbeiten von H.-G. Gadamer und von H. Ehmke, einem meiner Freiburger Mentoren, nicht denkbar. Ihrer Vorfrage ist der folgende Ansatz zu verdanken, so wie ich eigentlich fast alles meinen Freiburger Lehrern sowie meinen Tübinger Mentoren verdanke, zu denen auch der große G. Dürig gehörte – alles was später zur Menschenwürde geschrieben worden ist, bleibt Sekundärliteratur zu ihm, erklärtermaßen oder der Sache nach (Stichworte: Grundrechte als „Wertsystem“, „Objektformel“). Spiegelstrichartig sei im Folgenden offengelegt, wie der Text der chinesischen Charta ausgeleuchtet wird: – Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982/98), d. h.: Verfassungen sind nicht „bloß“ juristische Umschreibungen. Mit Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (wörtliches Zitat aus „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, 1982, S. 19). – Die Kontextthese von 1979 (Kommentierte Verfassungsrechtsprechung), weitergeführt im Handbuch des Schweizerischen Verfassungsrechts („Verfassung im Kontext“, 2001), oft rezipiert, leider auch plagiiert. Ihr wesentlicher Inhalt lautet in Zuspitzung: Es gibt keine Texte, sondern nur in Kontexten interpretierte Texte; die Texte sind vielfach erst aus ihren historischen, kulturellen, philosophischen – wandelbaren – Kontexten her zu verstehen (Beispiel: der Begriff „Familie“ nach Art. 6 GG); Texte als Verfassungstexte im weiteren Sinne sind vor allem die Klassikertexte;
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in der Zeitschiene betrachtet können dieselben Texte in Jahrzehnten, weltweit, d. h. im Raum über viele Kontinente hinweg anders interpretiert werden. Klassikertext ist für diese Sicht das Diktum von Rudolf Smend aus dem Jahre 1951: „wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe“. Die These von der kulturellen Verfassungsvergleichung (1982), Stichwort Verfassung als Kultur und nicht nur Verfassung und Kultur; nicht nur für den Richter ist die Rechtsvergleichung hier „fünfte“ Auslegungsmethode (1989), sondern aus funktionell-rechtlichen Gründen ist sie dies als Gestaltungsmethode noch wesentlich intensiver für den Verfassunggeber4. Das Textstufenparadigma (1989): Es gibt im Verfassungsstaat als Typus und im Vergleich eine Trias der Produktion und Rezeption von Texten, Theorien und Judikaten. Was im einen Verfassungsstaat von den Verfassungsgerichten entwickelt worden ist, auch zur Verfassungswirklichkeit wurde, kann später im benachbarten Land auf einen neuen Text gebracht werden. Dies ist oft geschehen, im innerdeutschen Rezeptionsprozess z. B. in Sachen „Grundversorgung“ durch das Fernsehen, eine Prägung von K. Hesse im BVerfG, jetzt wörtlich wiederkehrend in Art. 12 Abs. 1 Verfassung Thüringen (1993). In der Schweiz fi nden sich viele Beispiele für sogenannte ungeschriebene, jetzt geschriebene Grundrechte, insbesondere die Wesensgehalts- bzw. Kerngehaltsgarantie von Grundrechten. Manche sprechen neuerdings von „nachholenden“ Verfassungsänderungen. Die hohe Relevanz von Privatentwürfen – sie können von einem oder mehreren verbündeten Professoren verfasst sein, von parteipolitischen Gruppierungen oder auch – horribile dictu – von vor allem US-amerikanischen law firms (so nach 1989 in Osteuropa). Vor allem in der „Werkstatt Schweiz“5 mit ihrem experimentierenden Föderalismus haben sie sich als sehr einflussreich erwiesen. Die normative Kraft von oft als bloß semantisch gescholtenen Verfassungstexten, seien sie als Entwurf steckengeblieben, seien sie formal in Geltung gesetzt, kann sich mittelfristig entfalten – Sie alle vermuten zu Recht letztlich die berühmte Antrittsvorlesung meines Lehrers Konrad Hesse von 1956 hinter diesem Ansatz.
II. Kontexte der Charta 08 aus China So wichtig sie sind: zu ihnen vermag ich heute relativ wenig zu sagen, theoretisch müssten sie auch erst nach den Texten behandelt werden. Ich bin leider kein Kenner sondern nur ein Bewunderer der großen Kulturgeschichte Chinas6 (man denke an die Erfi ndung des Porzellans, der Akupunktur, der Zahnbürste und Zahnseide, den Bau der chinesischen Mauer, der Terrakota-Armee, der Nudelgerichte (in Konkur4 Belegbar in der „Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes“, vgl. das Vorwort zu JöR Bd. 1, Neuaufl age 2010, S. V, XVI f. u. ö. 5 Dazu meine Beiträge: „Eine Werkstatt für Verfassungspolitik“, NZZ vom 20. 11. 1990, S. 23; „Werkstatt Schweiz“ , JöR 40 (1991/92), S. 167 ff.; Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung, JöR 47 (1999), S. 149 ff.; Die totalrevidierte Bundesverfassung in der Schweiz, 1999/2000, FS Maurer, 2001, S. 935 ff. 6 Grundlegend M. Granet, Das chinesische Denken – Inhalt, Form, Charakter, Deutsche Neuausgabe, 1962; R. Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 2000.
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renz mit Italien), leider auch die Erfi ndung des Schießpulvers) und ich bin nicht in der Lage, große Daten wie die Vergewaltigung durch die westlichen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert und die imperialistische Eroberung durch Japan vor 1945 in Erinnerung zu rufen. Als Merkposten seien sie jedoch notiert, ebenso wie die großen Lehren eines Konfuzius 7 („Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht“ als menschliche Ziele, die „harmonische Gesellschaft“) und Laotse sowie des Taoismus8, die Jahrzehnte nach der entsetzlichen Kulturrevolution des massenmörderischen Mao Tse Tung heute offenbar nach und nach wieder ins Bewusstsein rücken und eine Renaissance erfahren. Erwähnt seien auch die schmerzliche Geschichte Tibets und die im Ergebnis gescheiterten, fast weltweiten Demonstrationen vor einigen Jahren, wo wir überall auf dem Globus in der Hand von mutigen Demonstranten die tibetische Fahne als „kulturelles Identitätselement“ und „internationales Erkennungssymbol“ (im Sinne meiner gleichnamigen Monographie von 2008) dieses geschundenen Volkes („Nationalität“) erleben konnten. Dem vergleichenden Rechtswissenschaftler stellt sich von vornherein die Frage, warum das große China bis heute hier nicht zu einer präföderalen oder föderalen Lösung fi nden konnte und kann. Sieht man im Fernsehen die 2011 durchgeführte große „Volksversammlung ohne Volk“, wie sie alle paar Jahre im Volkskongress in Peking inszeniert wird, so denkt man sofort an das Demokratiedefizit. Der von Bundeskanzler G. Schröder und seiner Nachfolgerin vorangetriebene sogenannte „Rechtsstaatsdialog“ erinnert uns an analoge Defizite. Einzelheiten sind mir nicht bekannt, wohl aber weiß ich, dass manche jüngere Kollegen an bestimmten chinesischen Universitäten lehren können, hoffentlich so frei, wie ich dies einmal während des Apartheids-Regimes Südafrikas 1981 tun durfte (freilich unter Meidung jeglicher Kontakte mit staatlichen Stellen). Erinnert sei auch an den fruchtbaren Rechts- und Kultur-Dialog zwischen der Universität Göttingen und Taiwan. Verlassen wir uns auf die deutschen China-Experten9, so sind folgende Stichworte aus der 5000jährigen Kultur- und Rechtsgeschichte Chinas erhellend: „Die chinesische Verfassungsgeschichte ist vor allem eine Rezeptionsgeschichte“10. Insbesondere wirkte die Weimarer Verfassung von 1919 ebenso breit wie tief auf die Republik China bzw. die national chinesischen Lehrbücher des Verfassungsrechts11. Vor allem Sun Yat-sen (1866–1925) übernahm viel anglo-amerikanisches und europäisches Gedankengut12. Erstaunlich ist, dass Sun Yat-sen in dem „Wohlwollenden Vertrag“ in 7
Der Politische Rat hat nach 1913 einen „Erlass betr. die Konfuzius-Verehrung“ beschlossen, vgl. ohne Verf., Die Chinesische Verfassungsfrage, JöR a. F. Bd. VIII (1914), S. 513 (520 f.). 8 Dazu M. Granet, aaO., S. 230 ff. 9 Aus der staatsrechtlichen Literatur: O. Franke, Die staatsrechtliche Entwicklung in China seit 1901, JöR a. F. Bd. VI (1912), S. 503 ff. – das Jahr 1901 bildet bis heute einen „Markstein der Geschichte“, den Anfang einer „völligen Umformung des Staates“. – F. Jäger, Die Vorverfassung der chinesischen Republik vom März 1912, JöR a. F. Bd. VII (1913), S. 489 ff., mit dem bemerkenswerten Art. 1 der vorläufigen Verfassung: „Die Republik China ist die Organisation der chinesischen Bürger“ sowie einem Grundrechtskatalog unter der Überschrift „Die Bürger“ (Art. 5 bis 15). – Zur „Verfassung der Republik China“ von 1923: F. Koehne, JöR a. F. Bd. XIV (1926), S. 495 ff. 10 W. Lasars, Die Machtfunktion der Verfassung, Eine Untersuchung zur Rezeption von demokratisch-rechtsstaatlichem Verfassungsrecht in China, JöR 41 (1993), S. 597 (656). 11 Dazu W. Lasars, aaO., S. 621. 12 Vgl. Carsun Chang, Die staatsrechtliche Krisis der chinesischen Republik, JöR a. F. Bd. 19 (1931),
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Sachen Abdankung des letzten Qing-Kaisers (1912) das italienische „Gesetz der Garantien“ (1870) in Sachen „Statut des Papstes“ in Italien rezipierte13. Schon diese wenigen Hinweise belegen, dass die Charta 08 nicht auf einer Tabula rasa auf baut, sondern in Schichten, im kulturellen Humus des großen alten China wurzelt. Dazu gehört leider auch die vorherrschende „Machtfunktion der Verfassung“, die manche guten Verfassungstexte und -Erlasse relativiert, z. B. zu Rechten der Bürger (1912)14, zur Religionsfreiheit (1912/14)15 sowie zur Volkssouveränität (1923) und 1931 zu Grundrechtsgarantien in dem Kapitel „Rechte und Pfl ichten des Volkes“, auch zur Bildung der Staatsbürger und zur Unabhängigkeit der Gerichte16, und die Schwierigkeiten bei der Rezeption von demokratisch-rechtsstaatlichem Verfassungsrecht bereitet17. Hingegen gibt es jetzt auch ermutigende Stimmen der Rechtswissenschaft zu Gunsten eines chinesischen „Konstitutionalismus“18. All diese kulturellen Kontexte (z. B. „Über das chinesische Denken herrschen gemeinsam die Begriffe von Ordnung, Ganzheit und Wirkkraft“19, „Im alten China gab es lediglich den Begriff der Pfl icht und nicht den Begriff des Rechts“20, die These von R. Heuser: „Kulturtradition und Institutionen Chinas widmen der Machtkontrolle keine ausreichende Aufmerksamkeit, „das Wesen der chinesischen traditionellen Kultur ist nicht Herrschaft des Rechts“21, und vor allem die so genannten „Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden“, dank H. v. Senger als „Strategeme“ meisterhaft auf bereitet22 ), müssen mitgelesen und mitgedacht werden, wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, die bloßen Texte der Charta 08 vorzustellen. Eigentlich müssten vor oder besser nach mir Sinologen das Wort ergreifen oder: Ist hier im Raum vielleicht ein Chinese?, vielleicht Herr H. v. Senger, der hier in Freiburg 1995/96 eine Ringvorlesung über die List durchführte23 und sogar eine „chinesische Widerlegung von J. Lockes Verharmlosung der List“ unternahm 24.
S. 316 (333 ff.); H. Herrfahrdt, Sun Yatsen. Der Vater des neuen China, 1948; E. Tomson, Die Verfassungsentwicklung in der Volksrepublik China, JöR n. F. 22 (1973), S. 427 (432): „Seit der Jahrhundertwende erhielt die chinesische Kultur Anregungen aus dem Gedankengut des Abendlandes. Besonders stark war der Einfluss im Staats- und Rechtsdenken, so dass die Umgestaltung des Staatsauf baus und des Rechtssystems die notwendige Folge war“; Xie Hui/ R. Heuser, Ist die chinesische Tradition eine Quelle zur Gestaltung moderner Herrschaft des Rechts?, JöR 50 (2002), S. 581 (585 f.). 13 Dazu Wikipedia „Xinhai-Revolution“, http://de.wikipedia.org/wiki/Xinhai-Revolution. 14 Vgl. JöR a. F. Bd. VII (1913), S. 496 ff. 15 Zit. nach JöR a. F. Bd. VIII (1914), S. 510 (519 f.). 16 Zit. nach JöR a. F. Bd. XIV (1926), S. 495 ff. bzw. nach JöR a. F. Bd. 19 (1931), S. 347 ff. 17 Dazu W. Lasars, aaO., S. 637 ff. 18 Dazu R. Heuser, Der offene Weg: Ein Jahrhundert chinesischer Verfassungsreform, JöR 56 (2008), S. 655 (664 ff.). 19 Dazu M. Granet, aaO., S. 258; H. v. Senger, Ganzheit im chinesischen Denken – Legende und Realität, in: C. Thomas (Hrsg.), „Auf der Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick“, 1992, S. 63 ff. 20 H. v. Senger, aaO., S. 76. 21 Xie Hui/R. Heuser, Herrschaft des Rechts in China, JöR 50 (2002), S. 581 (587). 22 H. v. Senger, Strategeme, Bd. II: Strategeme 19–36, 2000; ders., Die Kunst der List, Strategeme durchschauen und anwenden, 2. Aufl. 2002. 23 H. v. Senger, Strategeme, aaO., S. 52. 24 H. v. Senger, Strategeme, aaO., S. 57 ff.
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III. Die Texte der Charta 08 aus China In einer überregionalen Tageszeitung25 erstmals veröffentlicht sowie auch im Internet publiziert, erregte sie weltweit großes Aufsehen (innerchinesisch kam es sogleich zu Verhaftungen). Das Datum ist kein Zufall.
1. Das Vorwort Schon im präambelähnlichen Vorwort wird daran erinnert, dass sich 2008 die erste Verfassung Chinas zum 100. Mal jährt, die „Erklärung der universellen Menschenrechte“ zum 60. Mal und die Pekinger „Mauer der Demokratie“ zum 30. Mal. Auch ist im Vorwort der Tatsache gedacht, dass vor zehn Jahren die chinesische Regierung den (völkerrechtlichen UN-Vertrag) „Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ unterzeichnete. Dieser bescheiden bloß „Vorwort“ genannte Anfangstext erinnert an alle Elemente der verfassungsstaatlichen Präambelkunst als „Textereignis“, wobei Präambeln kulturwissenschaftlich betrachtet, dem Präludium, der Ouvertüre sowie dem Prolog ähneln 26. Wenn irgendwo eine Verfassung eine „Liebeserklärung“ an ihr Volk ist (H. Prantl), dann in der Präambel. Nachgezeichnet wird in feierlicher, bürgernaher Sprache die Geschichte eines Landes, die Substanz der folgenden Texte sowie die Zukunftshoffnungen bis hin zu konkreten Utopien (wie die eine, die 1949 im Grundgesetz postulierte Gewinnung der Einheit, 1990 erreicht wurde). So ist davon die Rede, dass die chinesischen Bürger „nach langwierigen mühsamen und von Rückschlägen gezeichneten Kämpfen aufgewacht sind“, so wird ein Bekenntnis abgelegt zu Freiheit, „Gleichberechtigung und Menschenrechten, als gemeinsamen und universellen Werten der Menschheit“ (Parenthese: allen sehr deutschen Infragestellungen der Theorie von verfassungsrechtlichen Grundwerten ist damit wie in so vielen modernen Verfassungen mit einem Federstrich des Verfassungsgebers schon positivrechtlich der Garaus gemacht). Es folgen Bekenntnisse zu „Demokratie, Republik“ und zur „verfassungskonformen Regierung“ als Fundament einer modernen Politik. Damit ist das typische Präambelelement „Konzentrat der Verfassung“ bzw. der folgenden Texte umrissen. Die Zukunftsdimension, ebenfalls neben der bürgernahen Sprache ein typisches Präambelelement, wird vom Negativen her entworfen. Es heißt wörtlich: „Eine „Modernisierung“, die sich „von diesen universellen Werten und solchen Grundlagen der Politik entfernt“, kann nur zu einer Katastrophe werden, weil sie den Menschen ihre Rechte raubt, ihre Vernunft korrumpiert und ihre Würde zerstört.“ Die Berufung auf Menschenwürde und Vernunft ist bislang in dieser Weise noch in keinem Präambeltext so vorbildlich zum Ausdruck gebracht worden. Wie behutsam die Verfasser der Charta vorgehen, zeigt sich in den beiden bescheidenen in Frageform gefassten Sätzen: „Wohin wird China 25 FAZ vom 22. Dezember 2008, Nr. 299, S. 6 f., übersetzt von Prof. Dr. Jörg-M. Rudolph, ebenfalls in http://www.eu-china.net/web/cms/upload/pdf/materialien/rudolph_2009_charta_08.pdf; siehe auch Wikipedia „Charta 08“, http://de.wikipedia.org/wiki/Charta_08, mit Nachweisen der ersten Reaktionen. 26 P. Häberle, Präambeln in Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; fortgeschrieben in ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff.
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im 21. Jahrhundert gehen? Wird es weiter die „‚Modernisierung‘“ unter autoritärer Herrschaft verfolgen? Oder wird es sich mit den universellen Werten identifizieren, mit der Hauptrichtung verschmelzen und ein demokratisches Regierungssytem aufbauen?“ Im folgenden Teil des überaus umfangreichen „Vorworts“ (schon die Verfassung von 1923 hatte eine Präambel mit Stichworten „von dem Willen beseelt, das nationale Ansehen zu erhöhen . . ., das Wohl des Volkes zu mehren und für die Ideale der Menschlichkeit einzutreten“) 27 werden in vier weiteren Abschnitten die historischen Prozesse der politischen und Kulturgeschichte Chinas bis ins Einzelne nachgezeichnet und dies in einer ungemein objektiven, sachlichen Weise. Nur wenige Stichworte seien noch genannt: „Die historischen Umwälzungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts (gemeint ist der Einbruch europäischer Kultur . . . in die bis dahin hermetisch verschlossene chinesische Welt)“ sowie die „Bewegung zum Lernen vom Ausland“ (als „erster Modernisierungsversuch“), überdies „die Niederlage im Krieg gegen Japan“ (1894/95) . . . .); die „Hundert Tage der Reformen“ (1898); sodann die „Revolution von 1911“ mit der Folge der Schaffung der „ersten asiatischen Republik“, die freilich als „republikanisches System“ nur eine Episode bleiben konnte. Weitere Stichworte der etwas langatmigen Verarbeitung der Tausenden von Jahren chinesischer Kultur- und Rechtsgeschichte beziehen sich auf „das Banner Wissenschaft und Demokratie“ der „Bewegung des 4. Mai“ (1919), die Übernahme europäischen Denkens, die „Warlord-Kriege im Inneren und die Aggression von außen (von 1931 an: Japan)“, sie unterbrachen jedoch den Prozess der politischen Demokratisierung Chinas. Die neue Wirklichkeit nach dem Sieg der KP wird zutreffend umschrieben mit dem Satz: „Das Neue China . . . von 1949 war indessen nur dem Namen nach eine ‚Republik des Volkes, tatsächlich war es die Welt der Partei‘“. Erwähnt werden die Serie „Menschenrechtliche Katastrophen, der „Große Sprung“ (1958–1960), die Kulturrevolution (1966–1976), der 4. Juni 1989, die Unterdrückung der Volksreligion . . .“. Knapp wird gesagt: „Dutzende Millionen Menschen kamen bei alldem ums Leben, die Chinesen und ihr Land zahlten einen verheerenden Preis.“ Im letzten Absatz keimt Hoffnung auf in den Worten: Mit dem Prozess von „Reform und Öffnung“ (am Ende des 20. Jahrhunderts) ließ China „die allgemeine Armut und den vollkommenen Totalitarismus der Zeit Mao Tse Tungs hinter sich“. Sehr konzentriert wird die ambivalente Entwicklung nachgezeichnet: einerseits Reform der Wirtschaft „in Richtung Markt und Privatisierung“, andererseits „Rufe nach Menschenrechten“. Zwar wird die Verfassungsänderung von 2004 durch den „Nationalen Volkskongress“ erwähnt (Art. 33: „Der Staat respektiert und schützt die Menschenrechte“), doch wird beklagt, dass sich diese Fortschritte größtenteils „auf das Papier“ beschränken. An den Pranger gestellt wird die „Beamten-Korruption“, die Zerstörung der „Ethik“, die Polarisierung der Gesellschaft, die „abnorme“ Entwicklung der Wirtschaft, die Zerstörung der „natürlichen Umwelt und des Geistes.“ An einen Klassikertext aus den USA erinnert der Passus: „Die Rechte der Bürger auf Freiheit, Eigentum und die Verfolgung ihres Glücks haben keinen systemischen Schutz“. 27
Text zit. nach F. Koehne, JöR, aaO., S. 495.
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Im Ganzen: Das „Vorwort“, aus unserer Sicht die Präambel, bietet alles, was ein Verfassungsdokument aus vergleichender Sicht leisten kann und soll. Es kann sich mit den weltweit besten Präambeln etwa aus den USA (1787), Südafrika (1996), Polen (1997) und Albanien (1998) sowie aus dem Kosovo (2008) messen (viel Kritik verdient die einseitige nationalistische und tendenziöse Präambel der neuen Verfassung Ungarn von 2011) 28. Entweder kannten die Verfasser der Charta 08 aus China diese Texte von Verfassungen „im Diskurs der Welt“ oder der Weltgeist, der freilich kein Schwabe ist, kristallisierte sich im fernen China aus, so wie überhaupt zu vermuten ist, dass bei aller Relevanz von I. Kant meiner Theorie von den „Textstufen“ ein Stück Hegel beigemischt ist: Vieles, was sich in Verfassungstexten kristallisiert bzw. wirklich ist, ist vernünftig! Meine einzige Kritik am „Vorwort“ geht dahin, dass Sun Yat-sen nicht ausdrücklich erwähnt wurde, obwohl er im Umsturz von 1911 eine große Rolle spielte, der Vorläufige Große Präsident der 1. Republik Chinas war29, sich große Verdienst erworben hatte (seine „Drei Volksprinzipien“: Nationalismus, Rechte des Volkes und Volkswohlfahrt sind bis heute berühmt 30, auch die „Verfassungslehre von den fünf Gewalten“31) und im heutigen China sogar ein Mausoleum in Taipei hat. Ein deutscher Autor spricht zu Recht von „Chinas unbeachteter Republik“32.
2. Der Teil: „Unser grundsätzliches Konzept“ Diese Überschrift leistet, was sie verheißt. Das Dokument geht hier nicht in Artikel-Form vor, sondern es ähnelt eher einem Traktat bzw. den Federalist Papers der werdenden USA. In bewunderswerter Dichte werden die „Grundzüge“ – fast ist man an Konrad Hesses klassisches Lehrbuch erinnert (1966/20. Aufl. 1999) – der Prinzipien, Grundwerte und Themen eines Verfassungsstaates im Kontext Chinas entworfen. Im einzelnen: Der Text beginnt unter Hinweis auf den „jetzt hundertjährigen Modernisierungsprozess“ mit der Bekräftigung von sieben „Grundsätzen“, die in prägnanter Sprache formuliert sind und erkennen lassen, dass sich die Autoren der Charta 08 auf dem jetzigen Stand des weltweiten Diskurses in Sachen Verfassungsstaat befi nden. Begonnen wird mit dem Thema „Freiheit“: „Die Freiheit ist der Kern der universellen Werte.“ Es folgt ein Hinweis auf „Rechte“, wie das der Rede, der Veröffentlichung, des Glaubens, der Versammlung und Organisation, der Freizügigkeit, des Streiks, (sogar) der Demonstration. Diese Freiheiten gelten alle „als konkrete Erscheinungsformen der Freiheit.“ Auch dieser Satz ist lehrbuchartiges Wissen um die Grundlagen des Verfassungsstaates. Fast poetisch heißt es: „Wo die Freiheit 28 Erste Kritik von P. Zilahy, Vom Leben in magischen Zeiten. Tausend Jahre und kein bisschen weise: Ungarns heiliger Gral oder Die modernste Verfassung Europas – eine Budapester Farce, FAZ vom 4. Mai 2011, S. 27. 29 W. Lasars, aaO., S. 600. 30 W. Lasars, aaO., S. 617 f. 31 Dazu Casun Chang, Die staatsrechtliche Krisis der chinesischen Republik, JöR a. F. Bd. 19 (1931), S. 316 (333 ff.); H. Herrfahrdt, Sun Yatsen, 1948. 32 T. Weyrauch, Chinas unbeachtete Republik. 100 Jahre im Schatten der Weltgeschichte. Band 1 (1911–1949), 2009; Band 2 (1950–2011), 2011. – Zur Verfassungsreform in Taiwan: gleichnamig R. Heuser, JöR 41 (1993), S. 658 ff., mit Textanhängen, S. 667 ff.
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nicht blüht, kann von moderner Zivilisation keine Rede sein.“ Welch smarter Jurist würde bei uns heute das schöne Wort von „blühender Freiheit“ ohne weiteres noch wagen!? Als nächstes Thema figurieren die „Menschenrechte“: „Sie sind kein Geschenk des Staates, sondern Rechte, die jeder Mensch von Geburt an besitzt“ – man fühlt sich u. a. an den berühmten Art. 1 des Entwurfs von Herrenchiemsee zum Grundgesetz (1948) erinnert. Wenn es anschließend heißt: „Sie zu schützen ist das oberste Ziel einer Regierung, und sie sind die legitimierende Basis allen Rechts“, so denkt man nicht nur an das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 Satz 2), sondern auch an andere im weltweiten Vergleich vergegenwärtigte Texte. In geradezu raffi nierter Weise kontextualisiert die Charta „ein Propaganda-Wort der Partei- und Staatsmacht, seit etwa 2002“, nämlich: Menschenrechte sind auch der wichtigste Inhalt einer Politik, die „den Menschen zum Ausgangspunkt nimmt“. Der folgende Satz gilt der These, die politischen Katastrophen Chinas seien eng verbunden mit der „Missachtung der Menschenrechte durch die machthabenden Behörden“. Wiederum leuchtet ein Stück der Texte von Herrenchiemsee auf: „Der Mensch ist das Wesentliche am Staat, ihm dient er und für ihn ist die Regierung da“ – ein Abschied von Hegel aus Stuttgart, aber noch in Berlin (?). Das nachfolgende Thema lautet die „Gleichberechtigung“. Auch hier ist die Charta vom westlichen, jetzt weltweiten Verfassungsstaatsdenken her inspiriert: Ich zitiere nur Sätze wie: „Jedes Individuum ist allen anderen gleichgestellt, ohne Ansicht seiner sozialen Position . . ., Geschlechts, seiner wirtschaftlichen Situation, seiner Rasse oder seiner politischen Ansichten.“ Über das Grundgesetz hinaus, das bekanntlich ein Defizit an sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten aufweist (ganz anders die west- und ostdeutschen Landesverfassungen) lautet der einschlägige Satz: „Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht ist ebenso zu verwirklichen wie die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte der Bürger.“ Hier wirken der UN-Menschenrechtspakt von 1966 und viele osteuropäische Verfassungen, sogar afrikanische und lateinamerikanische. Eine Steigerung gelingt der Charta im folgenden Passus, der in Anknüpfung an Klassikertexte seit der Antike lautet: „Res publica: Das meint die Sache des Volkes, dass ‚alle herrschen und friedlich zusammenleben.‘“ Konkretisierend ist hinzugefügt: „Das bedeutet Teilung der Gewalten und deren gegenseitige Kontrolle und Balance, dass vielfältige Interessen, unterschiedliche soziale Gruppen und jene, die unterschiedliche Kultur- und Glaubensrichtungen verfolgen, auf gleichberechtigter Basis partizipieren, in fairem Wettbewerb gemeinsam am politischen Leben teilnehmen, in friedlicher Weise die Angelegenheiten der Allgemeinheit regeln“. Dieser Text rezipiert antike und moderne Klassiker von Cicero bis Montesquieu und ergänzt sie um die neuere Partizipationsidee sowie den Gedanken des fairen Wettbewerbs – letzteres ist angloamerikanischem Denken verpfl ichtet. Das Postulat „in friedlicher Weise“ ist wohl ein sehr asiatisches bzw. chinesisches Ideal. Der nächste textstufenartige und überdies verfassungsvergleichende Schritt gilt der „Demokratie“: Als ihr „grundlegendster Inhalt“ sind „die Volkssouveränität und die Wahl der Regierung durch das Volk“ bezeichnet. In vier Ziffern werden die grundlegenden Charakteristika – fast im Sinne von „Grundzügen“ – aufgelistet, ein bösartiger Betrachter könnte von Plagiat sprechen! (Klammerzusatz: Während das
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„Plagiat“ als Begriff der Wissenschaft zuzuordnen ist und einen Betroffenen wie mich etwa bei den Begriffen „Parlamentvorbehalt“ (1972), „Religionsverfassungsrecht“ (1976) oder „Kultur der Freiheit“ (1991) und „Europarechtsfreundlichkeit“ (2001/02), dann mit Stolz erfüllen dürfte, wenn diese Wortschöpfungen zum Allgemeingut geworden sind wie heute, sollten wir bei hohen Verfassungstexten von „Rezeption“ sprechen. Klammerzusatzende). In der Charta werden genannt „1. die Legitimität: politische Macht kommt aus dem Volk. 2. Die politische Herrschaft entsteht durch Wahlen des Volkes; 3. Die Bürger genießen echtes Wahlrecht, die wichtigsten Funktionäre der Regierungen aller Ebenen sind durch periodische Wahlen zu bestimmen; 4. Mehrheitsentscheidungen sind zu achten, die grundlegenden Rechte der Minderheit sind zu schützen“ (Klammerzusatz: bekanntlich eine Idee von K. Hesse, dessen Grundzüge vor drei bis vier Jahren ins Chinesische übersetzt worden sind). Ebenso erstaunlich ist der eine Satz, der Schlusssatz: „Die Demokratie ist ein Mittel moderner Öffentlichkeit, mit dem diese die Regierung zu ihrem ‚Besitz, Herrschaftsmittel und Nutzbringer‘ macht.“ Es handelt sich offenkundig um ein Zitat ohne Nennung der Quelle. Man denkt an J. Habermas („Strukturwandel der Öffentlichkeit“), an G. Heinemann („Öffentlichkeit als Sauerstoff der Demokratie“) oder M. Walser („Öffentlichkeit als Quellgebiet der Demokratie“). (Klammerzusatz: Die neuesten Erscheinungsformen der Öffentlichkeit, Stichwort Internet-Öffentlichkeit in all ihrer Ambivalenz auch zum Bösen hin, hätte ein Kommentator von heute mit in den Blick zu nehmen, ebenso die globale Öffentlichkeit, die regionale Revolutionen auslösen kann: etwa den „Arabischen Frühling“, 2011). Der vorletzte Abschnitt dieses konzentrierten Textes, der einen Mittelweg zwischen ausformulierten Verfassungsartikeln und programmatischem Dokument sucht, gilt dem Thema „Verfassungsgemäßes Regieren“. Einer Legaldefi nition ähnlich, heißt es: „Es ist das Prinzip, durch rechtliche Bestimmungen und die Herrschaft des Rechts die in der Verfassung festgelegten grundlegenden Bürgerfreiheiten und -rechte zu schützen und mittels rechtlicher Festlegungen die Macht und das Handeln der Regierung zu begrenzen und diesem Zweck dienende systemische Mittel zur Verfügung zu stellen.“ Dieser Textstufe gelingt eine Verknüpfung anglo-amerikanischen Denkens (rule of law) und kontinentaler Verfassungsstandards (Rechtsstaatsprinzip). Angesichts des apodiktischen Charakters vieler Sätze ist man fast an die Diktion von „Zehn Geboten“ in Sachen Verfassungsstaat erinnert. Der letzte Abschnitt ist stark aus dem chinesischem Rechts- und Kulturgut geschnitzt. Er verbindet Aussagen zur Wirklichkeit und Zukunftshoffnungen in gelegentlich blumiger Sprache, die aber durch ihre Authentizität überzeugt: „Das Zeitalter imperialer Macht ist in China schon lange vorbei, und es wird auch nicht zurückkommen.“ Poetisch fahren die Autoren der Charta 08 fort: „die autoritären Systeme in der Welt nähern sich ihrer Abenddämmerung“ – wer denkt hier nicht an die Morgendämmerung der demokratischen und an der Menschenwürde orientierter Revolution in den arabischen Staaten unserer Tage! Streng und hoffnungsvoll zugleich heißt es: „Jetzt müssen die Bürger zu den tatsächlichen Herren der Staaten werden.“ Noch erstaunlicher ist der Satz, der die deutsche Untertanenmentalität alter Zeiten (man denkt an H. Mann’s Buch „Der Untertan“) und chinesisches Gedankengut miteinander verbindet: „Hinweg mit der Untertanenmentalität, sich auf ‚Ehrbare (Machthaber)‘ und ‚saubere Beamte‘ zu verlassen, jetzt ist die Zeit des Bürgerbe-
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wusstseins“ – hier fühlt man sich an neue Texte zur Bürger- bzw. Zivilgesellschaft erinnert (Beispiele fi nden sich in der Präambel Verf. Mongolei von 1992 sowie der Präambel Verf. der Tschechischen Republik von 1992). Das Bürgerbewusstsein wird sogar noch konkretisiert: weil es „das Rechte als Wesen der Sache und Teilnahme als seine Verantwortung begreift, Freiheit verwirklicht, Demokratie als ureigenes Anliegen begreift und der Herrschaft des Rechts Respekt entgegen bringt.“ Die Charta sieht allein hier den „Ausweg für China“. Der kritische Leser und Hörer mag hier Elemente von Wunschdenken, ja konkreter Utopien erkennen, an der Überzeugungskraft und Ernsthaftigkeit der Verfasser darf er gewiss nicht zweifeln.
3. Der dritte Teil: „Wofür wir grundsätzlich eintreten“ Der dritte Teil ist überschrieben: „Wofür wir grundsätzlich eintreten“. Hier geht es um Konkretisierungen des bisherigen Programms, das die wesentlichen Grundsätze bereits skizziert hat. Mag es auch zu manchen Wiederholungen kommen (dazu sogleich): In nicht weniger als 19 Ziffern wird die Charta teils sehr prinzipiell und verfassungstheoretisch (Stichwort: Strukturierung des Bundesstaates) als auch sehr konkret (etwa bis zu Steuerraten und Registrierungsvorgängen in Sachen Parteien und Religionen). Im einzelnen: Das 19 Punkte-Programm, das nur zufällig an die Grundrechte-Artikel des GG erinnert, denn es geht auch um wesentliche organisatorische Vorschriften, beginnt mit dem hohen Satz: „Entsprechend und in verantwortungsbewusstem, konstruktivem Bürgergeist treten wir mit Blick auf das politische System Chinas, die Rechte seiner Bürger und die Entwicklung der Gesellschaft für die folgenden konkreten Positionen ein“: Ziff. 1 „Revision der Verfassung“. Man zögert zunächst bei der Lektüre dieses Begriffs, denn dank der Schweiz unterscheiden wir ja zwischen Teil- und Totalrevision einer Verfassung. Die gleich zu benennenden Änderungspläne sind so umfassend, dass eigentlich nur von einer „Totalrevision“ gesprochen werden kann. Vielleicht ist die Wortwahl der Charta taktischer Natur. Wir erinnern uns, dass auch die arabische Revolution in Ägypten (2011) zunächst mit Verfassungsänderungen vorlieb nehmen wollte, manche politischen Kräfte aber eine ganz neue Verfassung wollten und noch heute anstreben. Die nachstehenden Revisionswünsche beziehen sich auf Identitätselemente einer etwaigen neuen chinesischen Verfassung, ganz im Sinne des Entwurfs meines Festschriften-Beitrags von 1986: „Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien“ 33. Dies zeigt sich schon am ersten Satz. Hiernach ist die Revision „auf der Grundlage der oben dargelegten Wertvorstellungen zu ändern.“ Präzise wird verlangt: „Bestimmungen, die dem Prinzip der Volkssouveränität nicht entsprechen, sind zu streichen, so dass die Verfassung tatsächlich zu einer Garantieurkunde der Menschenrechte und zu einer Lizenz zur Ausübung öffentlicher Macht wird, zu einem praktizierten höchsten Gesetz, gegen das kein Individuum, keine Organisation und keine Partei handeln darf, damit sie zur Basis legaler Rechte bei der Demokratisierung Chinas wird.“ In diesem Text erkennen wir unschwer Rousseau, aber auch den „Vorrang der 33
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Verfassung“ und den Wunsch, dass die formale Urkunde auch bei den Menschenrechten zur Praxis wird. An spätere Teilrevisionen ist wohl noch nicht gedacht. Der Begriff „Verfassungsurkunde“ erinnert an die wichtige formale Seite der Verfassung, nicht aber an die positivistische bzw. politologische These von der Verfassung als bloßem „Grundbuch“. Ziff. 2 widmet sich der Gewaltenteilung und Machtbalance. Wiederum gelingt den Verfassern ein Libretto dieses Themas. Es heißt nämlich: „Auf bau einer modernen Regierung (auf Grundlage) der Gewaltenteilung und Machtbalance, Garantie der Gewaltenteilung in Legislative, Judikative und Exekutive.“ Ganz eigene, wohl auf negativen Erfahrungen im jetzigen China beruhende Gedanken sind geglückt in den Worten: „Sicherstellung einer rechtlichen Verwaltung und verantwortlichen Regierung, Verhütung einer grenzenlosen Ausdehnung der Verwaltungsmacht (Zusatz: Unter ihr leidet ja nicht nur heute die chinesische Bevölkerung in Tibet – schon die Verfassung Chinas von 1923 beginnt mit Art. 1: „Die Republik China ist auf ewig ein demokratischer Einheitsstaat“). Textstufentheoretisch betrachtet ist die folgende Forderung höchst innovativ: „die Regierung ist den Steuerzahlern verantwortlich“ – welche Aktualität angesichts der europäischen Finanz- und Steuerprobleme! Schon in Vorwegnahme der Bundesstaatsstruktur in Ziffer 18 ist schließlich gesagt: „zwischen Zentrale und Regionen ist ein System der Gewaltenteilung und Machtbalance zu schaffen, die Rechte der Zentrale sind auf der Grundlage klar zu begrenzen oder zu autorisieren, die Regionen verwalten sich vollständig selbst.“ Die Ankündigung von konstitutioneller Regional-Autonomie sowie die Erkenntnis der vertikalen Gewaltenteilung im Bundesstaat faszinieren. Während die Exekutive als Zweite Gewalt nicht durch eine eigene, besondere Ziffer hervorgehoben wird, sich vielmehr nur über mehrere Ziffern hin ausfindig machen lässt, widmet sich Ziffer 4 der „Unabhängigkeit der Judikative“, also der Dritten Gewalt. Hier einige Stichworte: „Das Rechtswesen steht über den Parteien und ist frei von jeglicher Einmischung, die Judikative ist unabhängig, ihre Unparteilichkeit zu garantieren; ein Verfassungsgericht ist zu schaffen sowie ein System zur Prüfung von Verfassungsverstößen und zum Schutz der Verfassungsautorität.“ (Zusatz: welch ein geglückter Begriff!) Damit wäre der gesetzliche Weg zu vielen speziellen Kompetenzen eines selbstständigen Verfassungsgerichtshofs nach westlichen Standards eröffnet – bis hin zu Verfahren der konkreten Normenkontrolle bzw. Verfassungsbeschwerde wie jetzt in Frankreich. Ein Stück Verarbeitung der bisherigen unseligen Geschichte des Monopols der Kommunistischen Partei34 fi ndet sich in dem schwerwiegenden Satz: „Die Parteiausschüsse für Politik und Recht (im Verborgenen wirkende Parteigliederungen, die nach eigenem Ermessen auch der Justiz Anweisungen geben) stehen über dem geltenden Recht und sind alsbald auf allen Ebenen abzuschaffen.“ Begründung: „weil sie in schwerwiegender Weise die Herrschaft des Rechts schädigen.“ Welch scharfe Abrechnung mit der Noch-Gegenwart! In diesen Texten fi nden wir der Sache nach das Mehrparteiensystem und die Idee des Status der Öffentlichkeit der politischen Parteien. Etwas sachfremd endet Ziffer 4 mit dem Satz: „das Verwenden öffentlicher Mittel für private Zwecke ist zu unterlassen.“ Hier 34 Aus der älteren Lit.: E. Tomson, Die Verfassungsentwicklung in der Volkrepublik China, JöR 22 (1973), S. 431 ff.
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ist wohl, wenngleich ausnahmsweise nicht in idealer Textform, die Korruption angesprochen. Welch ein prägnanter Satz für Korruptionsformen, die bekanntlich in fast allen Verfassungsstaaten wuchern! Ziffer 5 spiegelt ganz und gar die unglücklichen chinesischen Erfahrungen in der Vergangenheit wider. Zugleich orientieren sie sich an Prinzipien des Verfassungsstaates. Ziffer 5 beginnt mit dem Satz: „Öffentliches Eigentum gehört der Öffentlichkeit“ – ein schöner Gedanke, wenn man sich den seit den 70er Jahren erhofften Zusammenhang zwischen res publica, öffentlichem Wohl und Öffentlichkeit vergegenwärtigt 35. Die Verfasser fordern: „Die Streitkräfte sind zu nationalisieren.“ Der Klammerzusatz: „sie unterstehen der Parteiführung“ ist wohl missverständlich formuliert, wie sich aus dem Kontext ergibt, insofern es anschließend heißt: „die Soldaten haben der Verfassung und dem Staat loyal zu dienen, Parteiorganisationen haben die Armee zu verlassen, dessen professionelles Niveau ist zu erhöhen.“ Scherzfrage: Ist damit schon die neue Berufsarmee der deutschen Bundeswehr gemeint? Neue Wege, die freilich von westlichen Verfassungsideen inspiriert sind, finden sich in den zwei letzten Sätzen: „Alle Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, auch die der Polizei, haben politische Neutralität zu wahren.“ Soweit, so gut. Wie aktuell ist aber in westlichen Ländern, sogar Bayern und Nordrhein-Westfalen, erst recht im Italien Berlusconis der hehre Satz: „Die Partei-Bevorzugung bei Einstellungen im öffentlichen Dienst ist abzuschaffen, Einstellungen erfolgen ohne Blick auf die Partei-Zugehörigkeit.“ Ziff. 6 gilt der „Sicherung der Menschenrechte.“ Sie sind „wirksam zu garantieren, die Würde der Menschen ist zu schützen“. Interessanterweise wird ein – manchen afrikanischen Ländern wahlverwandter – eigener „Ausschuss für Menschenrechte“ geschaffen, er muss Missbräuche verhindern, „die persönliche Freiheit der Bürger sicherstellen“, niemand dürfe ungesetzlich verhaftet, eingesperrt, vorgeladen, verhört oder bestraft werden. (Habeas Corpus auf chinesisch!) Apodiktisch heißt es: „das System der Erziehung durch Arbeit (Arbeitslager) ist abzuschaffen“. – Jeder von uns hat die grausamen Bilder aus dem Film „Der letzte Kaiser“ von B. Bertolucci vor Augen, in dem die Umerziehungslager der Kulturrevolution dargestellt sind. Auch denkt man an das zynische Motto in Auschwitz: „Arbeit macht frei“ – (Zusatz: Dieses Dictum gilt freilich für die akademische Freiheit und Arbeit). Ziff. 7 befasst sich mit der Wahl der Beamten. Sie fordert eine „vollständige Einführung eines demokratischen Wahlsystems“ (Stichwort: „Jeder Wähler eine Stimme“). Die Direktwahl der Verwaltungsleiter ist „Schritt für Schritt auf allen Ebenen einzuführen.“ Dies ist ein realistisches Zugeständnis an die Einsicht, dass eine neue Verfassung oft nur im Sinne der Stückwerktechnik von Popper umgesetzt werden kann. Die in der Wissenschaft relativ spät formulierte These von der menschenrechtlichen Dimension des Wahlrechts wird auf die Textstufe gebracht: „Periodische und freie Wahlkämpfe und die Wahlteilnahme der Bürger sind ein unwiderrufl iches GrundMenschenrecht der Bürger.“ (Zusatz: Der Hinweis auf die Periodizität ist überaus geglückt und treffend. Demokratie ist „Herrschaft auf Zeit“, ein Stück Gewaltenteilung im Horizont der Zeit.)
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P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, z. B. S. 558 ff. (2. Aufl. 2006).
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Ziff. 8 postuliert die Gleichheit zwischen Städtern und Landbewohnern. Unmissverständlich ist gesagt: das System entrechtet z. B. die „Bauernarbeiter“ – „Wanderarbeiter“ – in den Städten, für die sie kein Aufenthaltsrecht besitzen. Hier wird die „ausnahmslose Gleichberechtigung der Bürger und die Garantie der Freizügigkeit“ verlangt. Ziff. 9 trägt die Überschrift „Organisationsfreiheit“. Hier handelt es sich wohl um einen ganz neuen Text und Sammelbegriff, der den bisherigen Verfassungsstaaten meines Wissens so nicht bekannt ist. Es handelt sich um mehr als einen Artikel zu den politischen Parteien, so sehr deren Pluralität verlangt wird. Das „Recht auf Organisationsfreiheit der Bürger“, die „Umwandlung des jetzigen Genehmigungssystems bei der Bildung von Organisation zugunsten eines Systems der bloßen Anmeldung und Registrierung“ sind weitere Stichworte. Aufgehoben wird das Parteienverbot, insbesondere die „Abschaffung der Sonderrechte, die einer einzigen Partei das politische Monopol gewähren“, die „Schaffung einer freien Betätigung politischer Parteien und eines fairen (Parteien-)Wettbewerbs.“ Verlangt wird eine „Verrechtlichung und Normalisierung der Parteienpolitik“ – eine Herkulesarbeit! Dieser Passus lässt an die Diskussion über das Parteienrecht und seine „Generationen“ in Deutschland sowie seine Propria denken. Pionier war hier D. Tsatsos in Hagen, Straßburg und Athen.36 Ziff. 10 widmet sich der „Versammlungsfreiheit“: Friedliche Versammlungen, Umzüge, Demonstrationen und der freie Ausdruck sind ein verfassungsmäßiges Grundrecht, sie dürfen nicht die Verfassung verletzenden oder illegalen Eingriffen der herrschenden Partei unterliegen“. Blicken wir rechtsvergleichend in Raum und Zeit zurück: In Europa war es die Verfassung des Kantons Jura (1977), die erstmals die Demonstrationsfreiheit textlich anerkannte. In Deutschland wurde es nahezu ungeschrieben aus Art. 5 und 8 GG von Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelt. Jetzt lebt die Demonstrationsfreiheit auf verfassungsrechtlicher Textstufe in einem neuen – chinesischen – Kontext. Ziff. 11 gilt der „Freiheit der Rede“. Sie ist etwas zu umfangreich und vereinigt vieles, was eigentlich auf die Stufe des subkonstitutionellen Rechtes gehört. Im Einzelnen: Neben der Redefreiheit wird die Publikationsfreiheit und die „akademische Freiheit“ garantiert (Platons Akademie ist jetzt in einem chinesischen Verfassungstext auferstanden!). Geschützt wird „das Recht des Bürgers zu wissen (was die Verwaltungen tun)“ – im Grunde unser Informationsfreiheitsrecht. Gesprochen wird sogar von der „Öffentlichkeit der Verwaltung“, die im deutschen Schrifttum so erst 1970 erarbeitet worden ist. Im Sinne eines Verfassungsauftrags wird die Ausarbeitung eines „Presserechts“ und eines „Verlagsrechts“ verlangt, auch die Abschaffung der Zeitungsverbote, die Beseitigung von Bestimmungen wie „Anstachelung zum Umsturz der Staatsmacht“ im „jetzigen Strafrecht“ (man denkt an einen umstrittenen Artikel in der Türkei). Geradezu klassisch lautet der Schlussatz: „es muss ein Ende haben, dass Wörter Verbrechen sein können“. Der Wissende denkt – „erbaut“ – an Friedrich Schillers: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“
36 Von ihm zuletzt: (Hrsg.), Unionsgrundordnung, 2010; ders, Die Europäische Unionsgrundordnung, 2002; ders., Die Europäische Unionsgrundordnung, EuGRZ 1995, S. 287 ff.
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Ziff. 12 („Religionsfreiheit“) gilt dem Religionsverfassungsrecht, ganz im Sinne der Theorie, die dazu vor 35 Jahren entwickelt worden ist 37. Freilich geht die Charta auch hier zu detailliert vor. Prägnant ist gesagt: „Garantie der Religions- und Glaubensfreiheit, Verwirklichung der Trennung von Politik und Religion, keine Einmischung der Regierung in religiöse Aktivitäten“. Damit wird an religionsverfassungsrechtliche Textstufen angeknüpft, die sich bereits in osteuropäischen Verfassungen fi nden. Sehr ins Einzelne gehen weitere Sätze wie „Verbot der Praxis, religiöse Aktivitäten mit Hilfe administrativen Rechts zu überwachen“. Das bisherige System, durch Anträge die eigene Legalität vorab genehmigen lassen zu müssen, wird durch ein „System der bloßen Registrierung“ ersetzt, „das mit keinerlei Überprüfung verbunden ist.“ Ziff. 13 befasst sich mit einem Bildungssystem für Bürger – ein schon Konfuzius und Sun Yat-sen wichtiges Anliegen38. Man denkt sofort an die in Spanien jüngst umgesetzte Idee von der „Bürgerschaft durch Bildung“39. Die Charta 08 verlangt hier: Beseitigung der „durch und durch ideologischen politischen Erziehung und der Polit-Prüfungen, die der Ein-Partei-Herrschaft dienen“. Der folgende Passus erinnert an Vorbilder in den Verfassungen von Guatemala und Peru (1985 bzw. 1979), denn es heißt: „Verbreitung einer Bürgererziehung, die die universellen Werte und die Bürgerrechte zum Kerninhalt hat“. Man denkt auch an den Kanon „gemeindeutscher Erziehungsziele“ sowie an die Literatur zur Zivilgesellschaft, schließlich an Verfassungstexte in Europa, wenn es zuletzt heißt: „Schaffung von Bürgerbewusstsein, Förderung der bürgerlichen Tugend40, des Dienstes an der Gesellschaft“. Dass der alteuropäische Begriff „Tugend“ in dieser Charta ranghoch steht, ist ein Glücksfall, der vielleicht aus tiefen kulturellen Schichten Chinas stammt41 und manchen westlichen Auf klärer zum Lächeln bringen mag, besser: beschämen sollte. Ziff. 14 zum Schutz des Eigentums bündelt programmhaft eine übergroße Fülle von Zielen, die wohl erst in langwierigen Transformationsprozessen erreicht werden können und einer Vielzahl von Ausführungsgesetzen bedürfen. Inhaltlich werden Rezeptionsprozesse in Bezug auf Elemente der westlichen Demokratien erkennbar, aber auch Themen, die spezifischen Eigenheiten der zu überwindenden „Volksdiktatur“ und dem Volkseigentum in China ein Ende bereiten wollen – hier zeigt sich, wie sehr die Charta 08 ein Gegenentwurf zur noch geltenden Verfassung der Volksrepublik China (1978/79) ist. Schlagwortartig heißt es: „Etablierung des Rechts auf Privateigentum und Schutz dieses Rechts“, sodann „Einrichtung eines Systems der freien und offenen Marktwirtschaft“ – damit werden Verfassungsideen der Zeit nach
37 P. Häberle, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff. 38 Dazu Wikipedia „Konfuzius“, http://de.wikipedia.org/wiki/Konfuzius: „Dem Lernen wird bei Konfuzius eine hohe Priorität eingeräumt. Es ist das bevorzugte Mittel den Edlen zu formen, zu bilden“. S. auch seinen Klassikertext: „Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen.“ 39 Dazu mein Beitrag in FS H.-P. Schneider, 2008, S. 460 ff. 40 Zu den fünf Grundtugenden des Konfuzianismus: „Menschlichkeit, Pfl ichtgefühl, Anstand, Klugheit und Glaubwürdigkeit“: H. v. Senger, Strategeme, aaO., S. 155. 41 Zum „Regieren mittels der Tugend“ i. S. des Konfuzianismus: Lasars, aaO., S. 651.
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1989 aufgegriffen. Neu ist wohl der Begriff „Schutz der Freiheit von Pionier-Unternehmen (neuer, junger Firmen)“ – in westlichen Verfassungen wird meist die Wirtschafts- bzw. Unternehmerfreiheit normiert. Allzu simpel wird gesprochen von „Beseitigung des Verwaltungsmonopols“ – ganz verzichten wollen auch westliche Demokratien hierauf nicht. Die Charta fährt fort: „Einrichtung eines der obersten Volksvertretung verantwortlichen Ausschusses für das Staatseigentum und die Staatsressourcen“ – nicht ganz klar ist, ob damit jede Art von Staatseigentum verboten wird. Einleuchtender heißt es: „Rechtskonforme und geordnete Reform des Eigentumsrechts, Klärung der Eigentumsverhältnisse und -verantwortlichkeiten“ – hier ist viel reformierende Ausgestaltungsarbeit eines künftigen parlamentarischen Gesetzgebers erforderlich. Revolutionär ist die Forderung nach „Initiierung einer neuen Boden-Bewegung“ – damit ist wohl die bisherige „Kollektivierung“, wonach „alles Land staatlich ist und Bauern nur Pächter“ sind, gemeint. Schließlich der Satz: „Privatisierung des Grund und Bodens, Garantie von Eigentumsrechten der Bürger an Grund und Boden, insbesondere der Bauern“. Im Grunde handelt es sich wohl um eine Befreiung der Bauern, wie dies im deutschen Konstitutionalismus in Gestalt von Reformen erst relativ später gelang und in der DDR als Zwangskollektivierung bis 1989 Wunden schlug. In einer sehr umfangreichen Ziff. 15 ist die Finanz- und Steuerreform skizziert. Auch hier überwiegt die detaillierte Programmatik, die sich ein riesiges Reformprogramm zumutet, das vermutlich erst in Jahrzehnten umgesetzt werden könnte. Dazu nur wenige Stichworte: Schaffung einer „demokratischen Finanz(verwaltung), Schutz der Rechte der Steuerzahler“, Schaffung eines „rationalen und effizienten Systems“ zu deren Gunsten. „Senkung der Steuerrate, Vereinfachung der Steuerlast“ – welch Wahlverwandtschaft zu einem „Professor aus Heidelberg!“ Es dürfe nicht geschehen, „dass Verwaltungsabteilungen, ohne öffentlichen Entscheidungsprozess oder Beschluss der Vertretungsorgane nach eigenem Gutdünken Steuern erhöhen oder neue erheben“. „Mit Hilfe einer Reform des Eigentums(systems)“ müssten „vielfältige Marktteilnehmer (eine Chance erhalten) am Wettbewerb teilzunehmen“. Damit ist erneut der Wettbewerbsgedanke zum Text geschliffen. Bemerkenswert ist die Forderung nach Öffentlichkeit der Steuergesetzgebung. Implizit kommt darin zum Ausdruck, welche Arkanpraxis in der Vergangenheit bzw. noch heute das auch bei uns sensible Steuerrecht dominiert. Weitere große Reformvorhaben beziehen sich auf die soziale Sicherung (Ziff. 16: „Grundsicherung für Ausbildung, Krankheit, Alter und Arbeit“) sowie auf den Schutz der Umwelt (Ziff. 17: Forderung nach Nachhaltigkeit, um sich „vor den folgenden Generationen sowie der Menschheit insgesamt verantworten zu können“). Selten ist in neueren Verfassungstexten im Kontext der Umwelt auch die Verantwortung vor der „Menschheit“ insgesamt zum Text geronnen. Ebenso innovativ klingt der Zusatz, „Nicht-Regierungsorganisationen müssen auf dem Gebiet des Umweltschutzes ihre Rolle als Beteiligte und Kontrolleure entfalten können“. Soweit ersichtlich ist damit zum ersten Mal in einem Verfassungsentwurf in diesem Kontext den NGO’s eine Aufgabe zugewiesen (etwa „Greenpeace“). Man staunt als Westeuropäer über den hohen Kenntnisstand der Verfasser der Charta 08 in Sachen Umweltschutz, auf welchem Gebiet vor allem die jüngsten Schweizer Kantonsverfas-
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sungen sowie die italienischen Regionalstatute an der Spitze der Textstufenentwicklung stehen.42 Ein Höhepunkt gelingt der Charta in Ziff. 18. Denn hier ist der kühne Gedanke eines föderalen China Verfassungstext geworden. Zwar ist zweimal von „Bundesrepublik“ die Rede, doch deuten die Details eher auf ein hoch entwickeltes System von Regionalen Gebietskörperschaften hin, wie wir dies vor allem aus Spanien kennen. Aus der Geschichte weiß man, wie wichtig China mehr als 1000 Jahre lang seine Einheit war und ist und welche fest psychotische Furcht das „Reich der Mitte“ immer vor Autonomiebewegungen (Tibet!) bis heute hat. Vermutlich ist nur ein präföderales System von differenziertem Regionalismus (Italien) oder „asymmetrischer Devolution“ (Großbritannien nach 1997) möglich. Hierauf deuten einige Texte. Gleich eingangs steht der Paukenschlag „(Wir wollen) ein großes Land schaffen, das verantwortlich ist und an der Wahrung einer friedlichen Entwicklung der Region in gleichberechtigter und fairer Weise teilnimmt“. Wenn sich daran der Satz anschließt: „Das freie System Hongkongs und Macaos ist zu verteidigen“, so deutet dies auf ein flexibles, offenes Bundesstaatssystem. Die deutsche Föderalismustheorie hält hierfür das „gemischte Bundesstaatsverständnis“43 bereit. Der kulturwissenschaftliche Ansatz erlaubt es, angesichts der besonderen Geschichte von Honkong und Macao spezifische Strukturen zu bewahren. Eine ähnliche Flexibilität zeigt sich in der Behandlung des Verhältnisses zu Taiwan. Überaus optimistisch heißt es: „unter der Vorbedingung einer freien Demokratie (in China) ist in gleichberechtigten Verhandlungen und interaktiver Kooperation eine friedliche Lösung in der Taiwan-Straße . . . zu suchen“. Man assoziiert hier nicht zuletzt die Idee des „kooperativen Föderalismus“ bzw. „kooperativen Regionalismus“. Sehr chinesisch klingt der vorletzte Satz: „Es muss mit großer Weisheit und Intelligenz ein Weg und ein praktikables System gefunden werden, die den Nationalitäten (in China) ein gemeinsames Auf blühen ermöglichen“. „Weisheit“ und „Auf blühen“ sind bislang kein gängiges Vokabular in der Grammatik und Sprache des Verfassungsstaates! Ziff. 18 endet, abrundend, mit dem großen Satz: „Im Rahmen einer demokratischen und verfassten (Gesellschaft) sollte eine Bundesrepublik China gegründet werden“. Der Kenner weiß, dass im deutschen Schrifttum das Wort von der „verfassten Gesellschaft“ erst 1978 geprägt wurde44. Ähnlich grundlegend und beifallswürdig sind Ideen und Texte in Ziff. 19 der Charta unter derr Überschrift „Rehabilitation der Ungerechtigkeiten“. Denn hier wird nichts weniger als die Idee der Wahrheitskommission aufgegriffen, die von Südafrika aus bis nach Peru und Osteuropa viele Länder, zuletzt in der Elfenbeinküste erobert hat und wissenschaftlich in der Festschrift für Hollerbach (2006) beschrieben worden ist. Einmal mehr zeigt sich die weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat. Im Einzelnen: Die Charta verlangt, dass „Personen und ihre Familienangehörigen, die in den politischen Bewegungen der Vergangenheit 42
Vgl. die Kommentare und Texte in: JöR 54 (2006), S. 367 ff. bzw. JöR 58 (2010), S. 443 ff. P. Häberle, erstmals in VVDStRL 46 (1988), S. 148 ff., Votum; ders., in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (184); zuletzt L. Michael, Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element einer gemischten Bundesstaatslehre, JöR 59 (2011), S. 321 (323, 326). 44 Verfassung als öffentlicher Prozess, 1. Aufl. 1978, S. 155: „II. Offener Staat und verfasste Gesellschaft“, 3. Aufl. 1998, ebd. 43
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politische Verfolgung erlitten haben“, „ihre Ehre zurück erhalten und vom Staat entschädigt werden.“ Zu gründen ist ein „Komitee“ zur Untersuchung der Fakten, „das die tatsächlichen Umstände historischer Ereignisse untersucht, die Verantwortung klärt und Gerechtigkeit etabliert; auf dieser Grundlage ist eine Aussöhnung in der Gesellschaft zu fi nden“. Wir wissen, welche Pionierleistungen hier Südafrika gelungen sind und staunen über die Gestaltungskraft der Textgeber im weit entfernten China. Die erhoffte Aussöhnung ist eine alte chinesische Idee. Das ewige Ziel der „Gerechtigkeit“ ist zum Verfassungstext geworden wie zuvor in der Präambel Verf. Polen von 1997.
4. Der vierte Teil: der sogenannte „Schluss“ Auf ihn ist man besonders neugierig, zumal eine „Mängelliste“ kritisieren könnte, dass in der Charta manches fehlt, etwa die Umschreibung der Kompetenzen des Staatsoberhaupts oder Einzelheiten des Parlamentsrechts bzw. der Verfassungsgerichtsbarkeit. Doch die Charta schwingt sich zu einer auf dem Hintergrund der Geschichte unerwarteten „Weltoffenheit“ gerade am Schluss auf. Sie denkt nicht mehr vom geschlossenen Reich der Mitte bzw. vom introvertierten Polizeistaat aus, sondern sie wagt einen Blick auf das konstitutionalisierte Völkerrecht sowie die Menschheit (mein Stichwort: „Völkerrecht als konstitutionalisiertes Menschheitsrecht“). Fast wie ein Glaubensartikel lautet der empathische Schluss: „Als eines der großen Länder der Erde, als eines der fünf Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte muss China eigene Beiträge für die friedliche Sache der Menschheit und Fortschritte bei den Menschenrechten leisten. Es ist bedauerlich, dass allein China unter den Großmächten der heutigen Welt sich noch im Zustand eines autoritären politischen Systems befi ndet und aus diesem Grund fortwährend Menschenrechtskatastrophen und soziale Krisen produziert, die Entwicklung der Nation aus eigener Kraft fesselt und den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit einschränkt. Dieser Zustand muss geändert werden! Die Überführung der politischen Herrschaft in eine Demokratie erlaubt keinen weiteren Aufschub mehr.“ Welch ein Menschheitstext! Was in der deutschen Literatur ein K. Vogel als „offene Staatlichkeit“, zum Klassikertext geformt hat (1964), was andere 1978 als „kooperativen Verfassungsstaat“ umschreiben, was das deutsche BVerfG früh als „Völkerrechtsfreundlichkeit“ gekennzeichnet hat, leuchtet in der Charta 08 auf ihre Weise als großes Fernziel auf. Mögen andere Verfassungen, auch das deutsche GG, die Öffnung zum Völkerrecht hin schon in der Präambel zum Ausdruck bringen: Angesichts der umfangreichen Präambel der Charta 08 war es klug, den Text in Sachen Völkergemeinschaft, Völkerrecht und universale Menschenrechte bzw. Menschheit und Friedensgemeinschaft nicht ohne Pathos am Schluss zu platzieren: als Finale. Einmal mehr bewahrheitet sich die These vom hohen Rang der Schlussvorschriften in Verfassungen45.
45 Dazu mein Beitrag: Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen als typisches verfassungsstaatliches Regelungsthema und -instrument, in: FS für Martin Lendi, 1998,
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Ausblick Diese grobe Präsentation eines suggestiven Verfassungsentwurfs aus dem fernen China widmet sich mehr als einem Grundriss. Teils in allgemeinen Worten, teils sehr speziell, entwirft die Charta ein Programm, das mit den westlichen Verfassungsstaaten gemeinsamen Konzeptionen vereinbar ist, ja ganz offensichtlich von ihnen inspiriert ist. Ich meine Verfassungstheorien wie „Verfassung als Anregung und Schranke“ (R. Smend, 1928), „Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“ (W. Kägi, 1945), „Verfassung als Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner, 1963) sowie „Verfassung als öffentlicher Prozess und Kultur“ (1969 bzw. 1982). Dies ist keine schwäbische Rechthaberei, die ohnedies in Südbaden nicht erlaubt wäre, sondern objektiver Befund. Die globale „kulturelle Verfassungsvergleichung“ mag diesen großen Text mittragen, sie sollte sich von ihm aber auch in ihren künftigen Arbeiten inspirieren lassen. In den Zeiten der Globalisierung eröffnet dieser Vorgang einmal eine positive Seite. Aus meiner Sicht ist die Charta 08 aus China auf dem Weg, ein Menschheitstext zu werden, ähnlich der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) oder der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789). Die Charta ist schon jetzt ein Vermächtnis für künftige Generationen, ein kulturelles Erbe im Sinne eines „Zurück in die Zukunft.“ So lange ihre Verwirklichung auch dauern mag, vielleicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte, oder sosehr sie vielleicht nur in Etappen und einzelnen Punkten Wirklichkeit wird (wir denken an den französischen Pointillismus in der Malerei oder an einen Torso von Michelangelo) , auch könnte sich der Beginn eines schon 1997 konzipierten „Gemeinasiatischen Verfassungsrechts“ eröffnen46 – die Wissenschaft vermag nachzuweisen, dass Texte, einmal in der Welt, langfristig normative Kraft entfalten können. Man braucht nur viel Geduld und einen langen Atem, auch Demut. Dies gilt gerade heute, wo eine Phase der gesteigerten Repression begonnen hat (erinnert sei an die Verhaftung von Ai Weiwei, der zu jenen gehört die den Staat in Sachen Herrschaft des Gesetzes beim Wort nehmen wollten47 – auch an den Streit um die deutsche Ausstellung „Auf klärung“ im chinesischen Nationalmuseum im Frühjahr 201148 ). Damit ist dieses Ende meiner lectio aurea an den Anfangspunkt zurückgekehrt und von da aus vielleicht wieder aufgebrochen: an die Freiburger Antrittsvorlesung zur „normativen Kraft der Verfassung“ meines Lehrers Konrad Hesse. S. 137 ff., sowie G. M. Köhler, Übergangs- und Schlussbestimmungen in den Verfassungen der deutschen Bundesländer, JöR 57 (2009), S. 359 ff. 46 Ansätze gibt es im Blick auf die Verfassung von Südkorea von 1987 ( JöR 38 (1989), S. 587 ff.) sowie Taiwans von 1991 ( JöR 41, 1993), S. 672 ff., auch Nepals von 1990 ( JöR 41 (1993), S. 566 ff.)), von Kambodscha (1993/99), der Mongolei (1992) sowie des Königreiches Bhutan (2008). 47 Vgl. FAZ vom 06. April 2011, S. 29: „Kein Schutz, kein Schirm, Chinas Intellektuelle fühlen sich rechtlos vor dem Recht“; ebenda S. 10: „Die Nervösen von Peking, Ursachen und Folgen der neuen Repressionswelle in China“. – S. auch N. Bisky, Wo ist Ai Weiwei? Und was machen wir?, FAZ vom 3. Mai 2011, S. 31.; s. freilich auch NZZ vom 12. Mai 2011, S. 9: „Ai Weiwei – kein wirklicher Regimekritiker, Exponent des vom Regime geförderten neuen extremen Materialismus in China“. 48 Dazu etwa FAZ vom 1. April 2011, S. 31: „Was Auf klärung in China bedeutet“; T. Fähnders, „Welcher Konfuzius darf es sein für das moderne China?“, FAZ vom 1. April 2011, S. 3: „Auf klärung in Marmor“, Peking geht mit Gewalt gegen seine Künstler vor und freut sich über die ‚Kunst der Aufklärung‘“, FAZ vom 5. April 2011, S. 29.
Richterbilder
Theodor Ritterspach von
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Dieter Grimm Auch nach sechzig Jahren Verfassungsrechtsprechung und 125 Bänden Senatsentscheidungen, darunter wahrlich nicht wenige von großer politischer und juristischer Bedeutung, ragt das Lüth-Urteil immer noch einsam hervor. Es wurde 1958 gefällt und hat das Grundrechtsverständnis revolutioniert. Sein Autor war Theodor Ritterspach, Richter der ersten Generation von Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts und zugleich derjenige mit der zweitlängsten Amtsdauer: 24 Jahre (die Zwölf-JahresRegel ohne Möglichkeit einer Wiederwahl und mit fester Altersgrenze galt nicht von Anfang an), übertroffen allein von Theodor Geiger mit 26 Jahren. In vierzig Bänden der Entscheidungssammlung steht sein Name unter den Urteilen und Beschlüssen des Ersten Senats. Dass ihn sein Berufsweg im Alter von 47 Jahren ins eben errichtete Bundesverfassungsgericht führte, nahm ihn noch immer wunder, wenn man viel später mit ihm über die Anfänge sprach. Er war zuvor berufl ich nie mit dem Verfassungsrecht in Berührung gekommen. Aus der damals noch bayerischen Pfalz stammend, hatte er sich nach dem Zweiten Staatsexamen für die bayerische Innenverwaltung entschieden. Seine Lauf bahn begann im Regierungspräsidium für die Pfalz in Speyer, aber schnell wurde er ins bayerische Kultusministerium berufen, das ihn auch nach weiteren Zwischenstationen im Landratsamt Landau und der Bezirksregierung Neustadt immer wieder nach München zurückholte. Dort war er vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Hochschulabteilung tätig. Ausgerechnet seine Unwilligkeit, der NSDAP beizutreten, verschlug ihn jedoch von München ins Zentrum der nationalsozialistischen Herrschaft nach Berlin. In Bayern untragbar geworden, gelangte er 1935 durch Vermittlung eines Bekannten in eine Position im Reichsfi nanzministerium. Dort war nach der Auflösung der Länder eine kleine Abteilung für Länder- und Gemeindefinanzen aufgebaut worden, in der Kenner der jeweiligen Landesverhältnisse benötigt wurden. Im dritten Kriegsjahr zur Wehrmacht einberufen, war er sodann bis zum Kriegsende in Italien stationiert, befasst mit Fragen der Finanzverwaltung und Dolmetscheraufgaben. Seine Vorliebe für Italien und die italienische Sprache, schon durch einen Südtiroler Großvater grundgelegt, festigte sich damals. Nach Kriegsende meldete er sich wieder bei der Verwaltung seiner heimatlichen, aber nun nicht mehr bayerischen Pfalz. Doch erinnerte man sich schnell an ihn im
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Dieter Grimm
bayerischen Kultusministerium, in das er zurückkehrte, bis ihn bald nach der Gründung der Bundesrepublik ein Angebot aus dem Bundesinnenministerium erreichte, wo er als Ministerialrat in der Kulturabteilung mit dem Wiederauf bau der großen Wissenschaftsorganisationen befasst war und mit Werner Heisenberg und Otto Hahn zu tun hatte, aber auch mit seinem späteren Karlsruher Kollegen Ernst Friesenhahn, damals Rektor der Bonner Universität. Die bayerischen Verbindungen brachen freilich nicht ab, und es war Bayern, das ihn zu seiner Überraschung als Kandidaten für das 1951 errichtete Bundesverfassungsgericht benannte. Dass er tatsächlich gewählt worden war, erfuhr er aus der Zeitung. Zweimal, 1959 und 1967, wurde er für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. Aus den Anfängen des Gerichts konnte er hinreißend erzählen: Wie die Richter, weil die Zeit wegen des Südweststaat-Prozesses drängte und der Bundespräsident verspätet aus Berlin zurückkehrte, kurz vor Mitternacht vereidigt wurden und am folgenden Morgen ihre erste Sitzung im Bonner Museum König abhielten, um die Frage der Senatszuständigkeit zu klären; welchen Schock die erste Begegnung mit dem Karlsruher Prinz-Max-Palais hinterließ, weil es dort zwar eine Verwaltung gab, aber weder Bücher noch Dienstzimmer für die Richter – sie würden ja ohnehin zuhause arbeiten, nahm man an, wie früher die Reichsgerichtsräte; wie es schließlich gelang, für je zwei Richter ein Zimmer frei zu machen, und nur Wessel mit einer Dachkammer vorlieb nehmen musste, weil sich keiner fand, der mit einem Kettenraucher zusammensitzen wollte; wie sie die ersten Verfassungsbeschwerden in einen VW packten und mit nach Bonn nahmen, um sich zu orientieren, welche Probleme denn hier wohl zu behandeln wären. Die Ernüchterung wegen der vielen Nichtigkeiten scheint groß gewesen zu sein. In den frühen Entscheidungsbänden schlug sich das nieder: Sie klären vorwiegend Zulässigkeitsfragen. Es ist ein unwiederbringlicher Verlust, dass Ritterspach sich nicht zum Aufschreiben seiner Erinnerungen bewegen ließ. Der Erste Senat war anfangs noch für alle Grundrechtsverfahren zuständig. Das machte zwar erheblich mehr Arbeit als die an Zahl geringen staatsgerichtlichen Verfahren des Zweiten Senats (auf den Ersten Senat entfielen in den Anfangsjahren etwa fünfmal so viel Verfahren wie auf den Zweiten), galt aber als weniger ansehnlich. In den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte der Erste Senat indes durch die beiden Parteiverbotsprozesse von 1952 (SRP) und 1954 bis 1956 (KPD) und das Normenkontroll-Verfahren zum Saar-Statut (1955). Vieles das inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden ist, existierte noch nicht. Die Richter hatten weder Mitarbeiter noch Sekretärinnen. Es gab keine Dezernate und keine Voten. Die Eingänge wurden nach Belastungsgesichtspunkten unter den Richtern aufgeteilt. Der Berichterstatter referierte den Fall, man diskutierte und beschloss. Erst die großen Verfahren, etwa dasjenige zu Artikel 131, machten Voten nötig, und es dauerte noch länger, bis sie für alle Fälle üblich wurden. So fi ndet man auch Ritterspach als Berichterstatter in ganz verschiedenen Bereichen. Seine Sternstunde wurde jedoch Lüth. Danach verfestigte sich seine Zuständigkeit für Fragen der Meinungsfreiheit. Ritterspach konnte sich nicht daran erinnern, dass das Lüth-Urteil mit seiner grundstürzenden Wendung zum Wert- oder Prinzipienverständnis der Grundrechte, zur mittelbaren Drittwirkung im Privatrecht und zur Ausstrahlungswirkung auf das einfache Recht kontroverse Diskussionen im
Theodor Ritterspach
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Senat ausgelöst hätte. Er räumte auch freimütig ein, dass man sich der Bedeutung dieser Entscheidung wohl nicht voll bewusst gewesen sei. An der letzten großen Konsequenz aus dem Lüth-Urteil, der Anerkennung grundrechtlicher Schutzpfl ichten im Fristenlösungs-Urteil von 1975, war er noch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Gericht beteiligt. Mit Lüth hatte sich das Gericht freilich ein Folgeproblem eingehandelt, die Abgrenzung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht, Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Formel, mit der das Bundesverfassungsgericht dieses Problems seit 1964 Herr zu werden versucht, ist als Hecksche Formel bekannt, wurde aber von Heck und Ritterspach gemeinsam ausgeheckt. Es ist die vom Gericht selbst am meisten zitierte Entscheidung (BVerfGE 18, 85 [92]). Überhaupt wurde Ritterspach von seinen Kollegen für seine Formulierungskunst in schwierigen Beratungssituationen gerühmt. Im Senat scheint er eher zu den ausgleichenden als den streitlustigen Richtern gehört zu haben. Von der seit 1971 bestehenden Möglichkeit, abweichende Meinungen zu veröffentlichen, hat er keinen Gebrauch gemacht. Ohnehin waren Sondervoten im Ersten Senat erheblich seltener als im Zweiten. Der Umzug aus dem Prinz-Max-Palais ins heutige Gebäude empfand er als große Erleichterung. Die räumlichen Verhältnisse bis 1969 seien beschämend gewesen. Den Umzug in den Schlossbezirk beschrieb er als „Erlösung“, die neue Umgebung als „Paradies“. Dagegen konnte er sich für die Frage angemessener Roben (anfangs trug man die dieselben Roben wie die Richter des Bundesgerichtshofs), die Erwin Stein zu seiner Sache gemacht hatte und gestützt auf Dutzende von Bildbänden historischer Kostüme vorantrieb, nicht erwärmen. Er war, ganz ungeachtet seiner überragenden richterlichen Bedeutung, ein völlige unpompöser, bescheidener, in der Öffentlichkeit kaum bekannter Mann. Nachdem er die Amtsgeschäft 1975 an Konrad Hesse übergeben hatte, kam er noch regelmäßig mit einem älteren Mercedes aus Kirchheimbolanden ins Gericht, machte sich in der Bibliothek mit den neuesten Judikaten der italienischen Corte Costituzionale vertraut und unterrichtete darüber zwischen 1979 und 1991 regelmäßig die deutsche Leserschaft. Zum Gespräch mit den amtierenden Richtern war er stets bereit, ohne sich je aufzudrängen. Die Vergoldung der eigenen Amtszeit lag ihm fern. Er blieb für die Gegenwart aufgeschlossen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verfolgte er regelmäßig, ohne danach zu suchen, ob jemand von seiner Linie abgewichen war. Einen Rechtsprechungsbruch in den Gebieten, die ihm angelegentlich waren, konnte er nicht feststellen. 24 Jahre war er Bundesverfassungsrichter gewesen, nach weiteren 24 Jahren im Ruhestand starb er am 12. Mai 1999.
Die Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen
In Sorge um die Freiheit von
Prof. Dr. Dr. h. c. Walter Schmitt Glaeser, Universität Bayreuth Präsident des Bayerischen Senats a. D.
I. Frühherbst 1953: Immatrikulation im Fach Rechtswissenschaft an der Universität München, meiner Heimatstadt, zusammen mit einem Schulfreund. Die auszufüllenden Formulare enthielten auch die Frage nach dem „angestrebten Beruf “. Etwas zögernd entschied ich mich für „Richter“. Mein Freund dagegen, immer aufgelegt für einen kleinen Spaß, trug „Senatspräsident a. D.“ ein; so lautete damals noch die Amtsbezeichnung der Vorsitzenden Richter an Obergerichten. Dann kam die förmliche Aufnahme in die Gemeinschaft der Alma Mater, zu dieser Zeit noch ganz individuell durch Handschlag des Rektors. Magnifizenz war von der Ungehörigkeit unterrichtet, wusste aber offenbar nicht mehr, wer von uns der Schuldige war. So bekamen wir beide den Rüffel: Der erstaunliche Ehrgeiz in jungen Jahren sei bemerkenswert, aber das „a. D.“ müsse er doch ernsthaft rügen. Mein Freund wurde Richter, wechselte allerdings schon bald in den Anwaltsberuf. Ich bin heute tatsächlich (auch) Senatspräsident a. D., freilich nicht als Vorsitzender Richter an einem Obergericht, sondern als Präsident des Bayerischen Senats. In die Wiege war mir der Jurist nicht gelegt worden; in der weiteren Verwandtschaft gab es nur einen, der diesen Beruf gewählt hatte. Zunächst konnte ich mich nicht so recht an die strikte Denkungsart der Jurisprudenz gewöhnen, die scheinbar keinen Spielraum für Phantasie und Kreativität bot. Immer wieder zog es mich in die Veranstaltungen anderer Fakultäten, wobei mein besonderes Interesse den Literaturwissenschaften galt. Hier war ich erblich belastet, hier fühlte ich mich zu Hause. Schon sehr früh hatte meine Mutter die Liebe zur schönen Literatur in mir geweckt. Vielleicht hätte ich das Studienfach gewechselt, wenn ich nicht eines Tages in eine Vorlesung über Georg Trakl geraten wäre, in der mein Lieblingsdichter auf eine für mich äußerst schmerzhafte Weise regelrecht (oder der Regel gerecht) in seine Teile zerlegt wurde. Im Gegenbild zu diesem Erlebnis wusste ich nun, warum mich die Jurisprudenz so angezogen und ich – entgegen dem Rat meiner Lehrer – dieses Studium gewählt hatte. Reumütig kehrte ich zurück und ließ mich nun ganz auf die
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Walter Schmitt Glaeser
Rechtswissenschaft ein. Dort konnte man (wissenschaftlich) zerlegen und zergliedern, nicht nur ohne Schmerzen, sondern, wie mir im Laufe meines Studiums immer klarer wurde, mit großem intellektuellen Vergnügen. Dabei blieb es. Um Georg Trakl musste ich mir keine Sorge mehr machen. Er blieb unbeschädigt und wirkte auf mich so anregend und erfüllend wie eh und je. München hatte in den 50er Jahren viele bedeutende Professorenpersönlichkeiten. Nachhaltig beeinflusst hat mich ein Dozent, der Honorarprofessor Dr. Wilhelm Hoegner, in dieser Zeit (1954 bis 1957) Bayerischer Ministerpräsident. Er las Verfassungsrecht, genauer: bayerisches Verfassungsrecht. Das Grundgesetz, obgleich seit 1949 in Kraft, fand im bayerischen Studium der 50er Jahre wenig Beachtung. Ich besuchte seine Vorlesung regelmäßig, nicht nur weil mich das Verfassungsrecht von Anfang an besonders angezogen hat, sondern weil ich gerade ihn hören wollte, der zusammen mit Prof. Dr. Hans Nawiasky als die eigentlichen Gestalter der Bayerischen Verfassung von 1946 gilt.1 Ich erhoffte mir spezielle, auch mit Erfahrungen verbundene Informationen über die Entstehungsgeschichte, die im Laufe der Zeit verloren gehen könnten. Ich wurde nicht enttäuscht. Der Vorlesungsstil war zwar äußerst sperrig und alles andere als „studentengerecht“; aber wer durchhielt, wurde reichlich belohnt. Was mich freilich im Laufe der Vorlesungswochen besonders faszinierte war nicht so sehr die Wissensvermittlung als die Persönlichkeit dieses Mannes und seine Lebenshaltung. Er wurde für mich zu einem Sinnbild von Würde und einem tiefen Drang nach Freiheit. Er ließ mich erst ganz begreifen, was die Zeit des Nationalsozialismus für den freiheitsliebenden Menschen bedeutet hatte. Der Vorspruch der Bayerischen Verfassung gewann auch für den Spätgeborenen emotionale Bedeutung: „Angesichts des Trümmerhaufens, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat . . .“. Hier, in der Präambel, in der unabdingbaren Achtung menschlicher Würde und der damit in Verbindung stehenden Garantie der Freiheit für jedermann als Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeit des Individuums sowie ihr Schutz durch unabhängige Gerichte, liegt das zentrale Nervensystem eines freiheitlichen und damit humanen, weil am Menschen orientierten Staates. Einen solchen Staat zu schaffen und für ihn einzutreten, ohne Wenn und Aber, war die Mission dieses Politikers, die hohe Ethik dieses Zieles uns zu vermitteln sein credo. Amtsträger von solchem Format galten in dieser Zeit als unbestrittene Autoritäten, wurden hoch geachtet, wenn auch nicht immer geliebt, weil sie an andere nicht sehr viel geringere Ansprüche stellten als an sich selbst. Ein kleines Ereignis am Rande mag diese Zeilen illustrieren und zugleich deutlich machen, was uns in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen ist: Als ich wieder einmal mit der Straßenbahn zu den Vorlesungen fuhr, stieg Prof. Hoegner an einer späteren Haltestelle in meinen Wagen zu. Als er von der Plattform ins Innere trat, erhoben sich alle Fahrgäste, verneigten sich und grüßten: „Guten Morgen, Herr Ministerpräsident.“ Er grüßte freundlich zurück und setzte sich zu uns, wie einer von uns, und doch durch sein Amt und unseren Respekt heraus gehoben aus der Menge.
1 W. Hoegner, Prof. Dr. Hans Nawiasky und die bayerische Verfassung von 1946, in: Staat und Wirtschaft, Festgabe zum 70. Geburtstag von Hans Nawiasky, 1950, S. 1 ff.
In Sorge um die Freiheit
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In dieser Persönlichkeit konnte ich schon sehr früh erleben, wie wichtig es ist, dass junge Menschen über das Elternhaus hinaus Vorbilder haben, die Werte vorleben und Wege weisen. Damals, in meiner Studentenzeit, habe ich freilich noch nicht geahnt, wie sehr Wilhelm Hoegner mein Leben und Denken bis zum heutigen Tag beeinflussen sollte, auch als Lehrer und Forscher. Ebenso verborgen blieben mir damals die spezifischen Auswirkungen der in den 50er Jahren herrschenden Auf bruchstimmung auf das Denken und Verhalten der Menschen. Wer den Staatsterror der Nationalsozialisten und die Leiden des Krieges hat ertragen müssen, für den waren Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Sicherheit vor Willkür, ganz konkrete, gleichsam greif bare Werte, die es für alle Zeit zu bewahren galt, und für die man auch Opfer auf sich zu nehmen bereit war. Natürlich verspürte man dankbar auch die allmählich Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, aber die Menschen wussten noch sehr genau, dass Freiheit das höchste Gut ist und Konsum allein weder Erfüllung bringen noch gemeinschaftsverbindende Kraft entfalten kann.
II. In der ersten Phase meines Studien- und Berufslebens standen naturgemäß das Lernen, das Verstehen und nicht zuletzt die Prüfungen im Vordergrund. Kurz vor dem Zweiten Staatsexamen musste ich feststellen, dass viele meiner befreundeten Kollegen und nicht zuletzt auch mir das Verwaltungsprozessrecht, vornehmlich der Auf bau von Klagezulässigkeitsprüfungen, erhebliche Schwierigkeiten bereitete. So versetzte ich mich in den Prüfl ing, der ich schon bald sein würde, und trug für jede mögliche Klage zusammen, welche Sachentscheidungsvoraussetzungen in welcher Reihenfolge zu bearbeiten sind. Sodann bat ich Dr. Oskar Tschira, meinen früheren Arbeitsgemeinschaftslehrer beim Landratsamt München, um Durchsicht des Manuskripts. Wir waren uns näher gekommen, seit er – inzwischen stellvertretender Direktor bei Bayerischen Landkreistag – meine Doktorarbeit (mit Erfolg) für den Förderpreis eines kommunalwissenschaftlichen Instituts vorgeschlagen hatte. Von der neuen, aus der Perspektive des Prüfl ings angelegten Systematik meiner Arbeit war er sofort überzeugt und bot mir an, daraus zusammen ein Lehrbuch zu machen. Nach einigen wichtigen Korrekturen und Ergänzungen durch ihn entstand zunächst ein 94seitiges Manuskript, das wir beim damals bekanntesten Münchner Repetitorium Dr. Rottmann für 7,50 DM zum Kauf anboten. Die erste Auflage von 3000 Stück war in knapp zwei Monaten vergriffen. Damit begann eine Erfolgsgeschichte, geboren aus einer Prüfungsvorbereitung, oder sollte ich sagen: Prüfungsangst, die – noch verdeckt – auf einen pädagogischen Berufsweg hinwies. Nach weiteren Ergänzungen erschien das Werk als „Grundriss des Verwaltungsprozessrechts“ mit dem Untertitel „Mit Systematik zur Fallbearbeitung“ im Richard Boorberg Verlag. Später fi rmierte es als „Kurzlehrbuch“. Es wurde für Jahrzehnte das führende Lehrbuch. Es ist nicht nur bei den Studenten und Professoren, sondern ebenso bei den Repetitoren voll angekommen. Dementsprechend häufig wurde das System kopiert, zunächst vor allem und mit genauer Zitierung bei den Verwaltungsschulen, in den 90er Jahren schließlich auch von einem Kurzlehrbuch des Verwaltungsprozessrechts, das in einem sehr großen Verlag erschien und nach allen Regeln der Werbekunst gefördert wurde.
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Nachahmung hat seine erfreuliche Seite, weil sie immerhin eine deutliche Bestätigung des eigenen Konzept ist. Verloren geht freilich auch die Einmaligkeit der eigenen Leistung, und das ist alles andere als erfreulich.2 Die gemeinsame Arbeit am Lehrbuch, mein Respekt vor dem begnadeten Juristen, die große Sympathie und schließlich die Freundschaft, die mich mit Oskar Tschira verband, war der Hauptgrund dafür, dass ich nach dem Zweiten Staatesexamen beim Bayerischen Landkreistag meine berufl iche Lauf bahn (als Finanzreferent) begann. Meine Doktorarbeit über die kommunale Selbstverwaltung tat ein Übriges; das neue Betätigungsfeld war mir in den Grundzügen (theoretisch) vertraut. Trotzdem fiel mir die Arbeit zunächst nicht leicht. Das galt vor allem für telefonische Anfragen aus den Landratsämtern, die schnelle Antworten verlangten. Landräte waren (sind?) besonders ungeduldig, zumal wenn sie selbst keine juristische Ausbildung besitzen. So entschloss ich mich, „alles“ zu wissen und dies sofort. Wissenslücken mussten verdeckt werden, z. B. durch Gegenfragen, Bitte um weitere Sachverhaltsauf klärung, durch geschickte Formulierungen oder kühne Behauptungen, die im Übrigen oft gar nicht so falsch waren wie befürchtet. Angenehm war das nicht, und so strengte ich mich sehr an, um möglichst schnell wirklich (fast) „alles“ zu wissen. Im Großen und Ganzen ist mir das dann auch bald gelungen. Der notwendige Wissensstoff war zwar weit gefächert, aber im Wesentlichen doch auf den Landkreis und die anderen Kommunen bezogen und daher überschaubar. Freilich hatte dies den Nachteil, dass die Arbeit immer mehr zur Routine wurde. Routine erleichtert die Arbeit, nimmt ihr aber auch den Reiz. So begann ich, einzelne Probleme ins Grundsätzliche zu erweitern und entsprechende Beiträge in Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Auch ein Studienaufenthalt beim Gemeindeverband in Finnland, zu dem mich der Landkreistag für drei Monate abordnete, wurde auch auf diese Weise genutzt. Im „Der Landkreis“ 1961 erschien ein Aufsatz über die kommunale Selbstverwaltung in Finnland, in „Maalaiskunte“ 1962, der Finnischen Fachzeitschrift für Gemeinderecht, ein Beitrag über die Selbstverwaltung in Bayern. Es dürfte vornehmlich dieser Versuch gewesen sein, erstmals seit der Doktorarbeit wieder mehr ins Grundsätzliche und Übergreifende zu gehen, der mich immer deutlicher erkennen ließ, was fehlte; es fehlte die (berufl iche) Entwicklung, genauer: die Veränderung des jeweils gegenwärtigen Zustandes im Sinne einer lebendigen geistigen Gestaltung in die reizvolle Ungewissheit des Zukünftigen hinein. Endgültige Klarheit verschaffte die Lektüre der Kommentierung von Art. 1 (Menschenwürde) und Art. 2 (Freiheit) des Grundgesetzes durch Prof. Dr. Günter Dürig im Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dürig, die ich für den mir aufgegebenen Entwurf einer Rede des Präsidenten des Landkreistages nutzte. Schon die ersten Sätze der Kommentierung des Art. 1 zogen mich in ihren Bann und ich konnte mit dem Lesen nicht mehr auf hören; ich las den halben Tag und fast die ganze Nacht, manche Passage mehrmals. Möglicherweise beruhte die Faszination eher auf dem Gefühl als auf dem Verstand. Aber so genau lässt sich das im Nachhinein nicht mehr sagen. Sicher war es auch Dürigs Sprachgewalt, seine illustrativen, treffend-saloppen, geistreich-witzigen Formulierungen, mehr aber noch die Gradlinigkeit seiner Argumentation, die 2 Grundsätzlich dazu Peter Häberle, Verantwortung und Wahrheitsliebe im juristischen Zitierwesen, in: Festschrift für Walter Schmitt Glaeser, 2003, S. 394 ff.
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Glaubwürdigkeit seiner Thesen. Man spürte es: Dieser Wissenschaftler meint, was er sagt, und er sagt, was er meint. Aber wie immer damals meine Gedanken und Empfi ndungen gewesen sein mögen, eines war klar: Ich wollte noch einmal von vorne anfangen und eine wissenschaftliche Lauf bahn versuchen – selbstverständlich bei Günter Dürig. Und es gelang. Prof. Dürig hatte noch eine Stelle frei, die er mir anbot, selbstverständlich erst nach gründlicher Prüfung meiner Qualifi kation. Seine letzten Fragen waren: Sind Sie verheiratet? Nach meiner Verneinung: Haben Sie demnächst vor, zu heiraten? Als ich auch diese Frage verneinte, meinte er: Dann können wir auch eine Habilitation wagen. Ich verließ den Landkreistag und ging nach Tübingen, um zu habilitieren. Der Schritt war riskant, Sicherheit gab es keine und die Tübinger Juristenfakultät war zu dieser Zeit so schwierig wie die „Stars“, aus denen sie bestand (Otto Bachof, Horst Schröder, Jürgen Baumann, Joachim Gernhuber, Fritz Bauer, Wolfgang Fikentscher, Dieter Medikus, Josef Esser, um nur einige zu nennen). In dieser Zeit wurde mir wieder einmal klar, dass man das eigene Leben nur bedingt steuern kann. Viele Ereignisse, glückliche und unglückliche, kommen „von außen“, sind selbst weder herbei zu führen noch zu verhindern. Der eigene, freilich nicht gering zu schätzende Beitrag, besteht in der Art und Weise, wie man mit diesen Ereignissen, die man Schicksal oder vielleicht besser Fügung nennt, umzugehen versteht.
III. Viele Ereignisse im Leben erklären und verbinden sich erst im Rückblick; dann lässt sich erkennen, ob sie sich zu einem Bild fügen. Denn die Folgen der Ereignisse und Verhaltensweisen sind es, die das Leben zu einem ausdrucksvollen Gemälde oder zu einem nichtsagenden Graffito werden lassen. Die Folgen aber sind oft spät zu erkennen. Eines wurde mir allerdings schon bald deutlich: In Günter Dürig hatte ich einen Menschen gefunden, der das Bewusstsein für die Ethik menschlicher Würde und Freiheit, das Wilhelm Hoegner in dem jungen Studenten wecken konnte, zur weiteren Entfaltung und gleichsam in eine Erfüllung auf wissenschaftlichen Niveau brachte. Im Zentrum stand dabei die Charakterisierung des Art. 1 I GG als oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts und damit als Basis eines ganzen Wertsystems, „das sich weitgehend zugleich als ein rechtslogisches Anspruchssystem erweist, in dem sich der Hauptwert zu den Teilwerten wie der rechtliche Obersatz zu den Teilrechtssätzen verhält“.3 Es kann hier dahin stehen, inwieweit dieses Konzept auf Dauer Gültigkeit beanspruchen wird. Der darin liegende Versuch jedenfalls, so Peter Häberle,4 „sich aus der Alternative ‚Naturrecht oder Rechtspositivismus‘ dadurch zu lösen, dass zunächst einmal das positive ‚Wertsystem‘ der Verfassung als 3
So die Erstkommentierung von Dürig, in: Maunz/Dürig (1958), Art. 1 Abs. I, Rn. 4 ff. Staatsrechtslehrer im Verfassungsleben – am Beispiel Günter Dürigs, in: Günter Dürig, Gesammelte Schriften (1952 bis 1983), hrsg. von Walter Schmitt Glaeser und Peter Häberle (1984), S. 22 ff. – Vgl. auch Peter Lerche, Günter Dürig als Architekt, in: Tübinger Universitätsreden, Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 13, S. 13 ff. sowie Wolfgang Graf Vitzthum, Die Spuren verfolgen, wo er seinen Weg nahm, in: ebenda, S. 37 ff. 4
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solcher, das Grundgesetz, zugrunde gelegt wurde, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden.“ Günter Dürig war meisterlich, aber er war kein Meister mit Lehrlingsausbildung. Er war „Einzelkämpfer“, setzte auf das „einsame Gehirn“, nicht auf die Arbeit im Team und ganz besonders nicht auf die Beratung von Doktoranden und Habilitanden. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit „Missbrauch und Verwirkung von Grundrechten“ ein Habilitationsthema wählte, das wenig Zukunft hatte, weil Art. 18 GG anwendungsresistent war und blieb. Dass ich über 40 Jahre nach Erscheinen meiner Habilitationsschrift in dem von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier herausgegebenen Handbuch der Grundrechte den Beitrag „Grundrechtsverwirkung“5 übernommen habe, verdankt sich eher nostalgischen Gefühlen als der Hoffnung, es könnte doch noch etwas werden mit dem Art. 18. Aber trotz mangelndem „Entfaltungspotential“ der Bestimmung (Michael Brenner) ist sie „Ausdruck des bewussten verfassungspolitischen Willens zur Lösung des Grenzproblems der freiheitlichen Staatsordnung“6 und zeigt den hohen Stellenwert der Bürger für die Erhaltung und den lebendigen Bestand des freiheitlichen Staates sowie die Gefahr, die der Einzelne darstellen kann, wenn er seine Freiheit pervertiert und missbraucht. Ich sollte diese Gefahr schon bald in Tübingen noch als Assistent und Privatdozent und sodann vor allem als Lehrstuhlinhaber in Marburg gleichsam am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es war die Zeit der „Studentenrevolte“, viel beschrieben, vor allem von den sogenannten Achtundsechzigern selbst und ihren Sympathisanten.7 Seit meinen Kindertagen in der Endzeit des Zweiten Weltkrieges erlebte ich nunmehr als Mittdreißiger erstmals wieder aggressive Intoleranz, organisierte Gewalt von Menschen gegen Menschen, Rechtlosigkeit und Ohnmacht. Ein Ausschnitt aus meinem Brief an Oskar Tschira vom 11. Mai 1970 mag Situation und Stimmung illustrieren: „Die großen Heilsbringer sind wieder unter uns! Dieses Mal ziehen sie mit roten Fahnen durch die Straßen, sie schreien ‚Amis raus aus Indochina‘, sie brüllen ‚Ho Ho Chi Minh‘ und ‚USA SA SS‘, sie sind gegen jegliche Gewalt anderer, auch gegen die legale Machtausübung des Staates, und sie treten jeden nieder, der sich gegen sie stellt. Sie sind gegen jede Manipulation der Bildzeitung und für jede Manipulation der Frankfurter Rundschau, sie sind gegen jede Macht, die nicht die ihre ist, sie sind gegen alles, was ‚erhaltend‘ (konservativ) ist und ziehen alles in den Schmutz, was nicht geprägt ist vom ‚richtigen‘ Bewusstsein, und das heißt ihrem Bewusstsein, ihrer Idee, ihrer Ideologie.“ Gewalt, Terror und erhebliche Sachbeschädigungen waren in dieser Zeit nahezu alltäglich. Ein Erlebnis vor allen hat sich mir tief eingeprägt: Um die Mittagszeit ging ich manchmal in eine nahe liegende Grünanlage, um mir etwas Bewegung zu verschaffen. Der Weg dorthin führte über eine kleine Brücke. Eines Tages sah ich von weitem, dass auf dieser Brücke mehrere junge Männer auf einen anderen einprügelten und versuchten, ihn über das Brückengelände in den Bach zu werfen. Ich eilte 5
Bd. III, 2009, § 74. BVerfGE 2, 1 (11 f.). 7 Eine im Wesentlichen objektive Schilderung gerade der Marburger Verhältnisse dieser Zeit dagegen gibt Fritz Sturm, Zerstörten die 68er Recht und Rechtsbewusstsein?, in: FS für Hans Gilger, 2009, S. 279 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 6
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hinzu und trennte sie. Als die Schläger mich erkannten, liefen sie weg. Wie sich herausstellte, war der Verprügelte, der im Gesicht stark blutete, Mitglied des Rings Christlich-Demokratischer Studenten; er hatte Flugblätter verteilen wollen. Diese „faschistische Hetze“ mochten die Schläger, von denen einer dem marxistischen Studentenbund Spartakus, die anderen dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund angehörten, nicht dulden. So entrissen sie ihm die Flugblätter, warfen sie in den Bach, schlugen auf den „Faschisten“ ein und wollten auch ihn über die Brücke werfen, um ein Exempel zu statuieren. Die Marburger Jahre waren eine schwere Zeit. Die vielen Pläne, die ich für den Anfang meiner Professorenzeit, etwa für die Neugestaltung von Vorlesungen oder die Ausgestaltung meiner Forschung entworfen hatte, konnten nicht einmal im Ansatz verwirklicht werden. Es galt vor allem Störungen aller Art abzuwehren, Störungen der Vorlesungen oder der Fakultätssitzungen; nachdem diese universitätsöffentlich abgehalten werden mussten, kam es auch vor, dass Wurfgeschosse auf die Sitzungsmitglieder flogen und die „Zuhörer“ nach ihnen falsch erscheinenden Beschlüssen den Dekan oder „widerspenstige“ Professoren körperlich angriffen. Irgendeine Hilfe konnte man nicht erwarten, weder von der Universitätsleitung noch vom Ministerium, allenfalls – äußerst eingeschränkt und in der Regel zu spät – von den Gerichten. Die Professoren waren weitgehend schutzlos, in gewissem Sinne ausgeliefert. Aber diese Erfahrungen, die mir auferlegt wurden, waren vielleicht notwendig, um Wilhelm Hoegners Mahnungen und Günter Dürigs leidenschaftliches Eintreten für Menschenwürde und gleiche Freiheit ganz lebendig werden zu lassen und nachhaltige Wirksamkeit zu entfalten. Es sind wohl erst die Erfahrungen, die vorbildliche Erkenntnisse anderer zum organischen Bestandteil eigener Lebensführung werden lassen. Würde und gleiche Freiheit des Menschen in den verschiedenen Ausformung, auch als Offenheit etwa für die Interessen und Ansichten anderer, als Korrektur eigener Meinungen (Irrtümer), Beachtung und vielleicht Achtung anderer Lebensweisen oder ganz allgemein Toleranz als Geisteshaltung und Verhaltensdirektive zur Erhaltung oder Wiedererlangung von Frieden, empfand ich nicht mehr allein als Aufgabe, sondern wurde mir zu einem vorrangigen Bedürfnis. Für meine wissenschaftliche Arbeit hatte dies zur Folge, dass sich die meisten meiner Veröffentlichungen auf Situationen beziehen, in denen ich Freiheit oder Menschenwürde bedroht sah: Private Gewalt im politischen Meinungskampf, Gebot der Medienpluralität, Schutz der Lehr- und Forschungsfreiheit, Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau zur Herstellung gleicher Freiheit der Geschlechter, Schutz der Privatsphäre, Verfälschung des Menschenbildes durch Missbrauch der Medienfreiheit, z. B. in der „Big Brother“-Sendung von RTL II; das sind einige Stichworte. Durchweg waren es aktuelle Ereignisse, auf die ich wissenschaftlich reagierte, um Entwicklungen, die ich als Fehlentwicklungen empfand, als solche bewusst zu machen und möglichst aufzuhalten. Nicht ganz selten ist es mir gelungen. Auch Gutachten erwiesen sich als wirksame Ausdrucksform. Gerade hier kommt freilich alles darauf an, sich auf ein Ersuchen nur einzulassen, wenn das Wunschziel des Auftragsgebers mit der eigenen wissenschaftlichen Meinung grundsätzlich übereinstimmt. Dies ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um – auch vor sich selbst – glaubwürdig zu bleiben. Im Übrigen war es stets mein Bemühen, den zu beurteilenden Sachverhalt, die rechtlich ausschlaggebenden Fakten, möglichst genau zu kennen. Bei dem 1979 angefertigten Gutachten
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zur Kabelkommunikation8 etwa habe ich viel Zeit und Kraft darauf verwendet, die neue Technik kennen zu lernen, wobei ich mir durch einen Fachmann helfen ließ. Die genaue Kenntnis des Gegenstandes rechtlicher Beurteilung hilft auch dabei, Vorverständnisse methodisch korrekt zu bewältigen. Auch diese auf aktuelle Ereignisse bezogene wissenschaftliche Arbeit mag man als ein Forschungskonzept bezeichnen, ein langfristig angelegtes, in sich geschlossenes Konzept kann sich auf diese Weise aber nicht entwickeln. Das lässt sich kritisieren, entspricht aber meinem Lebensstil. Das zeigen die weiteren Stationen meines „Gelehrtenlebens“.
IV. 1971, knapp zwei Jahre nach meiner Berufung an die Universität Marburg, ersuchte mich der damalige Bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultus, Prof. Dr. Hans Maier, Mitglied des Strukturbeirats zur Gründung einer Universität in Bayreuth zu werden. Ich sagte zu. Diese Berufung war für mich ein Licht am Ende des Tunnels. Dass mir wenig später der damalige Vorsitzende der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, Prof. Dr. Konrad Hesse, antrug, auf der Tagung der Vereinigung 1972 in Salzburg den Mitbericht über das Thema „Partizipation an Verwaltungsentscheidungen“ zu übernehmen, bedeutete eine weitere wichtige Ermutigung, zumal ich erst seit 1968 der hoch angesehenen Vereinigung (mit damals noch 173 Mitgliedern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz) angehörte, sich mir die Chance eines Referats also sehr früh eröffnete. Die Aufgabe zu bewältigen, fiel mir unter den damaligen Marburger Verhältnissen allerdings nicht leicht; aber – und dies muss an dieser Stelle gesagt sein – ich hatte ausgezeichnete Assistenten, die mir vor allem bei der Auf bereitung des Materials eine große Hilfe waren. Ich will sie namentlich nennen: Dr. Werner Hanisch (derzeit Verwaltungsgerichtspräsident), Dr. Andreas Hartisch (Vorstandsmitglied eines Großen Wirtschaftsunternehmen i. R.), Dr. Wolfgang Vehse (Staatssekretär a. D.). Und noch etwas ist an dieser Stelle zu berichten: Kurz bevor ich auf der Tagung ans Rednerpult trat, steckte mir der allseits hoch verehrte Kollege Hans-Peter Ipsen, der die Thesen meines Referats gelesen hatte, einen Zettel zu, auf dem stand: „Ich beglückwünsche Sie schon im Voraus zu Ihrem Referat“. Wer weiß, wie entscheidend (jedenfalls damals) das Gelingen eines Vortrags auf der Staatsrechtslehrertagung für die weitere Karriere war, kann sich vorstellen, was dieser Zettel, den ich bis heute auf bewahrt habe, für mich bedeutete. Die Notiz konnte das Referat zwar nicht besser machen, aber ich konnte mit Ruhe und größerer Überzeugungskraft sprechen, und das war von unschätzbarem Wert. Herrn Ipsen bin ich noch heute zu tiefem Dank verpfl ichtet. Bei einem Zusammentreffen so vieler positiver Ereignisse ist mancher versucht, an glückliche Zufälle zu denken. Wer an glückliche Zufälle nicht glaubt, könnte die Ereignisse als Wegweiser in die berufl iche Zukunft verstehen, also an gleichermaßen praktische wie wissenschaftliche Aufgaben. Aber vielleicht ist es auch einfach so, dass sich im Leben Freud und Leid nur selten gleichmäßig verteilen, meist alles auf einmal 8
Kabelkommunikation und Verfassung. Das private Unternehmen im „Münchner Pilotprojekt“.
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kommt, das Gute und das Schlechte. Eine ähnliche Situation des „Doppelerfolgs“ ergab sich im Jahre 1994. Der Bayerische Senat wählte mich zu seinem Präsidenten und die Staatsrechtslehrervereinigung zu ihrem Vorsitzenden. Die Arbeit im Strukturbeirat und die Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Kultusministerium sowie der Stadt Bayreuth, effektiv, ideologiefrei und der Sache verpfl ichtet, war eine Erholung für Herz und Gemüt; sie half mir, die weiteren Jahre in Marburg besser zu bewältigen, bis ich 1975 den Ruf an die Universität Bayreuth annahm. Auch diese ersten Bayreuther Jahre gaben mir wenig Möglichkeit, meine Forschung voran zu bringen. Ich war sehr viel mehr Manager als Gelehrter; aber ich konnte die Chance nicht ausschlagen, wieder in meiner bayerischen Heimat Fuß zu fassen und eine Aufgabe in Angriff zu nehmen, die einem Professor nur selten gestellt wird: eine Universität vom ersten geistigen Spatenstich an mit zu gestalten. Der Strukturbeirat erarbeitete in kürzester Zeit ein überzeugendes Konzept, so dass bereits 1973 der Präsident und die beiden Vizepräsidenten, von denen ich einer war, ernannt werden konnten. Die Zusammenarbeit in der Führungsspitze verlief reibungslos und dementsprechend erfolgreich, so dass ich mich bereit erklärte, nach drei Jahren erneut zu kandidieren, die Aufgabe also insgesamt sechs Jahre wahrnahm. In meiner zweiten Amtszeit konnte ich mich verstärkt dem Auf bau „meiner“ Fakultät widmen. Auf meinen Vorschlag hin hatte der Strukturbeirat beschlossen, Recht und Wirtschaft enger zu verflechten und im Rahmen einer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät den Jurastudenten die Möglichkeit zu geben, neben dem (ungeschmälerten) Rechtsstudium eine wirtschaftliche Zusatzqualifikation zu erwerben („Wirtschaftsjurist“). Die Neugestaltung war ein großer Erfolg und ist es bis heute; sie hat uns auch viele interessierte Studenten aus ganz Deutschland nach Bayreuth gebracht. Die mit dem Studienkonzept verbundene Zusammenarbeit der Professoren beider Disziplinen in gemeinsamen Instituten (z. B. für Finanz- und Bankwesen oder für Gesundheitsökonomie) war für Forschung und Lehre gleichermaßen von Nutzen. Hinzu kam, dass es einem erfahrenen auswärtigen Berufungsausschuss in Zusammenarbeit mit mir als dem ersten Lehrstuhlinhaber der Fakultät gelang, sowohl viele wissenschaftlich als auch pädagogisch besonders ausgewiesene Persönlichkeiten nach Bayreuth zu holen. So hatte unsere Fakultät einen guten und viel beachteten Start. Mit dem Ende meiner Zeit als Vizepräsident (1979) und nachdem die Auf bauzeit der Universität im Wesentlichen abgeschlossen war, konnte ich mich nun endlich wieder meinem eigentlichen Beruf, also Lehre und Forschung, stärker zuwenden. Vor allem den Lehrveranstaltungen widmete ich mich mit viel Freude und pädagogischem Eros. Dabei verstand ich die Lehre stets vornehmlich als Erziehung und (juristische) Bildung, erst in zweiter Linie als Wissensvermittlung. Gerade bei der Jurisprudenz ist der Erziehungsaspekt (ähnlich wie z. B. bei der Medizin) von ganz entscheidender Bedeutung. Im Mittelpunkt hat die Erkenntnis zu stehen, das es nur ein wirklich ernsthaftes Problem des Rechts gibt: die Gerechtigkeit. Rechtswissenschaft ist Gerechtigkeitswissenschaft. Gerechtes Denken und Handeln aber setzt Respekt vor historischen und alltäglichen Erfahrungen sowie Wirklichkeitssinn voraus, Fähigkeiten, die eingeübt werden müssen. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass Gerechtigkeit nur ein Gegenstand des Bemühens, niemals ein Versprechen sein kann; das gilt gerade auch für die viel beschworene „soziale“ Gerechtigkeit, was im-
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mer man im Einzelnen darunter verstehen mag. Wer sie verspricht, täuscht die Menschen und wird früher oder später scheitern. Erreicht werden können der Rechtsstaat sowie der Sozialstaat, der die wirklich Bedürftigen unterstützt und ihnen hilft, wieder auf eigene Beine zu kommen. Mehr ist von Staats wegen nicht zu erreichen; laufen muss dann jeder selbst. Den jungen Juristen ist dies vom ersten Tag an deutlich zu machen, soll unsere freiheitliche Verfassungsordnung Bestand haben und immer wieder neues Leben gewinnen. Meine Forschung kreiste in dieser Zeit um zwei Schwerpunkte: das Recht der Neuen Medien sowie das Planungsrecht, verbunden mit dem Verfahrens- und Organisationsrecht als vor allem praktischen Aspekt, dessen spezifische Bedeutung für das materielle Recht mich die universitäre Auf bauarbeit gelehrt hatte. In besonderem Maße beunruhigten mich die Gefahren, die für die Individualität und die Freiheit des Menschen in der damals um sich greifenden Planungseuphorie und in der Neigung zu Medienoligopolen liegen können. Forschungsarbeit ist im Übrigen auch für mich, jedenfalls in den entscheidenden Weichenstellungen, eine Sache des „einsamen Gehirns“. Das schließt es aber nicht aus, andere daran teilnehmen zu lassen. Auch war es für mich stets ein persönliches Anliegen, mit meinen Assistenten eng zusammen zu arbeiten und Doktoranden intensiv zu betreuen. Natürlich erfordert das einen erheblichen Zeitaufwand, aber es ist ein Aufwand, der sich „rentiert“. Zu beobachten, wie junge Menschen sich intellektuell entwickeln und sie dabei zu unterstützen, kann nicht nur zu einer engen geistigen Verbindung führen, sondern ist zudem ein guter Teil des Lebenssinns. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen habe ich auch immer Glück gehabt mit meinen Assistenten, sowohl in fachlicher als auch in menschlicher Hinsicht. Zuweilen waren sie es, die mir in schwierigen Lebenslagen selbstlos zur Seite standen. Meine drei Marburger Assistenten habe ich schon erwähnt (oben Ziffer IV.); dabei wäre noch nachzutragen, dass Dr. Vehse mit mir nach Bayreuth ging und mit viel Einsatz und Geschick die Auf bauarbeit unterstützte. Auch die enorme Arbeitsbelastung der achtziger und neunziger Jahre hätte ich ohne die oft aufopfernde Hilfe meiner Assistenten kaum bewältigen können. Die größte Unterstützung war mir Hans-Detlef Horn, der bei mir und Prof. Dr. Peter Häberle mit summa cum laude promovierte und von der Bayreuther Fakultät mit einer glänzenden Arbeit habilitiert wurde. Heute ist er Professor für Öffentliches Recht an der Juristenfakultät in Marburg und Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Die „Arbeitseinheit Lehrstuhl“ (einschließlich Sekretärin) ist in der Regel äußerst effektiv, fruchtbar für Assistenten und Hilfsassistenten, aber auch für den Professor selbst, anregend für alle Beteiligte und ein gutes Modell für das Erlernen geistiger Zusammenarbeit, wie man sie in nahezu jedem anspruchsvollen Beruf unbedingt braucht. Das mag für manchen zu idealistisch klingen, aber diese Einschätzung beruht auf Jahrzehnte langer Erfahrung.
V. Ein weiterer Abschnitt meiner berufl ichen Lauf bahn begann 1987 mit zwei Wahlen in neue Ämter: Die Wahl zum Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes durch den Bayerischen Landtag und das Angebot, für den Bayerischen Senat als Ver-
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treter der Hochschulen und Akademien zu kandidieren. Die Wahl zum Verfassungsgericht nahm ich ohne Zögern an. Für eine Kandidatur zum Bayerischen Senat dagegen konnte ich mich zunächst nicht entschließen, weil ich einem Ruf an die Verwaltungshochschule Speyer folgen wollte. Erst als ich den Ruf zu meinem Bedauern aus gewichtigen Gründen ablehnen musste, nahm ich die Kandidatur an und wurde von der Bayerischen Rektorenkonferenz auch gewählt. In beiden Fällen war für mich von besonderer Bedeutung, dass ich damit die Möglichkeit erhalten sollte, die erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse praktisch und – wie ich hoffte – wirkungsvoll umzusetzen, und dass die in den beiden Gremien gesammelten Erfahrungen wiederum Forschung und Lehre zugute kommen konnten. Auf die verfassungsgerichtliche Tätigkeit musste ich zu meinem großen Bedauern nach vier Jahren (1987 bis 1991) verzichten, weil die Richtertätigkeit mit dem Senatorenamt zwar verfassungsrechtlich nicht eindeutig inkompatibel war, die Vereinbarkeit aber doch zweifelhaft erschien. Außerdem nahm die Arbeit im Senat sehr viel Zeit in Anspruch. Das galt vor allem für den Rechtsausschuss, dem ich angehörte. Denn dieser musste bei der Hauptaufgabe des Senats, Gutachten zu Gesetzesvorlagen der Staatsregierung zu erstellen, stets tätig werden. Im Sinne der Systemtheorie von Niklas Luhmann sind Theorie und Praxis der Politik Funktionssysteme, die in ihrer Selbstbezüglichkeit und Komplexität einander zwar als spezifische Umwelten benötigen, eigenlogisch aber nebeneinander operieren. Was für die politische Theorie gilt, gilt auch für die Theorie des Rechts im Verhältnis zur politischen Praxis. Deren Eigenlogik hatte ich schon während meiner Tätigkeit im Landkreistag anhand der Kommunalpolitik ein wenig kennen gelernt, so dass sie mir nicht ganz fremd war. Erst im Senat aber habe ich verstanden, dass diese Eigenlogik der politischen Praxis zum guten Teil aus einer emotional unterlegten Mischung von Interessen und Ideologien besteht, in der Regel mit dem mehr oder minder geschickten Versuch verbunden, die daraus erwachsenden Meinungen und Konzepte intellektuell zu begründen und als vernünftig erscheinen zu lassen. Eine dominante Rolle spielt zudem die Rücksichtnahme auf die Stimmung der Wähler, die in ständig wiederkehrenden Meinungsumfragen erkundet wird sowie die – vielleicht noch folgenreichere – Angst vor Journalisten, die in großer Zahl wenig Interesse an einer möglichst objektiven Berichterstattung haben, umso mehr aber auf Quoten und Abonnenten sehen und zudem ihre Ideologien und Interessen zur Geltung bringen, um damit die öffentliche Meinung zu gestalten. Als Vertretung der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und gemeindlichen Körperschaften des Landes stellte auch der Bayerische Senat keine Insel, keine „interessenfreie Zone“ dar; aber die Wahlperiode von sechs Jahren war lang und die Möglichkeit einer Wiederwahl für die Senatoren nicht existentiell, weil sie für die Tätigkeit im Senat nicht bezahlt wurden, sondern lediglich eine Aufwandsentschädigung erhielten, die finanzielle Basis ihr in der Regel gut bezahlten Beruf war und blieb, so dass im Falle der verweigerten Wiederwahl kein fi nanzieller Absturz (z. B. zurück auf eine unbedeutende Angestelltenstelle) drohte. Vor allem die durchweg hohe berufl iche Qualifi kation der Senatoren ließ fundamentalistische Kompromisslosigkeit kaum zu, weil fachlich ausgewiesene Persönlichkeiten sich schwer tun, gute Argumente zu negieren, so dass auch anfänglich unterschiedlicher Positionen am Ende der Beratung in den meisten Fällen ein sachlich zufriedenstellender Konsens, nicht selten sogar Einstimmigkeit
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erzielt werden konnte. Dieses überzeugen und überzeugt werden können war es in erster Linie, was die Arbeit im Senat interessant und sinnvoll machte und mich veranlasste, für eine zweite Amtsperiode zu kandidieren, so dass ich insgesamt dem Senat über 12 Jahre angehörte (1987 bis 1999). Aber es kam noch etwas dazu. Die Konfrontation mit der praktischen Politik, vornehmlich von Regierung und Parlament, sowie der bessere Einblick in die Gesetzlichkeiten der Parteipolitik, öffneten mir neue Perspektiven bei der Betrachtung vor allem des Staats- und Verfassungsrechts, die gleichermaßen wertvoll waren für Lehre und Forschung. So wurde mir, um ein einfaches Beispiel zu nennen, schon sehr bald vor allem anhand von Gesprächen mit Abgeordneten klar, dass deren verfassungsrechtlich verbürgte Weisungsfreiheit gegenüber Partei und Fraktion (Art. 13 II Bayerische Verfassung), die notwendig auf die jeweilige Wahlperiode begrenzt ist, in der Praxis kaum zur Wirkung gelangen kann, weil der Abgeordnete die in der Regel angestrebte Wiederwahl unter normalen Umständen nur erreichen wird, wenn er sich als treuer Parteigänger erweist und sich bei seinen Abstimmungen der Fraktion und dem Willen der Partei fügt. Die ansonsten zu befürchtende negative Nachwirkung (Beendigung der politischen Karriere) führt so zu einer ebenso negativen Vorwirkung, indem der Abgeordnete von Art. 13 II der Verfassung tatsächlich keinen Gebrauch macht, so dass die Bestimmung im Wesentlichen leer läuft. Das wäre nur zu verhindern, wenn es unter den Volksvertretern mehr (nicht nur finanziell) unabhängige Persönlichkeiten gäbe. Aber diese sind äußerst selten gesät. Daran knüpft sich eine weitere Erfahrung. Die meisten Abgeordneten verwenden ihre Kräfte in einem zu hohem Maß auf die Erhaltung und den Ausbau ihrer Position, die Stellung in der Partei und die Interessenvertretung ihrer Wähler. Viel zu gering sind demgegenüber die Bemühungen um langfristige Ideen und Projekte, die das jeweilige politische Handeln als Teil einer übergreifenden Zielverfolgung erkennen lässt und so eine Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft herstellt. Dass nur auf der Basis eines solchen Zeithorizonts das politische Verhalten in der Gegenwart seinen Platz im Gesamtgeschehen und damit einen verständigen Sinn erhalten kann, ist alles andere als gängige Erkenntnis. In zahlreichen Gesprächen mit Politikern habe ich immer wieder versucht, diesen unabdingbaren Leitgedanken jeder guten Politik zu vermitteln, im Großen und Ganzen ohne nennenswerten Erfolg.
VI. Im Nachhinein ist man immer klüger – so lautet eine gängige Erkenntnis, die meist in Verteidigungsabsicht von Personen verwendet wird, die eine Entscheidung getroffen haben, die sich später wegen ihrer Folgen als Fehler herausstellt. Ob es ein Fehler war, dass ich (erfolgreich) für das Amte des Präsidenten des Bayerischen Senats kandidierte, kann ich auch im Nachhinein nicht eindeutig beurteilen, obwohl ich nach meiner ersten Wiederwahl (mit sehr gutem Ergebnis) bereits am Ende des dritten Jahres zurücktrat. Zweierlei ist allerdings sicher: Die drei Jahre haben mir ein großes Stück Gesundheit gekostet und es war ein Irrtum zu glauben, nicht nur als Senator, sondern auch als Senatspräsident (protokollarisch nach dem Ministerpräsidenten und dem Landtagspräsidenten das dritthöchste Staatsamt in Bayern) in erster
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Linie als Sachverständiger angesehen und behandelt zu werden. Ein Irrtum war vor allem die Hoffnung, man würde mir zugestehen, im Interesse einer sachgerechten Auseinandersetzung dem Zeitgeist so dann und wann ein Schnippchen zu schlagen und auch einmal am Rande des politisch Korrekten zu wandeln. Schon bei der ersten Pressekonferenz unmittelbar nach meiner Wahl wurde mir von einer berüchtigten Journalistin eines Münchner Boulevardblatts klar gemacht, dass man mich von vornherein in die rechte Ecke platziert habe und daher – so ließ sie sehr deutlich erkennen – als vogelfrei ansehe. Diesen Frontalangriff zum „Einstand“ replizierte ich mit der Bemerkung, dass ich mich stets bemühe, vernünftig und sachgerecht zu denken und zu handeln. Wenn das rechts sei, so möge man mich in die rechte Ecke platzieren; darin sähe ich eine Auszeichnung. Darauf hin kam verstecktes Lachen von anderen Journalisten auf, und ich wusste, dass ich mir den ersten Feind eingehandelt hatte, was mich aber zunächst nicht weiter störte, denn ich glaubte damals noch, man dürfe sich auch gegen Journalisten zur Wehr setzen. Aber dem war und dem ist nicht so. Journalisten sollte man nicht widersprechen, auch und vor allem dann nicht, wenn sie einen angreifen; man muss sie hofieren und versuchen, sie (mit allen Mitteln) für sich zu gewinnen. Sehr ratsam ist es auch, nicht zu sagen, was man denkt, es sei denn, man befi ndet sich ohnehin vollständig auf der Linie des vor allem von den Medien maßgeblich geformten Zeitgeistes und denkt ganz in diesem Korsett. Eine solche Situation erinnert auf fatale Weise an die Zeit der kommunistischen und faschistischen Diktatur in Deutschland. Die Älteren unter uns mussten sie noch am einen Leib erfahren. Lion Feuchtwanger, der (als Jude) unter den Nationalsozialisten zu leiden hatte, beschreibt auf ergreifende Weise das Wesen und die Folge des Denk- und Redeverbots in seinem Roman „Der Tag wird kommen“: „Freiheit ist kein Vorurteil. . ., Freiheit ist etwas sehr Bestimmtes, Greif bares. Wenn ich mir überlegen muss, was ich zu sagen habe, sagen darf, dann wird mein Leben enger, ich werde ärmer, ich kann schließlich nicht mehr unbehindert denken, ich zwinge mich gegen meinen Willen, nur mehr das ‚Erlaubte‘ zu denken, ich verkomme, ich sperre mich ein in tausend armselige Rücksichten und Bedenklichkeiten, statt unbehindert ins Weite und Große zu schauen, mein Gehirn verfettet. In der Knechtschaft atmet man: leben kann man nur in der Freiheit“. In der Diktatur hat das offene Wort tief einschneidende, oft tödliche Folgen. In der Demokratie kann der „einfache Mann“ weithin offen und ohne Sanktionen reden, wenn er nicht gerade strafrechtliche Vorschriften verletzt. Diese Möglichkeiten verengen sich aber für jeden, der in der Öffentlichkeit steht und auf die öffentliche Meinung einzuwirken vermag. Es kann sich um bekannte Sportler, Gewerkschafter, Arbeitgebervertreter, Religionsführer oder auch hohe Beamte handeln. Sie alle unterliegen mehr oder minder stark dem Denk- und Redeverbot der Political Correctness. Absolut gilt das Verbot für Politiker. Die Sanktionen bei Ungehorsam sind hier erheblich und sie sind umso erheblicher, je mehr die politisch unkorrekte Äußerung auf einen Missstand aufmerksam machen will, der schon lange hätte behoben werden müssen. Von den Medien wird der Betreffende stigmatisiert, oft zur abstoßenden Karikatur verzerrt, an den Pranger gestellt, von den anderen Politikern nicht selten beschimpft und herabgewürdigt, eher früher als später wird er sein Amt verlieren oder „kalt gestellt“, sein Ansehen ist oft auf Dauer beschädigt; er ist nicht mehr gesellschaftsfähig. Ein leidvoll selbst Betroffener (Dr. Thilo Sarrazin) spricht plastisch
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von einer „bürgerlichen Hinrichtung“. Die für unser Gemeinwesen aber besonders verderbliche Folge der politischen Korrektheit ist das damit verbundene strikte Verbot, auch nur ein Wort über die verpönte Aussage selbst zu verlieren, und dies umso mehr, je diskussionswürdiger sie ist. Beim Vorwurf etwa des Rassismus ist nur allseits helle Empörung möglich, nicht einmal die Frage darf gestellt werden, ob denn die gerügte Äußerung wirklich etwas mit Rassismus zu tun habe. Der Bote also wird bestraft, seine Botschaft nicht zur Kenntnis genommen. Erwägungen und Auseinandersetzungen über wichtige Fragen unseres staatlichen Gemeinwesens werden damit von vorneherein unmöglich gemacht und so eine Situation geschaffen, die der Demokratie als „Diskussionsgemeinschaft“ einen wichtigen Teil ihrer eigentlichen Stärke nimmt. Das muss auch zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen der politischen Klasse und den Bürgern führen, was einer der wichtigsten Gründe für die zunehmende Wahlenthaltungen sein dürfte und immer wieder, in den letzten Jahren vermehrt, zu offenem „Ungehorsam“ breiter Schichten der Bevölkerung (Stichwort: „Stuttgart 21“) geführt hat. Die Menschen trauen den Politikern immer weniger, fühlen sich von ihnen nicht mehr verstanden und vertreten. Als politischer Anfänger konnte ich mir zunächst nicht vorstellen, wie strikt und gleichsam absolut das Rede- und Denkverbot im politischen Aktionsbereich entgegen der verfassungsrechtlichen Garantie freier Kommunikation gehandhabt wird. Aber schon bald musste ich erkennen, dass selbst bei Beratungen mit manchen Senatskollegen, zu einem allerdings nur sehr geringen Teil sogar bei Mitarbeitern, höchste Vorsicht geboten war, selbst wenn es darum ging, die Lösung eines Problems in einem Gespräch zu entwickeln und verschiedene Lösungswege zu erörtern – ein in der Wissenschaft, aber wohl auch in einer sachgerechten Politik unabdingbares Procedere, um sich an mögliche Antworten heran zu tasten. In der Politik muss stets damit gerechnet werden, dass der eine oder andere Gesprächsteilnehmer nicht „dicht“ hält, Sätze und Gedankengänge aus dem Zusammenhang nimmt und das „Bruchstück“ sodann in der Öffentlichkeit als angeblich vollständiges Konzept des Sprechenden ausgibt, um ihm zu schaden; manche Medien bieten für derartige „Informationen“ sogar Geld. Brandgefährlich sind Gespräche mit Journalisten selbst. Dazu wiederum ein Beispiel: Bei meinem Besuch im Münchner Presseklub (ein Muss für jeden bayerischen Politiker) wurde ich unter anderem darauf angesprochen, dass es im Senat so wenige Frauen gebe und was ich zu tun gedenke, um dies zu ändern. Ich verwies auf meine insofern geringen Einwirkungsmöglichkeiten und antwortete auf den Vorschlag, eine Frauenquote einzuführen, dass Frauen keine Quoten nötig hätten. Aber ich warnte auch vor einem solchen Instrument, weil die Gefahr nicht auszuschließen sei, dass unter dem Druck der Quote auch einmal eine nicht so fähige Frau gewählt werden könnte, was der Gleichberechtigung der Geschlechter nur schaden würde. Am Ende der Pressekonferenz erhielt ich großen Beifall, was – wie mir der Leiter des Presseclubs sagte – nur selten vorkomme. In einem Boulevardblatt war am nächsten Tag zu lesen: „Senatspräsident hält Frauen für ein Senatorenamt nicht qualifiziert“. Diese Erlebnisse haben mein Verständnis von Freiheit und speziell von Medienfreiheit stark verändert. Vornehmlich der viel gelobte und für die Demokratie zutreffend als unverzichtbar bezeichnete politische Willensbildungsprozess, verfassungsrechtlich insbesondere durch die Kommunikationsgrundrechte garantiert, erschien
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mir gerade in der ihm zugesprochenen Freiheit und Offenheit schon bald und zunehmend als Farce. Ich musste erfahren und hatte zu lernen, dass man in der Politik keinen aufrichtigen und fairen Meinungsaustausch erwarten durfte. Vielen Journalisten konnte man sich mit ernsthaften und etwas tiefer gehenden Überlegungen gar nicht verständlich machen, andere benutzten sie für Verzerrungen und Verleumdungen. Hinzu tritt ein oft geradezu rüpelhafter Umgangston auch von Politikern untereinander. Ich erinnere mich an die Äußerung einer Abgeordneten der Grünen auf meine angebliche Abwertung der Frauen als Senatorinnen. Das war übelste Gossensprache, die ich nicht wiedergeben will. Der ganze Landtag hätte sich dafür schämen sollen. Aber was bedeutet heute schon noch Scham. Viele wissen gar nicht mehr, was das ist. Die Verrohung der politischen Sprache kommt freilich nicht von ungefähr. Bei allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht: Seine Rechtsprechung ist nicht schuldlos an diesem Fehlverhalten. Unter Nichtachtung des klaren Verfassungstextes, der auch das Recht der persönlichen Ehre als Schranke der Meinungsund Medienfreiheit bezeichnet, lässt es Beiträge zum geistigen Meinungskampf so gut wie grenzenlos zu, wenn es sich dabei nur um eine der Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage (politische Meinung) handelt. Viele Staatsrechtslehrer haben schon früh vergeblich versucht, das Gericht von dieser Rechtsprechung abzubringen,9 nicht nur, weil sie rechtlich nicht vertretbar ist, sondern auch weil voraus zu sehen war, welche verheerenden Folgen eine solche Freigabe nahezu jeder Art von Ehrverletzung haben muss. Um so mehr Respekt hatte und habe ich jenen Politikern und Journalisten gegenüber, die zu vornehm und zu sehr der Sache verpfl ichtet sind, um den durch das Gericht ausgestellten Freibrief zu nutzen. Dr. Roswin Finkenzeller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa, zu dieser Zeit zuständig für die Politik in Bayern, war einer von ihnen.
VII. Aber nicht nur Negatives gibt es zu berichten. Die Zeit im Senat hatte auch ihre guten Seiten. Meine Gastkommentare in verschiedenen Tageszeitungen, insbesondere im Münchner Merkur, wurden – wie die vielen zustimmenden Reaktionen zeigten – offenbar gerne gelesen, und die Vorträge, die ich in München und vielen anderen bayerischen Städten hielt, zeigten mir immer wieder, wie sehr sich die Menschen nach gediegenen Überlegungen und einer ehrlichen, allein an der Sache orientierten Argumentation sehnen. Dabei ging es mir vor allem darum, die freiheitlichen Elemente unserer Verfassung anhand aktueller Ereignisse möglichst allgemein verständlich zu vermitteln. Auch die Arbeit des Senats wollte ich auf diese Weise in der Öffentlichkeit bekannt(er) machen. Das war alles andere als einfach, denn unsere Diskussionen im Plenum und in den Ausschüssen waren durchweg nüchtern und ganz unspektakulär; nur wenige Kollegen verspürten den Drang oder gar das Bedürfnis, sich durch auffällige Aktionen öffentlich zu profi lieren. Politische „Highlights“, wie vor allem Boulevard- Journalisten sie lieben, konnten wir kaum bieten. Auch die von mir im Senat neu eingeführten Plenardebatten zu aktuellen Grundsatzfragen (z. B. 9
Siehe auch meine Beiträge in JZ 1983, 95 ff. und zuletzt in NJW 1996, 873 ff.
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„Die Telearbeit als wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitisch relevantes Faktum“ oder „Perfektioniertes Recht – Gefahr für den Rechtsstaat?“) mit Stellungnahme des jeweils zuständigen Ministers sowie mit externen Sachverständigen erregten weder bei den Abgeordneten noch bei den Medien die gewünschte Resonanz. Im ersten Jahr meiner Wiederwahl hielt ich sodann auch die Zeit für gekommen, dass sich Senat und Landtag einmal näher mit der Frage beschäftigen, wo die Schwerpunkte der beiden Institutionen liegen und auf welche Weise man sich am besten ergänzen kann. Dabei ging es nicht so sehr um Theorie, sondern vornehmlich um praktische Reflexion. Nun ist es gewiss nicht so, dass sich zu dem Verhältnis zwischen Landtag und Senat bis dahin niemand Gedanken gemacht hätte. Als Präsident des Senats aber konnte ich hoffen, mehr als der Wissenschaftler für meine Thesen Gehör in der Öffentlichkeit zu finden. Für den Anfang wählte ich die Form des Vortrags, den ich anlässlich eines Senatsbesuchs in einem Landkreis vor einem kleineren Kreis mit wenig Journalisten der lokalen Presse hielt. Weil ich die Empfi ndlichkeit der Abgeordneten kannte, vermied ich bei diesem „ersten Anlauf “ konkrete Vorschläge, beschränkte mich im Wesentlichen auf allgemein anerkannte Grundsätze und versuchte, den verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Status der beiden Institutionen näher zu umschreiben. Dazu gehörte auch die unbestrittene Feststellung, dass Abgeordnete in erster Linie keine Experten in bestimmten Bereichen, sondern vor allem Generalisten sein müssen, Senatoren dagegen Sachwissen auf speziellen Gebieten besitzen und mit diesem Wissen Landtag und Staatsregierung beratend zur Seite stehen können.10 Die bereits erwähnte berüchtigte Journalistin des Münchner Boulevardblattes, die bei dem Vortrag nicht anwesend war und ihn daher aus eigener Wahrnehmung nicht kennen konnte, titelte drei Tage später: „Senatspräsident hält die Abgeordneten für Deppen“. Eine große Münchner Tageszeitung legte – wie immer – schnell nach. Darauf hin ließ ich das Vortragsmanuskript ablichten und an alle Abgeordneten mit der Bitte schicken, sich selbst ein Bild zu machen. Aber dazu war die überwiegende Mehrheit augenscheinlich nicht bereit. Sie bildeten sich ihre Meinung allein auf Grund des journalistischen Hetzartikels, der nota bene so abgefasst war, dass jedenfalls der medienkundige Politiker ohne weiteres erkennen konnte, dass es sich um eine böswillige Verzerrungen handelte. Die wenigen Abgeordneten, die das Manuskript gelesen hatten, erkannten natürlich, was gespielt wurde. Dazu gehörte auch ein von mir besonders geschätzter Fraktionsvorsitzender. Er war gegen meinen Rücktritt, machte aber deutlich, dass auch er in der nächsten Plenarsitzung des Landtags meine Aussagen zurückweisen müsse. Es gäbe für ihn keine Alternative, denn ich könne „solche Überlegungen“ in einem wissenschaftliche Seminar anstellen, nicht aber im politischen Bereich. Da wusste ich, dass es Zeit war, zurück zu treten. Anders hätte sich wohl kaum verhindern lassen, dass ich beginne, im Sinne Feuchtwangers nur noch das „Erlaubte“ zu sagen und zu denken, mich in tausend armseligen Rücksichten und Bedenklichkeiten einzusperren, so dass mein Gehirn schließlich „verfetten“ würde. Dabei ging es nicht nur um den Erhalt meiner wissenschaftlichen Denkfähigkeit. Ich musste zurück treten, weil der Fraktionsvorsitzende 10 Der Vortrag (mit Literaturhinweisen) ist nachzulesen in: Verfassung als Verantwortung und Verpfl ichtung. Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshof, 1997, S. 155 ff.
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vollkommen Recht hatte. Sachentscheidung auf der Basis einer wirklich offen geführten Diskussion mit dem Bemühen, gemeinsam die beste Lösung zu fi nden, werden in der Politik kaum noch geduldet. Ich will nicht übersehen, dass es immer wieder und auch heute noch Politiker gibt, die sich um fundierte Sachentscheidungen bemühen; aber diese Persönlichkeiten sind nicht mehr typisch für politisches Handeln. In der Regel kommen sie auch immer seltner in maßgebliche Positionen oder die ihnen bereiteten Hindernisse werden mit der Zeit so groß, dass sie aufgeben und die Politik verlassen. Dr. Friedrich Merz und Dr. Roland Koch sind ebenso Beispiele wie die Tatsache, dass es immer schwerer wird, exzellenten Nachwuchs zu finden. Der heutige Politiker sucht in erster Linie Konzepte, die sich „verkaufen“ lassen und Wähler anziehen. Es geht um Macht; dafür wird fast alles geopfert, auch die Glaubwürdigkeit. Ein Paradebeispiel ist Frau Andrea Ypsilanti,11 und sie ist nur ein Beispiel unter vielen. Eine Machtstrategie ist auch die Kunst des Verdrängungswettbewerbs. „Die politische Klasse oder Kaste“ – so Günther Nonnenmacher12 – „scheint ihre Hauptenergie auf die Frage zu verwenden, wie man Konkurrenz-Parteien schaden oder einzelnen Politikern am Zeug fl icken kann. Der Umgang mit Parteifreunden oder Koalitionspartnern unterscheidet sich da nur in Nuancen vom Kampf gegen den politischen Gegner.“ Unter diesen Umständen drängt sich natürlich die Frage auf, wo das Gemeinwohl eigentlich noch seinen Platz finden kann. Die Reaktionen auf meinen Rücktritt lösten bei mit zwiespältige Gefühle aus. Auf der einen Seite freute ich mich über die Flut von Briefen und Anrufen, in denen Anerkennung für meine Haltung und großes Bedauern über den Rücktritt geäußert wurde; auf der anderen Seite musste ich feststellen, dass den Beurteilungen durchweg der Hetzartikel in der Boulevardzeitung zugrunde lag und die Meisten meine angebliche Meinung teilten, dass die Abgeordneten „Deppen“ seien. Wenn das so weiter geht, dachte ich, dann kommt unserer Demokratie das Volk abhanden. Schließlich kam dann auch, was nach meinem Rücktritt zu befürchten gewesen war: Der Bayerische Senat wurde (durch Volksentscheid) abgeschafft. Roswin Finkenzeller 13 brachte es in einem Satz auf den Punkt: „Als die Senatsgegner erkannten, wie kinderleicht es war, dem Verfassungsorgan Schaden zuzufügen, planten sie dessen Eliminierung.“ In diesen Zusammenhang gehört auch das Eingeständnis einer tiefen menschlichen Enttäuschung über das Verhalten meiner Senatskollegen.14
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Dazu meine Ausführungen in JÖR 57 (2009), S. 39 (40 ff.). Die Krise der Politik, in: FAZ vom 15. Juni 2010, S. 1. 13 Ratschläge, in: FAZ vom 10. Februar 1998, S. 1. 14 Dazu nochmals Finkenzeller (Fn. 13), der es objektiver sehen konnte als ich: „Den entscheidenden Fehler beging der Senat, als er seinen vorletzten Präsidenten im Stich ließ. In Übereinstimmung nicht nur mit der Volksmeinung, sondern auch mit der Wahrheit hatte Professor Schmitt Glaeser zu erklären gewagt, Landtagsabgeordnete seien eines guten Rates sehr bedürftig. Das Gezeter, das sich allenthalben erhob, hätte für die 59 Senatoren ein Anlass sein müssen, den Präsidenten zu verteidigen und in seinen angefochtenen, aber zutreffenden Ausspruch den Nachweis ihrer eigenen landespolitischen Existenzberechtigung zu erblicken. Statt dessen schwiegen sie und schauten zu, wie Schmitt Glaeser zurücktrat.“ 12
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VIII. Bevor ich den Politikbetrieb von Innen her kannte, hatte ich eher eine gute Meinung von Politikern und verteidigte sie gegen Kritik, vor allem gegen despektierliche Angriffe. Was die Journalisten betrifft, so glaubte ich, gut mit ihnen auskommen zu können, wenn sie mein ernsthaftes Bemühen um das allgemeine Wohl erkennen. Wenigstens hatte ich faire Behandlung erwartet. Wie schon gesagt: Ich irrte mich gründlich. Nun müssen wir alle mit unseren Irrtümern leben. Sie können auch eine wertvolle Belehrung sein. Ich hörte einmal von einer Waldlichtung, die nur von Menschen entdeckt werden kann, die sich verirrt haben. Vielleicht führen auch geistige Verirrungen zu Entdeckungen, die sich anders nicht gewinnen lassen. Ich war bereit, aus meinen Erfahrungen zu lernen, mich neu zu orientieren, allerdings nicht im Wege persönlichkeitsfremder Anpassung; ich wollte mich schließlich nicht selbst verlieren. Hier verläuft die absolute Grenze. Aber bei allem guten Willen zu einer Neueinstellung war mir nun doch klar geworden, dass ich das Milieu wechseln und zurück musste in mein vorheriges Leben als Wissenschaftler (mit gelegentlichen Ausflügen in die Praxis). Ich passte einfach nicht in diese politische Landschaft. Was ich mitnahm – und das lässt sich als der eigentliche Gewinn bezeichnen – war eine hochgradige Sensibilität für das Verhältnis von Politik und (Verfassungs-)Recht; es ließe sich vielleicht auch vom Erlernen eines „praktischen Staats- und Verfassungsrechts“ sprechen. Dieses Erlernen geschah in einem längeren Prozess, dessen Zielrichtung mir nicht sogleich bewusst war. Die ersten Anzeichen zeigten sich in meinen Lehrveranstaltungen. Ich hatte immer schon gerne mit Beispielen gearbeitet, um den Studenten das Recht und seine Theorie begreif barer zu machen. Nun aber schlichen sich immer mehr Beispiele ein, bei denen es nicht mehr um die praktische Erklärung der Theorie ging, sondern die Praxis und Theorie als schwer oder gar nicht vereinbar erscheinen ließen. Dabei konnte ich feststellen, dass Unvereinbarkeiten mehr noch als erklärende Beispiele pädagogisch wertvoll waren, weil sie vor allem in Seminarsitzungen immer wieder zu anregenden, oft auch hitzigen Debatten führten, die den Studenten das Verstehen des Rechts und seiner Strukturen erleichterten. Das führte dann auch dazu, dass ich nach meiner Emeritierung einen Grundriss zum Verfassungsrecht15 schrieb, der zwar auch nötige Informationen enthält, dessen Schwerpunkt aber auf dem Bemühen liegt, ein näheres Verständnis der rechtlichen Grundlagen unseres Staatswesen zu ermöglichen. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass ich noch während der letzten Jahre im Senat begann, mich mit Verhaltenswissenschaften, später speziell auch mit der Hirnforschung zu beschäftigen. Über Liebhaberei bin ich zwar nicht hinausgekommen, aber die Einblicke haben mir geholfen, die Verhaltensweisen der Menschen (auch der Politiker) um mich herum etwas besser zu verstehen. In einigen Aufsätzen16, vor allem aber in dem genannten Buch, konnte ich schließlich einiges von meinem spärlichen Wissen verwenden. Weitere Studien haben mich in der Ansicht bestärkt, dass eine Zusammenarbeit dieser Wissenschaften mit der Jurisprudenz (nicht nur im Strafrecht) sehr fruchtbar sein könnte. 15
Titel: Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 2008. Z. B. Individuelle Verhaltenssteuerung im Bereich der inneren Sicherung, in: Festschrift für Jürgen Vogel, 2000, S. 353 ff. 16
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Keineswegs als Gewinn, aber vielleicht als notwendige Einsicht, sind dagegen die ernsthaften Zweifel an unserem freiheitlich-demokratischen System zu bewerten, die mich durch das handfeste Erleben praktischer Politik schon früh befielen und im Laufe der Zeit immer stärker wurden. Ich möchte nicht verschweigen, dass mich diese Einsicht erheblich belastet und ich mir immer wieder die Frage stelle, ob wir Staatsrechtslehrer gerade im Bereich der Lehre genug getan haben, um die Vorzüge unseres Verfassungssystems zu vermitteln. So sehr ich mich mit der freiheitlichen Ordnung unseres Grundgesetzes identifiziere, so sehr trifft mich jede Fehlentwicklung nicht allein berufl ich, sondern in meiner ganzen Person. Dabei bin ich alles andere als ein Pessimist oder gar ein notorischer Schwarzseher, der die nach wie vor auch positiven Seiten unseres staatlichen Gemeinwesens nicht sehen kann oder will. Ich bin aber entschieden der Auffassung, dass politische Fehlentwicklungen deutlich benannt und realistisch eingeschätzt werden müssen. Und eine solche Einschätzung gibt nun einmal zu erheblichen Befürchtungen reichlich Anlass. Das zeigen meine eigenen Erfahrungen in der Politik, aber nicht nur diese. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Hinweisen auf erhebliche Verwerfungen in unserem System, die mich sehr beunruhigen und zu einem negativen Teil meines Lebens geworden sind. Einige Stichworte sollen die Lage illustrieren: Wenn das politische Personal und damit die Repräsentanten des Volkes kaum noch Anerkennung erfahren und nur wenig Vertrauen genießen, viele Menschen nicht mehr daran glauben mögen, dass sich die Politiker in erster Linie dem allgemeinen Wohl verpfl ichtet fühlen und keinen Respekt mehr vor der Führung des Staates haben, dann schwindet das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt wird brüchig. Überdies hat sich auch das Volk selbst ganz erheblich verändert. Das gilt vor allem für die Einstellung zur Freiheit. Verblasst ist das glückliche Erleben, dass Freiheit aus der Würde erwächst, individuelle Autonomie verbürgt, den „aufrechten Gang“ möglich macht, „Luft zum Atmen“ ist; verblasst auch die Selbstverständlichkeit, dass, wer Selbstbestimmung für sich in Anspruch nimmt, die Folgen seines Verhaltens bedenken und die Verantwortung dafür übernehmen muss. In der bloßen Forderungsfreiheit verliert sich das Gefühl für eigene Pfl ichten. Auch die Einstellung zum Gebot der Gleichheit ist anders geworden. Wenn immer mehr Menschen nach einer längeren Zeit des Wohlstandes glauben, ihr Wohlleben sei naturgegeben, also selbstverständlich und nicht auf Können, Fleiß und Opfer vieler anderer Menschen zurück zu führen, dann wird auch Leistung und Erfolg nicht mehr angemessen honoriert, geschweige denn bewundert, sondern eher als (unverdientes) Glück angesehen und als Ungerechtigkeit empfunden.17 Um den scheinbaren Mangel an „sozialer“ Gerechtigkeit zu beheben, greift der Staat zunehmend rigoroser in die vornehmlich der Gesellschaft, insbesondere dem Wettbewerb obliegende Güterverteilung ein, so dass sich die (freiheitliche) Chancengleichheit tendenziell zur (sozialistischen) Ergebnisgleichheit verschiebt. Die Folgen dieser Eingriffe lassen sich inzwischen schon sehr deutlich erkennen: Das Individuelle als das eigentlich Menschliche am Menschen verliert an Kontur, dominant wird der Zug ins Massenhafte, man neigt zur Nivellierung und zum Lob des Durchschnittlichen. Die Menschen werden zwar nach wie vor frei und gleich geboren, aber anschließend versucht man mit viel Eifer, 17
Dazu auch José Ortega Y Gasset, Der Aufstand der Massen (1926), S. 60 f.
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sie immer gleicher zu machen; nicht nur der Spielraum für Freiheit wird zunehmend verengt, auch das Streben nach ihr geht immer mehr verloren. Der Weg führt in den Betreuungs- und Bevormundungsstaat, der den Menschen Aufgaben abnimmt, deren Bewältigung in erster Linie ihre Sache und nicht Sache des Staates wäre. Irgendwann ist es dann so weit, dass sich der Bürger in der staatlichen Gängelung bequem eingerichtet hat und sie gelegentlich auch erzwingt. Welch’ schöne neue Welt. Endlich scheint nun auch das Volk erkannt zu haben, dass es nur schädlich sein kann, dem Individuum seinen Lebensstil zu überlassen, selbst dann, wenn es anderen damit nicht schadet. Der bayerische Volksentscheid im Jahr 2010 für ein striktes Rauchverbot ist dafür ein aussagekräftiges Beispiel. Bestätigt können sich nun auch jene Politiker fühlen, die schon immer der Auffassung waren, dass der Staat allemal besser wisse, was dem Einzelnen frommt. Diese Einstellung fi ndet sich vor allem auch in der Europäischen Kommission und in großen Teilen des Europäischen Parlaments. Es wird dort zwar recht viel von Grundrechten geredet, von der Eigenständigkeit des Individuums aber hält man recht wenig. Auf den ersten Blick anders erscheint die Einstellung zur Freiheit des Konsums. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wird sie als richtiger Lebensstil geschützt und allseits gefördert. Schließlich schafft sie Arbeitsplätze und ist die Basis für den Spaß in der Spaßgesellschaft und damit konstituierend. Produktion und Konsum sind inzwischen die Dominanzfaktoren unserer Kultur. Ein westdeutscher Politiker sah sogar den eigentliche Grund für die friedliche Revolution, die 1989 zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte, in dem Wunsch der Menschen nach Wohlstand, nicht nach Freiheit; als Symbol dafür zeigte er eine Banane, die es in der ehemaligen DDR nicht zu kaufen gab. Er erntete dafür viel Empörung, zu Recht wie ich meine, jedenfalls was die treibenden Kräfte der Revolution angeht. Insgesamt spricht aber heute doch vieles dafür, dass der Drang nach Freiheit und Verantwortung auch und gerade im Osten der Republik weit hinter dem Streben nach Konsum und staatlicher Unterstützung zurück bleibt. Auf den ersten Blick erscheint freilich auch die Konsumfreiheit als eine Spielart der Freiheit. Tatsächlich ist sie heute aber nur noch eine Scheinfreiheit. Ihr fehlt, was die Freiheit vor allem ausmacht, nämlich die Freiheit der Wahl. Konsumismus hat insofern gewisse Ähnlichkeiten mit dem Marxismus: der eine ist im privaten Bereich totalitär, der andere im politischen. Denn schon lange geht es beim Konsum nicht mehr darum, dass die Erzeuger den Bedürfnissen und Wünschen der Verbraucher dienen. Eine aggressive, alles beherrschende und mit äußerst raffi nierten Mitteln der Beeinflussung arbeitende Werbung stellt vielmehr sicher, dass der Konsument den Profitvorstellungen der Konzerne dient und kaum die Chance einer autonomen Entscheidung hat. So wird der Mensch auch im privaten Bereich des Konsums an die Hand genommen und gelenkt: Bevormundungsstaat und Konsumgesellschaft ergänzen sich auf fatale Weise; sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille. All diese Feststellungen machen nicht glücklich, aber ihre deutliche Benennung macht Sinn, weil damit der erste Schritt zu positiven Veränderungen möglich wird. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Besonders wichtig wäre die Besinnung auf die nachhaltigen Auswirkungen jeder willkürlichen Beschneidung individueller Autonomie für den freiheitlichen Staat insgesamt. Diesen kann es nur so lange geben, wie es den freien und selbstverantwortlichen Bürger gibt, der auf seine Freiheit und auf
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seine Leistung stolz ist. Der Wert einer staatlichen Gemeinschaft bestimmt sich danach, inwieweit es ihr gelingt, gleiche Freiheit als Recht und gleiche Verantwortlichkeit als Pfl icht zu einem harmonischen Ganzen zu fügen. Die abschließende Bemerkung zur „Sorge um die Freiheit“ muss in dem Eingeständnis bestehen, dass mein vorrangiges Bemühen, die individuelle Freiheit wo immer möglich und nötig zu stärken und zu verteidigen, nicht den Erfolg hatte, den ich mir, nicht zuletzt auf Grund meines unermüdlichen Einsatzes erhoffte. Freiheit scheint nicht mehr „modern“ zu sein, oder, wie Volker Zastrow 18 resigniert feststellt: „Deutschland hat kein Verhältnis zur Freiheit“. Für meine Analysen und Warnungen, die ich in den letzten Jahren verstärkt habe, konnte ich wenig Resonanz finden. In der Sorge um die Freiheit muss man sich heute ziemlich einsam fühlen. Nicht nur das Alte, auch die Alten verlieren an Einfluss. Auch diese Selbsterkenntnis gehört zur Selbstdarstellung.
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Körperzellenrock, in: FAS vom 12. September 2010.
Deutsche Staatsrechtslehrer
Hans Schneider 11. Dezember 1912 – 9. Juli 20101 von
Prof. Dr. Reinhard Mußgnug, Universität Heidelberg Am 9. Juli 2010 ist Hans Schneider, seit dem Wintersemester 1955/56 o. Professor für öffentliches Recht in seinem Haus in Heidelberg im Alter von 97 ½ Jahren verstorben. Sein Leben hat sich über fünf Epochen der jüngeren deutschen Geschichte erstreckt: Das Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Hitler-Zeit, die vorkonstitutionellen Nachkriegsjahre und schließlich das neue Deutschland des Bonner Grundgesetzes. Als Kaiser Wilhelm II. am 9. November 1918 abdankte, war Hans Schneider allerdings noch keine sechs Jahre alt. Der Zusammenbruch der Monarchie und die blutigen Dezember-Unruhen des Jahres 1918 mit ihren Berliner Straßenkämpfen 2 werden gleichwohl nicht unbemerkt an ihm vorbeigegangen sein. Mit wachem Blick dürfte er aber wohl erst die Weimarer Republik erlebt haben. Deren Untergang und die ihm folgenden 12 Jahre der Diktatur und des Krieges haben ihm Prüfungen auferlegt, wie sie uns, den später Geborenen, gottlob erspart geblieben sind und uns gerade deshalb vor die bange, aber unausweichliche Frage stellen, ob auch wir sie ebenso unangefochten wie er bestanden hätten.
I. 1. Hans Schneider war Berliner, freilich nur der Erste seiner Familie, der in Berlin zur Welt gekommen ist, genauer – wie er gerne betonte – in dem im Westen Berlins gelegenen Stadtteil Friedenau. Seine Eltern waren wie viele Berliner schlesischer 1 Überarbeitet Fassung des Vortrags, den ich am 12. Juli 2011 bei der Akademischen Gedenkfeier der Juristischen Fakultät Heidelberg für Hans Schneider gehalten habe. Was ich berichte, stützt sich auf die im Universitätsarchiv Heidelberg verwahrte Personalakte Hans Schneiders sowie auf ausführliche Gespräche, die ich mit seiner Frau Christine Schneider, geb. Freiin von Saurma-Jeltsch, und mit seinem Sohn Carl Erik Schneider, Architekt in Starnberg, habe führen können, sowie auf das, was mich Hans Schneider selbst in den langen Jahren seit 1957 hat wissen lassen, in denen ich sein Schüler, sein Mitarbeiter, sein Kollege und sein Freund habe sein dürfen. 2 Zu ihnen Mußgnug, 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung, in: ZjS 2009 (4), 346 ff., 353.
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Reinhard Mußgnug
Herkunft. Sie kamen aus Görlitz. Der Vater – Carl Schneider – war Postbeamter und ab 1922 Steueramtmann beim Finanzamt Steglitz.3 Seine Mutter Maria, geborene Lepper, gehörte zu den ersten Telegrafistinnen im Dienst der Preußischen Eisenbahn. Nach der Grundschule – damals noch Volksschule genannt – besuchte Hans Schneider das Friedenauer Rheingau-Realgymnasium. Ihm verdankte er unter anderem seine vorzüglichen Englisch- und Französisch-Kenntnisse sowie mehrere Austauschaufenthalte in Schweden, von denen die profunde Vertrautheit mit dem Schwedischen herrührte, mit der er hin und wieder zu überraschen wußte. Das Rheingau-Gymansium hat Hans Schneider auch zur Jugendbewegung geführt. Unter ihren Schülern hatte sich ein Wanderring gebildet, der ihm die eigenständige, unverzagte, dem anderen gegenüber stets aufgeschlossene Lebenshaltung vermittelt hat, die alle kennzeichnet, die im Bannkreis der Jugendbewegung aufgewachsen sind. Hier ist wohl die Quelle seiner Fähigkeit zur festen Freundschaft zu suchen, die nicht das schnelle „Du“ und die „breite Vernetzung“ sucht, sondern sich auf Verläßlichkeit und Uneigennützigkeit gründet. In Hans Schneiders Abiturzeugnis ist vermerkt, daß er Mathematik studieren wolle. Ein Verwandter hat ihm jedoch nahegebracht, daß sein Faible für die Mathematik ein sicheres Zeichen einer besonderen Begabung für das Studium der Rechtswissenschaft sei, das ihm breitere Möglichkeiten öffnen werde. Diesem Rat ist Hans Schneider gefolgt. Weil er sich als rundum richtig erwiesen hat, hat er ihn häufig weitergegeben. Aber er war auf die Mathematik nicht festgelegt. Bei schwachen Mathematikern ließ er – unter anderem zu meinem Vorteil – auch ordentliche Lateinkenntnisse gelten. 2. Sein Studium begann Hans Schneider im Oktober 1931 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, wo ihn vor allem die Vorlesungen Rudolf Smends und Heinrich Triepels beeindruckt haben. Im Oktober 1932 wechselte er für zwei Semester nach Freiburg. In dieses Freiburger Jahr fiel der Zusammenbruch der Weimarer Republik, der ihn aufgewühlt und erschüttert hat. Das belegt ein Bericht aus dem Jahre 1988, in dem er sein Erleben jener Schicksalsmonate aufgezeichnet hat.4 Dieser Bericht trägt die Züge eines „politischen Vermächtnisses“. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, daß er in den Sammelband seiner „Ausgewählten Schriften“ aufgenommen werde, den Paul Kirchhof, Eberhardt Schmidt-Aßmann und ich 2002 anläßlich seines 90. Geburtstags herausgegeben haben.5 3 Den Wechsel des Vaters von der Post zur Finanzverwaltung erzwang das „Gesetz über die Reichsfi nanzverwaltung“ vom 10. September 1919 (RGBl. S. 1591), mit dem die Weimarer Nationalversammlung das Reich erstmals mit einer eigenen Steuerverwaltung ausgestattet hat. Deren Beamtenschaft mußte von den anderen Reichsbehörden, allen voran von der Reichspost, gestellt werden. Carl Schneider ist nicht gerade gerne zur Finanzverwaltung gegangen. Weil er im esprit de corps der Post feste Wurzeln geschlagen hatte, brauchte er seine Zeit, um sich mit seinem neuen Arbeitsfeld anzufreunden. 4 „Die staatsrechtlichen Ereignisse 1932/33 aus der Sicht eines Freiburger Studenten“ in: Freiburger Universitätsblätter 100 (1988), S. 71 ff. 5 Mußgnug/Kirchhof/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), „Ausgewählte Schriften – Hans Schneider“, 2002, S. 25 ff.
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Das Freiburger Jahr hat Hans Schneider den Durchbruch vom befl issenen zum begeisterten Jura-Studenten gebracht. Das „studium generale“ hat er darüber keineswegs vernachlässigt. Er hat Martin Heideggers Philosophie-Vorlesung mit reger Anteilnahme gehört. Über die Irritationen des Jahres 1933 hat sie ihm freilich nicht hinweggeholfen. „Es fehlte“, so schreibt er, „der konkrete Entschluß, oder wie Carl Schmitt gesagt hätte, die Dezision, auf die jeder Jurist lossteuern muß, während der Philosoph sich im ewigen Gespräch ergehen darf.“6 Auch Heideggers ebenso berühmte wie befremdende Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 hat Hans Schneider gehört. Die Suggestivkraft, mit der sie „die Größe und Herrlichkeit des Aufbruchs“ in die Zeit jenseits Weimars gefeiert hat, schlug für ihn die Brücke zu Smends Integrationslehre. „Aha, sagte ich mir“, so hielt er 1988 fest, „da befinden wir uns also im Frühjahr 1933 in einem lebensgesetzlichen Prozeß der Einswerdung von Volk und Staat, einem dialektischen Prozeß, weswegen These und Gegenthese . . . notwendig sind, um zur Synthese zu gelangen.“ „Die Wirklichkeit war aber anders“, erkannte er freilich bald. Als Rektor hat Heidegger im Sommersemester 1933 die Freiburger Studentenschaft zu einem jener Gleichschaltungs-Appelle unter freiem Himmel einberufen, wie sie – soweit ich weiß – an so gut wie allen deutschen Universitäten stattgefunden haben. Auch daran hat Hans Schneider teilgenommen. Das ist nicht ohne Folge geblieben. Die Veranstaltung endete mit Heideggers Erklärung, daß alle Anwesenden mit ihrer Eintragung in die Teilnehmerliste Glied der nationalsozialistischen Bewegung geworden seien. Was das heißen sollte, erfuhr Hans Schneider ein paar Monate später in Berlin, wo man ihm eröffnete, daß er als Teilnehmer jenes rektoralen „teach in“ in die NSDAP aufgenommen worden sei. Ich weiß von anderen, z. B. von dem Pathologen Wilhelm Doerr, Hans Schneiders langjährigem Nachbarn in Heidelberg in der Ludolf Krehlstraße, daß ihnen das Gleiche widerfahren ist.7 Zu mehr als einer Formal-Mitgliedschaft hat sich Hans Schneider allerdings nicht vereinnahmen lassen. Im Sinne der NSDAP betätigt oder auch nur geäußert hat er sich nie. Er entdeckte vielmehr rasch, was es mit der von Heidegger ausgerufenen „Größe und Herrlichkeit des Aufbruchs“ auf sich hatte: Im Sommersemester 1933 hatte der Römischrechtler Fritz Pringsheim seine Vorlesung noch unbehindert halten können; 8 Hans Schneider hatte sie gehört und aus ihr Gewinn gezogen. Zurückgekehrt nach Berlin erfuhr er, daß auch Pringsheim wegen seiner jüdischen Herkunft dem berüchtigten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“9 zum Opfer gefallen und mit der Vertreibung von seinem Lehrstuhl bedroht worden war. Das hat sein Gefühl für Gerechtigkeit gekränkt. Mit der ihm eigenen wohlüberlegten Spontaneität schrieb er Pringsheim einen Brief, in dem er ihn – damals Student im 5. Semester – seiner „bleibenden Verbundenheit und Anhänglichkeit“. versicherte. Pringsheim hat ihm gedankt mit den Worten: „Sie haben mir mit Ihrem Brief eine Freude gemacht. Auch in diesem Sommer habe ich wieder die Erfahrung gemacht, daß die deutschen 6
AaO (Fn. 5), S. 34. Wilhelm Doerr hat darüber in einem leider unveröffentlicht gebliebenen autobiographischen Vortrag vor Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung berichtet. 8 Darüber berichtet auch Tony Honorè, http://users.ox.ac.uk/~alls0079/fritz2.pdf, S. 6. 9 Vom 7. 4. 1933 (RGBl. I, 175). 7
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Studenten vortrefflich und grundanständig sind.“10 „Vortrefflich und grundanständig“: Damit hat Pringsheim die Attribute genannt, die Hans Schneider lebenslang und auch in der schwierigen Zeit von 1933 bis 1945 ausgezeichnet haben. 3. Mit Erik Wolf hat Hans Schneider in Freiburg seinen Doktorvater gefunden. „Gerichtsherr und Spruchgericht“ lautete das Thema seiner Dissertation. Es ging um die Geschichte der Kriegsgerichte, insbesondere um ihren Weg zur richterlichen Unabhängigkeit vom „Gerichtsherrn“, dem militärischen Befehlshaber. Eigentlich wollte Hans Schneider die Arbeit in Freiburg zu Papier bringen, wo Erik Wolf ihm für die Zeit nach dem Referendarexamen eine Assistentenstelle in Aussicht gestellt hatte. Das zerschlug sich jedoch. Art. 33 Abs. 1 GG gab es noch nicht. Das nutzte das Land Baden dazu aus, Landesfremde aus seinem Referendardienst auszusperren, es sei denn, sie präsentierten einen Badener, der bereit war, mit ihnen den Platz zu tauschen. Einen Badener, der für ihn nach Berlin gegangen wäre, hat Hans Schneider trotz energischer Suche nicht gefunden. So mußte er nach Berlin zurückkehren, dort das Referendarexamen ablegen11 und Kammergerichtsreferendar werden. Die Freiburger Promotion ist daran nicht gescheitert, wohl aber die Assistentenstelle bei Erik Wolf. Auch das hatte freilich sein Gutes: In Erik Wolfs Schule wäre Hans Schneider Straf- und Kirchenrechtler, Rechtsphilosoph und Rechtshistoriker geworden. 4. Hans Schneiders Weg zum öffentlichen Recht, seiner eigentlichen Berufung, führte über Carl Schmitt, der ihn in seinen Vorlesungen an der Wilhelms-Universität kennengelernt – genauer entdeckt – hat. Er empfahl ihn seinem im gleichen Jahr an die Berliner Wirtschaftshochschule berufenen Schüler Werner Weber. Als dessen Assistent entfaltete Hans Schneider von 1935 an eine rege Publikations- und Rezensentenarbeit, letztere vor allem in der national-konservativen Zeitschrift „Der Wirtschaftsring“. Die Promotion erfolgte im Juni 1937, wie gesagt in Freiburg, das Assesorenexamen im Dezember 1938 wieder in Berlin.12 Damit war der Weg frei zur Habilitation. Das Thema der Habilitationsschrift verdankte Hans Schneider einer Anregung von Johannes Popitz, mit dem Carl Schmitt ihn bekannt gemacht hatte. Es galt dem „Preußischen Staatsrat“. Carl Schmitt hat diese Empfehlung lebhaft unterstützt. Sie bot die willkommene Gelegenheit, sich vom geltenden Staatsrecht des NS-Regimes fernzuhalten. Es war daher nur konsequent, daß Hans Schneider sein Thema mit dem Zusatz „1817–1848“13 eingrenzte. Das erlaubte ihm, sich auf die vordringlich interessante Zeit des preußischen Vormärz zu beschränken, in der der Staatsrat das Parlament ersetzt oder, wenn man so will, sein Fehlen notdürftig verhüllt, aber gleichwohl bedeutende Reformarbeit geleistet hat. So konnte Hans Schneider dem geltenden öffentlichen Recht des NS-Regimes ausweichen, das ihn zu Stellungnahmen und Lippenbekenntnissen genötigt hätte. Er hat mit anderen Worten die Flucht in die Verfassungsgeschichte angetreten. Johannes Popitz, der ihm zu ihr den Weg gewiesen hat, blieb er über dessen Ermordung durch das Blutgericht Roland Freislers in dankbarem Gedenken verbunden. Es war ihm ein Anliegen, daß Johannes Popitz unter seinen Schülern nicht in Verges10
Pringsheims Brief datiert vom 9. 8. 1933; er befi ndet sich in Hans Schneiders Nachlaß. Im März 1935 nach seinem 7. Semester in Berlin mit der Spitzennote „lobenswert“. 12 Dieses Mal mit der Note „gut“. 13 Die Jahre von 1848 bis 1918 hat Hans Schneider erst 1952 für die Publikation der Habilitationsschrift hinzugefügt. 11
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senheit geriet. Ich besitze eine Kopie, des grauenhaften Freislerschen Schandurteils über Johannes Popitz, die mir Hans Schneider in den 70er Jahren überlassen hat. Viel Zeit für die Habilitationsschrift blieb Hans Schneider nicht. Ihm stand die Einberufung zum Wehrdienst ins Haus, den er 1939 hat antreten müssen. Die Beförderung zum Leutnant zum 1. Januar 1940 erreichte ihn noch vor der Habilitation am 7. Februar des gleichen Jahres. Mit knapp 27 Jahren war Hans Schneider ein für heutige Verhältnisse ungewöhnlich junger Privatdozent. Vor allem aber war er der wohl erste deutsche Habilitand, der seinen Probevortrag in der Uniform des InfanterieLeutnants hielt; sie hat ihm den 1940 für den Probevortrag noch üblichen Frack ersetzt, ohne ihn dem Vorwurf eines Verstoßes gegen die akademische Kleiderordnung auszusetzen. Von seiner venia legendi hat Hans Schneider allerdings keinen Gebrauch machen können. Es war Krieg, und er stand von Anbeginn an – wie das damals hieß – „im Felde“, zunächst an der Westfront, dann nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion bis zum Ende an der Ostfront, zuletzt als Oberstleutnant der Reserve und Kommandeur eines Infanterieregiments. Seinen ersten Ruf an die Universität Greifswald erhielt Hans Schneider gleichwohl schon 1940. Er tat das damals wie heute Undenkbare: Entgegen der eisernen Regel, daß der Privatdozent seinen ersten Ruf auf Gedeih und Verderb anzunehmen hat, lehnte Hans Schneider den Greifswalder Ruf ab! Er hatte einen Heimaturlaub zu einer Inkognito-Reise nach Greifswald genutzt und dort alles für den Geschmack eines in dieser Hinsicht verwöhnten Berliners als zu kleinstädtisch empfunden.14 Trotz des Greifswalder Regelverstoßes erreichte Hans Schneider 1943 ein zweiter Ruf auf eine außerordentliche Professur in Breslau, dem er um so freudiger gefolgt ist. Zu mehr als zum gelegentlichen Vorbeischauen in Breslau während des einen oder anderen Fronturlaubs kam es allerdings nicht. Vorlesungen konnte Hans Schneider auch dort nicht halten. Das haben der Krieg und sein Ausgang verhindert. Immerhin fand er aber Zeit und Gelegenheit, die Bibliothek des Breslauer Instituts für Staats- und Völkerrecht auf Lastwagen verstauen und an einen sicheren Ort verbringen zu lassen, von dem sie nach dem Krieg wieder an ihren alten Standort zurückgekehrt ist und dort nach wie vor von der nunmehr polnischen Breslauer Juristen-Fakultät genutzt wird. Am 15. Januar 1945 endete für Hans Schneider sein bis dahin so gut wie ununterbrochener Fronteinsatz mit einer schweren Verwundung. Sie trug ihm den Rücktransport aus dem Baltikum über die Ostsee in ein Lazarett in Sachsen und von dort im April 1945 zurück nach Berlin ein, wo er das Kriegsende als langsam Genesender im St. Gertrauden-Krankenhaus in Wilmersdorf erlebt hat. Der russischen Gefangenschaft ist er entgangen. Die Nonnen des St. Gertrauden-Krankenhauses haben ihn in ihrem Garten vor den Russen versteckt. Als im Juni 1945 amerikanische Truppen in Dahlem einzogen, war die Gefahr der Gefangennahme gebannt. Hans Schneider konnte zu seinen Eltern nach Friedenau heimkehren. 14 In seiner Heidelberger Abschiedsvorlesung vom 11. 2. 1981 berichtete Hans Schneider darüber: „Als ich meinem Lehrer Werner Weber zu erkennen gab, ich beabsichtigte diesen Ruf abzulehnen, zeigte er sich bestürzt. Wenn ich ein solches Angebot ausschlüge, würde ich nie wieder von dem damaligen Reichsministerium ein Berufungsschreiben erhalten. Die Berufungsvorschläge aller öffentlich-rechtlichen Professuren im ganzen Reichsgebiet gingen damals durch die eines Referenten. Ich schrieb deswegen ausweichend, meine Truppe stünde zur Zeit im Kampfeinsatz, und ich könne mich daher im Augenblick nicht mit den zivilen Fragen befassen.“
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5. Das war freilich eine Heimkehr ins Ungewisse. Arbeit und Einkommen waren nicht in Sicht. Hans Schneider mußte sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, insbesondere als Fremdenführer für amerikanische Soldaten. Dieses Interim ohne rechten Beruf dauerte bis 1948. Es hat Hans Schneider sehr belastet, weil er im März 1947 seine spätere Frau kenngelernt hatte, aber wegen des Fehlens eines gesicherten berufl ichen Fundaments nicht an eine Familiengründung denken konnte. Daß er dieses Fundament hat legen können, verdankte er Rudolf Smend, der ihn im Frühjahr 1948 von Berlin nach Göttingen geholt und ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an seinem Institut für Evangelisches Kirchenrecht beschäftigt hat. Zu einer Professur konnte Smend ihm allerdings nicht verhelfen, immerhin aber zu einem besoldeten Lehrauftrag, dem alsbald ein weiterer an der Verwaltungsakademie Hannover folgte. Heute sehen wir in derartigen Lehraufträgen eine bloße Nebentätigkeit; für Hans Schneider, 1948 nur dem Titel nach Professor, ansonsten aber ohne Amt und Salär, waren sie deutlich mehr als nur ein Silberstreif am Horizont. Sie boten ihm die erste, zwar noch bescheidene, aber weiterführende und für die Familiengründung ausreichende Lebensgrundlage, zumal 1950 ein dritter Lehrauftrag hinzutrat, mit dem es seine eigene Bewandtnis hatte: Er kam von der PhilosophischTheologischen Hochschule Bamberg, die sich in Konkurrenz mit einer ähnlichen Hochschule in Regensburg zu einer Voll-Universität ausweiten wollte und dazu auf einige nach Bamberg verschlagene Breslauer Juristen zurückgegriffen hat. Das aus Prag vertriebene und in Bamberg als Bamberger Philharmonie wiedererstandene Deutsche Philharmonische Orchester hatte das vorexerziert. So holten die nach Bamberg versprengten Breslauer, an ihrer Spitze Hans Helfritz, auch Hans Schneider nach Bamberg. Dort scheint ein hoffnungsfroher Geist des Neuanfangs gepaart mit einer erquickenden Formlosigkeit geherrscht zu haben. Hans Schneider erzählte gerne, daß die Bamberger Professoren am Monatsersten – „wie in der Fabrik“ – beim Rektor vorsprachen, um ihr Gehalt von ihm in bar aus einer Zigarrenkiste in Empfang zu nehmen. Den Vorschlag, dafür Lohntüten zu verwenden hat der Rektor Benedikt Kraft allerdings als „zu unakademisch“ verworfen. Im Juni 1950 fand auch das Provisorium des lehrbeauftragten Professors ohne Lehrstuhl und gesichertes Einkommen mit Rufen nach Erlangen und Tübingen sein Ende. Hans Schneider entschied sich für Tübingen, wo er im Juni 1951 zum ordentlichen Professor ernannt worden ist. Seine endgültige akademische Heimat in Heidelberg fand er 1955 als Nachfolger des zwei Jahre zuvor emeritierten und im Juni 1955 verstorbenen Walter Jellinek. Jellinek hatte Hans Schneider 1950 bei der ersten Nachkriegstagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Heidelberg kennengelernt, bei der er gemeinsam mit ihm über das Thema „Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand“ referiert hatte.15 Er hatte der Fakultät signalisiert, daß er sich Hans Schneider als seinen Nachfolger wünsche, ein Wunsch, mit dem er bei der Fakultät offene Türen aufgestoßen hat. Es kam zu einer Einer-Liste. Ernst Forsthoff, damals Dekan, begrüßte Hans Schneider in Heidelberg per Brief mit der Hoffnung, daß er seine Entscheidung für Heidelberg niemals bereuen möge.
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VVDStRL 8 (1950), S. 21 ff.
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II. Es deutet alles darauf hin, daß Forsthoffs Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Hans Schneider ist Heidelberg trotz eines Rufes nach Freiburg im Jahre 1964 treu geblieben. Was die unruhigen 68er Jahre angeht, so sind allerdings Zweifel angebracht. 1. Heidelberg gehörte neben Frankfurt, Berlin und Marburg zu den Zentren der Studentenrevolte. Auch Tübingen und Freiburg blieben nicht verschont. Aber dort trugen die Unruhen ein anderes Gepräge. Sie zielten auf Universitäts- und Studienreformen ab. In Heidelberg griffen der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der Kommunistische Bund Westdeutschland, die Roten Zellen und eine Reihe weiterer linksradikaler Sekten unverhohlen nach der Macht über Staat und Gesellschaft. Das machte ihre Aktionen bedrohlicher als andernorts, feindseliger und brutaler. In Tübingen und Freiburg stritten die 68er mit ihren Gegnern, in Heidelberg haben sie sie verfolgt. Hans Schneider gehörte zu denen, die schnell erkannten, daß es dem SDS, dem KBW und wie sie sich alle nannten keineswegs auf einen offenen Diskurs um die Zukunft der Universität ankam. Ihnen ging es um die Eroberung der Universität, ihrer Ressourcen und ihrer Infrastruktur als Brückenkopf für eine sozialistische Revolution. Mit seinem Widerstand gegen dieses Vorhaben hat sich Hans Schneider besonders exponiert. Deshalb haben die Vorbeter der 68er sich vor allem ihn zu ihrem Hauptfeind erkoren. Hans Schneider war für sie der „Konterrevolutionär“ schlechthin. Mit ihrem Kampfgeschrei „Schneider ist / ein Faschist“ machten sie sich allerdings beweispfl ichtig. Der Beweisantritt mißlang ihnen jedoch kläglich. Sie haben sich redlich an Hans Schneiders Literaturliste abgearbeitet. Gefunden haben sie indessen nichts außer einem aus dem Zusammenhang gerissenen Satz in der Dissertation und einem Übungsfall aus dem Jahr 1938, den sie nicht begriffen haben.16 Außerdem sahen sie ein untrügliches Indiz für Hans Schneiders faschistoide Gesinnung darin, daß auch er in unlesbarer Handschrift geschriebene Klausuren zurückwies.17
16 Diesen Fall hat Hans Schneider 1938 in dem von ihm betreuten Band „Öffentliches Recht. Fälle und Lösungen aus dem Gebiet des Staats- und Verwaltungsrecht“ der damals unter den Studenten sehr beliebten Reihe „Schäffers Grundrisse“ publiziert. Er wollte mit ihm an die juristische Binsenweisheit erinnern, daß sich die Rechtsetzungsmacht der Körperschaften des öffentlichen Rechts ausschließlich auf deren Mitglieder erstreckt. Zur Illustration dieser Regel und ihrer Konsequenzen hat er nicht etwa auf eine Rechtsanwalts- oder Architektenkammer zurückgegriffen, sondern sich an die am 1. Dezember 1933 zur Körperschaft des öffentlichen Rechts erhobene NSDAP und an eine von Hitler in deren Verordnungsblatt verkündete Verordnung gehalten. Diese Verordnung hat Hans Schneider als nur parteiintern gültig bezeichnet und eine auf sie gestützte Kündigung eines politisch unliebsamen Redakteurs einer von der NSDAP übernommenen Zeitung für unwirksam erklärt. Dem SDS mißfiel die Begründung: „Bedient sich der Führer nicht der Gesetzform, so deutet das regelmäßig darauf hin, daß es nicht in der Absicht des Führers gelegen hat, gemeines (sc. allgemein gültiges) Recht zu setzen“. Genau das hat 30 Jahre zuvor auch die NSDAP Hans Schneider übelgenommen und sowohl ihm als auch dem Herausgeber der Reihe wegen Leugnens der Führer-Allmacht eine scharfe Rüge erteilt. Immerhin die NSDAP hatte kapiert, daß Hans Schneider die Allmacht des Führers gerade nicht propagiert, sondern ihr mit beachtlicher List und einiger Kühnheit die Spielregeln des Rechtsstaats entgegengesetzt hat. Die Intelligenz der Elite von 1968 hat dafür leider nicht ausgereicht. 17 Das haben sie ihm allen Ernstes in einem bei den Heidelberger Fakultätsakten befi ndlichen Flug-
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Die bösartige Hartnäckigkeit mit der die Linksradikalen Hans Schneider zur Aufgabe seines Widerstands gegen alle linksradikalen Rechtsbrüche zu zwingen versuchten, mutet heute, 40 Jahre danach, schier unfaßlich an. Seine Widersacher haben Hans Schneiders Vorlesungen über ganze Semester hinweg gesprengt; sie haben ihn mit übler Nachrede in Flugblättern und Wandschmierereien verfolgt und es bis zu einem Buttersäure-Attentat getrieben, mit dem sie ihn am Betreten der Universität haben hindern wollen. Das alles wäre Hans Schneider erspart geblieben, wenn er nicht nach Heidelberg gekommen und 1964 nicht geblieben wäre. Um so bedeutsamer war für die Universität, daß er nach Heidelberg gekommen und seiner Fakultät treu geblieben ist. Denn er gehörte zu denen in den Reihen ihres Lehrkörpers, die den Sturm auf die Universität abgewehrt haben. Er war nicht der einzige, der Widerstand geleistet hat. Pars pro toto seien Karl Doehring, Otmar Jauernig, Hubert Niederländer und Adolf Laufs genannt. Aber Hans Schneider ragte mit seinem Mut und seiner Unerschütterlichkeit aus der nicht allzu großen Schar der zu aktivem Widerstand Bereiten heraus. Sein Vorbild hat vor allem seine Schüler und manchen seiner Studenten geprägt. Er war einer der akademischen Lehrer, um die sich diejenigen sammelten, die den Parolen der Linken mißtraut haben und nicht zum Randalieren, sondern zum Studieren nach Heidelberg gekommen waren. Sie lernten von Hans Schneider zwischen dem Lebendigen und dem Zeitgeist nicht nur zu unterscheiden, sondern auch nach dieser Unterscheidung zu handeln. 2. Die Revolte von 1968 war heftig und sie währte lange, aber sie war gottlob nicht chronisch. An ihrem Ende war vieles anders geworden. Aber die Universität ist auch in Heidelberg Universität geblieben. Das hat Hans Schneider tatkräftig genutzt. Sein 1938 begonnenes, 1948 wieder aufgenommenes und in Heidelberg vollendetes wissenschaftliches Werk wird Herr Kirchhof würdigen. Ich möchte schließen mit einer Würdigung dessen, was Hans Schneider als akademischen Lehrer, als Kollege und über die Universität hinaus ausgezeichnet hat. a) Die Zahl der Schüler die Hans Schneider in 66 Semestern in Göttingen, Tübingen und Heidelberg um sich geschart hat, ist Legion. Sein Erfolg als Lehrer rührt daher, daß er nie versucht hat, die Rechtswissenschaft einfacher zu machen, als sie es ist, wie das unkundige Universitätsreformer neuerdings als den Inbegriff einer verbolognarisierten Wissenschaftsdidaktik ausgeben. Wem es darauf ankam, den Stoff ohne Abstriche in all seiner Kompliziertheit zu begreifen, der war dafür bei Hans Schneider um so besser aufgehoben. Eine „Schule“ im engeren wissenschaftssoziologischen Sinne hat Hans Schneider bewußt nicht gebildet. Er wollte seinen Schülern Lehrer sein, nicht Meister. Deshalb ließ er ihnen vollkommene Freiheit. Er verlangte von ihnen, daß sie eigene Meinungen entwickelten. Streng war er daher nur, wo es um die Pünktlichkeit und die Sauberkeit des wissenschaftlichen Arbeitens ging. In der Sache indessen erwartete er statt Gefolgschaftstreue Eigenständigkeit. Auf sie drängte er schon in seinen Übungen. Wer mit originellen Argumenten von der Musterlösung abwich, fuhr bei ihm stets besser als der, der sie exakt traf, aber nichts Eigenes zu ihrer Begründung beisteuerte. blatt vorgeworfen. Wie man Klausuren benoten soll, die man nicht lesen kann, ließen sie freilich im Dunkeln.
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Mir ist Hans Schneiders Anleitung unvergeßlich, die er mir für das Benoten von Examens-Klausuren mit auf den Weg gab, als mich das Justizprüfungsamt zum ersten Mal mit dieser durchaus nicht einfachen Aufgabe betreute: „Falsche Lösungen gibt es nicht, nur dumme. Schreib’ aber trotzdem ‚falsch‘ an den Rand; ‚dumm‘ kränkt! “ Mit seinem Stil des juristischen Argumentierens hat Hans Schneider freilich unter der Hand doch Schule gemacht. Er legte Wert auf konkrete Anschaulichkeit, scharfes Beobachten der Rechtswirklichkeit und vor allem auf eine präzise Sprache, die auch bedenkt, daß die Sprache des Juristen eine zwar nicht vollkommen andere, aber eben doch eine andere ist als die des Dichters. Mir hat er das eingeschärft mit der Ermahnung „Sie schreiben wie Thomas Mann; aber sie vergessen, daß nur Thomas Mann wie Thomas Mann hat schreiben können. Halten Sie sich lieber an Heinrich von Kleist.“ Sollte mir das einigermaßen gelungen sein, so wäre das Hans Schneiders Verdienst. Als ich dem mittlerweile schier unausrottbar gewordenen Aberglauben aufsaß, an den Anfang einer jeden ordentlichen Dissertation oder Habilitationsschrift gehöre ein ebenso umfangreiches wie ödes Kapitel „Stand der Forschung“, schrieb mir Hans Schneider an den Rand „Bilde Künstler! Rede nicht! “ Das hat meiner Dissertation wohl getan. b) Neben seinem Einsatz in der Lehre hat Hans Schneider in der akademischen Selbstverwaltung erheblich mehr als das Übliche und Pfl ichtgemäße getan. Seiner Fakultät hat er mehrfach als Dekan gedient. Dem Rektorat und den Nachbarfakultäten stand er unermüdlich mit Rat und Tat zur Verfügung. „Man muß Herrn Schneider fragen“ war in der Universität ein geflügeltes Wort. Hans Schneider fragte keiner vergebens. Auch vor erheblichen Arbeitslasten scheute Hans Schneider nicht zurück. Das beweist die Hilfe, die er dem Chirurgen Karl Heinrich Bauer bei der Errichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums geleistet hat, die alles andere als ein „Selbstläufer“ gewesen ist. Neben viel Medizinerarbeit hat sie ein gerütteltes Maß an juristischer Kärrnerarbeit gefordert. Auch über Heidelberg hinaus waren Hans Schneiders Rat und Hilfe gesucht. Er hat Gebhard Müller, der ihn in Tübingen kennen und schätzen gelernt hat, im Bemühen um die Gründung und später um die Stabilisierung Baden-Württembergs unterstützt. Bei der Kommunalen Gebietsreform der frühen 70er Jahre hat er mitgeholfen. Die Neuordnung des Baden-Württembergischen Rundfunks und des Fernsehens in den 80er Jahren hat er als Leiter der für ihre Vorbereitung eingesetzten Kommission mitgestaltet. Dies alles hat mit der Verleihung des Landesverdienstordens und des Großen Bundesverdienstkreuzes die verdiente Anerkennung gefunden. Zu seinen 70. und zu seinem 80. Geburtstag standen seine Schüler bereit, ihm eine Festschrift zu widmen. Aber das hat er ihnen sehr zu ihrem Leidwesen kategorisch verboten. Er wollte ihnen die Arbeit ersparen, die mit dem Verfassen von Festschriftenbeiträgen einhergeht. Davon hat er sich nicht abbringen lassen. Auch darin zeigte sich Hans Schneiders Persönlichkeit. Er hat für andere viel getan, aber für sich wenig beansprucht. Ging es um Recht und Gerechtigkeit, so war er fähig zu großer Leidenschaft. Die Schattenseite der Leidenschaft, die Parteilichkeit, indessen kannte er nicht. Auch darin erwies er sich als das, was er seiner eigenen Bekundung zufolge immer hat sein wollen und auch war: Ein fröhlicher Christenmensch im Gefolge Martin Luthers.
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c) Wer Hans Schneiders Freundschaft genossen hat und darüber reden will, gerät leicht in die Gefahr, vor der der Evangelist Matthäus warnt: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ Ihr gilt es auszuweichen. Drum fasse ich mich kurz. Ich bin Hans Schneider im Sommersemester 1956 zum ersten Mal begegnet, als ich mich für sein Seminar über Gesetzgebungslehre einschrieb. Von da an hat er über den Fortgang meines Studiums gewacht, keine Spur also von der vielkritisierten Unansprechbarkeit der Ordinarien alter Schule. Ich wurde Hans Schneiders Assistent und las im Spiegel, daß ich mich damit unter ein Sklavenjoch begeben hätte. Dieses Gefühl hatte ich allerdings ganz und gar nicht. Wenn es schon eine Metapher aus der Rechtsgeschichte sein muß, dann nicht die des römischen Sklaven-, sondern die des deutschen Lehensrechts, das wechselseitig zu Rat und Hilfe verpfl ichtete. Eines der vom Spiegel gezeichneten Zerrbilder war das des von seinem Ordinarius zum Nikolaus-Dienst genötigten Assistenten. Ich bekenne freimütig, daß auch ich im Hause Schneider den Nikolaus gespielt habe, freilich nicht, weil Hans Schneider das angeordnet hätte, sondern umgekehrt, weil ich ihm als meinem Lehrer so nahe stand, daß ich diesen familiären Freundesdienst als ganz normal empfunden habe. Ich ging schließlich in seinem Haus aus und ein und stand mit seinen Kindern auf vertrautem Fuße. Daß Hans Schneider meine Nikolausbesuche durch Gegenbesuche bei meiner Verlobung und meiner Hochzeit erwidert hat, sei nur am Rande und nur deshalb erwähnt, weil es zeigt, daß die alte OrdinarienUniversität eben doch ein weit vielschichtigeres Gebilde war, als diejenigen glauben, die sie nicht von innen kennengelernt haben. Darüber zu streiten, ob Hans Schneider für die alte Ordinarienuniversität repräsentativ war, lohnt sich nicht, jedenfalls nicht hier und heute, wo wir nicht ihrer, sondern Hans Schneiders gedenken. Hier und heute aber bleibt festzuhalten: In Hans Schneider haben die deutsche Universität und die deutsche Rechtswissenschaft einen Repräsentanten gefunden, der sie vorbildlich vertreten hat.
Hans Schneider als Wissenschaftler und Homo politicus* von
Prof. Dr. Paul Kirchhof, Universität Heidelberg 1. Fundamente des Rechts Wenn wir heute des Wissenschaftlers Hans Schneider gedenken, so können wir zwar nicht mehr sprechend den Dialog mit ihm führen, wohl aber – und das ist das Schöne bei einem Wissenschaftler – seine Schriften lesen und damit gleichsam in einen literarischen Dialog mit ihm treten. Ich möchte einige Grundlinien seines Denkens und rechtlichen Gestaltens gegenwärtig machen – nicht in der Perspektive eines Rezensenten, der seine Meinung mit der des Autors kontrastiert – obwohl Hans Schneider die Kunst der Rezension in mehr als hundert Publikationen gepflegt hat.1 Vielmehr möchte ich als Leser das Werk von Hans Schneider nachzeichnend und verstehend zu Wort bringen. Wer von der Ziegelhäuser Seite über die alte Brücke geht, sieht rechterhand eine allegorische Figur der Gerechtigkeit, die sich auf Gesetze stützt, auf dicken Gesetzbüchern ruht und dort die Waage der Gerechtigkeit abgelegt hat. Diese Darstellung stellt Hans Schneider an den Anfang seines Lehr- und Handbuchs „Gesetzgebung“. Die Gerechtigkeit trägt ein menschliches Antlitz, sie sucht Ruhe, Stetigkeit, Entspannung, braucht die Grundlage des Geschriebenen, des von einer Autorität gesetzten und durchgesetzten Rechts. Der nach Maßstäben der Realitätsgerechtigkeit geschulte Betrachter beobachtet auch, dass die Figur der Gerechtigkeit letztlich nicht auf den Büchern, sondern auf einem gediegenen, aus der Jahrhunderte alten Kultur der Architekten und Steinmetze erwachsenen Steinfundament ruht. Hans Schneider geht es um die Regeln, denen vernünftigerweise gefolgt werden sollte, um gute Gesetze zu schaffen. Er warnt vor den Erfahrungen „mit einer positivistisch überdrehten Gesetzgebung (1933–1945)“, die in der Bundesrepublik Deutschland das Bewusstsein dafür geweckt habe, welche Ausbrüche und Entgleisungen dem staatlichen Gesetzgeber verwehrt sein müssen.2 Gesetz bezeichne einer*
Gedächtnisrede, die der Verfasser am 12. Juli 2011 an der Universität Heidelberg gehalten hat. Vgl. Reinhard Mußgnug, Paul Kirchhof, Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Ausgewählte Schriften Hans Schneider, 2002, S. 393 f. 2 Hans Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, S. 3. 1
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seits etwas rechtlich Festgestelltes und Feststehendes, andererseits jede allgemein verbindliche Rechtsnorm.3 Zwischen diesen beiden Polen des ehernen Gesetzes und des tagesaktuell in Gesetzesform beschlossenen Parlamentsentscheids weist Hans Schneider den Weg zu einer guten Gesetzgebung. In den beiden Vorauflagen seiner „Gesetzgebung“ steht anstelle der Allegorie der Gerechtigkeit die Figur der Legislative, die dem Betrachter eine Verkündungstafel entgegenhält, auf der „Lex“ geschrieben ist.4 Diese Statue, sie krönte das Stuttgarter Justizgebäude von 1879 bis 1944, weist auf den Gesetzgeber und sein Produkt, das Gesetz. Mit dem Übergang der dritten Auflage zur Gerechtigkeit, die sich auf das Gesetz stützt, die ein letztlich nie vollständig erreichbares Ziel der Rechtswissenschaft und Rechtspflege benennt, ist die Grundkonzeption seines großen Werkes „Gesetzgebung“ nicht einen Deut verändert, wohl aber die Mahnung zu einem besseren – gerechteren – Gesetz betont worden. Dieses belegen die Vorworte. In der ersten Auflage erläutert Hans Schneider, dass es ihm nicht um eine allgemeine Theorie der Rechtsetzung gehe, sondern um eine systematische und lehrhafte Darstellung der Rechtsfragen, die bei Gestaltung und Erlass von Gesetz, Verordnung und Satzung zu beantworten sind. Dabei betont er ausdrücklich, dass Adressat seiner Lehre nicht der Gesetzgeber schlechthin ist, sondern der demokratisch fundierte, rechtsstaatlich orientierte, auf soziale Befriedigung bedachte Gesetzgeber, der Regeln für einen Wirtschaftsstaat mit Massenbevölkerung treffen müsse.5 Das Vorwort der zweiten Auflage (1991) 6 würdigt dann den staatsrechtlich und völkerrechtlich bedeutsamen Zeitpunkt, in dem dieses Lehrbuch erscheint: Deutschland hat seine staatliche Einheit wieder gewonnen, die Besatzungsvorbehalte sind aufgehoben, das europäische Gemeinschaftsrecht erfasst ein neues Gebiet mit 16 Millionen Einwohnern. Sein Lehrbuch will nun Hilfen bieten und Verständnis wecken für die tiefgreifenden Veränderungen, die dieses historische Ereignis für den Gesetzgebungsprozess und für den Inhalt der Gesetze bewirkt. In der dritten Auflage (2002),7 der die Gerechtigkeitsallegorie vorangestellt ist, zitiert Hans Schneider Heinrich Triepel, der 1926 die „Unrast und Unsicherheit“ gerügt hatte, an der die damalige Reichsgesetzgebung krankte, sich in einer Unmenge kleinlicher Flickarbeit verliere, daran aber die Hoffnung knüpfte, dass dieses nicht eine Verfalls- sondern eine Übergangserscheinung sei. Ähnlich beurteilt Hans Schneider die Bundesgesetzgebung der Gegenwart und fügt in der ihm eigenen prägnanten, gelegentlich lapidaren Sprache hinzu: „Eine Stabilisierungspause ist notwendig“.
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A.a.O. S. 10 f. Hans Schneider, Gesetzgebung, 1. Aufl., 1982, S. II; 2. Aufl., 1991, S. II. Hans Schneider, Gesetzgebung, 1. Aufl., 1982, S. V. Hans Schneider, Gesetzgebung, 2. Aufl. 1991, S. V. Hans Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, S. V.
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2. Das wissenschaftliche Denken Hans Schneiders Hans Schneider ist ein Rechtswissenschaftler, dessen Denken in der Wirklichkeit, den vom Menschen und seinen Lebensumständen bestimmten Bedürfnissen nach Gesetz und Gesetzesanwendung, seiner Geschichtlichkeit bestimmt ist. In der Würdigung der staatsrechtlichen, auf das Wintersemester 1932/33 folgenden Ereignisse – sein viertes Studiensemester und sein erstes Freiburger Semester – macht Hans Schneider anlässig seines goldenen Doktorjubiläums 1987 vor Freiburger Studenten in einer prägnanten historischen Analyse zunächst die psychologischen Bedingtheiten und faktischen Zwänge der damaligen Gesetzgeber und Gesetzgebung bewusst, kommt dann zu dem Schluss, dass in der Politik der verantwortlich Handelnde nicht immer zwischen Gut und Schlecht, zwischen Tugend und Sünde entscheiden, nicht stets zwischen einem gefährlichen Pfad und einem sicheren wählen könne.8 Oft bleibe ihm nur die Wahl zwischen einem Übel und einem anderen, zwischen einem Risiko und einem anderen Risiko. Die menschlichen Verhaltensweisen spielten in der Politik mit und seien unberechenbar. Diese Geschichtlichkeit, Realitätsverantwortlichkeit, Menschlichkeit – das ist im Kern ein Stück Humanität – tritt uns beim Lesen seiner Schriften immer wieder entgegen: Wir lesen, wie Hans Schneider das theoretische Ideal des Widerstandsrechts für jedermann bei Versagen aller Rechtsstaatsorgane auf die schlichte Frage zurückführt, wer unter diesen Voraussetzungen den Berechtigten ihr Recht geben solle. Wir lesen seine Mahnungen, beim verfassungsrechtlichen Schutz von Renten der Sozialversicherung mit der Frage des eigentumsrechtlichen Schutzes behutsam umzugehen, wenn der Inhalt dieses Eigentums von den Zahlungen der jeweiligen Rechtsgemeinschaft abhängig ist.9 Wir lesen seine Warnungen vor einer Demokratisierung der Verwaltung, wenn Rechtsstaat gegen Demokratie auszubalancieren ist, eine Überbetonung des Demokratischen der Demokratie ihre eigene – notwendig freiheitliche – Basis nähme, der Rechtsstaat Kontinuität und Stetigkeit in der Verwaltung brauche, Erneuerung und Legitimation durch den Gesetzgeber daneben ein eigenständiges, aber nicht alles dominierendes Prinzip sei.10 Und wenn Hans Schneider den Übergang vom Unrecht zum Recht behandelt,11 folgen Grundsatzgedanken zum Recht, das wegen der Berechtigten und Verpfl ichteten den jähen Bruch vermeiden müsse, deswegen so schonende Übergänge brauche, dass die Rechtsbeteiligten sich auf das neue Recht einstellen könnten, statusbegründende Rechtsakte des alten Rechts nicht zerstört würden, die Kontinuität des Lebens den Übergang mäßige. Eine zweite Grundkategorie seines Denkens ist die Autorität. Wenn Hans Schneider in der Festschrift für Hermann Mosler zur authentischen Interpretation von Ge-
8 Die staatsrechtlichen Ereignisse 1932/1933 aus der Sicht eines Freiburger Studenten, Freiburger Universitätsblätter, Heft 100, Juni 1988, S. 71 f. 9 Hans Schneider, Der verfassungsrechtliche Schutz von Renten der Sozialversicherung, 1980. 10 Hans Schneider, Demokratisierung der Verwaltung – Ein Schlüssel zum Fortschritt, der öffentliche Dienst am Scheideweg. Godesberger Taschenbuch-Verlag, Schriften zur Staats- und Gesellschaftspolitik, 9/1972, S. 189. 11 Hans Schneider, Die juristische Bewältigung der Vergangenheit, in: Festschrift für Werner Weber, 1974, S. 15 f.
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setzen schreibt,12 erwarten wir keine Methodenlehre, sondern eine Studie zu der Autorität des Interpreten. Zu Zeiten Justinians habe ein Interpretationsvorbehalt für den Kaiser gegolten; Kommentare seien bei Strafe verboten gewesen. Selbst im preußischen Recht habe noch die Regel gegolten, dass kein Privater, insbesondere nicht Professoren, Gelegenheit haben sollten, das Landrecht durch eigene Interpretation zu korrumpieren. Unsere Rechtsgegenwart sei zwar von eine Fülle von Kommentaren, damit auch durch den Einfluss der Wissenschaft auf die Fortbildung dieses Rechts gekennzeichnet. Die gesetzgebende Autorität, der Gesetzgeber, habe aber stets die Kompetenz und Befugnis, diese Interpretationen durch Neuregelung eines Gesetzes gegenstandslos zu machen. Dabei gelte das Verbot verschlechternder Rückwirkung, im Übrigen die Kompetenz des Gesetzgebers, das nach seiner Auffassung bessere Recht in Kraft zu setzen. Vor einer verdeckten Verfassungsänderung schütze Art. 79 I 1 GG, der eine Verfassungsänderung nur durch Änderung der Verfassungsurkunde erlaube. Hier entwickelt Hans Schneider dann das Problem einer verbindlichen Interpretation der Verfassung, auch der zum Gegenstand eines Verfassungsprozesses gewordenen Gesetze und ihrer verfassungskonformen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht. Dabei bedenkt er die Besonderheit der völkerrechtlichen Verträge, die zwar – insbesondere bei den Ostverträgen – durch das Bundesverfassungsgericht für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich ausgelegt werden könnten, diese Verbindlichkeit aber nicht für den Vertragspartner beanspruchen dürften, weil dieser der Autorität deutscher Interpretationsorgane nicht unterliege. Ein drittes Kennzeichen der wissenschaftlichen Arbeiten von Hans Schneider ist die bewundernswerte Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. In seiner Freiburger Wissenschaftsbilanz13 zitiert er Heidegger, der einmal gesagt habe: „Lehren heißt, Vorübergehenlassen am Unwesentlichen, Hinleiten zum Wesentlichen“. Dieser dort für die Pädagogik formulierte Satz ist heute theoretisches Gemeingut für den Gesetzesvorbehalt,14 für die vom Gleichheitssatz geforderten Unterscheidungen,15 für die Eingriffsintensität bei Freiheitseingriffen.16 Die Praxis allerdings genügt diesen Wesentlichkeitsanforderungen oft nur unzulänglich. Hans Schneider zeigt, wenn er die Themen für Grundsatzstudien wählt, insbesondere auch bei seiner Gesetzgebungslehre, dass er in der Fülle des tatsächlichen Material und der Vielfalt der juristischen Meinungen mit sicherer Hand den Weg zum Wesentlichen wählen und das Unwesentliche vernachlässigen kann. In dieser schon ein wenig historischen Stunde sei es erlaubt, auf die griechischen Ursprünge unseres 12 Hans Schneider, Zur authentischen Interpretation von Gesetzen, in: Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S. 849. 13 Hans Schneider, Die staatsrechtlichen Ereignisse 1932/1933 aus der Sicht eines Freiburger Studenten, a.a.O. S. 71 f. 14 Zum „Wesentlichkeitsvorbehalt“ vgl. Fritz Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VI, 2007, § 101, Rn. 43 f. m.N.; Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 245 f. 15 Zu den Gleichheitsformeln des Bundesverfassungsgerichts, die jeweils für das rechtserheblich Wesentliche eine Gleichbehandlung von Gleichem, eine Ungleichbehandlung von Verschiedenem fordern, vgl. Paul Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VIII, 2010, § 181, Rn. 160 f. 16 Zur Garantie des Wesensgehalts vgl. Artikel 19 Absatz 2 GG vgl. Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz, Kommentar, 5. Aufl., Art. 19, Rn. 40 f.
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Wissenschaftsdenkens zu verweisen und damit bewusst zu machen, dass diese Kunst zum Wesentlichen Bedingung menschlichen Wissens und menschlicher Wissenschaft ist. Der Wissenschaftler will so viel wissen, als irgend möglich, ist sich andererseits gerade in der Moderne auch bewusst, dass er manchmal besser nicht wissen sollte. Wenn die Atomforschung die Atombombe nicht erfunden hätte, die modernen Abhörtechniken rechtlich strikt am Abhören des privat gesprochenen Wortes gehindert sind, der Arzt in seinen Forschungen nicht beliebige Menschenexperimente machen darf, so ist der Verzicht auf Wissen ein Segen. Diese Erkenntnis besteht bereits am Anfang der europäischen Wissenschaftsgeschichte:17 Prometheus hat den Menschen nicht nur das Feuer, sondern auch Grenzen ihres Wissens gebracht. Er traf auf die Menschen, die ihr eigenes Schicksal, damit auch den Zeitpunkt ihres Todes voraussehen konnten, deshalb in Lethargie verharrten, dumpf, ohne Lebensmut und Gestaltungswillen vor sich hin lebten. Da nahm Prometheus den Menschen dieses Wissen, gab ihnen stattdessen die Hoffnung. Sogleich entfaltete sich wirtschaftliches Erwerbsstreben und Wohlstand, Kunst und Wissenschaft, Familienleben und demokratische Debatte. Schließlich führt der normative – das Denken und Verhalten leitende – Realismus Hans Schneider zu einer kritischen Beobachtung des Juristen, seiner Aufgabe und seiner Wirkungen. In Auseinandersetzung mit der These von Ernst Forsthoff über den lästigen Juristen18 stellt er dem den gefährdeten Juristen an die Seite. Er beginnt – wiederum historisch – mit dem geläufigen Sprichwort „Juristen sind böse Christen“, dessen sich auch Martin Luther bedient hat, entwickelt dann die These, dass die Verwissenschaftlichung und Rationalisierung des Rechtslebens auf den erbitterten Widerstand der anders denkenden Rechtspraxis gestoßen sei. Er anerkennt die berechtigte Juristenschelte an den prozessverschleppenden Advokaten und Konsulenten. Die Herrschaft der Juristen sei als eine Fremdherrschaft empfunden worden. Schneider zitiert William Shakespeare in seinem Drama Heinrich der VI., in dem die Rebellion als erstes die Parole ausgab: „The fi rst thing we do, let’s kill all the lawyers“. Schließlich verweist er auf den „Beschluss des Großdeutschen Reichstag“ vom 19. April 1942, in dem bekundet ist, Hitler werde alles tun, um das Rechtsstudium so verächtlich zu machen wie nur irgend möglich, weil dieses Studium eine einzige Erziehung zur Verantwortungslosigkeit sei. Hitler werde dafür sorgen, dass aus der Justizverwaltung bis auf 10% wirklicher Auslese alles entfernt werde. Doch dann skizziert Hans Schneider die Eigenschaften des Juristen, die er durch seine Ausbildung erwirbt: Erstens die Fähigkeit, einen fremden Sachverhalt zu ermitteln und nüchtern das Wesentliche davon darzustellen, zweitens die Fähigkeit, verschiedene Argumente und gegensätzliche Gesichtspunkte zu verstehen (er sagt im wörtlichen Sinne: nachzudenken), gleichzeitig in ihrer Widersprüchlichkeit zu bedenken und weiterzudenken, drittens die Fähigkeit nach Überlegen und Beratung eine Entscheidung zu treffen. Dieses sei besonders wichtig. Das ewige Gespräch bilde in vielen Wissenschaftsdisziplinen, die benannt werden, eine Lebensform und Ausbildungsmethode. Alles sei diskutabel, und es werde auch alles diskutiert. Bei den Juristen hingegen begrenz17 18
Aischylos, Der gefesselte Prometheus, übersetzt von Walther Kraus, 1965, Verse 246 ff. Hans Schneider, Der gefährdete Jurist, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 347 f.
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ten Gerechtigkeitsmaßstäbe den diskutablen Stoff und der Zwang zur Entscheidung setze jeder Erörterung ein Ziel.
3. Drei Grundsatzstudien In dieser von Wirklichkeitsnähe, Lebenserfahrung und Wirkungsverantwortung geprägten Jurisprudenz legt Hans Schneider eine Fülle von Grundsatzstudien vor, die sein Rechtsverständnis erproben und bestätigen: Zu den Einzelfallgesetzen,19 zu gerichtsfreien Hoheitsakten,20 zum verfassungsrechtlichen Schutz von Renten,21 zu Staatsvertrag und Organisationsgesetz,22 Satzung und Rechtsverordnung,23 Amt des Bundespräsidenten 24 und Amt der politischen Staatssekretäre,25 zur Bedeutung der Geschäftsordnungen 26 oder zum Ermächtigungsgesetz vom 24. 3. 1933.27 Besonders hervorzuheben sind die Dissertation von Hans Schneider28 und seine Habilitation.29 Ich möchte hier – exemplarisch – an drei Studien erinnern, die rechtliche Anliegen und rechtliche Denkungsart unseres Autors veranschaulichen mögen.
a. Die Bewältigung von Unrecht: Das Reale schafft Recht Die juristische Bewältigung der Vergangenheit, ein Beitrag zur Festschrift für Werner Weber (1974) 30 ist ein Thema, das Hans Schneider zu grundsätzlichen Betrachtungen über die Behandlung unrechter Herrschaftsakte veranlasst. Das Recht könne seine ordnende, Konfl ikte begrenzende, kanalisierende und befriedende 19
Hans Schneider, Über Einzelfallgesetze, in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 159. Hans Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte. Ein rechtsvergleichender Bericht über die Grenzen richterlicher Nachprüf barkeit von Hoheitsakten, 1951. 21 Hans Schneider, Der verfassungsrechtliche Schutz von Renten der Sozialversicherung, 1980. 22 Hans Schneider, Alte Staatsverträge gegen neue Organisationsgesetze, in: Festschrift für Hans Schäfer, 1975, S. 25. 23 Hans Schneider, Autonome Satzung und Rechtsverordnung, in: Festschrift für Philipp Möhring, 1965, S. 521. 24 Hans Schneider, Die Mitwirkung des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung, in: Festgabe für Benedikt Kraft, 1955, S. 127. 25 Hans Schneider, Das Amt der politischen Staatssekretäre in Baden-Württemberg, in: Festschrift für Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 167 f. 26 Hans Schneider, Die Bedeutung der Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane für das Verfassungsleben, in: Festgabe für Rudolf Smend, 1952, S. 303. 27 Hans Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. 3. 1933, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1953, S. 197 f. 28 Hans Schneider, Gerichtsherr und Spruchgericht, 1937. 29 Hans Schneider, Die Entstehung des Preußischen Staatsrechts 1806–1870. Ein Beitrag zur Verfassungsreform Preußens nach dem Zusammenbruch 1952; der erste Teil ist unter dem Titel „Die Entstehung des Preußischen Staatsrechts 1806 bis 1870. Ein Beitrag zur Verfassungsreform Preußens nach dem Zusammenbruch“ in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 102 (1942), S. 84 f. publiziert worden. 30 Hans Schneider, Die juristische Bewältigung der Vergangenheit, in: Festschrift für Werner Weber, Im Dienst an Recht und Staat, 1974, S. 15 f. 20
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Funktion nur erfüllen, wenn es auf Beständigkeit und Dauer angelegt sei und auch so gehandhabt werde. Dementsprechend bemühe sich der Jurist, den jähen Bruch zu vermeiden und eine kontinuierliche Entwicklung einzuleiten. Wenn eine bestehende Rechtsordnung durch eine neue abrupt – etwa durch revolutionäre Umwälzungen – verdrängt werde, entstehe das Bedürfnis nach Anpassung und Überleitung. Diese These wird wiederum an einprägsamen historischen Beispielen erläutert. Im 9. Jahrhundert war Formosus, Bischof von Porto, als gänzlich ungeeigneter Kandidat auf den päpstlichen Stuhl gelangt. Er wird in der Kirchengeschichte als ein Judas unter den Petrusnachfolgern beschrieben, hatte aber kraft Amtes die Macht, Kaiser zu krönen, Bischöfe zu ernennen, Ehen zu schließen, Menschen zu taufen. Um das von diesem Herrscher ausgehende Unrecht ungeschehen zu machen, wurde Formosus neun Monate nach seinem Tode exhumiert, der Leichnam seiner beiden Vorderfi nger, der salbenden Hand, beraubt, verurteilt und in den Tiber geworfen. Damit war der tote Papst degradiert, feierlich zum Ausdruck gebracht, dass er niemals römischer Bischof, sondern einfacher Laie gewesen sei. Dieser Rechtsakt beabsichtigte die Annullierung der Kaisersalbung, der Kaiserkrönung, um den Weg für einen anderen Kaiser freizumachen. Doch die weitere Folge für alle Bischofsweihen, Eheschließungen und Taufen war deren Nichtigkeit, ein für die Rechtswelt verheerendes Ergebnis. Deswegen wurde – so sagt die Sage – nach dem Formosus im Tiber gesucht. Sein Leichnam mit 10 Fingern wurde gefunden und erneut in der Gruft von St. Peter bestattet. Die gestörte Rechtsordnung schien wieder hergestellt. Das Reale schafft Recht. Das Problem unrechter Herrschaftsakte wird dann am Beispiel des Reichsdeputationshauptschluss 1803 anschaulich gemacht, der die Liquidation der ständischen und geistlichen Regime in Überleitung auf die neuen Staaten in geordnete Bahnen zu lenken suchte. Die Vertreibungen seien durch einen weitreichenden Lastenausgleich erträglich gemacht, der Erwerb den Gewinnern durch Auferlegung von Unterhaltsleistungen und Schuldenübernahmen geschmälert worden. Der gewaltige Umbruch sei jedenfalls in seinen vermögensrechtlichen Wirkungen beinahe schonend vollzogen. Auf dieser Grundlage werden die komplizierten Rechtsfragen der Auflösung des Königsreiches Westfalen dargelegt, bewertet und die Nichtigkeitsthese in Frage gestellt. Weitere Beispiele bieten in Frankreich wie in Deutschland die Überleitung des zwischen 1933 und 1945 eingetretenen Unrechts in eine neue rechtmäßige Ordnung. Auch hier wird vor der rückwirkenden Annullierung eines jedenfalls in der Vergangenheit wirksam gewesenen Rechtsaktes gewarnt; Vergangenes könne nicht mit Hilfe juristischer Fiktionen bewältigt werden. Aufgabe des Rechts sei es, die alten Rechtsverhältnisse nach Möglichkeit dem geltenden Recht einzuordnen und anzupassen, kranke Rechtsakte tunlichst zu sanieren und so den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen. Der Jurist bewältige die Vergangenheit, indem er die Gegenwart zu befrieden suche. Diese Überlegungen haben in den neunziger Jahren – insbesondere auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – bei der Bewältigung des DDRUnrechts – Anwendungsfall und Bestätigung gefunden. Damals war der schonende Übergang vom Unrecht zum Recht leichter, weil die DDR, die neuen Bundesländer, sich mit der Bundesrepublik wieder vereinigt haben, die Bundesrepublik aber im
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Prinzip ihr bisheriges Recht wahren und insoweit eine Stück Kontinuität gewährleisten konnte.
b. Das Widerstandsrecht: Recht wurzelt im Staat Die zweite Grundlagenstudie bietet ein Vortrag, 1969 vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe gehalten, der sich mit dem Widerstand im Rechtsstaat auseinandersetzt.31 Hier habe ich Hans Schneider und seinen eleganten, humorvollen, aber stets prägnanten Vortragsstil erstmals erlebt. Anlass seiner Grundsatzüberlegungen ist eine Änderung des Grundgesetzes im Art. 20, der allen Deutschen ein Recht zum Widerstand gegen jeden gewährt, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen. Das Widerstandsrecht besteht allerdings nur, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Hans Schneider stellt zunächst den bemerkenswerten Befund aus der Geschichte der Grundgesetzänderung heraus, dass diese Verfassungsänderung auf die Dissertation des Bundestagsabgeordneten Dr. Even zurückgehe, der in seiner Promotion von 1951 das Widerstandsrecht als das natürliche Menschenrecht gegen entartete Staatsgewalt bezeichnet habe. Hans Schneider macht nun deutlich, dass dieses Widerstandsrecht nicht greifen könne, weil der Berechtigte beim Erfolg seines Widerstandes die Berechtigung nicht brauche, bei einem gescheiterten Widerstand aber auf die Hilfe des Rechtsstaates nicht rechnen könne. Sodann macht er sich auf den Weg, die begrenzte Reichweite dieses Rechts durch Verfassungsexegese zu entwickeln: Das Widerstandsrecht sei kein Recht zum Ungehorsam gegen Staat und Recht, sondern sei ein Hilferecht für die staatliche Grundordnung, erlaube allenfalls ein Tätigwerden zum Schutz von besonderen Verfassungsgütern, richte sich nur gegen den Willen, die Verfassung zu beseitigen, beschränke sich auf den offensichtlichen Angriff. Vor allem aber vertritt dieser Vertrag die These, dass dieses „Naturrecht“ nicht einsichtig sei, das positive Recht diesen Normkonfl ikt nicht lösen könne, Krisen eines „Staates am Abgrund“ nicht „in paragrafenseliger Harmlosigkeit“ gelöst werden könnten. Das Widerstandsrecht sei ein sittliches Recht, setzte ein geschärftes Gewissen voraus.
c. Volksabstimmungen: Repräsentation mäßigt Die Studie „Volksabstimmungen in der rechtsstaatlichen Demokratie“, ein Beitrag in der Gedächtnisschrift für Walter Jellinek,32 entwickelt zunächst aus der Entstehensgeschichte des Grundgesetzes den Gedanken, dass die Bundesverfassung für Volksabstimmungen nur einen geringen Raum belasse, weil sie eine „Prämie für jeden Demagogen“ (Theodor Heuss) enthalte, die Parteien aus ihrer Mittlerrolle dränge, wenig ermutigende Erfahrungen in der Weimarer Zeit zur Vorsicht mahnten. Es 31
Hans Schneider, Widerstand im Rechtsstaat, 1969. Hans Schneider, Volksabstimmungen in der rechtsstaatlichen Demokratie, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 155. 32
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folgt eine differenzierende Darstellung der Weimarer Zeit, der Rechtslage und Entwicklung in Italien und Frankreich, der Volksabstimmungen in der NS-Zeit, die, soweit es dort zu Abstimmungen gekommen sei, bestätigende, nicht entscheidende Plebiszite gewesen seien. Auf dieser Basis entwickelt Hans Schneider eine grundsätzliche Kritik an den Volksabstimmungen: Wenn das Staatsvolk letztlich mehrheitlich alles beschließen könne, was es wolle, relativiere diese Verabsolutierung der Demokratie den Rechtsstaat. Eine Volksabstimmung, die nur im Rahmen eines freiheitlichen Gemeinwesens sinnvoll sein könne, wende sich gegen ihre eigene Lebensbasis. Das Prinzip der Repräsentation mäßige den Einfluss des Staatsvolkes. Der augenblickliche Mehrheitswille dürfe nicht die Gewaltenteilung durchbrechen, nicht auf Kosten des Rechtsstaates befriedigt werden. Eine Volksabstimmung entpolitisiere die Entscheidung, weil sich die Mehrheit des Staatsvolkes in der Regel der Sachentscheidung zu entziehen suche, deswegen die einfachste Antwort auf die gestellte Frage wähle. In Auseinandersetzung mit den damals noch neuen Methoden der Demoskopie wird sodann dargelegt, dass bestimmte Gegenstände von staatsbürgerlicher Bedeutung – insbesondere die Finanzen und die Außenpolitik – nicht Gegenstand einer Volksabstimmung sein könnten, dass eine Abstimmung nur über die Frage möglich sei, die der vereinfachten Antwort eines Ja oder Nein zugänglich seien, dass die Befragten durch die Art der Frage geführt werden können (Ernst Jünger: „Die geistige Unterwerfung vollzieht sich durch Annahme der Fragestellung.“). In Bayern stellte eine Volksabstimmung einmal die Frage: „Sind Sie für das bessere Müllkonzept?“. Die rechtliche Aufmerksamkeit gelte demjenigen, der die Fragen stellt und die Fragestellung publizistisch vermittelt. Auch die Zeitwahl für die Abstimmung sei wesentlich. Schließlich verdeutlicht Hans Schneider am Beispiel der Entscheidung des Parlamentarischen Rates 1949 die Interpretationsbedürftigkeit von Abstimmungen. Damals wurde dem Rat die Frage gestellt: „Soll über Kirche und Staat etwas im Grundgesetz gesagt werden?“. Die Abstimmung ergab 48 Ja-Stimmen und 48 Nein-Stimmen. Dieses Zahlenergebnis belege jedoch nicht ein Abstimmungspatt. Vielmehr seien 4 Nein-Stimmen ein Plädoyer dafür gewesen, das Verhältnis von Staat und Kirche in den Länderverfassungen, nicht in der Bundesverfassung zu regeln. Eine Mehrheit erwarte also eine verfassungsrechtliche Aussage zum Verhältnis von Staat und Kirche. Sehen wir diese drei Grundlagenstudien als Teil eines Gesamtwerkes, so wird die Aufmerksamkeit von Hans Schneider für aktuelle Anfragen an das Verfassungsrecht im Prinzipiellen bewusst, ebenso sein Wille, die rechtliche Lösung aus der Entwicklung des Problems und der Geschichte des Rechtsmaßstabes zu gewinnen, die gefundene Lösung in ihren politisch-praktischen Wirkungen zu erproben und nachzudenken.
4. Gesetzgebung Das Grundmotiv des Wissenschaftlers Hans Schneider, die Rechtsentwicklung in der Rationalität des Wissenschaftlichen zu verstehen und anzuleiten, findet sein
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Kernthema in der Gesetzgebungslehre.33 Dieses Standardwerk von Hans Schneider hat zum Ziel, gute Gesetze zu schaffen, weiß sich dabei in der großen Tradition von Svarez, dem Schöpfer des Preußischen ALR, von Thibaud und Savigny, von Robert von Mohl.34 Dabei bezeichne „Gesetz“ einerseits das auf Dauer Geltende, Rechtsbewusstsein Bildende, andererseits jede von der gesetzgebenden Autorität getroffene Entscheidung über allgemein verbindliche Regeln.35 In diesem weiten Begriff der Rechtsnorm gibt Hans Schneider Orientierung, wenn er einerseits Grundsatzbestimmungen, Bestimmungsnormen unterscheidet, diese von den Verhaltensanweisungen, Rechtsregeln abhebt, als dritte Kategorie die statusbegründenden Normen anerkennt, als vierte den Plan.36 Entschieden hält Hans Schneider an dem Erfordernis einer gewissen Allgemeinheit der Gesetzgebung fest, um die gesetzgebende Gewalt von anderen zu unterscheiden, die Voraussehbarkeit dessen, was geregelt werden soll, zu sichern, die Gleichheit vor dem Gesetz zu befestigen, dem Bundesstaat auch den Übergriff des Bundesgesetzgebers in die Länderkompetenz zur Einzelfallentscheidung zu verwehren. Das Einzelfallgesetz begründe Dispens und Privileg, müsse deshalb als solches gerechtfertigt werden. Im Rahmen der Wiedervereinigung anerkennt Hans Schneider in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Südumfahrung Stendal eine Legalenteignung, um die Verkehrsinfrastruktur im wiedervereinigten Deutschland beschleunigt zu verbessern. Die Gesetzgebungslehre ist ein Beispiel für das, was man heute Rechtstatsachenforschung nennt. Sie analysiert das Bestehen und Wirken eines Gesetzes,37 unterscheidet die verschiedenen Gesetzgebungstypen,38 handelt von der äußeren Gestaltung der Gesetze,39 von ihrem Stil und ihrer Sprache,40 ihrer Geltung41 und ihrem Rang,42 beschreibt die Bedingungen und Folgen einer Neufassung, Bereinigung und Dokumentation der Gesetzgebung.43 Dabei misst Hans Schneider den Fußnoten eine besondere Aufgabe zu: Sie belegen nicht nur das Gelesene, sondern bieten vor allem eine Fülle von Beispielen konkreter Gesetzgebungsfälle, von Urteilen, von Gesetzesinitiativen, veranschaulichen damit historisch das im Text Gesagte, ohne den Text mit diesen Exempeln zu belasten. Die Fußnote bietet in der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem eine Zwischenebene: die veranschaulichende Erfahrung, das exemplarische Detail, die grundsatzbeschränkende Gegenläufigkeit. Zu den Mindesterfordernissen der Gesetzgebung, den elementaren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, zählt Hans Schneider44 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Hans Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002. A.a.O. S. 1 f. A.a.O. S. 10 f. A.a.O. S. 12 f. A.a.O. S. 22 f. A.a.O. S. 137 f. A.a.O. S. 205 f. A.a.O. S. 256 f. A.a.O. S. 302, 328, 351. A.a.O. S. 358 f. A.a.O. S. 372 f. A.a.O. S. 42 f.
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– die natürliche Sachgemäßheit, in der die Norm dem Menschen gerecht wird, die Erfordernisse seiner Familie, der örtlichen Gemeinschaft, des Staatsvolkes anerkennt, die Auswirkung von Klima und Arbeitsbedingungen auf Lebens- und Wirtschaftsweisen berücksichtigt, den Stand von Wissenschaft und Technik in die rechtlichen Überlegungen einbezieht, die Rechtsüberlieferungen als eigene Erkenntnisquelle für Recht würdigt. – Die gesetzlich gewählte Sachgemäßheit fordere eine Systemgerechtigkeit, eine Folgerichtigkeit der Gesetzgebung. Wenn das Strafrecht dem Schuldprinzip folge, müsse der Irrtum die Strafe ausschließen. Wenn das Wahlrecht auf die Verhältniswahl, nicht die Mehrheitswahl setze, sei eine 25% Klausel unzulässig, obwohl bei der Mehrheitswahl deutlich mehr Stimmen unbeachtlich bleiben könnten. – Die Verhältnismäßigkeit, das Gebot des Maßhaltens, verlange eine wertende Mittel-Zweck-Relation. Dabei allerdings wird die Ausuferung des Verhältnismäßigkeitsprinzips deutlich, teilweise energisch infrage gestellt. – Schließlich sichere eine gute Gesetzgebung ein Mindestmaß an Bestimmtheit der Normen. Hier folgen Gedanken zur statischen und dynamischen Verweisung, zur Verständlichkeit je nach Fachgebiet – das Strafrecht müsse als Jedermannsrecht anders formuliert werden als das an den Jäger gerichtete Jagdrecht –, auch eine grundlegende Kritik am „Wirrwarr“ alljährlicher Rentenanpassungsvorschriften, die Ausdruck eines Niedergangs der Gesetzgebungskunst seien. Zur äußeren Gestaltung von Gesetzen45 entzieht sich Hans Schneider nicht der Aufgabe, auch zu Fragen der Überschrift, der Einleitungsform, der – möglichst zu vermeidenden – Präambel, der Leitvorschriften, der Systematik und Gliederung Grundlegendes zu sagen. Zum Gesetzgebungsstil warnt er vor der Detailliertheit der Polizeiverordnungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die das menschliche Verhalten bis ins kleinste – der Kleidung und der Essgewohnheiten – vorschreiben wollten, um das Glück der Menschen zu befördern. Auch die heutige Flüchtigkeit und Spezialität vieler Gesetze wecke den Wunsch nach der dauerhaften Ordnung eines großen Feldes. Die Gesetzessprache46 sei klar und knapp, schmucklos, nicht erzählend, vermeide insbesondere hochtrabende Vorsprüche. Der Gesetzgeber schreibe, rede nicht. Gesetz- und Verordnunggeber müssten wieder die Kunst des Weglassens alles Unbedeutenden, die Konzentration auf das Wesentliche lernen und verstehen. Die Häufung von Hauptwörtern und Fremdwörtern sei eine „Sprachkrankheit“. „Zeitgeistgefälligkeiten“ werden nachdrücklich kritisiert, wenn die Fürsorge jetzt Sozialhilfe genannt wird, aus dem Armenrecht eine Prozesskostenhilfe, aus dem Lehrling ein Auszubildender, aus dem Zahlungsbefehl ein Mahnbescheid wird. Sein Grundpostulat – die Forderung nach einem dauernden Kernbestand des geschriebenen Rechts, nach einer Reduzierung der Gesetzesmasse – wird allerdings mit der Feststellung verknüpft: „Aber die Verhältnisse sind nicht so“. Gemeinwohl und Gerechtigkeit kämen ohne Beschützer nicht zur Geltung.
45 46
A.a.O. S. 205 f. A.a.O. S. 261 f.
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Bei der Behandlung des Gesetzgebungsverfahrens47 bleibt die Gesetzgebungslehre nicht bei den Rechtsmaßstäben der Gesetzesinitiative, des Beschließens und Zustandekommens von Gesetzen, der Ausfertigung und der Verkündung stehen, schildert und kritisiert vielmehr auch den heute üblichen tatsächlichen Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens. Zu den Vorarbeiten in den Ministerien warnt Hans Schneider48 vor den spezialisierten Referenten, die Gefahr liefen, sich zu verhalten wie ein Museumsdiener im Louvre: Sie kennen nur ihre Vitrine, wüssten nichts vom benachbarten Saal. Gustav Radbruch habe 1921 das Reichsjustizministerium noch als kleines rechtstechnisches Konstruktionsbüro kennzeichnen können, als juristische Bauhütte. Heute sei das Bundesjustizministerium eine Gesetzesfabrik im Fließband-Betrieb. Wenn der Referentenentwurf nach Anhörung der Verbände, gelegentlich auch nach Test und Planspiel, den Segen des federführenden Ministers erhalte, kabinettsreif und zum Beschluss der Bundesregierung49 geworden sei, dann sage die Begründung oft: „Alternativen: Keine, Kosten: Keine“, verweigere damit aber eine Wirklichkeitssicht, die dem Parlament als Vertreter des Staatsvolkes im Wissen und im Willen hätte unterbreitet werden müssen. Besondere Aufmerksamkeit widmet unser Autor dem ersten Durchgang im Bundesrat, den drei Lesungen mit Schlussabstimmung im Bundestag, der Beteiligung des Bundesrates in vielen historisch erprobten Verhaltensweisen, auch in mancher Kuriosität, der praktischen Bedeutung parlamentarischer Aufzeichnungen über das Gesetzgebungsverfahren, auch der Wirksamkeitskontrolle von Gesetzen, die viele Berichtspfl ichten der Bundesregierung an das Parlament kenne, auch eine Technikfolgeabschätzung institutionell und maßstabgebend vorsehe, eine Statistik der Bundesgesetze als Hilfsmittel heranziehe, als elementare Selbstvergewisserung parlamentarischer Arbeit aber noch nicht entwickelt sei. Schließlich werden die Ausfertigung der Gesetze (einschließlich der seltenen Fälle der Verweigerung durch den Bundespräsidenten), die Verkündung, die Vor- und Rückwirkung eines Gesetzes, der Übergang, das Außerkrafttreten, der räumliche, zeitliche und persönliche Geltungsbereich des Gesetzes, die Rechtsbereinigung behandelt.
5. Eine persönliche Bemerkung Wer alles dieses liest, sich von diesen Texten inspirieren lässt, ist dankbar. Viele persönliche Begegnungen mit Hans Schneider werden wieder gegenwärtig. Ich verdanke Hans Schneider den Zugang zur Rechtswissenschaft in Heidelberg, manchen klugen Rat in Rechtsfragen, auch in Lebensfragen, sein Zweitgutachten zu meiner Habilitationsschrift, fühle mich Herrn und Frau Schneider auch in besonderem Dank verbunden, weil sie bei unserem Auf bruch nach Münster uns ihr großes Haus und ihre generöse Gastlichkeit öffneten, damit wir – damals noch in beengten Verhält47 48 49
A.a.O. S. 56 f. A.a.O. S. 64 f. A.a.O. S. 76 f.
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nissen auf dem Boxberg wohnend – unsere Freunde, Kollegen, Mitstreiter formgerecht verabschieden konnten. Doch was ich heute in unserer Aufmerksamkeit für den Wissenschaftler Hans Schneider hervorheben möchte, ist der Übergang unseres Lehrstuhls von ihm zu mir. Wir saßen uns in seinem Dienstzimmer gegenüber. Hans Schneider übergab mir die Insignien des Lehrstuhls – Bilder großer Rechtsgelehrter an der Wand des Zimmers, eine Schreibtischgarnitur, ein Holzhämmerchen, mit dem man Aufmerksamkeit in Sitzungen fordern konnte. Dann sagte er mir, damit beende er seinen Aufenthalt in diesem Zimmer, werde dort nicht mehr erscheinen, mir aber stets mit Rat und Tat zur Seite stehen. Für das Recht fordert er den schonenden Übergang, für sich wählt er generös die klare Zäsur. Einige Wochen später kündigte Hans Schneider uns seinen Besuch in unserer Wohnung an. Wir lebten während unseres Hausbaus in Ziegelhausen vorübergehend in zwei übereinanderliegenden Dozentenwohnungen im Langgewann, mehr auf der Treppe als in den Zimmern. Dieses teilte ich Hans Schneider mit. Doch er antwortete, das sei nicht störend. Allerdings sei erwägenswert, für seinen Besuch einen dunklen Anzug anzuziehen. Hans Schneider erschien, übergab mir feierlich seinen Talar, verband diese Übergabe mit der Hoffnung, dass die Fakultät bald wieder Gelegenheiten eröffnen werde, diesen Talar zu tragen. Dieses ist inzwischen geschehen. Wir tragen zur Promotionsfeier alljährlich Talar, pflegen damit das Bewusstsein von Amt und Amtstracht. Dieses habe ich besonders lebhaft als Richter in Karlsruhe erfahren. Wenn wir dort an der Garderobe den Talar anzogen, waren wir uns bewusst, dass nun unsere persönliche Freiheit endet, wir als Gericht der Freiheit der anderen zu dienen hatten. Wenn wir dann abends den Talar an der Garderobe wieder zurückließen, haben wir ein Stück individueller Freiheit zurückgewonnen. Wenige Jahre später besuchte uns Hans Schneider erneut, nunmehr in unserem Haus in Ziegelhausen. Er habe bei der Analyse des damaligen (1984) Schrifttums zum Staatsrecht festgestellt, dass ein Handbuch des Staatsrechts fehle, das die auseinanderstrebenden Aussagen zu Staat und Recht in den unverzichtbaren Gemeinsamkeiten zusammenführe. Er habe mit dem C. F. Müller Verlag, Heidelberg, auch schon Gespräche geführt und die Bereitschaft des Verlages zur Betreuung dieses Werkes sichergestellt, außerdem mit einigen Autoren gesprochen, die als Leuchttürme mitwirken sollten, das Werk auf den Weg zu bringen. In Anlehnung an den Anschütz/ Thoma50 empfehle er zwei Herausgeber, einen aus Bonn und einen aus Heidelberg. So wirkt Hans Schneider in die Gegenwart und in die Zukunft mit seinen Worten, seinen Schriften, seinen institutionell und materiell gegenwärtigen wissenschaftlichen Initiativen. Es ist schön, es ist für die Wissenschaftskultur sinnstiftend, seiner zu gedenken.
50
Gerhard Anschütz/Richard Thoma, Handbuch des Staatsrechts, 1. Band, 1930, 2. Band, 1932.
Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum
Die finanzielle Tragödie Griechenlands aus verfassungsrechtlicher und institutioneller Sicht: Feudalistische Grundstrukturen hinter demokratischer Oberfläche? von
Prof. Dr. Kostas Chryssogonos, Universität Thessaloniki Dr. Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis, Freie Universität Berlin/ Universität Thrazien Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verfassungsrechtliche Probleme des „Rettungsmechanismus“ für die griechische Wirtschaft . . . . . . . I. Die de-facto-Zuteilung äußerer wirtschaftlicher Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Schutz sozialer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grenzen der internationalen und supranationalen Einbindung des griechischen Staates . II. Die Gefährdung der souveränen Staatlichkeit Griechenlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Verantwortung des griechischen politischen Systems für die finanzielle Misere Griechenlands . . . I. Verfassungswirklichkeit 2009–2010: Von der vorzeitigen Auflösung des Parlaments 2009 bis zum „Rettungsmechanismus“ 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Pathologien des griechischen politischen Systems: Feudalistische Grundstrukturen hinter demokratischer Oberfl äche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zusammensetzung des politischen Personals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die politischen Parteien als Klientel- und Patronagenetzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die defizitäre innerparteiliche Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Zweiparteiensystem und seine Perpetuierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Ministerverantwortung bzw. die Verantwortungslosigkeit der Minister . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis: Griechenland als „limited access“-Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung Spätestens seit Ende 2009 hat die griechische Finanzkrise die europäische Währungsgemeinschaft auf eine harte Probe gestellt. Im Anschluss an die internationale Finanzkrise von 2007 stellte sich in Griechenland kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2009 heraus, dass das griechische Haushaltsdefizit im Jahr 2009 mit schließlich 15,5 % der Jahreswirtschaftsleistung im Vergleich zum bis dahin kalkulierten Wert mehr als doppelt so hoch ausfiel. Zugleich erreichte das Gesamtniveau der griechischen Staatsschulden im Jahr 2010 nach der aktuellsten Berechnung insgesamt ca. 325 Milliarden Euro, somit nahezu 140 % des Bruttoinlandsprodukts.1 Dabei überschritt die griechische Neuverschuldung die im Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion 2 festgelegte Obergrenze um mehr als das Fünffache, wobei der Schuldenstand bei mehr als dem Doppelten des Erlaubten lag. Vor dem Hintergrund sich dramatisch verschärfender Kreditkonditionen auf den Finanzmärkten erklärten die Staats- und Regierungschefs der Euroländer Ende März 2010 ihre Bereitschaft, Griechenland zusätzlich zu einer Finanzierung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) mit bilateralen Darlehen beizustehen. Nachdem die Risikoaufschläge für griechische Staatsanleihen trotzdem auf Rekordhöhen schnellten und die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Griechenlands stark herabstuften, sah sich die griechische Regierung im April 2010 gezwungen, Finanzhilfen der Europäischen Union und des IWF zu beantragen. Darauf hin stellten die Staaten der Eurogruppe am 2. Mai 2010 im Zusammenhang mit einem dreijährigen Programm des IWF einen Gesamtfi nanzierungsbedarf in Höhe von 110 Milliarden Euro in Aussicht. Das mit Griechenland vereinbarte „Memorandum of Understanding“ knüpfte die Auszahlung der Kredite an strenge und regelmäßig kontrollierte Bedingungen sowie quantitative Einsparungsziele hinsichtlich der Haushaltssanierung (sog. conditionality).3 Inwieweit es dabei um einen eigentlichen „Rettungsmechanismus“ für die griechische Wirtschaft geht, der Aussicht auf langfristigen Erfolg hat, ist freilich fragwürdig, wie zurzeit (Mai 2011) die anschwellende Diskussion über eine eventuelle Umschuldung griechischer Staatsschulden belegt. Ohne darauf eingehen zu können, setzen sich die folgenden Ausführungen zunächst kurz mit den verfassungsrechtlichen Implikationen des oben genannten „Rettungsmechanismus“ aus der Sicht der griechischen Verfassung auseinander (B.), um sodann die Rolle der Pathologien des griechischen politischen Systems für die fi nanzielle Tragödie Griechenlands zu untersuchen (C.). 1 Die Angaben beruhen auf der Datenbank Ameco der Europäischen Kommission, verfügbar unter http://ec.europa.eu/economy_fi nance/db_indicators/ameco/index_en.htm (zuletzt abgerufen am 28. 5. 2011). 2 Vgl. Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt Amsterdam, 17. Juni 1997, ABl Nr. C 236/1, der im Interesse der Stabilität des Euro eine Neuverschuldung von maximal 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und einen Schuldenstand von maximal 60 % des BIP vorsieht. 3 Im Einzelnen besteht das „Memorandum of Understanding“ (im Folgenden: Memorandum) aus drei Memoranden: dem Memorandum zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, dem Memorandum zu den spezifi schen Voraussetzungen der Wirtschaftspolitik und dem Memorandum zu technischen Vereinbarungen.
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B. Verfassungsrechtliche Probleme des „Rettungsmechanismus“ für die griechische Wirtschaft I. Die De-facto-Zuteilung äußerer wirtschaftlicher Souveränität Zur Umsetzung des „Mechanismus zur Unterstützung der griechischen Wirtschaft von den Mitgliedstaaten der Eurozone und dem Internationalen Währungsfonds“ wurde das Gesetz 3845/2010 vom griechischen Parlament verabschiedet.4 In den Gesetzesanlagen wird das zwischen dem griechischen Finanzministerium, der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem IWF vereinbarte sog. „Memorandum of Understanding“ beigefügt, das die Voraussetzungen für die Auszahlung der Kredite im Einzelnen festlegt.5 Das Gesetz 3845/2010 ruft jedoch eine Reihe von Kompatibilitätsproblemen mit der griechischen Verfassung hervor,6 die die Anwaltskammer Athen zusammen mit gewerkschaftlichen Einrichtungen und natürlichen Personen in einem zurzeit anhängigen Verfahren vor dem Staatsrat – dem obersten Verwaltungsgericht Griechenlands – angefochten hat. In Anspielung auf die extrakonstitutionellen Verfassungseinschränkungen, die gegen die Grundrechtsgewährleistungen der griechischen Verfassung von 1952 verstießen, als Ausnahmeregeln aber fortgalten,7 ist in einem Teil des Schrifttums sogar von einer neuen „Nebenverfassung“ die Rede.8 Im Folgenden kann nur beispielhaft auf einige dieser Probleme hingewiesen werden.
1. Das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive Der erste Problemschwerpunkt betrifft das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive mit Blick auf Maßnahmen für die Umsetzung des Memorandums in der
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Regierungsblatt A 65/6. 5. 2010. Die Gesetzesanlage bildet keine verbindliche Rechtsnorm, zumal es dabei lediglich um geschichtliche Erkenntnisse und Aussichten für die Zukunft geht, die zwar konkrete Figuren erwähnen, die Art und Weise ihrer rechtlichen Verwirklichung aber nicht konkretisieren. Näher dazu K. Chryssogonos ( Κ. Χρυσόγονος ) , Η χαμένη τιμή της Ελληνικής Δημοκρατίας. Ο μηχανισμός „στήριξης της ελληνικής οικονομίας» από την οπτική της εθνικής κυριαρχίας και της δημοκρατικής αρχής“ (Die verlorene Ehre der griechischen Republik. Der „Rettungsmechanismus der griechischen Wirtschaft“ aus der Sicht der nationalen Souveränität und des Demokratieprinzips), Νομικό Βήμα ( Juristisches Forum) [im Folgenden: NoB] 2010, S. 1353 (1354), wonach das Memorandum eine analoge Stellung zu den Begründungen der „normalen“ einfachen Gesetze besitzt. 6 Pauschale Verneinung der Verfassungsmäßigkeitsvorwürfe bei P. Glavinis ( Π. Γκλαβίνης ), Το Μνημόνιο της Ελλάδος στην ευρωπαϊκή, τη διεθνή και την εθνική έννομη τάξη (Das Memorandum Griechenlands in der europäischen, der internationalen und der nationalen Rechtsordnung), AthenThessaloniki 2010, S. 100, 102, 108 f., der von einer völker- und europarechtlichen Bindung Griechenlands ausgeht, die mit dem Memorandum angenommenen Verpfl ichtungen zu erfüllen. 7 Ausführlich dazu u. a. N. Alivizatos, Les institutions politiques de la Grèce a travers les crises 1922– 1974, Paris 1979, S. 415 ff.; A. Pantélis, Les grands problèmes de la nouvelle Constitution hellénique, Paris 1979, S. 45 ff. 8 G. Katrougalos ( Γ. Κατρούγκαλος ), Το „παρασύνταγμα“ του μνημονίου και ο άλλος δρόμος (Die „Nebenverfassung“ des Memorandums und der andere Weg), NoB 2011, S. 231 (231). 5
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griechischen Rechtsordnung.9 Art. 1 Abs. 4 des Gesetzes 3845/2010 ermächtigt den Finanzminister, Memoranden, Vereinbarungen und Übereinkommen für die Umsetzung des Mechanismus zur Unterstützung der griechischen Wirtschaft zu unterzeichnen, unter der Voraussetzung, dass sie dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden. Nur fünf Tage nach der Veröffentlichung des Gesetzes 3845/2010 wurde aber diese Bestimmung mit dem Gesetz 3847/201010 zurückgenommen, indem nunmehr festgelegt wurde, dass solche Memoranden, Vereinbarungen und Übereinkommen dem Parlament nicht zur Ratifizierung, sondern lediglich zur „Diskussion und Information“ vorgelegt werden und schon ab der Unterzeichnung durch den Finanzminister gelten (Abs. 9 des einzelnen Artikels). Selbst die Darlehensverträge zwischen Griechenland und den anderen Mitgliedstaaten der Eurozone11 sowie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), in denen die Darlehenskonditionen und Voraussetzungen der Darlehensgewährung im Wesentlichen festgelegt werden, sind vom griechischen Parlament nicht ratifiziert worden.12 Dagegen sind erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden. Denn Art. 36 Abs. 2 der griechischen Verfassung13 sieht ausdrücklich vor, dass Verträge über Handel und Steuern, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Teilnahme an internationalen Organisationen oder Vereinigungen sowie Verträge mit Zugeständnissen, die nach anderen Bestimmungen der Verfassung ohne Gesetz nicht verfügt werden können oder die die Griechen persönlich belasten, „zu ihrer Gültigkeit eines formellen Ratifi kationsgesetzes bedürfen“. Ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen, kann zwar hinsichtlich der Vereinbarung mit dem IWF (sog. „standby-agreement“) aus völkerrechtlicher Sicht in Frage gestellt werden, ist aber zumindest im Hinblick auf den Vertrag mit den anderen Mitgliedstaaten der Eurozone zu bejahen.14 Insoweit verstößt daher die einfachgesetzliche Beschränkung der parlamentarischen Mitwirkung auf „Diskussion und Information“ gegen das verfassungsrechtlich vorgesehene Ratifi kationserfordernis.15 Davon zu unterscheiden ist die Frage, 9
Dazu ausführlich Chryssogonos, oben Fn. 5, S. 1353 ff. Regierungsblatt A 67α /11. 5. 2010. 11 Aus deutscher Sicht wurde der Darlehensvertrag von der Kreditanstalt für Wiederauf bau unterschrieben, die im öffentlichen Interesse handelt und den Anweisungen der Bundesrepublik Deutschland unterliegt. 12 Der Darlehensvertrag wurde zwar am 4. Juni 2010 dem Parlament zur Ratifi zierung vorgelegt, darüber hat aber bis jetzt (Mai 2011) noch keine Beratung stattgefunden. 13 Σύνταγμα της Ελλάδας (Verfassung von Griechenland) vom 11. Juni 1975, zuletzt geändert am 27. Mai 2008, im Folgenden zitiert als Verf. Soweit nichts anders angegeben, wird im Folgenden die deutsche Übersetzung der Verfassung Griechenlands verwendet, die unter www.verfassungen.eu/ griech/ heruntergeladen werden kann (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2011). 14 Vgl. die diesbezügliche Unterscheidung von A. Bredimas ( A. Μπρεδήμας ), Μνημόνιο, stand-byagreement (ΔΝΤ ) και συμφωνία δανεισμού με τα κράτη μέλη της ευρωζώνης και η σύναψή τους υπό το πρίσμα του διεθνούς και συνταγματικού δικαίου (Memorandum, stand-by-agreement [IWF] und Darlehensvertrag mit den Mitgliedstaaten der Eurozone sowie ihr Abschluss aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht), Tο Σύνταγμα (Die Verfassung) [im Folgenden: ToS] 4/2010 (im Erscheinen). 15 So auch G. Kassimatis ( Γ. Κασιμάτης ), Οι συμφωνίες δανεισμού της Ελλάδας με την ΕΕ και το ΔΝΤ (Die Darlehensverträge Griechenlands mit der EE und dem IWF), Athen 2010, S. 15 f.; G. Katrougalos ( Γ. Κατρούγκαλος ), Memoranda sunt servanda?, Εφημερίδα Διοικητικού Δικαίου (Zeitschrift für Verwaltungsrecht) [im Folgengen: Efi mDD] 2010, S. 151 (157); E. Marias ( Ε. Μαριάς ), Η δανειακή σύμβαση Ελλάδας-κρατών Ευρωζώνης υπό το πρίσμα των θεσμών και του δικαίου της ΕΕ (Der 10
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inwieweit eine gerichtliche Kontrolle eines solchen Verstoßes möglich wäre. Die Auffassung, dass es dabei um eine Verletzung von parlamentarischen „interna corporis“ gehen würde,16 die nach bisheriger Rechtsprechung keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegt,17 würde allerdings die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ohne verfassungsrechtliche Grundlage zu sehr einschränken. Beträchtliche Einwände treten außerdem hinsichtlich der Vereinbarkeit des Gesetzes 3847/2010 mit Art. 36 Abs. 4 der griechischen Verfassung zutage, wonach die Ratifizierung internationaler Verträge nicht Gegenstand einer Gesetzesermächtigung sein kann. Die dem Finanzminister gewährte Ermächtigung, verbindliche Übereinkommen für die Umsetzung des Mechanismus zu unterzeichnen, überschreitet aber die verfassungsrechtlichen Grenzen zulässiger Gesetzesermächtigung. Darüber hinaus enthält das Gesetz 3845/2010 allgemeine gesetzliche Ermächtigungen zum Erlassen von Präsidialverordnungen, mit denen alle geeigneten Maßnahmen der Finanzpolitik zur Verwirklichung der Zielsetzungen des Programms18 sowie Maßnahmen zum Schutz der sozial schwächeren Bevölkerungsschichten ebenso wie zur Unterstützung der „realen“ Wirtschaft und zur Stärkung der kleinen Unternehmen getroffen werden19. Dabei geht es – zwar nicht wörtlich, aber jedenfalls inhaltlich – um ein Rahmengesetz im Sinne der griechischen Verfassung, wonach vom Parlamentsplenum beschlossene Gesetze zum Erlass von Rechtsverordnungen über Fragen, die in den Ermächtigungsgesetzen lediglich dem Rahmen nach festgesetzt sind, ermächtigen können, unter der Voraussetzung allerdings, dass die allgemeinen Grundsätze und Richtlinien der Regelungen in diesen Gesetzen bestimmt und Fristen für die Ausführung der Ermächtigung gesetzt werden (Art. 43 Abs. 4 S. 2 Verf.). Im vorliegenden Fall können die allgemeinen Grundsätze und Richtlinien der Regelungen allenfalls in den Gesetzesanlagen enthalten sein, in denen das Memorandum niedergeschrieben ist. Dort sind zwar konkrete Ziele gesetzt, die Art und Weise ihrer Verwirklichung bleibt aber häufig ungeklärt. Für die Jahre 2013–2014 sind beispielsweise (in der Tabelle 1 des Memorandums zur Wirtschafts- und Finanzpolitik) „unspezifizierte Maßnahmen“ in Höhe von ca. zehn Milliarden Euro ohne jegliche Erläuterung vorgesehen. Wenn aber Rechtsverordnungen erlassen werden könnten, mit denen ohne weiteres Maßnahmen bis zu dieser Höhe getroffen werden, dann läuft jede Bindung der Exekutive an die Legislative hinsichtlich der Grundsätze der Regelung ins Leere. Hinzu kommt, dass weder im Gesetz selbst noch in seinen Anlagen klar und eindeutig konkrete Fristen für die Ausführung der Ermächtigung gesetzt sind, wie es die Verfassung ausdrücklich für das Erlassen von Rahmengesetzen voraussetzt. Darlehensvertrag zwischen Griechenland und den Staaten der Eurozone unter den Gesichtspunkten der Institutionen und des Rechts der EU), NoB 2010, S. 2204 (2219); i. E. auch Glavinis, oben Fn. 6, S. 117, 125. 16 Wohl in diese Richtung A. Gerontas (Α. Γέροντας ), Το Μνημόνιο και η δικαιοπαραγωγική διαδικασία (Das Memorandum und das Rechtsetzungsverfahren), Efi mDD 2010, S. 705 (714). 17 Dazu aus allgemeiner Sicht J. Iliopoulos-Strangas/S.-I. G. Koutnatzis, Constitutional courts as ‚positive legislators‘, Revue Hellénique de Droit International [RHDI] 2010, S. 351 (355 f.) m. w. N. aus der Rechtsprechung. 18 Art. 2 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes 3845/2010. 19 Art. 2 Abs. 2 und 3 des Gesetzes 3845/2010.
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Für die Begründung der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen gesetzlichen Ermächtigungen könnte allerdings die thematisch einschlägige, besondere Bestimmung des Art. 78 Abs. 5 Verf. herangezogen werden, wonach es ausnahmsweise zulässig ist, aufgrund einer Ermächtigung durch ein Rahmengesetz, Ausgleichsbeiträge oder Zölle aufzuerlegen sowie Wirtschaftsmaßnahmen im Rahmen der internationalen Beziehungen des Landes mit wirtschaftlichen Organisationen anzuordnen oder Maßnahmen zur Sicherung der Währungslage des Landes zu treffen. Zwar ist die Frage nicht unumstritten, inwieweit die allgemeinen Vorgaben der Rahmengesetzgebung hinsichtlich der Festschreibung der allgemeinen Grundsätze und Richtlinien sowie der zeitlichen Fristen für die Ausführung der Ermächtigung auch bei einem Rahmengesetz im Sinne des Art. 78 Abs. 5 Verf. gelten. Wenn aber die Einschränkungen des Art. 43 Abs. 4 Verf. bei einem Rahmengesetz des Art. 78 Abs. 5 Verf. nicht gelten,20 wird ohne verfassungsrechtliche Grundlage ein übermäßiger Machtanteil von der Legislative auf die Exekutive übertragen. Demzufolge ist mit der herrschenden Meinung im Schrifttum 21 davon auszugehen, dass die Sonderregelung des Art. 78 Abs. 5 Verf. lediglich eine Ausnahme von der Regel des Art. 78 Abs. 4 Verf. enthält, wonach der Steuergegenstand, der Steuersatz, die Steuerbefreiungen oder ausnahmen sowie die Gewährung von Ruhegehältern nicht zum Gegenstand eines Ermächtigungsgesetzes gemacht werden können. Davon unberührt bleiben daher die Kautelen des Art. 43 Abs. 4 Verf., die auch im Anwendungsbereich des Art. 78 Abs. 5 Verf. eingehalten werden sollten.
2. Der Schutz sozialer Grundrechte Was die materiellen Regelungen angeht, die zwischen Griechenland und den anderen Staaten der Eurozone sowie dem IWF vereinbart und im Anschluss daran mit dem Gesetz 3845/2010 umgesetzt wurden,22 stellt sich die Frage, inwieweit sie mit den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Vorgaben, vor allem mit der Verankerung sozialer Grundrechte im weiteren Sinne in der griechischen Verfassung vereinbar sind. Vor allem haben die Möglichkeit von Abweichungen von dem niedrigsten Gesetzeslohn 23 und die Kürzungen von Gehältern und Renten sowie diversen Zuschlägen 24 verfassungsrechtliche Bedenken hervorgerufen.25 Dabei kann auch auf jüngste Ur-
20 So etwa K. Finokaliotis ( Κ. Φινοκαλιώτης ), Η συνταγματική κατοχύρωση των αρχών της νομιμότητας και βεβαιότητας του φόρου και της απαγόρευσης της αναδρομικότητας των φορολογικών νόμων (Die verfassungsrechtliche Verankerung der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gewissheit
der Besteuerung sowie des Rückwirkungsverbots von Steuergesetzen), Athen-Komotini 1983, S. 84 ff. 21 Z. B. P. Pararas ( Π. Παραράς ), Ο θεσμός των νόμων πλαισίων (Die Institution der Rahmengesetze), ToS 1977, S. 280 (301 ff.). 22 Sowie mit der darauffolgenden Gesetzgebung; vgl. etwa Gesetz 3899/2010: „Dringende Maßnahmen zur Umsetzung des Rettungsprogramms für die griechische Wirtschaft“, Regierungsblatt A 212/17. 12. 2010. 23 Art. 2 Abs. 7 des Gesetzes 3845/2010. 24 Vor allem Art. 3 des Gesetzes 3845/2010. 25 Vgl. auch Art. 73 Abs. 2 Verf., wonach Gesetzentwürfe über Ruhegehälter, die in Gesetze aufgenommen werden, welche die Regelung anderer Gegenstände bezwecken, nichtig sind.
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teile von Verfassungsgerichtshöfen in Lettland 26 und Rumänien 27 hingewiesen werden, die die weitgehenden Rentenkürzungen in Umsetzung der IWF-Programme als verfassungswidrig angesehen haben. Der umfangreiche Grundrechtskatalog der griechischen Verfassung verankert zahlreiche soziale Rechte. So betont etwa Art. 22 Abs. 1 Verf., dass die Arbeit ein Recht ist und unter dem Schutz des Staates steht, der für die Sicherung der Vollbeschäftigung und für die sittliche und materielle Förderung der arbeitenden ländlichen und städtischen Bevölkerung sorgt (S. 1), wobei das Recht auf gleiche Entlohnung für gleichwertig geleistete Arbeit (S. 2) sowie die in freien Verhandlungen abgeschlossenen Tarifverträge (Art. 22 Abs. 2 Verf.) auch verfassungsrechtlich verankert sind. Ebenso sorgt der Staat gemäß Art. 22 Abs. 5 Verf. für die Sozialversicherung der Arbeitenden. Entgegen früheren Bedenken werden auch die Rechte auf soziale Leistungen von der herrschenden zeitgenössischen Lehre und Rechtsprechung als rechtlich zwingende Normen für alle Staatsorgane angesehen, obgleich deren rechtlicher Inhalt je nach Recht variiert und einklagbare Ansprüche gegen den Staat diesen Rechten grundsätzlich nicht zu entnehmen sind.28 In diesem Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage, inwieweit ein „soziales Rückschrittsverbot“ bzw. ein sog. „sozialer Besitzstand“ verfassungsrechtlich verankert ist, der dem Gesetzgeber Schranken setzt oder der sogar unangetastet bleiben muss.29 Die herrschende Lehre verteidigt überzeugend den Schutz des so genannten relativen sozialen Besitzstandes.30 Danach wird dem Gesetzgeber die Möglichkeit zugestanden, auf der Grundlage einer neuen Abwägung zwischen mehreren Verfassungsgütern den Schutz eines sozialen Grundrechts zu verringern, ohne ihn jedoch willkürlich einzuschränken oder gänzlich abzuschaffen. In der Rechtsprechung wird zwar dem auf die städtebauliche Umgebung bezogenen Besitzstand absoluter Schutz zugestanden, so dass diesbezüglich einzig schutzausweitende Modifi kationen erlaubt seien.31 Ein allgemeines Verschlechterungsverbot des „sozialen Besitzstands“, der nur im Sinne einer Schutzerweiterung modifiziert werden kann, lehnt die Rechtsprechung aber grundsätzlich ab.32 In der neueren Rechtsprechung lässt sich zwar mehr 26
Vgl. das Urteil des Verfassungsgerichtshofes Lettlands vom 21. 12. 2009, Fallnummer 2009-4301, verfügbar unter www.satv.tiesa.gov.lv/upload/judg__2009_43_01.htm (zuletzt abgerufen am 29. 5. 2011) [auf Englisch]. 27 Vgl. das Urteil des Verfassungsgerichtshofes Rumäniens, vom 25. 6. 2010, Monitorul Oficial, Partea I, No. 433 vom 28. 6. 2010, zitiert nach T. Toader/M. Safta, La justice constitutionnelle: fonctions et relations avec les autres autorités publiques. Rapport national présenté par la Cour Constitutionnelle de la Roumanie, verfügbar unter www.ccr.ro/congres/ROMANIA%20fr.pdf (zuletzt abgerufen am 29. 5. 2011), S. 56. 28 Umfassende Darstellung bei J. Iliopoulos-Strangas/G. Leventis, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Griechenlands, in: Iliopoulos-Strangas (Hg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, Baden-Baden/Athen/Brüssel/Wien 2010 [im Folgenden: Soziale Grundrechte], S. 245 (277 ff.) m. w. N. aus Schrifttum und Rechtsprechung. 29 Dazu statt vieler Iliopoulos-Strangas/Leventis, oben Fn. 28, S. 310 ff. 30 Grundlegend D. Tsatsos (Δ. Τσάτσος ), Συνταγματικό Δίκαιο (Verfassungsrecht), Bd. Γ, Θεμελιώδη Δικαιώματα (Grundrechte) I. Γενικό Μέρος (Allgemeiner Teil), Athen-Komotini 1988, S. 208 ff. 31 Siehe zunächst Staatsrat 10/1988 (Plenum), ToS 1988, S. 117 (120 f.) (seitdem ständige Rechtsprechung); näher K. Chryssogonos/X. Contiades, Der Beitrag Griechenlands zur europäischen Rechtskultur: Der verfassungsrechtliche Umweltschutz, JöR N. F. 52 (2004), S. 21 (25 f.). 32 In mehreren Urteilen hat sich die Rechtsprechung z. B. für die Befugnis des Gesetzgebers ausge-
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und mehr die Tendenz erkennen, einen gewissen sozialen Besitzstand auch in Bezug auf andere soziale Grundrechte anzuerkennen; das betrifft den Schutz der Familie33 und auch die Fürsorgepfl icht des Staates hinsichtlich der Sozialversicherung34. Ob diese bis jetzt zaghaften Rechtsprechungsansätze bei der gerichtlichen Beurteilung der im Rahmen der Kreditvereinbarung festgelegten Kürzungen von sozialen Leistungen Anwendung fi nden werden, ist jedoch sehr zweifelhaft.35 Nichtsdestotrotz kann die Hervorhebung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, um die funktionellen Grenzen der Gerichtsbarkeit bei den sozialen Grundrechten zum Ausdruck zu bringen,36 nicht gänzlich überzeugen. Denn die Kürzungen von Sozialleistungen sind im vorliegenden Fall auf keine freie Entscheidung des Gesetzgebers im Rahmen seines Gestaltungsspielraums, sondern auf die de facto verbindlichen Vorgaben des Memorandums und des Darlehensvertrags zurückzuführen. Überdies stellt sich die Frage, inwieweit die Kürzungen von Gehältern und Renten mit dem Recht auf Achtung des Eigentums gemäß dem Ersten Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sind. Seit einigen Jahren werden etwa in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Sozialversicherungsansprüche, die einen „vermögenswerten Charakter“ besitzen, unter dem Eigentumsbegriff von Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK subsumiert.37 Waren ursprünglich solche Ansprüche unter Bezugnahme darauf, dass sie durch eigene Beiträge der Anspruchsberechtigten zumindest mitfinanziert waren, als vermögenswerte Rechte qualifiziert,38 so fallen nach der neueren Rechtsprechung des EGMR sowohl beitragsabhängige als auch beitragsunabhängige Sozialleistungen unter den Eigentums- bzw. Vermögensbegriff des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK.39 Die Verpfl ichtung des Staates, eine angemessene Entschädigung im Fall der Verletzung des Eigentums zu gewähren, ist zwar in der EMRK nicht ausdrücklich vorgesehen, von der Rechtsprechung des EGMR aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle grundsätzlich anerkannt.40 Weder bezieht sich jedoch die Entschädigungspfl icht auf vollständige Entschädigung noch gilt sie sprochen, den Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Sozialversicherung verringern zu dürfen. Siehe z. B. Staatsrat 2973/1991, ToS 1991, S. 399 (400). 33 Siehe Staatsrat 1674/1998 (6. Kammer), Διοικητική Δίκη (Dioikitiki Diki) [im Folgenden: DiDik] 1998, S. 961 (962) und 2409/1998 (Große Kammer), DiDik 1999, S. 444 (445). 34 Vgl. Staatsrat 1479/1997 (Plenum), DiDik 1997, S. 876 (877). 35 In diesem Sinne auch N. Alivizatos ( Ν. Αλιβιζάτος ), Το Σύνταγμα και οι εχθροί του στη νεοελληνική ιστορία 1800–2010 (Die Verfassung und ihre Feinde in der neugriechischen Geschichte 1800–2010), Athen 2011, S. 569. 36 Vgl. in diesem Zusammenhang Gerontas, oben Fn. 16, z. B. S. 725. 37 Dazu statt vieler J. Iliopoulos-Strangas, Soziale Grundrechte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rechtsvergleich unter Berücksichtigung des Europäischen Rechts, in: Soziale Grundrechte, oben Fn. 28, S. 695 (829 f.) m. w. N. 38 Vgl. etwa das Urteil vom 29. 5. 1986 im Fall Feldbrugge gegen Niederlande, Beschwerdenummer 8562/79, Series A 99, Ziff. 40, deutsche Übersetzung in EuGRZ 1988, S. 14 ff. (Krankengeld). 39 Vgl. zuletzt das Urteil vom 6. 7. 2005 im Fall Stec u. a. gegen Vereinigtes Königreich (Große Kammer), Beschwerdenummern 65731/01 und 65900/01, Reports 2005-X, Ziff. 50 ff. (53) (Beihilfe wegen verminderten Einkommens). 40 Wegweisend das Urteil des EGMR im Fall James u. a. gegen Vereinigtes Königreich (Plenum), Beschwerdenummer 8793/79, Series A-98, Ziff. 54: „the taking of property without payment of an amount reasonably related to its value would normally constitute a disproportionate interference„ (seitdem ständige Rechtsprechung).
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absolut. So hat der EGMR die Zulässigkeit eines Eigentumsentzugs ohne jegliche Entschädigung wegen „außergewöhnlicher Umstände“ wiederholt angekündigt, aber bis jetzt nur in einem einzigen Fall im Hinblick auf die Wiedervereinigung Deutschlands tatsächlich bejaht.41 Wenn die Kürzungen von Sozialleistungen unter Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK fallen, kann unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Kürzungen von Sozialleistungen unter den außergewöhnlichen Umständen des finanziellen Notstands Griechenlands als gerechtfertigt angesehen werden könnten und insoweit gar keine Eigentumsverletzung darstellen.42 Die Konkretisierung der „außergewöhnlichen Umstände“ bleibt aber notwendigerweise kasuistisch und unterliegt größtenteils dem Belieben der Straßburger Richter.43 Ob die fi nanzielle Misere Griechenlands solche „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK begründet und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, bleibt daher unklar.
3. Die Grenzen der internationalen und supranationalen Einbindung des griechischen Staates Da das dem Gesetz 3845/2010 angehängte Memorandum die Wirtschafts- und Finanzpolitik Griechenlands für die nächsten Jahre mit quantifizierten Zielen festlegt und ausführliche Vorgaben für die Überwachung der Umsetzung dieser Politik enthält, stellt sich die Frage, inwieweit die verfassungsrechtlichen Grenzen der internationalen und supranationalen Einbindung des griechischen Staates gemäß Art. 28 Verf.44 dadurch berührt bzw. verletzt sind. Einschlägig könnte zum einen Art. 28 Abs. 3 sein, wonach Griechenland freiwillig durch ein Gesetz, das zur Verabschiedung der absoluten Mehrheit der Gesamtzahl der Abgeordneten bedarf, einer Einschränkung der Ausübung seiner nationalen Souveränität zustimmt, wenn dies ein wichtiges nationales Interesse erfordert und in Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit erfolgt, unter der Voraussetzung, dass die Menschenrechte und die Grundlagen der demokratischen Staatsordnung nicht angetastet werden. Griechenland ist aber aus juristischer Sicht nicht daran gehindert, die Anwendung der mit den Kreditgebern vereinbarten Maßnahmen zu jeder Zeit einzustellen, selbst wenn dies dazu führen würde, die noch nicht ausgezahlten Kredite zu verlieren sowie die bereits gewährte 41 Vgl. das Urteil im Fall Jahn u. a. gegen Deutschland (Große Kammer), Beschwerdenummern 46720/99, 72203/01, 72552/01, Reports 2005-VI, Ziff. 112, 113, 117, 125: „unique context of German reunification“. Ausführlich dazu B. I. Fischborn, Enteignung ohne Entschädigung?, Zur Vereinbarkeit des entschädigungslosen Entzugs von Eigentum mit Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK, Tübingen 2010, insb. S. 140 ff., 264 ff. 42 Mit Nachdruck in diese Richtung Glavinis, oben Fn. 6, S. 128 ff. 43 Vgl. die überzeugende Kritik in den abweichenden Voten im Fall Jahn [oben Fn. 41], der Richter Costa und Borrego Borrego (§§ 2, 5), Ress (§ 3) und Cabral Barreto (unter II.). 44 Überblick bei J. Iliopoulos-Strangas, Offene Staatlichkeit: Griechenland, in: v. Bogdandy/Villalón/ Huber (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, Heidelberg 2008, § 16; G. Papadimitriou, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Griechenland, in: Battis/Tsatsos/Stefanou (Hg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, Baden-Baden 1995, S. 149 ff. beide m. w. N.
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Finanzierung zurückzahlen zu müssen. Legislative und Exekutive sind daher nach wie vor juristisch frei, Gesetze oder Rechtsakte zu verabschieden, die die Verwirklichung der im Memorandum enthaltenen Ziele erschweren oder unmöglich machen würden. Daher liegt aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Bindung oder gar Einschränkung der nationalen Souveränität im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Verf. vor. Ferner stellt sich die Frage, inwieweit eine Zuerkennung von verfassungsmäßigen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen vorliegt, die gemäß Art. 28 Abs. 2 Verf. durch Verträge oder Abkommen zulässig ist, um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern. Dies setzt allerdings voraus, dass eine qualifizierte Mehrheit von drei Fünfteln der Gesamtzahl der Abgeordneten zur Verabschiedung von Ratifizierungsgesetzen für solche Verträge oder Abkommen erreicht wird. Da aber die zur Umsetzung der Vereinbarungen erforderlichen Rechtsakte von den Organen des griechischen Staates und nicht von den Organen internationaler Organisationen erlassen werden, ist die qualifizierte Mehrheit im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Verf. verfassungsrechtlich nicht erforderlich, wobei die griechische Souveränität de facto gravierende Einschränkungen erfährt.45 Selbst wenn weder eine Einschränkung der nationalen Souveränität noch eine Zuerkennung von verfassungsmäßigen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen aus verfassungsrechtlicher Sicht angenommen wird, kann aber die tatsächliche Entwicklung nicht angezweifelt werden. Mit den im Memorandum angenommenen Verpfl ichtungen wird nämlich die Zuständigkeit zur Festlegung und Umsetzung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik des Landes der sog. „Troika“ zugewiesen, die aus Vertretern der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds besteht. Legislative und Exekutive reduzieren sich damit auf bloße Vollzugsorgane der Weisungen der „Troika“, zumal jede Verweigerung seitens der griechischen staatlichen Organe, diesen Weisungen nachzukommen, die nächste Kreditauszahlung gefährden und damit sogar die Insolvenz des griechischen Staates näher bringen würde. Es folgt daraus, dass die äußere wirtschaftliche Souveränität des Staates de facto der „Troika“ übertragen wird. In der Dreiecksbeziehung zwischen der „Troika“, der griechischen Regierung und dem (angeblich) souveränen Volk reduziert sich die Rolle der Regierung offenbar darauf, den einzelnen Bürger davon zu überzeugen, dass die Anwendung der Vereinbarungen mit der „Troika“ unerlässlich bzw. das kleinste Übel ist.
II. Die Gefährdung der souveränen Staatlichkeit Griechenlands Besonders fragwürdig aus der Sicht der griechischen Verfassung, gar der souveränen Staatlichkeit Griechenlands, sind überdies die Konditionen des Darlehensvertrags mit den Mitgliedstaaten der Eurozone, die darauf abzielen, die Durchsetzung der Forderungen der Darlehensgeber gegen Griechenland sicherzustellen. So setzt 45 Angesichts dieser Einschränkungen nehmen aber einige Autoren die Anwendung des Art. 28 Abs. 2 Verf. und damit der dort vorgesehenen Dreifünftelmehrheit an; vgl. Kassimatis, oben Fn. 15, S. 17 ff.; Katrougalos, oben Fn. 15, S. 154.
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die Bewilligung und Auszahlung der Kredite gemäß Art. 3 Abs. 4a des Vertrags das Vorliegen von sog. „Gutachten“ der Rechtsberater der griechischen Justiz- und Finanzminister voraus, wobei Griechenland als Darlehensnehmer die Richtigkeit und Genauigkeit dieser „Gutachten“ bestätigen sollte (vgl. Art. 4 Abs. 1b des Vertrags). Gemäß dieser „Gutachten“, deren Inhalt wörtlich in der Anlage 4 des Vertrags festgelegt wird, versichert Griechenland den Darlehensgebern, dass weder der Darlehensnehmer noch sein Vermögen Immunität wegen Souveränität oder aus anderen Gründen hinsichtlich der Gerichtsbarkeit und der Vollstreckung in Bezug auf diesen Vertrag besitzen. In die gleiche Richtung stellt Art. 14 Abs. 5 des Darlehensvertrags klar, dass der Darlehensnehmer unwiderrufl ich und bedingungslos auf jede Immunität hinsichtlich rechtlicher Verfahren bei der Durchsetzung dieses Vertrags verzichtet, einschließlich der Immunität hinsichtlich Klageerhebung, Durchsetzung von gerichtlichen Urteilen oder anderen Anweisungen sowie Vollstreckung gegen Staatsvermögen, soweit ein solcher Verzicht vom „mandatory law“ nicht untersagt ist. Was unter „mandatory law“ fällt, bleibt aber unklar. Souveräne Staaten genießen zwar völkergewohnheitsrechtlich uneingeschränkte Immunität im Bereich hoheitlicher Tätigkeit (acta iure imperii), so dass eine Zwangsvollstreckung gegen den Staat insoweit untersagt wäre. Allerdings wird allgemein anerkannt, dass ein Staat auf seine Immunität gegen Zwangsvollstreckung mit ausdrücklichem Akt wirksam verzichten kann.46 Die eingereichten „Gutachten“ der Rechtsberater der griechischen Justiz- und Finanzminister sowie die Bestätigung der griechischen Regierung hinsichtlich ihrer Genauigkeit könnten als ein solcher Verzicht gedeutet werden. Dabei kommt es schließlich auf das englische Recht an, das gemäß Art. 14 Abs. 1 des Vertrags anzuwenden ist. Der insoweit einschlägige „State Immunity Act“47 von 1978 lässt die Zwangsvollstreckung gegen einen ausländischen Staat nur für Vermögenssachen „iure gestionis“ („property in use or intended for use for commercial purposes“) zu (vgl. Art. 13 Abs. 2 und 4); es stellt sich aber die Frage nach der Auslegung dieser Vorschrift, zumal die gemäß dem Darlehensvertrag vorgelegten „Gutachten“ keine solche Unterscheidung treffen. Soweit jedenfalls die Anwendung des englischen Rechts keine Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Vermögen des griechischen Staates (sowie der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts) macht, würde ein allgemeiner Grundsatz der Zwangsvollstreckung gegen den Staat gemäß griechischem Recht rückgängig gemacht werden. Nach seiner (noch anstehenden) gesetzlichen Ratifizierung wird zwar der Darlehensvertrag, wie jeder internationale Vertrag, gemäß Art. 28 Abs. 1 Verf. jeder entgegenstehenden Gesetzesbestimmung vorgehen und insoweit Vorrang gegenüber dem einfachen Gesetz 3068/2002 genießen, wonach die Zwangsvollstreckung gegen den Staat auf sein privates Vermögen beschränkt 46 Vgl. auch United Nations Convention on Jurisdictional Immunities of States and their Property, 2004, General Assembly Resolution 59/38, Official Records of the General Assembly, Fifty-ninth Session, Supplement No. 49 (A/59/49) (noch nicht in Kraft getreten), Art. 7 („exercise of jurisdiction“), Art. 18 („pre-judgment measures of constraint“), Art. 19 („post-judgment measures of constraint“), z. B. Immunität „unless and except to the extent that (a) the State has expressly consented to the taking of such measures [. . .]“ (Art. 19). 47 17 ILM (1978), S. 1123, verfügbar unter www.legislation.gov.uk/ukpga/1978/33 (zuletzt abgerufen am 29. 5. 2011).
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ist.48 Der Zwangsvollstreckung gegen den Staat werden aber von Verfassungs wegen durch die souveräne Staatlichkeit Griechenlands gewisse äußerste Grenze gesetzt. Um die Mindestvoraussetzungen für die Ausübung der souveränen Staatlichkeit Griechenlands beizubehalten, kann keine Zwangsvollstreckung gegen den Kern des öffentlichen Vermögens erlaubt werden, so etwa gegen die Einrichtungen der Streitkräfte und der Polizei, die Sitzgebäude der staatlichen Organe Griechenlands sowie die Forderungen oder Geldanlagen für die Entlohnung der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes. Zumal die Prinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung es nach griechischem Verfassungsrecht verbieten, juristischen Personen des Privatrechts im Kern staatliche Befugnisse zu verleihen,49 darf der griechische Staat die materiellen Voraussetzungen (selbst bei Verfassungsänderung) nicht entbehren, die die Ausübung der Souveränität überhaupt erlauben. Bei einer solchen Interpretation würde das Ratifizierungsgesetz des Darlehensvertrags daher auf gravierende verfassungsrechtliche Bedenken stoßen.50 Diese Auslegung ist jedoch nicht zwingend. Im Rahmen der verfassungskonformen Gesetzes- und Vertragsauslegung wäre es möglich, das Konfl iktpotenzial durch eine andere Interpretation der Begriffl ichkeit „mandatory law“ oder der Frage, inwieweit ein Immunitätsverzicht vorliegt, zu entschärfen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 2 des Darlehensvertrags die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofes der Europäischen Union für alle Streitigkeiten hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des Vertrags begründet. Aus Sicht des Gerichtshofes sind Erwägungen, die auf dem nationalen Verfassungsrecht beruhen, bekanntlich zweitrangig.51 So ist zu erwarten, dass sich der Gerichtshof auf Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention berufen würde, wonach eine Partei nicht auf ihr innerstaatliches Recht verweisen kann, um die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags zu rechtfertigen, ohne zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht zu unterscheiden. In diesem Sinne können die Bedenken, wonach der Darlehensvertrag mittelfristig sogar die unerlässlichen Mittel zur Ausübung der griechischen Souveränität gefährdet und in diesem Sinne die souveräne Staatlichkeit Griechenlands in Frage stellt, nicht ohne weiteres entkräftet werden. 48 Dazu aus dem griechischen Schrifttum G. Kassimatis ( Γ. Κασιμάτης ), Τα συνταγματικά όρια της αναγκαστικής εκτέλεσης κατά του ελληνικού δημοσίου (Die Verfassungsgrenzen der Zwangsvollstreckung gegen den griechischen Staat), Τιμητικός Τόμος Κώστα Μπέη (Festschrift für Kostas Beys), Athen 2003, S. 2717 ff.; K. Chryssogonos ( Κ. Χρυσόγονος ), Η νομοθετική ρύθμιση της αναγκαστικής εκτέλεσης κατά του Δημοσίου με τον ν. 3068/2002 (Die gesetzliche Regelung der Zwangsvollstreckung gegen den Staat gemäß Gesetz 3068/2002), Δίκη (Prozess) 2004, S. 5 ff. 49 Vgl. das Urteil des Staatsrates 1934/1998 (Plenum), ToS 1998, S. 598 (602 f.) (Durchsetzung von Parkverboten). Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Privatisierung staatlicher Aufgaben s. auch Th. Antoniou, The Constitutional Restrictions of Privatisation, RHDI 1998, S. 277 ff.; Th. Fortsakis, The public sector: contents, limits, privatisations, in: Spiliotopoulos/Makrydemetres (Hg.), Public Administration in Greece, Athen-Komotini 2001, S. 135 (145 ff.), beide m. w. N. 50 Entschiedene Kritik bei Kassimatis, oben Fn. 15, S. 24 ff. (z. B. a. a. O., S. 26: „ohne Zweifel Ausübung wirtschaftlicher und politischer Gewalt und Drohung des obersten Staatsgutes, nämlich der nationalen Souveränität“). 51 Wegweisend schon das Urteil vom 17. Dezember 1970 im Fall Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 11/70, Sammlung 1970, S. 01125, Ziff. 3 (seitdem ständige Rechtsprechung).
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C. Die Verantwortung des griechischen politischen Systems für die finanzielle Misere Griechenlands I. Verfassungswirklichkeit 2009-2010: Von der vorzeitigen Auflösung des Parlaments 2009 bis zum „Rettungsmechanismus“ 2010 Abgesehen von den grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken, die der „Rettungsmechanismus“ der griechischen Wirtschaft im Einzelnen aufwirft, provoziert die dahingehende Entwicklung die Frage nach der Einhaltung bzw. Umgehung des Demokratieprinzips. Dabei ist zu beachten, dass die Parlamentswahlen von 2009, in deren Folge die fi nanzielle Misere Griechenlands im vollen Ausmaß bekannt gegeben wurde, vorzeitig, nämlich bei Anwendung des Art. 41 Abs. 2 Verf. stattfanden, wonach der Präsident der Republik zur Bewältigung einer Frage von außerordentlicher nationaler Bedeutung auf Vorschlag der Regierung, die das Vertrauen des Parlaments genießt, das Parlament zur Erneuerung des Volksauftrages auflösen kann. Zwar ist die vorzeitige Auflösung des Parlaments unter Berufung auf diese Bestimmung nach dem Verfassungswortlaut die Ausnahme. In der Verfassungswirklichkeit unter der Geltung der Verfassung von 1975 ist allerdings die vorzeitige Auflösung des Parlaments unter Berufung auf Fragen von außerordentlicher nationaler Bedeutung zur Regel geworden. Wenn die jeweilige Regierungspartei eine Aussicht auf Erfolg in den demnächst anstehenden Parlamentswahlen annahm, hat sie wiederholt, so etwa in den Jahren 1977, 1985, 1996, 2000 und 2007, die vorzeitige Auflösung des Parlaments unter Berufung auf Art. 41 Abs. 2 Verf. veranlasst und im Anschluss daran den Volksauftrag erneuert.52 Im Gegensatz dazu haben die Parlamentswahlen im Oktober 2009 bei Anwendung des Art. 41 Abs. 2 Verf. kurz nach den Europawahlen vom Juni dieses Jahres stattgefunden, in denen die damalige Regierungspartei eine schmerzhafte Niederlage erfahren musste, wobei zusätzlich alle Meinungsumfragen in der Zwischenzeit den Regierungswechsel im Fall von Parlamentswahlen vorausgesagt hatten. Vor diesem Hintergrund kann die Vermutung aufgestellt werden, dass die damalige Regierungspartei angesichts des spätestens seit Frühling 2009 außer Kontrolle geratenen Haushaltsdefi zits Griechenlands und des unmittelbar bevorstehenden Verlusts der Kreditwürdigkeit des griechischen Staates den Versuch unternommen hat, sich ihrer Verantwortung für die fi nanzielle Misere des Landes auf diese Weise zu entziehen. Nach absolut herrschender Auffassung im verfassungsrechtlichen Schrifttum ist der Präsident der Republik zwar verfassungsrechtlich verpfl ichtet, dem Vorschlag der Regierung für die vorzeitige Auflösung des Parlaments zu folgen, ohne ihn inhaltlich prüfen zu dürfen.53 Der entsprechende Vorschlag muss aber von der Regierung als Gremium und nicht individuell vom Premierminister erfolgen. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass im September 2009 der damalige Premierminister die grundle52 Nur ausnahmsweise hat die Auflösung des Parlaments bei Anwendung des Art. 41 Abs. 2 Verf. im Jahre 1993 zum Regierungswechsel geführt, wobei in diesem Fall die damalige Regierungspartei die Parlamentsmehrheit schon verloren hatte. 53 S. etwa Ph. Spyropoulos/Th. Fortsakis, Constitutional Law in Greece, Alphen aan den Rijn 2009, S. 125.
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gende Entscheidung, den Präsidenten der Republik um die vorzeitige Auflösung des Parlaments zu ersuchen, allein traf, ohne dass darüber in den Partei- bzw. Regierungsgremien abgestimmt wurde. Bedeutungslos blieb dabei die Tatsache, dass sich die meisten Minister in den Tagen vor der Ankündigung der Entscheidung des Premierministers mit Nachdruck gegen die vorzeitigen Neuwahlen ausgesprochen hatten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren haben die zwei größten politischen Parteien im Laufe des Wahlkampfes 2009 unterschiedliche Konzepte für die Zukunft der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft vorgelegt. Die bisherige Regierungspartei „Nea Dimokratia“ hat nachdrücklich auf die Notwendigkeit harter Sparmaßnahmen für die Sanierung der griechischen Staatsfinanzen hingewiesen, was freilich - dies kann hier nur am Rand angesprochen werden - einem Eingeständnis ihres Scheiterns gleichkam. Im Gegensatz dazu hat die Hauptoppositionspartei „PASOK“ darauf bestanden, dass es ausreichende Finanzmittel gäbe, so dass sich lediglich die Frage nach ihrer gerechten Verteilung stelle. Der Lebensstandard der Arbeitnehmer sollte daher mit größeren Gehaltserhöhungen als die Inflationsrate sichergestellt und die nationale Wirtschaft mit Investitionen in erneuerbare Energien im Zuge des sog. „grünen Aufschwungs“ wiederbelebt werden. Da ein großer Teil der Wähler diesen Versprechen geglaubt hat, hat die „PASOK“ die absolute Parlamentsmehrheit durchschlagend gewonnen. Unter dem Druck der Finanzmärkte und der europäischen Partner sah sich aber der neue Premierminister kurz darauf zu einer radikalen Kursänderung gezwungen. Harte Sparmaßnahmen wurden angekündigt, die sich aber als unzureichend erwiesen haben, um die fi nanziellen Probleme Griechenlands in den Griff zu bekommen. Im Anschluss daran wurde der sog. „Rettungsmechanismus“ für die griechische Wirtschaft mit den anderen Mitgliedstaaten der Eurozone und dem IWF vereinbart. Auch darüber hat der Premierminister allein entschieden, ohne darüber in den (in der Satzung der Partei vorgesehenen) Parteigremien beraten und abstimmen zu lassen. Weder der Parteitag wurde einberufen, was angesichts der grundlegenden Bedeutung der zu beschließenden Maßnahmen zu erwarten wäre, noch der sog. „Nationalrat“, der gemäß der „PASOK“-Satzung als oberstes Organ zwischen den Parteitagen gilt, noch die Fraktion. Fest steht somit, dass die Kursänderung der Regierungspartei nach den Parlamentswahlen 2009 weder von dem Wahlergebnis beeinflusst noch von den satzungsrechtlich vorgesehenen innerparteilichen Gremien festgelegt wurde. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik Griechenlands von supranationalen Einrichtungen und den Finanzmärkten prädeterminiert wurde. Wenn aber die demokratischen Organe ihre Tätigkeit nur darauf beschränken, die Entscheidungshoheit der (internationalen) Märkte zu verbergen und die auf diese Weise getroffenen Festlegungen der Bevölkerung zu vermitteln, reduziert sich die verfassungsrechtlich vorgesehene Demokratie auf einen äußeren Schein. Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund untersucht werden, inwieweit die hier skizzierten Entwicklungen von 2009–2010 ein historisch einmaliges Ereignis oder nur die Zuspitzung seit langem vorgezeichneter Pathologien des griechischen politischen Systems darstellten.
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II. Die Pathologien des griechischen politischen Systems: Feudalistische Grundstrukturen hinter demokratischer Oberfläche? Seit der Wiederherstellung der Demokratie in Griechenland im Jahre 1974 werden die verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren der demokratischen Willensbildung reibungslos eingehalten, was etwa die ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen und den unproblematischen Wechsel der Regierungsmehrheit angeht. Die Verfassung von 1975 enthält überdies einen umfangreichen Grundrechtskatalog, der individuelle, soziale und politische Rechte verankert und der an vielen Stellen über den europäischen Durchschnitt hinausgeht.54 Wenn sich der Begriff des politischen Systems auf die Ausübung der öffentlichen Gewalt durch festgelegte Zuständigkeiten und Verfahrensweisen sowie auf die Verbürgung von Grundrechten beschränkt, kann in diesem Zusammenhang von keiner Krise des politischen Systems Griechenlands die Rede sein. Darüber hinaus stellen sich aber Fragen nach der tatsächlichen Wirkung und Effektivität des griechischen Staatswesens im Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen sowie danach, inwieweit nicht nur den äußeren Verfahrensweisen, sondern auch der eigentlichen Teleologie der verfassungsrechtlichen Vorgaben tatsächlich Rechnung getragen wird. Dabei wird ein möglichst weiter Begriff des politischen Systems zugrunde gelegt, der alle Verfahrensweisen einschließt, die – sei es de iure oder de facto – dazu beitragen, die Zielsetzungen der staatlichen Politik festzulegen, die erforderlichen Ressourcen zu mobilisieren und die notwendigen Entscheidungen zur Erfüllung dieser Zielsetzungen zu treffen. Zwar wird in den letzten Jahren international die Fähigkeit des Nationalstaates und seiner Organe angezweifelt, auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Neuzeit angemessen zu reagieren.55 Statt von den demokratisch legitimierten Organen des Nationalstaates werden die wesentlichen Entscheidungen zunehmend von unpersönlichen Trägern wirtschaftlicher Macht wie dem Kapitalmarkt oder auch von demokratisch defizitären supranationalen Organisationen wie vor allem der Europäischen Union getroffen. Im Zuge der Globalisierung werden die möglichen alternativen Politikansätze für politische Parteien eingeschränkt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Vielfalt und Komplexität von gesellschaftlichen Erfordernissen, Interessen und Tendenzen in der heutigen postindustriellen Gesellschaft gestaltet es sich für die politischen Parteien immer schwieriger, eine klare Identität zu entwickeln und ein in sich geschlossenes Wahl- und Politikprogramm zu formulieren und umzusetzen. So werden während der Wahlkämpfe heterogenen gesellschaftlichen Gruppierungen widersprüchliche Versprechen großsprecherisch gegeben, die gleichzeitig nicht eingehalten werden können. Die viel diskutierte Politikverdrossenheit ist eine zwangsläufige Folge dieser Entwicklungen, die sich vor allem durch 54 Vergleich zwischen dem Grundrechtsschutz nach der griechischen Verfassung und nach der EMRK bei S.-I. G. Koutnatzis/I. Ö. Kaboglu, The Reception Process in Greece and Turkey, in: Keller/ Stone Sweet (Hg.), A Europe of Rights. The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford/ New York 2008, S. 451 (463 f.). 55 Repräsentativ M. Jänicke, Staatsversagen. Die Ohnmacht des Staates in der Industriegesellschaft, München/Zürich 1986; S. Strange, The Retreat of the State. The Diffusion of Power in the World Economy, Cambridge 1996, insb. S. 3 ff., 31 ff., 66 ff.; M. v. Creveld, The Rise and Decline of the State, Cambridge 1999, S. 336 ff.
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Desinteresse an und Ablehnung von traditionellen Formen der politischen Teilnahme wie etwa Mitwirkung an politischen Parteien auszeichnet. Statt aber auf diese Entwicklung insgesamt einzugehen, wird im Folgenden auf einige Besonderheiten des griechischen politischen Systems hingewiesen, die dazu beitragen können, den politisch-institutionellen Hintergrund der derzeitigen fi nanzielle Misere Griechenlands zu beleuchten. Bei den im Folgenden beispielhaft dargelegten Pathologien des politischen Systems und der Verfassungswirklichkeit Griechenlands geht es teils um Zuspitzungen der universellen Politikverdrossenheit, teils aber auch um Eigenartigkeiten der griechischen Entwicklung. Sie betreffen entweder die tatsächliche Ausgestaltung des politischen Lebens im Ganzen oder die Verfassungswirklichkeit im engeren Sinne, die Art und Weise also, in der grundlegende Verfassungsvorgaben nicht angewandt bzw. umgangen werden.
1. Die Zusammensetzung des politischen Personals Während der hundertfünfzigjährigen parlamentarischen Geschichte Griechenlands hat die familiäre Abstammung der Politiker bei der Zusammensetzung des politischen Personals häufig eine entscheidende Rolle gespielt. Während sich die klare Mehrheit der Bevölkerung bei der im Jahre 1974 kurz nach der Wiederherstellung der Demokratie durchgeführten Volksabstimmung zur Staatsform für die Republik und gegen das erbliche Staatsoberhaupt aussprach, scheint die Ernennung des Premierministers zwar nicht nach der Verfassung, aber in der griechischen politischen Wirklichkeit zu einem bestimmten Grad durchaus durch die Abstammung beeinflusst zu sein. Zumal die Rolle des Premierministers im griechischen politischen System in der Regel entscheidend ist, fällt auf, dass 22 von den 94 Premierministern Griechenlands von 1828 bis 2011, nämlich ein Anteil von 23,5 % untereinander bis zum vierten Grad entweder direkt (Vater, Sohn und Enkel) oder indirekt (Onkel und Neffe oder Cousin) blutsverwandt ist.56 Auf diese Entwicklung, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders zugespitzt hat, hatte die jeweilige Parteibasis maßgeblichen Einfluss. So wurde der Erbe der einen politischen Hauptdynastie (Kostas Karamanlis) im Jahre 1997 zum Vorsitzenden der Partei „Nea Dimokratia“ und dann zum Premierminister von 2004 bis 2009 gewählt, ohne dass irgendwelche Zweifel an der korrekten Durchführung der Parteiwahl bzw. der Parlamentswahlen erhoben werden konnten. Ebenso nach demokratischen Maßstäben, und zwar mit breiter Beteiligung der Parteimitglieder sowie – nach einer Ad-hoc-Änderung der Parteisatzung – der sog. „Parteifreunde“, verliefen die Wahl des Erben der anderen politischen Hauptdynastie (Giorgos Papandreou) im Jahre 2004 zum Präsidenten der Partei „PASOK“ wie auch seine Wiederwahl im Jahre 2007 und die Parlamentswahlen von 2009, in deren Folge Papandreou (wie früher sein Vater und Großvater) zum Premierminister gewählt wurde. Die Niederlage der Vertreterin der zweit56 Angaben zum Stand der Dinge bis 2008 bei K. Chryssogonos ( Κ. Χρυσόγονος ), Η κρυφή γοητεία της δυναστείας. Η κρίση του πολιτικού συστήματος και η ανάδειξη του Πρωθυπουργού (Die heim-
liche Attraktion der Dynastie. Die Krise des politischen Systems und die Ernennung des Premierministers), in: Contiades/Anthopoulos (Hg.), Κρίση του ελληνικού πολιτικού συστήματος (Krise des griechischen politischen Systems), Athen 2008, S. 97 (98).
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stärksten politischen Dynastie von „Nea Dimokratia“ (Dora Bakogiannis, Tochter des früheren Parteivorsitzenden und Premierministers Griechenlands Konstantinos Mitsotakis) in der Parteiwahl im November 2009 war übrigens eher ein Zeichen des Misstrauens gegenüber dieser Dynastie als der Missbilligung politischer Dynastien im Allgemeinen. In der Regel geschieht die Erbfolge im politischen Leben Griechenlands nicht sofort nach dem Ausscheiden des „Erblassers“ aus dem politischen Geschehen, sondern nach einer gewissen Zeitspanne, in der andere Personen die politischen Führungspositionen übernehmen. Vor allem kommt es daher nicht auf den Wunsch des „Erblassers“ bzw. des „Erben“ nach generationenübergreifender Kontinuität, sondern auf die Unterstützung dieser Kontinuität durch die breite Masse der Bevölkerung als ein zulässiger, wenn auch manchmal impliziter Maßstab für die Auswahl des politischen Führungspersonals, an. Zumal die vorgebrachten Politikansätze sowieso inhaltlich konvergieren, wendet sich die Parteibasis den Nachfolgern einer (tatsächlich oder vermeintlich) erfolgreichen politischen Tradition zu. Dabei geht es darum, die abhandengekommene politische Kontinuität der Partei durch die Kontinuität des Bluts zu ersetzen. Zwar sind im internationalen Vergleich politische Familien, die selbst in einer demokratischen Staatsordnung unter Einhaltung demokratischer Verfahren generationenübergreifend Führungspositionen übernehmen, keine griechische Besonderheit. Zu einem bestimmten Grad ist es vielleicht sogar unvermeidbar, dass der politische „Erbe“ einen gewissen Vortritt im Vergleich zum politischen Homo novus genießt. Trotz allem ist das Ausmaß der vorherrschenden Präsenz politischer Dynastien auf allen Ebenen der griechischen politischen Klasse, zuallererst auf der Ebene des Premierministers bzw. Parteivorsitzenden, für eine demokratische Staatsordnung einmalig. Diese Entwicklung, die sich nicht auf das politische Leben Griechenlands beschränkt – ähnliche Tendenzen sind etwa auch in Wirtschaft und Wissenschaft anzutreffen –, hängt wahrscheinlich auch mit der im europäischen und internationalen Vergleich besonders ausgeprägten Kohäsion der durchschnittlichen griechischen Familie ebenso wie mit dem mehrheitlichen Konservatismus der griechischen Gesellschaft hinsichtlich der Wert- und Grundrechtsfragen zusammen, was Meinungsumfragen regelmäßig bestätigen. Vor allem aber ist sie auf die weitverzweigten und generationenübergreifend tätigen Klientel- und Patronagenetzwerke zurückzuführen, auf die noch einzugehen ist. Von ähnlichen und darüber hinausgehenden Pathologien ist die Zusammensetzung des Parlaments gekennzeichnet. Zum Ersten spielt die familiäre Herkunft der Kandidaten auch hier eine wesentliche Rolle. 193 der 1191 gewählten Abgeordneten von 1974 bis 2004, also ein Gesamtanteil von 16,2 % sind miteinander verwandt.57 In der aus den Parlamentswahlen im Oktober 2009 hervorgegangenen derzeitigen Zusammensetzung des Parlaments sind zumindest 37 Erben von politischen Familien auszumachen.58 Zum Zweiten legen die Parteivorsitzenden in aller Regel selbstständig die Liste derjenigen Kandidaten fest, die gemäß Art. 54 Abs. 3 Verf. einheitlich Detaillierte Angaben bei G. Tziovaras/W. Hiotis ( Γ. Τζιοβάρας/Β. Χιώτης ), Ο πολιτικός χάρτης της μεταπολίτευσης 1974–2004 (Die politische Landschaft nach der Wiederherstellung der Demokra57
tie 1974–2004), Athen 2004, S. 39. 58 Vgl. Zeitung „Kathimerini“ vom 6. 10. 2009, S. 8.
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im ganzen Staatsgebiet gewählt werden (sog. Staatsabgeordneten), ebenso die Liste der Kandidaten für die Europawahl. In beiden Fällen59 werden diese Sitze entsprechend dem allgemeinen Wahlerfolg der Parteien und aufgrund der Reihenfolge in der Wahlliste verteilt, so dass es für die Wahl in der Praxis wesentlich auf die Platzierung in die Liste seitens der Parteivorsitzenden ankommt. Der als Wahlgericht tätige Oberste Sondergerichtshof hat die Verfassungsmäßigkeit der sog. Listenwahl wiederholt bejaht.60 Unter den Umständen der herrschenden Rolle der Parteivorsitzenden ist aber diese Weise der (impliziten) Ernennung von Parlamentsabgeordneten eher mit einem Ritterschlag durch Königin Elizabeth vergleichbar. Zum Dritten erwerben andere Abgeordnete das Wahlmandat gewissermaßen „käufl ich“, indem riesige Wahlkampf kosten übernommen werden, die von unsichtbar bleibenden Geldgebern mit der Hoffnung auf zukünftige Gegenleistungen fi nanziert werden. Mit der Verfassungsrevision von 2001 wurde zwar die Möglichkeit vorgesehen, eine Höchstgrenze an Wahlausgaben gesetzlich festzulegen (Art. 29 Abs. 2 n. F. Verf.). Dabei wurde außerdem die Kontrolle der Wahlausgaben der Parteien und der Parlamentskandidaten einem dafür zuständigen Organ anvertraut, welches sich aus Parlamentariern und Richtern zusammensetzt (vgl. Art. 11 Gesetzes 3023/2002). Dieses Organ hat sich allerdings als überfordert erwiesen, die Wahlausgaben der Parlamentskandidaten effektiv zu prüfen. Vor allem diese drei Idealtypen von Berufspolitikern weisen feudale Grundzüge auf: So ähneln die Erben von politischen Dynastien dem Geburtsadel, die Staats- und Europaabgeordneten dem durch einen Höherrangigen, etwa König oder Kaiser, ernannten Dienst- bzw. Amtsadel und die dank ihrer gigantischen Wahlkampf kosten gewählten Abgeordneten dem durch wirtschaftliche Überlegenheit entstandenen Adel, wie etwa der Noblesse de robe des französischen Ancien Régime. Nicht zuletzt sind außerdem Parteiangehörige, die seit ihrer Studenten- bzw. sogar Schülerzeit hauptberufl ich für die Partei tätig waren und in der Regel in einem Unterwerfungsverhältnis zum Parteivorsitzenden bzw. höherrangigen Parteifunktionären stehen, sowie in den letzten Jahren zunehmend auch Schauspieler, Künstler, Sportler o. Ä., die sich außerhalb der Politik einen Namen gemacht haben und im Zuge der weitgehenden Depolitisierung des öffentlichen Lebens großen Widerhall in der Bevölkerung fi nden, in den Kandidatenlisten besonders stark vertreten.
2. Die politischen Parteien als Klientel- und Patronagenetzwerke Im Anschluss an die bereits skizzierte internationale Entwicklung ist festzustellen, dass die programmatischen Differenzen zwischen den beiden größten politischen 59 Bei den Parlamentswahlen von 1985 ist sogar auf der Grundlage des Gesetzes 1303/1982 die Wahl aller Abgeordneten (und nicht nur der Staats- bzw. Europaabgeordneten) aufgrund der verbindlichen Reihenfolge in der Wahlliste erfolgt, die im Wesentlichen vom Parteivorsitzenden festgelegt wurde. 60 Vgl. die Urteile des Obersten Sondergerichtshofes 10/1982, NoB 1982, S. 874 ff. (Wahl von Europaabgeordneten); 34/1985, NoB 1986, S. 606 ff. (sog. Listenwahl aufgrund des Gesetzes 1303/1982, vgl. dazu oben Fn. 59). Kritik bei K. Chryssogonos, Verfassung und politische Parteien in Griechenland. Betrachtungen zum Defi zit demokratischer Repräsentation, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hg.), Politische Parteien im 21. Jahrhundert, Athen/Berlin/Brüssel 2004, S. 335 (349).
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Parteien Griechenlands im Zuge von Globalisierung und Europäisierung wesentlich geschmälert worden sind. Dass das griechische Parteiensystem nicht in der Lage ist, die innerhalb der griechischen Gesellschaft tatsächlich bestehenden Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze zu repräsentieren und auszugleichen, zeigt sich schon in den mangelhaften Parteiprogrammen der beiden Parteien, die die Regierungsmehrheit abwechselnd monopolisieren. Allenfalls kurz vor den Parlamentswahlen werden einige Broschüren mit vagen Zielsetzungen bzw. Wünschen für alle möglichen Themenbereiche gedruckt, um den Anschein zu erwecken, die häufig widersprüchlichen Erwartungen möglichst vieler Wähler zu befriedigen, ohne aber konkrete Verpfl ichtungen jedweder Art zu übernehmen. Daraus folgt, dass die Parteien aus Sicht des Bürgers einander zunehmend ähneln, da sich ihre Politikansätze lediglich in der äußeren Präsentation unterscheiden. Vor diesem Hintergrund fi ndet eine Festlegung auf eine Policy bei kollidierenden gesellschaftlichen Interessen, wenn sie nicht durch Entscheidungen supranationaler Einrichtungen und Organisationen prädeterminiert ist, erst nach den Wahlen und größtenteils unabhängig von ihrem Ausgang statt. Bei der Entscheidungsfindung kommt es wesentlich auf die Fähigkeit der unmittelbar betroffenen Interessenträger an, effektiven Druck auf die politischen Einrichtungen auszuüben. Sicherlich beschränken sich solche degenerierenden Symptome nicht auf Griechenland, ihre Intensität und ihr Ausmaß sind aber dort besonders ausgeprägt. Unter diesen Umständen können die gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze nicht durch die verfassungsrechtlich vorgesehenen Repräsentationsverfahren zum Ausdruck gebracht werden. Die politische Repräsentation ist eher fi ktiv. Vor allem die zwei größten Parteien, die abwechselnd die Regierungsmehrheit monopolisieren (zumal sich die kleineren Parteien meistens an den Rändern des politischen Systems bewegen oder bestenfalls Protestgruppierungen sind), sind nicht mehr institutionalisierte politische Organisationen im eigentlichen Sinne des Wortes und können nur bedingt zur Integration der Gesellschaft auf politischer Ebene beitragen. Vielmehr sind die Parteien hauptsächlich Klientel- bzw. Patronagenetzwerke, deren Tätigkeit im Kern darin liegt, den der Partei sowie den ihr verwandten Zusammenschlüssen, wie etwa gewerkschaftlichen Organisationen oder Jugendorganisationen, nahe stehenden Personen und Einrichtungen verschiedenartige Gefälligkeiten, und zwar auf Dauer und generationenübergreifend, zu gewähren. Schon seit der Gründung des neugriechischen Staates im Jahre 1830 spielten Klientelverhältnisse im griechischen politischen System eine überproportionale Rolle im Vergleich zu anderen europäischen Staaten u. a. wegen der strukturellen Schwächen der griechischen Wirtschaft sowie der übermäßigen Rolle des Staates.61 Wäh61
Weitgehend immer noch treffend die Feststellung von P. Foundethakis, Die Parteiinstitution in Griechenland, in: Tsatsos (Hg.), 30 Jahre Parteiengesetz in Deutschland. Die Parteiinstitution im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2002, S. 159 (159): „Das Hauptmerkmal der Parteien jener Zeit war ihr absolut auf den Parteiführer konzentrierter Charakter, ihre ideologische Instabilität und das Klientelwesen mit einem ausgedehnten Netz von Parteipatriarchen, die um die Wählerstimmen feilschten“; historischer Überblick zur Parteiinstitution in Griechenland bei G. Papadimitriou, Die Institution der politischen Partei in Griechenland, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich. Die Parteien in den demokratischen Ordnungen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1990, S. 261 (264 ff.).
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rend der ersten drei Viertel des 20. Jahrhunderts, als sich alle politischen Gruppierungen gezwungen sahen, zu grundlegenden Kontroversen hinsichtlich der Staatsform und auch der Außen- sowie Innenpolitik Stellung zu nehmen, war diese Tatsache verborgen, aber nicht überwunden. In der Verfassung von 1975 zeichnete sich zwar das Verfassungsideal von Weltanschauungsparteien ab, die sich auf politische Konzepte und Ideen und nicht auf Personen und politische Klientelverbindungen gründen.62 Trotz anderweitiger Hoffnungen trat aber die Bedeutung von Klientel- und Patronagenetzwerken schließlich wieder in den Vordergrund, und zwar nicht nur im aufgeblähten Staatsapparat und seinen mannigfachen Verzweigungen,63 sondern auch in der angeblich „privaten“ Wirtschaft, die in Griechenland ganz besonders auf öffentliche Zuschüsse und Aufträge angewiesen ist. Nach dem Beitritt zur Europäischen Union hat außerdem der klientelistisch orientierte Parteienwettbewerb angesichts der ausgeprägten Konkurrenz um europäische Fördergelder für öffentliche Projekte neue und einmalige Dimensionen erreicht. Um diese Konkurrenz überstehen zu können, wurden ständig neue Schulden aufgenommen, was nicht nur die Klientelnetzwerke perpetuiert, sondern auch zu der desolaten Finanzlage (des griechischen Staates, ebenso wie der griechischen Parteien) wesentlich beigetragen hat. Angesichts des Repräsentationsdefi zits des politischen Systems kann überdies die grassierende Hinterziehung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen nicht effektiv bekämpft werden. Mit der Verfassungsrevision von 2001 wurde vor diesem Hintergrund zwar der Versuch unternommen, die Transparenzgarantien hinsichtlich der privaten Finanzierung von Parteien und Kandidaten zu verstärken.64 Das Erfolgspotenzial solcher Regelungen hat sich aber in Grenzen gehalten, zumal die „Schattenwirtschaft“ in Griechenland einen vergleichsweise größeren Anteil am Gesamtvolumen der Wirtschaftsaktivitäten einnimmt, wobei die Privatwirtschaft wegen der Verflechtung mit der öffentlichen politischen Macht in der Praxis nicht selten den Anspruch erhebt, staatliche Entscheidungen zu lenken. Nach alledem reproduziert das griechische politische System ein Mosaik von Privilegien zulasten der Gesellschaft als Ganzes, ebenso wie feudale gesellschaftliche Bildungen der Vergangenheit die Privilegien des Adels reproduzierten.
3. Die defizitäre innerparteiliche Demokratie Das programmatische Defizit der griechischen politischen Parteien verschärft sich wegen der in der Praxis äußerst defizitären innerparteilichen Demokratie. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wurde darüber vor allem in der 1980er Jahren heftig diskutiert. Obwohl die griechische Verfassung keine ausdrückliche Garantie innerparteilicher Demokratie enthält,65 hat die Organisation und Tätigkeit der Parteien gemäß 62 Vgl. die Unterscheidung zwischen Organisationen, die auf öffentliche Amtspatronage abzielen, und Weltanschauungsparteien, die die Durchsetzung inhaltlicher politischer Ideale anstreben bei M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 839. 63 Dazu immer noch lesenswert Ch. Lyrintzis, Political Parties in Post-Junta Greece: A Case of ‚Bureaucratic-Clientelism‘?, West European Politics 7 (1984), S. 99 ff. 64 Art. 29 Abs. 2 n. F. Verf.; vgl. dazu oben C. II. 1. 65 Vgl. etwa Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG: „[Die innere Ordnung der Parteien] muss demokratischen Grundsätzen entsprechen“.
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Art. 29 Abs. 1 S. 1 Verf. „dem freien Funktionieren der demokratischen Staatsordnung“ zu dienen. Mit Hinweis darauf haben prominente Vertreter des Schrifttums die Auffassung vertreten, dass die Parteien verpfl ichtet seien, demokratische Innenstrukturen zu haben, wobei der Demokratiebegriff offener als auf staatlicher Ebene konkretisiert werden könne und sich vor allem an den (bis jetzt aber in dieser Angelegenheit untätig gebliebenen) Gesetzgeber richte.66 Demgegenüber wurde in der Rechtsprechung 67 aus Art. 29 Verf. mit entstehungsgeschichtlichen Argumenten der Grundsatz der Nichteinmischung des Staates in innerparteiliche Angelegenheiten abgeleitet. Dieser Grundsatz veranlasste zwar einen Teil des Schrifttums dazu, die verfassungsrechtliche Geltung eines Gebots der innerparteilichen Demokratie zu verneinen,68 jedoch ist diese Schlussfolgerung nicht logisch zwingend. Innerparteiliche Demokratie und Unterlassung von Eingriffen des Staates in innerparteiliche Angelegenheiten können und müssen in diesem Sinne als sich gegenseitig ergänzende Prinzipien aufgefasst werden.69 Wenn jedenfalls eine politische Partei im Rahmen ihrer Satzungsautonomie die Verpfl ichtung übernimmt, demokratischen Grundsätzen in ihrer Organisation und Tätigkeit Rechnung zu tragen, wie dies zurzeit für fast alle Parteien Griechenlands der Fall ist,70 dann kommt die Verletzung der Parteisatzung einer Verletzung der Verfassung gleich.71 Zweitrangig ist indes die Frage, dass es dabei um eine Verletzung geht, die mit rechtlichen Mitteln kaum sanktioniert werden kann, zumal das griechische Verfassungsrecht weder ein Parteiverbotsverfahren noch andere Sanktionsmöglichkeiten gegen politische Parteien kennt. Trotz gewisser Demokratisierungsansätze der griechischen politischen Parteien in den 1990er Jahren ist jeder Fortschritt schlussendlich eher marginal geblieben. Die in den Parteisatzungen – teils im Sinne eines Meistgebotsverfahrens großsprecherisch – proklamierten demokratischen Grundsätze werden in Wirklichkeit kaum eingehalten.72 So haben die Parteimitglieder allenfalls geringe Teilnahmechancen am Willensbildungsprozess, wobei die Parteitage lediglich eine Werbefunktion für die Partei erfüllen und von der Parteiführung streng kontrolliert werden.73 In den beiden größ66 Grundlegend schon D. Tsatsos (Δ. Τσάτσος ), Η ενδοκομματική αντιπολίτευση ως πρόβλημα του συνταγματικού δικαίου (Die innerparteiliche Opposition als Problem des Verfassungsrechts), AthenKomotini 1983, S. 36, 45; P. Foundethakis ( (Π. Φουντεδάκη ), Ενδοκομματική δημοκρατία και Σύνταγμα
(Innerparteiliche Demokratie und Verfassung), Athen-Komotini 1987, S. 201 ff.; vgl. auch Papadimitriou, oben Fn. 61, S. 279 ff. 67 Staatsrat 2145/1979, ToS 1979, S. 600 (603); Areopag 590/2009, Efi mDD 2009, S. 311 (312). 68 Vgl. Y. Drossos ( Γ. Δρόσος ), Η νομική θέση των πολιτικών κομμάτων στην Ελλάδα (Der rechtliche Status der politischen Parteien in Griechenland), Athen-Komotini 1982, S. 182, 187 ff. 69 K. Chryssogonos, Political Parties and Constitutional Institutions in Greece, JöR N. F. 45 (1997), S. 501 (504 f.). 70 Eine Ausnahme hierzu bildet die Kommunistische Partei Griechenlands, die sich weiterhin zur leninistisch-marxistischen Doktrin bekennt und nach ihrer Satzung nach den Grundsätzen des demokratischen Zentralismus organisiert ist. 71 Vgl. auch Foundethakis, oben Fn. 61, S. 164, die in dieser Hinsicht eine „Opinio juris“ im Sinne der Überzeugung der Betroffenen selbst identifi ziert, zum Grundsatz der innerparteilichen Demokratie rechtlich verpfl ichtet zu sein. 72 Vgl. A. Kaidatzis, Die Wirklichkeit der innerparteilichen Demokratie in Griechenland, Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), S. 472 (485): „Schein-Demokratisierung“. 73 Detaillierte Bestandsaufnahme zur Lage in den 1990er Jahren bei Kaidatzis, oben Fn. 72, S. 476 ff.
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ten Parteien wird zuletzt die direkte Wahl des „Parteipräsidenten“ durch Parteimitglieder und -freunde als Triumph der innerparteilichen Demokratie gefeiert. Fest steht jedenfalls, dass der „Präsident“ ab der Wahl in der Praxis als Herrscher fungiert, indem er jegliche Parteigewalt ausübt. Die wesentlichen politischen Entscheidungen werden nicht in den institutionalisierten Parteigremien, sondern vom Parteiherrscher – meistens nach undurchsichtigen Konsultationen mit einer Reihe von persönlich ausgewählten Beratern und Mitarbeitern – getroffen. Die politische Auseinandersetzung reduziert sich damit auf einen Zweikampf zwischen den Herrschern der beiden größten Parteien, wobei alle anderen politischen Akteure lediglich Zuschauer bzw. Mitläufer dieses Spiels sind. Vor diesem Hintergrund gelten sowohl die eigenständige Entscheidung des damaligen Premierministers vom September 2009, die vorzeitige Auflösung des Parlaments zu veranlassen, als auch die radikale Kursänderung der aus den Parlamentswahlen hervorgegangenen Regierung zur Wirtschaftsund Finanzpolitik, über die in keinem Parteigremium beraten wurde, als beispielhaft für ein langfristiges Defizit des griechischen politischen Systems. Überdies weitet sich die Malaise der Parteigremien zwangsläufig zu einer Malaise der staatlichen Organe aus. In den Parlaments- oder Kabinettssitzungen werden zuvor festgelegte Entscheidungen bloß ratifi ziert. Die verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren werden damit zu feierlichen Zeremonien herabgesetzt, deren politischer Inhalt prädeterminiert ist. Im seltenen Fall eines publik gewordenen Dissenses muss mit dem Ausschluss aus der Fraktion bzw. der Partei im Schnellverfahren gerechnet werden. Angesichts der defizitären innerparteilichen Demokratie erklärt sich überdies die vorherrschende Rolle des Premierministers in der Verfassungswirklichkeit Griechenlands. In der ursprünglichen Fassung der Verfassung von 1975 wurden zwar dem Präsidenten der Republik außer der Mitwirkung an der Exekutive wichtige legislative, gestaltende und notstandsrechtliche Befugnisse zuerkannt,74 obwohl diese Befugnisse in der Praxis niemals dem Parlament oder der Regierung gegenüber ausgeübt wurden. Mit der Verfassungsrevision von 1986 wurden aber die meisten bedeutenden Zuständigkeiten des Präsidenten der Republik entweder abgeschafft oder dem Parlament bzw. der Regierung übertragen, so dass die Rolle des Präsidenten der Republik als „Regulator der Staatsform“ (Art. 30 Abs. 1 S. 1 Verf.) eine zeremonielle Natur annahm.75 Kommt die Tatsache hinzu, dass die Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Fragen lange Zeit äußerst zurückhaltend blieb,76 so wurde nicht zu Unrecht kritisiert, dass es grundsätzlich kein institutionelles Gegengewicht gegenüber der Regierung bzw. dem Premierminister gäbe.77 Daraus hat der Oberste Sondergerichtshof zuletzt ein Verfassungsgebot abgeleitet, nach dem der Premierminister in der republikanischen, parlamentarischen Demokratie Griechenlands ein un74
Kritisch sog. „Übermächte“ genannt; Überblick bei S.-I G. Koutnatzis, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland, in: v. Bogdandy/Villalón/Huber (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. I, Heidelberg 2007, § 3, Rn. 13 ff. m. w. N. 75 Vgl. A. Manessis, L’évolution des institutions politiques de la Grèce: à la recherche d’une légitimation difficile, Les temps modernes No. 473, 1985, S. 772 (807) („Le Président de la République [. . .] n’est qu’un spectateur discret du jeu politique [. . .]“). 76 Periodisierung der Rechtsprechungsentwicklung bei Koutnatzis, oben Fn. 74, Rn. 41 ff. 77 Repräsentativ N. Alivizatos, The Presidency, Parliament and the Courts in the 1980s, in: Clogg (Hg.), Greece, 1981–89. The Populist Decade, Basingstoke/London 1993, S. 65 ff.
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mittelbares und direkt legitimiertes staatliches Organ sei, dessen Rolle sogar hervorstehend und vorherrschend sei.78 Es ist allerdings fragwürdig, ob diese Entwicklung der Verfassungswirklichkeit einem verfassungsrechtlichen Gebot entspricht. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Anwendung einer radikalen Form des Kanzlerprinzips im griechischen Regierungssystem in erster Linie mit der defizitären inneren Demokratie der politischen Parteien zusammenhängt. Mit der Volkssouveränität als Grundlage der Staatsform gemäß Art. 1 Abs. 2 Verf. lässt sich jedenfalls kaum vereinbaren, anstatt des Volkes ein Individuum oder ein staatliches Organ im Ergebnis als vorherrschend anzuerkennen.
4. Das Zweiparteiensystem und seine Perpetuierung Hinzu kommt die Tatsache, dass die Regelung des Wahlsystems sowie der Parteienfi nanzierung und des Wahlkampfes dazu führt, dass ein Zweiparteiensystem aufrechterhalten und perpetuiert wird.79 Zwar ist die Frage in Griechenland nicht abschließend geklärt, ob der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien beim politischen Recht der Parteigründung und der Teilnahme an politischen Parteien (Art. 29 Abs. 1 Verf.) in Verbindung mit dem Demokratieprinzip (Art. 1 Verf.) 80 oder beim allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 4 Abs. 1 Verf.) verfassungsrechtlich angesiedelt ist.81 Das Ausmaß der einfachgesetzlichen Bevorzugung der etablierten Parteien ist aber auf jeden Fall verfassungsrechtlich bedenklich. Zu dieser Entwicklung hat zum einen die Ausgestaltung des Wahlsystems wesentlich beigetragen. Die griechische Verfassung überlässt es dem einfachen Gesetzgeber, das Wahlsystem unter Beachtung der Grenzen festzulegen,82 die sich insbesondere aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit ergeben. Mit einer kurzfristigen Ausnahme hat sich der einfache Gesetzgeber aber bereits seit 1958 (zuletzt durch die Gesetze 3231/2004 und 3635/2008) für Variationen eines Verhältniswahlsystems (der sog. „verstärkten Verhältniswahl“) entschieden,83 die darauf abzielen, der stimmenstärksten Partei in aller Regel die absolute Mehrheit im Parlament zu gewähren, was Regierungskoalitionen entbehrlich macht. Teilweise wird im Schrifttum die verfassungsrechtliche Notwendigkeit des einfachen Verhältniswahlsystems befürwortet84 oder die Auffassung vertreten, 78 Mit dieser Begründung wurde die Verfassungsmäßigkeit der Wahl von ehemaligen Premierministern zu Abgeordneten bejaht, ohne dass sie einer persönlichen Präferenzstimme bedürfen. Vgl. das Urteil 4/2008, ToS 2008, S. 397 ff. 79 Zur Entwicklung T. Pappas, The Transformation of the Greek Party System Since 1951, West European Politics 26 (2003), S. 90 ff.; teilweise abweichend G. Mavrogordatos, The Greek party system: A case of ‘limited but polarised pluralism’?, West European Politics 7 (1981), S. 156 (168). 80 So die herrschende Meinung im Schrifttum; vgl. etwa Papadimitriou, oben Fn. 61, S. 287 f.; Chryssogonos, oben Fn. 60, S. 345 f.; ausführlich V. Gikas, Chancengleichheit der politischen Parteien in Griechenland, Baden-Baden 1994, passim. 81 Vgl. etwa das Urteil des Staatsrates 656/2000 (Plenum), ToS 2000, S. 192 (196). 82 Seit der Verfassungsrevision von 2001 gelten aber Änderungen im Wahlsystem grundsätzlich erst ab den übernächsten Wahlen (Art. 54 Abs. 1 Verf.). 83 Vgl. A. Pantélis/S. Koutsoubinas, Gréce, in: dies. (Hg.) Les régimes électoraux des pays de l’Union Européenne, London 1998, S. 275 (307 ff.). 84 G. Papadimitriou ( Γ. Παπαδημητρίου ), Εκλογικό σύστημα, δημοκρατικό πολίτευμα και Σύνταγμα (Wahlsystem, demokratische Staatsform und Verfassung), NoB 1988, S. 1353 (1360).
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dass nur diejenigen Abweichungen von diesem System zulässig seien, die der Notwendigkeit der Bildung einer stabilen Regierung dienen.85 In einem anderen Teil des Schrifttums wird hingegen angenommen, dass sowohl die übermäßige Macht der Mehrheit als auch die überproportionale Macht der Minderheit gegen die materielle Wahlgleichheit verstoßen.86 Der Oberste Sondergerichtshof hat grundsätzlich einen beträchtlichen Spielraum des einfachen Gesetzgebers bei der Festlegung des Wahlsystems anerkannt.87 Die Tatsache, dass der jeweilige Wahlausgang angesichts des Wahlsystems als vollständiger Sieg oder Niederlage für je eine der zwei größten politischen Parteien wahrgenommen wird, führt jedenfalls dazu, möglichst alle Parteianhänger bedingungslos zu mobilisieren, und lässt keine Spielräume für die innerparteiliche Durchsetzung demokratischer Strukturen. Wenn aber das Anliegen der Regierungsstabilität zu einer gewissen Rechtfertigung des Wahlsystems vorgebracht werden kann, stößt die Privilegierung des bestehenden Status quo bei der Ausgestaltung der Parteienfinanzierung aus öffentlichen Mitteln auf gravierende verfassungsrechtliche Bedenken. In erster Linie ist (auch) diese Entwicklung nicht auf die verfassungsrechtliche Regelung, sondern auf ihre einfachgesetzliche und tatsächliche Umsetzung zurückzuführen. Die ursprüngliche Fassung der griechischen Verfassung von 1975 enthielt zwar lediglich eine Option für die gesetzliche Regelung der finanziellen Unterstützung der Parteien durch den Staat sowie der Offenlegung der Wahlausgaben (Art. 29 Abs. 2 a. F.).88 Die Verfassungsrevision von 2001 hat aber das Recht der Parteien auf staatliche finanzielle Unterstützung für ihre Wahlausgaben und für ihre funktionellen Ausgaben auf die Verfassungsebene direkt angesiedelt. Dabei verlangt der (implizite aber unumstrittene) verfassungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit, den kleinen aber politisch existenten Parteien die Gelegenheit zu geben, den traditionellen Großparteien den Vorrang streitig zu machen. Ob das einschlägige Gesetz 3023/2002 diesen Vorgaben Rechnung trägt, ist aber sehr zweifelhaft. Die regelmäßige Finanzierung (die 1,02 Promille der regelmäßigen Jahreseinnahmen des Staatshaushalts erreicht) wird zum überwiegenden Teil (80 %) im Verhältnis zum Stimmenanteil der Parteien bei den vorangehenden Parlamentswahlen verteilt; lediglich der Restbetrag von 20 % wird gleichmäßig unter allen Parteien aufgeteilt, unter der Voraussetzung wiederum, dass sie über einen gewählten Europaabgeordneten verfügen oder bei den letzten Wahlen über 1,5 % der Stimmen bei Aufstellung von Wahlkandidaten in mindestens D. Tsatsos ( Δ. Τσάτσος ), Συνταγματικό Δίκαιο (Verfassungsrecht), Band B, 2. Aufl., Athen-Komotini 1993, S. 190 ff. 86 P. Dagtoglou ( Π. Δαγτόγλου ), Συνταγματικό Δίκαιο. Ατομικά Δικαιώματα (Verfassungsrecht. Individuelle Rechte), 3. Aufl., Athen-Komotini 2010, Rn. 1433. 87 So hat der Oberste Sondergerichtshof die Verfassungsmäßigkeit einer 3 % -Sperrklausel für den Einzug ins Parlament (vgl. Urteil 11/1994, ToS 1994, S. 862 [864]) sowie, wie bereits erwähnt, der Abgeordnetenwahl aufgrund der Reihenfolge in der Wahlliste (vgl. Urteil 34/1985, NoB 1986, S. 606 ff.) bejaht. Vgl. aber auch das Urteil 12/2005, wonach die Nichtberechnung der als gültig anerkannten „weißen“ Stimmen bei der Ableitung des Wahlquotienten gegen den Kerngehalt der Volkssouveränität und den Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt. 88 Ausführlich zur Parteienfi nanzierung gemäß Verfassung und einfachem Gesetz vor der Verfassungsrevision von 2001 G. Papadimitriou, Parteienfi nanzierung in Griechenland, in: Tsatsos (Hg.), Parteienfi nanzierung im europäischen Vergleich. Die Finanzierung der politischen Parteien in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1992, S. 197 ff. 85
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70 % der Wahlkreise erzielt haben. Im Gegensatz dazu wird die wahlbezogene Finanzierung (0,22 Promille der regelmäßigen Einnahmen des Haushalts jeweils im Jahr von Wahlen zum nationalen bzw. Europäischen Parlament) ausschließlich proportional zu den Stimmen der vorherigen Wahlen verteilt, und zwar 60 % hiervon nur an diejenigen Parteien, die einen Parlamentsabgeordneten auf nationaler bzw. europäischer Ebene stellen.89 Wenn aber die Verteilung der regelmäßigen Finanzierung an der unteren Grenze des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren bezüglich der gleichen Verteilung liegt, so wird hinsichtlich der Verteilung der wahlbezogenen Finanzierung von einem Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit ausgegangen.90 Denn eine neugegründete politische Partei hat damit keine realistische Möglichkeit, sich gegen die etablierten politischen Parteien im Wahlkampf durchzusetzen. Bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Regelungen zur staatlichen Parteienfinanzierung hat allerdings der Staatsrat bis jetzt eine bemerkenswerte Zurückhaltung an den Tag gelegt, zumal die Differenzierungsmerkmale auf objektiven und einsichtigen Kriterien beruhen. So sind die Vorgaben des früheren Gesetzes 1443/1984, wonach eine Partei 3 % der gültigen Stimmen erreicht und in zwei Dritteln der Wahlkreise Kandidaten bei den letzten Wahlen aufgestellt haben muss, um vom Staat fi nanziert zu werden, als verfassungsgemäß angesehen worden.91 Zuletzt wurde auch die Verfassungsmäßigkeit der Mindestgrenze von 1,5 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen für die Teilnahme an der regelmäßigen Parteienfi nanzierung in einem Kammerurteil des Staatsrates bejaht.92 Angesichts der Bedeutung der aufgeworfenen Frage wurde allerdings die Sache an das Plenum des Staatsrates verwiesen, dessen Urteil noch ansteht. Zur Perpetuierung des Zweiparteiensystems tragen überdies die Medien bei, indem die zwei größten Parteien bei der politischen Berichterstattung übermäßig privilegiert werden. Art. 15 Abs. 2 Verf. verlangt zwar die sachliche und gleichmäßige Übertragung von Informationen und Nachrichten, wobei die Zuständigkeit des Nationalen Rundfunkrates für die Kontrolle und die Verhängung von Sanktionen vorgesehen ist. Dabei hat der Nationale Rundfunkrat wiederholt Verletzungen der verfassungsrechtlichen Vorgaben festgestellt und gegen die Fernsehsender Bußgelder verhängt. Was speziell die Zuteilung von Sendezeiten während der Wahlkämpfe betrifft, hat die Rechtsprechung lange Zeit die Verfassungsmäßigkeit unterschiedlicher 89 Einzelheiten dazu bei K. Mavrias, Les principes constitutionnels régissant le droit des élections législatives en Grèce, in: Essays in Honour of Georgios I. Kassimatis, Athen/Berlin/Brüssel 2004, S. 201 (213 ff.); J. Iliopoulos-Strangas, Constitution et élections – Grèce, Annuaire international de justice constitutionnelle 2003, S. 179 (187 ff.). 90 Dazu Chryssogonos, oben Fn. 60, S. 351 f. 91 Vgl. das Urteil des Staatsrates 1862/1985 (Plenum), ToS 1986, S. 493 ff.; s. auch Staatsrat 177/1992 (Plenum), Ελληνική Δικαιοσύνη (Elliniki Dikaiosini) [im Folgenden: EllDni] 1993, S. 790 (Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von im Parlament vertretenen Parteien von der staatlichen Finanzierung); vgl. aber Staatsrat 993/1989 (Plenum), EllDni 1991, S. 402 (Verfassungswidrigkeit der Beschränkung der staatlichen Finanzierung auf diejenigen Parteien, die im vorhergehenden Haushaltsjahr einen Anspruch auf Finanzierung hatten). 92 Vgl. das Urteil des Staatsrates 3157/2009, Θεωρία και Πράξη Διοικητικού Δικαίου (Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts) 2010, S. 907 ff. Vergleichend dazu bereits BVerfGE 20, 300 (341 ff.), wonach die Festlegung einer Mindestgrenze von mehr als 0,5 % der Stimmen bei den Bundestagswahlen für die Wahlfi nanzierung der Parteien gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verstößt; in ähnlichem Sinne zuletzt BVerfGE 111, 382 (397 ff.) (sog. „Drei-Länder-Quorum“).
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Sendezeiten in Radio und Fernsehen bejaht, sofern für diese unterschiedliche Behandlung besondere Rechtfertigungsgründe nach objektiven Kriterien vorliegen,93 die etwa mit der parlamentarischen Stärke der Parteien, ihrem landesweiten Organisationsgrad oder ihrer geschichtlichen Rolle im politischen Leben des Landes zusammenhängen.94 Zuletzt hat zwar das Plenum des Staatsrates die Beschränkung einer neugegründeten Partei auf eine einmalige Sendezeit von fünf Minuten (im Vergleich zu insgesamt 3768 Minuten der bei den letzten Wahlen stimmenstärksten Partei) als verfassungswidrig angesehen.95 Es bleibt aber noch abzuwarten, inwieweit dieses Urteil eine längst überfällige Rechtsprechungswende signalisiert oder lediglich auf die markanten Umstände des vorliegenden Falles zurückzuführen ist. Insgesamt betrachtet führen die Ausgestaltung des Wahlsystems, der Parteienfinanzierung sowie der Medienberichterstattung zur Perpetuierung des Zweiparteiensystems. Die Möglichkeiten des souveränen Volkes, sich bei den Wahlen für eine alternative Regierungskonstellation zu entscheiden (oder sogar die Chancen einer neugegründeten politischen Partei, den Einzug ins Parlament zu erzielen), bleiben zwar theoretisch bestehen, werden aber in der Praxis unterminiert.96
5. Die Ministerverantwortung bzw. die Verantwortungslosigkeit der Minister Besonders problematisch ist überdies die Durchsetzung der strafrechtlichen Verantwortung der Mitglieder der Regierung sowie der Vizeminister. Zum einen sieht die griechische Verfassung in Art. 86 eine ganze Reihe besonderer Vorgaben für die strafrechtliche Verantwortung der Regierungsmitglieder sowie der Vizeminister vor, die darauf abzielen, die Strafverfolgung aus politischen Gründen auszuschließen. Zwar ist die Anwendung besonderer Vorschriften für die Strafverfolgung von Regierungsmitgliedern im internationalen Vergleich nicht einmalig. Allerdings ist die griechische Regelung dadurch gekennzeichnet, dass sie gleichzeitig von verschiedenen Sonderregelungen Gebrauch macht, die meistens lediglich alternativ konzipiert sind, so etwa die Zuständigkeit des Parlaments, Strafanzeige – und zwar mit der absoluten Mehrheit der gesamten Zahl der Abgeordneten – zu erstatten,97 sowie die Zuständigkeit eines Sondergerichtshofes für die Verhandlung der diesbezüglichen 93 Vgl. die Urteile des Obersten Sondergerichtshofes 11/1982, ToS 1984, S. 79 f. und des Staatsrates 2423/1984, ToS 1986, S. 77 ff. 94 Vgl. das Urteil des Staatsrates 930/1990, EllDni 1990, S. 1361 f. 95 Vgl. das Urteil des Staatsrates 3427/2010, Efi mDD 2010, S. 848 ff. Dagegen hatte sich die Kammer des Staatsrates für die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung ausgesprochen, vgl. das Urteil 1784/2009, ToS 2009, S. 699 ff. 96 Vgl. Ch. Lyrintzis, The Changing Party System: Stable Democracy, Contested ‚Modernisation‘, West European Politics 28 (2005), S. 242 (256 f.): „cartel party“. 97 Gemäß Art. 86 Verf. hat das Parlament die Zuständigkeit, Strafanzeige wegen Straftaten, die während der Amtsausübung begangen worden sind, gegen diejenigen zu erstatten, die Mitglieder der Regierung oder Vizeminister sind oder waren (Abs. 1). Im Übrigen ist ein Strafantrag, ein Verhör, ein Vorverhör oder eine Voruntersuchung aufgrund solcher Straftaten ohne vorhergehende Entscheidung des Parlaments nicht gestattet. Wenn im Rahmen eines anderen gerichtlichen Verfahrens Angaben bekannt werden sollten, die mit den Mitgliedern der Regierung und während der Amtsausübung begangenen Straftaten zusammenhängen, werden diese Angaben unverzüglich an das Parlament weitergeleitet (Abs. 2).
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Fälle.98 Besonders einschränkend wirkt außerdem die in dieser Form erst mit der Verfassungsrevision von 2001 eingeführte und im europäischen Vergleich, soweit ersichtlich, einmalige zeitliche Limitierung, wonach das Parlament nur bis zum Ende der zweiten ordentlichen Sitzungsperiode nach der Vollendung der Straftat seine Zuständigkeit ausüben kann (Art. 86 Abs. 3 S. 5 Verf.). Dabei geht es um einen Zeitraum von maximal zwei Jahren. Zum anderen haben Exekutive und Legislative bei der tatsächlichen Handhabung dieser Vorschriften, die sicherlich an manchen Stellen geringe Interpretationsspielräume lassen, kaum den Willen gezeigt, die strafrechtliche Verantwortung von Mitgliedern der Regierung und Vizeministern auch bei schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen durchzusetzen. Teilweise, etwa als die damalige Regierungsfraktion zum ersten Mal im Oktober 2008 der Parlamentssitzung, in der über die Bildung des gemäß Art. 86 Abs. 3 S. 2 Verf. erforderlichen parlamentarischen Ausschusses zur Durchführung der Voruntersuchung entschieden werden sollte, en bloc fernblieb, kann sogar von einer Umgehung der Verfassung die Rede sein, zumal auf diese Weise die absolute Mehrheit der gesamten Zahl der Abgeordneten von vornherein nicht erreicht werden konnte. In diesem Lichte kann außerdem der vorzeitige Abschluss der Sitzungsperiode im Mai 2009 betrachtet werden, der die strafrechtliche Verfolgung von Ministern für während der vorhergehenden Legislaturperiode begangene Straftaten unmöglich machte (vgl. Art. 86 Abs. 3 S. 5 Verf.). Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass selbst gravierende Korruptionsvorwürfe, in die Regierungsmitglieder verwickelt waren, aufgrund der engen verfassungsrechtlichen Vorgaben zur strafrechtlichen Verantwortung der Regierungsmitglieder sowie ihrer praktischen Handhabung häufig nicht aufgeklärt werden. Ebenso fragwürdig ist die tatsächliche Ausgestaltung der strafrechtlichen Verantwortung von Parlamentsabgeordneten. Ohne Erlaubnis des Parlaments darf ein Abgeordneter gemäß Art. 62 Abs. 1 Verf. während der Legislaturperiode nicht verfolgt, festgenommen oder inhaftiert oder sonst wie in seiner Freiheit beschränkt werden. Da die Erlaubnis als abgelehnt gilt, wenn das Parlament darüber nicht innerhalb von drei Monaten befindet, nachdem der Antrag des Staatsanwalts auf Verfolgung bei dem Parlamentspräsidenten eingegangen ist (Art. 62 Abs. 2 Verf.), weigert sich das Parlament regelmäßig, die erforderliche Erlaubnis für die Verfolgung von Abgeordneten zu gewähren, selbst wenn es um Verbrechen geht, die keinen Bezug zur politischen Tätigkeit der Abgeordneten aufweisen. In dieser Praxis hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) nicht zu Unrecht wiederholt eine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 EMRK festgestellt.99 Da die strafrechtliche Verantwortung von Regierungsmitgliedern sowie Parlamentsabgeordneten nach ihrer tatsächlichen Handhabung in Griechenland keine geeignete Basis bietet, um Korruptionsvorfälle effektiv zu bekämpfen, stellt die politische Verantwortung der Regierungsmitglieder die einzige Alternative dar. Sie ist aber des98 Nach Art. 86 Abs. 4 Verf. ist für die Verhandlung der diesbezüglichen Fälle in erster und letzter Instanz ein Sondergericht als höchstes Gericht zuständig, welches für jeden Fall aus sechs Mitgliedern des Staatsrates und sieben Mitgliedern des Areopags besteht. 99 Vgl. die Urteile des EGMR vom 16. 11. 2006 im Fall Tsalkitzis gegen Griechenland, Beschwerdenummer 11801/04 sowie vom 11. 2. 2010 im Fall Syngelidis gegen Griechenland, Beschwerdenummer 24895/97 (beide verfügbar unter www.echr.coe.int).
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wegen eine mangelhafte Alternative, weil sie angesichts der defizitären innerparteilichen Demokratie der alleinigen Entscheidung des Premierministers bzw. Parteivorsitzenden unterliegt, der etwa bei Regierungsumbildungen bzw. bei der Aufstellung der Wahllisten Korruptionsvorwürfe berücksichtigen kann, aber nicht muss.
6. Ergebnis: Griechenland als „limited access“-Ordnung Während die griechische Verfassung eine demokratische Staatsform imperativ festlegt, ist die Funktionsweise des griechischen politischen Systems hinter der demokratischen Oberfläche durch eine eigenartige Mischung von feudalen und absolutistischen Elementen gekennzeichnet. Von politischer Freiheit und politischer Gleichheit als Grundpfeiler der Demokratie liegt der heutigen griechischen Demokratie zwar ein gewissermaßen zufriedenstellendes Freiheitsverständnis zugrunde. Die politische Gleichheit bleibt aber eine Chimäre – nicht primär wegen der verfassungsrechtlichen Vorgaben, sondern wegen der vorherrschenden Maßstäbe politischen Verhaltens. Zum einen kommen die zahlreichen politischen Dynastien einer quasi Erbaristokratie gleich. In den feudal organisierten Gesellschaften der Vergangenheit war die soziale Mobilität äußerst beschränkt und die institutionelle Organisation der staatlichen Gewalt nur rudimentär, so dass die Blutsverwandtschaft die Hauptrolle bei der Zusammensetzung der politischen Klasse spielte. Im heutigen Griechenland führen die mangelnde Institutionalisierung der politischen Parteien und das Fehlen innerparteilicher Demokratie zum gleichen Ergebnis. Zum anderen und darüber hinaus herrschen in der griechischen politischen Wirklichkeit Vertrauens- und Unterwerfungsbeziehungen feudaler Natur, wobei programmatische Differenzen zwischen den politischen Parteien kaum erkennbar sind. Im Ergebnis werden auch die verfassungsrechtlich vorgesehenen Entscheidungsfi ndungsprozesse eben wegen des Fehlens innerparteilicher Demokratie weitgehend auf feierliche Zeremonien herabgesetzt, die ihrer inhaltlichen Substanz weitgehend entleert sind. Nicht zuletzt verschwinden die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre, indem eine vermeintlich öffentlich-politische Gewalt einer angeblich privaten, aber staatsabhängigen wirtschaftlichen Gewalt gegenübergestellt wird. In diesem Zusammenhang kann auf die theoretische Unterscheidung zwischen „limited access“- und „open access“-Ordnungen hingewiesen werden. Bei den „limited access“-Ordnungen wird die Gefahr innergesellschaftlicher Gewalt durch die Zuweisung von Privilegien an die jeweils dominierende Elite gebändigt, während der Zugang zu politischen Institutionen und ökonomischen Ressourcen stark begrenzt ist und auf persönlichen Beziehungen sowie Interessennetzwerken beruht; „open access“-Ordnungen sind dagegen auf offenen sozialen Beziehungen und unpersönlichem Austausch aufgebaut, indem jedem Staatsbürger der Zugang zu allen politischen und wirtschaftlichen Organisationseinrichtungen ermöglicht wird.100 Wird dieser schematischen Unterscheidung gefolgt, entsprechen die griechischen Verhältnisse eher einer „limited access“Ordnung. 100 D. C. North/J. J. Wallis/B. R. Weingast, Violence and Social Orders, Cambridge/New York 2009, insb. S. 30 ff., 110 ff.
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An der derzeitigen Finanzmisere Griechenlands sind die oben geschilderten Defekte des griechischen politischen Systems keinesfalls unschuldig.101 Wegen der Teilnahme an der Eurozone unterliegt Griechenland dem Wettbewerb mit den starken west- und nordeuropäischen Partnern direkt und auf der gleichen Ebene. Die feudalistischen Grundstrukturen des griechischen politischen Systems hängen aber mit Wettbewerbsnachteilen zusammen, die angesichts des derzeitigen Standes der europäischen Integration nicht mehr durch Einschränkungen des Kapital- und Warenverkehrs oder durch Abwertungen der nationalen Währung ausgeglichen werden können. Daher werden übermäßige Schulden aufgenommen, die aber langfristig zwangsläufig zum Zusammenbruch der staatlichen Finanzen führen. Nicht nur die griechische Wirtschaft, auch das griechische politische System stößt damit auf seine immanenten Grenzen.
D. Fazit und Ausblick Im Rahmen des bestehenden politischen Systems Griechenlands ist die Überwindung der fi nanziellen Krise des Landes unmöglich. Eine solche Überwindung würde die Etablierung demokratisch organisierter Prinzipienparteien, die Abschaffung von politischen Dynastien, Patronage- und Klientelverhältnissen sowie die klare Trennung zwischen öffentlicher Gewalt und privaten wirtschaftlichen Interessen voraussetzen. Vor allem auf der gesellschaftlichen Ebene ist eine radikale Änderung von Einstellungen und Denkweisen, die sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung seit vielen Jahren angeeignet hat, unerlässlich. Nur dann kann das politische Personal des Landes mit Politikern, die aus der Gesellschaft stammen und sie tatsächlich im institutionellen Staatsgefüge repräsentieren, erneuert werden. Dazu benötigt die griechische Gesellschaft eine neue Vision, die von den Selbsttäuschungen der Vergangenheit fernbleibt und sich auf Arbeit und Produktivität, statt auf Jagd nach Posten im öffentlichen Dienst und unüberlegten Konsum abstellt. Die Überwindung der Krise setzt schlussendlich eine grundlegende Zäsur in der politischen Kultur des Landes voraus. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die derzeitige Finanzmisere Griechenlands als Chance wahrgenommen wird bzw. werden kann, um diese längst überfällige Entwicklung in Gang zu setzen.
101 In diesem Sinne auch T. Pappas, The causes of the Greek crisis are in Greek politics, verfügbar unter www.opendemocracy.net/openeconomy/takis-s-pappas/causes-of-greek-crisis-are-in-greekpolitics (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2011): „The Greek crisis came out of marrying a European project with a specifically Greek political culture of populism and clientelism“; Ch. Lyrintzis, Greek Politics in the Era of Economic Crisis, Hellenic Observatory Papers on Greece and Southeast Europe, London 2011, verfügbar unter http://eprints.lse.ac.uk/33826/1/GreeSE_No45.pdf, z. B. S. 2 (zuletzt abgerufen am 30. 5. 2011).
Draft Law on General Administrative Procedures of the Republic of Croatia Introduction and arguments of the legal text – A Drafting Report – by
Prof. Dr. Ulrich Karpen, University of Hamburg, Law School Table of Contents Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. The Origin of the Draft Law on General Administrative Procedures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Outline of the Project . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodological approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Broad communication process . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Involvement of the political decision-makers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. The drafting process . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steps of drafting, versions of draft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Comments and critics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Submission of the Draft, arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. A New LGAP is needed . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Status quo of legislation on general administrative procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positive aspects and general defi ciencies of the ZUP of 1986 as in force . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. European standards require new legislation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. General and abstract legal terms instead of detailed regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Devolution of decision making within the hierarchy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. New instruments for reducing bureaucratic burden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Decision to write a New LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Requirements of implementation of new procedures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Basic Principles for the New LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Constitutional andlegal frame of a new LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Human Rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Democracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methodological Aspects of the New LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legistic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Language structure, definitions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Cross-referencing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Key Elements for Structure and Content of the New LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Functions of Administrative Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Goals of the Law – Effective Implementation of Public Tasks (Art. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Advantages of a Unifi ed LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Effi cient, Simple, Speedy Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. The Role of the Citizens in Administrative Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Public Services – Citizens’ Access and Legal Protection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Effi cient and Effective procedures as preconditions for economic development . . . . . . . . . . . . . . . 3. Due Process-Fair Procedure-Advice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Legal Remedies and Administrative Disputes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Special Administrative Decisions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Discretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reversal of an Administrative Act (Art. 73, 74) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Delivery and Enforcement (Parts V and VI of the New LGAP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. New Organisation and Technical Measures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. One-stop Shop (Art. 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. E-Government (Art. 38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Structure of the New LGAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annex 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annex 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annex 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Preface On the 25th June 2011 the Republic of Croatia celebrated the 20th anniversary of the Declaration of Independence. The same day the Heads of States and Governments of the European Union decided on the accession of Croatia as the 28th member state in 2013. Negotiations on accession had started in 2005. Chapters 23 and 24 of EU-access-criteria-catalogue to be opened for adapting political and legal conditions of Croatia to the requirements of the Union, namely the aquis communautaire, deal with Human Rights, administration and the Judiciary. One basic element of modernizing institutions and structures of States seeking accession is to make administration more effective and efficient, as far as personnel, organization and procedure is concerned. For countries in transformation of Middle Europe and on the Balkans in particular a better administrative procedure is needed, following the European Rule of Law-Standards. In order to support the Civil Service and Public Administration Reform in Croatia, only in 2003 an International and National team of six experts each started to work on different parts of this reform. One of the main subprojects was to draft a New Law on General Administrative Procedures (New LGAP) for Croatia.This two-year project started in January 2006 and the draft was submitted in October 20071. After some 1 http://www.delhrv.ec.europa.eu/index.php?lang=en&content=287; Nacrt Zakona o Opcem upravnom postupku Republike Hrvatske. Uvod i obrazlozenje zakonskih odredbi – Izradio projecni tim (radna verzija 12/12/07) Potpora reformi javne upravne i drzavne slubzbe u Hrvatskoj Projekt u okviru
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deviations and changes in the text of the draft during the legilative procedure in the Sabor, the Croation Parliament, the President of the Republic promulgated after enactment the Act on General Administrative Procedure on 1 April 2009 and it came into force on 1st January 2010. The text of the Draft Law (which is the basis of the LGAP in its fi nal form) is added as Annex 3 (pp. 473 ff.). This is a short report of the work, which has been completed after one and a half years. It may serve as an example, how cooperative drafting projects are planned and accomplished in the European Administrative Space (EAS).
A. The Origin of the Draft Law on General Administrative Procedures I. Outline of the Project The proposed draft of a new Law on General Administrative Procedures for Croatia (in the following New LGAP) 2 was elaborated in the framework of the EU funded project “Support to Public Administration and Civil Service Reform”. Two project components provided assistance in – building up a professional civil service by implementation of the new Law on Civil Service in force since 01 January 2006 (Project Component I), – and adjusting the system of general administrative procedures in Croatia to the requirements of today and tomorrow (Project Component II). As far as Project Component II is concerned, starting point of all project activities had been the fundamental rationale, that administrative procedures have a direct effect to citizens’ everyday life. Purpose of procedural rules is to ensure that all activities of public authorities are lawful, transparent, efficient and adequate. In general, the system of administrative procedures reflects the constitutional values, which decide on how the state treats its people. The conception of Croatia’s administrative procedures goes back to 1956. Since then some amendments were introduced, in particular in 1991 after Croatia declared its independence. However, the substance regulated in the Law on General Administrative Procedures remained unchanged. Therefore the Government of Croatia had put this topic on its agenda. It had recognised the need to improve the quality of administrative services by streamlining procedures and reduction of bureaucracy through a modern Law on General Administrative Procedures. The team of experts, which has been mentioned before, consisted of Croatian and English, Austrian and German members, equally divided , and some assistants, not at least for the translation.The team cooperated closely with the Central State Office for Administration (CSOA). Office space was available at this institution. EU programa CARDS 2003 za Hrvatsku; Draft Law on General Administrative Procedures of the Republic of Croatia. Introduction and Arguments of the legal text-Elaborated and submitted by the project team of law drafters (draft version 13/12/07) Support to the civil Service and Public Administration Reform in Croatia, project within the European CARDS 2003 programme for Croatia. 2 The title of the Croatian Law of Administrative Procedures as in force till the end of 2009 is abbreviated as ZUP.
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II. Methodological approach Reform of administrative procedures does not mean the transfer of an “off-theshelf ” model from another country to Croatia. And, furthermore, such a reform is not a technocratic procedure but requires both citizens’ participation and political guidance. These had been the reasons why the Project Team recommended two strategic essentials for the legislative process: – a broad communication process with the relevant areas of Croatian society: courts, bar association, commerce and industry, academic world, ministries and other interested parties; – the involvement of the political decision-makers at the beginning of the process, who formulate the political will and adopt guidelines for the new system of administrative procedures, before professional law drafters within the Project Team start converting the political concept to the text of a Law on General Administrative procedures.
1. Broad communication process The project started with a symposium on “The Role of New Administrative Procedures for the Modernisation of Public Administration”. At the premises of the Croatian Bar Association in Zagreb more than 70 high-level representatives of the Croatian Sabor, executive power, academic world, judiciary, bar, business sector, and other interested parties discussed the principles, on which Croatia’s public administration should be based in the future. This was the start of an open communication process. The public debate was initiated, in order to benefit from various sources of expertise and experiences, and achieve a broad consensus on the reform within Croatian society. Another instrument to facilitate the communication process was the establishment of an Advisory Committee, which accompanied the work of the law drafting Project Team. Furthermore during the whole drafting process the team sought contact with various bodies and individuals in the fields of politics and administration and civil society to give information and to collect ideas and critical remarks. Among these institutions were: – Croatian Parliament, Committee for Constitution, Rules of procedure and Political System – Governmental Office for Legislation – Ministry of Justice – Ministry of Interior – Supreme Court – Constitutional Court – Administrative Court – Central State Administrative Office for E-Croatia – HITROREZ: a project of the Government of the Republic of Croatia for E-GOV. – National Competitiveness Council
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Finally the law drafting team benefited from various inputs (like short-term expert missions, reports, comments).
2. Involvement of the political decision-makers For the drafting process the Project Team had developed and followed a three-step strategy to involve right from the beginning the political decision making level. Step I: – Development of a two-page policy paper on “Principles of Public Administration and Objectives of Administrative Procedures”; – Adoption of the policy paper by highest-level policy makers; Step II: – Development of a 15-page strategy paper on “Political Guidelines for the Legislation on General Administrative Procedures”; – Adoption of the strategy paper by those policy-makers, who are responsible for the area of public administration and relevant legislation; Step III: – Drafting the legal text, to be submitted to the Government for parliamentary procedure.
Principles of the Reform of General Administrative Procedures in Croatia The fi rst meetings of the working group, namely the foreign experts, were held in June 2006. By brainstorming and non-papers the basic topics for the reform of procedures have been formulated. The “Principles” consist of four points: a preamble, the central objectives for the reform, the special focus on participation of civil society, and the timeframe for the legislative process. In the preamble the drafting of a new LGAP is embedded into the administrative reform of the country. It is stressed, that the new Law should assist to create a serviceoriented administrative practice, guarantee a professional public administration, use the advantages of new techniques, support the consolidation of civil service and harmonise public administration with EU standards. In doing so, the reform of the administrative procedures respects traditional values of Croatian public administration, the Copenhagen Criteria of the European council, the principles of the European Court of Justice, the jurisdiction of the Croatian Constitutional Administrative Courts, the best practice of public administration in EU member States, modern values of a qualified public administration and methods of modern management. The process of new legislating on general administrative procedure is based on a professional methodology of law drafting, which includes a broad communication and discussion with the relevant branches of Croatian society. The drafting process should be based on a thorough and transparent consideration of all suggestions from civil society. A Regulation Impact assessment, including public hearings, will make
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sure, that all suggestions as to the content of the Draft are heard. RIA will take place in the course of the legislative process as well as after the adoption of the law. As to the time frame the Draft should be prepared until mid of 2007 and the Government will make efforts to enact the law until the end of 2007. This two pages-document “Principles of the reform of General Administrative Procedures in Croatia” was adopted by the Government on 1st September 2006 3.
Guidelines for the Legislation on General Administrative Procedures in Croatia The next steps of concretization of the Draft were the 13 pages guidelines. They are based on the “Principles” and unfold the basic points of the draft. In fact there are five of them: a description of the Status quo of administrative procedures in Croatia, the starting-points for the new draft, arguments for a new draft instead of amending the ZUP, the methodological aspects of the new law and fi nally some 12 key issues for structure and content of the new law. Under point 1 the situation of the current ZUPregime of administrative procedure is depicted. The “basic principles”, to start from, is the constitutional and legal frame, which the Draft has to obey and stay in. Main elements of the frame are the Constitution of Croatia, the European Charta of Human Rights, the acquis communautaire, the quality standards of modern public administration and the standards of good legislation. The legal basis is in detail unfolded: Human Rights, rule of Law, Democracy. The need for a New Law on General Administrative Procedure is discussed. Some methodological aspects of the new law are: Legal defi nitions. Systematic order as close to the present law, short articles, use of crossreferencing, use of modern legislative technique, including arguments for passing the law. Key elements are: preamble, general application for all administrative actions. Legal defi nition, namely of “Administrative Act”, uniformity of the system of administrative procedures; citizens’ access to public services are legal protection; enforcement and delivery, fair procedure, discretion, legal remedies, withdrawal and revocation of administrative acts, one-step-shops, e-government. These “Guidelines” have been adopted by the Government on 10th January 20074.
III. The drafting process 1. Steps of drafting, versions of draft The work on the Draft started immediately after the guidelines had been submitted for approval. Daily work was done in various formations. At the beginning all issues of general interest for the design of the draft were discussed in plenary sessions of the local and foreign experts. This applies for dividing 3 4
Gov. class: 034-02/06-02/01, fi le no. 5030109-06-1; more in detail: Annex 1. Gov. class 03-02/06-02/01; fi le no. 5030106-07-1; more in detail: Annex 2.
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the parts of the draft, important and new issues – like defi nition and details of the Administrative Act –, inclusion (or exclusion) of remedies, shape of public-privatepartnership a.s. o. At the end of this preparatory phase the law drafting team decided, that structure and content, in other words, the “philosophy” of the current Croatian Law on General Administrative Procedures (ZUP) should form the point of departure for the following process, rather than importing any administrative procedure law (e.g. the Austrian or German law) as a model for the new LGAP. After agreement on those basics, segments of the Draft have been assigned to smaller working teams, usually with equal representation of local and foreign expertise. For the work on the details of the Draft the following methodology was developed and applied: First step: pre-formulation of the text of an Article by one or two members of the team, usually in cooperation with the legal expert of the CSOA in order to include right from the beginning the view of an experienced administrative practitioner; Second step: review of the first draft by one or two other team members; Third step: double-check of the draft at a weekly “plenary” session of those team members present in Zagreb. First and second step were done in parallel on various parts (chapters, divisions) of the draft. The working language of the project was English, i.e. the first draft version of the legal text had to be formulated in English. But the use of this language turned out to impede the communication remarkably, not for general linguistic reasons but due to the differences between the English and the Continental European legal and administrative system. The law drafting team more and more realised that for most of the German/Austrian legal terms exactly corresponding Croatian words exist, providing the same or at least similar legal content, logic and dogmatic, whilst the English system does not know analogous legal institutions and therefore cannot offer adequate legal terms. Initially, very often apparently divergent perceptions of law and legal thinking between Croatian and foreign experts simply derived from the lack of a suitable English word. One had to fi nd a common understanding and solution. Fortunately all members of the team by and by learnt to understand key legal terms of the other then their mother language. Later on the team discussed single issues by throwing the Croatian, German and English ball. Very often both sides discovered, sometimes after hours of lively debates, that all team members had the same understanding and that – of course – the fi nal language is Croatian. In May 2007 Croatian members of the team started to transform the English draft text into Croatian, again in the way that one drafted the first Croatian version, followed by a review of another Croatian expert. The result of the review was fi nally discussed in mixed groups of experts, namely of those, who are trilingual in Croatian, German and English. Quite often the work on the fi nal Croatian version reopened the discussion on substance or “ratio” of a legal provision or a complete article and led to significant changes of the English draft. Of course in all phases of drafting recourse to the ZUP was made, mostly in a conservative manner, so that traditional legal perceptions, terms and wordings were kept,
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if possible. Although one cannot say that major parts of the ZUP have been integrated word by word in the new drafts, it is, however, true, that important elements of its thinking and logic survived. So the result is an amalgamate of Croatian and German/ Austrian law in the light of an emerging European Administrative law. The drafting process was a dynamic undertaking with amendments every day and (sometimes) discussions on the best terms lasting for more than one hour.
2. Comments and critics Changes were mostly the results of detailed written comments and critics and presentation and discussion with various institutions as part of the commitment to public participation. Here it has to be mentioned, that, of course, there was rarely an unanimous view on suggested solution or even articles within the drafting team, but drafting to a larger extent means compromising and those, whose suggestions did not prevail, like any others knew and know, that it is the Sabor, the parliament who has the fi nal say. The results of various meetings have been helpful for polishing or amending the draft, interalia the following: – Management and judges of the Administrative Court – Croatian Bar Association – Sabor Committee for Constitution, Rules of Procedure and Political System – Croatian National Council for Competitiveness – HITROREZ, an agency as mentioned before
3. Submission of the Draft, arguments The draft, as completed by the team of experts, was submitted to the Central State Office of Administration on 03 October 2007. Then the team devoted its work to the arguments of the draft.
B. Introduction I. A New LGAP is needed 1. Status quo of Legislation on General Administrative Procedure The Croatian public administration has been undergoing substantial reforms. There are structural, functional, personal and other measures that are to be implemented. The new system of civil servants’ legislation, administrative and fiscal decentralisation, new regulation of administrative procedures, administrative simplifications and one-stop shop, e-government, are just some of them. The main aim of these reforms is to raise the administrative capacity of public administration to such a level as to be able to effectively implement domestic legislation and also the acquis communautaire of the European Union. A general reform path follows reorientation to
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citizens, entrepreneurs and the society as a whole. Service to citizens and citizenorientation is the main goal of all current administrative reforms in Croatia. Taking this as its starting point this the fi rst question, which the law drafting team asked itself and had to answer to was: “Should one amend the current legislation, the ZUP, or write a new one?” General administrative procedure in the Republic of Croatia today is regulated by the Law on General Administrative Procedure5. This is, actually, the Law on General Administrative Procedure of former Yugoslavia6, that has been adopted by the Republic of Croatia, after it has declared its independence, which was regulated by the law about the adoption of the Law on General Administrative Procedure in the Republic of Croatia7. The said Law about the Adoption of the Law on General Administrative Procedure in the Republic of Croatia introduced some changes and amendments to the adopted Law. Some of its provisions were put out of force and were deleted. Other provisions were altered (for example, the provisions about the language and script in which administrative procedure is conducted, subject matter jurisdiction, confl ict of jurisdictions, solving of administrative issues submitted, cancellation or abolition of decision based on the right of supervision), several were complemented (for example, provisions that establish grounds for declaring solutions void). There have been numerous terminological changes throughout the text of the act, following the new terms used in the Constitution of the Republic of Croatia, and the same changes were made in numerous laws passed after the Republic of Croatia has become independent8. Yet, all these interventions into the adopted legal text have not changed its main characteristic, passed in a social system based on unity of power, single-party system etc. Thus, its most important procedural provisions remained unchanged in Croatia until today. Professor Borkovic´9 shares the same opinion; he says: “However, it should be emphasized that, in spite of all these changes, the basic conception of the Law on General Administrative Procedure from 1986 has still retained its essential characteristics. And the fact that this conception in all of its more important elements has its roots in 1956, (when former Yugoslavia passed the Law on General Administrative Procedure for the fi rst time) renders its acceptability, from the point of view of the needs of the government administration in Croatia today, at least rather questionable”. The above opinion has also been supported by the Ruling of the Constitutional Court of the Republic of Croatia no. US – 248/94 from 13th Nov. 1996 in the arguments. Moreover there are numerous laws in Croatia that regulate particular administrative fields or some parts of the fields (the so-called material laws) that, in addition to the provisions of material-legal nature, also comprise special procedural provisions. It can therefore be said that the limitations prescribed by the General Administrative Procedure Act are not realized, i.e. that particular questions of procedure for a certain administrative field are regulated by special law differently than 5
In Croatian: Zakon o opc´em upravnom postupku, abr. ZUP. Službeni list, no. 47/1986 – refi ned text. 7 OffGaz, 53/1997. 8 Boris Ljubanovic´, PhD. “Assessment of specific procedures affecting the Law on General Administrative Procedure”, Fels. 2006, p. 2). 9 A Croatian Scholar, D. Sc. Ivo Borkovic´. 6
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by the provisions of the General Administrative Procedure only when this is necessary for the proceedings in the respective administrative field. The analysis of special procedural regulations leads to the following conclusions: – the procedure prescribed by the General Administrative Procedure Act is sometimes abandoned even when this is not necessary – there is insufficient departing from the General Administrative Procedure Act when this would be necessary to allow faster and more efficient proceedings – some provisions of the law on General Administrative Procedure are simply copied or unnecessarily adjusted – some laws suggest the subsidiary use of the law on General Administrative Procedure and some make no such suggestions. A great number of special procedural rules with the above characteristics create legal insecurity, allow wilful (arbitrary) actions of state bodies and other legal persons with public authorities, and do not guarantee legal protection in the sphere of administrative legal relations.10
2. Positive Aspects and Deficiencies of the ZUP of 1986 as in Force It should be stressed that in the past ZUP was a good law. It had many positive aspects. Long-term usage (the first Yugoslav Law on General Administrative Procedure was in force since 1930), many procedural protections, the right to appeal, insistence on legality, protection of citizens and the public interest, material truth principle, insurance of process aid to the party, oral hearing. They are basic elements of rule-of-law and due process and need to be preserved in any forth-coming legislation. The ZUP covers 303 Articles and very detailed provisions in all areas of procedure. It couldnot be overlooked, that this is to certain extent an advantage for the citizen. It serves as protection for their rights, because everything is regulated or, does not leave space for arbitrariness in administrator’s decision. However, this is only one face of the coin. At the same time, just the pure size of the ZUP makes it a barrier for effective and efficient administration. The complexity and segmentation of legal regulation decreases the civil servants’ work efficiency and creates room for incorrect implementation of such regulations, due to either ignorance or corruption. During the tumultuous events of the 1990s, numerous civil servants were replaced. Their successors lacked poor knowledge of administrative procedure, necessary skills and were not stimulated to continue administrative education and training. Insufficient organisational and legal knowledge, combined with excessive influence of politics, has led to the careless formation of new institutions in local selfgovernment and state administration. Such circumstances have aggravated the implementation of the ZUP and fair procedure in general.11 The ZUP has a heavy institutionalized structure. This may even provoke administra10 An inventory of laws that contain special administrative procedural provisions which affect and/or further specify the law on General Procedure lists 65 laws (Ljubanovic´, not 8, pp. 23–26). 11 Ivan Kopric, Administrative Procedures on the Territory of Former Yugoslavia, 2006, p. 4.
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tors to break the law in order to reach a fair decision. The ZUP includes a lot of regulations, which have the character of bye-laws or even administrative guidelines, a codex for administrative practice, regulations for office. Many regulations are selfevident and thus superfluous. As a whole the ZUP follows a different view of what administration is and what it is for, which is imprinted in the political system, which passed away. The relation of administration and citizen is looked at in a power-executing perspective, not expressing the intention, that administration has to serve the citizens need. It could not be overlooked, that the ZUP in principal is 50 years old. It could not serve the demanding new situation of a modern state. It reflects the notion of a bureaucratic administration and not the administration of a country, which has to deliver large and complex public service. Not only new tasks are not taken in consideration. The ZUP could not deal with new instruments and concepts of administration, namely new public management, good governance, electronic government, administration by planning, contract, public-privatepartnerships, one-stop-shops a.s.o. The design of the ZUP-procedure is formalized and detailed. In contradiction to the principle of separation of powers in a democratic state it is more a “court-procedure”, not an administrative procedure to allow fast decisions. Although the order of norms of ZUP in general is logical and transparent, in some parts the sequence of articles is confusing and sometimes overlapping. Local and regional self-government is not properly linked with the General Administrative Procedure. The regulating laws contain poor regulation regarding LGAP-application. Furthermore the ZUP is too detailed for training administrators and guide their daily work. Sometimes they fail to fi nd the right legal answer to problems, sometimes they are subject to corruption, which is supported by unclear law. As a result bad education of administrators is a reason for so many special laws for administrative procedure. The current law shows some more weaknesses. The whole new social and political environment of Croatia asks for a thorough modernisation of the law. The changes of the ZUP did not keep pace with the fast development of society, constitutional order and administration. On occasion of the amendment of 1991 only some terminological and organisational changes took place. In the last 15 years, a variety of no less than 65 special administrative provisions have been introduced, which are inadequately coordinated with the ZUP. The field of administrative procedures has become increasingly chaotic, lowering the level of legal certainty and damaging the standards of rule of law. Also, many other changes have occurred which have not yet been taken into account by the law. The local self-government system has been introduced and substantial decentralisation has been conducted. Liberalisation and privatisation in the sector of services of general interest has been started (telecommunications, postal service, health system, education system a.s. o.). New regulatory and supervisory agencies have been introduced. The expectations of citizens and entrepreneurs have also changed substantially. They complain that administrative functioning is complicated, time-consuming, too formal, expensive and full of bureaucracy and corruption.
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3. European Standards Require New Legislation Apart from these domestic factors it is the accession to the European Union that sheds light on the LGAP-Modernisation process. New European standards, the evergrowing body of European Administrative Law, good European practice, comparatively wide-spread efforts towards administrative simplification, improvement and consolidation of new legistic standards of better regulation have to be reflected in Croatian legislation. A certain trend towards harmonisation has provided important guidelines for the New LGAP. This trend is visible in the activities of the Council of Europe, the EU and other international organisations and bodies, and in the interaction between different countries that are learning from each other. Today, the codification of administrative procedure is rather widespread. The Council Europe works in the direction by preparing international agreements and conventions, resolutions and recommendations. A European Administrative Space is being created based on the principles developed through the judgements of national courts and the European Court of Justice. Common administrative standards are being identified within the process of EU accession, European administrative convergence and Europeization of national public administrations are some of the topics under discussion. It is essential, that Croatia is moving towards European, or even global standards of administrative Standards, as being imprinted by the model of a human rights, democratic-rule of law-constitution, which is the core of the Croatian Constitution.
4. General and Abstract Legal Terms Instead of Detailed Regulation New legislative techniques prefer general and abstract norms rather than detailed legislation. The current ZUP was created in the tradition of legal positivism, i.e. pursuing the idea of strict adherence of enacted law. The positivistic doctrine of law, supported in particular in the beginning of the 20th century, leads to the tendency of creating laws that try to regulate in a casuistic way every concrete detail of a factual situation. One of the reasons of this view on law is to avoid latitude for the applicant of the law, which is seen as an opportunity that could be misused as gateway for ideological or any other arbitrary interpretation of the law. A result of the idea of legal positivism for the legislation is that the legislator, by trying to (over)regulate every single procedural aspect, creates very long laws. Nowadays, the large majority opinion criticises, that such laws contribute to the following major disadvantages: – Even the best legislator is not able to foresee every single concrete fact in detail whilst formulating the law. This has two likely consequences: the law contains gaps and parts of the law become sooner or later obsolete and non-operational. – Long and too detailed laws become complicated, and thus difficult to read, understand and learn. Incorrect application could be the result. – Casuistic and too detailed laws shape the mentality of the applicant of the law, in particular the applicant of administrative law, i.e. the civil servant. He/she is inclined to function in an automatic way, neither seeing themselves urged nor even
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allowed to consider the consequences of his/her action. Such laws do not improve the accountability of law applicants but are more likely a reason for them to think and act only in a very formalistic (bureaucratic) way. Despite the merits of certain aspects of the legal positivism in the past, the development of doctrine of legislation has been moving more and more to short laws operating mainly with general and abstract legal terms. This legislative approach brings the following advantages: – Laws are shorter, have a clearer structure, easier to comprehend and apply. – General and abstract legal terms cover a wider range of cases, i.e. also those cases the legislator was not able to anticipate. Such laws remain operational for a longer period of time, gaps in the law are less probable. – Modern laws using general and abstract terms expect the applicant not to stick with the words of the law, but to find the “ratio legis” by using teleological interpretation. – Modern procedural law relies on civil servants, who do not require prescription of every detail for conducting an administrative procedure, but are capable enough (or, if necessary, have to be enabled) to choose for individual cases appropriate technical solutions, of course on the basis of meaning and purpose of the law. – Admittedly, the demands on the applicant, when deciding on the basis of general and abstract legal terms, are high. They require a responsible civil servant. But they are also an absolutely necessary precondition for the development of a citizen-oriented civil service, in which every individual civil servant is aware of his/her importance and accountability.
5. Devolution of Decision Making Within the Hierarchy The law drafting team unanimously considers the absolutely hierarchical structure of decision-making processes to be one of the key problems of public administration in Croatia. Usually, in Croatia it is only the head of a public authority (minister/state secretary, president, director), who is authorised to take a decision and sign the document. This fact, which is hardly ever being questioned within Croatia’s public sector, contradicts all the fi rm insights of modern public management, according to which expertise and authority should rest with those who are closest to the user of an administrative service. The most important fatal consequences of this administrative tradition are as follows: – The head of a public authority is chronically overburdened. When dealing with simple every day cases he/she has hardly space for managerial tasks: strategic thinking, supervision and control, leadership, communication with the staff. – Nobody within a public authority can be familiar with every detail of a subject matter. Thus many decisions, taken in a strictly centralised and hierarchical process, do inevitably suffer from lack of competence. – Even if staff are involved in the internal decision making process, they are neither authorised to take the fi nal decision nor appear as the responsible person through their name and signature. This is de-motivating; waste of – very often qualified
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and well educated – personnel resources, and beside the quality of the laws (see above) another reason for the lack of accountability of civil servants. The draft of the New LGAP changes this radically by the provision of Art. 18 New LGAP12, which orders, that the public authority acts by its head or any other official person in the same authority authorized and that this official person shall conduct the procedure, decide on the case and sign the decision. This deep-rooted change will strengthen the self-confidence of administrators and be a strong motivation for commitment.
6. New Instruments for Reducing Bureaucratic Burden Administrative procedure reform must take notice of new techniques to reduce bureaucratic burdens by ICT, e-government, one-stop shops a.s. o. It must be imprinted by the new perspective of citizen-administration-relations. Every administrative body acts in the service of the people, which is involved in the procedure by various forms of participation. The reform should include careful and appropriate regulation of the instance supervision. Territorial and functional decentralisation has enabled local self-government units and legal entities with public competence to decide on an increasing number of administrative procedures. Since it touches the autonomous, self-government scope of activities, it is necessary to form instance supervision rather carefully in order to ensure the appropriate protection of citizens’ rights, as well as the local units’ right to self-government. De-concentration, decentralisation and outsourcing public tasks to public-private-partnership (Art. 84) are indispensable instruments of reducing bureaucratic burdens in modern administrative systems.
7. Decision to write a New LGAP In weighing the Pros and Cons the working group proposed and the Government of Croatia decided to draft a New LGAP. It should be truly a “General” Law. The ZUP is a subsidiary law. Art. 3 says that ZUP must be applied in all issues that have not been regulated by special law. This should no longer be the strategy of the Law. Art. 6 of the New LGAP reads as following: “Under significant and substantial grounds, some issues of the procedure regarding a particular administrative field may be stipulated otherwise by formal law, if not contrary to the principles of the present law”. Special procedures, in the above sense, may be legitimate in matters of taxation, customs, patents. In other substances the burden lies on the legislator to prove, that deviations from the New LGAP are unavoidable.
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In the following Articles without nearer indication are those of the New LGAP.
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8. Requirements of implementation of new procedures Along with the modernisation of the legal framework for the system of general administrative procedures, it is important to ensure other prerequisites for its successful implementation. Firstly, a permanent and professional monitoring of legal regulation and an assessment of its appropriateness must be provided since there is a constant change of social circumstances, technological possibilities and requirements of the relevant environment. Secondly it is equally important to monitor the implementation of the New LGAP to ensure prompt and adequate reaction to practical problems that constantly spring up everywhere. A third precondition for successful implementation of the law is skilful, educated qualified administrative personnel. The following measures should be taken to reach that goal: ensuring an adequate position of administrative process law within the system of legal and administrative education and conducting permanent professional training of administrative personnel. Finally, there must be sound quality control of New LGAP implementation in practice via appeals, special legal remedies, inspectors, ombudsmen and other bodies. Lack of monitoring decreases the civil servants’ work efficiency and creates room for incorrect application of the law, due to either ignorance or corruption. One could combat these dangers by drafting a clear and transparent law and training officials how to apply it in a methodologically correct manner.
II. Basic Principles for the New LGAP 1. Constitutional and Legal Frame of a New LGAP The New LGAP is a contribution to improving administrative capacity in Croatia. It should realise the balance between the requirements of an objective and fast decision making process of public administration on the one hand and protection of rights and legitimate interests of individuals participating in this procedure on the other. The new law shall be in compliance with – the constitutional order of the Republic of Croatia and other principles and values deriving from Croatia’s legal tradition; – the European Charta of Human Rights and international obligations of Croatia; – the legal order of the acquis communautaire of the European Community; – the quality standards of modern public administration; – the positive experiences of Croatian and continental European administrative culture and practice; – the standards of good legislation. The legal basis of the new law shall be determined in particular by the following key elements: Human Rights, democracy, rule of law.
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2. Human Rights For administrative procedure it is in particular the principle of human dignity and the body of individual freedoms and rights, which are relevant. Human dignity and freedom provisions are the background for the new understanding that it is the citizen who is in the centre of all administrative action. Administration is called upon to equip him/her with basic services and protect his/her rights. The principle of general equality is both a Human Right and a democracy-element. Protection of Human Rights includes data protection and secrecy (Art. 13). Modern administration is oriented to protect the body of Human Rights by organisation and procedure, be it by transparent and accessible organisation or procedural instruments like participation, fair hearing, remedies etc.
3. Democracy The principle of democracy comprises – in the context of public administration – three major aspects: – Every administrative authority, be it at state, regional or local level, derives its power from the people’s will as it is laid down in law adopted by the Sabor and other democratically elected representative bodies. – The role of public administrative bodies towards citizens, entrepreneurs and wide society is imprinted by democratic elements. Democratic society calls for public administration which should be, on the one hand, perceived as the custodian of public interest and, on the other, as service-oriented activities directed towards citizens and society. – The practical side and the most direct form of making democratic principles operational is participation of the citizens and their organisations in public affairs. Open, fully transparent and objective administrative procedures are one of the most important prerequisites for such participation. Participation may take different forms, ranging from observation of public administrative actions – which is a form of control – via cooperation with administrative bodies through participation in the decision making process. The New LGAP provides all forms and conditions of such participation. It guarantees complete and effective protection of participatory rights of individuals in administrative proceedings. NGOs may be admitted to participate in proceedings, when a legitimate public interest calls for such participation.
4. Rule of Law Rule of Law is a constituent principle of the Croatian constitution. Since it is basic for a modern constitutional state, it is reflected in various facets of organisation and procedure, not only of government and administration, but also of the legislative power as well as of the judiciary. The principle of separation of power – to start with this element of rule of law – constitutes public administration as a state power of
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equal rank beside the legislative branch and judiciary. According to this principle public administration has its own, exclusive authority, which includes both administrative decisions and their enforcement. According to the Croatian constitution the political responsibility of administration is fulfi lled by government and executive powers on local and regional level. Law restricts political interference in administrative procedures. Rule of law, as applied to administration, is effective in three functions: the legality principle, due process/fair procedure, and proportionality. The relation between legislative and executive branch of government and the judiciary under democracy- and rule of law-principles is imprinted by the following elements: – bound by the constitution, which is the supreme law of the land, formal laws and secondary legislation takes precedence over any activity of the executive power (Art. 5 of the Constitution); – the principle, that decisions of administrative authorities and other bodies vested with public authority shall be based on law (Art. 19 of the Constitution); – the principle of legality: every administrative action must be in conformity with the law (Art. 4 New LGAP); – trust of citizens in administrative authorities; – the principle of legal certainty to guarantee that a citizen can foresee possible state action affecting him; – clearly defi ned responsibilities of administrative authorities; transparent organisation and fi xed and objective administrative procedure; – legal remedies and recourse to the court to ensure legal control of administration and protection of individual rights. Some elements of rule of law as mentioned are part of the Due Process of Law/Fair Procedure-Principle, which is based in Human Rights, namely Art. 6 of the European Charta of Human Rights, and Rule of Law, and it applies to all branches of government, namely to administration and the judiciary. In view of administrative procedure it covers: – protection of dignity, personality and freedom, including data protection: – guarantee not to be subject to retroactive law; – fair hearing in all stages of procedure (Art. 29 of the Constitution); – legal aid, if needed and wanted; – participation in all forms of procedure, be it written, oral or electronic; – right to understand proceedings; – right to listen to other participants in their presence, like officials, witnesses and experts; – right to receive and present all available information on the case; – exclusion of public officials from the procedure who are suspect of own interests and prejudice; – right to participate in procedure, if one’s interest is at stake; – right to get a decision in reasonable term; – right to legal remedies; – right to damages, state liability. All in all Due Process and Fairness-Principle establishes a system of “balance of weapons” between the administration and the citizen.
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Finally the principle of proportionality is applicable not only for administration, but for any state action, with special importance, however, for administrative procedure. It is vested in Human Rights – government must interfere into rights and freedoms not more than necessary to fulfi l its tasks – and congruently in Rule of Law. Any administrative action requires the compliance with proportionality principle, that means, administrative action may restrict an individual right only, if the measure is suitable to attain the purpose prescribed by law: strictly necessary to obtain the purpose and adequate, i.e. the intervention does not imply a disadvantage that is out of proportion to the designed end (Art. 4, par.2).
III. Methodological Aspects of the New LGAP 1. Legistic The legislative procedure for the New LGAP applies in all phases, as much as possible, modern normative techniques. In the following each Article is accompanied by a short explanation of the reasons for passing the new law. Necessary elements of the Regulatory Impact Assessment (RIA) need to be provided by the Central State Office for Public Administration. The new LGAP has to meet European standards of regulation in terms of both content and technique of legislation.” Croatian administration will shortly be part of a European administrative space, and in member states institutions and procedures of administration are becoming more and more convergent. This requires in every member state comparative studies in drafting new laws and amending old ones. Moreover, actions of national administrative bodies are subject to review by the European Court of Justice and the European Court for Human Rights. The exchange of persons in learning, teaching, training and doing administrative work add to the harmonization of administrative law, administrative procedure and administrative court law.
2. Language Structure, Definitions According to European Standards the articles of the New LGAP are as short as possible. The language is concise, brief and easy to understand. The New LGAP sets priority on clear and transparent regulation and terminology. This applies in particular to competences and responsibilities (Art. 7–11). The systematic order has to be tightened. The articles have short and precise titles. They facilitate the implementation of the law, contribute to its intelligibility for citizens and raise the level of legal certainty. To strengthen clarity of the law the New LGAP uses some legal definitions (Art. 2-procedure, Art. 23-party, Art. 48-documents, Art. 49-witness, Art. 63-administrative act).
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3. Cross-referencing The New LGAP uses the legistic methods of cross-referencing, in order to shorten the text, avoid redundant or even superfluous provisions and ensure uniformity of the law and the legal system of Croatia. Only if and as far as different requirements of administrative procedure call for special and different solutions, specific rules should be included in the new law. The draft of a New LGAP followed this line.
C. Key Elements for Structure and Content of the New LGAP I. Functions of Administrative Procedure 1. Goals of the Law – Effective Implementation of Public Tasks (Art. 1) The new law13 shall ensure – protection of effective realisation of civil rights and public interest; – effectiveness and efficiency of public administration; – cost-effectiveness of administration; – proportionality and transparency of administrative procedure; – independence of ruling. The implementation of this law shall contribute to delivery of professional, citizen-oriented administrative services. Administrative procedure basically has four functions: – It provides an order of sequences of the decision making process, coordinates the steps and allows for participation of the citizen. – It is an important tool for preserving procedural justice and protecting reliability of administrative law; it adds to the acceptance of administrative decisions. – It is an essential step towards unification of administrative procedures in various fields of administration (Art. 3). – It shall enable administrative bodies to proceed and decide in an uncomplicated, appropriate and timely fashion (Art. 2). The old ZUP was a subsidiary law, i.e. it was applied in those administrative procedures and issues that were not regulated by special law. The New LGAP turns the regula-exception-principle around. The law shall be applied in every administrative matter (Art. 3 para. 1). Of course the New LGAP cannot bind parliament to enact special procedures or elements thereof for special administrative matters. But the new law explicitly is a starting point for a dynamic process of unifying administrative procedures. The law understands “administrative matters” in a broad sense. They are concerned, when state bodies in their competence, bodies of local and regional self-government units in their self-government scope of affairs and in state administrative 13 The text of the Draft LGAP, which has been submitted to the Government and discussed and changed during parliamentary negotiations, is printed out in annex 4. Articles, as mentioned in the following text, refer to this annex.
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affairs transferred to them, and legal entities when granted with public competences (public authorities), directly implementing laws, other regulations, bylaws or general acts, decide on rights, obligations, and legal interest of citizens, legal entities and other parties of the procedure, and in every other case when law calls for an administrative act. Administrative matters are also concerned, when a public authority concludes an administrative contract or executes its tasks under administrative law by other administrative actions that are related to citizen’s rights, duties and legal interests, such as delivery of information, warning, reporting, publishing expert opinions, or dealing with complaints or petitions of citizens. As far as appropriate, provisions of the New LGAP should be applied when public service providers, be they public or private organisations, decide on rights and obligations of service users.
2. Advantages of a Unified LGAP Legal transparency and certainty as well as the standards of good legislation require a coherent, unified system of administrative procedure. Instead, the current law lists no less than 65 laws comprising special administrative procedural provisions that affect and/or further specify the ZUP provisions. Such a situation confuses not only every citizen, but also legally trained personnel like judges and lawyers and, last but not least, the civil servants who have to apply the law. Complexity and segmentation of procedural law leaves room for incorrect implementation, due to either ignorance or other reasons. In contrast to that, uniformity of administrative functioning on the basis of one LGAP makes administrative activities predictable, raises the level of legal certainty in the whole system and reinforces the rule of law. Such uniformity reduces administrative costs, reduces space for decisions not oriented towards public welfare, speeds up administrative functioning and all in all raises effectiveness and efficiency of public welfare. The New LGAP is neither a students’ textbook nor a treatise, but it is certainly more convenient for both citizens and civil servants with sometimes limited knowledge to have all procedural rules in the same law. In provisional and fi nal regulations of the law the government of Croatia shall be obliged to reconsider, within a year’s time, the new special administrative procedures and suggest necessary changes of certain laws to parliament. Those, who propose new and special procedures, shall bear the burden of explaining why special legislation is needed and to coordinate, as far as possible, special procedure with legal institutes of the New LGAP. The technique of cross-referencing is available and helpful. Special procedures may be appropriate to special areas (e.g. taxation, customs, patent matters a.s. o.) (Art. 6). But they must be special only as far as possible. Even if special administrative procedures cannot be avoided, the degree of such deviation from general procedure must be minimized.
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3. Efficient, Simple, Speedy Procedure The New LGAP shall simplify administrative procedure as much as possible, but of course obeying the requirements of protection of citizens’ rights and the public interest. There are four forms of procedure: the non-formal (general) one (Art. 32 et seq.) and formal procedures as the publicly announced (Art. 56 et seq.), the planning and the objection procedures (Art. 87 et seq.). Planning is dealt with in special legislation. The other forms of procedure are dealt with in New LGAP according to the regula-exception-principle. In general, the procedure is not formal; it shall be as efficient and speedy as possible (Art. 2 para. 2); only in cases as prescribed by law rules of formal procedure are applicable. It adds to the effectiveness and efficiency of administrative procedure, that administrative bodies enjoy great flexibility in choosing forms of administrative action. The administrative act (Art. 63 et seq.) still is the classical form of action. Art. 76–82), however, offer a modern tool of fulfi lling tasks on the basis of agreements rather than unilateral orders. The same is true for new forms of action like assurance (Art. 64), public private partnerships a.s. o. (Art. 84 et seq.). It is an essential requirement for a reliable administration under rule of law, that jurisdictions are clearly circumscribed. This is accomplished by provisions of Art. 7 et seq. “Administrative assistance” (Art. 14–17) ensures non-bureaucratic cooperation and mutual help and support of public authorities.
II. The Role of the Citizens in Administrative Procedure 1. Public Services – Citizens’ Access and Legal Protection The provision of vital services to citizens (services of general interest, including services of general economic interest), e.g. education, health care, social welfare, water and electricity supply, telecommunication etc., should be guaranteed irrespective of the legal form of utilization, be it based on public or private law. Privatization of the delivery of public services should not diminish protection of citizens’ rights towards the service provider. This is particularly true if services are provided in forms of public-private-partnership (Art. 84)14. However, it needs to be considered from case to case, whether and how far the New LGAP should be applied when public service providers, be they public or private organisations (institutions, companies and other legal entities with public competences in education, science, health and social care, culture etc.) decide on rights and obligations of service users. In such cases it should be taken into account that the administrative act- regulation of the New LGAP proves to be much too complicated. A kind of abridgement and simplification of the procedure should be considered for the described case. Administrative contract, design of public-private-partnerships 14 EU Directive 2006/123/EC of the European Parliament and of the Council of 12 December 2006 on services in the internal market shall be taken into account.
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and other forms of administrative action are the tools to adapt procedure to the needs of the case.
2. Efficient and Effective procedures as preconditions for economic development Currently the administrative procedure often seems to be a barrier for investments, be it domestic or foreign. It needs no underpinning that support of speedy and efficient procedure to encourage investments is essential for the economic development of the country. The New LGAP is flexible enough to adapt sub-legal regulations, licences, and contracts to the needs of investors. The need for investments is no oneway-road for overriding provisions of New LGAP, but a challenge to set the streetlights on green as often as possible.
3. Due Process-Fair Procedure-Advice The elements of due process are the most effective tools in the hands of citizens to protect their rights and get access to services. As vested in the Human Rights, due process guarantees defending as well as participatory rights versus administration. A new instrument in the light of due process is the right of advice and information. Since not every citizen is familiar with administrative (procedure) law, the public authority shall enlighten the party of its rights and obligations in the procedure and indicate the legal consequences of activities or omissions (Art. 19). It shall cause statements or applications to be made or corrected when it is clear that these were not submitted, or were incorrectly submitted, due to error or ignorance only.
4. Legal Remedies and Administrative Disputes The New LGAP provides, as part of the administrative procedure, a comprehensive system of legal remedies against administrative actions affecting citizens’ individual rights. It clarifies (Part IV of the New LGAP): – form and deadline for an objection against an administrative act; – authority, with which objections are to be lodged; – administrative body responsible to decide on an objection; – decisions on the objection against an administrative act shall not be taken by the same administrative body that issued the initial administrative act. The systems for decisions on appeals at all levels (state, local, regional) has been reconsidered; – costs for procedures for legal remedies. An unsuccessful objection against an administrative act is a precondition for access to the administrative court, except when a highest body within its scope of responsibility has decided on the administrative matter. The illegality of “other administrative actions” has its consequences. The administration shall be under the obligation to set aside or remove the facts created by an illegal administrative action and
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restore the status quo ante as far as possible and reasonable. Although it is obvious that legal remedies are the strongest instruments in the hands of the citizen to defend his rights versus an administrative body, which exceeds its legal frame, it has to be stressed that remedies, namely objections, are vital for internal monitoring quality standards of administration. The public authority, which decided on the case, and the supervisory body of the next instance, face possible legal errors and give them the chance to correct it.
III. Special Administrative Decisions 1. Discretion The empowerment of administrative authorities to take discretionary decisions is a relativization of the principle of legal certainty, however, the empowerment of discretion is necessary in cases, when the conditions and circumstances of the field of application of a legal provision cannot be foreseen in detail by the legislator. In a modern public administration discretion is the means to respond flexibly to new developments of the reality (Art. 5). Where an administrative authority is empowered to act at its discretion, it shall do so in line with the purpose of such empowerment and shall respect the legal limits to such discretionary powers; a written statement of grounds must accompany the discretionary decision. When giving reasons for such an act, among others, an administrative authority shall indicate the discretionary powers source regulation and list the reasons for reaching such a decision. Abuse of discretion and exceeding of its legal limits are clearly defi ned by the new law.
2. Reversal of an Administrative Act (Art. 73, 74) Non-appealable administrative acts may be reversed, i.e. either annulled with retrospective effect or repealed with effect for the future, only under extraordinary legal conditions. Interference for political reasons is inadmissible. An unlawful disadvantageous administrative act (as imposing a burden), even if it has become non-appealable, may be reversed in whole or part either retrospectively or with effect for the future. An unlawful beneficial administrative act (as bestowing a benefit) may not be reversed as far as the beneficiary has relied upon the continued existence of the administrative act and his reliance is, in regard to the public interest in a reversal, deserving protection. A lawful disadvantageous administrative act may, even after it has become non-appealable, be reversed in whole or part for the future, except when the public authority is legally bound to issue an administrative act of such content or when the reversal is excluded by special legal provisions. A lawful beneficial administrative act may be revoked in whole or part only under extraordinary conditions, such as when the annulment is permitted by law or the
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right of annulment is reserved in the administrative act itself, or in order to prevent serious harm to the common good. This detailed regulation is to find a fair balance between public interest and citizens’ position versus the administration, namely his/her trust in stability of a decision.
3. Delivery and Enforcement (Parts V and VI of the New LGAP) Regulations on notification are vital for fast and effective administrative procedure. The New LGAP as a rule provides less formalized procedural measures, since most of the cases in Practice it is sufficient for citizens to take notice of administrative action. In the future formalized delivery should remain exemption. Speedy communication takes precedence over establishing evidence of notification for the procedure. As far as the provisions on costs are concerned, they are clearly guided by the principle, that nobody due to lack of funds should be prevented from seeking his right by approaching the administration for application or complaint and making use of remedies.
IV. New Organisation and Technical Measures 1. One-stop Shop (Art. 22) “One-stop shop” means that all approvals for a project, which requires the involvement and consent of various administrative bodies of various units with an administrative body (e.g. erecting a building, starting a business, application of subsidies) should be concentrated in one administrative procedure and covered by one comprehensive administrative decision. The one-stop shop gives advantage to the citizen, to save time and money by communicating with one administrative counterpart only, rather than being compelled to fi nd the way through the jungle of administrative competences. The establishment of a one-stop shop system requires diverse changes within public administration, in particular the reform of administrative competences. The procedural aspects of the one-stop approach are incorporated in the New LGAP.
2. E-Government (Art. 38) The new law shall implement e-government as the most advanced technique of public administration. It shall cover – e-assistance (e.g. information of general public, public relation activities, etc.); – e-administration, a very important form of communication between the administrative authority and a participant of an administrative procedure.
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E-government in combination with the on-stop shop approach is becoming state of the art for the organisation of an efficient and timesaving organisation of the communication process between public administration and citizens. The new law shall provide the legal framework for an integrated “portal” that facilitates the access to all information of public administration. Precondition of online one-stop-shop-government is, in its fi nal stage, a network of all public administration units. Customers (citizens, companies) shall get access to performance of public administration by one virtual point. E-government shall be an additional service of public administration. The New LGAP guarantees that this technical option of easy communication will not lead to disadvantages of those citizens, who have no access to online systems or are not familiar with information technology.
V. Structure of the New LGAP The New LGAP is divided into eight parts. Part I deals with general provisions. It is basic and reflects in a nutshell the key elements of the new law, as they have been unfolded below under C., Part I in Part 2 of this “Introduction and Arguments of the Draft Legal Text”. This is particularly true for Art. 1, which underlines that the law has to enable effective realization of public tasks in the service of the people and the protection of civil rights. The New LGAP is more citizen-oriented rather then emphasising a relationship between public administration and citizen that is based on subordination and hierarchy. In a modern democratic state, where the rule of law is maintained, the role of a citizen may be compared with the position of a customer rather than a subject of public power. Art. 2 gives a comprehensive description of administrative procedure and describes the yardstick of the whole law: non-formal procedural steps take precedence before formal ones, in order to facilitate speedy, timely and efficient administration. Since an administrative body has many more options in view of forms of action than in former laws, Art. 3 defi nes a wide scope of the New LGAP, to regulate on all actions, but in different ways, as appropriate to the chosen action. The principle of legality (Art. 4) is a key element of rule of law. It is new to the law, that the administrative officials shall decide on cases in greater independence than before and use their discretion to fi nd, in all flexibility, the best answer to every case. It is important that discretion is limited by clear and precise boundaries, which are subject to court decisions, so that no citizen shall be subject to arbitrary decisions of any official. In turning around former regula-exception-principles the New LGAP wants to be applicable tentatively to all administrative procedure, with few exceptions, if urgently needed by the field of administration. It is hoped that the number of exceptions shall be small (Art. 6). Art. 7–9 deal with limitations of jurisdiction. It is vital for the rule-of-law-state that the citizen knows exactly from the law, which official body shall deal with his/ her case. This prevents arbitrary jurisdiction and uncertainty of the citizen. Art. 10 takes care of a solution of concurrent jurisdictions.
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Partiality spoils the trust of the citizens to an objective decision and must be prevented under due process-principles (Art. 12). Privacy (Art. 13) is a facet of human dignity and freedom of rights. Although administrative bodies are many and diverse, have their special fields of action and have to obey clear boundaries, the administration of a state, including local and regional self-government entities, is one unit. To strengthen efficiency and speed of administrative decisions, a public authority may request administrative assistance from another authority. Art. 14–17 are a new instrument. They don’t affect the citizen. Moreover, they stipulate that in order to decide fast on cases, public authorities form a network behind the scenes. This includes distribution of costs between the authorities. Part II, dealing with principles of administrative procedure, is the largest part of the New LGAP. It covers five chapters. Chapter I lists public authorities, Chapter II the parties and their representation. Chapter III, as divided in divisions, deals with the steps of procedure, namely the opening by the public authority, the right of the party to hearing, the elements of investigation and of collecting evidence. These provisions imprint the non-formal procedure, which is the average procedure and characterizing the following parts. Chapter IV, just one article, regulates the publicly announced procedure as a formal procedure. Chapter V has to do with deadlines. It is new and characteristic for the New LGAP, that the public authority acts by its head or any other official person authorized in the same authority. It is no longer the case that officials prepare the decisions and the head signs it. Every official in his responsibility and capacity prepares, conducts the procedure, decides and signs (Art. 18). This provision shall reduce the burden of heads and strengthen skills, self-confidence and motivation of administrators. It adds to trust of citizens in the administrations that the person he/she is communicating with takes the respective decision and bears the responsibility. The position of the citizen is strengthened by the duty of any public authority to inform him of his rights and obligations (Art. 19). The administration has no longer advantage of knowledge or secret information. Official bodies and parties communicate on eye-to-eye level. Art. 20 to 22 are provisions directed towards effective and speedy decisions. Burden sharing within the administration, distribution of responsibilities for parts of a decision shall be brought together by cooperation and end up in a joint decision. A new instrument, which by EU regulation is introduced and used in all member states, is the one-stop shop. The citizen in front of the desk has one partner in the administration to launch applications or complaints, to discuss matters, to submit documents a.s.o. and he/she obtains a decision of that partner. Everything else is done behind the desk, backstage. As far as parties are concerned, according to Art. 23 para. 2, besides the traditional parties, “groups of persons” may be parties. This applies to ecologists, NGOs of various types, a.s.o., which have a special interest in segments of society and may introduce them into administrative procedure. A cornerstone of participation of the party is the extensive right to hearing of the parties (Art. 41). The authority must not only hear, but take into account and give the reasons, why it did not accept the content of hearing, if it decides not to do so.
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The investigation shall be ex offi cio (Division 3, Art. 42). This adds to security and reliability of the law and to public trust in administration. The authority determines the type and scope of investigation. According to Art. 43 the party participates widely in the investigation. In contrast to former regulations, the party must not submit certificates or documents, if the relevant fact is stored in administrative fi les. If any official knows of the fact, the state knows it. An essential element of security and reliability of the law is the precise regulation of deadlines (Chapter V). The publicly announced procedure (Chapter IV) may be initiated by the public authority, if more than 50 parties are likely to be involved, the identity of a party is unknown, if it is in the interest of an efficient procedure or regulated by special law. The advantage of this procedure, namely in case of mass-participation, is the concentration effect. Part III, dealing with administrative actions, introduces a few new institutes to Croatian administration. The main advantage is, that other forms of administrative action rather than the well-known administrative act, allow for more flexibility of administrators. Furthermore, including modern types of administrative actions in the New LGAP, like the administrative contract (Chapter II) or other forms of action (Chapter III), opens the door to legal protection against these types of administrative actions, which has not been the case under the current law. Although some of these types of action have been in use and are still, they have been judged as being – so to speak – in the space outside the law. This is no longer acceptable, since every administrative action is regulated by law under the principle of legality. The regulation of Art. 66 deals with the fictitious administrative act after expiry of a deadline. If the public authority fails to meet its own deadline, the act shall be deemed to have been issued15. The administrative contract (Chapter II) is a new institute, which allows for transparent cooperation between public authorities and citizens. It realizes participation in its most extensive sense. Public-private-partnership (Art. 84) is a new instrument under EU law. It allows for reducing bureaucratic burdens, introducing private creativity and parts of the market-economy into public administration and adaptation of structure and forms of action to the special needs of delivery of public service. It does not lead to less protection of public service users (Art. 84 para. 2). Part IV deals with legal remedies. The rule-of-law-state, as a key element, guarantees access to independent courts, be it in the civil law, be it in the public law sphere. Thus, Part IV is an instrument, which does complete one of the main constitutional principles. Administrative objections (Chapter I) and complaints (Chapter IlI) entitle the citizen to fi nd his right on the one hand and are an essential element of monitoring the quality of administrative action on the other. Objection and complaint share provisions of the administrative procedure and of the administrative courts. They are part of administration and judiciary. Administrative disputes are admissible only if objection – or complaint – procedure has been fi nished (Art. 88 para. 1, 107 para. 3).
15 This provision follows Art. 13, para. 3 and 4 of the EU Directive 2006/123/EC of the European Parliament and of the Council of 12 December 2006 on services in the internal market.
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Objection and complaint are negotiated by fi rst and second instance of administration. This enables namely the fi rst instance public authority, which took the decision in the respective case, to review the decision and to correct or amend it. Experience in European countries shows that more than 80% of cases being subject to these remedies, are solved to party’s satisfaction. These remedies are a strong measure of defence against corruption. They provide full transparency of case, decision and arguments. Details of disputes before the courts are to be regulated in an Administrative Court Act. The New LGAP regulates, however, the order of prolonged suspensory effect by the court (Art. 92). Part V deals with notification and delivery. This part has undergone deep-rooted changes compared to current law. It is characterized by the fact that non-formal notification takes precedence over formal delivery. The latter takes place only, if it is stipulated by law (Art. 116). The reason for this is, that the New LGAP stresses the need for quick communication and speedy progress of procedure and gives second priority to the goal of security evidence. According to New LGAP notification, be it written, oral, via SMS or phone/fax, as well as in electronic form (Art. 124) is sufficient. This regulation for notification is short, whereas provisions for delivery regulate on it in detail, as it is the tradition of administrative procedure law. Part VI deals with costs. The New LGAP starts from the notion that the public authority shall bear the costs of the fi rst instance administrative procedure. Administrative action is fi nanced from taxes, not by charges (Art. 125 para. 1). The party shall bear only its own expenses caused by the procedure (Art. 125 para. 2). Witnesses, experts, translators a.s. o. shall receive compensation by the public authority (Art. 126). As far as costs of remedies are concerned, the New LGAP finds a balance between state and individual interest. As far as the remedy is successful, the public authority bears the cost. As far as it is unsuccessful, the party shall reimburse the necessary costs caused by the remedy procedure (Art. 127). If a party cannot bear the costs, it may be exempted (Art. 128). Searching one’s right must not be dependent on one’s purse. Part VII regulates execution. Execution is the end of an administrative procedure. Execution underlines the reliability of state action. If a decision has been taken and after possible remedies, the decision has to be executed. This is essential for the rule of law. The citizen must trust in that the state enacts what has been decided. Execution is the core of the state monopoly to execute power. The state is as solid, stable and reliable as he executes decisions which have been taken on the basis of the law. The provisions of Part G of the New LGAP legislate on details of execution in view of the goal to allow for a fast, effective and efficient end of the administrative procedure. Part VIII contains the conclusion and transitional provisions. The concluding provisions cover the obligation to revise existing laws and adapt them to the New LGAP. Taking into account that the law covers uniform provisions for administrative procedures, which are currently regulated in various special laws, it is the intention of the law, within the foreseeable future and obeying some transitional provisions for some fields of administration, to include as many special procedures as possible in the New LGAP.
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Annex 1 “Principles of the Reform of General Administrative Procedures in Croatia” The Government of the Republic of Croatia, within the framework of the reform of the state administration and according to its strategic orientations, considers that also modernization of General Administration Procedures is needed in order to achieve following purposes: – further strengthen the common living conditions for all citizens of Croatia; – create a service-oriented administrative practice; – guarantee a professional public administration as essential condition for economic development; – use the advantages of modern information-communication technologies for the delivery of quality administrative services (e-administration, e-government respectively); – improve the confidence of the citizens in public administration; – support the ongoing process of consolidation of the Civil Service that would enable the effective and ethical acting of civil servants in public interest; – harmonise the Croatian public administration with EU standards,
Guidelines for the reform The reform of the system of general administrative procedures shall respect – traditional values of Croatian public administration, as stated in the Croatian constitution, and basic constitutional rights, in particular the rule of law, respect for basic human rights, legality, equality, right to appeal against single legal acts, right to judicial control of legality of single acts of administrative authorities and bodies with public powers, and right to local and regional selfgovernment, and the basic elements of the existing Croatian Law on General Administrative Procedures; – the Copenhagen Criteria of the European Council which include the guarantees of Democracy, the Rule of Law, Human Rights and the respect for and protection of minorities; – the principles of the European Court of Justice regarding administrative procedures, such as principle of efficiency, interdiction of discrimination, legal protection by independent courts, proportionality, legal protection of trust, fair hearing and justified administrative decision; – needs and demands of Croatian society towards public administration; – the jurisdiction of the Constitutional Court and the Administrative Court of the Republic of Croatia; – the best practice of public administration in EU member states with continental legal tradition, such as the principle of ex officio proceedings, free evaluation of evidence, and obligation of the authorities to decide within proper time limit;
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– modern values of public administation, especially quality of administrative services, acessibility, citizen-orientation and assistance, efficiency and reliability, – methods of modern management, as far as applicable to Croatian public administration;
Participation of civil society The process of new legislating on general administrative procedure is based on – modern professional methodology of law drafting; – a broad communication and discussion process with the relevant areas of Croatian society, including executive, courts, bar association, business sector, labour unions, media and other interested parties; – thorough and transparent consideration of all suggestions from the civil society for the content of the draft; – Regulatory Impact Assessment of the Governmental Draft by large segments of society; – public hearings in the course of parliamentarian debate regarding adoption of laws; – involvement of the executive, the courts, lawyers, business and public opinion in monitoring the law after enactment.
Time frame The draft Law on General Administrative Procedures will be prepared until July 2007. The Government of the Republic of Croatia will make efforts to end the procedure of enacting the new Law until the end of 2007.
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Annex 2 “Guidelines for the Legislation on General Administrative Procedures in Croatia” On the basis of the “Principles of the Reform of General Administrative Procedures in Croatia” / “Polazišta i nacˇela za modernizaciju opc´eg upravnog postupka u Hrvatskoj” adopted by the Government of the Republic of Croatia on 01 September 2006 the Law Drafting Working Group of the Central State Office for Administration together with the Project Team of Croatian and EU experts propose the following “Guidelines for the Legislation on General Administrative Procedures in Croatia”.
I. Status quo of legislation on General Administrative Procedures The Croatian public administration is undergoing substantial reforms during the European Union accession process. There are structural, functional, personnel, and other measures that are to be implemented in co-operation with the Union. The new system of civil servants’ legislation, administrative and fiscal decentralisation, new regulation of administrative procedures, administrative simplification and one-stopshop, e-government, are just some of them. The main aim of those reforms is to raise the administrative capacity of public administration to such a level as to be able to effectively implement acquis communautaire and domestic legislation. A general reform path follows re-orientation to citizens, entrepreneurs and the society as a whole. Service to citizens and citizen-orientation is the main flush of all the current administrative reforms in Croatia. Croatia took over the reviewed text of the federal Yugoslav Law on General Administrative Procedures of 1986, as early as in 1991. On that occasion, only some terminological and organisational changes took place while the altered social, political, legal and technical circumstances were not considered. In the past 15 years, a variety of no less than 65 special administrative procedures have been introduced, which are inadequately co-ordinated with the standards of the Law on General Administrative Procedures. The field of administrative procedures has become increasingly chaotic, lowering the level of legal certainty and damaging the standards of the rule of law. Also, many other changes have occurred that ask for modernisation of the system of General Administrative Procedures. The local self-government system has been introduced and substantial decentralisation has been conducted. Liberalisation and privatisation in the sector of services of general interest has been started (telecommunications, postal service, health system, education system, etc.). New regulatory and supervisory agencies have been introduced. The expectations of citizens and entrepreneurs have also changed substantially. They complain that administrative functioning is complicated, time-consuming, too formal, expensive, and full of bureaucracy and corruption. It should be stressed that the current Law on General Administrative Procedures was a good and well-structured law in the past. It had many positive aspects. Long-
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term usage (the fi rst old-Yugoslav Law on General Administrative Procedures was in force since 1930), many procedural protections, the right to appeal, insistence on legality, protection of citizens and of public interest, material truth principle, insurance of process aid to the procedural party, oral hearing, and wide possibilities of proving facts, are only some of such, very good and well-regulated components of the current Law. However, it also shows some weaknesses. The whole new social environment asks for its modernisation. Apart from above mentioned changes in circumstances, new European standards, good European practice, comparatively wide-spread efforts towards administrative simplification, improvements and consolidation of new standards of techniques of legislation in the European Union, and last but not least significant ICT development ask for substantial revision of the current Law on General Administrative Procedures.
II. Basic principles for the new Law on General Administrative Procedures The new Law on General Administrative Procedures is a contribution to improving administrative capacity in Croatia. It should realise the balance between the requirements of an objective and fast decision making process of public administration on the one hand and protection of rights and legitimate interests of individuals participating in this procedure on the other. The new Law shall be in compliance with: – The constitutional order of the Republic of Croatia and other principles and values deriving from Croatia’s legal tradition; – The European Charta of Human Rights and international obligations of the Republic of Croatia; – The legal order of the acquis communautaire of the European Community; – The quality standards of modern public administration; – The positive experiences of Croatian and Continental European administrative culture and practice; – The standards of good legislation. The legal basis of the new Law shall be determined in particular by the following key elements: – The Human Rights, as specified through the principle of human dignity, individual freedoms and rights including data protection, and the principle of general equality; – The Rule of Law, which in connection with administrative procedures mainly consists of the following elements: – the principle that the will of the State as expressed in the Constitution, formal laws and secondary legislation takes precedence over any activity of the executive power (Art. 5, the Constitution of the Republic of Croatia; – the principle of legality – the principle that individual decisions of administrative authorities and other bodies vested with public authority shall be grounded on law (Art. 19, the Constitution of the Republic of Croatia; – trust of citizens in administrative authorities
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– the principle of legal certainty to guarantee that a citizen can foresee possible State action affecting him; – clearly defi ned responsibilities of administrative authorities, transparent organisation and fi xed and objective administrative procedures; – the possibility of legal remedy and recourse to the court to ensure legal control of administration and protection of individual rights; – Due process of law – fair procedure, Art. 6 of the European Charta of Human Rights – The principle of democracy comprises – in the context of public administration three major aspects: – The role of public administrative bodies towards citizens, entrepreneurs and wider society in general has significantly changed. Democratic society calls for public administration which should be, on the one hand, percieved as the custodian of public interest and, on the other, as service-oriented activity directed towards citizens, entrepreneurs and wider society in general. The welfare of citizens should be in the center of all administrative activities. – Every administrative authority, be it at state, regional or local level, derives its power from the people’s will as it is materialised in law adopted by the Sabor (Croatian Parliament) and other democratically elected representative bodies. – The practical side and the most direct form of operationalisation of the principle of democracy is participation of the citizens and their organisations in public affairs. Thus, fully transparent and objective administrative procedures are one of the most important prerequisites for such participation. – Forms and conditions of such participation should be provided by the Law on General Administrative Procedures. The new Law shall guarantee complete and effective protection of individual rights of citizens, who participate in administrative procedures. NGOs may be admitted to participate in administrative proceedings, when a legitimate public interest calls for such participation. – The principle of separation of power constitutes the public administration as a state power of equal rank beside legislative and judiciary. According to this principle public administration has its original authority, which includes both administrative decisions and its enforcement. According to the Constitution of the Republic of Croatia the political responsibility of administration is fulfi lled by the Government and executive bodies on local and regional level; political interference in administrative procedures is restricted by law. – The principle of proportionality, according to which an act of the public administration will be regarded as constitutional or legal, respectively, if it is suitable for the achievement of the purpose aimed at (principle of suitability), if there is no other measure equally suitable but less affecting the individual (principle of necessity), and if the burden imposed does not weigh heavier than the benefits, that is, if the disadvantages to the individual do not outweigh the advantage to the community (principle of adequacy).
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III. The need for a new Law on General Administrative Procedures The new Law on General Administrative Procedures shall be well structured, concise/brief and easy to understand. The existing Law on General Administrative Procedures was drafted more than 50 years ago and adopted by the Republic of Croatia after it had declared its independence. Interventions over the years have not changed its main characteristics. Restricting the drafting exercise to amendments of this old Law would have the disadvantage that improvements in quality may only be possible to a limited degree. Furthermore, if the basic structure remained the same and only individual articles are amended, the law would loose its systematic and logic order and also its coherence. Facing the democratic changes and the new role of citizens towards public administration, which are only partly reflected in the existing law, a new Law on General Administrative Procedure has to be drafted, to incorporate these aspects.
IV. Methodological aspects of the new Law – The new Law shall include basic legal defi nitions, which ensure clarity of the scope of the Law. – The provisions of the new Law shall be systematised as close as possible to the present systematic. It is very important both for legal certainty and for the possibility to decrease implementation costs not to change too much the basic construction of the current Law. General administrative procedure is a part of the Croatian social and institutional capital and should be treated as a spare resource. – According to European standards the articles shall be as short as possible, containing an acceptable minimum of legal norms. The current Law on General Administrative Procedures should meet European standards, although the length should not be the only criterion of the quality of the new Law. – The new Law shall use the methodology of cross-referencing, in order to ensure uniformity of the overall legal system and to keep the Law on General Administrative Procedures free of superfluous provisions. Legal institutes regulated in other laws, such as mandates, proxy, delivery, delays, deadlines, etc., should be regulated only once within a legal order and not be duplicated in different pieces of legislation. Only if and as far as different requirements of administrative procedures call for special and different solutions, specific rules should be included in the new Law on General Administrative Procedures. The articles of the new Law shall have short and precise titles. Short and precise titles of articles facilitate the implementation of the Law, contribute to its intelligibility for citizens, and raise the level of legal certainty. – The current Croatian formal legislative procedure should apply as much as possible modern normative techniques. Each article should be accompanied by a short explanation of the reasons for passing the new Law. Necessary elements of the regulatory impact assessment shall be provided by the Central State Office for Public Administration.
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V. Key elements for structure and content of the new Law on General Administrative Procedures 1. Preambulum The new Law shall commence with a preambulum expressing that the law shall ensure the – protection of effective realisation of civil rights and public interest, – efficiency and cost effectiveness of public administration – proportionality and transparency of administrative procedures – independence of ruling, and that the implementation of this law shall contribute to delivery of professional, citizen-oriented administrative services.
2. The scope of the law The new Law shall be applied in every administrative matter. Administrative matters are concerned, when state bodies, courts of law excluding, in their competence, bodies of local and regional self-government units in their selfgovernment scope of affairs and in state administrative affairs transferred to them (transferred scope), and legal entities when granted with public competences (public authorities) directly implementing laws, other regulations, bylaws or general acts, decide on rights, obligations, and legal interest of citizens, legal entities and other parties and in every other case when law calls for an administrative act. Administrative matters are also concerned by other administrative actions that are related to citizen’s rights, duties and legal interests (information; warning; reporting; publishing expert opinions; processing proposals, complaints, individual and collective petitions of citizens, spatial planning procedures, etc.) The requirement of legality is as much applicable to them as to administrative acts. In other words, all administrative actions must be in conformity with law and in so far as they interfere with rights of an individual they must also be based on some law. As far as appropriate, the new Law on General Administrative Procedures should be applied, when public service providers, be they public or private organisations, decide on rights and obligations of service users.
3. Legal definitions Clarity and comprehensibility of the law shall be improved by a systematic structure of legal defi nitions, following the formal steps of administrative procedure. The catalogue of defi nitions shall include:
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Administrative Act The administrative act is the most important form of action of a public authority for the execution of administrative law. The main elements of an administrative act are: – a unilateral measure, – issued by a public authority, – in pursuance of administrative law, – taken in an individual or at least concrete case, – aiming at the regulation of this case, that is, having a legal effect on an individual. By their consequences for the addressee, it can be distinguished between disadvantageous administrative acts (acts imposing a duty, obligation or any other burden) and beneficial administrative acts (acts bestowing a benefit). For the drafting process the following description of an administrative act is to be considered: (1) An administrative act shall be any decision or other measure taken by a public authority to regulate unilaterally an individual case in the sphere of administrative law and intended to have a direct, external legal effect. (2) A general order shall be an administrative act directed at a group of people defined or definable or relating to the administrative law aspect of a matter or its use by the public at large.
Administrative contract Although an unilateral administrative decision is the most characteristic and frequent mode of exercising the administrative powers and functions, in some European countries other forms of co-operation between the administration and the citizens have emerged in administrative practice and future-oriented practitioners nowadays proclaim co-operative administrative action as the new model for the performance of public tasks. The instrument of co-operative administration is the administrative contract. An administrative contract may be either a co-ordinate or a subordinate contract. Co-ordinate administrative contracts are those which are made between the administrative authorities of equal or almost equal status or rank. Such, for example, are the contracts between two or more administrative authorities either for the establishment of a partnership or for the change of municipal limits, or for financing a school, or for the maintenance of common bridges or roads. A subordinate administrative contract is made between parties who stand in the position of superior and subordinate, i.e., the administration on one side and a citizen or any other subordinate legal person on the other. It may be made either under an express statutory authority or in due exercise of discretion where a unilateral measure in the form of an administrative act is not necessary for the regulation of a matter. A municipality, for example, could agree with an enterprise, that the enterprise will obtain public subsidies in return for the obligation to produce on the basis of lower, i.e. more environment-friendly emission limits than stipulated by the environmental legislation.
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An administrative contract is a subject-matter of administrative law and thus an administrative matter and any disputes with respect to them lie within the jurisdiction of the administrative courts. For the drafting process the following description of an Administrative Contract is to be considered: (1) A legal relationship under administrative law may be constituted, amended or annulled by agreement (co-ordinate administrative contract), in so far as this is not contrary to legal provision. (2) The public authority may, instead of issuing an administrative act, conclude an administrative contract with the person to whom it would otherwise direct the administrative act (subordinate administrative contract), when and as far as the admissibility of a contract for the respective administrative matter is regulated by legal provision.
Administrative Procedure For the drafting process law the following description of an Administrative Procedure is to be considered: For the purposes of this Law, administrative procedure shall be the activity of public authorities having an external effect and directed to the issuing of an administrative act or to the conclusion of an administrative contract. It shall include the issuing of an administrative act or the conclusion of an administrative contract.
“Participants of an administrative procedure” For the drafting process law the following description of Participants of an Administrative Procedure is to be considered: (1) Participants of an administrative procedure shall be: 1. those making and opposing an application; 2. to whom the public authority intends to direct or has directed an administrative act; 3. with whom the public authority intends to conclude or has concluded an administrative contract. 4. those who have been involved in the procedure by the public authority under paragraph 2. (2) The authority may ex offi cio or upon request involve as participants those, whose legal interests may be affected by the result of proceedings. Where such a result has a legal effect for a third party, the latter shall upon request be involved as a participant. Where he is known to the authority, he shall be informed by it that proceedings have commenced.
4. Uniformity of the system of administrative procedures Legal transparency and certainty as well as the standards of good legislation require a coherent system of administrative procedures.
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On certain legal conditions and as an exception to a general rule Art. 2 of the current Law on General Administrative Procedures allowed to stipulate special procedures otherwise than under the Law on General Administrative Procedures for a particular administrative area. But not least due to the fact that the current Law on General Administrative Procedures was considered to be outdated, it became regular practice during the recent history to include in new legislation on special areas of administrative law also provisions regulating proceedings. The result of this approach: today no less than 65 laws comprise special administrative-procedural provisions that affect and/or further specify the current Law on General Administrative Procedures. Such a situation confuses not only every normal citizen, but also legally trained persons like judges and lawyers and last but not least the civil servants, who have to apply the law. It opens the door to arbitrariness of public authorities’ administrative actions. Complexity and segmentation of administrative procedure’s legal regulation creates room for incorrect implementation, due to either ignorance or corruption. In contrast to that uniformity of administrative functioning on the basis of General Administrative Procedures makes public administration activities predictable, raises the level of legal certainty in the whole system, and reinforces the rule of law. Such uniformity reduces administrative costs, reduces space for corruption, speeds up administrative functioning, and raises the efficiency of public administration. Therefore the new Law on General Administrative Procedures should be the basis for most of administrative actions, in order to ensure legal security and protection of citizens’ individual rights. Special procedural rules should apply only, if appropriate to specific areas (e.g. taxation, customs, patent matters, etc.), and only as far as necessary. Even if special administrative procedures are unavoidable, the degree ofsuch deviation from general procedures must be minimized. However, even if the new Law on general Administrative Procedures can ensure uniformity within its scope of application, it will not automatically reduce the number of special administrative procedures. In accordance with the Roman law principle “lex specialis derogat legi generali” special laws will not be changed just by the adoption of the general law. The problem can be solved only by avoiding as far as possible special procedures for future laws and amending those old laws that comprise unnecessarily special procedural provisions. In provisional and fi nal regulations of the Law the Government of the Republic of Croatia shall be obliged to reconsider, within a year time, the need of special administrative procedures and suggest necessary changes of certain laws to the Croatian Parliament. The proposers of new special procedures shall be obliged to coordinate, as far as possible, special procedures with legal institutes of the Law on General Administrative Procedures.
5. Public services – citizens’ access and legal protection The provision of vital public services to citizens (services of general interest, including services of general economic interest), e.g. education, health care, social welfare, water and electricity supply, telecommunication, etc., should be guaranteed ir-
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respective of the legal form of utilization, be it based on public or private law. Privatisation of the delivery of public services should not diminish protection of citizens’ right towards the service provider. EU regulation of the services of general economic interest shall be taken into account. As for the services of general economic interest, legal protection must be guaranteed in reference to public authority i.e. in reference to its duties. Legal remedies shall enable the consumer to claim upon the public authority to perform a service contract as a contract between a consumer and service provider. The consumer shall take the position of a party during the legal remedy procedure and have right to a fair procedure. In this way the utmost transparency of the contract relationship between public authority and a general economic interest service provider is reached. For the drafting process of the law it is to be considered, whether and as far the Law on General Administrative Procedures should be applied when public service providers, be they public or private organisations (institutions, companies, and other legal entities with public competences in education, science, health and social care, culture etc.), decide on rights and obligations of service users. In such cases it should be taken into account that meticulous legal regulation of the Law on General Administrative Procedures proves to be much too complicated. A kind of abridgement and simplification of the administrative procedure should be considered for the described cases. The Law on General Administrative Procedures should be applied also in the cases when so-called independent agencies, commissions and similar bodies directly implementing laws and regulations make decisions on rights and obligations of citizens, legal entities and other parties.
6. Enforcement and delivery of administrative decisions, administrative costs It is to be considered to regulate the conditions of the enforcement of administrative acts and enforcement procedures in a special law, as it is the case in many Continental-European countries. However, the new Law on General Administrative Procedures shall include transitional provisions for this area, as long as there is no new Law on Enforcement of Administrative Decisions. Moreover, practical details and technical formalities in connection with delivery of administrative decisions and administrative costs shall be regulated in secondary legislation.
7. Fair Procedure, Fair Trial Fair Procedure or Fair Trial is a fundamental safeguard to ensure that individuals are protected from unlawful or arbitrary deprivation of their human rights and freedoms, set in force by the Universal Declaration of Human Rights (UN Charta 1948). The right to a fair trial is also recognised by the European Convention of Human Rights and the Constitution of the Republic of Croatia. Of particular importance for administrative procedures are the following elements, to be incorporated in the new Law:
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fair hearing in all stages of procedure; legal aid, if needed and wanted; participation in all forms of procedure: written, oral, electronic; right to understand proceedings; right to be present, when other participants (e.g. public officials, witnesses, experts) are heard; right to present and receive all information about the case and procedure: facts, evidence, documents, records, inspection of localities; right to participate in the procedure, if one’s interests are at stake; exclusion of public officials, if there are reasonable grounds to suspect partiality; right to get a decision within shortest possible time.
8. Discretion The empowerment of administrative authorities to take discretionary decisions is a relativization of the principle of legal certainty, however, the empowerment of discretion is necessary in cases, when the conditions and circumstances of the field of application of a legal provision cannot be foreseen in detail by the legislator. In a modern public administration discretion is the means to respond flexibly to new developments of the reality. Where an administrative authority is empowered to act at its discretion, it shall do so in line with the purpose of such empowerment and shall respect the legal limits to such discretionary powers; a written statement of grounds must accompany the discretionary decision. When giving reasons for such an act, among others, an administrative authority shall indicate the discretionary powers source regulation and list the reasons for reaching such a decision. Abuse of discretion and exceeding of its legal limits shall be clearly defi ned by the new Law.
9. Legal remedies and administrative disputes The new Law shall provide, as a part of the administrative procedures, a comprehensive system of legal remedies against administrative actions affecting citizens’ individual rights. It shall clarify – form and deadline for an objection against an administrative act; – authority, with which objections are to be lodged; – administrative body responsible to decide on an objection; – decisions on the objection against an administrative act shall not be taken by the same administrative body that issued the administrative act; the system for decisions on appeals at all levels (state, local, regional) is to be reconsidered; – costs for procedures for legal remedies; The exclusion of objections against administrative acts is proper only, when a highest administrative body responsible for the matter was in charge to decide the matter.
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 2
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An unsuccessful objection against an administrative act shall be a precondition for access to the Administrative Court. Only if a highest body within its scope of responsibility has decided on the administrative matter, direct access to the Administrative Court is admissible. The illegality of “other administrative actions” shall have its consequences. The administration shall be under the obligation to set aside or remove the facts created by an illegal administrative action and restore the status quo ante as far as possible and reasonable.
10. Withdrawal of an illegal administrative act, revocation of a legal administrative act Non-appealable administrative acts may be withdrawn or revoked only under extraordinary legal conditions. Interference for political reasons is inadmissible. An illegal disadvantageous administrative act (act imposing a burden), even if it has become non-apealable, may be withdrawn in whole or part either retrospectively or with effect for the future. An illegal beneficial administrative act (act bestowing a benefit) may not be withdrawn as far as the beneficiary has relied upon the continued existence of the administrative act and his reliance is, in regard to the public interest in a withdrawal, deserving protection. A legal disadvantageous administrative act may, even after it has become nonapealable, be revoked in whole or part for the future, except when an administrative act of like content is to be issued or when it is not allowable for other legal reasons. A legal beneficial administrative act may be revoked in whole or part only under extraordinary conditions, such as when the annulment is permitted by law or the right of annulment is reserved in the administrative act itself, or in order to prevent serious harm to the common good.
11. One-stop shop “One-stop shop” means that all approvals for a project, which requires the involvement and consent of various administrative bodies of various units with an administrative body (e.g. erecting a building, starting a business, application of subsidies) should be concentrated in one administrative procedure and covered by one comprehensive administrative decision. The one-stop shop gives advantage to the citizen, to save time and money by communicating with one administrative counterpart only, rather than being compelled to fi nd the way through the jungle of administrative competences. The establishment of a one-stop shop system requires diverse changes within public administration, in particular the reform of administrative competences. The procedural aspects of the one-stop approach shall be incorporated in the new Law on General Administrative Procedures.
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12. E-Government and online one-stop-shop government The new law shall implement e-government as the most advanced technique of public administration. It shall cover – e-assistance (e.g. information of general public, public relation activities, etc.) – e-administration, a very important form of communication between the administrative authority and a participant of an administrative procedure. E-government in combination with the one-stop shop approach is becoming state of the art for the organisation of an efficient and time-saving organisation of the communication process between public administration and citizens. The new Law shall provide the legal framework for an integrated “portal” that facilitates the access to all information of public administration. Precondition of online one-stop-shopgovernment is, in its fi nal stage, a network of all public administration units. Customers (citizens, companies) shall get access to performance of public administration by one virtual point. E-government shall be an additional service of public administration. For a transitional period implementation of e-government may not lead to disadvantages of those citizens, who have no access to on-line systems or are not familiar with information technology.
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Annex 3 Draft Law on General Administrative Procedure of the Republic of Croatia
Table of Contents
Part I: General Provisions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 1 Goals of the Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 2 Definition and formality of administrative procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 3 Scope of the law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 4 The principles of legality and proportionality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 5 Discretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 6 Priority of this Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 7 Jurisdiction in subject matter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 8 Territorial jurisdiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 9 Jurisdiction for urgent matters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 10 Concurrence of jurisdiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 11 Ex offi cio jurisdiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 12 Partiality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 13 Privacy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 14 Administrative assistance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 15 Request of administrative assistance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 16 Refusal of a request of administrative assistance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 17 Procedure and costs of administrative assistance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Part II: General Procedural Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter I: Art. 18 Art. 19 Art. 20 Art. 21 Art. 22
Public Authorities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Acting offi cial person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Advice and information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Collegiate decision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joint decision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Point of single contact and coordination (one stop shop) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter II: Art. 23 Art. 24 Art. 25 Art. 26 Art. 27 Art. 28 Art. 29 Art. 30 Art. 31
Party and Its Representation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition of the party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Procedural capacity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Representation of the party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ex-offi cio appointment of a representative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joint representative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Proxy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expert assistant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Capability of being representative or expert assistant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Death of a party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter III: Steps of Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Division 1: Art. 32 Art. 33 Art. 34 Art. 35 Art. 36 Art. 37 Art. 38 Art. 39 Art. 40
Opening and conducting the procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instituting the procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joining matters into single procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preliminary issue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inspection of documents by parties . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amendments and withdrawing of request . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Settlement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Electronic communication . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Use of language and script . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Translations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Division 2: Right of the party to be heard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 41 Hearing the party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Division 3: Art. 42 Art. 43 Art. 44
Investigation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ex-offi cio investigation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obligations of the party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oral hearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Division 4: Art. 45 Art. 46 Art. 47 Art. 48 Art. 49 Art. 50 Art. 51 Art. 52 Art. 53 Art. 54 Art. 55
Evidence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assessment of evidence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Presenting of evidence before another authority . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insuring evidence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Documents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Witnesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obligation to testify . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Examination and duties of the witness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fines for witnesses and experts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Site investigation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statement of the party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter IV: Publicly announced Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 56 Opening of a publicly announced procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter V: Art. 57 Art. 58 Art. 59 Art. 60 Art. 61
Deadlines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Determination of deadlines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beginning and expiry of a deadline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sundays and public holidays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Submission within the deadline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restoration of the status quo ante (Restitutio in integrum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Part III: Administrative Actions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 62 Types of Administrative Actions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter I: Art. 63 Art. 64 Art. 65 Art. 66 Art. 67 Art. 68 Art. 69
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Administrative Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assurance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Types and legality of an administrative act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fictitious administrative act after expiry of deadlines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Additional stipulations to an Administrative Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formal and substantial requirements of a written Administrative Act . . . . . . . . . . . . . . . . . Grounds for an Administrative Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Art. 70 Art. 71 Art. 72 Art. 73 Art. 74 Art. 75
Beginning and end of the validity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Void Administrative Acts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Defects in procedure and form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reversal of an unlawful Administrative Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reversal of a lawful Administrative Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reimbursement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter II: Art. 76 Art. 77 Art. 78 Art. 79 Art. 80 Art. 81 Art. 82
Administrative Contract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Admissibility of administrative contracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Compromise agreements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exchange agreements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agreement affecting third parties or authorities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voidness of an administrative contract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adaptation and termination due to change of basic circumstances (clausula rebus sic stantibus) Supplementary application of provisions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter III: Other Forms of Administrative Actions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 83 Other forms of administrative actions under administrative law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 84 Indirect fulfilment of public tasks by allocating them to a public service provider . . . . . . . . . . Art. 85 Actions of a public authority under private law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Part IV: Legal remedies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 86 Rights of legal remedy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter I: Art. 87 Art. 88 Art. 89 Art. 90 Art. 91 Art. 92 Art. 93 Art. 94 Art. 95 Art. 96 Art. 97 Art. 98 Art. 99 Art. 100
Objection against administrative act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Range of the administrative objection procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Necessity of the procedure of administrative objection for an administrative dispute . . . . . . . . Lodging the objection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deadlines for lodging an objection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suspensory effect . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolonged suspensory effectArt. 91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Procedure and powers of the first instance public authority . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolongation of the suspensory effect by the administrative court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Principles of procedure of the second instance public authority . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Latitude of judgement of the second instance public authority . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Procedure of administrative objection for mandatory injunction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Procedure of administrative objection for administrative inaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Decision of the second instance public authority . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Procedure on objections conducted completely by a first instance public authority . . . . . . . . .
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Chapter II: Reopening of Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 101 Reopening of Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter III: Complaints against other administrative action or omission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 102 Purpose and aims of the administrative complaints . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 103 Administrative complaints regarding administrative contracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 104 Administrative complaints in the case of indirect fulfilment of public tasks . . . . . . . . . . . . . . Art. 105 Administrative complaints against other administrative action under administrative law . . . . Art. 106 Lodging the administrative complaint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 107 Procedure of the administrative complaint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Part V: Notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter I: Notifi cation of administrative actions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 108 Principles of Notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Art. 109 Art. 110 Art. 111 Art. 112 Art. 113 Art. 114 Art. 115
Forms of Notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sites of notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notifi cation to representatives, agents to receive or lawyers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joint agent to receive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notifi cation to public authorities and other subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . International notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notifi cation to detained persons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter II: Art. 116 Art. 117 Art. 118 Art. 119 Art. 120 Art. 121 Art. 122 Art. 123
Delivery as special form of notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notifi cation by delivery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hand delivery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indirect Delivery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Public delivery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Time of Delivery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Delivery note . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Change of address of the representative or the agent to receive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Errors in delivery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Chapter III: Electronic Notifi cation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 124 Notifi cation of Electronic Documents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Part VI: Costs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 125 Costs of administrative procedure and expenses of parties . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 126 Fees and Compensation of Costs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 127 Costs of the procedure of administrative objection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 128 Exemption from payment of costs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Part VII: Execution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 129 Pre-requisites of execution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 130 Immediate enforcement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 131 Execution of financial obligations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 131 Execution of financial obligations – alternative proposal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 132 Principle of proportionality of execution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 133 Addressee of the execution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 134 Jurisdiction for execution of non-financial obligations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 135 Execution of non-financial obligations through third persons (substitute performance) . . . . . . Art. 136 Execution of non-financial obligations by coercive fines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 137 Execution of non-financial obligations by direct coercion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 138 Previous warning of enforcement of non-financial obligations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 139 Suspension and postponement of execution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 140 Consequences of the execution of the annulled or altered administrative act (Compensation) .
500 500 500 501 501 501 501 501 501 501 502 502 502 502
Part VIII: Concluding and transitional provisions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Part I General Provisions
be they public or private organisations, decide on rights and obligations of service users
Art. 1 Goals of the Law This Law shall ensure the effective realisation of public tasks in the service of the citizen and the protection of civil rights. All public authorities are acting in regard to efficiency of public administration, proportionality and transparency of administrative procedures, independence of ruling and delivery of professional administrative actions.
Art. 4 The principles of legality and proportionality (1) Every administrative action must be in conformity with the law and in so far as it interferes with rights of an individual it is legitimate only, if it is authorised by formal law. (2) Any administrative action requires the compliance with the principle of proportionality, according to which an administrative action may restrict an individual right only, if the measure is 1. suitable to attain the purpose prescribed by law; 2. strictly necessary to obtain a legal purpose, i.e. if the public authority has considered ex officio if another equally suitable but less onerous measure could be chosen; 3. adequate, i.e. the intervention does not imply a disadvantage that is out of proportion to the designated end.
Art. 2 Defi nition and formality of administrative procedure (1) An administrative procedure shall be the activity of public authorities directed to the examination of basic requirements, the preparation and the issuing of an administrative act, the conclusion of an administrative contract, or to any other administrative action regulated in Part III of this law. (2) The administrative procedure shall not be tied to specific forms unless legal provisions exist which specifically govern procedural form. It shall be carried out in an uncomplicated, appropriate and timely fashion. Art. 3 Scope of the law (1) This law shall be applied in every administrative matter. (2) Administrative matters are concerned, when state bodies in their competence, bodies of local and regional self-government units in their self-government scope of affairs and in state administrative affairs transferred to them, and legal entities when granted with public competences (public authorities), directly implementing laws, other regulations, bylaws or general acts, decide on rights, obligations, and legal interest of citizens, legal entities and other parties of the procedure, and in every other case when law calls for an administrative act. (3) Administrative matters are also concerned, when a public authority concludes an administrative contract or executes its tasks under administrative law by other administrative actions that are related to citizen’s rights, duties and legal interests, such as delivery of information, warning, reporting, publishing expert opinions, or dealing with complaints or petitions of citizens. (4) As far as appropriate, provisions of this Law should be applied when public service providers,
Art. 5 Discretion (1) To the extent that the public authority is authorised by law to act at its discretion, administrative action is unlawful for the reason that the statutory limits of discretion have been exceeded or discretion has not been used at all or not in accordance with the purposes of authorisation. (2) The latitude of discretionary decision may be reduced by 1. EC law, 2. the principles of this Law, or 3. prior decisions of the public authority in similar cases. Comment: Para 2 applies from the date of EU membership Art. 6 Priority of this Law Only under significant and substantial grounds, some issues of the procedure regarding a particular administrative field may be stipulated otherwise by formal law, if not contrary to the principles of the present law. Art. 7 Jurisdiction in subject matter (1) Jurisdiction of the public authorities, as regards subject matter (in rem jurisdiction), is determined by law. (2) If jurisdiction is not stipulated, public authorities to which scope of activity general admi-
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nistration affairs pertain shall have jurisdiction over the procedure. Art. 8 Territorial jurisdiction As long as law does not regulate otherwise, the decision of territorial jurisdiction is to be taken according to the following order: 1. in matters relating to real estate according to the location of the real estate; 2. in matters relating to ships or aircrafts or in which the motive to initiate the procedure has arisen on board of a ship or aircraft, jurisdiction shall be determined according to the ship’s port of registry or to the aircraft’s home airport; 3. in matters regarding the operation of a business or the performance of any other permanent activity: on the place where the business is to operate or the activity to be performed. 4. in matters relating to the activity of a particular public authority, institution or other legal person on the location of their headquarters; 5. in other matters: fi rst of all on the permanent residence (place of business) of the party involved, then on the place where the party is staying, fi nally on the place of the last permanent residence (place of business) or of the last stay in this country, however. If even such criteria cannot determine the jurisdiction, such jurisdiction will be with the respective highest authority having jurisdiction in the subject matter. Art. 9 Jurisdiction for urgent matters In cases of imminent danger for high-ranking goods, when the public authority having jurisdiction is not able to act on time, every other public authority able to do so may conduct preliminary measures and without delay inform the competent authority. Art. 10 Concurrence of jurisdiction (1) If more than one authority would have jurisdiction and nothing special is provided for such case, such authorities shall proceed by unanimous agreement. (2) In case they do not arrive at an agreement, the common superior public authority shall decide the confl ict in jurisdiction or other competent body.
Art. 11 Ex officio jurisdiction (1) The public authority shall ex officio exercise its jurisdiction regarding subject matter and territory. (2) Should the public authority be addressed in matters in which it considers to have no jurisdiction, it shall without undue delay refer the applicant to such authority. (3) If the public authority receives a submission regarding a matter in which it considers to have no jurisdiction it shall without undue delay forward such submission to the public authority having jurisdiction. (4) The parties are not authorized to determine or modify the jurisdiction of the public authority by an agreement of their own. Art. 12 Partiality (1) The official person authorised to rule or to carry out some activities in the procedure shall be exempted: 1. if he/she is a party, a co-authorised person or person under joint liability, a witness, an expert, a proxy or a legal representative of the party; 2. if he/she is next of kin to the party, to the legal representative or the proxy of the party by direct descent or by lateral descent up to the fourth generation inclusive, spouse or next of kin by in-laws up to the second generation even if the marriage is no longer valid; 3. if he/she is guardian, adoptive parent, adoptive child or foster-parent to the party, to the legal representative or the proxy of the party; 4. if he/she participated in conducting the procedure or issuing the decision in the fi rst instance procedure. (2) Where serious grounds exists justifying fears of prejudice towards an official person authorized to rule or to carry out some activities in the procedure, the head of the public authority or the person appointed by him/her shall exclude the official person from further involvement in the procedure. If the fear of prejudice relates to the head of the authority, the supervisory authority shall request him to refrain from involvement where he has not already done so of his own accord. Grounds to justify fears of prejudice could be in particular 1. close personal relationships to a party or his/ her representative, 2. discriminating or grossly unobjective remarks, 3. economic or personal interests in the result of the procedure.
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 (3) Anyone who is involved in the administrative procedure shall inform the head of the authority or the person appointed by him/her about the reasons for exemption or grounds justifying fears of prejudice without delay. Art. 13 Privacy Parties of an administrative procedure shall be entitled to require that matters of a confidential nature, especially those relating to their private lives and business, shall not be revealed by the public authority without permission. Art. 14 Administrative assistance (1) Each public authority shall, when requested to do so, render administrative assistance to other public authorities. (2) The provisions for administrative assistance don’t apply, when a public authority under law is entitled to direct another public authority to execute an administrative action or when the administrative action concerned falls in the jurisdiction of the other authority.
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Art. 17 Procedure and costs of administrative assistance (1) Measures and procedure of the requested administrative action are regulated on by the law as being applied to the administrative matter conducted by requesting authority. (2) Administrative assistance does not exclude the requesting authority’s responsibility for the legality of the requested administrative action. (3) The requesting public authority shall not be liable to pay the requested authority any administrative fee for legal assistance. The requesting and the requested public authorities shall reimburse each other for expenses more than 750 kuna caused in connection with an administrative assistance. (4) If the requested public authority performs administrative action, for which fees are charged from the party, it is entitled to raise these fees for its own budget. Part II General Procedural Rules Chapter I Public Authorities
Art. 15 Request of administrative assistance (1) If not contrary to a law, a public authority may choose the authority to be requested for administrative assistance. As a rule, the requested authority should be on the lowest administrative level. (2) A public authority must request administrative assistance when a public authority requires knowledge of facts, documents or other evidence in the possession of another authority or when for legal reasons it cannot itself perform the necessary administrative action. (3) The public authority must seek legal assistance, when it can act on the matter itself only ineffectively or at significantly higher costs. Art. 16 Refusal of a request of administrative assistance (1) A public authority may not refuse assistance on the grounds that it considers the request or its purpose inappropriate. (2) If the requested public authority does not consider itself obliged to provide assistance, it shall inform the requesting authority. If the requesting authority insists, the decision shall be taken by the second instance body of the requested authority or other competent body.
Art. 18 Acting official person (1) The public authority acts by its head or any other official person in the same authority authorised. (2) If the authorisation of another official person to conduct the procedure and decide in an administrative matter is not regulated by special law, it shall be done by the head of the public authority in accordance with the rules on the internal organisation of the public authority. (3)The official person shall conduct the procedure, decide on the case and sign the decision in accordance with the law and based on the facts established during the procedure. Art. 19 Advice and information The public authority shall enlighten the party of its rights and obligations in the procedure and indicate the legal consequences of activities or omissions. It shall cause statements or applications to be made or corrected when it is clear that these were not submitted or were incorrectly submitted only due to error or ignorance.
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Art. 20 Collegiate decision (1) In a collegiate public authority the decision shall be rendered by the collegiate public authority in the presence of more that one half of its members and shall pass the decision by majority of present members unless otherwise stipulated under special law. (2) The collegiate public authority may authorise an official person in that public authority to rule on administrative matter when stipulated by special regulation. In such case the official person shall inform the collegiate public authority in writing on the result of the administrative procedure unless otherwise stipulated by special law. Art. 21 Joint decision (1) When stipulated under legal regulations that two or more public authorities shall rule on one matter each of them shall rule on the issues in its competence. These public authorities shall agree which of them shall issue the administrative act comprising the decision of the other public authority as well. Unless otherwise regulated by special law, Art. 10, paragraph 2 of this Law applies mutatis mutandis. (2) When stipulated under the legal regulation that one public authority shall rule upon prior consent, confi rmation, approval or opinion by the other public authority, the public authority, whose consent, confi rmation, approval, or opinion is necessary to rule, shall react within one month following the date of formal request unless another deadline is stipulated under special law. (3) Should the public authority from paragraph 2 of this article fail to inform the public authority which issues the decision within the deadline as set in paragraph 2, the case is treated as if participation of the other authority had taken place with a positive result. Art. 22 Point of single contact and coordination (one stop shop) (1) In order to strengthen effectiveness and efficiency of administrative action, public authorities shall ensure the conditions for setting up single points of contacts, through which citizens can collect all information, receive advice and complete all procedures and formalities as required for administrative action. Details shall be regulated by organizational law. (2) Where several public authorities are involved in an administrative procedure, one of them may be designated to be the point of single con-
tact and coordination. These public authorities shall agree which of them shall act as a point of single contact. Unless otherwise regulated by special law, Art. 10, paragraph 2 of this Law applies mutatis mutandis. (3) The creation of points of single contacts and coordination does not affect the jurisdiction of the public authorities involved. Chapter II Party and Its Representation Art. 23 Defi nition of the party (1) The party shall be any natural or legal person upon whose request an administrative procedure has been initiated or against whom an administrative procedure is in progress or who has the right to participate to an administrative procedure for the purpose of protecting its rights or legal interests. (2) State, regional or local bodies, institutions or business units of institutions or of other legal persons, localities, and groups of persons may be party of an administrative procedure, in cases where they can be holders of rights and liabilities decided upon in the procedure. Art. 24 Procedural capacity The following shall be capable of acting in administrative procedures: 1. natural persons having legal capacity under civil law 2. natural persons whose legal capacity is limited under civil law, where they are recognised by law as having legal capacity for particular object of the procedure, 3. legal persons represented by their legal representatives or specially appointed individuals, 4. state, regional and local bodies and business units of institutions or other legal persons represented by their heads or other authorised persons, 5. localities and groups of persons by a representative authorised on the basis of a simple majority decision of inhabitants or members. Art. 25 Representation of the party (1) In an administrative procedure the party may be represented by an authorised person, be it the party’s legal representative, ex-officio representative, joint representative or proxy. The authorised person shall provide written evidence of
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 his authorisation upon request of the public authority. Any revocation of authority shall only become effective vis-à-vis the public authority when it has received it. (2) Where a person is authorised to act as representative, he shall be the person with whom the public authority deals. The public authority may approach the actual party where he is obliged to cooperate. If the public authority does approach the party itself, the authorised representative is to be informed. (3) Authorisation shall not be terminated either by the death of the person granting such authorisation, or by any change in his capacity to act or in his legal representative. When however appearing in the administrative procedure on behalf of the legal successor, the authorised person shall upon request furnish written evidence of his authorisation. Art. 26 Ex-officio appointment of a representative (1) When the public authority conducting the administrative procedure has reasons to assume that the circumstances of a party require the appointment of a special representative according to the law regulating matters of tutorship, it shall propose such appointment to the competent body without delay. In cases of great urgency and when the interests of a party require so, the public authority may appoint an ex-officio representative till a special representative is appointed. (2) Where no representative is appointed, the public authority conducting the procedure may in case of urgency appoint an ex-officio representative if: 1. identity of a party is unknown; 2. an absent party whose residence is unknown or is prevented from looking after his affairs; 3. a party without residence within Croatia does not comply with the authority’s request to nominate a representative within the period set and if the law regulating matters of tutorship does not apply; 4. matters are the subject of procedure and there is no owner, claimant, or person responsible to defend the rights and obligations in question. (3) Where the interest of a party or the public interest urgently requires immediate conduct of a single procedural action, and if the party’s or its representative’s participation in this action is either impossible or possible only at disproportionate costs, the public authority may appoint a temporary representative for such action. The
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party or its representative shall immediately be informed thereof. (4) In cases regulated in paragraph 1 sentence 2 and paragraph 2 of this article, public authority shall inform the competent body as stipulated in paragraph 1 sentence 1 about its appointment. In the case of paragraph 2 no. 3 the party shall be informed immediately about the appointment. When the party is unknown, public authority shall publish the appointment on its web site, on the notice-board or in other appropriate ways. (5) The ex-officio representative shall participate only to procedures for which he has been explicitly appointed and only until appearance of the legal representative, the party or his proxy. Art. 27 Joint representative (1) Two or more parties, unless otherwise stipulated under law, may appear jointly in the same case. In such cases they shall indicate which one of them shall appear as their joint representative or they shall appoint a joint proxy. (2) In cases when two or more parties with similar request do not indicate which one of them shall appear as their joint representative or they do not appoint a joint proxy, the public authority may stipulate to the parties to do so. Should the parties fail to do so, the public authority shall determine their joint representative or joint proxy, in which case the joint representative or joint proxy shall retain that attribute until the appointment of a new one by the parties. (3) Even when a joint representative or joint proxy has been appointed, each party retains the right to appear as a party in the procedure, to give statements and lodge objections independently and to use other legal remedies. Art. 28 Proxy (1) The party or its legal representative may appoint a proxy to represent it in the administrative procedure except in actions requiring the party itself to give statements. (2) Actions undertaken by the proxy within authority vested in him have the same legal effect as if undertaken by the party itself. (3) Even when having a proxy, the party itself may give statements or carry out other actions relevant for the administrative procedure. (4) The party present when its proxy gives an oral statement may, immediately after the statement has been given, modify or revoke the statement given by the proxy.
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Art. 29 Expert assistant A party may appear in a verbal hearing with an expert assistant who assists the party in specific expert matters needed for the administrative procedure. Any points made by the expert assistant shall be deemed to have been put by the party except where the latter immediately contradicts them. Art. 30 Capability of being representative or expert assistant (1) Any natural person having legal capacity under civil law may act as an authorised representative or expert assistant. (2) The public authority shall reject persons, representatives or expert assistants from the administrative procedure, when they act on a business basis in legal or other matters concerning other persons without legally required licence. (3) The refusal of permission under paragraph 2 is an administrative act, which shall be notified to the party and the authorised representative or expert assistant. Acts relating to the administrative procedure undertaken by the authorised representative or expert assistant after such refusal shall be invalid. Art. 31 Death of a party If the party should die in the course of the administrative procedure dealing with matters personally connected to him, the public authority closes the fi le. In other cases the public authority suspends temporarily the procedure until the legal successor is identified. If the party has authorized a representative whose authorisation does not end with the party’s death as stipulated in Art. 25, paragraph 3, sentence 1, the public authority may continue the procedure. Chapter III Steps of Procedure Division 1 Opening and conducting the procedure Art. 32 Instituting the procedure (1) Administrative procedures can be instituted either ex-officio or on request of a party. (2) Administrative procedures are instituted as soon as public authority has carried out activities aiming to conduct the procedure or a party has submitted a request.
(3) If the public authority fi nds no grounds to institute a procedure on request of the party, it rejects the request by an administrative act. Art. 33 Joining matters into single procedure (1) The competent public authority may join administrative procedures into one single procedure, if rights or liabilities of the parties are based on the same or similar state of facts or legal grounds. (2) Joining procedures shall not affect the right of a party to submit different requests. Art. 34 Preliminary issue (1) If the public authority conducting the procedure comes across a preliminary issue arising during the investigation procedure which has to be decided as main issue by court or public authority it has to proceed as follows: 1. The public authority suspends the procedure temporarily when the preliminary issue regards existence of a criminal act, marriage, establishing paternity or when stipulated by special law. 2. In all other cases the public authority may also temporarily suspend the procedure until the preliminary issue will be decided, provided that such preliminary issue is already subject of other procedure or such a procedure is being instituted simultaneously. (2) A temporary suspension is an administrative act. (3) In case the administrative procedure is not to be suspended, the public authority can decide the preliminary issue and use this result as far as relevant for the administrative matter. Such administrative act has legal effect only in administrative matter in which such issue has been decided upon. Art. 35 Inspection of documents by parties (1) The public authority shall allow parties to inspect the documents connected with the procedure where knowledge of their contents is necessary in order to assert or defend their legal interests. (2) Inspection of documents shall take place in the offices of the record-keeping public authority as regulated by special law. In individual cases, documents may also be inspected at the offices of another authority or of the diplomatic or consular representatives of the Republic of Croatia abroad. The public authority keeping the records may make further exceptions.
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 (3) When fi les are kept in electronic form, the public authority provides the technical means to inspect the documents. The public authority may make electronic fi les available over the Internet, as long as the privacy of the party is secured. Art. 36 Amendments and withdrawing of request (1) The party may amend the submitted request or submit a new request provided that such request is based on essentially the same state of facts until the fi rst instance decision is issued. (2) In the entire course of procedure the party may withdraw the request by statement. In this case the public authority closes the fi le by administrative act. The adverse party, if any, shall be notified about it. (3) If the public authority may assume from the overall situation that the party has withdrawn its request it may terminate the procedure by administrative act. Art. 37 Settlement (1) If two or more parties with adverse requests participate in the procedure the public authority should try during the entire course of the procedure, to have the parties agree to full settlement or at least regarding particular disputable points. (2) The public authority shall ex officio ensure that the settlement should always be clear and specific and shall reject a settlement being detrimental to public interest, public ethics or legal interest of third parties. (3) The settlement shall be entered into the record and shall be considered concluded when after having read the record the parties have signed it. A certified transcript of the record shall be handed to the parties. (4) Where a full settlement has been concluded, the public authority shall terminate the procedure. As far as particular points have been settled, the public authority shall include them into the administrative procedure. Art. 38 Electronic communication (1) The public authority and the party may communicate with each other in electronic form if the party gives consent, unless otherwise stipulated by special law. (2) Unless specified otherwise, the written form required by law is fulfi lled by an electronic document that is electronically signed. (3) When the law requires an electronic document to be electronically signed, the document
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has to be provided with a qualified electronic signature according to the Law regulating Electronic Signature. (4) An electronic document is submitted to the public authority in the moment it has been recorded by the device dedicated to receive such messages. The public authority shall without delay issue a notification of receipt to the sender. (5) If an electronic document cannot be read by the recipient, he has to inform the sender without delay and the document has to be resent in a suitable form. Art. 39 Use of language and script (1) Administrative procedure shall be conducted in the language and script officially in use by the competent public authority. (2) The members of national minorities may use their own language and script if such use is allowed by law regulating the rights of national minorities and other legal acts. Art. 40 Translations (1) If a public authority receives a submission in a foreign language, it shall immediately require that a translation be provided. Where necessary the authority may require that the translation provided be made by a certified or publicly authorised and sworn translator or interpreter. (2) If the required translation is not furnished without delay, the public authority may, at the expense of the party, itself arrange for a translation. Where the public authority assigns interpreters or translators, they shall receive remuneration. (3) If submissions which fi x the beginning of a deadline within which the public authority is to act, are received in a foreign language, the deadline shall commence at the date that a translation is available to the public authority. (4) If the party has to present a submission within a deadline and does so in a foreign language, the public authority may set an additional deadline within which a translation has to be provided. The fi rst deadline is considered as kept only, if the public authority receives the translation within the additional deadline. (5) If the public authority did not set an additional deadline according to paragraph 4, fi rst sentence, or did not caution the party about the legal consequences of paragraph 4, second sentence of this article, the submission in foreign language is considered to be done within the deadline. (6) If the party presents a document in a script
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which is not officially in use, the provisions of this article about language apply mutatis mutandis. Division 2 Right of the party to be heard Art. 41 Hearing the party (1) During the administrative procedure the party shall be given the opportunity to make a statement on the facts and circumstances relevant to the administrative procedure. (2) The administrative procedure may be conducted without hearing the party in cases when the procedure does not have negative effect to the party’s legal interests, unless there is a reasonable interest for hearing or as regulated in other laws. (3) The authority must take the result of the hearing into account and give the reasons why it did not accept them. Division 3 Investigation Art. 42 Ex-officio investigation (1) The public authority shall ex officio investigate all facts of the case relevant to the administrative procedure. It shall take account of all circumstances of importance in an individual case. (2) The public authority shall independently determine the type and scope of investigation. (3) It must not ask the party to submit a certificate or other written document, if the relevant content of such a document is already verified in its own fi les, other official fi les, registers and records or other appropriate documentation. Art. 43 Obligations of the party (1) The party shall assist in establishing the facts of the case. A more extensive duty to assist in establishing the facts, and in particular the duty to appear personally or make a statement, shall exist only where law specifically requires this. The party shall not be summoned to appear personally before the public authority if communication can be done by mail or in other ways more suitable. (2) As a rule the party may give statements either in verbal or written form. In complex matters the public authority may order the party to submit a written statement. This does not exclude the right of the party to give a verbal statement.
Art. 44 Oral hearing (1) Oral hearings shall be scheduled: 1. in administrative matters with two or more parties with adverse interests 2. when a site investigation or interrogation of witnesses or experts is to be done. (2) The oral hearing is public. The public authority may ex officio or upon the request of the party exclude the public from the oral hearing in the following cases: 1. if so required by reasons of protecting privacy, public morality or public safety, 2. if there is a serious and direct risk of obstructing the oral hearing 3. if circumstances representing official, business, professional, scientific or artistic confidentiality are to be discussed. (3) The public authority shall conduct the hearing speedily with a constant eye on the purpose of the administrative procedure in a way that the right of the parties to be heard is warranted and other persons involved are given the opportunity to contribute towards ascertaining the facts of the case. (4) As a rule, oral hearings shall be held in the office of the public authority. It may also be held at the place of site investigation or any other place when necessary for substantial reduction of costs and more thorough, quicker and simpler way of hearing the matter. (5) In case the party fails to come to the oral hearing without justifying his absence the public authority may conduct the hearing without the party. Division 4 Evidence Art. 45 Assessment of evidence (1) The public authority shall establish the state of facts by any appropriate kind of evidence. It may: 1. gather statements in verbal, written, or electronic form from parties, witnesses, and experts; 2. obtain documents and records, 3. visit and inspect the locality involved (site investigation). (2) Facts already known to the public authority or commonly known facts and facts assumed by law need no further evidence but it shall be permitted to corroborate by evidence inexistence of these facts.
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 (3) The public authority shall evaluate, whether or not a fact is relevant for the matter. It shall rule by its own conviction which facts shall be taken as proved, based on a conscientious and elaborate assessment of each piece of evidence separately and of all evidence together, and based on the results of the entire procedure. (4) The parties shall be given the opportunity to take notice of the result of the evidence taken and to comment on it. Art. 46 Presenting of evidence before another authority If presenting of evidence before the public authority conducting the procedure is unfeasible, linked to disproportional costs or huge loss of time, this public authority may ex officio or on request of the party decide, that presenting evidence or some pieces of evidence may be done before another public authority presenting evidence or some pieces of evidence may be done before the other public authority. For the cooperation between the public authorities the Art. 14 to Art. 17 of this law on administrative assistance apply. Art. 47 Insuring evidence (1) If there is reasonable concern that a specific piece of evidence may not be presented at an ulterior time or that presenting imight be difficult, that piece of evidence may be presented at any stage of the procedure even before this has been instituted for the sake of insuring the evidence. (2) Insuring evidence shall be carried out by public authority ex officio or upon proposal of the party. (3) Before the procedure has been instituted the responsibility for insuring the evidence falls into the competence of public authority on whose area of jurisdiction the things to be examined or the persons to be heard are. (4) Public authority shall issue a special decision on insurance of evidence. Art. 48 Documents (1) Evidence may be provided by public or private documents. (2) Public documents as issued by public authorities are certificates or other public documents. Public documents shall prove what is established or confi rmed by it. (3) Certificates are issued on facts which public authorities keep official registers on. Certificates
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are binding for the public authority conducting the procedure unless the public authority has serious doubts about its correctness. (4) Public documents shall be issued to the party upon verbal or written request, as a rule, on the same day and latest within seven days unless otherwise stipulated. (5) If the party should consider that the certificate or other document issued by the public authority is not in accordance with the official record or the real state of facts, the party may request its modification. The public authority has to decide on the request within seven days. Art. 49 Witnesses (1) A witness shall be any person capable of observing a fact on which he is to testify and capable of communicating such observation. (2) The public authority conducting the procedure may summon a witness whose statements are necessary to obtain evidence. The summoning has to be delivered latest seven days before the date of questioning. Art. 50 Obligation to testify (1) As a rule, every person summoned as witness has to testify. (2) A witness may refuse to testify: 1. regarding questions when the answer would result in direct material pecuniary prejudice or in the risk of criminal prosecution or in serious disgrace to himself, his next of kin by direct descent or by lateral descent up to the second generation, his spouse, or next of kin by in-laws up to the second generation even if the marriage is no longer valid and even his foster parent or foster child, adoptive parent or adoptive child; 2. on issues to which he could not answer without violating the obligation and the right to official, business, professional, scientific or artistic confidentiality; 3. on issues the party has told the witness in his capacity of the party’s proxy; 4. on issues the party or other person has confessed to a witness in his capacity of religious confessor; 5. in cases the witness has other important reasons not to testify about. If necessary, the witness shall make the reasons for the refusal of the testimony plausible. (3) A witness may not deny testimony on the mere risk of property damage: 1. on legal affairs he attended in his capacity of witness, clerk or mediator,
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2. on activities he has undertaken in relation to the disputed relation in his/her capacity of legal predecessor or representative of any of the parties 3. or on any such activity on which he is under the obligation of presenting charges or giving a statement pursuant to special regulations. Art. 51 Examination and duties of the witness (1) Witnesses are heard separately, without the presence of other witnesses. If more than one witness are summoned to an interrogation a witness who has been heard may not leave the premises before all witnesses have been heard, unless by permission. A witness already heard may be heard again and may be confronted with other witnesses if their testimonies are in disaccord. (2) A person who due to illness or disability is not able to appear upon having been summoned shall be heard in his apartment or at another appropriate place. (3) If the witness does not speak the language in which the procedure is conducted he shall be questioned with an interpreter present. (4 If the witness is deaf, he shall be asked to question in writing and if the witness is mute he shall be instructed to answer the questions in writing. If the questioning cannot be done in this way, a person capable of communicating with the witness shall be called as interpreter. (5) The witness shall be asked to provide general personal information in the following order: name and last name, date of birth, profession and place of residence. If necessary the witness shall be interrogated on circumstances related to his credibility as witness in the matter in question, and in particular on his relations to the parties. (6)The witness shall be instructed as to his right to refuse testimony in total or to individual questions. The witness shall be cautioned prior to testifying of his obligation to speak the truth and to reveal all facts and that he may be sworn to his testimony. He shall also be presented with consequences of false testimony. (7) The witness shall only be asked questions about the case, how he learned what is testifying about. It shall not be allowed to ask questions leading the witness. Art. 52 Experts (1) If specific expert knowledge is necessary to establish or evaluate some facts relevant to the decision in administrative matter evidence may be presented by expertise. (2) If presenting evidence by expertise should
be disproportionably expensive compared to the importance or the value of the case, the matter may be decided upon on the basis of other evidence material. (3) The expert is appointed ex officio by the public authority or upon proposal of the party. He must have the qualification as required for the issues of the procedure. (4) Art. 49, paragraph 2, 50 and 51 are applicable as appropriate. Art. 53 Fines for witnesses and experts (1) If a witness should fail to appear or refuses to testify without justifi able cause, he may be fined by 300 to 2000 kn and be ordered to bear the expenses caused by this. (2) If an expert should fail to appear or refuses to perform expertise or should fail to submit his written fi ndings and opinion within the set deadline without justifi able cause, he may be fi ned by 300 to 2000 kn and be ordered to bear the expenses caused by this. Art. 54 Site investigation (1) The site investigation shall be conducted when direct observing by the official person is necessary to establish a fact or to clarify relevant circumstances. (2) The parties have the right to attend the site investigation, unless it contradicts the purpose of the administrative procedure. The public authority determines additional persons which shall attend the site investigation. (3) The owner or the holder of things, premises or land which are to be site investigated or in which or on which things that are the subject of the site investigation are located, or through which one is to pass, shall facilitate the site investigation, otherwise appropriate proportional measures to insure site investigation may be taken. (4) Art. 50 of this law is applied appropriately. Art. 55 Statement of the party If there is no direct evidence to establish a particular fact a statement stated by the party may be also taken as means of evidence.
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 Chapter IV Publicly announced Procedure Art. 56 Opening of a publicly announced procedure (1) The public authority may initiate an administrative procedure by public notification, if: 1. more than 50 parties are likely to be involved in an administrative procedure, 2. the identity of a party is unknown, 3. is in the interest of an efficient procedure, 4. or regulated by special law. (2) The public notification shall: 1. contain the subject of the procedure, 2. explain the way how the parties should participate in the procedure, in particular a list of certificates or other submissions to be presented, 3. set a deadline of at least 30 days for the fi rst reaction of the parties, 4. inform on the legal consequence of not reacting in due time. (3) The public notification is to be published in the Official Gazette of the Republic of Croatia or the respective Official Gazette of the local or regional self-government unit. The edict is also to be published in two of the largest national or local or regional newspapers. (4) A public oral hearing shall be scheduled if it is necessary to achieve the purpose of a publicly announced administrative procedure. Chapter V Deadlines Art. 57 Determination of deadlines (1) Deadlines may be stipulated for implementation of particular activities in the procedure. (2) If the deadlines are not stipulated under the law or other regulations, the public authority shall stipulate them with respect to the circumstances of the case. (3) A deadline set by the public authority may be extended upon request of the concerned person prior to expiry of the deadline provided there are reasonable causes for extension. A deadline stipulated by law may be extended if the law explicitly allows such extension. Art. 58 Beginning and expiry of a deadline (1) Deadlines shall be counted in days, months and years. (2) When the deadline is set in days, the day of
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delivery or notification, or the day of the event from which the duration of the deadline should be counted, shall not be included in the deadline, but instead the fi rst next day shall be taken as the beginning of the deadline. (3) A deadline set in months or years shall expire upon expiry of the day, month or year which by its number corresponds to the day when the delivery or the notification have been completed, i.e. the day of the event from which the duration of the deadline should be counted. If such day does not exist in the last month, the deadline shall expire on the last day of that month. (4) The expiry of a deadline may be marked by a certain calendar day. Art. 59 Sundays and public holidays (1) Sundays and public holidays shall not impede the beginning and the duration of deadlines. (2) If the last day of the deadline should fall on a Sunday or a public holiday or any other non working day for the public authority, the deadline shall expire upon expiry of the fi rst next working day. Art. 60 Submission within the deadline (1) The submission shall be considered submitted within the deadline if it reached the public authority to which it was to be delivered before expiry of the deadline. (2) If the submission has been sent by registered mail, the day of deposition at the post office shall be considered as the day of deposition to the public authority to which it is addressed. (3) For persons serving in the armed forces the day of deposition of the submission to the corresponding command shall be considered as the day of delivery to the pubic authority to which it is addressed. (4) For detained persons the day of deposition of the submission to the administration of the institution of detention shall be considered as the day of delivery to the public authority to which it is addressed. Art. 61 Restoration of the status quo ante (Restitutio in integrum) (1) Where for justified reasons a party has been prevented from observing a statutory deadline, it shall, upon request, be granted a restoration of its original legal position. Besides this, the restitution shall be granted when a party has failed to lodge the administrative objection or submission
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within the deadline even when the party due to ignorance or obvious error has sent the submission timely or handed it directly to a public authority which has no jurisdiction over the matter. (2) Such request must be made within 15 days of the removal of the obstacle. The facts justifying the application must be substantiated when the application is made or during the procedure connected with the application. The action which the party has failed to carry out must be effected within the application period. (3) After one year has elapsed from the end of the time limit which was not observed, no application for restoration may be made and the action not carried out cannot be made good, except where it was impossible for this to be done within the period of a year for reasons of force majeure. (4) If the public authority grants the restoration, administrative actions conducted in consequence of exceeding the deadline shall be annulled. (5) Restoration shall not be permitted when this is excluded by law. Part III Administrative Actions Art. 62 Types of Administrative Actions Public authorities shall act in form of administrative acts, administrative contracts and other forms of administrative actions. Chapter I Administrative Act Art. 63 Defi nition (1) An administrative act shall be any decision or other measure taken by a public authority to regulate unilaterally a single case in the sphere of administrative law directed at an individual party or at a restricted number of individual parties as defi ned by the case, which is intended to have a direct, external legal effect. (2) A general administrative act shall be an administrative act directed at a group of parties defi ned or defi nable on the basis of general characteristics, or relating to the administrative aspect of a physical object. (3) An administrative act may be issued in written, electronic, verbal or other form. A verbal administrative act must be confi rmed in writing or electronically when there is justified interest that this should be done and the party requests
this immediately. An electronic administrative act shall be confi rmed in common writing under the same conditions. Sentence 2 applies, too, to administrative acts stipulated under Art. 66, paragraph 3. Art. 64 Assurance (1) The public authority, if authorised by law, may by administrative act assure to issue a certain administrative act at a later date or not to do so. Such an assurance is an administrative act. It must be in writing and issued by the competent public authority in order to be valid. (2) The public authority is no longer bound by an assurance, if the basic facts or legal basis of the case change to such an extent that, had the authority known of the subsequent change, it would not have given the assurance or could not have done so for legal reasons. Art. 65 Types and legality of an administrative act (1) An administrative act may 1. impose obligations (disadvantageous administrative act), 2. bestow a benefit (beneficial administrative act), 3. describe in a legally binding way rights, duties and status determined by a law (declaratory administrative act), 4. dedicate legal characteristics, especially status to physical objects (dedicational administrative act). (2) An administrative act is lawful, if the issuing public authority acts within its territorial and substantial jurisdiction, observes the procedural legal requirements, and if it is, on the basis of correctly investigated facts, substantively consistent with the legal conditions determined by the legal authorisation in the meaning of Art. 4, paragraph 1. Art. 66 Fictitious administrative act after expiry of deadlines (1) Where a party requests a written administrative act, the public authority shall announce in writing a deadline within which the administrative act will be notified, if the administrative procedure cannot be completed within fi fteen days. The announced deadline shall be as short as possible but no longer than one month. It shall start from the time when the party has provided all necessary documents and fulfi lled its obligations stipulated under Art. 43 .
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 (2) When justified by the complexity of the issue, the competent authority may extend the deadline once for a limited time proportionally to the complexity of the issue. The extension and its duration shall be duly motivated and shall be notified to the party before the original deadline has expired. (3) Failing a response within the deadline set or extended in accordance with paragraph 2, the administrative act shall be deemed to have been issued. This fiction does not apply if differently regulated by special law, justified by overriding reasons relating to the public interest, including a legitimate interest of third parties. Art. 67 Additional stipulations to an Administrative Act (1) An administrative act which a person is entitled to claim may be accompanied by an additional stipulation only when this is permitted by law or when it is necessary to ensure that the legal requirements for the administrative act are fulfi lled. (2) If public administration exercises discretion, the administrative act may, after due consideration, be issued with: 1. a stipulation to the effect that a privilege or burden shall begin or end on a certain date or shall last for a certain period (time limit); 2. a stipulation to the effect that the commencement or ending of a privilege or burden shall depend upon a future occurrence which is uncertain (condition); 3. a reservation regarding annulment or repeal; 4. a stipulation requiring the beneficiary to perform, suffer or cease a certain action (obligation). (3) An additional stipulation may not counteract the purpose of the administrative act. Art. 68 Formal and substantial requirements of a written Administrative Act (1) Every administrative act processed in writing shall contain 1. an introduction stating the name of the authority, addressee, the date when processed, the name of the acting official person, 2. the decision, 3. the statement of grounds, 4. the information regarding legal remedies, including indication of the public authority or the court where the legal remedy has to be lodged and the deadline for lodging.
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(2) If not provided otherwise by law, the acting official person has to sign the administrative act. Art. 69 Grounds for an Administrative Act (1) The statement of grounds shall give the party the opportunity to understand and control the decision. This statement of grounds shall 1. indicate the legal basis of the decision and why it is applicable; 2. mention the material grounds of the decision; 3. explain, why arguments, perspectives or objections of the party have not been fully shared in the decision; 4. summarize in a clear and concise manner the result of an investigation procedure und evaluations of the evidence; 5. list the main reasons and points of view why discretionary power was exercised in the manner as the public authority did in its decision. (2) No statement of grounds is required when 1. this derives from a legal provision; 2. the authority is granting an application or is acting upon a declaration without infringement of rights of another; 3. a general administrative act is publicly promulgated. Art. 70 Beginning and end of the validity (1) An administrative act shall become valid vis-à-vis the party for which it is intended or which is affected thereby at the moment the party is notified thereof. (2) An administrative act shall remain valid as long as it is not reversed, cancelled otherwise or expires for reason of time or for fulfi lment of the purpose of the act, or for any other reason determined by law. Art. 71 Void Administrative Acts (1) An administrative act is void where 1. it is issued in written form but does not contain the name of the issuing authority; 2. execution of the decision is not at all possible for material reasons, or 3. its execution might cause an action punishable under penal law or an misdemeanour, 4. it is passed on a matter of judicial jurisdiction or on a matter which can not be decided upon in an administrative procedure. (2) If the invalidity applies only to part of the administrative act, it shall be entirely void where the invalid portion is so substantial that the aut-
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hority would not have issued the administrative act without the invalid portion. (3) Voidness of an administrative act may at any time be declared ex officio or upon request by the party or the State Attorney by the public authority that issued it or by the administrative court. (4) An administrative act which is void shall be invalid and without any legal repercussions. Art. 72 Defects in procedure and form (1) Defects in procedure or form shall not lead to the reversal of the administrative act, if after its issuing: 1. the application necessary for the issuing of the administrative act is subsequently made; 2. the necessary statement of grounds is subsequently provided; 3. the necessary hearing of a party is subsequently held and considered by the public authority; 4. the necessary affi rmative decision of a committee whose collaboration is required in the issuing of the administrative act is subsequently taken; 5. the necessary collaboration of another authority or committee is subsequently obtained. (2) Actions referred to in paragraph 1 may be made good up to the date of decision on the administrative objection. Art. 73 Reversal of an unlawful Administrative Act (1) An unlawful administrative act may, even after it has become non-appealable, be reversed wholly or in part for the purpose of aligning it with the law. (2) According to paragraph 1 the administrative act may be annulled with retrospective effect or repealed with effect for the future. Annulment deletes all legal repercussions the administrative act has produced. Repeal stops legal repercussion for the future. (3) A beneficial administrative act may be annulled only, if: 1. it is obtained by coercion, extortion, blackmail, false pretences, threat, bribery or other criminal act, 2. the party was aware of its illegality or was unaware thereof due to gross negligence, 3. it represents obvious breach of substantive law or jurisdiction; or 4. it is obtained by violation of EU law. (4) An unlawful beneficial administrative act
may be repealed, if it is based on substantially incorrect or incomplete information given by the party. (5) The discretionary decision on the reversal of a beneficial administrative act shall consider that the party’s reliance upon the continued existence of the administrative act may deserve protection, if appropriate even by fi nancial compensation. (6) Decisions concerning reversal shall be made by the public authority competent for the administrative matter under Art. 7 and 8 of this Law. (7) If the authority learns of facts which justify the reversal of an unlawful administrative act, the reversal may only be made within one year from the date of gaining such knowledge. This shall not apply in the case of paragraph 3 of this article. Art. 74 Reversal of a lawful Administrative Act (1) A lawful beneficial administrative act may, even when it has become non-appealable, be repealed when 1. repeal is permitted by law or the right of repeal is reserved in the administrative act itself; 2. the administrative act is combined with an obligation which the beneficiary has not complied with or not within the time limit set; or 3. in order to prevent or eliminate serious and direct threat to human life or health, public safety, public peace and order, if this cannot be eliminated by other means less effecting acquired rights. (2) A lawful administrative act which provides for a one-time or continuing payment of money or a divisible material benefit for a particular purpose, or which is a prerequisite for these, may be annulled even after that time as it has become non-appealable, if 1. the money or the material is not used for the purpose for which it was designated in the administrative act, be it not used either at all or not without undue delay or no longer; 2. the administrative act had an obligation attached to it which the beneficiary either fails to satisfy or does not satisfy within the stipulated period. (3) Art. 73, paragraph 6 and 7 apply mutatis mutandis to paragraph 1 and 2 of this article. (4) In the event of a beneficial administrative act being repealed in cases covered by paragraph 1 no. 3 of this article, the authority shall upon application compensate the disadvantage.
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 Art. 75 Reimbursement Where an administrative act is annulled, or where it becomes invalid as a result of the occurrence of a condition which renders it ineffective, any payments or contributions which have already been made shall be returned; the relevant provisions of civil law on surrendering undue enrichment apply. The amount of such a reimbursement shall be stipulated in a written administrative act. Chapter II Administrative Contract Art. 76 Admissibility of administrative contracts (1) A legal relationship under administrative law may be constituted, amended or reversed by agreement (administrative contract), if the nature of the administrative matter does not confl ict with using the contractual form, and the public authority is authorised by law to decide on the administrative matter on its discretion, and contractual form is not excluded by law. (2) The public authority may, instead of issuing an administrative act, conclude an administrative contract with the person to whom it would otherwise direct the administrative act. (3) An administrative contract requires written form, unless a stricter form is prescribed by law. Art. 77 Compromise agreements The authority may conclude an agreement under administrative law, which eliminates an uncertainty existing even after due consideration of the facts of the case or of the legal situation by mutual yielding (compromise). Art. 78 Exchange agreements (1) In an administrative contract the party may bind itself to deliver something in return to an action of the public authority. The deliverable must be given for a determined purpose and serve the public authority in fulfi lment of its public tasks. The deliverable must be materially connected with the action of the public authority in matter and must be proportionate. (2) If the party can claim the action of the public authority, only such deliverables of the party may be agreed which can be subject of additional stipulations under Art. 67 .
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Art. 79 Agreement affecting third parties or authorities (1) An administrative contract which infringes upon the rights of a third party shall become valid only when the third party gives his consent in writing. (2) If an agreement is concluded instead of issuing an administrative act, which by law would require the consent, confi rmation, approval or opinion of another authority, the agreement becomes valid only after the prescribed participation of that authority. Art. 80 Voidness of an administrative contract (1) An administrative contract shall be void when its invalidity derives from the appropriate application of provisions of the Civil Code. (2) An administrative contract shall also be void when: 1. an administrative act with equivalent content would be void; 2. the conditions for conclusion of a compromise agreement were not fulfi lled and an administrative act with similar content would be unlawful not merely for a deficiency in procedure or form under Art. 72 ; 3. the authority requires a deliverable which is not permissible under Art. 78, paragraph 1. (3) If only a part of the agreement is void, it shall be invalid in its entirety, unless it can be assumed that it would also have been concluded without the part which is void. Art. 81 Adaptation and termination due to change of basic circumstances (clausula rebus sic stantibus) (1) If the circumstances, which determined the content of the agreement have altered since the agreement was concluded so substantially that one party of the agreement cannot reasonably be expected to adhere to the original provisions of the agreement, this party may demand that the content of the agreement be adapted to the changed conditions or, where such adaptation is impossible or not reasonably to be expected of the other party, may terminate the agreement. (2) The authority may also terminate the agreement in order to ensure public peace and safety or eliminate immediate threat to human health or life or property. (3) Termination must be in written form, except where the law prescribes another form. Reasons for termination must be stated.
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Art. 82 Supplementary application of provisions Apart from Arts. 76–81 other provisions of this Law are applicable to administrative contracts as appropriate to the purpose of contractual relationship. If there is no regulation provided in this Law, the provisions of the Civil Code are applicable as appropriate. Chapter III Other Forms of Administrative Actions Art. 83 Other forms of administrative actions under administrative law (1) Other forms of administrative actions under administrative law include provision of information, delivery of public services, and establishment of physical facts and performance of other activities according to Art. 3, paragraph 3 of this law. (2) Other forms of administrative actions under administrative law shall be performed in conformity with the law, in particular within the territorial and substantial jurisdiction of the acting public authority. (3) Details of other forms of administrative actions under public law may be regulated by special law. Art. 84 Indirect fulfi lment of public tasks by allocating them to a public service provider (1) If a public authority fulfi ls its public tasks indirectly by establishing a public-private partnership or by any other form of allocating them to a public service provider, the public authority shall, by executing its supervisory responsibility towards the public service provider, ensure that all public service obligations are fulfi lled. The supervisory responsibility of the public authority includes in particular to ensure continuity, universality, affordability and adequate quality of the service, transparency of procedures and non-discrimination of the public service user. (2) Indirect fulfi lment of public tasks in the meaning of paragraph 1 of this article shall be in compliance with EU law and must not lead to less legal protection of public service users.
Art. 85 Actions of a public authority under private law (1) The public authority may use the form of private law to fulfi l public tasks. If the public authority decides basically on granting a subsidy, provision of public services, or performance of other administrative actions under public law, it may use for the detailed accomplishment of these actions the form of private law. Application of private law must in no case lead to diminishing citizen’s civil rights. (2) Actions of a public authority under private law are admissible only, as far as the law does not regulate otherwise. Part IV Legal remedies Art. 86 Rights of legal remedy (1) The party shall have the right to legal remedy against every administrative action or omission of such action. (2) Legal remedies shall be: 1. administrative objection regarding an administrative act; an administrative objection against a procedural measure is admissible only, if regulated by law; 2. reopening of the procedure; and 3. complaint regarding other administrative actions or omissions. (3) Unless otherwise regulated by law, a legal remedy is admissible only if the party claims that its individual rights or legal interests were infringed by the administrative action or omission. (4) The state attorney, other public authorities or civil society organisations, as far as authorised under the law, may lodge a legal remedy against an administrative action violating the law in favour of an individual or a legal person and to the detriment of the public interest. (5) The fi nal decision on a legal remedy is subject to judicial control. Chapter I Objection against administrative act Art. 87 Range of the administrative objection procedure (1) The purpose of an administrative objection procedure is to comprehensively examine the legality and expedience of an administrative act. If
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 the administrative objection is restricted to divisible parts of the administrative act, the administrative objection procedure is restricted on the objected part. (2) The aim of an administrative objection may be 1. the modification or annulment of an administrative act (rescissory objection); this includes the possibility to reverse the administrative act ex tunc or ex nunc or to declare it null and void; 2. the issue of an administrative act which has been refused by decision (objection for mandatory injunction); 3. the issue of an administrative act which the party has applied for, if the public authority has not reacted on the application (objection for administrative inaction); 4. the issue of an administrative act, which declares that a previous administrative act, which has no longer any legal consequences, was unlawful, provided the party has a reasonable interest. Art. 88 Necessity of the procedure of administrative objection for an administrative dispute (1) The procedure of administrative objection is a preliminary requirement for any dispute before the Administrative Court. (2) Examination of the case in an administrative objection procedure is not required for an administrative dispute where 1. the administrative action was taken by a supreme state, regional or local authority; 2. a third party is aggrieved for the fi rst time by an administrative decision on an objection; 3. explicitly excluded by law. Art. 89 Lodging the objection (1) The objection shall be submitted in writing or made in person for recording. It shall specify the administrative act against which it is lodged or that is requested. (2) An administrative objection not labelled as such must not be rejected if the intention of the party to attack or attain an administrative act is clearly recognisable. (3) An administrative objection is to be lodged with the public authority, in whose competence the administrative act in question falls (fi rst instance public authority). If the objection has been lodged directly to the second instance authority this shall forward it immediately to the fi rst instance authority. As regards the deadline, an administrative objection lodged directly to the se-
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cond instance authority shall be considered as having been lodged to the fi rst instance authority directly. (4) An administrative objection directed for administrative inaction is to be lodged with the second instance public authority. An administrative objection lodged to the fi rst instance authority shall be immediately forwarded to the second instance authority accompanied by an explanation why the decision has not been issued and shall be considered as having been lodged to the second instance authority directly. Art. 90 Deadlines for lodging an objection (1) Administrative objections shall be submitted within a period of 15 days of the aggrieved party being notified of the administrative act or after the administrative act considered as unlawful has lost its legal consequences. (2) An administrative objection for inaction may be lodged not earlier than 7 days and not later than 6 months upon expiry of the deadline set for the administrative action. (3) If the administrative act was issued without or with deficient information regarding legal remedies in the meaning of Art. 68 of this Law, the lodging of the administrative objection is permissible only within 6 months from notification of the administrative act. Art. 91 Suspensory effect (1) An objection suspends legal consequences of the administrative act, as long as the decision on the objection has not been delivered to the party, unless otherwise regulated by law. (2) The public authority may decide to abolish the suspensory effect on the grounds of particular public interest. This decision may be issued by the second instance public authority while involved in the procedure of administrative objection. In addition to the grounds according to Art. 69, paragraph 1 of this Law, the decision shall include justification of the particular public interest. (3) The administrative court may upon request of the party cancel the abolishment from paragraph 2 of this article. Art. 92 Prolonged suspensory effectArt. 91 (1) At the request of the party, the public authority deciding on the administrative objection may prolong the suspensory effect until the decision is fi nal and absolute, unless provided otherwise by law.
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(2) The postponement is permitted, if the enforcement would cause damage to the party which would be difficult to reverse, unless postponement is against the overriding public interest or would cause greater irreparable damage to a third person. Art. 93 Procedure and powers of the fi rst instance public authority (1) The fi rst instance public authority shall examine whether the administrative objection is admissible, which includes whether it is timely, in proper form, and lodged by the authorised person. Should the fi rst instance public authority fi nd the objection to be admissible, it shall examine the legality of the administrative act. (2) Should the fi rst instance public authority fi nd the objection to be admissible and justified, it shall substitute the defect administrative act by a correct one, but only in favour of the party. (3) Where the fi rst instance public authority does not meet the administrative objection completely, it shall forward it to the second instance public authority without delay, accompanied by all relevant fi les and a written explanation why the administrative objection was not accepted. Art. 94 Prolongation of the suspensory effect by the administrative court (1) The administrative court decides on the prolongation of the suspensory effect upon a request of the party according to the provisions of the Art. 92, paragraph 2 of this Law, if: 1. the administrative dispute on the case has been initiated, 2. the competent public authority has rejected the request of the party to prolong the suspensory effect, 3. the competent public authority does not react within the 15 days after the submission of the request, or 4. the execution is imminent. (2) The request has suspensory effect until the court decides on it. If the court does not take the decision within 6 months, the administrative act in question may be executed. Comment: Para 2 becomes obsolete once the system of administrative justice is reformed according to EU standards.
Art. 95 Principles of procedure of the second instance public authority (1) The second instance public authority has full ruling on the matter and takes the fi nal decision on the objection. It may instruct the fi rst instance public authority to conduct lacking investigations or conduct them itself. (2) As result of investigations of facts, legal examination and review of discretion, the second instance public authority shall reject the administrative objection or reverse the administrative act partly or entirely or change it. (3) If the second instance public authority should ascertain that the administrative act is void according to Art. 71 of this Law, it shall declare its voidness. (4) Where the reversal or modification of an administrative act causes harm to a third party, this third party is to be heard prior to the decision on the objection. Art. 96 Latitude of judgement of the second instance public authority (1)The second instance public authority may modify the administrative act in favour or to the detriment of the party, if not stipulated otherwise by law. (2) The second instance public authority applies Art. 72, paragraph 1 of this Law in order to correct defects in procedure or form of the disputed administrative act. (3) When the second instance public authority ascertains the administrative act as based on the law but for reasons other than those stated by the fi rst instance, it will present the new reasons in its decision and reject the administrative objection. Art. 97 Procedure of administrative objection for mandatory injunction In case of an administrative objection for mandatory injunction the second instance public authority may decide itself or shall instruct the fi rst instance authority to decide within a set deadline. In the latter case, the party must be informed that against this decision a new administrative objection may be lodged with the second instance authority. Art. 98 Procedure of administrative objection for administrative inaction (1) In case of an administrative objection for administrative inaction, the second instance pu-
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 blic authority shall without delay demand the fi rst instance authority to submit immediately, latest within 7 days, written explanation of reasons for which the administrative act has not yet been issued. (2) Should the second instance public authority establish that the fi rst instance public authority did not issue the decision for justifi able reasons or by fault of the party, a deadline not exceeding 30 days shall be set for the fi rst instance public authority to issue the administrative act. (3) Should the reasons not be justifi able, the second instance public authority may instruct the fi rst instance public authority how to act and set a deadline not exceeding 30 days, or rule upon the matter. (4) The second instance public authority, as soon as involved in the case, shall inform the party without delay about the further course of the procedure indicating the expected deadline of the fi nal decision. (5) If the second instance public authority does not react within a period of 30 days from the forwarding of the fi les, direct access to the administrative court is admissible. This shall apply, too, if the information according to paragraph 4 has not been given within 30 days from the lodging of the administrative objection. Art. 99 Decision of the second instance public authority (1) In addition to the requirements of Art. 68 and 69 , the statement of the grounds of the decision on the administrative objection shall in particular contain assessments of all statements of the administrative objection made by the party. (2) The decision of the costs of the procedure of an administrative objection is to be made in accordance with Art. 127. (3) The decision on an administrative objection shall be formally delivered. Art. 100 Procedure on objections conducted completely by a fi rst instance public authority (1) The procedure on the objection is to be conducted completely by 1. the public authority, which issued the disputed administrative act, in cases where a second instance public authority does not exist, 2. the self-governing authority, which issued the disputed administrative act, in cases related to self government matters and where nothing to the contrary is provided in the law.
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(2) A public authority, which has to decide on objections in accordance with paragraph 1 of this article, shall establish for such procedures a separate unit, be it an office or a collegiate body that decides independently on the objection. (3) For the procedure on objections conducted completely by a fi rst instance public authority Art. 94 to 99 are applicable mutatis mutandis. Chapter II Reopening of Procedure Art. 101 Reopening of Procedure (1) The public authority shall, upon request by the party affected, decide concerning the reversal or amendment of an administrative act against which an administrative objection is inadmissible for expire of deadline when 1. the material or legal situation basic to the administrative act has subsequently changed to favour the party; 2. new evidence is produced which would have led to different decision. (2) The public authority competent for the administrative matter according to Art. 7 and 8 of this Law, shall reverse the administrative act, if it would be unlawful when issued under the now prevailing circumstances cited in paragraph 1 of this article. (3) The submission of the request is admissible if the party was unable to enforce the grounds for reopening in an earlier objection procedure, and the application has been made within three months, this period beginning with the day on which the party affected learnt of the grounds for reopening of procedure. Comment: Inadmissibility of the reopening procedure does not affect the right of the public authority to reverse in accordance with Art. 73 and 74 of this Law an administrative act, on or without request of the party. Chapter III Complaints against other administrative action or omission Art. 102 Purpose and aims of the administrative complaints (1) The purpose of an administrative complaint is to examine comprehensively the legality of an administrative action or omission other than administrative act.
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(2) With the administrative complaint the party may request: 1. the performance of other administrative action or service to which the party is entitled by law, 2. the defence against illegal action of a public authority; 3. the declaration of a right to other administrative action or non-action. Art. 103 Administrative complaints regarding administrative contracts (1) In connection with an administrative contract, the aim of an administrative complaint is to ensure the public authority’s compliance with its contractual obligations. (2) In case of defaults in performance of the administrative contract, the aim of the complaint may be fulfi lments of claims stipulated by law, including the liability to pay damages. (3) The aim of a complaint may be the declaration of validity and content of an administrative contract. Art. 104 Administrative complaints in the case of indirect fulfi lment of public tasks (1) In the case of indirect fulfi lment of public tasks by allocating them to a public service provider, the aim of an administrative complaint may be that the public authority exercises its supervisory authority over the public service provider, in order to ensure that the public service provider meets his obligations in accordance with Art. 84, paragraph 1 of this Law. (2) A complaint of a public service user against the supervisory authority is admissible only, where for the matter in dispute a direct legal remedy under administrative law against the public service provider does not exist. Art. 105 Administrative complaints against other administrative action under administrative law In connection with other administrative action in the sense of Art 83, paragraph 1 of this Law, an administrative complaint may in particular aim at: 1. the revocation or rectification of a public declaration, 2. compensation of damages in case of public liability, 3. performance of an administrative action, if public authority failed to act at all.
Art. 106 Lodging the administrative complaint (1) For lodging an administrative complaint, Art. 89 of this Law apply mutatis mutandis. (2) In the cases of Art. 103, 104 (D12, D13), and 105 points 1 and 2, the complaint must be lodged within the period of 15 days after the party has got the opportunity to take notice of the matter of dispute. (3) In case of Art. 105 point 3, the Art. 90 , paragraph 2 applies mutatis mutandis. Art. 107 Procedure of the administrative complaint (1) In case of Art. 104 the procedure is to be undertaken by the public service provider’s supervisory authority. The complaining party shall be informed by the supervisory authority without delay about the supervisory measures undertaken. (2) In cases of Art. 103 and 105 , points 1 and 2, the procedure is undertaken by the fi rst instance public authority. As far as it was not decided according to the complaint, the party may submit a legal remedy to the competent second instance authority. This shall decide within a period of 15 days started from lodging the legal remedy. (3) The involvement of the second instance authority is a preliminary requirement for a dispute before the administrative court; in cases of Art. 100, paragraph 1, the administrative dispute is admissible against the fi rst instance decision on the complaint. (4) In case of Art. 105 point 3, Art. 98 applies mutatis mutandis. (5) For the decision of the costs of the procedure of an administrative complaint Art. 127 applies mutatis mutandis. Part V Notification Chapter I Notification of administrative actions Art. 108 Principles of Notification (1) Notification is the intentional utterance of an administrative action by a public authority visa-vis a party or another person involved in the administrative procedure. (2) If not otherwise stipulated by law the public authority is free to decide the appropriate way of notification of administrative actions with
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 respect to legal protection of the party, transparency and cost-effectiveness. Art. 109 Forms of Notification (1) The notification vis-à-vis a party present can be done verbally or in any other appropriate form of communication. (2) A written document can be notified by handing over, by posting, by sending it electronically or in any other appropriate form. (3) Delivery is the special form of notification by handing over documents to the party as regulated in this Law. (4) Notification shall be done vis-à-vis to the party personally unless it has informed the public authority of the authorisation of a particular person (representative according to Art. 25 or an agent to receive according to Art. 112 of this Law to whom notifications shall be done. (5) A written document shall be deemed notified on the third day after posting if posted to an address within the Republic of Croatia. A document sent electronically shall be deemed notified on the third day after sending. (6) Paragraph 5 of this article shall not apply if the document was not received or was received at a later date; in case of doubt the public authority must prove the receipt of the document and the date of receipt. Art. 110 Sites of notification The sites of notification to the party may be: 1. the place, where the party is present, 2. the residence or other place of lodging of the party, 3. the seat of the party if it is a legal person, 4. the place of work of the party, 5. business premises or office of the party, or 6. other appropriate place specified by the party. Art. 111 Notification to representatives, agents to receive or lawyers (1) The party may give notice to the public authority of the authorisation of a particular person (agent to receive) to whom all notification is to be done. (2) Notification to representatives according to Art. 25 of this Law or agents to receive according to paragraph 1 of this article shall be considered as done to the party. Notification of a document to a lawyer representing a party may also be done by handing over the document to any employee of the lawyer’s office.
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Art. 112 Joint agent to receive (1) When more than 50 parties participating in the procedure with identical claims do not have a joint representative, they shall nominate at the public authority’s request an agent to receive. Until they have not done so, the public authority may appoint a joint representative according to Art. 27, paragraph 2 of this Law. (2) In the document notified to the joint agent, all parties to whom the notification is being done shall be indicated. Art. 113 Notification to public authorities and other subjects (1) Notification to state, regional and local bodies, institutions and other legal persons shall be done towards the authorised person or the person appointed to receive, unless otherwise stipulated. (2) If subunits, localities or groups of persons take part to the procedure notification shall be done to the person authorised or appointed by them. Art. 114 International notification (1) Notification of the party abroad may be done: 1. by registered mail with return receipt, 2. by the competent public authority abroad upon request of the public authority, whose document has to be notified, or 3. by competent diplomatic or consular representation of the Republic of Croatia. (2) Notification to foreign countries, international organisations and persons enjoying diplomatic immunity shall be done through the state administration body in charge of foreign affairs, unless stipulated otherwise. Art. 115 Notification to detained persons Notification to detained persons shall be done through the administration of the institution of detention. Chapter II Delivery as special form of notification Art. 116 Notification by delivery (1) The notification of a written administrative act or another document has to be done by deli-
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very, if this is stipulated by law or upon the decision of the public authority. (2) If not stipulated by law otherwise delivery may be carried out in the form of hand delivery, indirect delivery or public delivery according to Art. 117 to 119 of this Law. Art. 117 Hand delivery (1) Delivery is to be done by hand to the person to whom the document is addressed 1. when such delivery is stipulated by law or 2. when the public authority, which ordered the delivery, so stipulates in particular. (2) Where hand delivery to the party or representative prolongs the procedure considerably, the public authority may order the party to appoint an agent to receive. Should the party fail to act upon such order, the public authority may deliver the document by public delivery. (3) When a party to whom hand delivery is to be done has not been found at the site of notification according to Art. 110 of this Law, the courier shall deposit a written announcement of the attempted delivery and a forthcoming second attempt of delivery, which may not take place prior to 24 hours after the fi rst attempt. The courier shall include the date and time of the attempt and his signature. (4) The document shall be delivered to the office of postal service provider closest to the site of delivery or returned to the public authority, if the delivery is done by official courier of a public authority, in cases when. 1. the courier failed to meet the party even after the second attempt, 2. the addressee declined to receive document. (5) In cases of paragraph 4 of this article the courier shall leave a signed message at the site of delivery informing the party of the location where the document can be obtained, date and time of last attempt of delivery and the legal consequences of not obtaining the document. The delivery shall be considered completed after the expiry of 15 days after the message has been left at the site of delivery. Art. 118 Indirect Delivery (1) In cases in which hand delivery is not obligatory and the addressee has not been found at the delivery site, the document may be handed over by indirect delivery to any adult member of the addressee’s household in case of Art. 110 , point 2,
or to an employee of the party in case of Art. 110, points 3 and 5 of this Law. (2) Indirect delivery specified in paragraph 1 shall not be done to a person participating in the same procedure with an adverse interest. (3) If it has been established that the addressee is absent and persons specified in paragraph 1 are not willing or unable to transfer the document in due time, the document shall be left in the letterbox of the addressee. In this case the time and date of delivery and legal consequences as stipulated under paragraph 4 of this article shall be notified on the envelope. (4) Delivery shall be considered completed upon the expiry of 7 days from the day of receipt through persons specified in paragraph 1 or when the document was left in the letterbox according to paragraph 3 of this article, except where the party proves that the document has not reached the party or has done so at a later date. Art. 119 Public delivery (1) Public delivery shall be done by displaying an document on the notice board of the public authority: 1. if a site of notification could not be identified and delivery is not possible according to Art. 110 of this Law, 2. if a large number of parties defi ned or defi nable on the basis of general characteristics according to Art. 63, paragraph 2 of this Law, is involved in the administrative procedure and other forms of delivery are impossible or impracticable, or 3. in other cases stipulated by law. (2) Delivery shall be considered as completed upon expiry of 15 days from the date of the notification on the notice board. Due to justified reasons, the deadline may be extended by the public authority. Date of displaying and date of expiry of the deadline shall be notified on the document. (3) In addition to publicly displaying the document on the notice board, the public authority may publish it in the newspapers, on its web site or in any other customary ways. Art. 120 Time of Delivery (1) Deliveries shall be carried out only during working days in the time between 7 and 19 hours, unless for exceptionally important reasons the public authority stipulates otherwise. (2) Electronic delivery may be carried out at any time.
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Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 Art. 121 Delivery note (1) The completed delivery shall be certified by a delivery note. This note shall be signed by both the party or other person authorised to receive and the courier. The addressee shall write the date of receipt on the delivery note. (2) If the addressee should be illiterate, unable to sign, or in case of indirect delivery from Art. 118, paragraph 3 of this Law, the courier shall write on the delivery note his/her name with the date of delivery and an indication as to why the addressee did not sign. (3) If delivery has been done as stipulated under Art. 117, paragraphs 4 and 5 of this Law, the delivery note shall bear the date of the signed message and the date of referral of the document to the office of the postal service provider or the public authority respective. (4) If delivery was done to any of the persons stated under Art. 118, paragraph 1 of this Law the courier shall write on the delivery note the person to whom he handed over the document and his/her relation to the addressee. Art. 122 Change of address of the representative or the agent to receive If the representative or agent to receive should change place of residence or address in the course of the procedure and should fail to inform the public authority conducting the procedure thereof, delivery may be done as if no representative or agent to receive had been appointed. Art. 123 Errors in delivery If an error should be made in connection with the delivery, which could have detrimental impact on the legal situation of the party, the delivery shall be considered done on the day, which has been established as the actual day of notification the addressee of the document . Chapter III Electronic Notification Art. 124 Notification of Electronic Documents (1) In order to notify an electronic document, the public authority shall inform the addressee to the effect that the document is available for retrieval by the party on a server designated by the public authority. To retrieve the document, the
addressee shall identify itself at the time of retrieval of the document. (2) The document shall be deemed notified upon retrieval from the server. If he document is not retrieved within three days of the information, the public authority shall repeat it. If the document is not retrieved three days after the second information, the public authority shall notify it by other appropriate means. Part VI Costs Art. 125 Costs of administrative procedure and expenses of parties (1) Unless provided differently the public authority shall bear the costs of the fi rst instance administrative procedure. Any legal provisions concerning legal fees remain unaffected. (2) As a rule each party shall bear its own expenses caused by the administrative procedure. Also each party shall bear its own expenses related to the administrative procedure closed by a settlement, unless otherwise stipulated in the settlement. Art. 126 Fees and Compensation of Costs (1) Witnesses, experts, translators, interpreters and representatives appointed according to Art. 26 shall receive compensation for expenses incurred due to administrative procedure from the public authority which has called them in. Apart from this, translators, interpreters and experts are entitled to claim a fee, experts in addition expenses of expertise. As far as regulated by law, the public authority may demand reimbursement from the party. (2) Entitled persons shall submit request for compensation of costs or fees within 30 after the day of hearing or issuing the expert opinion. Failing that, they shall loose that right if the official person conducting the procedure has cautioned about the deadline. (3) The public authority decides on the amount of costs and fees according to special regulations. The provisions of the law regulating civil procedure shall apply mutatis mutandis. Art. 127 Costs of the procedure of administrative objection (1) The administrative act terminating a procedure of administrative objection Art. 94 to 100
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shall comprise a decision whether and to which extent the fi rst instance public authority or the party has to bear the costs of the objection procedure. (2) As far as an administrative objection is successful, the public authority, which issued the disputed administrative act, shall refund to the party its necessary costs caused by the objection procedure. This shall also apply, where the administrative objection is unsuccessful only because the infringement of a provision regarding procedure or form does not lead to the reversal of the administrative act in accordance with Art. 72 , or where it is unsuccessful only because the second instance presented new reasons in its decision in accordance with Art. 96, paragraph 4. (3) As far as the administrative objection is unsuccessful, the party lodging the objection shall refund to the public authority issuing the disputed administrative act the necessary costs caused by the objection procedure. (4) To be refunded are only 1. travel expenses of the party or the official person, 2. costs and fees as stipulated in Art. 126 . (5) Fees and expenses of a proxy involved in the procedure are refunded only when his involvement was declared necessary in the decision on the objection. (6) No refunding takes place when the amount does not exceed 500 kn. Art. 128 Exemption from payment of costs (1) The public authority may exempt the party from bearing the costs of the objection procedure entirely or in part if it establishes that the party cannot bear the costs without affecting necessary providing for itself and its family. It shall issue an administrative act about it upon motion by the party, based on a certificate of his/her income scale issued by the authorised body. (2) The public authority may in the course of procedure repeal the decision on exemption from bearing costs if it establishes that reasons exempting the party from bearing the costs are no longer valid.
Part VII Execution Art. 129 Pre-requisites of execution (1) An administrative act to realise fi nancial claims or non-fi nancial obligations may be executed after it has become enforceable. (2) A fi rst instance administrative act, unless the suspensory effect was prolonged in accordance with Art. 92 and 93 (D5a and Art. D5b), shall become enforceable: 1. upon expiry of the deadline for administrative objection if this has not been lodged; 2. by delivery to the party if the administrative objection is not permitted; 3. by delivery to the party if the administrative objection has no suspensory effect. (3) An administrative act against which an objection has been lodged within the deadline, shall become enforceable, unless the suspensory effect was prolonged in accordance with Art. 92 and 93 (D5a and D5b): 1. by delivery of the fi nal decision on the objection to the party, if the administrative act has remained unaffected, or 2 by issuing the fi nal decision on the objection, if the administrative act has been changed. (4) Execution may be carried out on the basis of an administrative contract or settlement of the parties. (5) If the administrative act should involve two or more parties who participate to the procedure with identical request, an objection lodged by any of these parties shall postpone execution towards all parties involved. (6) Upon expiry of a five year deadline form the date at which the administrative act has become enforceable its execution can not be requested. Art. 130 Immediate enforcement (1) The competent public authority may apply the means of enforcement of Art. 135 or 137 of this Law without issuing an administrative act before, if: 1. an administrative act to realise non-fi nancial obligation cannot be issued in time, and 2. extremely urgent measures must be taken for the purpose of insuring public peace and safety or of eliminating immediate threat to human health or life or property, and 3. no party or its representative is at hand. (2) Upon request by the party the public authority must issue an administrative act from para-
Neues Verwaltungsrecht in Kroatien – Annex 3 graph 1 of this article in writing to the party within eight days at the latest upon submission of the request. This request by the party may be submitted within two months following the date of the enforcement. Art. 131 Execution of fi nancial obligations (1) Execution for fulfi lment of fi nancial obligations shall be implemented by court under regulations applying to court execution on request of the public authority which issued the administrative act. The request shall contain information regarding enforceability of the administrative act. (2) As derogation, execution for fulfi lment of fi nancial obligations from payment based on employment may be implemented by administrative way upon consent by the person subjected to execution. Art. 131 Execution of fi nancial obligations – alternative proposal For the execution of fi nancial obligations under public law, the competent public authority applies the regulations of court execution mutadis mutandis. Note: Implementation of such a new system needs at least a period of five years for transition. Art. 132 Principle of proportionality of execution (1) Execution shall be carried out in the way and by applying those means leading to the goal most lenient to the person subjected to execution. (2) On Sundays, public holidays and at night actions of execution may be carried out only if there is risk of postponement and with written order by the public authority implementing execution. Art. 133 Addressee of the execution (1) Execution shall be implemented against the person who is under obligation of fulfi lling a commitment (person subjected to execution) or his legal successors. (2) Execution shall be implemented ex officio when required under public interest. Execution in the interest of the party shall be implemented upon request by the party (execution requester).
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Art. 134 Jurisdiction for execution of non-fi nancial obligations (1) Administrative execution of non-fi nancial obligations shall be implemented by the public authority which ruled on the matter in the fi rst instance unless another authority is stipulated for this purpose under special regulations. (2) If stipulated that administrative execution may not be implemented by the public authority which ruled upon the matter in the fi rst instance, and a public authority authorised to do that is not stipulated under special regulations, execution shall be implemented by the fi rst instance state administration body having jurisdiction over general administration affairs. Art. 135 Execution of non-fi nancial obligations through third persons (substitute performance) (1) If the obligation of the person subjected to execution should consist of actions that may be implemented by third persons and the person subjected to execution has failed to implement it or has implemented only in part, such action shall be implemented through third persons, at the expense of the person subjected to execution. (2) In such cases the public authority having jurisdiction over execution may order the person subjected to execution to deposit an advance necessary to cover execution expenses, calculating the exact amount later. Art. 136 Execution of non-fi nancial obligations by coercive fi nes (1) The public authority may force the person subjected to execution by coercive fi nes, if he/she does not fulfi l the commitment of the administrative act, and if a substitute performance is not possible or inappropriate to achieve the goal of execution. (2) The amount of a coercive fi ne is determined by separate administrative act between xx and xx kn. In its computation also the economic situation of the person subjected to execution and the goal of execution are relevant. (3) In case of a further non-fulfi lment of the administrative act, another and higher fi ne shall be determined. This may be repeated several times if necessary. (4) Coercive fi nes shall be executed in accordance to paragraph 1 of Art. 134 of this Law.
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Art. 137 Execution of non-fi nancial obligations by direct coercion If the aim of the execution of a non-fi nancial obligation cannot be achieved at all or on time by application of means stipulated under Art. 135 and 136 of the present Law, execution, according to the nature of the obligation, may be implemented by direct coercion unless otherwise stipulated by law. Art. 138 Previous warning of enforcement of non-fi nancial obligations (1) Except in case of immediate enforcement, the person subjected to execution must be warned that means of enforcement would be applied should he fail to fulfi l his obligation. The warning is an administrative act. (2) The warning shall be issued in writing and formally delivered. It shall be issued at the same time with the administrative act containing the obligation or later if the necessity to notify means of enforcement arises later. In the latter case no further hearing of the party is necessary. An objection against the warning must only concern the means of enforcement and has no suspensory effect. (3) The warning should include the date, hour and way of the planned execution. If this is not yet possible at the time of issuing the warning, this should be done later. (4) The warning must stipulate an appropriate deadline for fulfi lment, unless the order has to be fulfi lled immediately. If an administrative objection is lodged causing a suspensory effect, a new deadline has to be fi xed by the fi nal decision on the objection. (5) The warning must describe the notified means of enforcement. If a substitute performance from Art. 135 of this Law is notified, the estimated costs of the execution must be communicated if possible. The warning of a coercive fi ne from Art. 136 of this Law must inform about the amount.
Art. 139 Suspension and postponement of execution (1) Administrative execution shall be suspended ex officio and implemented actions annulled if it has been established that 1. the obligation has been fulfi lled, 2. execution was not at all permitted, 3. it was implemented towards a person unburdened by obligations, 4. the appellant for execution has renounced to his request, 5. the administrative act that serves as ground for the execution has been annulled or repealed, or 6. in other cases regulated by law. (2) Administrative execution shall be postponed if: 1. it has been established that a grace period is permitted on execution, 2. a different administrative act substitutes the act which is being executed, or 3. a suspensory effect has been established later according to Art. 92 or 93 of this Law. Art. 140 Consequences of the execution of the annulled or altered administrative act (Compensation) (1) When execution has been implemented and the underlying administrative act has later been annulled or altered, the person subjected to execution shall have the right to request that what has been taken from him be returned or to request reinstatement to the state ensuing from the new decision. (2) The public authority which approved execution shall rule on the request of the person subjected to execution. Part VIII Concluding and transitional provisions Open to fi nal completion by the Sabor
Sobre la evolución jurídica de la noción de dignidad del hombre en España por
Alberto Oehling de los Reyes*, Universidad de las Islas Baleares I. Introducción La dignidad de la persona es una noción que se ha ido afianzando a lo largo del devenir histórico.1 La recepción en la Constitución española de 1978 de la dignidad de la persona es un resultado muy perfeccionado de la forma tradicional de comprensión de dicha noción a lo largo de la historia, pues aun cuando su acogida por el constituyente encierra ya un logro normativo excepcional, sobre todo en orden a su difícil reversibilidad,2 este se puede observar como el producto de un largo proceso de consolidación determinado por la intermitente permeabilidad del legislador ante un constante esfuerzo intelectual fi losófico que se inicia muchísimo tiempo atrás. Se percibe así históricamente y en primer lugar como un mero reconocimiento de cierta dignidad individual limitada a unos pocos, gradualmente se expande a más, para fi nalmente generalizarse a todos como una noción considerablemente más amplia y vinculada al disfrute de los derechos fundamentales.3 Tal amplificación se observa pues en dos direcciones, en cuanto a contenido de su significado y en cuanto a titularidad, como una progresión que ha ido de menos a más, desde una dignidad indi*
Profesor de Derecho Constitucional de la Universidad de las Islas Baleares. Véase Gregorio Peces-Barba Martínez, Tránsito a la modernidad y derechos fundamentales, Editorial Mezquita, Madrid, 1982, p. 1–9. 2 Por cuanto, como Häberle ha destacado, “los derechos del hombre y su fundamento, la dignidad humana” posibilitarían “conformar barreras culturales que no permiten el paso atrás y fundan elementos básicos de cualquier avance constitucional hacia el futuro”. Peter Häberle, Libertad, igualdad, fraternidad. 1789 como historia, actualidad y futuro del Estado constitucional, Mínima Trotta, Madrid, 1998, p. 88. Traducción de Ignacio Gutiérrez Gutiérrez. También en, Peter Häberle, “El fundamentalismo como desafío del Estado constitucional: Consideraciones desde la Ciencia del Derecho y de la cultura”, en Peter Häberle, Retos actuales del Estado Constitucional, IVAP, Vitoria, 1996, p. 154. Traducción de J. Arzoz Santiesteban. 3 En un proceso similar al descrito por Hauriou respecto de las libertades individuales, al entender éstas como “derechos individuales que, antes de extenderse a todos los miembros de la nación, estaban reservados a privilegiados, en poder de los cuales constituían derechos de superioridad”. Maurice Hauriou, Principios de Derecho público y Constitucional, Editorial Reus, Madrid, 1927, p. 105. 1
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vidual “condicional” a una dignidad de la persona comprendida en general. Es cierto, y es importante matizar esto, que desde la perspectiva constitucional actual esa comprensión limitada y restringida en ningún caso se puede entender como dignidad de la persona. La dignidad del hombre excluye ya por su propia forma expresiva cualquier tipo de formulación condicional, comprendiéndose sólo con carácter inherente y pleno a todo ser humano, sin lugar a ninguna limitación. La dignidad de la persona se manifiesta además con carácter previo a la calificación histórico-conceptual de los derechos fundamentales.4 Si éstos aparecen sólo a partir de la Edad Moderna, los orígenes más elementales de la noción jurídica de dignidad cabe buscarlos en la Antigüedad y en la Edad Media, bien es verdad que con una forma muy limitada y restrictiva con respecto a su comprensión constitucional actual, pero ya se deja entrever levemente en sus dos sentidos tradicionales, es decir y en palabras de Häberle, como elemento de “caracterización de una posición social dentro de la comunidad” y también desde una perspectiva de “distinción de la dignidad humana respecto a la criatura no humana”.5 Un indicio claro de esa existencia previa de la noción de dignidad del individuo, en esa dimensión ambivalente, es comprobar sus formas de manifestación en los textos jurídicos hasta hoy. Lógicamente no podemos hacer aquí un análisis exhaustivo de la totalidad de ese proceso gradual hasta el momento actual. Pero la identificación del carácter histórico-jurídico de la noción de dignidad, aunque sea con base en unas notas puntuales y dentro de un determinado ámbito espacial, puede ser interesante, por un lado, sobre todo a efectos de determinar y distinguir tanto sus presupuestos más elementales como para observar si efectivamente ha sido una idea latente en el entendimiento del ser humano. Mas cuando concebir la noción de dignidad de la persona como una concepción próxima en el tiempo en cierto modo puede relativizar o desvalorizar su significado. Por otro lado, la atención prestada a tal enfoque es sugestiva e interesa a efectos de examinar cómo se ha materializado jurídicamente tal noción, en lo que Häberle ha denominado como proceso de “cristalización cultural” de los valores de la Constitución, partiendo de la idea de que la Constitución necesita encontrarse determinada y fundamentada por un “entorno contextual histórico-cultural y político que aparezca por delante y por detrás”.6 De este modo cabe construir una imagen de cómo se ha ido constituyendo la idea correcta de la dignidad de la persona, no sólo a partir de su dotación de contenido por parte de determinada posición fi losófica o línea de pensamiento, sino también enumerando las sucesivas formas en que se ha producido su paulatino reconocimiento jurídico hasta alcanzar el nivel de efectividad y aplicación constitucional práctica de dicha noción en la actualidad.
4 Véase así, Robert Spaemann, Lo natural y lo racional. Ensayos de antropología, Rialp, 1989, Madrid, p. 94. Con prólogo de Rafael Alvira y traducción de Daniel Innerarity y Javier Olmo. 5 Peter Häberle, “Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft”, en Josef Isensee y Paul Kirchof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland T.I, Grundlagen von Staat und Verfassung, CF. Müller Juristischer, Heidelberg 1987, p. 834. 6 Peter Häberle, Teoría de la Constitución como ciencia de la cultura, Tecnos, 2000, pp. 78,79. Traducción e introducción de Emilio Mikunda.
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II. La idea “condicional” de la dignidad del individuo: significación jurídica inicial Cuando hablamos de dignidad pensamos enseguida en su sentido como sinónimo de honor, de orgullo de la persona. En la raíz de su concepción generalmente se utiliza para caracterizar ese sentimiento intimo, esa sensación variable en cada individuo. En este sentido, la dignidad se supone como la propia estimación del propio valer.7 No conocemos el momento histórico de cómo o cuando exactamente se produciría su aparición como noción jurídica. Ahora bien, se puede considerar que la idea de la dignidad, como concepto jurídico autónomo, es desde antiguo conocida. De hecho, ya en el Derecho romano encontramos el concepto de dignitas como cargo público que podía ostentar un hombre en vinculación a su situación jurídica personal (status).8 También en la antigua Roma dignitas et excellentia, un valor basado en una conducta virtuosa, una actitud interior, un determinado modo de actuar y forma de comportamiento. Pero es que, además, la significación romana de dignidad también nos sugiere una superación de esa forma de interpretación de dignidad individual y su transposición como dignidad del ciudadano en general. Ihering, por ejemplo, destaca que el sentimiento y la idea de dignidad del ciudadano había llegado a tomar forma en la antigua Roma, sentimiento que surgía de su posición jurídica e implicaba una absoluta seguridad jurídica e inmunidad de su persona, así como la inviolabilidad de los derechos adquiridos.9 Típico también de esta época será el incipiente reconocimiento de la naturaleza humana del esclavo. Así, por ejemplo, aparte del reconocimiento por parte de algunos jurisconsultos, como Cicerón, que reconocían que la esclavitud era sólo consecuencia del ius gentiun y que, desde el punto de vista del ius naturale, el esclavo siempre era libre, se manifestarían, como puso de relieve Arias,10 algunas limitaciones elementales, escasas pero notables para la época, respecto a las facultades de posesión de la persona del esclavo. De la misma manera las instituciones germánicas también tendrían una visión de dignidad individual a modo de título, grado o reputación de la persona, como idea vinculada al valor y que se traducía en nobleza según los méritos.11 La presencia de los visigodos en Hispania y su posterior romanización terminará por consolidar esa con7 Una teoría sobre esta comprensión primaria de dignidad en la historia de España en Claudio Sánchez-Albornoz, España. Un enigma histórico, T.I, Edhasa, Barcelona, 2001, pp. 615–662. 8 Con relación a este sentido véase, Ernest Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke, Editorial Artemis, Zürich y Stuttgart, 1964, p 276; Bernhard Giese, Das Würde- Konzept. Eine normfunktionale Explikation des Begriffes Würde in Art. 1. Abs. 1 GG, Editorial Duncker & Humblot, Berlín 1975. p. 23; Viktor Pöschel, “Die Begriff der Würde in antiken Rom und später”, en Sitzungsberichte der Heidelberg Akademie der Wissenschaften, Carl Winter Universitätsverlag, 1990, pp. 10–40; brevemente, D’Ors, Derecho privado romano, Ediciones de la Universidad de Navarra, Pamplona, 2004, p. 285. 9 Rudolf von Ihering, El espíritu del Derecho romano en las diversas fases de su desarrollo, Comares, Granada, 1998, pp. 511 y 512. 10 Cabe mencionar, en este sentido, aparte de la existencia de la pena aplicable al homicida para aquel que matase al esclavo sin motivo, algunas otras medidas de la época imperial que temperaban esa inicial concepción de cosa del esclavo, como por ejemplo, la prohibición de arrojar a las fieras al esclavo sin decisión previa de un magistrado o el abandono del esclavo viejo o enfermo. También el esclavo que huía por la brutalidad de su dominus no era considerado servus fugitivus (Digesto, 21, 1, 17, 12). Véase así, J. Arias Ramos, Derecho Romano, T.I, Editorial Revista de Derecho Privado, Madrid, 1954, pp. 60–63. 11 Sobre el sentido de dignidad en las instituciones germánicas, Tacíto, “Germania”, en Alfonso Gar-
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cepción de dignidad, que después pasaría al medievo, principalmente entendida como cargo y categoría de una persona determinada, existiendo pues distintos tipos de dignidad según la condición de la persona libre. La concepción de dignidad se comprende además con carácter hereditario pero variable,12 pudiéndose hacer acopio de mayores honores seculares,13 como también existiendo la posibilidad de supresión de la misma.14 Se distinguía pues, esencialmente; entre la dignidad real primus inter pares, una dignidad palatina y lo que se venía en denominar la dignidad de los ingenuos, es decir, de aquellas personas nacidas libres que no integraban la nobleza de palacio, pero que gozaban de alguna, aunque escasa, consideración jurídica.15 Esa significación, es decir, la dignidad entendida como título o cargo bien de tipo honorífico laico o bien eclesiástico, se encuentra también en los textos jurídicos de la Alta y Baja Edad Media así como de la Edad Moderna y ha permanecido vigente incluso hasta la actualidad.16 Durante la Edad Media y hasta mucho después, la idea de la dignidad del individuo como tal se concebiría con un carácter particularmente restrictivo, a la par que la presencia de todos los rasgos específicos que la pudiesen defi nir, prevaleciendo el concepto de dignidad como sinónimo de título, rango y mérito. No obstante, esa concepción no se agotaba tan sólo en cuestiones de tipo honorífico, sino que se derivaba más bien de la pertenencia de la persona a un determinado estrato social según el individuo, sus meritos y su posición social.17 Además tal mérito y posición se podía consolidar hereditariamente, de la misma manera que los posibles privilegios y retribuciones mediante dotaciones territoriales que pudiesen llevar aparejadas.18 El hecho de que durante mucho tiempo también las altas dignidades eclesiásticas sólo pudiesen desempeñarse por personas de origen noble, es una nota más a tener en cuenta para entender esa forma elemental “condicionada” de comprensión de esta noción.19 La diferente dignidad, por lo tanto, implicaba no sólo un título de carácter honorífico, sino que conlleva una distinta consideración social y una serie de privilegios e inmunidades que se reconocen jurídicamente. Un texto muy clarividente, a nuestro entender, en que se percibe este hecho son las Siete Partidas, las cuales enumeran y defi nen pormenorizadamente los distintos cargos y la posición de cada individuo en cía Gallo, Antología de fuentes del Derecho antiguo, Manual de Historia del Derecho, T. II, Artes gráficas y ediciones, SA, Madrid, 1974, pp. 355, 356. 12 Véase “Liber iudiciorum” 3,1,1., en Antología de fuentes . . ., cit., pp. 374, 375. 13 Véase S. Isidora de Sevilla, “Libri Sententiarum” 3,48,2., en Antología de fuentes . . ., cit., p. 419. 14 Concilio VIII de Toledo (año 653) o “Liber iudiciorum” 2,1,6., en Antología de fuentes . . ., cit., pp. 412. 15 Véase el Concilio XIII de Toledo (año 683) en Antología de fuentes . . ., cit., p. 413. 16 Véase Real Academia Española, Diccionario de Autoridades, edición facsímil (D-Ñ), editorial Gredos, Madrid, 1984, o también Diccionario de la Lengua Española, 21. ed., T.I, Madrid, 1992, p. 749. 17 Véase, también, Alfonso García Gallo y Gustavo Villapalos Salas, Las Expositiones Nominum Legalium y Los Vocabularios Jurídicos Medievales, Estudios y Ensayos, Joyas Bibliográficas, Madrid, 1974, pp. 87–90 y 114–117. 18 Véase Robert Boutruche, Señorío y feudalismo, T.2, Siglo XXI, Madrid, 1973, pp. 154 y 155; véase también, por ejemplo, artículos 9 y 10 de la “Capitular de Quierzy-sur-Oise”, Capitularia, editorial Boretius, 1890, T. II, pp. 358 y 359. 19 Como pone de manifiesto Oswald Spengler en La decadencia de Occidente: bosquejo de una morfología de la historia universal, Espasa-Calpe, Madrid, 1976, p. 103, traducción de Manuel. G. Morente donde además pone ejemplos representativos como Richeliu, Mazarino o Talleirand.
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la sociedad, desde la “gran dignidad” del rey, “noble y honrada sobre todas las otras que puedan tener los hombres”, y las – ilustres personae – “personas honradas y de gran condición (. . .) dotadas de dignidad”, hasta aquellos que no tienen privilegios y, por tanto, no tienen “dignidad ni siquiera para apremiar a los cristianos”.20 De un modo similar, anteriormente, el Decreto de Alfonso IX a las Cortes de León de 1188 o la Carta Magna inglesa de 121521 también suponían el establecimiento de ciertos privilegios feudales, diferenciado también distintos niveles sociales y jurídicos. De algún modo, como afi rmaría Rommen, en esta época “cada oficio tenía su dignidad propia”.22 Paralelamente, no obstante, sorprende que podamos encontrar algún texto jurídico, si bien con carácter excepcional, que demuestra que en la sociedad de la España medieval también subyacía una visión de la dignidad humana en un sentido más amplio,23 estableciendo la relación y vinculación entre persona en general y dignidad. Así, por ejemplo, el Código de Tortosa defi nía al ser humano como “lo más digno del mundo, por encima de todas las cosas”. También en el Libro de los castigos del Rey Sancho se afirma que el hombre es “la más noble criatura que hay sobre el cielo”.24 Sin embargo, este tipo de reconocimientos, como nos dice Truyol y Serra, no tendrían una “paralela proyección de tal noción en el ámbito de las instituciones públicas o privadas”.25 La razón de este hecho está quizás no tanto en el reconocimiento de la dignidad sino, más bien, en el grado de convicción que despierta tal afi rmación en el individuo. Se ha de tener en cuenta que el hombre medieval se siente profundamente “resignado” a la posición social que le corresponde dentro de esa estructura jerárquico estamental que incluso cree configurada por el propio Dios.26 Por otro lado, habría que reconocer la existencia tumultuosa y temerosa de las poblaciones, muchas de ellas siempre expuestas a invasiones o saqueos. Desde este punto de vista podemos aceptar la apreciación de Gastón Leval, para quien esta situación de constante temor, de necesidad, habría producido un acercamiento a las áreas de influencia de los nobles y una cesión de sus propios derechos a cambio de cierta protección.27 20 Respectivamente, Partida segunda, título I, Ley 1; Partida cuarta, Título XIV, Ley 3; Partida séptima (relativa a hebreos e infieles), Título XXIV, Ley 3. Nosotros hemos utilizado la edición preparada por Francisco López Estrada y María Teresa López García-Berdoy, Las Siete Partidas Antología, Editorial Castalia, Madrid, 1992. 21 Véase el Decreto de la Curia de León en Antología de fuentes . . ., cit., pp. 566–569; para la “Carta Magna del Rey Juan”, Luis Sánchez Agesta, Documentos Constitucionales y textos políticos, Editora Nacional, Madrid, 1975, pp. 13–22; para profundizar en otro ejemplo de estratificación social del medievo véase Claudio Sánchez-Albornoz, Sobre la libertad humana en el reino Astur-Leones hace mil años, Espasa-Calpe, Madrid, 1976, en especial, pp. 69–98, prólogo de Julio González González. 22 Así Heinrich A. Rommen, El Estado en el pensamiento católico, un tratado de Filosofía política. Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1956, pp. 99–100. Traducción de Enrique Tierno Galván. 23 Sobre ello, Heinrich A. Rommen, El Estado en el pensamiento católico . . . cit., p. 100. 24 El Código de Tortosa, 9, 27, 1, se expresa así: “Por eso, como es lo más digno del mundo, por encima de todas las cosas, primero conviene que se hable de los hombres antes que de otras cosas”. También el Libro de los castigos, 1, 1, añade que “aún algunos tienen que es más noble que las criaturas celestiales”. Véase en Juan Beneyto Pérez, Textos políticos españoles de la Baja Edad Media, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1944, pp. 79–89. 25 Antonio Truyol y Serra, Los Derechos Humanos, Tecnos, Madrid, 1994, p. 13. 26 Sobre ello, Alfred von Martín, Sociología de la cultura medieval, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1970, pp. 65–68. Traducción de Antonio Truyol y Serra. 27 Véase Gastón Leval, El Estado en la historia, Editorial Zero, Madrid, 1978, p. 65.
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El trasfondo sociológico que empujó el tránsito a la Edad Moderna es difícil de referir, pero no es arriesgado pensar que tanto el hombre medieval como más tarde el del Antiguo Régimen si bien no se sentía “sin dignidad”, si podía sentirse “menor en dignidad” dependiendo de su pertenencia a una u otra clase o empleo social.28 Este dato es particularmente fundamental, por cuanto tan sólo cuando una persona toma conciencia de su esencial igualdad ante los demás, también en dignidad, considera y respeta la dignidad de los demás y se esfuerza por materializar esa realidad. Así, mientras que las formas técnicas de la sociedad estamental seguían manteniendo su plena vigencia, se fue incubando una sensación de rebeldía del individuo contra su antigua condición, cada vez con mayor intensidad, surgida particularmente sobre la base de un progresivo desarrollo urbano y la reaparición de las formas típicas de planteamiento cristiano bajo una nueva perspectiva aún más humanista, doctrina que poco a poco se seculariza y radicaliza. Surge así el Renacimiento, que como apunta Fromm, significaría el auge de una espiritualidad también religiosa sobre cuya base encontrarían expresión especialmente las ideas de la dignidad humana y de la unidad de la especie humana.29 Si bien con una cierta dosis de escepticismo,30 muy pronto se empezaron a ver los efectos de esta nueva ética humanística en una incipiente mayor tolerancia, particularmente en la literatura, como ha puesto de relieve Peces-Barba.31 Él destaca, por ejemplo, la obra de Erasmo o Tomás Moro. Precisamente en Moro, se aprecia el concepto de dignidad humana y su relación con esa base religiosa.32 Pero para PecesBarba el mayor elemento de cambio lo supondría la aparición del protestantismo, como factor de progreso y de ruptura con la época medieval y como forma religiosa preparadora del mundo liberal y del contexto cultural de los derechos fundamentales. Nosotros no compartimos todo su optimismo a este respecto, sobre todo si tenemos en cuenta el carácter de furibundo antisemita por ejemplo de Lutero y la propaganda que hizo sobre ello, particularmente en un libro de 1543, Von den Juden und ihren Lügen, que tendría una influencia muy grave a lo largo de la historia.33 Para Fromm 28 Véase Luis Sánchez Agesta, El pensamiento político del Despotismo Ilustrado, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1953, pp. 139–142. Incluso dentro de las propias familias nobles se podría percibir tal sensación. Lo cual resultaría coherente si tenemos en cuenta el régimen de mayorazgos vigente en España durante siglos, por el cual sólo los primogénitos gozaban de los mayorazgos y podían llevar a la pobreza incluso a los demás hijos de las clases aristocráticas. Véase, sobre ello, Gaspar Melchor de Jovellanos, Informe sobre la Ley Agraria, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1955, pp. 161. 29 Erich Fromm, ¿Tener o ser?, Fondo de Cultura Económica, Mexico DF, 1983, p. 82; en sentido parecido también Gregorio Peces-Barba Martínez, Tránsito a la modernidad . . ., cit., p. 69. 30 Erich Fromm, El miedo a la libertad, Paidos, Barcelona, 1977, p. 125. Traducción de Gino Germani. 31 Gregorio Peces-Barba Martínez, Tránsito a la modernidad . . ., cit., pp. 85–87. 32 En Tomás Moro, Utopía, Alianza Editorial, Madrid, 2001, traducción de Pedro Rodríguez Santidrián, cita este concepto, en una de las disposiciones de su isla Utopía dice que es conveniente oponerse “con el mayor rigor a que nadie abdique de su dignidad humana hasta el punto de creer que el alma desaparece con el cuerpo y que el mundo va a la deriva sin la providencia de Dios”. Véanse también pp. 195 y 196. 33 Quizás hoy no se tenga suficientemente presente la importancia de estas aportaciones de Lutero en el desarrollo de la subcultura antisemita europea. Se pueden mencionar otras obras como Brief wider sie Sabbather an einen guten Freund de 1538. Lutero, en la obra arriba citada (Cap. 11), es claro, y aconseja, entre otras barbaridades; “debemos prender fuego a sus sinagogas o sus escuelas y enterrar todo lo que no prendamos fuego, para que ningún hombre vuelva a ver de ellos piedra o ceniza” (. . .) “que sus casas sean quemadas y destruidas”, en Von den Juden und ihren Lügen, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe,
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mismo la Reforma en realidad significaría en cierto sentido un retroceso. Para él, Lutero, frente a los principios que trataba de consolidar la Teología medieval de libre albedrío y de convicción en la utilidad de los esfuerzos humanos para conseguir la salvación eterna, haría sentir al individuo cierta inutilidad de sus actos, privándole de su confianza en sí mismo, e incluso, de su propia dignidad como persona.34 Ahora bien, a pesar de estas últimas objeciones hay que reconocer que este proceso de transformación, la nueva estética renacentista y el desarrollo de la ciencia, descubrimientos como por ejemplo la brújula o el telescopio, no sólo situarían el paso a una nueva era, sino que también determinarían una novedosa forma de comprender al ser humano; el hombre como centro de todo. Ante el incipiente racionalismo, la idea de resignación y sometimiento a una supuesta voluntad divina se fue erosionando progresivamente ante el nuevo humanismo, como se refleja también en la literatura fi losófica. Desde la misma base de la dignidad de la persona, Moro, Manetti, della Mirándola o Pérez de Oliva representan esa actitud de pasión ante la vida y son a su vez la imagen de ese nuevo tipo de hombre, aquél que forja su propio destino. De hecho, hasta Dios se convierte también en el ente que sirve de base para fundamentar los propios derechos del hombre.35 Sólo a partir de ese momento, como nos dice Krüger, pudo empezar el hombre a pensar y soñar con una reforma social;36 difícil, pero posible. En tal sentido, también hay que contemplar en este contexto la llegada de los españoles a América. La distinta forma de vida de los habitantes del Nuevo Mundo con respecto al hombre europeo, así como la gran amplitud y riqueza de sus tierras, entre otros factores, daría lugar a un replanteamiento de muchos aspectos de la estructura de la sociedad y, como aprecia Starck, a un cierto “florecimiento espiritual”, que se manifestaría después en la obra intelectual de la Escolástica tardía española y la literatura del siglo de oro.37 Que los recién llegados se preocuparon también por sus propios resultados económicos y los de la metrópoli es muy posible. Ahora bien, el encuentro con esas condiciones, unas circunstancias totalmente nuevas, impulsaban la necesidad de propugnar cuando menos la igualdad de derechos de sus habitantes con respecto a los demás súbditos de la Corona, dato de especial relevancia en orden al reconocimiento de la igualdad del hombre americano con respecto al europeo y, consecuentemente, un paso importante en el camino de su dignidad.38 En este sentiT. 3, Chr. Kaiser, München, 1936. Véase Oberman, Heiko. A, “Die Juden in Luthers Sicht”, en Heine Kremers (edit.), Die Juden und Matin Luther, Martin Luther und die Juden, Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung, 2. Aufl , Neukirchen-Vluyn, 1987, pp. 136–162, 34 Así Erich Fromm, El miedo a la libertad, cit., pp. 101, 112 y 113. 35 Compárese Enrique Gómez Arboleya, Historia de la estructura y del pensamiento social, T.I (Hasta fi nales del siglo XVIII) Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1957, p. 101. 36 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köhn, Mainz, 1966, p. 63. 37 Así Christian Starck, “Die philosophischen Grundlagen der Menschenrechte”, en Michael Brenner / Peter M. Huber / Markus Möstl (edit.) Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, Mohr Siebeck, 2004. 38 Véase en este sentido, Fernando Murillo Rubiera, América y la dignidad del hombre. Los derechos del hombre en la Filosofía de la Historia de América, colección Mapfre, Madrid, 1992; Sobre esta lectura, Mario Hernández Sánchez-Barba, “La dignidad del hombre americano”, en Mar Oceanía, Revista del Humanismo Español e Iberoamericano, n. 2, Madrid, 1995, pp. 311 y 312.
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do, tienen un contenido muy revelador algunos textos jurídicos españoles de Derecho Indiano (siglo XVI).39 Por otra parte, no hay que omitir que esa emancipación no se lograría en su totalidad, especialmente si tenemos en cuenta que este hecho significaría la importación de esclavos africanos para liberar a los indios de los trabajos pesados, cuestión auspiciada incluso por Las Casas,40 si bien finalmente llegaría a entonar su mea culpa.41 Piénsese también, por ejemplo, que los límites o restricciones a las libertades del hombre americano permanecerían vigentes de la misma manera que para las personas en circunstancias sociales desfavorables en la propia metrópoli. En las colonias de Norteamérica, del mismo modo, las grandes disponibilidades de tierra hicieron también imposible poder institucionalizar eficazmente un sistema como el nobiliario continental, lo que propiciaría un mayor sentimiento igualitario en el carácter de la sociedad 42 y con el tiempo un mayor celo en la defensa de sus libertades. En efecto, los colonos tiempo después lucharían por sus propios derechos concretos, contenidos en sus cartas de constitución de acuerdo a la propia tradición jurídica inglesa, aunque “no por los derechos abstractos del hombre”.43 Como dice Rodríguez Adrados, los fundadores de los Estados Unidos no habían ido a convertir indios, sino a vivir independientes. Se considera así que la revolución americana tendría principalmente un carácter más político que social,44 a pesar de que la Bill of Rights afi rmara que “todos los hombres son iguales por naturaleza y tienen ciertos derechos inherentes”, o la Declaración de Independencia aceptara como realidades self-evident la idea de que “todos los hombres son creados iguales y que están dotados por su creador con ciertos derechos inalienables”.45 Desde luego, como aprecia Stern, la incorporación posterior de los derechos del hombre en derecho positivo como reflejo de su dignidad y personalidad, que apareció por primera vez con la Constitución americana, sería un paso muy significativo.46 Pero realmente la recepción en tales 39
Véase, por ejemplo, la Instrucción de los Reyes Católicos a Don Nicolás de Ovando de 1501, cuando dice “que los indios sean bien tratados, como nuestros súbditos y vasallos, que no se les haga ningún daño, y si, de ahora en adelante, alguien osa hacerles algún mal o daño o los tomasen por algo suyo, se les castigará”. Igualmente, véase el Decreto de Carlos I de 1526, que dice “que los indios sean libres y no sujetos a servidumbre”. Estos textos jurídicos y otros, con comentarios al respecto, en PecesBarba Martínez / Llamas Cascón / Fernández Liesa (autores) Textos Básicos de Derechos Humanos. Con estudios generales y comentarios. Aranzadi, Navarra, 2001, pp. 43–50. 40 Así José Antonio Marina y María de la Válgoma, La lucha por la dignidad, Teoría de la felicidad política, Anagrama, Barcelona, 2002, pp. 75–76. 41 Véase Fray Bartolomé de Las Casas, Historia de las Indias, Fondo de Cultura Económica, México, DF, 1951, Libro III, Capítulo 102. También se pueden ver estas confesiones, con comentario, en Fray Manuel M. Martínez, O. P., en Fray Bartolomé de Las Casas “Padre de América” estudio biográfi co – crítico, editorial La Rafa, Madrid, 1958, pp. 89–94. 42 Sobre ello, Carl N. Degler, Historia de los Estados Unidos. La formación de una potencia 1600–1860. T. I, Ariel, Barcelona, 1986, pp. 23–26 y 71–73. 43 J. F. Jameson, “The revolution and the Status of Persons”, en Edmund. S. Morgan (edit.) The American Revolution: two centuries of interpretation, Prentice-Hall, New Jersey, 1965, pp. 100 y 101. 44 Así Samuel Eliot Morison y Henry Steele Commager, Historia de los Estados Unidos de Norteamérica, T.I, Fondo de Cultura Económica, México-Buenos Aires, 1951, p. 243. 45 Véase “The Virginia Bill of Rights” y “The Declaration of Independence”, en Henry Steele Commager, Documents of American History, Prentice-Hall, New Jersey, 1973, pp. 100–104. 46 Así Klaus Stern, “The genesis and evolution of european-american constitucionalism: some comments on the fundamental aspects”, en Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional, n. 9, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid, 2005, pp. 499–515.
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Declaraciones del principio de igualdad, en términos bastante similares a las interpretaciones de Locke,47 no implicaría realmente atisbos de cambio en la estructura de la sociedad. Las motivaciones serían más de tipo personal que social. De hecho la búsqueda de la felicidad que propugnaba la Declaración “sería entendida en un sentido puramente económico, como aumento del bienestar conseguido”.48 Prueba de ello sería también la inconexión entre los postulados de libertad e igualdad que se reconocen en tales textos y la contradictoria presencia de la esclavitud, inconexión ante la cual la mayoría de los norteamericanos se mostraba indiferente.49 Más allá llegará la Declaración francesa de Derechos del Hombre y del Ciudadano de 1789. Su programa era diferente, implicaba la promoción real de muchos más hombres en la escala de libertades. Es verdad que en aquel texto no encontramos una garantía expresa de la dignidad humana en el sentido de Kant,50 tampoco la había en los textos americanos, pero a través de su formulación de derechos inspiraba en todas las personas un sentido de la igualdad y la propia libertad, de la propia importancia, y en defi nitiva de la propia dignidad. Del mismo modo, ni en la Constitución francesa de 1791 ni después en la primera Constitución española de 1812 se hace referencia alguna a la noción de dignidad de la persona. En tal sentido se ha de tener en cuenta, como afi rma Artola Gallego, la profunda dificultad que entrañaba la materialización de principios como la libertad y la igualdad, hasta ahora ideales, en realidades jurídicas “vivas y actuantes” de esa nueva sociedad.51 Tanto más problemática, por lo tanto, hubiera resultado la recepción de un principio por ahora mucho más teórico y utópico como lo era la idea de dignidad de todas las personas; aún cuando ésta constituía un concepto político y fi losófico cada vez más recurrente. Pensemos principalmente en la metafísica de Kant,52 quien sobre la idea de dignidad conforma su imperativo categórico y también en Paine que menciona la “dignidad natural del hombre” como límite del poder estatal;53 o, por ejemplo, en Voltaire, “acuérdate de tu dignidad de hombre”, nos dice él.54 Pero además, hay que tener en cuenta, en esta línea, la litera47
Véase la selección de L. Sánchez Agesta, Documentos Constitucionales y textos . . ., cit., pp. 301. Angela Aparisi Miralles, La Revolución Norteamericana, aproximación a sus orígenes ideológicos, Centro de Estudios Constitucionales, Madrid, 1995, p. 325. 49 No obstante algunas voces habían criticado fuertemente tal contradicción: véase así por ejemplo, James Otis, “Los derechos de las colonias británicas afi rmados y probados”, en selección de textos de Ramón Casteras, La Independencia de los Estados Unidos de Norteamérica, Ariel, Barcelona, 1990; Véase también Forrest Mc. Donald, Novus Ordo Seclorum, los orígenes intelectuales de la Constitución Norteamericana, Editorial Fraterna, Buenos Aires, 1991, pp. 54–56; En sentido contrario, por ejemplo John Emerich Edward Dalberg-Acton, “Causas políticas de la Revolución Americana”, en John Emerich Edward, Ensayos sobre la libertad y el poder, Instituto de Estudios Políticos, 1959, pp. 424–434, selección e introducción de Gertrude Himmelfarb. Incluso, más tarde, se pretendió hacer de la esclavitud, por parte del sur, una “cuestión de principio de los derechos constitucionales de los Estados individualmente considerados”. Así en Georg Stadtmüller, Pensamiento jurídico e imperialismo en la historia de los Estados Unidos, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1962, p. 56. 50 En tal sentido Peter Häberle, Libertad, igualdad, fraternidad . . ., cit., p. 52. 51 Miguel Artola Gallego, Los orígenes de la España Contemporánea, Tomo I, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1975, p. 527. 52 Los postulados de Kant sobre la dignidad humana en Immanuel Kant, Fundamentación de la metafísica de las costumbres, Editorial Espasa, Austral, Madrid, 2001. 53 Thomas Paine, Los derechos del hombre, Alianza, Madrid, 1984, p. 68, que ve en la “dignidad natural del hombre” un límite para evitar “la tentativa de gobernar la humanidad por la fuerza o el fraude”. 54 Véase Voltaire, Diccionario filosófi co, Daimón, Barcelona, 1976, Tomo II, letra (M). Quien apela a la 48
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tura de la época, la obra de Goethe, en quien también se encuentra esa sacralización del hombre detrás de la cual uno ve la idea de dignidad – “ha llegado el momento de probar con obras”, escribe en Fausto, “que la dignidad humana no cede ni aun ante la grandeza de los mismos dioses”.55 También, entre nosotros, podemos señalar el estudio histórico-político de Martínez Marina, quien citaría esta noción incluso como objetivo vinculado a la utilidad pública y al interés social.56 Quizás, como reconocería el mismo Ortega, el sentido de aquellas reivindicaciones de derechos sería en principio sólo sacar las almas humanas de su interna servidumbre y proclamar dentro de ellas una cierta conciencia de señorío y dignidad.57 Sin embargo, a través de este esfuerzo de replanteamiento de la estructura de la sociedad se empiezan a evidenciar también, aunque muy tibiamente,58 distintas características que permiten calificar si no la asimilación social de una idea completa de dignidad de la persona como noción con respecto a la que el Estado tiene algo que decir para su promoción y garantía, sí algunos elementos que dejan entrever una especie de fase intermedia en el proceso hacia el reconocimiento político de esa realidad. Aquí ciertamente debemos mencionar no solo la ampliación del horizonte jurídico del individuo a través del reconocimiento de los denominados derechos individuales de libertad, sino también, por ejemplo, la aparición de una visión muy novedosa de las relaciones entre el ciudadano y los “demás”, establecida sobre la afi rmación del principio de fraternidad,59 que, como nos dice Häberle, se comprende como otra base para las relaciones entre individuos, constituyéndose en su forma más actual como un “componente adicional” de la noción de dignidad de la persona.60 Ahora bien, en la realidad política y jurídica el axioma de la dignidad de la persona sólo se conseguiría implantar muy lentamente, poco a poco, tras mucho tiempo y esfuerzo. Así por ejemplo, en España los comienzos visibles y más elementales de esta tendencia, en lo práctico, se iniciarían a partir de aquella Constitución de 1812, con
bondad natural del ser humano. También después vincula la idea de dignidad como título y su visión general. Nos dice: “Es preciso dirigirse al género humano con la misma actitud que con los hombres en particular. Un canónigo lleva una vida escandalosa y se le dijo: ‘¿es posible que deshonre la dignidad de canónigo?’ (. . .) había que decir a todos y cada uno de nosotros: ‘Acuérdate de tu dignidad de hombre’”. 55 Goethe, Fausto, al principio de la obra, en la primera parte de la tragedia, “la noche”. 56 Así Francisco Martínez Marina, Discurso sobre el origen de la monarquía y sobre la naturaleza del gobierno español, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1957, p. 138. Edición de José A. Maravall. 57 José Ortega y Gasset, La rebelión de las masas, Alianza editorial, Madrid, 2001, p. 56. 58 Quizás aquí se tenga que tener en cuenta aquí la afi rmación de George H. Sabine en Historia de la teoría política, Fondo de Cultura Económica, Madrid, 2000, p. 505, para quien los propios excesos de la Revolución Francesa o después con Napoleón habría provocado también cierto temor a la revolución e, incluso, llevaron al traste las incipientes experiencias o los deseos constitucionales de algunas naciones. 59 Como reflejo de esta sensibilidad, encontramos alguna tendencia concreta, por ejemplo en la Constitución de Cádiz, que denota una flexibilización en la consideración social de determinados colectivos, destacamos así su artículo 305 que reconocía una variante del actual derecho al honor, y que se materializó en la eliminación de todo tipo de inscripciones públicas de tipo infamante ordenadas por la Inquisición. Véase el “Decreto de las Cortes generales y extraordinarias, dado en Cádiz, a 22 de febrero de 1813”, en Maximiano García Venero, Historia del Parlamentarismo Español, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1946, pp. 181–182. 60 Peter Häberle, “Die Menschenwürde als Grundlage . . .”, cit., p. 843.
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la abolición del régimen señorial primero61 y, después, con la eliminación de la institución de la Inquisición.62 Hay una serie de aspectos relativos a la dignidad de la persona para cuya explicación se requiere partir de la idea de igualdad. Si en la teoría estamental la desigualdad entre individuos y el diferente disfrute de los derechos venía razonada en una supuesta “distinta dignidad” de cada cual en el seno de la sociedad,63 en el Estado liberal inversamente se sacraliza, en principio, la idea de igualdad, pero el status de ciudadano con toda su profundidad no se reconoce todavía a la totalidad social. Por consiguiente, la realidad en la consideración social del individuo quedaba supeditada a distintas circunstancias como el nivel de independencia económica de un individuo (no subordinación del sujeto a otro) o el sexo, lo que se traducía principalmente en la privación al más amplio sector de la sociedad de un status de carácter público, es decir, de capacidad de intervención en la vida política del Estado. Consecuentemente ni la Revolución Francesa de 1789,64 ni la Constitución española de 1812 concedían el status de ciudadano a todos sus nacionales.65 Mucho menos aún el Estatuto de 1834 que restablecería en España la clasificación estamental. La dignidad se comprende en este texto nuevamente con una tendencia a extender su significación como sinónimo de título o cargo público. Esta significación no es exclusiva de los orígenes de la época del XIX, también en la actualidad, como ya hemos dicho anteriormente, se puede hablar de la dignidad como equivalente a empleo honorífico o de autoridad. En cambio, en esa época anterior, no se puede hablar sólo de “dignidad de cargo” en su concepto de carácter representativo o estrictamente honorífico, en cuanto exigía una condición sobrevenida: la necesidad de título nobiliario y de nivel de renta, como presunción suficiente de mérito y capacidad para el cargo. De alguna manera se podía decir que la dignidad (el título) precedía al cargo y era también su condición de acceso. Desde la propia fi losofía moral de Kant ya se había criticado la cuestión de la admisibilidad de la nobleza hereditaria y su contradicción con el principio de igualdad, por suponer, en el fondo, la consideración de un mayor rango de un súbdito sobre otro,66 o dicho de otro modo, una distinta dignidad entre los ciudadanos por razón de nacimiento. Para dar un ejemplo claro de lo que esto significaba citaremos una reflexión de Luis de Balmes,67 quien reconocería expresamente que la negativa a someter la designación de cargos públicos o influyentes a una técnica absolutamente electiva iba encaminada a impedir esencialmente la entrada de “sujetos indignos” – lo 61
Véase “Decreto núm. 83 de las Cortes de Cádiz de 6 de agosto de 1811, en Antología de fuentes . . ., cit., pp. 1206–1207. 62 El Decreto de abolición, el anterior Manifiesto de las Cortes y algunos comentarios en Maximiano García Venero, Historia del Parlamentarismo . . ., cit., pp. 175–181. 63 Véase a este respecto la STC 27/1982 y STC 129/1997 de 18 de julio. 64 Constitución Francesa de 1791, Título III, capítulo I, sección II, artículo 2. Véase Georges Burdeau, Derecho Constitucional e Instituciones Políticas, Editora Nacional, Madrid, 1981, p. 375 y 376. 65 Constitución de Cádiz de 1812, artículo 25 (“El ejercicio de los mismos derechos se suspende: . . . 2 por el estado de deudor . . . 3 por el estado de sirviente doméstico. 4 por no tener empleo, oficio o modo de vivir conocido. 5 Por hallarse procesado criminalmente”). 66 Véase Immanuel Kant, Sobre la paz perpetua, Tecnos, Madrid, 2003, p. 4, presentación de Antonio Truyol Serra y traducción de Joaquín Abellán. 67 Véase Jaime Balmes, Política y Constitución, Selección de textos y Estudio preliminar de Joaquín Varela Suances, Centro de Estudios Constitucionales, Madrid, 1988, p. 159–162.
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que Pacheco denomina “clase ínfi ma” de la sociedad – 68 a elevados cargos representativos.
III. El liberalismo del XIX; la posibilidad de “alcanzar la dignidad como persona” En el liberalismo de la España del siglo XIX la igualdad se presuponía bajo peculiares límites, incluso en la persona de la nueva clase burguesa. Dichos límites se mostraban, en su forma más ácida, en la necesidad de probar la “calidad” de nobleza para el acceso a cargos en el ejército y otros empleos, al igual que en la pervivencia de ciertos estatutos privilegiados. Plano de desigualdad institucional que sólo desaparece defi nitivamente en España con las Cortes Constituyentes de 1837.69 Es precisamente a partir de ese momento cuando las condiciones que posibilitan la mayor medida posible de libertad pública y privada se empiezan a expandir ya a la nueva clase propietaria que se equipara a la antigua clase nobiliaria.70 Libertad que, como ya dijo Ruggiero, se interpreta no como un privilegio, sino más bien como un logro que sólo “se puede conseguir con asiduidad, trabajo y sacrificio”.71 El mismo criterio se puede aplicar a la idea de igualdad, proyectándose sobre los derechos y deberes civiles y políticos sin excluir una posible distinción ulterior en cuanto al “rango y honor” de las personas. Por consiguiente, podría decirse que la significación de dignidad en el Estado Liberal, incluida la nobiliaria reconocida constitucionalmente, había que ganársela. Esta caracterización es la más importante novedad con respecto a la configuración propia del Antiguo Régimen. La posición del sujeto en la sociedad ya no se entiende exclusivamente como algo sobrevenido y preconcebido, sino como una consideración personal que puede conseguirse e incluso comprarse,72 y cuyo sentido pleno de diferenciación e influencia social requiere de un requisito adicional: una renta cuantiosa. Es así que podemos todavía hablar de distin68 Frente a la clase elevada de la sociedad él encuentra esta clase, la cual “carece de propiedad, carece de inteligencia y carece del amor al orden”; de ahí la necesidad de negarles la capacidad de voto y de ser elegibles en elecciones. Así en Joaquín Francisco Pacheco, Lecciones de Derecho político, con estudio preliminar de Francisco Tomás y Valiente, Centro de Estudios Constitucionales, Madrid, 1984, p. 175. 69 Artículos 5 y 4 de la Constitución de la Monarquía Española de 1837. Respecto a los privilegios del Régimen Señorial, el Decreto de 6 de agosto de 1811 volvió a cobrar vida a través de la Ley de 3 de mayo de 1823, sin embargo dicha normativa sólo estaría en vigor un mes. Tras la derogación del Estatuto Real, en las Cortes Constituyentes de 1837, se aprueba la Ley de 26 de Agosto de 1837, que pone fi n a la abolición del Régimen Señorial, por medio de una solución moderada y manteniendo algunos títulos de adquisición. Con respecto a otro tipo de fueros privilegiados habría que esperar al proceso revolucionario de 1868 para que fueran suprimidos defi nitivamente. Sobre ello, véase José Sánchez-Arcilla Bernal, Historia del Derecho, Instituciones Político-Administrativas, Dykinson, 1995, pp. 854–855 y 1128. 70 Véase Antonio Colomer Viadel, Los liberales y el origen de la Monarquía Parlamentaria en España, tirant lo blanch, Valencia, 1993, p. 242. 71 Guido De Ruggiero, Historia del Liberalismo Europeo, Pegaso, Madrid, 1944, p. 357. 72 Como ha afi rmado Merino Merchan, la burguesía española no rivalizará con la nobleza, sino que intentará acercarse a ella mediante la consecución de títulos nobiliarios, unos lo conseguirán mediante la vía de la fortuna amasada, otros por la vía militar. José Merino Merchan, Regímenes históricos españoles, Tecnos, Madrid, 1988, p. 116.
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ta “clase y condición” del súbdito y de una dignidad aún de tipo condicional, como se deduce también de la Constitución de 1845 y de una forma más expresa de la Ley Constitucional de Reforma de 1857.73 El reconocimiento de la dignidad que insinúan todos estos textos constitucionales durante todo este periodo es, por tanto, muy parcial y de tipo muy reducido, vinculada esencialmente a títulos de tipo nobiliario, cargos o puestos de tipo político o público y situación económica alta. Esta situación de estratificación social y de dispar consideración del individuo reconocida constitucionalmente sería también un rasgo característico de la actividad legislativa del Estado, produciéndose a través de las leyes tal reducción de la esfera de las libertades de aquellos individuos que no forman parte de la clase alta, que hacen casi imperceptibles sus derechos individuales.74 Así, por ejemplo, hay dos ámbitos que, en nuestra opinión, son los más representativos en orden a dilucidar rápidamente esta realidad: la legislación militar y, particularmente, la legislación penal, las cuales suponen una ayuda para estimar el distinto trato legal que se otorgaba al individuo con base a su situación en la sociedad. Respecto al primer ámbito mencionado baste recordar la necesidad de demostrar la nobleza del aspirante para el ingreso en los colegios militares, exigencia que se sustituyó por la obligación de aportar pruebas de limpieza de sangre desde 1836 hasta 1865, en que fueron abolidas defi nitivamente.75 Pero, por otra parte, también se puede mencionar, por ejemplo, la posibilidad de redención pecuniaria del servicio militar (por tanto, también de ir a la guerra y así de vivir o morir). Evidentemente el recluta solía ser siempre de clase baja al no poder hacer frente al pago de la cantidad.76 Con la Ley de Servicio Militar de 1912, aprobada por el gobierno de Canalejas, se lograría la universalidad y plena obligatoriedad del servicio para todos los ciudadanos sin distinción alguna. Ahora bien, esta ley, en realidad, resultó un simple cambio en el sistema, ya que, el soldado mediante el simple abono de una cuota podía elegir destino y así podía quedar exento de ir a las colonias de Africa, donde casi siempre había confl ictos o guerras. La razón que se aducía para esto era que los hijos de las familias acomodadas no estaban acostumbradas a sufrir las incomodidades de la vida cuartelera. Y, por lo tanto, la obligación de ir a la guerra seguía recayendo sobre los desheredados.77 La exclusión completa de esta posibilidad no llegaría hasta la Guerra Civil en 73 Ver los artículos 15, 22 y 80 de la Constitución de 1845 y artículos 15, 17 y 18 de la Ley de Reforma de 1857. Como artículo más representativo el artículo 17 de la Ley Constitucional de 1857 decía que “la dignidad de senador que tienen los Grandes de España que acrediten tener la renta y requisitos expresados en el artículo 14 es hereditaria”. Véase en la recopilación de Enrique Tierno Galvan, Leyes Políticas Españolas Fundamentales (1808–1978), Tecnos, Madrid, 1979, pp. 72–73 y 110–111, respectivamente. 74 Véase Dalmacio Negro Pavón, La tradición liberal y el Estado, Real Academia de Ciencias Morales y Políticas, Madrid, 1995, p. 215. 75 Sobre este tema, José María Gárate Cordoba, “La cultura militar en el siglo XIX”, en Mario Hernández Sánchez-Barba / Miguel Alonso Baquer (dir.), Historia Social de las Fuerzas Armadas Españolas, T. IV, Alhambra, Madrid, 1986, pp. 146–151. 76 Véase, por ejemplo, el Decreto de 3 de febrero de 1823 para el reemplazo en el Ejército, en Eusebio Freixa y Rabasó, Manual de reclutamiento y reemplazo del Ejército y la Armada, Publicaciones de Eusebio Freixa y Rabasó, Madrid, 1885. 77 Véase Emilio Mola, Las tragedias de nuestras instituciones militares. El pasado, Azaña y el porvenir, Bergua, Madrid, 1934; Ricardo Fernández de la Reguera / Susana March, “Prólogo a un desastre” en, los
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1936 como consecuencia de la necesidad de la movilización completa por parte de ambos bandos.78 Por otro lado la referencia a la legislación penal requiere de un mayor análisis. Se puede destacar aquí la tipificación como delito de la “vagancia”. Modo penal por el que se sancionaban “no hechos concretos, sino un estado, un modo de ser de la persona”,79 restringiendo de un modo absoluto las libertades individuales de aquellos que no tenían renta.80 Esta concepción perduraría durante todo el siglo XIX, si bien a partir del Código Penal de 1870 el nivel de renta del sujeto o su estado laboral sólo se comprenderá como circunstancia agravante de la responsabilidad criminal.81 Podemos referirnos también en este tema a las disposiciones penales que atendían a la distinta dignidad del sujeto pasivo del delito como agravante de la responsabilidad criminal – agravante de tradición centenaria en nuestro Derecho penal mantenida incluso hasta el Código Penal de 197382 –, porque desde luego el delito cometido contra la clase propietaria no estaba en un mismo nivel que el delito cometido contra un mendigo. La esencia de tal agravante estaría en “las diferencias que entre los ofendidos y ofensores existen por su posición social y sus condiciones personales”.83 Pero el ejemplo más característico sobre la existencia de una dignidad “condicional” lo constituye la existencia de regímenes jurídicos especiales en las colonias a efectos del mantenimiento de la esclavitud. Ninguna constitución española del siglo XIX, como ha dicho Alvarado Planas, sería “coherente con el verdadero pensamiento liberal al no atreverse a abolir la esclavitud”.84 Ni siquiera en la Constitución de mismos autores, El desastre de Annual, Planeta, Barcelona, 1985, pp. 25; Antonio Domínguez Ortiz, España, tres milenios de historia, Marcial Pons, Madrid, 2001, pp. 292 y 312. 78 Sobre ello, Fernando Puell de Vila, El soldado desconocido, de la leva a la mili, Biblioteca Nueva, Madrid, 1996, p. 301. Referencias al constitucionalismo histórico en Ignacio Cosidó, “Modelos de servicio militar”, en Francisco Fernández Segado (Edit.), El Servicio Militar: Aspectos jurídicos y socio-económicos, Dykinson-Alfredo Brañas, Madrid, 1994, pp. 233–239. 79 Juan Terradillos Basoco, Peligrosidad social y Estado de Derecho, Akal, Madrid, 1981, p. 41. 80 Se entendía por vago no aquel que era vago en sí, sino aquel que “no posee bienes o rentas ni ejerce habitualmente profesión, arte u oficio, ni tiene empleo, industria, ocupación lícita o algún otro medio legítimo y conocido de subsistencia.” La limitación de sus derechos se hacía patente entre otras en la necesidad de solicitar autorizaciones para variar de residencia, o en la posibilidad de su detención cuando se le aprendiese “en traje que no le fuese el habitual”. Véase el Título VI del Libro II del Código Penal de 1848 y de 1850. Recopilación de López de Quiroga / Rodríguez Ramos / Ruiz de Gordejuela, Códigos Penales españoles. Recopilación y concordancias, Akal, Madrid, 1988, pp. 256–257 y 391–392. 81 Véase el artículo 10.23 del Código Penal de 1870 y 67.5 del Código Penal de 1928, en Quiroga / Ramos / Gordejuela, Códigos Penales españoles . . . cit., pp. 503 y 710. El establecimiento de este tipo de medidas de seguridad con base a una supuesta peligrosidad previa del sujeto se extenderá hasta el siglo XX, primero con la Ley de Vagos y Maleantes de 4 de agosto de 1933 y posteriormente con la Ley 16 / 1970, de 4 de agosto, de Peligrosidad y Rehabilitación Social. 82 Si bien se debe comprender ésta dentro del contexto histórico y de la norma constitucional que le da cobertura y en su caso la limita. Véase así el Código Penal de 1848, 1850, 1870 (Art. 10) de 1928 (Art. 66 y 69), de 1932 (Art. 10), de 1973 (Art. 10). 83 STS de 21 de enero de 1881. También se ha dicho que la agravante de dignidad “lo merece toda persona que en la jerarquía social se encuentra en un estado que naturalmente se considera por todos como superior o más elevado que aquél en que se halla la persona que ejecuta el hecho”. Alejandro Groizard y Gómez de la Serna, El Código Penal de 1870 concordado y comentado, J A. García, Madrid, 1992, pp. 520 y 521. Respecto al Código Penal de 1932 en similares términos, López R. / Álvarez-Valdéz, El nuevo Código Penal, Revista de Derecho Privado, Madrid, 1933, pp. 65–70. 84 Javier Alvarado Planas, Constitucionalismo y codifi cación en las provincias de Ultramar, la supervivencia del
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1869, con toda su profundización en la esfera de los derechos individuales y su reconocimiento del sufragio universal (masculino), encontramos una declaración expresa en este sentido, no llegándose a suprimir la esclavitud defi nitivamente en España hasta 1880.85 Esta circunstancia resulta de otra situación, a saber, el racismo institucionalizado. Racismo comprendido desde una perspectiva de distinción personal y también en su sentido de discriminación estatal por razones raciales, de hecho todavía en 1884 la legislación penal de ultramar establecía un posible agravamiento o atenuación de la pena según la circunstancia de “ser el reo indígena, mestizo o chino”.86 Forma una importante excepción a esta tendencia el Proyecto de Constitución de la República Española de 1873, que acentúa el sentido iusnaturalista de la Constitución de 1869,87 apareciendo incluso en su título preliminar un reconocimiento expreso del derecho de toda persona a la vida, la seguridad y la dignidad de la vida. El proyecto establece una esfera de derechos y de sistemas de garantías con los que trata de asegurar la libertad y la igualdad de todas las personas y de los ciudadanos indistintamente. Su idea de dignidad parece que conlleva una reacción a anteriores concepciones, menciona así la dignidad de la vida, es decir el derecho natural a la dignidad de toda vida humana. No se habla ya de “dignidad de senador”,88 tampoco de requisitos personales para la participación en la vida pública. La intención es revolverse frente a la idea restrictiva de los derechos, por cuanto, como había dicho Pi y Margall “la libertad condicional no es una libertad” y “la libertad humana no puede tener otro límite que la dignidad misma del hombre”.89 Consecuentemente, tal proyecto constitucional integra preceptos dirigidos a instituir las estructuras necesarias para una verdadera implementación de los derechos individuales de los ciudadanos y la eliminación de todo tipo de condicionantes y clasificaciones en el distinto ejercicio de las libertades personales y políticas, también en los territorios de ultramar. Del mismo modo condiciona la propia labor del legislativo al respeto de esos derechos,90 no se encuentra así en la actitud pasiva del texto de 1869,91 que había dado lugar a una incoherencia entre el reconocimiento constituAntiguo Régimen en la España del siglo XIX, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid, 2001, y también en “El régimen de legislación especial y el problema de la esclavitud”, en Revista de Derecho Penal y Criminología de la Universidad Nacional de Educación a Distancia n. 3 ,1993, pp. 145–196. 85 Durante el reinado de Alfonso XII con la Ley de abolición de la esclavitud de 13 de febrero de 1880. 86 Así, por ejemplo, el artículo 11 del Código Penal y Ley provisional para la aplicación de las disposiciones del mismo en las Islas Filipinas, Real Decreto de 4 de septiembre de 1884. Tal código se puede consultar en la Biblioteca virtual Miguel de Cervantes, http://www.cervantesvirtual.com. 87 Así Antonio Torres Del Moral, Constitucionalismo Histórico Español, Ediciones Atomo, Madrid, 1986, p. 115. Véase también Francisco Fernández Segado, Las Constituciones Históricas Españolas, Civitas, Madrid, 1986, pp. 344 y 345. 88 Véase por ejemplo la Ley Constitucional de Reforma de 17 de julio de 1857. Recopilación de Enrique Tierno Galvan, Leyes Políticas Españolas . . ., cit., pp. 110 y 111. 89 Se pregunta también Pi y Margall respecto a los derechos políticos: “‘Depende acaso de tí, que tengas capitales’ ‘Cómo puede ser pues el capital base y motivo de derechos que son inherentes a la calidad del hombre, que nacen con el hombre mismo’”. Piy Margal, “El eco de la revolución”, en La reacción y la revolución, Anthropos, 1982, p. 447. 90 Artículo 77 del Proyecto de 1873 “en caso de que el poder legislativo dé alguna ley contraria a la Constitución, el Tribunal Supremo en pleno tendrá la facultad de suspender los efectos de esta ley”. Ver también el artículo 21. Recopilación de Enrique Tierno Galvan, Leyes Políticas Españolas . . ., cit., p. 126. 91 Como Bartolomé Clavero ha destacado, “las leyes prevalecían sobre la Constitución”, “toda la
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cional de los derechos y la realidad de la ley permitiendo la desigualdad y la esclavitud. En efecto, como ha puesto de relieve Clavero, en su corto periodo de existencia aprobaron, no sólo una ley para la abolición de la esclavitud, sino también otras leyes sobre trabajo infantil y supresión de rentas señoriales, lo cual ofrece indicios de que se empezaba a tomar en serio ese derecho a la vida, la seguridad y la dignidad.92 Esta característica constitucional se completa con el reconocimiento de la soberanía nacional, “nuestro principio – había dicho Pi y Margall – es la soberanía absoluta del individuo”.93 En efecto, sólo a través de cada persona se llega a hacer efectivo este principio. Lógica consecuencia también del concepto de dignidad recogido en el proyecto constitucional, pues si toda existencia del ciudadano goza o debe gozar de dignidad, paralelamente se tiene que respetar la posibilidad de participación de todo ciudadano en el proceso político y en la conformación de las estructuras del poder del Estado. Así la soberanía, afi rma el artículo 42 del proyecto, reside en todos y cada uno de los ciudadanos, siendo representada por los órganos políticos de la República, los cuales serán elegidos por sufragio universal. No obstante, a pesar de todo ello, seguirá faltando una mención constitucional explícita respecto a la condición y posibilidades de voto de la mujer, que llegase a aportar al texto un nivel de proyecto catalizador de toda la sociedad en su conjunto. Ahora bien, la breve experiencia republicana tuvo una existencia agitada y su proyecto no se llegó a promulgar, no produciéndose una consolidación y generalización de esa idea jurídica incipiente de dignidad. No obstante, no debemos de soslayar la excepcionalidad de la conceptualización constitucional de una noción de este tipo, así como el alto valor simbólico del texto en lo que se refiere a los derechos básicos y su protección.94 Por una parte, es la primera vez en nuestro constitucionalismo histórico que encontramos una referencia concreta a la dignidad, no en su visión anterior como forma condicional y de diferenciación social. Tampoco desde una perspectiva meramente declarativa, sino como dato característico y defi nible de toda persona, a saber, como ya hemos mencionado; en su sentido de derecho a la dignidad de la vida de toda persona. Aunque no de una manera plenamente defi nida,95 el significado constitucional de esta noción parece implicar un derecho de la persona a una indisponibilidad de justicia se concebía como un mecanismo de imposición de la voluntad constitucionalmente mayoritaria y no de la garantía del derecho constitucionalmente individual”. Bartolomé Clavero, “Por una historia constituyente: 1869, de los derechos a los poderes”, en Revista del Centro de Estudios Constitucionales, n. 7, septiembre-diciembre 1990, Madrid, p. 92. También sobre esto, véase Joaquín Brage Camazano, Los límites a los derechos fundamentales en el constitucionalismo mundial y en el constitucionalismo histórico español, Universidad Nacional Autónoma de México, Instituto de Investigaciones Jurídicas, México DF, 2005, pp. 130 y 131. 92 Véase Bartolomé Clavero, Manual de historia constitucional de España, Alianza Universidad Textos, 1992, p. 123. 93 Pi y Margall, La reacción y la revolución . . ., cit., p. 258. 94 Así Joaquín Riuz-Giménez Cortés, “Derechos fundamentales de la persona, comentario al artículo 10 de la Constitución”, en Oscar Alzaga (dir.) Comentario a las Leyes Políticas, tomo I, Editorial Revista de Derecho Privado, Madrid, 1984, p. 65. 95 El dictamen de la Comisión constitucional en este sentido es poco aclaratorio. Así en el Diario de Sesiones, de 17 de julio de 1873, apéndice 5 al n. 76 se afi rmaba: “Como se ha visto, el proyecto constitucional se inicia, con una defi nición de lo que se entiende por derechos naturales, superiores y anteriores a toda autoridad, poder y a toda ley positiva, incluyendo en ella cosas que nada tiene que ver con ellos, pues interesan más a la Administración pública más bien que al derecho natural”. Véase en Luis
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su vida por parte del poder público, lo que exige primera y necesariamente ese reconocimiento previo del derecho a la vida, lo cual, dicho sea de paso, también es una insólita novedad en nuestro constitucionalismo histórico. Con ello se excluye toda clase de trato denigratorio a la persona realizado por el Estado. Reconocimiento general que se manifiesta en dos esferas determinantes: con respecto al derecho a la vida se traduce en la eliminación de la pena capital y de toda forma de tormento;96 y en cuanto al derecho a la dignidad de la vida de la persona, en interconexión con la faceta mencionada, supondría la reducción de toda forma de esclavitud97 y de discriminación en orden a la distinta posición social o por razón de nacimiento.98 Por otro lado, otra visión del significado de la noción de dignidad del proyecto, también de naturaleza ciertamente notable, sería su comprensión como objetivo o directriz del poder público, quizás con intención de reseñar el ideal de equidad social y de eliminación de desigualdades declarado en el Preámbulo del texto. En estas observaciones se confi rma una coincidencia y un desarrollo particular de esos derechos, entendidos también con un carácter “anterior y superior a toda la legislación”, que manifiestan unas características propias del proyecto que le hacen distinguirse claramente de la trayectoria constitucional anterior. La concepción constitucional de esta experiencia se sitúa por esa causa en una posición teórica avanzada: la colocación de la existencia humana en el centro y como límite a la actuación del poder público, con todo lo que ello implica. Todas estas observaciones nos muestran que ninguna de las Constituciones de nuestro siglo XIX, tampoco la Constitución de 1876 que simplemente volvería a recoger “los principios habituales del constitucionalismo anterior a 1869”,99 nos ofrecen elementos de discernimiento suficientes para apreciar que existiera una noción de dignidad de la persona en un plano general y en un sentido, cuando menos, intencionalmente práctico. Sólo el texto constitucional de 1873 apunta en esta dirección, aunque principalmente como corriente o directriz de pensamiento dado su carácter de proyecto no promulgado y no consolidado. De este modo la interpretación de la idea de dignidad del siglo XIX se manifiesta en una forma de tipo condicional, es decir, para tener dignidad plena se necesita de una condición sobrevenida: título nobiliario y rentas o simplemente rentas. Esta característica del sujeto no determinaría exclusivamente un nivel de tipo honorífico o de mérito, sino que también es requisito para poder desempeñar ciertos cargos de tipo Ferrando Badía, Historia político – parlamentaria de la República de 1873, Edicusa, Madrid, 1973, pp. 263– 264. 96 La reinstauración de la pena capital daría lugar a la dimisión de la presidencia de la República de Nicolás Salmerón el 6 de septiembre de 1874 y su sustitución por Emilio Castelar. Sobre ello, Luis Ferrando Badía, Historia . . ., cit., pp. 305–307 y 314. 97 Se inició con la Ley de Abolición de la esclavitud en Puerto Rico de 22 de marzo de 1873. 98 Tengamos en cuenta, por ejemplo, la abolición de títulos de nobleza y los privilegios que conllevaban (artículo 38 del proyecto), pero también la intención de suprimir el servicio militar obligatorio (Decreto de 23 de febrero de 1873), a efectos de acabar con la inhumana desigualdad que significaba la posibilidad de redención del servicio, y de ir a la guerra, por el pago de cuantías en metálico. Sobre ello, Manuel Espadas Burgos, “El Ejército durante el Sexenio Revolucionario” en, Mario Hernández SánchezBarba / M. Baquer (dir.), Historia Social de las Fuerzas Armadas . . ., cit., Tomo III. p. 117. 99 Luis Sánchez Agesta, Historia del Constitucionalismo Español, Instituto de Estudios Políticos, Madrid, 1974, p. 374.
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representativo o de carácter público, e incluso para poder disfrutar plenamente de los derechos constitucionalmente reconocidos. Solamente los que tienen dichas características concretas gozan de un status de ciudadano en toda su profundidad. Consecuentemente el estudio del disfrute de los derechos individuales en esa época es muy confuso y difiere no sólo de un nivel social a otro, sino también de un sujeto a otro. La situación del individuo en la comunidad debe estudiarse pues, independientemente; cada uno dentro de su particularidad concreta y no de forma general. Así, enumerando la distinta posición en la sociedad del sujeto, su poder adquisitivo y su mayor grado de disfrute de sus derechos se puede averiguar la consideración que le otorga el ordenamiento y la protección que le va a dispensar, como también, en su caso, la titularidad de una dignidad social o su reconocimiento pleno de dignidad como persona. En tal sentido la indignidad de la persona, la limitación de derechos, o la imposibilidad de alcanzar cargos públicos no deviene de la realización de una conducta ilícita determinada o de un comportamiento reprobable (aunque ésta posibilidad no se excluye), sino que se es indigno para acceder a estos niveles sociales simplemente por la situación personal o económica del sujeto.100 No es exagerado pues afirmar que en el siglo XIX encontramos un tipo de dignidad cuya característica esencial es la de estar también “condicionada”, por cuanto exige de requisitos y no se reconoce a todas las personas. Se puede hablar de carácter “condicional” en este período, ya que una cosa es atribuir honores y consideración al titular de un cargo o empleo determinado y otra distinta es otorgar al titular – y en su caso a sus descendientes – derechos, inmunidades, privilegios y trato de superioridad sobre otras personas o grupos sociales. En tal caso no se debe hablar sólo de dignidad en su sentido honorífico, sino de la concesión de una distinta dignidad personal. Todo lo cual hace imposible o ilusorio hablar de un reconocimiento social de la dignidad del individuo. La noción de dignidad, por tanto, permanece en su visión primitiva, es decir, ésta sólo puede ser expresión del éxito y mérito en la comunidad, si bien en esta época se mide esencialmente en términos económicos a diferencia del sistema de reconocimiento de dignidad feudal, que venía dada principalmente por el valor en hazañas bélicas. Igualmente ahora no sólo es una “dignidad hereditaria”, sino que también se puede lograr a través de éxitos y logros personales que se traduzcan en poder, sobre todo de tipo económico.101 Se puede objetar a este planteamiento que, como mínimo, existía alguna posibilidad de conseguir posición en la comunidad y en consecuencia plenitud de derechos y dignidad social. Sin embargo, la relación que interesa no es tanto la posibilidad de alcanzar la dignidad como persona, sino en todo caso, el reconocimiento de la realidad de la dignidad inherente de la persona, del mismo modo que lo importante no es poder alcanzar la plenitud de los derechos re100
Esta concepción sobrepasa pues la comprensión tradicional de limitación del derecho de sufragio por razones de indignidad. Nos referimos a la restricción de tal derecho por condena de un tribunal, “indignidad penal”, e incluso la “indignidad política”, es decir, la privación del derecho del voto por delitos de opinión o de prensa. Sobre ello, Duverger, Instituciones Políticas y Derecho Constitucional, Ariel, Barcelona, 1970, pp. 145 y 146; Jorge De Esteban y otros, El proceso electoral, Labor, Barcelona, 1977, pp. 81 y 82. 101 En este sentido, Gregorio Peces-Barba Martínez, La dignidad de la persona desde la Filosofía del Derecho, Instituto de Derechos Humanos “Bartolomé de las Casas”, Universidad Carlos III, Dykinson, Madrid, 2002, p. 19.
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conocidos por el ordenamiento, sino más bien, tener reconocidos esos derechos por el mero hecho de ser persona. Para que esta última circunstancia se produjese se requería primeramente la integración global de todos los ciudadanos como titulares de los derechos que el Estado reconoce en un plano de igualdad. Es decir, la comprensión por parte del Estado, como nos dice Krüger, de que “no existe razón que pueda justificar la exclusión de ninguna persona del status de ciudadano, independientemente de su capacidad absoluta, física o moral.”102 Este hecho fue un fenómeno lentamente asumido que solamente se alcanza muy entrado el siglo XX, punto que se confi rma particularmente una vez se admite la participación femenina en la vida política, a partir de ese momento podemos hablar verdaderamente de regímenes democráticos.103 Acontecimiento determinante que junto con la decisión incipiente de intervención del Estado en busca de métodos de corrección de la desigualdad social, constituyen cualidades jurídicas observables con carácter previo al reconocimiento general de la dignidad de la persona. El primer texto constitucional en España que reconoce esos derechos de participación política de la mujer, así como derechos económicos y de carácter social es la Constitución de la República de 1931. La “clara e inequívoca orientación social”104 de aquella Constitución quizás se hace especialmente patente a través de la lectura de su artículo 46, donde se afi rma que “la República asegurará a todo trabajador las condiciones necesarias de una existencia digna”. La caracterización de este precepto parece conectarse a la forma del artículo 151 de la Constitución de Weimar de 1919, sin embargo expresa su premisa en un sentido más limitado, por cuanto ésta busca “asegurar a todos una existencia digna del hombre”,105 mientras que la versión republicana española se refiere exclusivamente al trabajador. Es difícil de entender este tratamiento más parco y escaso de la concepción de dignidad del texto de 1931, sobre todo si tenemos en cuenta el anterior precedente republicano de 1873. En sí este artículo de la Constitución de 1931 no es una mención directa de la dignidad de la persona, respondiendo más a una fórmula ideológica acorde con un título preliminar que defi nía España como una “República democrática de trabajadores de toda clase”. No obstante es reseñable la importancia que reviste la recepción de un precepto de este tipo, por cuanto como a dicho Häberle, ésta concepción “viene a dirigir ya una parte de la Constitución”, concretamente el ámbito económico y social.106 Ambito 102
Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, cit., p. 156. No obstante, no todos los autores comprenden la integración de la mujer en el proceso político como imprescindible para la determinación de un ordenamiento como democrático. Así por ejemplo, Hans Kelsen, Esencia y valor de la democracia, Comares, Granada, 2002, p. 22. 104 Francisco Fernández Segado, Las Constituciones Históricas . . ., cit., p. 561. 105 Tal artículo afi rma: “El régimen de la vida económica debe responder a principios de justicia, con la aspiración de asegurar a todos una existencia digna del hombre. Dentro de estos límites se reconoce al individuo la libertad económica”. Véase en Gregorio Peces-Barba Martínez / Llamas Cascón / Fernández Liesa (autores), “Los derechos en la Constitución de Weimar”, en Textos Básicos de Derechos Humanos . . ., cit., pp. 196–207. 106 Este comentario de Häberle, si bien referido al artículo 151 de la Constitución de Weimar de 1919, es perfectamente extrapolable respecto a nuestro artículo 46 de la Constitución de la República de 1931. En efecto, este autor nos señala la virtualidad de un precepto de estas características que actúa “delimitando la libertad económica de los particulares”, y cuyo “alto rango se deriva a través de su vinculación con principios de justicia”. Peter Häberle, “Die Menschenwürde als Grundlage . . .”, cit., p. 817. 103
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económico y social en el que los trabajadores, a tenor de lo establecido en el artículo 46, son los titulares de una protección constitucional y legal reforzada.107 No obstante, esta nueva sensibilidad que se plasma en la regulación de aspectos laborales y en la introducción de derechos económicos y sociales no se va a manifestar con igual acierto y responsabilidad en el tratamiento jurídico de otros derechos y libertades. En efecto, a pesar de la iniciación de una importante labor normativa para resolver ciertos compromisos sociales,108 las garantías de las libertades fundamentales quedaban prácticamente sin efecto, dada la elevación a rango constitucional de la Ley de defensa de la República a través de la disposición transitoria segunda de la Constitución, como ha puesto de relieve entre otros, Torres del Moral.109 La constitucionalización de esta normativa contrasta substancialmente con la recepción de una cláusula especial como la del artículo 46, pues dicho precepto al proclamar la intención de asegurar a todo trabajador una existencia digna se convierte en un factor que también permite observar los derechos reconocidos constitucionalmente no tanto individualmente, sino además como expresión conjunta y en relación con dicho objetivo estatal. Que duda cabe que una vida digna, si bien requiere ineludiblemente de una previsión de las contingencias laborales, exige asimismo de una validez jurídica directa e inmediata de los derechos y demás libertades. Consecuentemente, observamos así principios políticos – como por ejemplo el reconocimiento del sufragio universal o la búsqueda de métodos para la protección de ciertos derechos, como la institución del “recurso de amparo de garantías individuales” – que se adecuan perfectamente a la implementación de ese fi n último. Mientras que por el contrario, la virtualidad de la Ley de defensa de la República, que habilitaba al Gobierno para la restricción directa de los derechos reconocidos en la Constitución, la Ley de Vagos y Maleantes de 4 de agosto de 1933,110 o la ausencia de un precepto prescribiendo la abolición de la pena capital,111 son facetas que se contraponen a la consecución del objetivo de asegurar una existencia digna del trabajador. La constitucionalización de artículos discriminatorios para los eclesiásticos, demás miembros del Clero y “religiosos profesos”112 tampoco ayudarían en este sentido, pues la importante restricción de los derechos de tal sector de la sociedad, terminaría por afectar a los derechos de los 107 No obstante, ello no significaba que las mejoras sociales fueran de beneficio exclusivo de la clase trabajadora. Así, por ejemplo, la regulación de aspectos como la incapacidad, indemnizaciones y accidentes de trabajo, a través de la creación de las llamadas “Mutualidades”, eran coberturas sociales de cuyo disfrute también podían beneficiarse los patronos. Véase el Reglamento para la aplicación a la agricultura de la Ley de accidentes de trabajo, Decreto del Ministerio de Trabajo de 25 de agosto de 1931, Gaceta de Madrid de 30 de agosto, pp. 1509–1514. 108 Sobre ello, Bartolomé Clavero, Manual de historia constitucional . . ., cit., pp. 200–201. 109 Así Antonio Torres Del Moral, Constitucionalismo Histórico Español . . ., cit., p. 179; Francisco Fernández Segado, Las Constituciones Históricas . . ., cit., p. 531. 110 Esta ley posibilitaba el internamiento o prohibición de residir en un determinado lugar de, por ejemplo, mendigos, lisiados y disminuidos mentales por el simple hecho de serlo. 111 Cuestión que si estaba prevista en el Proyecto previo de Constitución. Sobre ello, Francisco Fernández Segado, Las Constituciones Históricas . . ., cit., pp. 509 y 510. 112 Véanse los artículos 26, 27 y 70 de la Constitución de 1931. Interesa también a este respecto; “Acuerdo del Consejo de Ministros para la Disolución de la Compañía de Jesús”, en el periódico El Socialista de 24 de enero de 1932; “Ley de confesiones y congregaciones Religiosas de 17 de mayo de 1933”, en El Sol de 18 de mayo de 1933.
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trabajadores padres a elegir la forma de educación de sus hijos o la posibilidad de practicar y expresar libremente sus convicciones religiosas.113 También encontramos el concepto de dignidad de la persona en algunas de las leyes del régimen del General Franco, como principio rector del Estado; por ejemplo, cuando en el Fuero del Trabajo de 1938 se dice que se debe “subordinar la economía a la dignidad de la persona, teniendo en cuenta sus necesidades materiales y las exigencias de su vida intelectual, moral, espiritual y religiosa”, o también cuando el Fuero de los Españoles de 1945 dice en su artículo 1 que “ el Estado español proclama como principio rector de sus actos el respeto a la dignidad, la integridad y la libertad de la persona humana, reconociendo al hombre, en cuanto portador de valores eternos y miembro de una comunidad nacional, titular de deberes y derechos, cuyo ejercicio garantiza en orden al bien común”.114 No obstante, tales afi rmaciones quedaban diluidas dentro de los fi nes fundamentales del Régimen y subordinadas a un supuesto interés colectivo. Nos encontramos pues ante un contrasentido, por cuanto como expresa el propio término de dignidad, ésta corresponde como ha destacado Nipperdey a cada persona individualmente.115 Además su respeto y atención implica precisamente el “rechazo a una utilización del ser humano como simple medio para los fi nes de una sociedad organizada en forma colectiva o tecnocrática”.116
IV. El presente: La noción de dignidad de la persona general o “incondicional” La dignidad de la persona en su visión jurídica actual se manifiesta pues como algo muy evolucionado respecto a esa consideración de dignidad condicional por “merito” o a “título”, etc., de épocas predemocráticas. Por una parte, por principio, no cabe entender que exista ningún hombre sin dignidad, lo cual se entiende como consustancial por el simple hecho de ser fisiológicamente hombre. Y por otra, no caben distintas gradaciones de dignidad de la persona, aún menos que posibiliten tratos de carácter discriminatorio, por cuanto cada hombre representa exactamente igual dignidad con respecto a su prójimo. La idea jurídica del concepto de dignidad, la transposición efectiva condicional a una significación de dignidad de la persona en general e incondicionada, es por lo tanto reciente, como consecuencia de un largo proceso histórico de consolidación. La recepción de la noción de dignidad en la norma y en la práctica constitucional, con intención real de su implementación como objetivo prioritario del Estado, ha sido una cuestión en extremo lenta y tardía surgiendo como objetivo constitucional y ju-
113 Véase la Pastoral del Episcopado Español ante la Constitución de 1931, este documento se puede ver en el periódico El Debate de 1 de enero de 1932. 114 Véanse en la recopilación de normas de Enrique Tierno Galvan, Leyes Políticas Españolas . . ., cit., pp. 219 y 221. 115 Así Nipperdey H. C. “Die Würde des Menschen”, en la edición de Franz L. Neumann / Hans Carl Nipperdey / Ulrich Scheuner, Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte. T. II. Duncker & Humblot, Berlín 1954, pp. 3 y 6. 116 Christian Starck, “Introducción a la dignidad humana . . .”, cit., p. 490.
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rídico concreto sólo a partir de la segunda mitad del siglo XX, en intensidad creciente desde entonces y en parte como revulsivo a las experiencias totalitarias anteriores.
a) Peculiaridades previas de la recepción constitucional en España La forma de comprensión y la fuerza moral de la noción de dignidad que tenía la Ley Fundamental influiría de forma determinante en muchas Constituciones europeas posteriores.117 Esta influencia se manifestaría también en nuestro texto constitucional,118 que recoge una variante bastante representativa de forma de recepción. Sin embargo, las condiciones previas para el reconocimiento constitucional de este concepto eran algo distintas. Este apareció bajo condiciones específicas que deben tenerse en cuenta. No se había producido aquí una catástrofe como la del Holocausto, tampoco la intención del constituyente parece que fuese una reacción fruto del sentimiento de culpa. Por supuesto hay que reconocer que las motivaciones que llevan al constituyente a la recepción de nuevos valores como límite al poder político y del concepto de dignidad se inscriben asimismo en el sentimiento general europeo de posguerra de distanciamiento con respecto a las ideas de Kelsen y Laband.119 Pero también había otras concausas y matices históricos importantes, principalmente la necesidad de reconsideración del pasado y regeneración de la sociedad española.120 También se puede citar aquí el efecto de reacción al régimen de Franco.121 Estos datos constituyen particularidades que tuvieron que influir de algún modo en la forma de recepción del concepto. Se puede hablar así de un intento de vincular el reconoci117 Así, por ejemplo, Klaus Stern, Das Staatsrecht . . ., cit., p. 19; el mismo autor en Das Grundgesetz im europäischen Verfassungsvergleich, Walter de Gruyter, Berlin, 2000, pp. 12 y 13; Albrecht Weber, “Rechtsstaatsprinzip als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip”, en Zeitschrift für öffentliches Recht, 2008, Vol. 63.2, pp. 267–292. 118 Fernando Garrido Falla, “Artículo 10”, en Fernando Garrido Falla (coord.), Comentarios a la Constitución Española, Civitas, Madrid, 1980, p. 135; Luis Sánchez Agesta, El Sistema Político de la Constitución Española de 1978, Editora Nacional, Madrid, 1984, p. 90; Oscar Alzaga Villamil, Derecho político español, Vol. I, Edersa, Madrid, 1996, p. 211; Angel Luis Alonso De Antonio y José Antonio Alonso De Antonio, Derecho Constitucional Español, Universitas, Madrid, 1996, p. 49; Eusebio Fernández García, en Dignidad humana y Ciudadanía Cosmopolita, Instituto de Derechos Humanos “Bartolomé de las Casas”, Universidad Carlos III de Madrid, Dykinson, 2001, p. 23; Ignacio Gutiérrez Gutiérrez, La dignidad de la persona y derechos fundamentales, Marcial Pons editorial, Madrid, 2005, p. 18. 119 Véase, por ejemplo, Antonio Hernández Gil, en El cambio político español y la Constitución, Planeta, Barcelona, 1982, pp. 122 y 123; Pablo Lucas Verdú, “Nueve de diciembre de 1931; seis de diciembre de 1978: dos fechas claves en la lucha por los derechos y libertades fundamentales en España”, en Anuario de Derechos Humanos, n. 2, Facultad de Derecho de la Universidad Complutense, Madrid, 1983, pp. 261 y ss; el mismo autor en Estimativa y política . . ., cit., pp. 96–100; Luis Sánchez Agesta, El Sistema Político . . ., cit., pp. 121 y 122; Jesús González Pérez, La dignidad de la persona, Civitas, Madrid, 1986, pp. 81–82; Francisco Fernández Segado, La dogmática de los derechos humanos, Ediciones Jurídicas, Lima, 1994, pp. 45 y 46; el mismo autor en “La dignidad de la persona como valor supremo del Ordenamiento Jurídico”, en Angeles López Moreno (coord.), Teoría y práctica en la aplicación e interpretación del Derecho, Colex, Madrid, 1999, p. 44. 120 Sobre ello, Antonio Hernández Gil, en El cambio político español . . . cit., pp. 122 y 123. 121 Véase, por ejemplo, Jorge De Esteban y Pedro J. González-Trevijano, Curso de Derecho Constitucional español, Servicio de publicaciones de la Universidad Complutense, Madrid, 1992, p. 269; Jorge De Esteban y Luis López Guerra, El régimen constitucional español, Labor Universitaria, Barcelona, 1980, p. 114; Angel Luis Alonso De Antonio y José Antonio Alonso De Antonio, Derecho Constitucional . . . cit., p. 227.
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miento de la dignidad humana como premisa y precondición necesaria para la reconciliación; la pretensión de hacer ver, como habían insinuado mucho tiempo antes autores como Recasens Siches,122 Legaz Lacambra,123 Gómez Arboleya,124 Millán Puelles125 y otros,126 que la sociedad sólo se puede realizar a partir del reciproco reconocimiento de que cada hombre tiene dignidad intrínseca, como si fuese a la vez terapia, remedio y solución para la convivencia. De lo que se trataba ahora era de inculcar a la sociedad unos valores consistentes en percibir, en primer lugar, la importancia de la dignidad de la persona y “de los derechos que le son inherentes”, por encima de cualquier otra circunstancia social o personal, como base previa para lograr una “paz social”, y alejarse, de una vez por todas, de la llamada España fraticida, aquella que había llevado hasta la Guerra Civil, tan bien descrita por Unamuno en su obra Abel Sánchez. Fue este contexto el que hizo que nuestro proceso constituyente estuviera marcado por el hecho del consenso. Cisneros Laborda, por ejemplo, ha dejado entrever también precisamente esta virtualidad del reconocimiento de la dignidad como base del pacto para la convivencia, como concepto necesario para la propia existencia de la Constitución.127 Y de ahí, que se pueda hablar perfectamente de “la dignidad como fundamento del consenso”.128 Entre los primeros textos que dejan intuir la progresiva superación del régimen anterior y la búsqueda de una sociedad fundamentada en la dignidad de la persona, estaba el mensaje a los españoles que el Rey Juan Carlos I emitió con motivo de su proclamación en 1975. El contenido de esta misiva es muy distinto de aquel discurso de 23 de julio de 1969, cuando juró el cargo de sucesor de Franco a título de Rey. También se habla aquí de “concordia” y de “deseo de paz”. Pero además se habla ya tímidamente de derechos y deberes, y de buscar condiciones que permitan el efectivo ejercicio de las libertades. Particularmente significativo es el hecho de que se cite la dignidad en relación con la libertad, el derecho al trabajo y la cultura.129 Y, poco 122 Véase, Luis Recasens Siches, Vida humana, sociedad y Derecho: fundamentación de la Filosofía del Derecho, Fondo de Cultura Económica, México D.F, 1945, p. 251. 123 Véase Luis Legaz Lacambra, “La noción jurídica de la persona humana y los derechos del hombre”, en Revista de Estudios Políticos, XI, Madrid, 1955, pp. 15–46; el mismo autor en “El Estado de Derecho”, en Revista de Administración Pública, n. 6, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid, 1991, p. 33. 124 Enrique Gómez Arboleya, “Sobre la noción de persona”, en Revista de Estudios Políticos, 47, Madrid, 1949, pp. 104–133. 125 Véase Antonio Millán Puelles, Sobre el hombre y la sociedad, Rialp, Madrid, 1976, pp. 97–103. 126 José María Gil Robles, Por un Estado de Derecho, Ariel, Barcelona, 1969, pp. 83 y 84. 127 Gabriel Cisneros Laborda, “Balance y perspectivas de la Constitución”, en Revista valenciana d’estudis autonòmics, n. 39–40, Generalitat Valenciana, 2003, pp. 90–101. 128 Francisco Javier Díaz Revorio, “Algunas ideas sobre los valores en la Filosofía jurídica y política”, en Revista de Estudios Políticos n. 102, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid, 1998, pp. 158 y 159. 129 En efecto, en el texto aparecen dos menciones a la dignidad, si bien vinculada a distintas cuestiones: por un lado, cuando se afi rma que “la justicia es el supuesto para la libertad con dignidad”. Por otro, cuando proclama “que no queremos ni un español sin trabajo, ni un trabajo que no permita a quien lo ejerce mantener con dignidad su vida personal y familiar, con acceso a los bienes de la cultura y de la economía para él y para sus hijos”. Véase en el Juramento, Proclamación y mensaje a los españoles del Rey Juan Carlos I, 22 de noviembre de 1975, Ediciones del Movimiento, Madrid, 1975, pp. 11–15. Este texto también se puede encontrar en Enrique Tierno Galvan, Leyes Políticas Españolas . . ., cit., pp. 247–249. Sobre el papel del Rey en el proceso de Transición véase Vicente Palacio Atard, Juan Carlos I y el advenimiento de
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tiempo después, Adolfo Suárez, en el mensaje dirigido al país a través de televisión con motivo de su nombramiento como Presidente del Gobierno, el 6 de julio de 1976, mostraba un lenguaje político que igualmente dejaba entrever lo que estaba por venir y la futura dimensión valorativa del Estado. Fue una introducción que establecía los principios que inspiraban la reforma política y que contenía igualmente conceptos nuevos y reveladores como “paz civil”, “voluntad popular”, “libertad cívica”, “vida digna”, etc.130 Todo ello demuestra que, en cierto modo, el concepto de dignidad subyacía en el espíritu de la Transición desde el principio. En el terreno de los hechos el cambio tuvo su principal expresión jurídica en la Ley para la Reforma Política, de 4 de enero de 1977. A nadie se le escapa que la consecución de la democracia, objetivo prioritario de este instrumento jurídico, no se puede conseguir sin un paralelo respeto a la dignidad del hombre.131 Pero es que, además, se afi rma en esta norma de forma expresa: “los derechos fundamentales de la persona son inviolables y vinculan a todos los órganos del Estado” (artículo 1.1).132 Se asumen así los derechos fundamentales como “principios organizativos básicos del nuevo Estado”133 y se supedita todo el ordenamiento jurídico al respeto de los derechos “inviolables” del hombre. La cuestión que se plantea, por tanto, no sólo es el reconocimiento de los derechos, sino su comprensión como una realidad inherente al ser humano y anterior a la norma positiva.134 Y por eso se puede decir, como ha hecho Fernández Segado con muy buen criterio, que esta afirmación puede considerarse como el “antecedente más inmediato del artículo 10.1 de nuestra Norma suprema”.135
b) El texto del Anteproyecto de Constitución La Constitución de 1978 surgió a partir de esa reforma política, así como de la convicción ideológica de respeto a la persona que ésta generó. El reconocimiento de la noción se integraría efectivamente en el artículo 13 del Anteproyecto de Constitución, dentro del Capítulo II (De las libertades públicas) del Título II (De los derechos la democracia: Discurso leído en el acto de su recepción pública por el Excmo. Sr. D. Vicente Palacio Atard y contestación por el Excmo. Sr. D. Antonio Rimeu de Armas el día 24 de enero de 1988, Real Academia de la Historia, Madrid, 1988. 130 “Mensaje del Presidente del Gobierno, Don Adolfo Suárez González, dirigido al país a través de Radiotelevisión española (6 de julio de 1976)”, en Declaración política del nuevo Gobierno, Ediciones del Movimiento, Madrid, 1976, pp. 9–11. 131 Véanse así las palabras del Presidente interino Fernando Álvarez De Miranda y Torres, con motivo de la Constitución defi nitiva de la Mesa, en Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 27, de 18 de octubre de 1977, p. 1039. 132 Véase en Enrique Tierno Galvan, Leyes Políticas Españolas . . ., cit., pp. 250 y 251. 133 Véase así Benito De Castro Cid, “Derechos humanos y Constitución (Reflexiones sobre el Título I de la Constitución española de 1978)”, Revista de Estudios Políticos, n. 18, 1980, Centro de Estudios Políticos Madrid, p. 123. 134 Compárese, José María Martín Oviedo, “De la octava Ley Fundamental del Reino a la nueva ordenación constitucional española”, en Revista de Derecho Público, n. 68–69, junio-diciembre 1977, pp. 645 y 646; Antonio Hernández Gil, en El cambio político español . . . cit., p. 148; Jesús González Pérez, La dignidad de la persona, cit., pp. 77 y 78; Francisco Fernández Segado, Las Constituciones Históricas . . ., cit., pp. 745 y 746. 135 Francisco Fernández Segado, “La dignidad de la persona . . .”, cit., p. 42.
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y deberes fundamentales), con las siguientes palabras: “La dignidad, los derechos inviolables de la persona humana y el libre desarrollo de la personalidad, son fundamento del orden político y de la paz social, dentro del respeto a la ley y a los derechos de los demás”.136 Ya el tenor de la letra de este precepto es muy reveladora. No obstante, en el texto del Anteproyecto había otro matiz que daba a la noción mayor valor en la medida en que, en el artículo 45 (Capítulo IV del Título I), se había establecido el máximo nivel de protección jurídica posible reconocido en nuestro ordenamiento para “todos los derechos y libertades incluidos en el capítulo dos del presente título”, contando además con el recurso de amparo,137 posibilitando su hipotético tratamiento como derecho fundamental. Ahora bien, en debates posteriores se trasladó el concepto de dignidad al artículo 10, como introductorio del Título I, para ordenar “de una manera más precisa técnicamente los conceptos contenidos en este artículo”, retirándole ese grado máximo de garantía.138
c) La constitucionalización de la noción de dignidad El reconocimiento del concepto de dignidad fue en general ampliamente aceptado. En el Congreso, esta tendencia general se manifestó también en el hecho de que, por mayoría,139 se rechazaron las enmiendas de supresión del término propuestas por Carro Martínez y de la Mora.140 Y el nuevo artículo 10 quedó, después de la aceptación de otros votos y enmiendas141 de poco calado, con el siguiente tenor: “La dignidad de la persona, los derechos inviolables que le son inherentes, el libre desarrollo de la personalidad, el respeto a la ley y a los derechos de los demás, son fundamento del orden político y de la paz social”. Esta nueva redacción sería a la postre la defi nitiva, puesto que el precepto en cuestión ya no sufriría modificación alguna a lo largo de todo el iter constituyente.142 La pretensión de recepcionar la noción de dignidad como concepto jurídico, “como mínimun constitucional inquebrantable” que se impone a todo el ordenamiento,143 supuso un reto que fue asumido también por la gran mayoría de la Cámara. Hay que 136
Boletín Ofi cial de las Cortes, n. 44, de 5 de enero de 1978, p. 671. En efecto, el artículo 45 del Anteproyecto de Constitución, de 5 de enero de 1978, decía: 1.- “Los derechos y libertades reconocidos en el capítulo dos del presente título vinculan a todos los poderes públicos. Sólo por ley, que en todo caso deberá respetar su contenido esencial, podrá desarrollarse el ejercicio de tales derechos y libertades. 2.- Cualquier ciudadano podrá recabar la tutela de los derechos reconocidos en el capítulo segundo ante los tribunales ordinarios, por un procedimiento basado en los principios de preferencia y sumariedad y a través del recurso extraordinario de amparo ante el Tribunal Constitucional”. 138 Boletín Ofi cial de las Cortes, n. 82, de 17 de abril de 1978, pp. 1527, 1530 y 1618. 139 Boletín Ofi cial de las Cortes, n. 82, de 17 de abril de 1978, p. 1530. 140 El texto de la propuesta de enmienda n. 2 que proponía el señor Carro Martínez, era el siguiente: “Las libertades públicas, dentro del respeto a la ley y a los derechos de los demás, son fundamento del orden político y de la paz social”. Por otro lado, el señor Fernández de la Mora, en la enmienda n. 63, proponía la supresión del artículo afi rmando que “no establece ningún derecho y es una defi nición sobre materia no constitucional”. 141 Así J. Ruiz-Giménez Cortés, “Derechos fundamentales de la persona . . .”, cit., p. 79. 142 Francisco Fernández Segado, “La dignidad de la persona . . .”, cit., p. 43. 143 Véase así Pablo Lucas Verdu, “El Título I del Anteproyecto constitucional (La fórmula política de 137
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tener en cuenta aquí el amplio consenso general del Congreso a la recepción del concepto, que fue aprobado, de entre un total de 317 votos emitidos, por 316 votos a favor, ninguno en contra y una sola abstención.144 Esto es, sin duda, un hecho revelador. Y aún más revelador es el hecho de que, asimismo, muchos Diputados llevarán a cabo propuestas de enmiendas de otros artículos tratando de incorporar nuevas referencias a la dignidad para fortalecer el sentido de otros importantes conceptos, como la educación,145 la protección de la infancia,146 la humanidad de las penas privativas de libertad147 y el derecho a la vida.148 Pero es que, además, más allá de ello, la fase de discusión sobre la totalidad del proyecto permite entrever ya las tendencias doctrinales que conforman la base ideológica de la Constitución de 1978. Piénsese en la retórica de Fraga quien afi rmó que el texto constitucional asumía así “un compromiso razonable entre los principios de una visión personalista de la sociedad, basada en el respeto a la libertad y la dignidad de la persona, propias del humanismo cristiano”.149 Piénsese en la interpretación con relación a la libertad de Lavilla Alsina con su afi rmación de que la libertad no sólo es “una exigencia de la dignidad humana, sino que la dignidad humana – materializada en suficiencias socio-económicas – es una condición para el ejercicio efectivo de la libertad”.150 Y también piénsese en Peces-Barba, quien, desde su peculiar evolución a lo largo del mismo proceso constituyente, igualmente subrayó el carácter “humanista” del nuevo orden jurídico. En sus intervenciones dio expresión a una nueva forma de concebir la dignidad, como objetivo de progreso social,151 y llegó a reconocer, después en el Pleno, que a través de este artíla Constitución”, en Estudios sobre el Proyecto de Constitución, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid, 1978, pp. 15 y 16. 144 Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 104, de 5 de julio de 1978, p. 3.891. 145 La Diputada María Victoria Fernández España y Fernández-Latorre, en relación al artículo 28 del Anteproyecto, relativo al derecho a la educación, propugnaba una modificación (enmienda n. 65) del segundo párrafo de ese artículo con el siguiente tenor: “La educación tendrá por objeto el pleno desarrollo de la personalidad humana y del sentido de su dignidad y debe fortalecer el respeto a los principios democráticos de convivencia y a los derechos y libertades fundamentales”. 146 El Grupo Parlamentario Socialistes de Catalunya (enmienda n. 262) y el Grupo Socialista del Congreso (enmienda n. 387) proponían enmiendas al artículo 41, relativo a la promoción de la juventud, para añadir el siguiente texto: “Los niños gozarán de una especial protección de la sociedad y de los poderes públicos para que puedan desarrollar plenamente su libertad y dignidad, de acuerdo a los textos internacionales que velan por su protección”. 147 El Grupo Parlamentario Vasco (enmienda n. 604) pretendía añadir al artículo 24 del Anteproyecto, relativo a la tutela judicial, los derechos del detenido y los límites de las penas privativas de libertad, el siguiente texto: “Las penas habrán de respetar la dignidad del reo y los derechos del mismo no afectados por la condena”. 148 El Diputado Eugenio Ales Pérez, en relación al artículo 15 del Anteproyecto, relativo al derecho a la vida, propugnaba una modificación (enmienda n. 776) del segundo párrafo de ese artículo con el siguiente tenor: “Nadie puede ser sometido a torturas ni a penas o tratos inhumanos o degradantes a la dignidad de la persona humana”. 149 Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 59, de 5 de mayo de 1978, p. 2.045. 150 Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 61, de 9 de mayo de 1978, p. 2.001. 151 Véase también las afi rmaciones de Gregorio Peces-Barba Martínez en Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 68, de 17 de mayo de 1978, p. 2.393, donde también afirma fi nalmente que “será un buen pórtico para justificar la fi nalidad de los derechos fundamentales como camino jurídico para que el hombre desarrolle sus fuerzas creadoras de vida y de razón que lleva en sí y para que pueda convertir a la naturaleza y a las fuerzas del mundo físico, así como a la estructura social, en instrumentos de su libertad”.
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culo se superaba la “concepción formalista del orden y le llena de un valor ético, que es el de la dignidad de la persona y de su derecho integral”.152 En el Senado, la notoria acogida del concepto de dignidad se manifestó también en que prácticamente ninguna enmienda iba dirigida a la supresión del término. La “nueva y total redacción” del artículo propuesta por Carazo Hernández,153 dirigida a desviar el precepto hacia una “genérica referencia a los derechos humanos aprobados por la ONU”, como dijo Ruiz-Gimenez en su Comentario al artículo 10,154 no sería más que la excepción que confirma la regla.155 Además, en los debates, como ya había sucedido en el Congreso, muchos fueron los que argumentaron sus postulados, tanto en relación con el artículo 10 como en relación con otros artículos, haciendo mención a la dignidad de la persona. Piénsese entre otros,156 por ejemplo, en Martín-Retortillo con su vinculación del concepto con la abolición de la pena de muerte,157 en Galván González que lo vincula a los derechos del detenido,158 en Monreal Zia con su adelantada afi rmación de que los métodos de investigación no deben vulnerar la dignidad humana,159 pero también en Begue Cantón con su vinculación del concepto al derecho a la educación.160 Ahora bien, fue Sánchez Agesta, desde su personal convicción fi losófica, quien hizo la declaración más completa. Sobre la base de la tradición histórica española de los derechos inviolables de la persona, representada desde antiguo por el Fuero de León del siglo XI y la teoría de los derechos naturales de Vazquez de Menchaca, en la que ve la antesala de las declaraciones Universales de derechos, Sánchez Agesta identifica la dignidad como “la mejor base de la convivencia”. Desde esa perspectiva y reconociendo también la influencia del Cristianismo y del humanismo socialista, delimitó el carácter jurídico-práctico del concepto de dignidad no sólo como principio que puede concretar el contenido de otros derechos, sino también como elemento de interpretación de primer orden.161 El 26 de septiembre de 1978, en Sesión Plenaria, se sometió a votación el texto del artículo referido a la dignidad de la persona, y se concluyó validando el texto del precepto por el Senado con una votación favorable de 131 votos a favor, ninguno en
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Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 104, de 5 de julio de 1978, p. 3.888. El voto particular n. 57 (enmienda 226) proponía una “nueva y total redacción del artículo”, proponiendo el siguiente texto: “Los derechos humanos de explicito reconocimiento con que fueron aprobados en la Asamblea General de las Naciones Unidas constituyen el fundamento del orden político y la paz social de la Patria española. Ningún término ni concepto del presente texto constitucional podrá ir contra la esencialidad de los citados derechos humanos”. Véase en Boletín Ofi cial de las Cortes, n. 157, de 6 de octubre de 1978, pp. 3.456 y 3.457. 154 J. Riuz-Giménez Cortés, “Derechos fundamentales de la persona . . .”, cit., pp. 83 y 84. 155 Además, cabe decir aquí que la Declaración Universal de los Derechos Humanos de 1948 contiene el concepto de dignidad humana. Así, de algún modo,el discurso de Fidel Carazo Hernández suponía de todos modos un reconocimiento implícito de este valor. 156 Véanse las declaraciones en los debates del Senado de los Senadores Azcarate Florez, Escudero López y Ollero Gómez en el Diario de Sesiones del Senado, n. 42, de 23 de agosto de 1978, respectivamente, pp. 1.737–1.739 y 1.754–1755. 157 Diario de Sesiones del Senado, n. 43, de 24 de agosto de 1978, pp. 1.809 y 1.810. 158 Diario de Sesiones del Senado, n. 43, de 24 de agosto de 1978, pp. 1.829–1.831. 159 Diario de Sesiones del Senado, n. 43, de 24 de agosto de 1978, p. 1.857. 160 Diario de Sesiones del Senado, n. 44, de 25 de agosto de 1978, p. 1.919. 161 Diario de Sesiones del Senado, n. 42, de 23 de agosto de 1978, pp. 1.743 y 1.744. 153
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contra y 62 abstenciones.162 Después del Dictamen de la Comisión Mixta CongresoSenado,163 en las conocidas Sesiones Plenarias del Congreso y el Senado de 31 de octubre de 1978, los miembros de ambas cámaras ratificaron de forma absolutamente mayoritaria el texto constitucional y con él la referencia a la dignidad de la persona.164 Por cierto que a la votación fi nal en el Senado aún precedió una serie de atractivas menciones a esta noción que vuelven a probar el sentimiento general a favor de su reconocimiento constitucional. Así, González Seara explicitó su visión conceptual partiendo de una idea de la libertad como atributo de la dignidad, que exige la participación del ciudadano en la vida política pero también una mejor distribución de los bienes entre los miembros de la comunidad.165 También Sánchez Agesta, después de volver sobre su idea de la noción como base de convivencia, puntualizó su interpretación de la dignidad como concepto vinculado a la autonomía de la vida privada y al libre desarrollo de la personalidad.166 Y, fi nalmente, también Villar Arregui derivó del concepto su virtualidad como fin último del poder político.167
Zusammenfassung Die ursprüngliche Idee von „Würde“ kann im Wesentlichen als bloßes Synonym für die Anerkennung des Erfolgs und des Verdienstes eines Menschen gesehen werden, diese hängen ganz von den Umständen ab. Die Anfangsphase dieser Sicht hat ihren Ursprung in der ersten Vereinigung der ersten Menschen, die nur deren 162
Diario de Sesiones del Senado, n. 59, de 26 de septiembre de 1978, p. 2.954. Sometido el Proyecto de Constitución a estudio de la Comisión Mixta Congreso-Senado, para que resolviera las diferencias existentes entre las versiones de una y otra Cámara, el dictamen fue favorable al texto aprobado en el Senado, con una mínima corrección de estilo, si bien sin variar la redacción del artículo 10.1. El Dictamen se puede encontrar en el Boletín Ofi cial de las Cortes, n. 170, de 28 de octubre de 1978, pp. 3.701 y ss. 164 En efecto, en el Congreso por una mayoría de 325 votos a favor, sólo 6 en contra y 14 abstenciones (véase Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados, n. 130, de 31 de octubre de 1978), sobre 345 Diputados, mientras que en el Senado la aprobación se produjo por una mayoría de 226 votos a favor, sólo 5 en contra y 8 abstenciones, sobre un total de 239 Senadores (Diario de Sesiones del Senado, n. 68, de 31 de octubre de 1978). Véase también en el Boletín Ofi cial de las Cortes, n. 170, de 28 de octubre de 1978. 165 El Senador Luis González Soara, en su uso de la palabra, realizó la siguiente declaración en torno a la dignidad: “no solamente la libertad es un atributo de la dignidad humana, sino que se exige que la dignidad humana sea condición fundamental para que se pueda disfrutar de la libertad; y la dignidad humana solamente se consigue cuando los individuos no solamente participan de una manera formal en la voluntad del poder político, sino que participan igualmente en la decisión de tipo económico que tiene que llevar a cabo una mejor distribución de los bienes entre todos los miembros de una comunidad”. 166 Sobre la base del consenso y la libertad individual, Luis Sánchez Agesta explicitó su idea de convivencia afi rmando la necesidad de que “cada uno tenga asegurada su autonomía de vida como consecuencia de su dignidad personal”. 167 El Senador Manuel Villar Arregui realizó tras afi rmar que “la Constitución promueve el encuentro fraterno de todos los ciudadanos desde unos presupuestos en los que la persona se instaura como eje y fi nalidad última de la acción política”, citó literalmente el contenido del artículo 10.1 y añadió que, junto a este artículo, la Sección I del Capítulo II constituía la “Carta de los derechos humanos expresada en términos del más hondo sentido, al mismo tiempo personalista y comunitario, nunca superados por el constitucionalismo español”. 163
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Wichtigkeit für eine Gruppe verstehen kann. Diese Art des Verständnisses kann man „bedingte Würde“ nennen, denn die Würde ist von Vorbedingungen abhängig und als solche wird sie nicht gleichermaßen auf alle Menschen bezogen. Hier zwei Beispiele: Im römischen Recht wurde die dignitas auf die besondere und rechtliche Lage der römischen Bürger bezogen, aber diese Lage ist abhängig von ihren Möglichkeiten und ihrem Verhalten, d. h. von vielen Vorbedingungen. Ein anderes Beispiel: Im westgotischen Spanien treffen wir auf eine Art von Würde, welche die Bedeutung, den Rang und den guten Ruf des Menschen im Kollektiv meint. Dasselbe Kriterium können wir im Liberalismus beobachten. In dieser Epoche ist die Würde vor allem Synonym für die Leistung eines Menschen. Eine Person ohne Leistungsfähigkeit und z. B. die Frauen genießen diesen Status nicht. Das Menschenbild hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg verändert. Der Holocaust, die Degradierung der Zivilbevölkerung zum militärischen Ziel, die Atombomben in Hiroshima und Nagasaki bewirkten einen radikalen Wandel. Im Recht schlägt sich diese Veränderung speziell in der Menschenwürde nieder, welche sich zu einem Verfassungsprinzip verwandelt. Das Grundgesetz ist die erste Verfassung, welche diesen Grundgedanken in einem bestimmten Artikel normiert. Jetzt ist die Würde zu einem Gesamtkonzept gereift. Jetzt haben alle Menschen Würde, weil der Mensch schlicht und einfach „physiologisch“ Mensch ist. Das Grundgesetz hat in diesem Sinne die spanische Verfassung von 1978 intensiv beeinflusst. Ganz offensichtlich übernimmt diese das Verfassungsprinzip der Menschenwürde in den europäischen Kontext, auch ganz allgemein zugunsten der Menschenrechte, welche viele Usprünge in der Nachkriegszeit haben. Auch historische Unterschiede spielen eine Rolle. Dieser Essay handelt von allen diesen Fragen und von den Besonderheiten in Spanien. Er stellt den historischen Prozess der Rezeption des Menschenwürdekonzepts in Spanien dar.
Das Statut von Katalonien vor dem spanischen Verfassungsgericht von
Prof. Dr. Hèctor López Bofi ll1 Professor an der Universität Pompeu Fabra (Barcelona)
Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbemerkungen zur Verfassungskontrolle des katalanischen Statuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Präambel, zur katalanischen Selbstregierung, zu den historischen Rechten, der katalanischen Nation und den nationalistischen Symbolen . . . . . IV. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Mit den Urteilen 137/2010 und 138/2010 vom 16. Dezember 2010 hat das spanische Verfassungsgericht letztendlich die Flut der Anträge auf abstrakte Normenkontrolle gegen das Autonomiestatut von Katalonien (Estatuto de autonomía de Cataluña, im Folgenden: EAC) bewältigt. Von den insgesamt sieben Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang ergangen sind, ist zweifelsohne die vom 28. Juni 2010 als die wichtigste hervorzuheben, da in dieser das spanische Verfassungsgericht den von der Fraktion der Volkspartei (Partido Popular) gestellten Antrag auf abstrakte Normenkontrolle zum Anlass nimmt, um die bedeutendste Auslegung des Rechts der Autonomen Gebietskörperschaften (Comunidades Autónomas) in der spanischen Verfassungsgeschichte vorzunehmen 2. Dies hat für die spanische Verfassungsordnung 1 2
Ich danke Frau Carina Alcoberro für ihre sprachlichen Hinweise und Korrekturen. Die verschiedenen Urteile in denen sich das Verfassungsgericht mit dem Statut Kataloniens be-
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keine geringere Folge, als dass die in der spanischen Verfassung (Constitución española, im Folgenden CE) festgelegte „offene Struktur“ des spanischen dezentralisierten Staats3 durch das Urteil 31/2010 vom 28. Juni gewissermaßen „geschlossen“ worden ist. Eine maßgebliche Rolle spielt in diesem strukturellen Wandel zweifelsohne die Bekräftigung des Verfassungsgerichts als höchstes und einziges Auslegungsorgan der Verfassungsbegriffe im Bereich der staatlichen Gebietsorganisation. Die Änderung des katalanischen Statuts lässt sich als die ehrgeizigste der Reformen der Autonomiestatute der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts4 bezeichnen. Die Absichten die der katalanische Statutgeber mit dieser Änderung verfolgte, lassen sich in drei große Gruppen unterteilen: 1) die Verbesserung der Anerkennung Kataloniens als „Nation“ und somit eine Aufwertung der katalanischen Sprache, der katalanischen Kultur sowie der katalanischen Identitätselemente im Verhältnis zu den spanischen5 2) der Schutz der Gesetzgebungs- und Ausführungsbefugnisse, die die Verfassungsordnung den katalanischen Institutionen unter Ausschluss staatlicher Gesetzgebung zuerkennt, und 3) eine Verbesserung der fi nanziellen Beziehungen Kataloniens zum Zentralstaat sowie zu den übrigen Autonomen Gebietskörperschaften. Besonders hervorzuheben ist in diesem Sinne der Versuch die Solidaritätsverpfl ichtung Kataloniens zu den weiteren Gebietskörperschaften zu beschränken. Mit dem Urteil 31/2010 vom 28 Juni kann man zweifelsohne behaupten, dass das katalanische Statut nun keinem dieser Ziele mehr gerecht werden kann. Durch die 14 Nichtigkeitserklärungen und die 27 verfassungskonformen Auslegungen, die das Urteil enthält, hat das spanische Verfassungsgericht die Fundamente des Autonomiestatuts Kataloniens zerstört.
II. Vorbemerkungen zur Verfassungskontrolle des katalanischen Statuts Die Änderung des katalanischen Statuts wurde, auf Vorschlag des katalanischen Parlaments, mit absoluter Mehrheit im spanischen Kongress und Senat beschlossen. Diese Mehrheit wurde mit den Stimmen der sozialdemokratischen Regierungspartei schäftigt hat, sind, neben der bereits erwähnten Entscheidung 31/2010 vom 28. Juni, die Urteile 137/2010 vom 16. Dezember (abstrakte Normenkontrolle auf Antrag des Ombudsmanns), 138/2010 vom 16. Dezember (abstrakte Normenkontrolle auf Antrag der Regierung von La Rioja), die Entscheidung 46/2010 vom 8. September (abstrakte Normenkontrolle auf Antrag der Regierung von Aragonien), die Entscheidung 47/2010 vom 8. September (abstrakte Normenkontrolle auf Antrag der Regierung der Balearen), die Entscheidung 48/2010 vom 9. September (abstrakte Normenkontrolle auf Antrag der Regierung von Valencia) und die Entscheidung 49/2010 vom 29. September (abstrakte Normenkontrolle auf Antrag der Regierung von Murcia). 3 Der Begriff „offene“ Struktur bezieht sich auf die Tatsache, dass bis zum Urteil 31/2010 vom 28. Juni die Ausgestaltung der territorialen Ordnung Spaniens weitgehend auf verfassungsfremden Texten, den Autonomiestatuten, beruhte. Dazu der Klassiker von P.Cruz Villalón, La estructura del Estado, o la curiosidad del jurista persa in P.Cruz Villalón, La curiosidad del jurista persa y otros escritos sobre la Constitución, 1999, S. 381–394. Auch in diesem Sinne E.Fossas i Espadaler, El principio dispositivo en el Estado Autonómico, 2007, S. 49 ff. 4 Bis 2011 sind, neben dem katalanischen, die Statute von Valencia, den Balearen, Aragonien, Andalusien, Kastilien-Leon, Navarra und Extremadura geändert worden. 5 Dazu P.Häberle, Juristische Kultur in Katalonien, JöR 56 (2008), S. 510–517.
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(Partido Socialista Obrero Español) sowie einiger kleinerer, darunter auch katalanischer, Oppositionsparteien, erreicht. Die Verabschiedung des Statuts wurde jedoch zugleich vom heftigen Widerstand der stärksten Oppositionspartei, der Volkspartei, begleitet: Die Parteispitze der Volkspartei behauptete, dass das neue Statut Kataloniens radikal verfassungswidrig sei und die Einheit Spaniens gefährde. Trotz dieser ablehnenden Haltung kam es, auch ohne die Stimmen des Partido popular, zur Verabschiedung der Statutsänderung durch die spanischen Legislativkammern (Cortes Generales), und trotz erneuten Widerstands der Volkspartei, der sich in einer vehementen Kampagne gegen das Statut äußerte, wurde das neue Autonomiestatut durch die Bürger Kataloniens per Referendum ratifiziert. Kurz nach Verkündung des neuen Statuts, zogen Abgeordnete der Fraktion der Volkspartei im Kongress mit einem Normenkontrollantrag, der mehr als einhundert Artikel des Statuts in Frage stellte, vor das spanische Verfassungsgericht. Diesem Antrag folgten, bezüglich einzelner Vorschriften des Statuts, weitere vom Ombudsmann sowie von den Regierungen von La Rioja, Valencia, Aragonien, den Balearen und Murcia6. Das Verfassungsgericht benötigte fast vier Jahre, um über die besagten Normenkontrollanträge zu entscheiden. In dieser Zeit hatten die politischen Auseinandersetzungen bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des Statuts zu einer starken Polarisierung des Prozesses geführt und eine schier unüberbrückbare Kluft zwischen den ideologisch in zwei Lagern positionierten Verfassungsrichtern geschaffen sowie zu einer maßgeblichen Veränderung der regelmäßigen Zusammensetzung des Gerichts geführt. Von den 12 Richtern des Verfassungsgerichts wurde, während der Prüfung des besagten Normenkontrollantrags, ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, ein weiterer verstarb im Jahr 2008 und weiteren vier Richtern lief im Jahr 2007 das Mandat ab. Die Frage der Neubesetzung dieser vier Richter durch den Senat sowie des verstorbenen Richters durch den Kongress, führte zu vehementen Auseinandersetzungen zwischen den beiden stärksten spanischen Parteien (Partido Socialista Obrero Español und Partido Popular), die unfähig waren sich auf bestimmte Kandidaten zu einigen, weil sie je nach politischer Neigung des Kandidaten, sein Abstimmungsverhalten in dem Normenkontrollverfahren fürchteten. Aufgrund der unregelmäßigen Zusammensetzung des Gerichts forderte das katalanische Parlament in einem Zusatzantrag vom Verfassungsgericht sich in dem besagten Normenkontrollverfahren unzuständig zu erklären, da es schwer vertretbar sei unter diesem Umständen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes mit höchster demokratischer Legitimation zu entscheiden. Das Verfassungsgericht lehnte den Antrag ab und erklärte sich zuständig7. Von diesen und anderen Auseinandersetzungen begleitet, erging das Urteil 31/2010 zum Normenkontrollantrag der Fraktion der Volkspartei schließlich mit 6:4 Stimmen. Eine derart wichtige Entscheidung wurde somit mit einer Mehrheit von zwei lediglich Stimmen getroffen. Anlässlich der Anträge gegen Kataloniens Statut wurde ebenfalls die Spannung zwischen Verfassungsgerichtsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip spürbar wie sel6 Für einige Chronik der Ereignisse, die dem Urteil 31/2010 vom 28. Juni vorausgehen (bis zum Jahr 2007), M.Carrillo, Introducció: la cronologia jurídica de l’Estatut, in M.Carrillo/H.López Bofill und A.Torres Pérez, L’Estatut d’Autonomia de Catalunya de 2006. Textos Jurídics. Institut d’Estudis Autonòmics, 2006, S. 11–34. 7 Beschluss des spanischen Verfassungsgerichts vom 23. Juni 2010.
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ten zuvor: Das Verfahren welches zur Verabschiedung des Statuts führte, beinhaltete die Ratifizierung durch zwei Parlamente (das katalanische Parlament und die staatlichen Legislativkammern bestehend aus Kongress und Senat) sowie in letzter Instanz durch das katalanische Volk. Bis zu seinem Urteil vom 28. Juni hatte das spanische Verfassungsgericht noch nie ein durch Volksabstimmung verabschiedetes Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft. Vor diesem Hintergrund wurde teilweise in der Lehre vertreten, dass die Verfassungskontrolle im Falle eines durch Volksabstimmung verabschiedeten Statuts (dies ist neben Katalonien in Andalusien, Galicien und dem Baskenland der Fall) ausgeschlossen sei. Nach der Auffassung von J. Pérez Royo fehlte dem Verfassungsgericht die Befugnis, um das katalanische Statut zu überprüfen, da die spanische Verfassung in Artikel 152.2 feststelle, dass Statute wie das katalanische nur durch Volksabstimmung geändert werden können und sich somit eine materielle Prüfung desselben durch das Verfassungsgericht verbiete8. Diese Problematik fi ndet im Urteil 31/2010 vom 28. Juli leider keine Erwähnung. Dies war nicht unbedingt zu erwarten, da das Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung angedeutet hatte, dass die Umstände, unter denen das überprüfte Gesetz verabschiedet wurde, für die Intensität der Verfassungskontrolle von Bedeutung seien. So würdigten die Verfassungsrichter im Falle eines einstimmig verabschiedeten Gesetzes den verstärkten Einsatz des demokratischen Gesetzgebers indem sie von einer „Vermutung“ der Verfassungsmäßigkeit zu Gunsten des Gesetzes ausgingen9. Somit war aufgrund seiner bisherigen Rechtssprechung zu erwarten, dass das Verfassungsgericht bei der Prüfung eines Gesetzes mit höchster demokratischer Legitimation mehr Zurückhaltung zeigen würde. Dem war nicht so, für das katalanische Statut gab es keine „Vermutung der Verfassungsmäßigkeit“ und das, obwohl es mit einer großen Mehrheit im katalanischen Parlament, einer absoluten Mehrheit im spanischen Kongress und durch die katalanischen Bürger per Referendum verabschiedet wurde. In anderen Rechtsordnungen so wie in der Schweiz, ist die Verfassungskontrolle, die das Bundesgericht über kantonale Gesetze, die durch Volksabstimmung oder auf Volksinitiative verabschiedet wurden, aus Achtung vor dem Demokratieprinzip sehr beschränkt10. Doch, wie bereits einleitend angemerkt, nahm das spanische Verfassungsgericht im Rahmen der Normenkontrolle keinerlei Rücksicht auf die demokratische Legitimation des katalanischen Statuts.
III. Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Präambel, zur katalanischen Selbstregierung, zu den historischen Rechten, der katalanischen Nation und den nationalistischen Symbolen Die Antragssteller behaupteten, dass die Defi nition von Katalonien als Nation in der Statutspräambel, insbesondere in Verbindung mit den Artikeln des Statuts bezüglich der Identitätselemente, verfassungswidrig sei. Die Fraktion der Volkspartei8
J.Pérez Royo, La última palabra, El País vom 5. September 2009. Spanisches Verfassungsgerichtsurteil 107/1996 vom 12. Juni. Zu dieser Entscheidung V.Ferreres Comella, Justicia Constitucional y democracia, 1997, S. 280. 10 Vgl. in diesem Zusammenhang BGE 125 I 65. 9
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abgeordneten im Kongress betrachtete die Bezeichnung Kataloniens als „Nation“ als Anerkennung von mit der spanischen Verfassung unvereinbaren Souveränitätseigenschaften. Die Verfassung begründe die staatliche Souveränität, die von dem spanischen Volk ausgeübt wird, in der Einheit der spanischen Nation. Die Präambel des Statuts widerspräche der spanischen Verfassung, indem sie feierlich verkünde, dass „das Parlament von Katalonien als Ausdruck des Fühlens und Wollens der Bürger Kataloniens mit überwiegender Mehrheit Katalonien als Nation definiert hat“11, während aus Art. 2 der spanischen Verfassung zu entnehmen sei, dass die Verfassung „sich auf der unauflöslichen Einheit der spanischen Nation [begründe], gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier“. Vorab oblag es dem Gericht allerdings zu klären, ob man die Präambel überhaupt in die Prüfung mit einbeziehen könnte. Das Verfassungsgericht fügt an dieser Stelle seiner bisherigen Rechtsprechung neuen Nuancen hinzu, als es beschloss, dass Präambeln unter gewissen Umständen eine rechtlich verbindliche Wirkung haben und insofern einen tauglichen Prüfungsgegenstand darstellen. Nach Auffassung des Gerichts ist das immer dann der Fall, wenn der Text einer Präambel dazu beiträgt, den anschließenden Gesetzestext auszulegen. Mit Hinblick auf das katalanische Statut stellt das Verfassungsgericht eine Verbindung des Begriffs „Nation“ aus der Präambel mit bestimmten Artikeln des Statuts, den Symbol- Artikeln, in denen die Identitätselemente Kataloniens (Flagge, Feiertag und Hymne) als „national“ bezeichnet werden, her. Aus dem Zusammenhang zwischen Begriffen aus der Präambel und den o. g. Artikeln, schließt das Verfassungsgericht, dass die Präambel tauglicher Prüfungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle ist. Bezüglich der Bezeichnung Kataloniens als „Nation“ in der Präambel in Verbindung mit den Identitätssymbolen und der Erwähnung des katalanischen Volkes in Art. 2.4 EAC, erklärt das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung 31/2010, dass man den Begriff „Nation“ als die „Nationalität“ verstehen kann. An die spanischen „Nationalitäten“ knüpft nämlich die spanische Verfassung (Art. 2 CE) das Recht zur Selbstregierung an. Die Verfassungsrichter betonen, dass man im verfassungsrechtlichen Sinne einzig und allein eine Nation anerkennen kann, nämlich die spanische, auf der gemäß Art. 2 CE die Verfassung beruht und deren Souveränität durch das spanische Volk ausgeübt wird. Das Gericht betrachtet zwar in diesem Sinne die Statutspräambel sowie Art. 1 EAC als verfassungsmäßig12, stellt aber gleichzeitig klar, dass Präambel und der Symbol-Artikel des Statuts verfassungskonform in Hinblick auf Art. 2 auszulegen sind, vielleicht mit der Absicht weitere Schritte in der Ausübung von Hoheitsrechten durch das katalanische Statut zu verhindern. Das Verfassungsgericht schließt ebenfalls durch eine verfassungskonforme Auslegung aus, dass die Erste Zusatzbestimmung der spanischen Verfassung in Bezug auf „historische Rechte“ Kataloniens (Art. 5 EAC) anwendbar ist. In der Ersten Zusatzbestimmung der spanischen Verfassung wird nämlich das besondere Finanzsystem (Concierto Económico) von Baskenland und Navarra anerkannt13. Durch die strikte 11 Zur Präambel des katalanischen Statuts P. Häberle, Juristische Kultur in Katalonien, op. cit., S. 511. 12 In der Statutspräambel wird betont, dass „Die spanische Verfassung in Artikel 2 die nationale Wirklichkeit Kataloniens als die einer Nationalität [anerkennt]“. 13 Die erste Zusatzbestimmung der spanischen Verfassung lautet: „Die Verfassung schützt und achtet
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Ablehnung des Gerichts, unter den „historischen Rechte“ Kataloniens, die der Ersten Zusatzbestimmung zu verstehen, wird eine Ausdehnung der Finanzsysteme des Baskenlands und Navarras auf Katalonien ausgeschlossen. Falls man vertritt, dass Finanzsysteme wie das des Baskenlands die fi nanzielle Stellung Kataloniens zum Staat verbessern können, hat die Entscheidung zu den „historischen Rechten“ dann auch Folgen für den Versuch Kataloniens sich finanziell besser zustellen, Die „historischen Rechte“ Kataloniens, wie sie sich aus der verfassungskonformen Auslegung des Statuts ergeben, gehören lediglich in den Bereich des Zivilrechts, der Sprache, der Kultur und deren Einfl ießen in das Erziehungswesen, sowie das institutionelle System.
IV. Sprache Die Antragssteller hatten allgemeine Aspekte der Regelung der katalanischen Sprache (Art. 6 EAC) angegriffen, unter anderen deren Eigenschaft als „eigene“ Sprache Kataloniens mit den Folgen, die in Art. 6.1 EAC vorgesehen sind sowie die Pfl icht das Katalanische zu beherrschen gemäß Art. 6.2 EAC. Diese Regelung ist nach dem Urteil des spanischen Verfassungsgerichts zum Teil verfassungskonform auszulegen zum Teil verfassungswidrig. Nicht mit der Verfassung zu vereinbaren ist somit laut Urteil Art. 6.1 EAC, der den „bevorzugten“ Gebrauch des Katalanischen durch Behörden und öffentliche Medien Kataloniens vorsah. Das Verfassungsgericht sah in dem Begriff „bevorzugter“ Gebrauch mehr als nur eine bloße Beschreibung der „Sprachwirklichkeit“ Kataloniens im Sinne eines „normalen“ Gebrauchs: vielmehr werde dem Katalanischen der Vorrang vor der kastilischen Sprache erteilt. Diese Bevorzugung auf Kosten des Kastilischen sei, nach Ansicht der Verfassungsrichter, mit der Regelung der Amtssprachen für das gesamte Staatsgebiet, so wie sie die spanische Verfassung vorsieht, unvereinbar. Der Gesetzgeber dürfe zwar, um das historische Ungleichgewicht zwischen den beiden Sprachen zu verringern, zur Förderung des Katalanischen geeignete und angemessene Normen erlassen, er dürfe dabei aber keiner der beiden Sprachen den Vorzug geben. Eine weitere Sprachenregelung, die das Gericht überprüft, ist die in Art. 6.2 EAC für die Bürger Kataloniens enthaltene Pfl icht das Katalanische zu beherrschen. Diese „Sprachpfl icht“ ist verfassungskonform, solange sie nicht den Umfang der verfassungsmäßigen Pfl icht das Kastilische zu beherrschen, erreicht. Somit kann, in den Augen der Verfassungsrichter, die Pfl icht das Katalanische zu beherrschen ausschließlich im Bereich des Bildungswesens und der Verwaltung gefordert werden. Ebenfalls verfassungskonform auszulegen ist die Sprachenregelung für die Schul- und Hochschulbildung gemäß Art. 35 EAC: Die katalanische Sprache darf Hauptlehr- und Unterrichtssprache sein, solange dasselbe für die kastilische Sprache gilt. Diese Lösung unterlag scharfer Kritik, da argumentiert wurde, dass es lediglich eine Haupt-
die historischen Rechte der Foralgebiete. Die allgemeine Anpassung dieser Foralordnung wird gegebenenfalls im Rahmen der Verfassung und der Autonomiestatute vorgenommen.“
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unterrichtssprache geben kann und somit in jedem Fall eine der beiden Sprachen den Vorzug erhalten müsste.
V. Grundrechte Die Antragssteller griffen einzelne Artikel des ersten Titels des EAC, der Grundrechten und -pfl ichten gewidmet ist, mit der Begründung an, das Statut sei als solches ungeeignet, um diese zu enthalten und verletze somit die verfassungsmäßige Grundrechtsordnung der Art. 15 bis 29 CE. In den Augen der Verfassungsrichter sind die angegriffenen Artikel des Statuts grundsätzlich mit der Verfassung zu vereinbaren. Allerdings vertritt das Verfassungsgericht, dass viele der Bestimmungen, die „Statutsrechte“ enthalten, keine subjektiven Rechte im eigentlichen Sinne begründen, sondern vielmehr als Auftrag an den katalanischen Gesetzgeber zu verstehen sind. Somit unterscheiden sich die „Statutsrechte“ von den durch die Verfassung anerkannten Grundrechten, die als unmittelbar geltendes Recht alle Gesetzgeber des Staates binden (Cortes Generales und Parlamente der Autonomen Gebietskörperschaften). Die sogenannten Statutsrechte binden lediglich den katalanischen Gesetzgeber (vgl. Art. 37.1 EAC) in dessen Kompetenzbereich. Das katalanische Parlament muss also, sofern es zuständig ist, die Statutsrechte erstmal einfach gesetzlich ausgestalten, um diese in subjektive und gerichtlich durchsetzbare Rechte zu verwandeln. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass das Verfassungsgericht das Autonomiestatut als Norm zur Ausgestaltung von Grundrechten für ungeeignet erachtet, da es sich dabei um eine grundlegende institutionelle Norm handelt, die nur auf einem begrenzten Gebiet Anwendung fi ndet.
VI. Kompetenzverteilung Durch das Einfügen einer allgemeinen Defi nition der verschiedenen Kompetenztypen in die Art. 110, 111 und 112 EAC14 unternahm der Statutgeber den Versuch den Umfang der staatlichen Zuständigkeiten zu begrenzen. Dieser Versuch scheiterte jedoch an dem Widerstand des Verfassungsgerichts: In seinem Urteil 31/2010 vom 28. Juni stellt es klar, dass ausschließlich ihm die funktionale Defi nition der Zuständigkeiten im Rahmen der Verfassungsauslegung zusteht, da das Statut als Norm ungeeignet sei, um eine solche Defi nition zu enthalten. Die Verfassungsrichter urteilen demnach, dass „sei es Gesetzgebung, Verwaltung, Vollzug oder Rechtsprechung, unabhängig von den Begriffen mit den denen die verschiedenen normativen Funktionen, Rechtsakte und Dispositionen, die sich aus der Ausübung dieser Zuständigkeit ergeben, bezeichnen: Was der Umfang der verfassungsmäßigen Rechte, Pfl ichten und Fähigkeiten ist, ist eine Frage die, aufgrund des Nachaußentretens des Willen des Verfassungsgebers durch die Sprache, ausschließlich im Rahmen der Auslegung der formellen Verfassung geklärt werden kann und deren Bedeutung durch seinen 14 Vgl. die Statutsreformen Andalusiens (Art. 42.2.1, 42.2.2 und 42.2.3) sowie Aragoniens (Art. 71, 75 und 77).
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höchsten Ausleger [das Verfassungsgericht] begrenzt wird“ (Urteil 31/2010 vom 28. Juni, Entscheidungsgrund 57). Dieser Grundsatz, der sich nicht zwingend aus der bisherigen Rechtssprechung des Gerichts ergibt, stellt einen grundsätzlichen Wandel in der Betrachtungsweise des Staats der Autonomien dar: Während die Gebietsordnung bisher als „entkonstitutionalisiert“ galt, sprich hauptsächlich durch nicht in der Verfassung enthaltene Normen, den Autonomiestatuten, bestimmt wurde, wird man sie nun als „überkonstitutionalisiert“ bezeichnen müssen. Dies beruht auf zwei Entwicklungen, die beide erstmals in dem Urteil 30/2010 vom 28. Juni in Erscheinung treten: Einerseits kommt es, wie bereits erwähnt, zu einer Monopolisierung der Bestimmung der Gebietsordnung zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen der Auslegung von Verfassungsbegriffen und -konzepten, während, andererseits eine Abwertung der Autonomiestatute vorgenommen wird. Diese Abwertung betrifft sowohl seinen Rang als Rechtsquelle sowie seine Funktion als Prüfungsmaßstab für die Kontrolle einfachgesetzlicher Vorschriften und die Einhaltung der Kompetenzzuweisungsvorschriften, die ihm durch die Einbindung in den sogenannten Verfassungsmäßigkeitsblock zukommt.Im Ergebnis ist festzuhalten, dass das Verfassungsgerichtsurteil zum Statut von Katalonien, das im Normenkontrollverfahren auf Antrag der Kongressabgeordneten der Volkspartei ergangen ist, jegliche Änderung der Kompetenzzuweisung sowie jegliches Bestreben nach Asymmetrie unmöglich macht. In der weiteren Prüfung der Kompetenzvorschriften des Statuts, vertritt das Gericht Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Definition der Exklusiv- und Vollzugskompetenzen (Art. 110 und 112 EAC), allerdings unter der Bedingung, dass diese lediglich als Aufzählung von Fähigkeiten und in keinem Fall als Schranke für die staatliche Gesetzgebung zu verstehen sind. Ebenfalls verfassungskonform auszulegen ist aus der Sicht des Verfassungsgerichts eine weitere Vorschrift, die die Vollzugskompetenzen Kataloniens betrifft: diese ist nur dann verfassungskonform, wenn die Vollzugskompetenz, d. h. die Katalonien anerkannte Kompetenz Verordnungen zu erlassen, nicht die Berechtigung miteinschließt Verordnungen ad extra neben der staatlichen Gesetzgebung, zu erlassen. Somit beschränken sich die Vollzugskompetenzen der Gebietskörperschaften auf das Erlassen von Verordnungen zum Zwecke, die vom Staat übernommenen Dienste intern zu organisieren. Weiterhin äußerten sich die Verfassungsrichter zu den „geteilten“ Kompetenzen und erklärten den Absatz des Art. 111 EAC verfassungswidrig und nichtig, der sich auf das Konzept der staatlichen Rahmengesetzgebung (legislación básica) – interessanterweise obwohl sich die Vorschrift im Einklang mit der bisherigen Verfassungsgerichtsrechtsprechung befand – bezog. Aus der Prüfung der Kompetenzvorschriften durch das Verfassungsgericht ergibt sich folgendes: Das Urteil bedeutet mehr als eine bloße Rückkehr zu der Kompetenzordnung, die das vorherige Statut enthielt (und die zu die bisherigen Verfassungsrechtsprechung in der Materie geprägt hatte), es leitet – zumindest im Kompetenzbereich – einen klaren Rückschritt im Verhältnis zum vorherigen Statuts Kataloniens ein. Das Verfassungsgericht verwirft nämlich im Rahmen der „geteilten“ Kompetenz bezüglich des Zweigespanns „Rahmen-Ausgestaltung“, das von ihm selbst entwickelte Konzept der staatlichen Rahmengesetzgebung, was auf eine einzellfallorientierte Prüfung der Kompetenzstreitigkeiten durch
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das Gericht und somit prima facie zu einer vermehrten Einmischung des Staates bei gleichzeitiger Verringerung der Rechtssicherheit zu Lasten der Selbstregierung der Gebietskörperschaften, herauslaufen wird.
VII. Institutionen Nachvollziehbar sind hingegen die Nichtigkeitserklärungen verschiedener Vorschriften zum Justizrat von Katalonien, da das Statut sich hier in den ausschließlichen Regelungsbereich des Organgesetzes zur Gerichtsverfassung (Ley Orgánica del Poder Judicial) begibt. So befi ndet das Verfassungsgericht zu Recht, dass sich der Statutgeber mit der Schaffung eines Justizrats (Art. 97 EAC), den er als „leitendes Organ der rechtsprechenden Gewalt in Katalonien“ bezeichnet und dessen Rechtsakte denen „eines dekonzentrierten Organs des Generalrats der rechtsprechenden Gewalt [Consejo General del Poder Judicial]15“ entsprechen, offensichtlich extralimitiert hat. In den Augen der Verfassungsrichter kann die Judikative (deren Organisation und Funktionsweise auf dem Einheitsprinzip ex Art. 117.5 CE beruhen) neben dem staatlichen Consejo General del Poder Judicial, deren interne Ordnung und Aufgaben ausdrücklich dem organischen Gesetzgeber vorbehalten sind, über kein weiteres leitendes Organ verfügen. Keinem Gesetz, außer dem oben genannten Organgesetz zur Gerichtsverfassung, steht es zu zusätzliche Strukturen und Aufgaben des Generalrats, die in nicht verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Dekonzentrationen münden könnten, zu bestimmen. Daraus folgern die Verfassungsrichter die Verfassungswidrigkeit des katalanischen Justizrats (Art. 97 EAC) sowie aller damit verbundener Vorschriften. Eine weitere katalanische Institution, deren Verfassungsmäßigkeit das Gericht überprüft, ist der „Garantierat des Autonomiestatuts“ (Consejo de garantías estatuarias). Dabei handelt es sich um ein Organ mit Beratungsfunktionen, das unter anderem die Aufgabe hat die „Statutsmässigkeit“ von katalanischen Rechtsakten zu überprüfen. Besonders hervorzuheben ist hier die Kompetenz des Grantierats, rechtlich verbindliche Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen der katalanischen Regierung oder des katalanischen Parlaments, falls diese Statutsrechte betreffen, abzugeben (Art. 76.4 EAC). Diese Aufgabe ist aus der Sicht der Richter mit der Verfassung nicht zu vereinbaren: Zum einen beschränke eine mögliche Kontrolle der Gesetzesentwürfe durch den Garantierat vor ihrer Verabschiedung auf unzulässige Weise die Rechte und Fähigkeiten der Abgeordneten, was zu einer Verletzung der Beteiligungsrechte aus Art. 23 CE führe. Zum anderen käme eine Überprüfung eines bereits verabschiedeten aber noch nicht veröffentlichten Gesetzes einer Kontrolle von Rechtsakten mit Gesetzesrang gleich, was wiederum gegen das Normenverwerfungsmonopol des Verfassungsgerichts aus Art. 161 CE verstieße.
15 Beim Consejo General del Poder Judicial handelt es sich um das leitende Organ der spanischen Judikative.
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VIII. Finanzierung Das Verfassungsgericht betont an dieser Stelle, dass sich die Vorschriften des Statuts sichzur Fianzierung Kataloniens an die Finanzierungsprinzipien des spanischen Organgesetzes zur Finanzierung der Autonomen Gebietskörperschaften (Ley Orgánica de Financiación de las Comunidades Autónomas, im Folgenden LOFCA) anzupassen hat. Die LOFCA befähigt den Staat zur Koordinierung des staatlichen Steuerwesens (Art. 156.1 CE) sowie zur effektiven Durchsetzung der Solidaritätsverpfl ichtung (156.1 und 138.1 CE). Das Gericht hält zunächst fest, dass das vom Statut begründete Finanzsystem im Großen und Ganzen die staatliche Kompetenz zur Bestimmung der Solidaritätsleistungen unberührt lässt. Auch sei die Umsetzung des neuen Finanzsystems keinesfalls mit einer unilateralen Entscheidung, die der Verwaltung des Staates oder anderer Gebietskörperschaften aufgedrängt werde, gleichzusetzen, da die vom Statut vorgesehenen Beteiligungsmechanismen per se nicht verhindern, dass Entscheidungen im Finanzwesen gemäß LOFCA durch multilaterale Beschlüsse getroffen werden. Ebenso vom Statut unberührt bleibt die Prärogative des spanischen Gesetzgebers mit der Verabschiedung der LOFCA das letzte Wort über die Finanzierung der Gebietskörperschaften zu behalten. Trotz dieser grundsätzlichen Vereinbarkeit des katalanischen Finanzsystems mit der Verfassung und den Grundprinzipien der LOFCA beschließt das Verfassungsgericht auch die Nichtigkeit bzw. die verfassungskonforme Auslegung verschiedener Statutsnormen zur Finanzierung Kataloniens. Verfassungswidrig sind demnach zwei Vorschriften des Statuts und zwar zum einen die Nivellierungsmechanismen aus den Art. 206.3 und 206.5 EAC und zum anderen in Art. 218 enthaltene Aspekte der kommunalen Finanzverwaltung. Im Fall der Nivellierungsmechanismen weist das Verfassungsgericht darauf hin, dass es dem Statut als Norm verwehrt sei, die Höhe der Solidaritätsleistung Kataloniens davon abhängig zu machen, dass die übrigen Gebietskörperschaften „eine vergleichbare steuerliche Leistung“ erbrächten. Es sei ausschließliche Zuständigkeit des Staates, die steuerliche Belastung im Rahmen der effektiven Durchsetzung des Solidaritätsprinzips festzulegen. Die zweite Nichtigkeitserklärung bezieht sich auf den Art. 218 EAC, der die Kommunen berechtigt „im Rahmen der Verfassung und der staatlichen Gesetze“ „eigene Abgaben zu schaffen und zu regulieren“. An dieser Stelle folgt das Verfassungsgericht seiner bisherigen Rechtsprechung und schließt jegliche gesetzliche Regelung der kommunalen Finanzverwaltung, die nicht vom Staat ausgeht, aus. Verfassungskonform auszulegen ist das katalanische Finanzsystem insoweit wie es die bilateralen Kooperationsmechanismen zwischen Katalonien und dem Staat [Art. 210.1 y 2 a), b) y d) EAC] betrifft. Laut Verfassungsgerichtsurteil darf die bilaterale Beziehung Katalonien – Staat die multilateralen Mechanismen, die auch die übrigen Gebietskörperschaften mit einbeziehen, allenfalls begleiten und in keinem Fall ersetzen. Die Vorschriften zur Regulierung der katalansichen Infrastrukturen (erster Absatz der Dritten Zusatzbestimmung des EAC), betrachtet das Verfassungsgericht als den Staat nicht verpfl ichtend. In Bezug auf die Beteiligung Kataloniens an den staatlichen
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Steuern (Achte, Neunte und Zehnte Zusatzbestimmung des EAC), unterstreichen die Verfassungsrichter die Ungeeignetheit des Statuts als Instrument dies zu regeln und weisen darauf hin, dass diese Fragen der „ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Staates“ vorbehalten sind. (Urteil 31/2010, vom 28. Juni, Entscheidungsgrund 137). Festzuhalten ist, dass das Verfassungsgericht bestimmt, dass eventuelle Entscheidungen Kataloniens in Finanzierungsfragen, den staatlichen Gesetzgeber in keiner Weise verpfl ichten.
IX. Schlussbemerkungen Das Verfassungsgerichtsurteil 31/2010 vom 28. Juni des Verfassungsgerichts verdeutlicht die Spannung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip wie es selten zuvor ein Urteil in der Verfassungsgeschichte Spaniens vermocht hat. Die Folgen dieses Urteil sind zum einen eine deutliche Verminderung der Entscheidungsfähigkeit der katalanischen Institutionen und zum anderen eine Bestätigung des Monopols des Verfassungsgerichts in der Auslegung der Verfassungsbegriffe. Die Haltung der Verfassungsrichter ist somit mit dem Konzept des Verfassungspluralismus sowie einer offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Häberles Sinne unvereinbar. Darüber hinaus fehlt dem Urteil 31/2010 vom 28. Juni gänzlich die von Smend geforderte „integrierende Wirkung“, es verstärkt vielmehr die Ablehnung des spanischen Verfassungssystems durch die breite Mehrheit der katalanischen Öffentlichkeit. Dies ist keineswegs überraschend, da das Statut den Zuspruch von einer Mehrheit im katalanischen Parlament sowie, im Rahmen der Volksabstimmung, der katalanische Bevölkerung erhalten hatte.
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika
Die Verfassung der Republik Venezuela von 1811: Vorbilder und ideengeschichtliche Grundlagen von
Priv.-Doz. Dr. Andreas Timmermann, Universität Erfurt 1. Einleitung Die vor zweihundert Jahren, am 21. Dezember 1811 verabschiedete Verfassung Venezuelas1 bedeutet einen Wendepunkt in der politischen Geschichte Lateinamerikas: Es handelte sich um die erste Verfassung eines der späteren Nationalstaaten – jedenfalls wenn man von frühen Entwürfen bzw. Dekreten mit verfassungsrechtlichem Anspruch absieht, so in Argentinien, und von teilstaatlichen Konstitutionen, wie im benachbarten Kolumbien. Als am 2. März 1811 eine allgemeine und verfassunggebende Versammlung (el Congreso General de Venezuela) zusammentrat, hoben die Pressemitteilungen den revolutionären Charakter dieses Ereignisses hervor: Es handle sich um die ersten Cortes in Amerika, freier, legitimer und volkstümlicher als jene in Spanien, was sich speziell gegen den Anspruch einer umfassenden parlamentarischen Repräsentation durch die Cortes von Cádiz richtete.2 Mit Blick auf Venezuela sind seitdem, zumindest in einem formalen Sinne, 26 Verfassungen verabschiedet worden, auch wenn es sich nicht um ebenso viele verschiedene Texte handelte. Den meisten lagen Verfassungsreformen oder bloße Ergänzungen zugrunde; zumal erst seit 1961 der Mechanismus einer „Enmienda“ vorgesehen ist und bis zum Jahr 1953 Teilreformen die Annahme einer neuen Verfassung erforderten.3 Zutreffend ist, dass die kreolische Oberschicht im Jahre 1810 die Initiative ergriff, als sie sich gegen die spanische Kolonialherrschaft erhob, und es sich insofern nicht um eine „Revolution des Volkes“ handelte.4 Dennoch bedeutete die staatliche Neuordnung im folgenden Jahr eine tiefe Zäsur. Dies betraf neben den politischen und 1 Constitución federal para los Estados de Venezuela, hier zitiert nach: Allan R. Brewer-Carías (Hg.), Las Constituciones de Venezuela, Madrid 1985, S. 180 ff. 2 Inés Quintero/Angel Rafael Almarza, Autoridad militar vs. legalidad constitucional. El debate en torno a la Constitución de Cádiz (Venezuela 1812–1814), in: Revista de Indias 68 (2008), S. 181 ff., spez. S. 182. 3 Dazu Allan R. Brewer-Carías, Historia constitucional de Venezuela, Caracas 2008, S. 220 f. 4 Allan R. Brewer-Carías, Estudio preliminar. La conformación político-constitucional del Estado Venezolano, in: ders., Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 9 ff., spez. S. 16.
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gesellschaftlichen Folgen des nun beginnenden Unabhängigkeitskrieges gerade auch institutionelle Fragen: Zu nennen sind die Einführung der Gewaltenteilung und eines Repräsentativsystems, schließlich das Novum einer geschriebenen Verfassung. Sie sollte eine verbindliche Rechtsgrundlage schaffen, die höhere Legitimität als ein einfaches Gesetz beanspruchte und die Vorherrschaft des Parlaments beschränkte. Hinzu kommt die Entscheidung zugunsten der republikanischen Staatsform anstelle der monarchischen, die die Kreolen mit dem Alten Staat verbanden. Im Grunde wurde schon mit diesem ersten Anlauf in Venezuela der Weg dafür bereitet, dass sich die republikanische Staatsform auch im übrigen Spanischamerika behaupten konnte, abgesehen von wenigen Ausnahmefällen. Denn lediglich im benachbarten Kolumbien proklamierte die Provinz Cundinamarca mit ihrer ersten Verfassung (1811) kurzzeitig eine konstitutionelle Monarchie, „in der eine ständige nationale Repräsentation die Gewalt des Königs mäßigt“ – wobei sich auch in diesem kolumbianischen Teilstaat schon kurz darauf mit der zweiten Verfassung von 1812 die Staatsform der Republik durchsetzte.5 Ebenso blieb in Mexiko die Regentschaft des Augustín de Iturbide, der sich im Zuge der Unabhängigkeit als Kaiser (1822–1823) ausrufen ließ, eine kurze monarchische Episode. Umstritten ist speziell die Frage nach den Vorbildern der venezolanischen Konstituante, der der Autor im folgenden nachgehen will; nämlich ob die neueren „revolutionären“ Quellen nordamerikanischer und französischer Herkunft überwogen oder aber die spanische Tradition und das koloniale Erbe. Für die erste Position wird die Ähnlichkeit des Verfassungstextes mit jenem der Vereinigten Staaten von Nordamerika des Jahres 1787 und mit den französischen Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte angeführt.6 Auch wenn diese Autoren ältere Grundlagen wie jene der spanischen Territorialordnung erwähnen, stehen bei ihnen die zahlreichen Rekurse der Kreolen auf die einschlägigen Vorläufertexte im Vordergrund: von den Rechteerklärungen der nordamerikanischen Einzelstaaten und französischen Revolutionäre, über die Konföderationsartikel sowie die Arbeiten der verfassunggebenden Versammlungen in Philadelphia und Paris bis hin zu den Verfassungsergänzungen (Amendments) in den USA. Zugleich betonen sie eine unter den Bedingungen des Unabhängigkeitskrieges besonders kompromisslose Zurückweisung der kolonialen Institutionen und des spanischen Herrschaftsanspruches.7 Die Gegenmeinung bestreitet, dass nordamerikanische oder französische Muster einen größeren Einfluss auf die venezolanische Konstituante ausübten. Diese habe allenfalls auf bestimmte Formeln und Konzepte ausländischer Vorlagen rekurriert, während sich die eigentliche Bedeutung solcher Zitate allein aus dem eigenen Rechtskreis ergebe. Diese Autoren messen den vorgefundenen Institutionen der Kolonialzeit eine große Be5
1. Titel, Art. 4 und 3. Titel, Art. 1, Constitución de Cundinamarca vom 30. 03. 1811, in: Diego Uribe Vargas (Hg.), Las Constituciones de Colombia, Bd. 2: Textos 1810–1876, 2. Aufl., Madrid 1985, S. 351 und S. 354; im Vergleich hierzu: Constitución de la República de Cundinamarca vom 18. 07. 1812, ebda., S. 581 ff. 6 Pablo Ruggeri Parra, Historial de los primeros proyectos y Constituciones americanas, in: Academia Nacional de la Historia (Hg.), El pensamiento constitucional de Latinoamerica (1810–1830), Bd. 2, Caracas 1962, S. 207 ff., spez. S. 234; Allan R. Brewer-Carías, Estudio preliminar, in: ders., Las Constituciones de Venezuela (Fn. 4), S. 18. 7 C. Parra Pérez, La Constitución federal de Venezuela de 1811, Caracas 1959, S. 22 ff., 53 ff.
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deutung bei, wofür die Territorialordnung der spanischen Monarchie als Paradebeispiel gilt.8 Oder sie betonen die von ausländischen Rechtsvorstellungen abweichende juristische Auslegung der Regelungen.9
2. Vorbilder und Vordenker a) Proklamationen und Freiheitsrechte Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nahmen Exilanten, darunter zahlreiche Geistliche des aus Spanischamerika vertriebenen Jesuitenordens, eine rege Propagandatätigkeit gegen die Kolonialherrschaft auf. Sie forderten immer nachdrücklicher die staatliche Unabhängigkeit ihrer Heimatprovinzen, was seit der Jahrhundertwende in Caracas eine zunehmend stärkere Resonanz fand. Dies gilt für frühe Proklamationen wie jene, die der peruanische Jesuit Juan Pablo Viscardo y Guzmán 1791 „an die Spanischamerikaner“ richtete, damit diese ihr natürliches Recht auf Unabhängigkeit geltend machten und sich für ihren Freiheitskampf die englischen Kolonien in Nordamerika als Beispiel nähmen.10 Bald darauf veröffentlichte der gebürtige Genuese Santiago Felipe Puglia 1794 die erste systematische Abhandlung. Sie befasste sich mit den Ereignissen im Norden des Kontinents, formulierte scharfe Angriffe gegen die spanische Krone und empfahl den spanischamerikanischen Provinzen die Emanzipation nach dem Beispiel der USA.11 Speziell in Venezuela mehrten sich seitdem die Rekurse auf das Verfassungsdenken der nordamerikanischen Gründerväter. So übersetzte 1810 der Venezolaner José Manuel Villavicencio als erster die nordamerikanische Verfassung ins Spanische und sorgte damit für eine rasche Verbreitung im ganzen Vizekönigreich Neugranada.12 Zur gleichen Zeit übersetzte ein weiterer Venezolaner, Juan Germán Roscio, Thomas Paines „Rights of man“, ins Spanische (1810). Kurz darauf veröffentlichte sein Landsmann Manuel García de Sena zwei eigene, durch Thomas Paine inspirierte Schriften zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten und über die staatliche Entwicklung dort, in denen er empfahl, diesem Beispiel im Süden zu folgen.13 Der zur Mitte des Jahres 1811 bereits recht gute Kenntnisstand hat die Arbeiten der venezolanischen Konstituante zweifellos befördert. 8 Tulio Chiossone, La forma del Estado. Centralismo y federalismo, in: Academia Nacional de la Historia (Hg.), El pensamiento constitucional de Latinoamérica (1810–1830), Bd. 4, Caracas 1962, S. 145 ff., spez. S. 163 ff. 9 Tomás Polanco, El recurso de inconstitucionalidad en la Constitución venezolana de 1811, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 4 (Fn. 8), S. 199 ff., spez. S. 203. 10 Juan Pablo Viscardo y Guzmán, Carta dirijida a los españoles americanos (1791), in: Mario Rodríguez, La Revolución Americana de 1776 y el mundo hispánico. Ensayos y Documentos, Madrid 1976, S. 66 ff., 71 f. 11 Santiago Felipe Puglia, El desengaño del hombre, Philadelphia 1794. 12 José Manuel Villavicencio, Constitución de los Estados Unidos de América. Traducida del inglés al español, Philadelphia 1810; ferner Merle E. Simmons, La revolución norteamericana en la independencia de Hispanoamérica, Madrid 1992, S. 140 f., 172 f. 13 Manuel García de Sena, La independencia de la Costa Firme justificada por Thomas Paine treinta años ha. Extracto de sus obras, traducida del inglés al español, Philadelphia 1811; ders., Historia concisa de los Estados Unidos desde el descubrimiento de la América hasta el año de 1807, Philadelphia 1812.
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Dies belegt nicht nur die durch das nordamerikanische Vorbild inspirierte venezolanische Unabhängigkeitserklärung des Jahres 1811. Dafür spricht auch, dass der Abgeordnete für Mérida, Antonio Nicolás de Briaño, dem Kongress im Juli 1811 die Verfassung der Vereinigten Staaten als Muster vorstellte, dem die venezolanische Konstitution dann tatsächlich in vielen Punkten folgte.14 Das lässt sich sowohl mit der geographischen Nähe zu den Vereinigten Staaten erklären wie auch mit den zunehmend besseren theoretischen Kenntnissen der Kreolen. Hinzu kam der Umstand, dass die politische und staatsrechtliche Ausgangslage aus Sicht der Venezolaner ähnlich schien. Wie in den Vereinigten Staaten glaubten sie, ein Staatswesen auf neuer juristischer Basis gründen zu können, worin sich die Lage von jenem anderen, gleichfalls zu Rate gezogenen Modell unterschied: Denn die französische Nationalversammlung (1789–1791) – dies galt dann auch für die spanischen Cortes in Cádiz (1810–1812) – setzte einen bereits bestehenden, nationalen Verband voraus. Eine wichtige Schlussfolgerung aus dieser Parallele betraf den Schutz der Individualrechte. Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstandsrecht sollten zur voraussetzungslosen Grundlage eines ganz neuen Staates werden, nicht aber weitere, ergänzende Elemente einer bestehenden politischen Einheit. Historisch betrachtet, schienen die Provinzen des Vizekönigreichs Neugranada besser als die übrigen in Spanischamerika darauf vorbereitet, Menschen- und Bürgerrechte zu proklamieren. Hier fand der comunero-Aufstand unter Führung José Antonio Galáns (1781) statt, dem die Verschwörung der Manuel Gual und José María España (1797) folgte. Eine theoretische Vorarbeit leistete Antonio Nariño mit der ersten Übersetzung und frühen Verbreitung der französischen Menschenrechteerklärung („Los derechos del hombre y del ciudadano“, 1794).15 Hierauf beriefen sich danach die kolumbianischen Stadträte, als sie in ihren ersten Proklamationen im Sinne einer staatlichen Emanzipation die Wiederherstellung der „natürlichen und unveräußerlichen Rechte Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum“ erklärten und die Auflösung des kolonialen Bandes mit dem Alten Staat zu legitimieren suchten.16 Worauf dann außer der venezolanischen Konstituante im Jahr 1811 auch die frühen kolumbianischen Republiken umfassende Kataloge der Menschen- und Bürgerrechte in ihre Verfassungstexte aufnahmen.17 Hinzu kam der Einfluss Nordamerikas, der sich in Venezuela besonders stark auswirkte. Dort hatten gleich acht Staaten, nämlich Virginia, Pennsylvania, Maryland, Delaware, North Carolina (1776), Vermont (1777), Massachusetts (1780) und New 14 Merle E. Simmons, La revolución norteamericana en la independencia de Hispanoamérica (Fn. 12), S. 201 ff. 15 Näher Alberto Ramos Garbiras/Alonso Moreno Parra, Bolívar y el constitucionalismo, Cali 1999, S. 59 f.; Joseph Pérez, El Nuevo Reino de Granada en vísperas de la Independencia (1781–1809), in: Inge Buisson/Günter Kahle (Hg.), Problemas de la formación del Estado y de la nación en Hispanoamérica, Köln 1984, S. 93 ff. 16 So der Stadtrat von Socorro, „Acta de la Constitución del Estado Libre e Independiente del Socorro“ vom 15. 08. 1810, in: Diego Uribe Vargas (Hg.), Las Constituciones de Colombia, Bd. 2: Textos 1810–1876, 2. Aufl., Madrid 1985, S. 341. 17 Constitución de la República de Tunja vom 09. 12. 1811 (Art. 1–16); Constitución del Estado de Antioquía vom 21. 03. 1812 (1. Titel, Abschn. 2 Art. 1–17); Constitución de la República de Cundinamarca vom 18. 07. 1812 (Art. 1–24); abgedruckt in: Diego Uribe Vargas, Las Constituciones de Colombia, Bd. 2 (Fn. 5), S. 429 ff. (Tunja), S. 463 ff. (Antioquia) und S. 581 ff. (Cundinamarca).
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Hampshire (1784), ihren Verfassungen Rechteerklärungen vorangestellt. Die übrigen Staaten inkorporierten die Individualrechte in ihre Verfassungstexte.18 Ferner bestärkte das Beispiel der französischen Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte seit 1789 die Venezolaner darin, mit der „Erklärung der Rechte des Volkes“ vom 1. Juli 181119 einen Katalog der Individualrechte zu proklamieren. Der Umstand, dass dieser Beschluss noch vor Annahme des eigentlichen Verfassungstextes gefasst wurde, sollte die Bedeutung der Erklärung unterstreichen.
b) Francisco de Miranda Die neue Staatsordnung ist nicht zu verstehen ohne die Furcht der kreolischen Elite vor sozialen Konfl ikten und Rebellionen, die zur Anarchie und einer neuen Form der Tyrannei führen und die republikanische Ordnung zerstören könnten. Dazu gaben einzelne Unruhen zur Jahrhundertwende im Vizekönigreichs Neugranada Anlass, ferner die seit 1789 eintreffenden Berichte aus Frankreich sowie Gewalt und Anarchie auf Haiti ab 1791. Diese Ereignisse beschäftigten auch den wohl wichtigsten Vordenker und Staatsmann der ersten venezolanischen Republik, Francisco de Miranda. Er war Zeuge der Französischen Revolution und hatte als Offizier an den Revolutionskriegen teilgenommen. Nach einem missglückten Landeunternehmen an der Küste Venezuelas, in Coro 1806, warb er in London bei der britischen Regierung für eine Unterstützung der Emanzipationsbestrebungen in Übersee. Zurück in Caracas Ende des Jahres 1810, übernahm er dort eine aktive politische Rolle, wirkte an der Unabhängigkeitserklärung mit und führte bis zur Kapitulation im Juli 1812 und dem Ende der ersten Republik die neu aufgestellten venezolanischen Streitkräfte. Mit Auflösung des allgemeinen und verfassunggebenden Kongresses im April 1812 hatte dieser der Exekutive Sondervollmachten für den Krieg mit Spanien eingeräumt, worauf die Regierung noch im selben Monat Miranda zum Diktator erhob.20 In staatsrechtlicher Hinsicht vertrat Miranda zumindest vorübergehend, wie damals viele Kreolen gerade im Süden Spanischamerikas (Río de la Plata, Peru), das Modell einer konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild. Ihr sollte ein Inka oder Kaiser als Staatsoberhaupt vorstehen, ein Zweikammersystem die Balance der politischen Kräfte gewährleisten. Diesen Grundgedanken übertrug Miranda dann auf sein republikanisches Verfassungskonzept, wie es in seinen seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in London veröffentlichten Verfassungsentwürfen zum Ausdruck kam.21 Auf institutionellem Wege wollte Miranda eine ungebändigte 18
So New Jersey (1776), Georgia und New York (1777) und South Carolina (1778), Marc W. Kruman, Between authority and liberty: state constitution making in revolutionary America, Chapel Hill (North Carolina) 1997, S. 37. 19 Declaración de los Derechos del Pueblo, abgedruckt in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 175 ff. 20 Inés Quintero/Angel Rafael Almarza, Autoridad militar vs. legalidad constitucional (Fn. 2), S. 182. 21 Teilweise abgedruckt in: Academia Nacional de la Historia (Hg.), El pensamiento constitucional hispanoamericano hasta 1830, Bd. 5, Caracas 1961, S. 13 ff.; zur zeitlichen Abfolge und den Umständen der Abfassung: Miguel Batllori, Sobre la cronología de los proyectos constitucionales de Don Francisco
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Volksherrschaft verhindern und die Staatsführung einer gebildeten, aufgeklärten Elite übertragen, deren politische Tugenden der Masse des Volkes fehlten.22 Seine politischen Ziele formulierte Miranda in einem Rundschreiben, das er anlässlich der Invasion französischer Truppen im Juli 1808 aus London an ausgewählte Stadträte in ganz Lateinamerika sandte. Die überseeischen Provinzen hätten das Recht, in den jeweiligen territorialen Grenzen ihre Souveränität wahrzunehmen und Verfassungen zu verabschieden.23 Als Miranda zur Unabhängigkeit Venezuelas aufrief, warnte er ausdrücklich davor, dass den monarchischen Despotismus eine neue Form der Tyrannei, nämlich Anarchie und Ungesetzlichkeit, ablösen könnten.24 Anzustreben sei eine gesetzliche Regierung, die Sicherheit, Freiheit, Eigentum der Bürger gewährleiste. Ausdrücklich bezog er sich im Zusammenhang mit dem Plädoyer für ein „gobierno libre“ auf das Vorbild „unserer amerikanischen Brüder im Norden“ und deren Konzept eines „free government“, das Miranda während seiner Reisen in die Vereinigten Staaten studiert hatte.25 Denn im Verlauf seines Aufenthalts in Nordamerika (1783/1784) hatte er die Führer der Unabhängigkeitsbewegung kennen gelernt, so George Washington, Alexander Hamilton und John Adams.26 Miranda überzeugte sich von den Vorzügen einer geschriebenen Verfassung und republikanischen Staatsform, ferner von der Bedeutung der Tugend für das Funktionieren eines repräsentativen Systems. Trotz mancher Vorbehalte im Einzelnen hielt er die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten für den Beginn der bevorstehenden Befreiung des ganzen Kontinents.27 Berichte wie diese trugen dazu bei, dass die Staatsgründung in Nordamerika und die Verfassung der USA Einfluss auf die Arbeiten der Konstituante in Venezuela gewannen, so auch das in Philadelphia vertretene Modell, wonach sich einerseits die Herrschaft an eine kleine Zahl von den übrigen gewählter Bürger delegieren und das republikanische System andererseits auf eine größere Zahl von Bürgern und auf ein größeres Territorium ausdehnen ließ.28 Plausibel erschien ihnen vor allem die Abgrenzung der erwünschten gemäßigten Form der Demokratie von der befürchteten, nämlich maßlosen Variante, die das neue Republikverständnis der repräsentativen Demokratie prägte. Die Republik wurde zum Gegenbegriff zur unmittelbaren (direkten) beziehungsweise unbeschränkten (reinen) Demokratie.29 de Miranda, in: Academia Nacional de la Historia (Hg.), El pensamiento constitucional de Latinoamérica (1810–1830), Bd. 5, Caracas 1962, S. 305 ff. 22 Dazu Carmen L. Bohórquez-Morán, Francisco de Miranda. Précurseur des Indépendances de l’Amérique latine, Paris 1998, S. 267 ff., S. 285 f. 23 C. Parra Pérez, La Constitución federal de Venezuela de 1811 (Fn. 7), S. 13. 24 Francisco de Miranda, Proclamación a los pueblos del continente colombiano alias Hispano-América, in: ders., Diario de viajes y escritos políticos, Madrid 1977, S. 371. 25 Francisco de Miranda, Proclama, Diario de viajes y escritos políticos (Fn. 24), S. 374. 26 Näher Carmen L.Bohórquez-Morán, Francisco de Mirando (Fn. 22), S. 88 ff.; Michael Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas: eine Biographie, Hamburg 1995, S. 69 ff. 27 Fancisco de Miranda am 10. 10. 1792 (in Paris), Diario de viajes y escritos políticos (Fn. 24), S. 342; Michael Zeuske, Francisco de Mirando (Fn. 26), S. 78 f. 28 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist-Artikel: politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter (1787/1788), Paderborn 1994, 10. Artikel (Madison), S. 54 f. 29 Für viele Harald von Bose, Republik und Mischverfassung – zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Frankfurt/M. 1989, S. 8, 97 ff.; Catharina von Oppen-Rundstedt, Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, Bonn 1970, S. 50; zum ideengeschichtlichen Einfluss auf Spanischa-
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Was den Beitrag der Juristen zur staatlichen Emanzipation Venezuelas anbelangt, von der Initiative des Stadtrats über die Regierungsjunta bis zu den ersten Arbeiten der Konstituante, seien an dieser Stelle in einer Reihe weiterer maßgeblicher Persönlichkeiten zwei unter ihnen besonders erwähnt: zum einen Juan Germán Roscio, der in allen drei Institutionen mitwirkte und in der verfassunggebenden Versammlung einen maßgeblichen Beitrag leistete, sowohl zur Unabhängigkeitserklärung wie auch zur Verfassung selbst. Ein gutes Beispiel für den weltanschaulichen Zwiespalt zahlreicher Abgeordneter waren die Schwierigkeiten, die die dem gläubigen Katholiken die Auflösung jener traditionellen Verbindung von Thron und Altar in der neuen republikanischen Ordnung bereitete.30 Er vertrat diese dann ebenso entschieden wie Miguel José Sanz, der in der wichtigen Phase von Herbst 1810 bis Sommer 1811 die politische Sektion der Zeitschrift „El Semanario de Caracas“ leitete und als Freund Francisco de Mirandas dessen Position in der Frage der staatlichen Unabhängigkeit unterstützte.31 Er fungierte 1811 zeitweise als Sekretär der verfassunggebenden Versammlung und hat womöglich das Vorwort zur Verfassung (Preliminar) formuliert.32
3. Der Weg zur Verfassung a) Die Initiative der Institutionen Stadtrat und Junta Erst die dramatischen Ereignisse des Jahres 1808 auf der iberischen Halbinsel ebneten der Unabhängigkeit Venezuelas den Weg. Für die Zeit davor lässt sich allenfalls von lokalen Erhebungen und Verschwörungen einzelner Personen sprechen, wie sie in Venezuela erfolglos José María de España und Manuel Gual im Jahr 1797 unternommen hatten und nach ihnen auch Francisco de Miranda. Die Initiative ergriffen, wie fast überall in Spanischamerika, die Stadträte (cabildos, ayuntamientos). Den – wenn auch zunächst erfolglosen – Beginn machten die Kreolen im südlichsten Teil des Vizekönigreichs Neugranada, dem späteren Ecuador: Sie bildeten nach dem Vorbild des spanischen Aufstands von 1808 gegen die französische Besetzung einen autonomen Ausschuss. Dieser verwaltete als unabhängige Regierungsjunta von August bis Oktober 1809 die Provinz Quito.33 Die Proklamation der Junta gab ein wegweisendes Beispiel für die weitere Entwicklung im ganzen Vizekönigreich Neugranada, somit auch in Venezuela. Demnach bezeichnete sich die Junta nicht nur als „souverän“ (la soberana Junta Gubernativa), sondern beanspruchte auch den Titel „Majestät“, der bisher allein dem spanischen Monarchen vorbehalten war.34 Seit der Regiemerika: Andreas Timmermann, Die „Gemäßigte Monarchie“ in der Verfassung von Cádiz (1812) und das frühe liberale Verfassungsdenken in Spanien, Münster 2007, S. 138 ff. 30 M.w.N. Manuel Pérez Vila, Los juristas de la Independencia, in: Academia Nacional de la Historia (Hg.), El pensamiento constitucional de Latinoamerica (1810–1830), Bd. 3, Caracas 1962, S. 85 ff., spez. S. 90. 31 Dazu Manuel Pérez Vila, Los juristas de la Independencia, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamerica, Bd. 3 (Fn. 30), S. 93 f. 32 So jedenfalls C. Parra Pérez, La Constitución federal de Venezuela de 1811 (Fn. 7), S. 12. 33 Dazu Ekkehart Keeding, Das Zeitalter der Auf klärung in der Provinz Quito, Köln 1983, S. 472 ff. 34 Instalación de la soberana Junta Gubernativa am 10. 08. 1809, in: Javier Malagón (Hg.), Las Actas
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rungsjunta von Quito beriefen sich auch die folgenden Junten in Neugranada und in anderen Teilen Spanischamerikas35 auf die rechtliche Fiktion, Vertreter des spanischen Königs zu sein und für ihn sowie für seine Nachfolger „die Integrität dieses Teils des amerikanischen Reiches zu bewahren“. Hierzu bot sich im weiter nördlich gelegenen Teil des Vizekönigreichs Neugrananda, im heutigen Kolumbien und Venezuela, eine günstige Gelegenheit, als im April 1810 die Nachricht eintraf, dass quasi die gesamte spanische Halbinsel besetzt war und die spanische Zentraljunta Anfang des Jahres zugunsten des Regentschaftsrates in Cádiz (Consejo de Regencia) abgedankt hatte. Der Stadtrat von Caracas erklärte sich am 19. April 1810 in Vertretung der Provinzen des ganzen Generalkapitanats Venezuela zum „obersten, die Rechte Ferdinands VII. schützenden Ausschuss“ (Suprema Junta Conservadora de los Derechos de Fernando VII). Er bestätigte allenfalls formal die Legitimität des spanischen Königs, der seit Frühjahr 1808 im französischen Exil weilte. Tatsächlich beanspruchte er die volle Staatsgewalt, leugnete die Autorität des spanischen Regentschaftsrates und bekräftigte dies durch die Amtsenthebung des Gouverneurs. Der Regentschaftsrat interpretierte diese Entscheidungen als Unabhängigkeitserklärung und politischen Bruch mit dem Mutterland, weshalb er Anfang August 1810 eine Blockade gegen die Provinz Caracas verhängte.36 Kennzeichnend für die Argumentation der Kreolen ist, wie sie ihren im Grunde revolutionären Anspruch mit Rechtsfiguren des spanischen Naturrechts zu legitimieren suchten. Stadtrat und Junta beanspruchten für die Einwohner des Generalkapitanats die Ausübung der Souveränität, die infolge des Verhaltens der spanischen Metropole nach den Grundsätzen der alten spanischen Verfassung an das Volk zurückgefallen sei.37 In einem weiteren Schritt rief die „Junta Suprema“ die Provinzen des Generalkapitanats Venezuela zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft auf (Cuerpo Conservador de los Derechos de Fernando VII), die dann zur ersten verfassunggebenden Versammlung wurde.38
b) Die Rolle der Provinzen Angesichts der zweifellos großen Bedeutung, welche die Institutionen Stadtrat und Junta in dieser ersten Phase der Emanzipation vom Mutterland spielten, tritt de Independencia de América, Washington, D. C. 1955, S. 48: „La Junta como representativa del monarca tendrá el tratamiento de majestad“. 35 So für viele die vorläufige Regierungsjunta, die sich infolge der sog. Mairevolution 1810 in Buenos Aires bildete, in ihrem „Reglamento de la Junta Provisional Gubernativa“ vom 25. 05. 1810, in: Arturo Enrique Sampay (Hg.), Las Constituciones de la Argentina (1810–1972), Buenos Aires 1975, S. 84; bzw. für Quito: „Instalación de la soberana Junta Gubernativa“ vom 10. 08. 1809, in: Javier Malagón, Las Actas de Independencia de América (Fn. 34), S. 48. 36 M.w.N. Allan R. Brewer-Carías, Historia constitucional de Venezuela (Fn. 3), S. 213 ff., 234; zu den verschiedenen Deutungen dieses Vorgangs in der Historiographie: Miquel Izard, De libertadores a gestores: algunas notas sobre el conservatismo venezolano, in: Association Française des Sciences Sociales sur L’Amérique Latine (Hg.), Conservatisme e révolutions en Amérique Latine, Bordeaux 1988, S. 71 ff. 37 Acta de Instalación de la Junta Suprema de Venezuela del 19 de abril de 1810, in: Allan R. BrewerCarías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 157. 38 Allan R. Brewer-Carías, Estudio preliminar, in: ders., Las Constituciones de Venezuela (Fn. 4), S. 17 f., m. w. N. und zum Wahlverfahren in der recht fortschrittlichen Wahlordnung von Juni 1810.
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bisweilen – nach Auffassung des Autors zu Unrecht – die Rolle der Provinzen in den Hintergrund. Diese ist nicht nur deshalb von Belang, weil zwei Provinzen (Coro, Maracaibo) von insgesamt neun im Generalkapitanat Venezuela ihre Loyalität gegenüber dem spanischen Regentschaftsrat erklärten und den Souveränitätsanspruch der Junta von Caracas ablehnten, was sich politisch ebenso gegen deren Führungsanspruch richtete wie überhaupt gegen die Legitimation der ersten Republik. Die tiefere Bedeutung dieses Konfl ikts liegt vielmehr darin, dass nach ihrem Selbstverständnis und auch juristisch betrachtet allein die Provinzen das neue Staatsgebilde schufen, die „Confederación Americana de Venezuela en el Continente Meridional“.39 Die Ausarbeitung und Verabschiedung der Verfassung hing wesentlich davon ab, dass die „Vereinigten Provinzen“ (Provincias Unidas) der Einberufung einer ersten verfassunggebenden Versammlung folgten. Diese konstituierte sich am 2. März 1811 als Kongress der Provinzen Venezuelas, um sogleich die höchste exekutive wie legislative Gewalt zu übernehmen. Konsequenterweise waren es auch die im Kongress versammelten Vertreter der Provinzen, die am 5. Juli 1811 feierlich die Unabhängigkeit Venezuelas erklärten.40 Sie knüpften darin an die Territorialordnung der spanischen Monarchie an. Denn die Provinz (provincia), geführt von einem Gouverneur (gobernador), und deren Hauptstadt mit ihren lokalen Autoritäten (ayuntamiento, cabildo) nahmen die Schlüsselstellung in der überseeischen Verwaltung ein. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die spanische Krone mit der Gründung des Generalkapitanats Venezuela im Jahr 1777 einen entscheidenden Schritt zur administrativen Zusammenfassung der einzelnen Provinzen unternahm und den späteren Nationalstaat durch das königliche Dekret vorzeichnete.41 Mit Blick auf diese unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten haben sich beide Strömungen bis zur Gegenwart darum bemüht, jeweils ihre Interpretation auf die Kolonialordnung zu stützen: sowohl die Befürworter eines Bundesstaates wie auch jene des Zentralstaates. Im Jahr 1811 entschied sich die Konstituante für den ersten der beiden Ansätze und sprach jeder Provinz ihre „Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit“ zu, verbunden mit dem Recht, seine Regierung und regionale Verwaltung zu bestimmen. Zugleich lud Art. 128 der neuen Verfassung die bis dahin nicht beteiligten Provinzen dazu ein, der Föderation beizutreten. Vorbild war der zweite Kontinentalkongress der 13 ehemaligen nordamerikanischen Kolonien und dessen Konföderationsartikel vom 15. November 1777, die mit ähnlichem Wortlaut die vollständige Souveränität der Einzelstaaten bekräftigt hatten.42
39 Tulio Chiossone, La forma del Estado. Centralismo y federalismo, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 4 (Fn. 8), S. 160 ff.; Allan R. BrewerCarías, Historia constitucional de Venezuela (Fn. 3), S. 97 f. Dies waren die Provinzen Caracas, Cumaná, Barinas, Margarita, Barcelona, Mérida und Trujillo. 40 Declaración solemne de la Independencia por el Congreso de Venezuela, in: Javier Malagón, Las Actas de Independencia de América (Fn. 34), S. 143 f.; und in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 171 ff. 41 Dazu Tulio Chiossone, La forma del Estado, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 4 (Fn. 8), S. 154 ff. 42 Zu den Parallelen: Allan R. Brewer-Carías, Historia constitucional de Venezuela (Fn. 3), S. 134 ff.
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4. Die naturrechtlichen Grundlagen der Verfassung a) Vertrag Auffallend häufig sind die Bezüge der venezolanischen Konstituante zum Naturrecht. Charakteristisch und zugleich wegweisend für die folgenden Verfassungstexte in Übersee war der Umstand, dass außer der noch teilstaatlichen kolumbianischen Verfassung Cundinamarcas von 1811 auch jene Venezuelas die Staatsordnung auf eine vertragliche Übereinkunft der im Naturzustand noch unverbundenen Menschen zurückführte: Der Verfassungskonvent vertritt durch seine Abgeordneten das souveräne Volk, insofern er die Grundgesetze des Staates (leyes fundamentales del Estado) beziehungsweise die geschriebene Verfassung (código constitucional) erlässt. Erst die vertragliche Übereinkunft führt die Menschen zu einer bürgerlichen Gesellschaft zusammen.43 Sie veranlasst diese, ihre unveräußerlichen Rechte Freiheit, Sicherheit und Eigentum den dazu bestimmten Vertretern anzuvertrauen, wie auch die erste venezolanischen Verfassung gemäß Art. 141 i. V. m. Art. 197 Hs. 1 hervorhebt: Nach Aufgabe der ursprünglichen natürlichen Freiheit und ihrer Vereinigung zur Gesellschaft haben die Menschen nun andere, friedenstiftende und „köstlichere“ Rechte erworben, nämlich den „Genuß ihres Lebens, ihrer Freiheit, ihres Vermögens und der übrigen natürlichen Rechte“.44 Hierin verbindet sich der immer noch starke Einfluss der spanische Spätscholastik mit dem säkularen Naturrecht der nordamerikanischen Texte, wofür insbesondere der Rekurs auf den Treuhandgedanken (trust) spricht. Weil die Bürger – zumindest teilweise – die an sich unveräußerlichen Rechte an ihre Repräsentanten abtreten, müssen sich letztere dafür regelrecht verbürgen. Diesen Gedanken hatte im Ansatz schon die Schule von Salamanca vertreten, etwa wenn Francisco Suárez davon sprach, dass die Individuen die Macht der Obrigkeit anvertrauten, die sie nur im Sinne des Gemeinwohls gebrauchen dürfe.45 Eine wesentliche Weiterentwicklung zur spanischen Verfassungstradition lag nun darin, dass in den republikanischen Verfassungstexten, allgemein in Amerika und speziell in Venezuela, der bisherige Monarch von diesem Vertragsverhältnis ausgeschlossen war. Es sind nunmehr die freien Bürger des neuen republikanischen Gemeinwesens, die sich gegenseitig verpfl ichteten, füreinander mit Leben, Gut und Ehre einzustehen.46
43 So zuerst: Constitución de Cundinamarca vom 30. 3. 1811, Decreto de promulgación, in: Diego Uribe Vargas, Las Constituciones de Colombia, Bd. 2 (Fn. 5), S. 349; i.d.S. auch Art. 4 der bald folgenden Verfassung von Apatzingán (Mexiko), Decreto Constitucional para la libertad de la América Mexicana vom 22. 10. 1814, in: Felipe Tena Ramírez (Hg.), Leyes fundamentales de México 1808–1998, Mexiko 1998, S. 33. 44 In: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 196 bzw. S. 200. 45 Francisco Suárez, Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber (Tractatus de legibus et legislatore Deo, 1612), hier: Freiburg 2002, 7. Kap., Ziff. 5, S. 156 f. 46 Für die USA: Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965, S. 167; für Spanischamerika: Andreas Timmermann, Die „Gemäßigte Monarchie“ in der Verfassung von Cádiz (Fn. 29), S. 169.
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b) Souveränität Die revolutionären Umstände, die in die Bildung einer eigenen Regierung im ehemaligen Generalkapitanat Venezuela und in die Proklamation der Unabhängigkeit mündeten, machen ferner verständlich, warum die Kreolen dem Prinzip der Souveränität eine hohe Bedeutung beimaßen. Dies galt für Venezuela in einem besonderen Maße, da der Anspruch auf die staatliche Unabhängigkeit weder gegenüber dem Mutterland noch mit Blick auf die übrigen Mächte (v. a. England und Frankreich) gesichert und daher mit besonderem Nachdruck zu betonen war. Bezeichnenderweise rekapituliert die Verfassung von 1811, insofern sie auf mehrere verschiedene Defi nitionen der Souveränität rekurriert, beinahe die gesamte neuzeitliche Geschichte des Begriffs. Einerseits bezieht sie sich auf die christlich-scholastische Tradition, da sie die Souveränität (soberanía) bzw. die höchste Gewalt (supremo poder) dem Ursprung nach auf die Masse der Einwohner des Landes zurückführte („la masa general de sus habitantes“, Art. 144 Hs. 1). Denn nach dem christlichen Naturrecht setzte die Übertragung der Staatsgewalt voraus, dass aus der zunächst noch unverbundenen, nicht rechtsfähigen „Menge“ oder „Masse“ der Menschen ein Subjekt werde, das eine solche Verfügung vornehmen könne und das infolge dessen der von ihr autorisierten „Aufsicht“ gegenüberstehe.47 Die Venezolaner machten sich den Gedanken zueigen, dass die hiermit verbundene freiwillige Einbuße an Selbstbestimmung, die für jeden Einzelnen daraus resultierte, dem Volk jene rechtlich-politische Kategorie verlieh, die es in die Lage versetzte, eine Gewalt auszuüben, die vorher die Individuen besaßen. Daher griffen die Kreolen nunmehr auch auf das säkulare Naturrecht zurück, wenn sie der vertragsmäßig begründeten Gesellschaft diese höchste Staatsgewalt zusprachen und sie im Sinne der Lehre Bodins für „unabdingbar, unveräußerlich und unteilbar“ erklärten.48 Zugleich bezog sich die erste Verfassung Venezuelas in Art. 144 Hs. 1 auf jene berühmte Formel des englischen Naturrechts und auf Algernon Sidney. Demnach liegt die Souveränität bei ihrem Träger (Volk, Nation, Einwohner), und zwar mit beiden Attributen – „wesentlich und ursprünglich“ (esencial y originalmente) –, was jener ältesten, allen späteren Debatten vorausgehenden Wortwahl Algernon Sidneys entsprach.49 Auf diese Formel griff auch der französische und der spanische Frühkonstitutionalismus zurück, als er dem monarchischen Absolutismus das neue, revolutionäre Prinzip der nationalen Souveränität gegenüberstellte. Schließlich vollzog die venezolanische Konstituante den letzten, entscheidenden Schritt zur politischen Repräsentation und zum modernen Konstitutionalismus, als sie die Befugnisse gewählten Bevollmächtigten oder Repräsentanten (apoderados o representantes) übertrug. Nur diese durften jene höchste Staatsgewalt wahrnehmen, und auch nur mit der Maßgabe, dass sie der Verfassung gemäß bestimmt seien (Art. 144 Hs. 2). Was den Träger der Souveränität anbelangt, schienen sich die Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung noch nicht festlegen zu 47 Stellvertretend für die spanische Schule: Francisco de Vitoria, Über die staatliche Gewalt (De potestate civili, 1528), 8. Kap., hier: Berlin 1992, S. 60 f. 48 Art. 145 Hs. 2: „(. . .) la soberanía de la sociedad, que es imprescindible, inenajenable e indivisible en su esencia y origen“, Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 196. 49 Algernon Sidney, Discourses concerning government (1698), 3. Kap., 44. Abschn., hier: Indianapolis 1990, S. 564: „The legislative power (. . .) must be essentially and radically in the people“.
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wollen. Mal ordnete sie diese der „Masse ihrer Einwohner“ zu (Art. 144 Hs. 1), mal der Nation (soberanía nacional, Art. 197 Hs. 2), dann aber auch der Gesellschaft (soberanía de la sociedad, Art. 143 und Art. 145 Hs. 1). Offenbar fehlte die Zeit, damit sich eines unter mehreren Konzepten durchsetzen konnte, zumal die Wirkung der älteren und moderneren Vorbilder noch zu stark war. Hinzu kam das Beispiel der Vereinigten Staaten, insofern diese die Souveränität explizit an das Volk („we the people“) knüpften, während die französischen Revolutionäre auf die Souveränität der Nation abstellten. Erst als sich die Staaten in Spanischamerika als nationale Gebilde konsolidierten, konnte sich auch hier „die Nation“ als Träger der Souveränität durchsetzen. Hiermit und mit dem Vorbild der Verfassung von Cádiz (1812) ist zu erklären, dass sich dann die überseeischen Verfassungstexte der dritten Dekade des 19. Jahrhunderts vielfach auf das Prinzip der nationalen Souveränität festlegten.50
c) Widerstand Im Zusammenhang mit der Volkssouveränität und dem revolutionären Anspruch, eine neue Staatsordnung zu schaffen, ging die Konstituante auch auf die Frage nach dem Recht auf Widerstand ein. Da die Erhebung gegen die spanische Monarchie offenkundig im Widerspruch zum geltenden Recht stand, bemühten die Kreolen das christliche Naturrecht und die Vertragslehre, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Sie begründeten mit dem Recht auf Widerstand auch die Befugnis, neue Normen zu setzen, also selbst Recht zu schöpfen. Abgesehen von den einschlägigen Schriften der Scholastik, speziell Thomas von Aquins „De regimine principum“ und Juan de Marianas „De rege et regis institutione“, boten sich historische Parallelen an: Zum einen hatte Art. 2 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die „résistance à l’opression“ verkündet. Zum anderen hatten sich auch die Gründer der Vereinigten Staaten über diese Frage Gedanken gemacht und sie im Grundsatz bejaht. So bezog sich James Madison auf die Unabhängigkeitserklärung, als er das Widerstandsrecht jenes wertvolle Recht des Volkes nannte, „sein Regierungssystem abzuschaffen oder so abzuändern, wie es seiner Meinung nach am ehesten seiner Sicherheit und seinem Glück dienen würde.“51 Unter den Bedingungen des Unabhängigkeitskrieges, wie er dann auch in Venezuela ausbrach, meinte Widerstand das Recht zu Selbsthilfe und Selbstschutz der Bürger, insofern sie sich gegen eine tyrannische Regierung oder gegen einen die Ordnung des Staates gefährdenden Aufruhr wendeten.52 Laut Art. 150 der ersten venezolanischen Verfassung waren „tyrannisch“ diejenigen gegen einzelne Personen gerichteten Akte, die gegen das Gesetz verstie50 So Art. 2 S. 1 der Verfassung Großkolumbiens von 1821 „La soberanía reside esencialmente en la Nación“, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 275; wortgleich: Bases de la Constitución Política de la República Peruana vom 17. 12. 1822, Art. 2 Hs. 1, in: Cámera de Diputados (Hg.), Constituciones políticas del Perú 1821–1919, Lima 1922, S. 28; und Constitución política de la República peruana vom 12. 11. 1823, Art. 3 Hs. 1, ebda., S. 36; ferner Andreas Timmermann, Die „Gemäßigte Monarchie“ in der Verfassung von Cádiz (Fn. 29), S. 199 f. 51 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist-Artikel (Fn. 28), 40. Artikel, S. 238; ebenso Abs. 2 der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Staaten vom 04. 07. 1776. 52 Harald von Bose, Republik und Mischverfassung (Fn. 29), S. 198 f.; Andreas Timmermann, Die „Gemäßigte Monarchie“ in der Verfassung von Cádiz (Fn. 29), S. 305 ff.
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ßen und auf diesem Wege die verfassungsmäßige Gewalt oder die Freiheit des Volkes usurpierten.53 Diese Norm bezog sich also nicht nur auf das Volk als ganzes, sondern ausdrücklich auch auf den Einzelnen als Adressaten hoheitlicher Zwangsmaßnahmen. Das Tatbestandsmerkmal der Usurpation und das Attribut „tyrannisch“ für solche Akte knüpfen – zumindest der Wortwahl nach – an eine klassische Unterscheidung der spanischen Rechtstradition an. Demnach unterschied man zwischen demjenigen, der ohne jedes Recht und ohne Zustimmung des Volkes die Herrschaft an sich riss (tyrannus quoad titulum), und jenem Herrscher, dessen Autorität auf erblichem Recht oder Zustimmung des Volkes und nicht auf Machtusurpation beruhte und der erst durch die Verletzung seiner Amtspfl ichten zum Tyrannen wurde (tyrannus quoad exercitium). Im ersten Fall war jedem Einzelnen der äußerste Widerstand und auch die Tötung des Tyrannen erlaubt.54 Das Dilemma der Kreolen bestand allerdings darin, und insofern lässt sich die Situation durchaus mit der Lage in den USA nach 1787 und in Frankreich nach 1791 vergleichen, dass der verfassunggebenden Versammlung auch in Venezuela daran gelegen sein musste, den Widerstandsfall überflüssig zu machen. Er durfte für die Zukunft allenfalls noch eine theoretische Bedeutung haben, wollte man nicht im Falle der praktischen Anwendung zur Instabilität der Staatsordnung beigetragen.
d) Staatszweck Die von ihnen vertretene Position zum Staatszweck ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Gründer der ersten venezolanischen Republik gleich auf mehrere, unterschiedliche naturrechtliche Konzepte zurückgriffen. In dieser Vielfalt, die sich aus den wechselnden Bezügen zur Spätscholastik, zum säkularen Naturrecht, zum frühen europäischen Konstitutionalismus und zu den nordamerikanischen Quellen der Gründerväter ergibt, drückt sich nicht nur eine gewisse Neigung zum Eklektizismus aus, sondern auch der rhetorische Überschwang, der so viele offiziellen Verlautbarungen im Jahr der Unabhängigkeitserklärung kennzeichnet. Hinzu kommt, dass das Beispiel der Vereinigten Staaten dem Schlüsselbegriff „Glück“ (felicidad) einen zusätzlichen Glanz verlieh. Das „Streben nach Glück“ (the pursuit of Happiness) bildete den Mittelpunkt der nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Daher bezogen sich nicht nur die Venezolaner im Jahr 1811 auf das Vorbild im Norden, sondern auch weitere Unabhängigkeitserklärungen in Spanischamerika. Sie rekurrierten regelmäßig auf das „Glück“, wenn es darum ging im Dienste ihrer Völker das Allgemeinwohl und den Zweck der staatlichen Emanzipation zu bestimmen.55
53 „Los actos ejercidos contra cualquier persona fuera de los casos y contra las formas que la ley determina son inicuos, y si por ellos se usurpa la autoridad constitucional o la libertad del pueblo, serán tiránicos“, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 196. 54 Juan de Mariana, La dignidad real y la educación del rey (De rege et regis institutione, 1599), 1. Buch, 6. Kap., hier: Madrid 1981, S. 79 f. 55 Außer der Unabhängigkeitserklärung Venezuelas am 05. 07. 1811 auch jene in Kolumbien vom 20. 07. 1810, in Mexiko (28. 09. 1821), Costa Rica (29. 10. 1821), Bolivien (06. 08. 1825), Uruguay (26. 08. 1825).
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Von diesen äußeren Einflüssen zu unterscheiden ist die inhaltliche Bedeutung, welche die Kreolen mit dem Staatszweck verbanden. Hier scheint der europäische Einfluss zu überwiegen, der vor allem von der spanischen Rechts- und Glaubenstradition ausging. „Felicidad“ bezieht sich auf die „Regierung“ (gobierno), und zwar in der christlich-scholastischen Bedeutung auf die „gute Regierung“. In diesem Sinne unterscheidet Art. 191 der ersten Verfassung Venezuelas die „schlechte“ von der „guten“ Regierung, die das allgemeine Beste und Glück zu verwirklichen habe.56 Die Verfassung Venezuelas stellt dabei „Glück“ (felicidad) und „Allgemeinwohl“ (bien común) in einen engen Zusammenhang, was sich nicht zuletzt in der wiederholten, kombinierten Formulierung „allgemeines Glück“ (felicidad común, común felicidad) ausdrückt.57 Im Vordergrund stand die Sorge für die Gemeinschaft und deren gute äußere Lebensbedingungen, um den Menschen ein gutes, nämlich tugendhaftes Leben zu ermöglichen, wie es dem Konzept der spanischen Spätscholastik entsprach.58 Weniger verankert war unter den von der spanisch-katholisch Tradition geprägten Kreolen offenbar die Vorstellung der nordamerikanischen Verfassungsväter, wonach es um das Glück („happiness“) oder die politische Tugend der Bürger gehe. Denn es fehlen in diesem Zusammenhang Hinweise auf ein so verstandenes „öffentliches Glück“ (public happiness) oder das spezifisch angelsächsische Ideal, sich in öffentlichen Angelegenheiten auszuzeichnen. Umso geläufiger war den Gründern der ersten Republik die scholastisch-aristotelischen Lehre, wonach es eine wichtige Aufgabe jedes Herrschers sei, die gemeine Wohlfahrt, nämlich das jeden Menschen angehende öffentliche Wohl (salus publica, bonum commune) als Bedingung einer humanen Existenz zu verwirklichen.
5. Eckpunkte der neuen Ordnung a) Das föderale Prinzip Die Historiographie und die Verfassungslehre Venezuelas stellen bevorzugt auf die im Jahre 1811 geltenden besonderen historischen, politischen und geographischen Bedingungen des Landes ab, um die Entscheidung für die bundesstaatliche Ordnung zu begründen.59 Eine besonders kritische Einschätzung in der Literatur lautet, dass diese Entscheidung im Jahr 1811 eine lange Tradition institutioneller Schwäche begründet habe und den Ausgangspunkt eines folgenschweren Misstrauens der Provinzen gegen eine zentrale Leitung von Caracas aus markiere. Als Ausdruck dieses ver56 „El mejor de todos los Gobiernos será el que fuere más propio para producir la mayor suma de bien y de felicidad y estuviere más a cubierto del peligro de una mala administración“, in: Allan R. BrewerCarías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 200. 57 Wie Art. 191 S. 1 auch Art. 151 Hs. 1: „El objeto de la sociedad es la felicidad común, y los Gobiernos han sido instituidos para asegurar al hombre en ella“, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 196 f. bzw. S. 200. 58 Francisco Suárez, Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber (Fn. 45), 7. Kap., Ziff. 3, S. 154; Ziff. 4, S. 155; Ziff. 6, S. 157 f. 59 Ausführlich Tulio Chiossone, La forma del Estado, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 4 (Fn. 8), S. 150 ff., mit einem Überblick über die verschiedenen Erklärungsansätze.
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meintlichen Irrglaubens wird nicht zuletzt die Bestimmung einer neuen Hauptstadt (Ciudad Federal) in Valencia angeführt.60 Weniger erwähnt als jenes Phänomen der an dieser Stelle häufiger angeführten „autonomía provincial“ werden dagegen jene Anregungen, die ausgerechnet auf Beamten der spanischen Krone im 18. Jahrhundert zurückgingen. Diese plädierten, als Lehre aus der nordamerikanischen Erhebung gegen das britische Königreich für eine stärkere Dezentralisierung und Neuordnung des spanischen Reiches in einer „bundesstaatlichen Monarchie“ (monarquía federativa). Dies war das Ergebnis des Berichts, den im Jahr 1781 der Intendant José de Abalos an König Karl III. sandte, um die von der politischen Lage in Übersee ausgehenden Gefahren für einen Fortbestand des spanischen Reiches zu entschärfen.61 In dieselbe Richtung zielte der spanischen Staatsmann Pedro Pablo Abarca de Bolea Graf von Aranda, als er Karl III. unter dem Eindruck des Friedens von Paris (1783) und der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten vorschlug, die überseeischen Provinzen nach dem föderalen Prinzip in drei Fürstentümer aufzuteilen.62 Obwohl diese Pläne und auch spätere Vorschläge scheiterten, blieben sie dennoch nicht ohne Folgen für die spätere Staatenbildung in Spanischamerika. Sie stellten nicht nur die territoriale Einheit Spanischamerikas in Frage, sondern machten den Bundesstaat als solchen hoffähig, auch wenn es dann um die territoriale Ordnung ehemals zum Spanischen Reich gehörender Provinzen ging. Je deutlicher gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Unzufriedenheit mit der spanischen Herrschaft zutage trat und je mehr die Spannungen zwischen den Vertretern der Metropole und der kreolischen Oberschicht zunahmen, desto stärker betonte letztere den territorialen Aspekt. Und desto größeren Wert legte sie auf einen spezifischen Dualismus, den man mit dem neueren Begriff der Nation verband. Hierzu boten die Arbeiten in den verfassunggebenden Cortes von Cádiz, an denen ab dem Jahre 1810 spanischamerikanische Abgeordnete und solche des Vizekönigreichs Neugranada beteiligt waren, ein geeignetes Forum: Demnach wurde das spanische Reich zunächst, quasi als gedankliche Vorstufe zur tatsächlichen Unabhängigkeit einzelner Provinzen, geographisch definiert, nämlich als eine „Nation in beiden Welten“ (la Nación en ambos mundos).63 Die spanische Nation war, so die naturrechtliche Weiterung dieses Ansatzes, eine (freiwillige) Vereinigung verschiedener Provinzen, die sich wiederum aus einzelnen Ortschaften und diese aus einer Vielzahl von Einwohnern zusammensetzten. Jede dieser Einheiten sollte für sich wie ein Individuum souverän sein. Erst aus der Sou60
Allan R. Brewer-Carías, Estudio preliminar, in: ders., Las Constituciones de Venezuela (Fn. 4),
S. 23. 61 Representación del Intendante Abalos dirigida a Carlos III, en la que pronostica la independencia de América y sugiere la creación de varias monarquías en el Nuevo Mundo e Islas Filipinas, Caracas am 24. 9. 1781, in: Mario Rodríguez, La Revolución Americana de 1776 y el mundo hispánico (Fn. 10), S. 55 ff., 60 ff. 62 Dictamen reservado que el excelentísimo señor conde de Aranda dió al Rey sobre la independencia de las colonias inglesas después de haber hecho el Tratado de Paz ajustado en Paris el año de 1783, in: Mario Rodríguez, La Revolución Americana de 1776 (Fn. 10), S. 63 ff. 63 So Ramón Power, der Abgeordnete für Puerto Rico, in seinem Bericht an den Stadtrat von San Juan vom 01. 02. 1812, in: Pedro de Angelis, Ramón Power: primer diputado a Cortes por Puerto Rico. Biografía, cartas políticas, discursos y representaciones de este ilustre hombre público que en las Cortes Generales y Extraordinarios de Cádiz, defendió con valor y patriotismo los intereses de Puerto Rico, San Juan (P. R.), o.J., S. 88.
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veränität der einzelnen Ortschaften (soberanía de los pueblos) erwachse die der Provinz und aus der Souveränität der verschiedenen Provinzen die der ganzen Nation.64 Dies war allerdings unvereinbar mit jenem einheitlichen Souveränitätsbegriff, den die Abgeordneten der spanischen Halbinsel vertraten, und enthielt bereits den Ansatzpunkt für eine Abspaltung der einzelnen überseeischen Provinzen. Auf die regionale Ebene übertragen, war diese Argumentation außerdem mit einem bundesstaatlichen Modell vereinbar. Denn es gewährte nach dem inzwischen gut bekannten Muster der Vereinigten Staaten Nordamerikas den einzelnen Gliedern der Föderation die Staatenqualität. In ideengeschichtlicher Hinsicht stützte sich die erste verfassunggebende Versammlung Venezuelas auf den damals unangefochtenen naturrechtlichen Vertragsgedanken, als sie das föderale Prinzip der ersten Verfassung begründete. Ihn wendet die Vorrede zur Verfassung gleich im ersten Absatz auf das Verhältnis der Gliedstaaten zum Bundesstaat an und leitet aus deren vertraglicher Vereinbarung die originäre Staatsgewalt der inzwischen unabhängigen Nation ab.65 Hierin liegt die tiefere verfassungsgeschichtliche Bedeutung des so genannten „Bundesvertrages“ (pacto federativo, pacto federal). Er meint in Lateinamerika seitdem eine bestimmte Auslegung des Bundesstaatsprinzips, wonach die Teilstaaten nicht nur Autonomie, sondern eine ursprüngliche, rechtlich abgesicherte Beteiligung an der Verfassunggebung des Bundes beanspruchen können.66 Der ursprüngliche Vertragsgedanke fand sich außerdem in weiteren Gründungsdokumenten der jungen überseeischen Staaten wieder, so etwa in dem noch vorläufigen föderalen Grundgesetz Argentiniens von 1825 (Art. 1) 67; bis dann allerdings im Verlauf des 19. Jahrhunderts naturrechtliche Erklärungsmuster dieser Art zunehmend an Einfluss gegenüber den aus Europa vordringenden neueren Strömungen wie Utilitarismus und Positivismus verloren. Was die Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung im Einzelnen anbelangt, hielt sich die venezolanische Konstituante 1811 an die Stellung der nordamerikanischen Bundesstaaten und machte die Provinzen zu weitgehend unabhängigen (Teil)staaten. Gemäß einer generellen Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Bundesstaaten sind alle Aufgaben, die der Bundesvertrag (pacto federal) nicht ausdrücklich in die allgemeine Zuständigkeit der Konföderation verweist, den einzelnen Provinzen vorbehalten: „Die Provinzen bleiben souverän, frei und unabhängig“.68 Die Konföderation behielt sich vor, den Gesamtstaat nach außen zu vertreten sowie Verträge und Bündnisse abzuschließen, ihn zu verteidigen, den Außenhandel zu regeln, innere Unruhen abzuwehren und Steuern zu erheben. Dem Prinzip der Bundestreue 64 Ramón Feliú, in der Sitzung der Cortes von Cádiz am 11. 01. 1811, in: Cortes generales y extraordinarias (Hg.), Diario de las discusiones y actas de las Cortes, Cádiz 1811–1813, Bd. 2, S. 346 f.; i.d.S. auch der Abgeordnete für Santa Fé (Neugranada), José Mejía Lequerica, Sitzung der Cortes vom 03. 08. 1811, ebda., Bd. 7, S. 294 f. 65 „Bases del Pacto Federativo que ha de constituir la autoridad general de la Confederación“, in: Allan Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 181. 66 Dazu Francisco Fernández Segado, El federalismo en América Latina, in: Verfassung und Recht in Übersee 36 (2003), S. 23 ff., speziell S. 29 f. 67 Ley Fundamental vom 23./24. 01. 1825, in: Arturo Enrique Sampay, Las Constituciones de la Argentina (Fn. 35), S. 303. 68 Abs. 1 S. 1 der Vorrede zur Verfassung von 1811, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 181.
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zufolge, war es den Bundesstaaten verwehrt, die erwähnten, der Konföderation vorbehaltenen Gegenstände zu regeln oder aber den Normen zuwider zu handeln, die die Konföderation verabschiedet hatte (Art. 119). Die Kreolen kannten die Erwägungen der nordamerikanischen Gründerväter zur Teilung der Kompetenzen im Bundesstaat und waren wie sie der Überzeugung, dass eine Tyrannei der Mehrheit und dominierender „factions“ am ehesten durch eine zweifache Teilung der Gewalten zu vermeiden sei: nämlich in horizontaler und in vertikaler Hinsicht, insofern die Verfassung über eine sowohl funktionale wie territoriale Machtaufteilung die Mäßigung der Staatsgewalt in der Fläche garantieren sollte. Neben anderen Regelungen zählte Simón Bolívar auch diese zu den Faktoren, welche zum Scheitern der ersten Republik beigetragen hatten. Daher schlug er wenige Jahre später dem Kongress von Angostura in seinem Verfassungsentwurf vor, eine zentrale Verwaltung und die Einteilung des nationalen Territoriums in Provinzen, Departements und Gemeinden vorzusehen; 69 worauf die Verfassung von 1819 und dann auch jene von 1821 statt des Bundesstaates ein unitarisches System verankerten.70
b) Die Individualrechte Wenn mit Blick auf die zuvor erwähnten Grundlagen das französische ebenso wie das nordamerikanische Vorbild hervorgehoben wurde, sofern es um eine systematische Aufl istung der zu schützenden Individualrechte ging, lässt sich das Bedürfnis nach einer entsprechenden Proklamation sehr unmittelbar auf die Erfahrungen mit der spanischen Kolonialherrschaft zurückführen. Der Wunsch der Kreolen, willkürliche Eingriffe in Leben, Freiheit, Eigentum zu inkriminieren, richtete sich gegen den monarchischen Absolutismus der spanischen Krone und ihrer Repräsentanten in Übersee. Dieses Motiv teilten sie mit den liberalen Abgeordneten im Mutterland, die zur selben Zeit in den Cortes von Cádiz die erste spanische Verfassung ausarbeiteten, auch wenn diese den Schutz der Individualrechte viel weniger detailliert und systematisch formulierten. Hier wie dort ging man davon aus, dass jene in Kontinentaleuropa entwickelte umfassende Staatsmacht zu bändigen sei, die sich auf eine hierarchisch organisierte und zentralisierte Bürokratie stützte. Die venezolanische „Erklärung der Rechte des Volkes“ vom 1. Juli 1811 sollte daher möglichst vollständig sein und alle denkbaren Gefahren für die individuelle Freiheit berücksichtigen. Als wichtigsten Bezugspunkt nannte der Text zunächst im ersten Abschnitt die Volkssouveränität und ihre naturrechtliche Verankerung (Art. 1 f.), worauf dieser dann im zweiten Abschnitt die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 4) und die Garantien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens aufzählte (Art. 15 ff.); ferner die Sicherheit (Art. 18), die Eigentums- (Art. 19, 21) und die Gewerbefreiheit (Art. 20). Ebenfalls im zweiten Abschnitt betont Art. 3 den „allgemeinen Willens“ (voluntad general), worin sich der 69 2. Titel, 1. Sektion, Art. 1 ff. des Entwurfs zur Verfassung von 1819, „Proyecto de Constitución para la República de Venezuela, formado por el Jefe Supremo, y presentado al Segundo Congreso Constituyente para su examen“, abgedruckt in: Pedro Grases, El Libertador y la Constitución de Angostura de 1819, Caracas 1970. 70 Siehe 2. Titel, 1. Sektion, Art. 1 der Verfassung von 1819: „La república de Venezuela es una e indivisible“, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 249.
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Einfluss der Französischen Revolution und speziell jener Jean-Jaques Rousseaus’ ausdrückte. Wenn die Kreolen allerdings bestimmten, dass erst die vom Volk gewählten Abgeordneten diesen allgemeinen Willen feststellen können,71 dann liegt darin eine gewisse Inkonsequenz. Denn die Venezolaner entschieden sich damit für das Prinzip der Repräsentation, welches Rousseau ausdrücklich abgelehnt hatte. Andererseits bezogen sie sich auch inhaltlich auf das nordamerikanischen Verfassungsdenken. In Anlehnung an die erwähnte Maxime des „pursuit of happiness“ und im Anschluss an die Pfl icht des Staates, das „allgemeine Glück“ (felicidad común) zu verfolgen, verkünden sie, dass Freiheit, Sicherheit, Eigentum und Gleichheit Inbegriff dieses Glückes seien (2. Abschn., Art. 1 f.). Viel weiter als im frühen französischen Konstitutionalismus gingen die Kreolen, als sie sich gegen gleiche politische Rechte aller Bürger aussprachen: Einerseits übernahm die venezolanische Konstituante jene Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Staatsbürgern, wie sie zuvor die Verfassung Frankreichs von 1791 getroffen hatte und die sich dann auch die spanische von 1812 zueigen machte. Darüber hinaus lehnten sie jedoch das allgemeine Wahlrecht ab (2. Abschn., Art. 7 f.). Letztlich drückten die Kreolen mit der Rechteerklärung nicht nur ihre liberale Weltanschauung aus, sondern auch das Bedürfnis einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, ihre Sonderstellung und eine dominierende wirtschaftliche Position gegenüber den übrigen Bevölkerungsgruppen zu bewahren. Die venezolanische Konstituante hat dann wenige Monate später die Proklamation der Individualrechte in der Verfassung erneuert. Auch hier wählte sie die Form eines Katalogs der Menschenrechte, den sie in einer sehr ausführlichen Fassung (Art. 151–191) erst am Ende des Textes platzierte.72 Umgekehrt hat einige Jahre später die venezolanische Verfassung von Angostura (1819) den Katalog in kürzerer Fassung an den Anfang gestellt (1. Titel, 1. Abschn., Art. 1–16), die gemeinsame Verfassung Venezuelas und Kolumbiens (Großkolumbien) von 1821 in Art. 156 -184 wieder an das Ende. Wie bereits in der „Erklärung der Rechte“ von Juli 1811 ist der erwähnte Einfluss der französischen Vorläufertexte auch hier deutlich zu erkennen, welche die Kreolen ganz im Sinne ihrer speziellen gesellschaftlichen und ökonomischen Belange auslegten und mit den zu ihrer Zeit einflussreichen Theorien verbanden. Hierfür sei exemplarisch auf die Eigentumsgarantie in Art. 155 der Verfassung hingewiesen. Speziell den liberalen Abgeordneten in der verfassunggebenden Versammlung waren die Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte der französischen Physiokraten und der angelsächsischen Theoretiker um Adam Smith bekannt, entweder direkt durch die Lektüre französischer und englischer Texte oder vermittelt durch spanische Auf klärer, wie Pedro Rodríguez Conde de Campomanes und Gaspar Melchor de Jovellanos y Ramírez. Deren Reformentwürfe und Denkschriften hatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der gesamten spanischen Monarchie für Aufsehen gesorgt, zumal sie die Gesetzgebung der spanischen Könige Karl III. und 71 „La ley se forma por la expresión libre y solemne de la voluntad general, y ésta se expresa por los apoderados que el pueblo elige para que representen sus derechos“, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 175. 72 8. Kap., Abschn. 2: „Derechos del hombre en sociedad“, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 196 ff.
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Karl IV. beeinflussten.73 Ganz im Sinne dieser verschiedenen Schulen des 18. Jahrhunderts proklamierte die Verfassung von 1811 das Privateigentum als unveräußerliches natürliches Recht, ebenso wie auch die folgende zweite Verfassung Venezuelas aus dem Jahr 1819. Demnach „meint Eigentum das Recht, nach Belieben seine Güter und die Früchte seiner Talente, seines Fleißes und seiner Arbeit zu nutzen und darüber zu verfügen“.74 Dieses Recht galt in dem Maße als höchstpersönlich und unbedingt schutzwürdig, in dem es auf dem Einsatz der individuellen Tatkraft und Kreativität beruht, worin sich die Venezolaner auf das Konzept John Lockes bezogen.75 Vor allem aber war die weitgehend unbeschränkte Verfügung der Kreolen über ihr Eigentum, speziell über den Boden, ein wichtiger politischer Machtfaktor und überdies selbstverständlicher Bestandteil der Kolonialkultur, wie sie im Zuge der Landnahme durch die Konquistadoren entstanden war.76 Andererseits rekurriert die Proklamation der Individualrechte in der Verfassung von 1811 besonders deutlich auf die Verfassung der Vereinigten Staaten, soweit hierin Zusatzartikel (Amendments) aufgenommen wurden und diese über die französische Rechteerklärung hinausgehende prozessuale Grundsätze formulierten. Art. 177 der Verfassung von 1811 greift den 3. Zusatzartikel auf, insofern er militärische Einquartierungen in Privatwohnungen verbietet. Art. 162 bezieht sich auf den 4. Zusatzartikel und die Sicherheit der Person, des Hauses, der Papiere und der Habe. Ferner fand der 8. Zusatzartikel, der übermäßige gerichtliche Sicherheitsleistungen und Geldstrafen untersagt, Eingang in Art. 171. Dies gilt auch für weitere Besonderheiten des nordamerikanischen Schutzes der Individualrechte. Selbst das Recht aller Bürger zum Besitzen und Tragen einer Waffe, das laut dem 2. Zusatzartikel bis heute zu den verbrieften Freiheiten der Nordamerikaner gehört, machte sich die Konstituante in Art. 179 der Verfassung von 1811 zueigen. Venezuela war hierin kein Einzelfall, wie das Beispiel der zentralamerikanischen Republik zeigt. Auch die Verfassung dieses kurzlebigen Bundesstaates proklamierte das Recht aller Bürger zum Besitzen und Tragen einer Waffe.77
c) Religionsvorbehalt und Gleichheitsgebot Die im frühen Konstitutionalismus Venezuelas immer wieder verkündete individuelle Freiheit galt allerdings nicht unbeschränkt. Überall, wo sich die Kreolen im bisherigen Vizekönigreich Neugranada von der spanischen Herrschaft zu emanzipieren suchten, betonten sie die konfessionelle Bindung der staatlichen Gewalten und riefen den Katholizismus als Staatsreligion aus. Den Anfang machte die Proklamation 73 M.w.N. Jean Sarrailh, La España ilustrada de la segunda mitad del siglo XVIII, Mexico 1979, S. 281 ff., 546 ff. 74 Art. 155 (1811) bzw. 1. Titel, Abschn. 1, Art. 12 (1819), in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 197 bzw. S. 248. 75 Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (Two treatises of government, 1690), 2. Abhandl., 5. Kap., § 27 f. bzw. § 32, hier: 7. Aufl., Frankfurt/M. 1998, S. 216 f. bzw. S. 219 f. 76 Für das Vizekönigreich Neugranada insgesamt: Andreas Timmermann, Die Eigentumsgarantie – ein stufenförmiger Prozess? in: Jahrbuch für die Geschichte Lateinamerikas 38 (2001), S. 268 ff. 77 Gemäß Art. 176 Ziff. 1, Constitución de la República Federal de Centro-América vom 22. 11. 1824, unter: www.sgsica.org/centrodoc/libros/union/document/index.php.
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der „souveränen Regierungsjunta“ von Quito am 10. August 1809, gefolgt von den ersten noch teilstaatlichen Verfassungen in Kolumbien, wo die erste Verfassung Cundinamarcas vom 30. März 1811 ausführlich alle mit der katholischen Staatskonfession zusammenhängenden Fragen regelte (2. Titel, Art. 1–6).78 Diese Linie vertrat auch die ganz überwiegende Zahl der Stadtväter von Caracas. Sie verbanden schon ihren ersten Schritt zur staatlichen Emanzipation am 19. Juli 1810 mit einem Bekenntnis zum Katholizismus und begingen diese Entscheidung mit einem feierlichen Te Deum, während sich auch unter den Liberalen kaum Fürsprecher für die Gegenposition fanden.79 Konsequenterweise erhob die Unabhängigkeitserklärung Venezuelas vom 5. Juli 1811 den Schutz des katholischen Glaubens zum Staatsziel, insofern es eine der ersten Pfl ichten sei, „die heilige katholische und apostolische Religion Jesu Christi zu schützen.“80 Umgekehrt schwor der Erzbischof von Caracas, Narciso Coll y Prat, gegenüber der verfassunggebenden Versammlung feierlich der spanischen Monarchie ab und legte einen Eid ab, die Souveränität und Unabhängigkeit der Provinzen Venezuelas als „göttliche Fügung“ anzuerkennen. Dieser Schwur sollte die Beziehung zwischen Staat und Kirche regeln, solange einfachgesetzliche Normen oder solche mit Verfassungsrang fehlten.81 Den Stellenwert dieser Frage bestätigte kurz darauf die erste Verfassung Venezuelas, insofern sie schon im ersten Artikel die Religion als oberstes Grundprinzip des neuen Staates hervorhob, und zwar in einer besonderen Ausschließlichkeit: Demnach waren „Schutz, Bewahrung, Reinheit und Unverletzlichkeit“ der katholischen Religion eine der vordringlichsten Pfl ichten der nationalen Repräsentanten. Diese dürften „auf dem gesamten Territorium der Konföderation niemals weder einen anderen öffentlichen oder privaten Kultus noch irgendeine der Lehre Jesu Christi widerstreitende Doktrin erlauben.“82 Dieser Religionsvorbehalt bezog sich speziell auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Zwar waren die neuen politischen Autoritäten in Caracas auf eine Öffentlichkeit angewiesen, die die Lösung von Spanien günstig beurteilte. Andererseits fürchteten sie jedoch die kaum abzuschätzende Wirkung einer unbeschränkten Meinungsvielfalt. Folgerichtig machte Art. 180 Hs. 2 die Ausübung der Meinungsund Pressefreiheit davon abhängig, dass sie weder die Glaubenslehre noch die christliche Moral gefährdeten. Zugleich hob Art. 181 allerdings die geistlichen Privilegien auf, das sog. fuero para los eclesiásticos. Hierin setzten sich die Anhänger eines moderneren, liberalen Staatsverständnisses gegen jene durch, die auf einen Sonderstatus des Klerus Wert legten.83 78 So danach in ihrem 1. Titel auch die zweite, nun republikanische Verfassung Cundinamarcas vom 18. 07. 1812; ebenso die Verfassung des Staates Antioquia vom 21. 03. 1812 (1. Titel, Abschn. 1, Art. 1). 79 Carlos Felice Cardot, La Iglesia y el Estado en la Primera República, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 5 (Fn. 21), S. 9 ff., spez. S. 12 f. 80 In: Javier Malagón, Las Actas de Independencia de América (Fn. 34), S. 144. 81 Carlos Felice Cardot, La Iglesia y el Estado en la Primera República, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 5 (Fn. 79), S. 14 ff. 82 Art. 1 S. 2, in: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 181 f. 83 Näher zur Debatte im Kongress bis Dezember 1811: Carlos Felice Cardot, La Iglesia y el Estado en la Primera República, in: Academia Nacional de la Historia, El pensamiento constitucional de Latinoamérica, Bd. 5 (Fn. 79), S. 19 ff.
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Was die Formulierung des Gleichheitsgebots anbetraf, zeigte sich die venezolanische Konstituante noch besorgter als sonst, über den Rekurs auf die erwähnten Vorbilder nicht die politischen und gesellschaftlichen Belange außer acht zu lassen. Das betrifft speziell die Dominanz und die quasi feudale Sonderstellung der Oberschicht gegenüber der Masse der Bevölkerung. Die aus der ersten jener Ausgangsthesen folgende Auffassung, dass der Text von 1811 der „revolutionären französischen Orthodoxie“ gefolgt sei, um deren bürgerlichen Egalitarismus und die Herrschaft des Gesetzes zu verankern,84 lässt sich allenfalls mit einigen Einschränkungen bejahen: Ideengeschichtlich setzte der Verfassunggeber zunächst jene ältere Differenzierung des christlichen Naturrechts voraus, wonach zwischen dem status naturalis und status civilis zu unterscheiden sei. Von hier aus schlug er, beeinflusst durch den frühen Liberalismus und Konstitutionalismus der Zeit, den Bogen zur Gleichheit vor dem Gesetz, wie sie zuvor die französischen Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte formuliert hatten.85 Darüber hinaus erschien es der Versammlung zweckmäßig, sich auf die Verfassung der Vereinigten Staaten zu beziehen, insofern diese das Gleichheitsgebot mit dem Verbot der Nobilitierung verband (Abschn. 9 Abs. 8, Abschn. 10 Abs. 1) und damit Monarchie und Aristokratie die Grundlage entzog. Entsprechend schlossen Art. 148 und Art. 204 der venezolanischen Verfassung jede Form der Nobilitierung aus, was einige Jahre später die Verfassung Großkolumbiens von 1821 bestätigte (Art. 181) und zu einem festen Bestandteil der frühen Verfassungstexte in Spanischamerika wurde.86 Demnach wurden die erblichen Titel, Ämter und Sonderrechte, welche die spanische Krone verliehen hatte, aufgehoben und deren erstmaliger Erwerb bzw. die erbrechtliche Übertragung verboten. Das Pathos, mit dem Art. 148 Hs. 2 der ersten venezolanischen Verfassung von 1811 diesen Belang formuliert, ist charakteristisch für die vielfach hoch gestimmten frühen Texte dieser frühen, revolutionären Phase der Staatengründungen in Übersee. Das betrifft ebenso das Bedürfnis, möglichst viele Rechtsfiguren naturrechtlich abzuleiten: „Die Vorstellung, dass ein Mensch als Beamter, Gesetzgeber, Richter, Militär oder sonstige Amtsperson geboren sei, hat keinerlei Sinn und widerspricht der Natur.“87 Wenn demnach die Kreolen die Vererblichkeit bestimmter Titel, Ämter, Privilegien als „Widerspruch zur Natur“ oder auch „gegen die Vernunft“88 einstuften, überhöhten sie diesen besonderen Belang des Gleichheitsgebotes, meinten damit jedoch nur einen Teilaspekt. Denn sie bezogen sich vor allem auf die Hinterlassenschaft der kolonialen Rechtsordnung und wandten sich gegen die Privilegien der europäischen Spanier in Übersee, nicht aber gegen die faktische Ungleichheit innerhalb der venezolanischen Gesellschaft. 84 Allan R. Brewer-Carías, Estudio preliminar, in: ders., Las Constituciones de Venezuela (Fn. 4), S. 18 f., 25. 85 Siehe Art. 6 S. 3 f. der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und Art. 3 der gleichnamigen Erklärung von 1793. 86 So Art. 25 S. 2 der mexikanischen Verfassung von Apatzingán (1814), in Peru Art. 9 Ziff.11 der „Verfassungsgrundlagen“ von 1822 und Art. 23 S. 2 der Verfassung von 1823; ferner Art. 175 Ziff. 5 der zentralamerikanischen Bundesstaatenverfassung von 1824. 87 In: Allan R. Brewer-Carías, Las Constituciones de Venezuela (Fn. 1), S. 196. 88 So Art. 25 S. 2 der mexikanischen Verfassung von Apatzingán (1814), offenbar in Anlehnung an den venezolanischen Vorläufer: „(. . .) y así es contraria a la razón la idea de un hombre nacido legislador o magistrado“, in: Felipe Teña Ramírez, Leyes fundamentales de Mexico (Fn. 43), S. 35.
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Zwar bezogen sich die Kreolen im ehemaligen Vizekönigreich Neugranada seit dem Beginn der Emanzipationsbewegung immer wieder auf die „Freiheit und Gleichheit“ in der Wortwahl der Französischen Revolution. Damit verbanden sie jedoch höchst selten eine wirklich egalitäre Bedeutung. Ein gutes Beispiel ist jene in der Tradition des Comunero-Aufstandes verfasste Beschwerdeschrift („Memorial de Agravios“), in der Camilo Torres 1810 für Santa Fé de Bogotá die Rechte der Kreolen gegenüber der Krone anführte, hierin jedoch nicht die Rechte der Eingeborenen oder der afro-amerikanischen Bevölkerung einbezog.89 Die verfassungsrechtliche Behandlung der Sklaverei verdeutlicht den Konfl ikt zwischen theoretischem Anspruch und Wirklichkeit. Trotz der häufigen Betonung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ließ sich zunächst weder in Venezuela noch in den übrigen Teilen des Vizekönigreichs Neugranada die Abschaffung der Sklaverei durchsetzen, ebenso wenig wie die weiterer wirtschaftlicher Sonderrechte der Grundherren. Zwar bestätigte die Verfassung von 1811 (Art. 202) jenes frühe Dekret von August 1810, das den Handel mit Sklaven untersagt hatte. Und im Sinne dieses ersten Schrittes sprach sich dann auch der Kongress von Angostura im Jahr 1819 für eine stufenweise Abschaffung der Sklaverei aus. Dennoch gelang es zunächst weder in Venezuela noch in Kolumbien, die tatsächliche Gleichheit der Sklaven verfassungsgesetzlich zu verankern. Die Kreolen fürchteten die militärische Mobilisierung befreiter Sklaven, die mit zunehmender Radikalisierung des Unabhängigkeitskrieges tatsächlich eine Rolle spielte – zumal man die Sklavenaufstände in Jamaika (1757), Coro (1795) und Haiti (1804) als unheilvolle Vorboten betrachtete.90 Hinzu kam der vermeintliche wirtschaftliche Nutzen, den die Großgrundbesitzer aus der Sklavenarbeit zogen.
d) Exekutive und Legislative Während sich in den meisten der hier besonders hervorgehobenen Prinzipien der Verfassung von 1811 sehr verschiedene Einflüsse mischten, lassen sich die Bestimmungen über Regierung und Parlament eindeutig zuordnen: Sie lehnen sich an das nordamerikanische Konzept des „moderate government“ und der „checks and balances“ an – wenn auch mit einer wichtigen Ausnahme, was die nähere Ausgestaltung der Exekutive anbelangt. Wie stark dieses Vorbild den frühen Konstitutionalismus in Venezuela prägte, lässt sich an den beiden auf die erste Verfassung folgenden Texten ablesen: Auch die Verfassung Venezuelas von 1819 und jene Großkolumbiens von 1821 orientierten sich hieran, obwohl Símon Bolívar, dessen Position dann in den Beratungen von Angostura und Cúcuta herausragende Bedeutung hatte, das Modell der Vereinigten Staaten kritisch beurteilte. Erst 1826 und weit entfernt von seiner Heimat gelang es Bolívar, in Peru und Bolivien das von ihm favorisierte autoritäre Gegenmodell zum „gobierno moderado“ nordamerikanischer Prägung zu oktroyieren.91 89
Alberto Ramos Garbiras/Alonso Moreno Parra, Bolívar y el constitucionalismo (Fn. 15), S. 65. Dazu Alberto Ramos Garbiras/Alonso Moreno Parra, Bolívar y el constitucionalismo (Fn. 15), S. 63 f. 91 Dazu näher Andreas Timmermann, Das Konzept der „neutralen Gewalt“ – eine verfassungshistorische Überlegung zur Debatte um Präsidentialismus und Parlamentarismus, in: Verfassung und Recht in Übersee 40 (2007), S. 189 ff. 90
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Die verfassungebende Versammlung legte jedoch im Jahr 1811 die Trennung der einzelnen Funktionen in eine gesetzgebende, ausführende und Recht sprechende Gewalt streng aus. Keinesfalls dürfe die Staatsgewalt zusammenfallen, sondern sei durch voneinander unabhängige Körper mit jeweils eigenständigen Befugnisse auszuüben.92 Einerseits wollte sich die Konstituante auf diesem Wege möglichst deutlich vom monarchischen Prinzip des Ancien Régime absetzen. Andererseits orientierte sie sich am Prinzip der „checks and balances“ des nordamerikanischen Vorbilds. Sowohl das Repräsentantenhaus (Cámera de Representantes) wie auch der Senat (Senado) können die Initiative zur Verabschiedung, Änderung und Auf hebung der Gesetze ergreifen. Art. 3 f. zufolge müssen beide Kammern zustimmen. Lediglich die Initiative zu Steuer- und Abgabengesetzen geht allein vom Repräsentantenhaus aus, während dem Senat das Recht zur Änderung und Zurückweisung bleibt (Art. 5). Das Gesetz tritt erst dann in Kraft, wenn die Exekutive dieses gegenzeichnet. Andernfalls erlaubt Art. 9 S. 2, das Veto zu überstimmen, sofern beide Kammern dies mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Trotz der Kritik und Modifi kationen Simón Bolívars haben sich hieran dann auch die nachfolgenden Texte von 1819 und 1821 orientiert. Die erwähnte Ausnahme von dem überragenden Einfluss, den die Verfassung von Philadelphia auf das Regierungssystem der ersten Republik ausübte, betrifft die Aufteilung der Exekutive auf drei Personen. Wie im Fall der Abgeordneten waren es auch hier die Wahlmänner des Volkes, welche die Triumviren bestimmten. Nach der vierjährigen Amtszeit sollte ein neues Kollegium folgen (Art. 72, 75 f.). Der Zweck bestand darin, die ausführende Gewalt institutionell zu schwächen. Formal orientierten sich die Kreolen hierin am Triumvirat der französischen Konsulatsverfassung von 1799. Allerdings gilt diese Parallele nur sehr eingeschränkt, wenn man das überragenden Gewicht des ersten Konsuls in Frankreich berücksichtigt.93 Dass die Konstituante zumindest in diesem Punkt die Abweichung vom Präsidialsystem der Vereinigten Staaten in Kauf nahm, hatte mit der zu Beginn der Emanzipationsbestrebungen besonders weit verbreiteten Sorge zu tun, dass ein starker Regierungs- und Staatschef erneut jene überragende Stellung erhielt, wie sie bis dahin der spanische Monarch oder zumindest die Vizekönige einnahmen.94 Den Venezolanern ging es um die Prärogative des Parlaments, die sie soeben gegenüber dem Ancien Régime erstritten hatten, weshalb sie die Position der Exekutive entscheidend schwächten. Das Verfassungsgesetz galt zwar im Verhältnis zum einfachen Parlamentsgesetz als vorrangig, richtete sich aber vorrangig gegen die befürchtete Despotie eines Einzelnen und die mögliche Rückkehr des Absolutismus, weniger gegen die Herrschaft des Parlaments.
92 So Abs. 3 der Vorrede: „El ejercicio de esta autoridad confiada a la Confederación no podrá jamás hallarse reunido en sus diversas funciones. El Poder Supremo debe estar dividido en Legislativo, Executivo y Judicial, y confiado a distintos Cuerpos independientes entre sí y en sus respectivas facultades“. 93 vgl. Art. 40 f., Constitution du 22 frimaire an VIII (13. 12. 1799), in: Charles Debbasch/ Jean-Marie Pontier (Hg.), Les Constitutions de la France, 3. Aufl., Paris 1996, S. 99 ff., speziell S. 106; zur Parallele und den Unterschieden: C. Parra Pérez, La Constitución federal de Venezuela de 1811 (Fn. 7), S. 30 f. 94 Alberto Ramos Garbiras/Alonso Moreno Parra, Bolívar y el constitucionalismo (Fn. 15), S. 35 f.
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Diese Erwägung hat im frühen lateinamerikanischen Konstitutionalismus immer wieder eine Rolle gespielt. Ein weiteres Beispiel innerhalb des ehemaligen Vizekönigreichs Neugranada sind die Kollegialregierungen in einigen der frühen kolumbianischen (Teil)staaten und das erste Triumvirat der Vereinigten Provinzen von Neugrananda (1814–1815). Bekannter noch ist das Triumvirat, das im Anschluss an die Mairevolution in Buenos Aires dort die Exekutive bildete. Diese Regierung bestand aus einem Gremium von drei Sprechern (vocales), denen drei Sekretäre (secretarios) zur Seite standen.95 Die Erwägungen waren die gleichen wie in Venezuela: Eine starke, und daher willkürliche Regierungsgewalt könne, wie es die Kreolen ausdrückten, „leicht in eine Despotie und Tyrannei umschlagen, was die Erfahrungen zu allen Zeiten belegen und wofür es nur kurz zurückliegende Beispiele gibt“.96
6. Fazit Nach Annahme der Verfassung im Dezember 1811 blieb keine Gelegenheit mehr, diese noch anzuwenden. Der Unabhängigkeitskrieg beschleunigte das Ende einer der Verfassung gemäßen Regierung, als im April 1812 der Exekutive Sondervollmachten eingeräumt wurden und kurz darauf Francisco de Miranda die Stellung eines Diktators. Die Kapitulationserklärung vom 25. Juli 1812 beendete die erste Republik und gliederte Venezuela wieder in die spanischen Monarchie ein, so dass auch hier nun – zumindest formal – die spanische Verfassung von Cádiz galt, ohne dass sie angesichts der faktischen Militärherrschaft tatsächlich zur Anwendung gelangte.97 Mit Blick auf die Ausgangsfrage lässt sich kaum bestreiten, dass das Vorbild der nordamerikanischen Gründerväter einen starken Einfluss auf die venezolanische Konstituante ausübte, in etwas geringerem Maße auch das Beispiel der französischen Revolutionäre. Angesichts der historischen Parallele war es fast zwangsläufig, dass die Unabhängigkeit und die Gründung eines republikanischen Bundesstaats im Norden des Kontinents Widerhall in den frühen Proklamationen und Entwürfen fi nden musste, nicht nur bei den Augenzeugen dieser Ereignisse wie Francisco de Miranda. Anders als mit dieser Vorbildwirkung ist auch nicht zu erklären, dass sich im Zuge der Staatengründungen in Spanischamerika etwa das System der Gewaltenoder Funktionenteilung, wie es der Konvent von Philadelphia 1787 ausgearbeitet hatte, fast überall durchsetzte. Die erste Verfassung Venezuelas ist, speziell was das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative anbelangt, ein Vorreiter dieser Entwicklung, selbst wenn die erwähnte Kollegialregierung eine durchaus erhebliche Abweichung bedeutet. Ein weiterer Beleg sind die Proklamationen der Individualrechte von Juli 1811 und im achten Kapitel der Verfassung, die sich an den norda95 Gemäß Dekret vom 23. 09. 1811 („Creación del triumvirato y de la Junta Conservadora“), in: Arturo Enrique Sampay, Las Constituciones de la Argentina (Fn. 35), S. 107; bestätigt durch „Reglamento de la división de poderes sancionado por la Junta Conservadora“ (2. Abschn., Art. 1) vom 30. 09. 1811–29. 10. 1811, ebda., S. 109 ff. 96 Einleitung zum Verfassungsentwurf von 1811, in: Arturo Enrique Sampay, Las Constituciones de la Argentina (Fn. 35), S. 101 f.; weiter ausgeführt in Art. 1 f. und Art. 5 des Verfassungsentwurfs. 97 Ausführlich dazu Inés Quintero/Angel Rafael Almarza, Autoridad militar vs. legalidad constitucional (Fn. 2), S. 182 ff.
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merikanischen und an den französischen Vorläufertexten orientieren. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Verfassunggeber hierbei ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen im Auge behielten; zumal diese Belange durchaus jenen der Gründerväter in den USA und des vermögenden Bürgertums im Frankreich der 90er Jahre ähnelten. Dennoch ist die Vorbildwirkung in manchen Punkten zweischneidig. Zwar bezogen sich die venezolanischen Abgeordneten in der verfassunggebenden Versammlung auf den Zweiten Kontinentalkongress, wenn sie die neue Staatsordnung auf die Provinzen gründeten. Andererseits ließ sich die starke Position der Bundesstaaten, wie dann auch in der Historiographie vielfach angenommen, ebenso auf die koloniale Territorialordnung zurückführen. Auch die zahlreichen naturrechtlichen Bezüge der Verfassung von 1811 belegen, dass die spanische Tradition, speziell jene der Rechtsinstitute und der scholastisch geprägten Philosophie, einen starken Einfluss ausübte. Dies gilt in einem besonderen Maße für die Lehren vom vertragsmäßigen Zustandekommen des Staates, von einem absoluten Staatszweck und der Volkssouveränität. Ausweislich der Verfassung ergänzen jüngere Quellen, die der englischen und französischen Auf klärung entstammen, jene älteren Grundlagen der spanischen Rechts- und Glaubenstradition, um ihnen eine modernere Form zu geben, was manche Widersprüche und eine gewisse Unentschiedenheit des Textes erklärt.
Argentinien als Verfassungsstaat* von
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Vorbilder in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Vorbild Italien (Dokumentation eines römischen Verfassungstages) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Beispiel Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungswirklichkeit in Lissabon (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kulturgeschichte Portugals im Kontext von Normen der Verfassung von 1976 . . . . . . . . . Zweiter Teil: Das kulturelle Verfassungspotenzial Argentiniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Daten zur politischen und Landesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die geltende Verfassung in kulturwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkurs: Die Verfassung von Buenos Aires (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Versuch einer Gesamtbewertung Argentiniens als Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Eine „lectio doctoralis“ wie heute in Buenos Aires halten zu dürfen, ist ein Höhepunkt im Werdegang eines deutschen Universitätsprofessors. Sie darf zunächst die tiefe Dankbarkeit des Redners für die hohe akademische Ehrung heute zum Ausdruck bringen. Sie kann Zeichen einer persönlichen Verbundenheit sein: mir ist sie seit einigen Jahren mit den Professoren A. A. Alterini1 ,E. R. Zaffaroni2 und R. G. Ferreyra3 sowie mit dem akademischen Kreis junger Gelehrter um diesen seit 2006 vergönnt, und sie kann wissenschaftlich durch gemeinsame Themen begründet sein: *
Lectio doctoralis in Buenos Aires (2009). Aufschlussreich: A. A. Alterini, La Universidad Pública en un Proyecto de Nación, 2006. 2 Von ihm eindrucksvoll: El Enemigo en el Derecho Penal, 2006. 3 Grundsatzliteratur: R. G. Ferreyra, Patología del proceso de reforma. Sobre la inconstitucionalidad de una enmienda en el sistema constitucional de la Argentina, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, 2008, S. 63 ff. 1
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hier und heute in Sachen Typus Verfassungsstaat und einem Beispiel wie Argentinien. Gewiss darf man von einer lectio doctoralis kaum mehr große Entwürfe, „Programmatisches“ erwarten – wie etwa von einer Antrittsvorlesung, wie sie in Deutschland zu Beginn einer neuen Professur üblich ist. Denn im „Herbst des Mittelalters“, richtiger: „Frühjahr des Altertums“ eines bald 75jährigen Professors bleiben weder Zeit noch Kraft für ganz neue wissenschaftliche Forschungsvorhaben, zumal wenn er wie ich aus der deutschen Provinz kommt. Doch seien einige wissenschaftliche Themenlinien ausgezogen, in die viel Erfahrungswissenschaftliches aus einem längeren Gelehrtenleben eingegangen ist wie bei mir. Das Gastland und die Gastuniversität Buenos Aires sind dabei Inspirationsquelle, soweit mir dies als „altem Europäer“ möglich ist. Im „Buch der Träume“ Ihres großen Dichters J. L. Borges fi ndet sich leider kein Traum eines Verfassungsrechtlers oder Klassikers wie Montesquieu. Wie neugierig könnten wir auch auf einen Traum eines J. Locke sein. Wir müssen uns mit dem berühmten Traum bei Cicero begnügen und könnten auch das Werk des großen argentinischen Dichters auf etwaige Aussagen zu Elementen des Verfassungsstaates befragen, denken wir nur an seine Kritik an der Demokratie als „Unglück der Zahlen“ und Ähnliches. So müssen wir bescheiden ansetzen und können in meiner Dankesrede nur einige Akzente setzen. Sie entwickelt sich in folgenden Teilen: zunächst geht es um das kulturelle Verfassungspotenzial Argentiniens – an Hand der Kulturgeschichte Ihres großen Landes, soweit sie mir zugänglich ist. Dabei dienen zwei Beispiele, auch Erfahrungen in Italien und Portugal als „Vorbereitung“. In einem zweiten Teil sei kurz auf die geltende Verfassung Argentiniens im Rechtsvergleich und im Lichte meiner Theorie eingegangen.
Erster Teil: Vorbilder in Europa I. Das Vorbild Italien (Dokumentation eines römischen Verfassungstages) Eine – vorbildliche – Feier eines Verfassungstages war in Rom zu erleben. Er bezog sich auf 50 Jahre der italienischen Corte („Verfassungsgerichtsjahr“). In einem auch als Ausstellung präsentierten Prachtband4 wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Corte die Verfassung von 1947 von Seiten und mit den Mitteln der Kultur, Kunst und Wissenschaft gefeiert. Die einzelnen Artikel der Verfassung von 1947 und die zugehörigen großen Judikate der Corte wurden zugleich im Kontext von Erläuterungen berühmter Verfassungsrichter illustriert. Große Dokumente, Gemälde und Zeichnungen aus der Kulturgeschichte Italiens bis hin zu Beispielen moderner Malerei, etwa im Blick auf das Arbeitermilieu und historische Schlachtengemälde sowie Allegorien über die Gerechtigkeit, wurden dokumentiert. Hier einige Beispiele aus diesem kulturwissenschaftlich-verfassungsjuristisch einzigartigen bibliophilen Werk, das eine Ausstellung dokumentiert hat: 4 1956–2006 – 50 anni di Corte Costituzionale: le immagini, le idee, Rom 2006, a cura di P. Boragina und G. Marcenaro.
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– zu Art. 4 (insbes. Recht auf Arbeit): Gemälde einer alten Seidenspinnerei, streikender Arbeiter, auf Reisfeldern tätiger Frauen, eines pflügenden Bauern, einer Baustelle: die Arbeit wird hier zwar traditionell, aber in ihrer ganzen Vielfalt dokumentiert, konsequent angesichts des Art. 1 Satz 1: „auf die Arbeit gegründete Republik“ – zu Art. 9, 33 und 34 (insbes. Umwelt, Kultur, Landschaft, Schule): Michelangelos Entwurf des Grabmals für Leo X. und Clemens VII., ein Frauenportrait aus der Renaissance, das Autograph N. Machiavellis zur Einleitung seiner „Discorsi“ (vor 1531), ein Portrait eines Humanisten, mehrerer Astronomen (beide 16. Jh.), das Autograph eines Manuskripts von G. Galilei (1616), eine Ansicht von Venedig (F. Guardi, 18. Jh.), Gemälde des Colloseums (18. Jh.), Olivengärten eines quasi-impressionistischen Malers, „Mein Syrakus“, ein Gemälde im eher modernen Stil, „Die Erzieherin“ (fast kubistisch) – zu Art. 29, 30 und 31 (insbes. Familie unter dem Gesamttitel ethisch-soziale Beziehungen): „Madonna mit Kind“ (ca. 1580), Familienbild im Stil der Renaissance, bürgerliches Familienbild, Familienbilder aus dem 20. Jahrhundert, mithin wird auch der Wandel des Familienbildes über die Zeit offenbar – zu Art. 2 und 3 (insbes. Gleichheit, Vereinigungsfreiheit unter dem Gesamttitel Grundprinzipien, auch Religionsfreiheit): Renaissancegemälde einer Messe, antikisierende Darstellung der Predigt eines Apostels (18. Jh.), das Innere einer Synagoge (18. Jh.), Versammlung von Quäkern (18. Jh.), mithin also auch Darstellungen anderer Religionen als der eigenen, Gemälde verschiedener Versammlungen aus unterschiedlichen Zeitperioden (etwa Komödianten auf Märkten), Menschen in einer Straßenbahn (1923) – zu Art. 5 (insbes. lokale Autonomie): Phantasie-Städtebild, das die architektonischen Wahrzeichen vieler italienischer Kommunen vereinigt, etwa Roms, Mailands, Turins, Pisas, welches freilich nur exemplarisch bleiben kann – zu Art. 11 (insbes. Verbot des Angriffskrieges): mehrere Schlachtenbilder in altem und neuem Stil, eine Allegorie des Friedens mit Lamm (18. Jh.) – zu Art. 24 und 25 (insbes. Gerechtigkeit und Justizgrundrechte): mehrere allegoriehafte Gemälde zur Gerechtigkeit aus dem 17. und 20. Jahrhundert, eine Erstausgabe des Werks C. Beccarias (1764) – zu Art. 10 (insbes. internationales Recht): Gemälde des Empfangs eines Botschafters (18. Jh.); hier fällt ein Defizit ins Auge: der in Italien so früh aufgenommene Gedanke der europäischen Einigung (Ventotene!) ist durch keine einzige Abbildung präsent – zu Art. 32 (insbes. Gesundheit und Heilfürsorge): Gemälde der Armenfürsorge in Florenz (1514), Armenspeisung (17. Jh.) – zu Art. 41 und 47 (insbes. privatwirtschaftliche Initiative und Spartätigkeit): familiäre Stickerei im Adelsmilieu (18. Jh.), Portraits bekannter Kaufleute, alter handschriftlicher „Kontoauszug“ Michelangelos (1514). Dem Verf. ist weltweit keine vergleichbare kulturwissenschaftlich-juristische Umsetzung einer gelebten Verfassung im Spiegel ihrer Teilgebiete von Religion, Wissenschaft und Kunst, politischem und sozialen Leben bekannt. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade Italien als das Kulturland Europas, ja der Welt, sich in Gestalt dieser Publikation feiert. Andere Länder bzw. verfassungsrechtliche Wissenschaftler-
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gemeinden könnten sich in Kooperation mit (anderen) Kulturwissenschaftlern ein Beispiel an diesem Projekt nehmen.
II. Das Beispiel Portugal 1. Verfassungswirklichkeit in Lissabon (2006) Aus der Verfassungswirklichkeit sei ein Beispiel aus Lissabon herausgegriffen. Der Verf. hat im Jahre 2006 (25. April) fast zufällig die politisch-soziale Wirklichkeit des in Lissabon gefeierten Verfassungstages Portugals erlebt. Gewiss, er war damals als Redner zu einer Festveranstaltung des portugiesischen Verfassungsgerichts und der juristischen Fakultät der alten Universität eingeladen, doch zuvor mischte er sich unter das Publikum, genauer die nationale Öffentlichkeit, die in ihrer Weise auf der Prachtstraße der Stadt, der Av. de Liberdade, die Verfassung von 1976 feierte. Man erlebte fast ein Volksfest, eine Art „Verfassung als öffentlicher Prozess“ mit vielen Bürgern und Gruppen als aktiven Interpreten. Im Einzelnen: Parteipolitische Gruppierungen, gesellschaftliche Verbände, Dorfabordnungen und Stadtteilvertretungen, aber auch Berufsgruppen aller Art zogen in einer Art Parade den großen Boulevard zum Meer hinunter. Alle Beteiligten und fast alle Zuschauer trugen symbolisch die seit 1974 berühmte rote Nelke („Nelkenrevolution“). Auf Transparenten, teils von den Menschen getragen, teils auf Fahrzeugen gezeigt, wurde ausdrücklich auf bestimmte Verfassungs-Artikel verwiesen, etwa in Sachen Arbeit, Familie oder Umwelt, auch Frieden. Teils wurden verfassungspolitische oder allgemein politische Forderungen vorgebracht und auf schmuck dekorierten Wagen illustriert. Spürbar war eine republikanische Stimmung, eine Artikulierung des Selbstverständnisses als verfasste Nation, bei allen Defiziten, die etwa in Sachen Arbeitslosigkeit angeprangert wurden. Als „teilnehmender Beobachter“ erlebte man ein in die Tat umgesetztes „constitutional law in public action“. Dem Verf. bleibt all dies unvergesslich; es war ihm auch im eher akademischen Milieu der eindrucksvollen wissenschaftlichen Tagung in der Gulbenkian-Stiftung stets gegenwärtig.5
2. Die Kulturgeschichte Portugals im Kontext von Normen der Verfassung von 1976 Aus der Tiefe der Kulturgeschichte Portugals und ihrem „Humus“ seien in Anlehnung an den dokumentierten Band aus Rom jetzt folgende Bezüge zu Verfassungsbestimmungen von 1976 im Blick auf Vorkommnisse, Ereignisse, große Werke der Kunst und Kultur hergestellt: – das „Goldene Zeitalter“ (16. Jahrhundert), mit seinen großen Werken (dazu bei Art. 42)
5 Der Vortrag ist veröffentlicht in EuGRZ 2006, S. 533 ff.: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus.
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– die nationale Katastrophe des Erdbebens von 17556 – die Loslösung Brasiliens 1822 – zur inhaltsreichen Präambel: Erzählung der jüngsten Geschichte in Sachen portugiesischer Verfassungsstaat: 25. April 1974: Befreiung von der Diktatur und vom Kolonialismus, Wahrnehmung der Grundrechte, Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und „brüderlichem Lande“; Bilder von den Straßenfesten während der „Nelkenrevolution“, Dokumente der Verkündung der Verfassung durch die Verfassunggebende Versammlung (2. April 1976) – zu Art. 7 (Internationale Beziehungen): völkerrechtliche Dokumente, insbesondere zu den „freundschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des portugiesischen Sprachraums“ (Portugiesisch gilt als Muttersprache für 120 Millionen); ein Bild vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag; zum Friedensgebot als Gegendokument z. B. die Schlacht bei Aljubarrota7 – zu Art. 11 (nationale Symbole), insbesondere die Flagge: Die Flagge Portugals liest sich wie ein Geschichtsbuch; sie setzt die Staats- und Verfassungsgeschichte buchstäblich ins Bildliche um: die fünf blauen Schilde in Form eines Kreuzes repräsentieren die fünf maurischen Könige, die 1139 in einer Schlacht besiegt wurden; grün als Zeichen der Hoffnung war die Farbe Heinrich des Seefahrers8 (1394 bis 1460); das Wappen mit der Armillasphäre, einem alten Navigationsinstrument, spiegelt die große Rolle wider, die Portugal bei der Entdeckung der Welt außerhalb Europas spielte (überall trifft man auf Spuren der Weltentdecker: in Sagres, Porto, Batalha oder sogar in Lagos: Vasco da Gama entdeckte 1497 den Seeweg nach Indien); sodann das goldene Rad mit dem goldenen Bogen in der Flagge wurde im 13. Jahrhundert von König Alfons III. auf dem Schild hinzugefügt; die fünf weißen Punkte auf jedem Schild stehen für die Wunden Christi; das rote Feld wurde als Symbol der Revolution übernommen;9 die Rezeption des Symbols aus der Revolution vom 5. Oktober 1910 wäre durch ein Dokument dieser Tage zu illustrieren. Verfassungstheoretisch zeigt sich, dass die Präambel eine kurze Phase der Entstehung des Verfassungsstaates Portugal beschreibt, während die Nationalflagge die jahrhundertelange Entwicklung des Landes graphisch und farblich nachzeichnet – zu Art. 12 f. (Grundrechte und Grundpflichten): große Judikate des Verfassungsgerichts in Lissabon und ihre Kommentierung durch die Wissenschaft – zu Art. 15 (Ausländer, europäische Bürger): Heraushebung der Staatsbürger aus Ländern des portugiesischen Staatsraums; Dokumente der Länder wie Mosambik, Kap Verde, Angola, Guinea-Bissau
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Abbildung von Lissabon in: Portugal, DuMont, 1987, S. 84. Abgebildet in Portugal, DuMont, 1987, S. 40. 8 Sein Denkmal: abgebildet in: Portugal, Walter-Reiseführer 1986, S. 39; ebenfalls abgebildet in: G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, 1. Umschlagseite. 9 Abbildung zit. nach B. J. Barker, Weltatlas der Flaggen, 2005, S. 51. Allgemein zur Symbolfunktion von Nationalfl aggen: P. Häberle, Nationalfl aggen: kulturelle Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 7
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– zu Art. 41 (Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung): Dokumente aus der Geschichte der Kirche einschließlich der Inquisition10 ; das Wunder von Fátima, „Land der Burgen und Abteien“11 – zu Art. 42 (Freiheit der kulturellen Entfaltung): Abbildungen aus der portugiesischen Kunst und Kultur, z. B. Manuelische Säulen im Kloster von Belém12, portugiesische Kachelkunst, Hieronymus-Kloster in Lissabon; aus der Lit.: L. de Camóes (1524–1580, Epos „Die Lusiaden“); F. Pessoa (1888–1935); der Nobelpreisträger J. Saramago „Hoffnung in Altentejo“; aus der Musik: der Fado („Saudade“). – Zur wissenschaftlichen Entfaltung: die Universitätsstadt Coimbra (Alte Universität, insbesondere die Universitätsbibliothek, von 1716–1732 errichtet13 ); die Gulbenkian-Stiftung in Lissabon; Tanzdarbietungen in Tracht14 ; erste Staatsrechtslehrer zur Verfassung von 1976 mit großen Lehrbüchern sind G. Canotilho und J. Miranda; als große Richter bzw. Präsidenten sind zu nennen: M. Cardoso da Costa – zu Art. 66 (Umwelt- und Lebensqualität): Kulturlandschaften wie die Algarve, Albufeira und der Nationalpark von Buçaco, Costa do Sole, der Weinanbau im Douro-Tal, s. aber auch die „Afrikanischen Akzente“15 – zu Art. 78 (kulturelles Schaffen): Abbildungen von Objekten des nationalen Kulturgüterschutzes, z. B. der kunstvollen Fliesen („Azulejos“), des Emanuelstils (1490– 1540); Unesco-Weltkulturerbe16 : Porto, Tomár, Évora, Sintra – zu Art. 79 (Körperkultur und Sport): als Kultur im weiteren Sinne zu verstehen, wohl auch der portugiesische Stierkampf – zu Art. 150 (Versammlung der Republik): Parlamentsgebäude Saó Bento17 – zu Art. 278–283 (Verfassungsgericht): Abbildung des Palastes, einer Plenarsitzung und Darstellung großer Judikate, insbesondere zu den Grundrechten.
Zweiter Teil: Das kulturelle Verfassungspotenzial Argentiniens I. Daten zur politischen und Landesgeschichte Nur zur Erinnerung vor allem für Nicht-Argentinier seien einige wichtige Daten zusammengestellt. Später wären sie in die heutige Verfassung von Argentinien „als Kultur“ und „als öffentlicher Prozess“ einzubeziehen. – 1516: Der Spanier J. Diaz de Solís entdeckt die Mündung des Rio de la Plata – 1536: Erste Gründung von Buenos Aires (P. de Mendoza) – 1544: Das Territorium des heutigen Argentinien wird dem spanischen Kolonialreich als Teil des Vizekönigreichs Peru angegliedert; damit ist eines der klassischen drei Staatselemente im Sinne von G. Jellinek begründet 10 11 12 13 14 15 16 17
Abbildung der Verbrennung von Inquisitionsopfern, in: Portugal, DuMont, 1987, S. 46. Abbildungen in: G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 84 ff. Abgebildet in: Portugal, DuMont, 1987, S. 63. Die weiteren Beispiele auf S. 67 ff. Abbildung in G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 75. Abbildung in G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 48. Dokumentiert in: G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 142 ff. Abbildungen in UNESCO-Weltkulturerbe, 2003, S. 214–223. Abgebildet in: Portugal, DuMont, aaO., S. 96.
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– 1580: zweite Gründung von Buenos Aires, das heute bekanntlich eine eigene Verfassung (1996) hat (von R. G. Ferreyra 1997 meisterhaft kommentiert) – 1776: Das Vizekönigreich Rio de la Plata, d. h. Argentinien, Uruguay und Paraguay sowie Bolivien mit der Hauptstadt Buenos Aires, Gründung durch König Carlos III, weitgehende Auf hebung der Handelsbeschränkungen – 1777: Vertreibung des Jesuitenordens, der zwölf Missionsstationen gegründet hatte und sich gegen die Versklavung der Indianer zur Wehr setzte – 1810: Absetzung des spanischen Vizekönigs18 – 1816: Das Vizekönigreich (der Nationalkongress in Tucumán) erklärt sich für unabhängig, die übrigen Staaten spalten sich ab; Beginn des Zeitalters der Bürgerkriege – 1835: Diktatur des Generals J. M. de Rosas – 1853: Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung durch J. J. de Uruquiza, die am 1. Mai eine wohl am Vorbild der US-Verfassung orientierte Verfassung erlässt, sie gilt mit Unterbrechungen und einigen späteren Änderungen (1860, 1866, 1898, 1957, 1994) noch heute19 – 1880: Argentinien konstituiert sich als Bundesstaat, es kommt zu einer starken Einwanderung aus Europa – 1888: Der Supreme Court begründet nach dem Vorbild von Marbury vs. Madison das Institut des Judicial Review – 1890: Buenos Aires wird zur größten Stadt Lateinamerikas, Ausrottung der Indianer – 1910: Allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht, allerdings nur für Männer (für Frauen erst ab 1948); das Wahlrecht ist der „Urakt der Demokratie“, es wurzelt letztlich in der Würde des Menschen – 1930: Soziale Unruhen nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1931: Beginn des „ehrlosen Jahrzehnts“ („La Década Infama“), gekennzeichnet durch Wahlbetrug, Korruption und oligarchische Strukturen – 1945: Marsch der „Hemdlosen“ (Freilassung von J. D. Perón) – 1946–1955: Erste Regierung von J. D. Perón unter dem Selbstverständnis „Justícialismo“; Kennzeichnung durch die Kritiker als populärer Nationalismus – 1955: Sturz J. D. Peróns durch das Militär – 1958: Nach freier Wahl A. Frondizi als Staatspräsident – 1973: Zweite Regierung J. D. Perón – 1976: Erneute Machtergreifung durch das Militär, bis 1983 blutige Militärdiktatur, freilich mit dem Auf bau eines marktwirtschaftlichen Systems. Außerkraftsetzung der Verfassung von 1853. Kämpfer gegen den Terror waren die „Madres de la Plaza del Mayo“; seit 1977 setzten sie ungeschrieben eine „Kultur der Demonstrationsfreiheit“ durch, die erst viel später als Text in europäischen Verfassungen verbürgt worden ist
18 Aus der Lit.: P. A. Ramella, Die Entwicklung des Verfassungsrechts in Argentinien, JöR 18 (1969), S. 582 ff. 19 Vgl. den Band von N. P. Sagüés, Constitución de la Nación, Argentina.
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– 1982: Niederlage im Falklandkrieg mit der Folge der Selbstauflösung der Militärjunta 20 – 1983–1989: Demokratisierung mit der Wahl des Präsidenten R. Alfosín, breite Debatte über Verfassungsreformen, die aber im Sande verlaufen – 1989–1999: Präsident C. Menem; seine Privatisierungspolitik bewirkt vorübergehend einen Wirtschaftsaufschwung, der jedoch in Inflation, Arbeitslosigkeit, Rezession und Korruption mündet; erneute Diskussion über Verfassungsreformen – 1994: Verfassungsänderung (democracy as the ruling principle of the constitution, das Amparo-Verfahren, das pionierhafte habeas data gem. Art. 43 Verf. Argentinien) – 1999–2002: Scheitern des als Antikorruptionskämpfer angetretenen Präsidenten F. de la Rúa – Ab 2003: N. Kirchner als Präsident, seit 2007 dessen Ehefrau; erneut wird erkennbar, dass Argentinien eine starke Präsidialdemokratie ist (vgl. Art. 87 bis 98) und der jeweilige Amtsinhaber das Amt personal stark prägen kann („Hyperpräsidentialismus“ bzw. Schwäche der Legislative?); der Eid (Art. 93) erinnert fast an das Wort vom „Verfassungspatriotismus“, s. auch Art. 21: „patria y de este constitución“ – 2006: Der Oberste Gerichtshof hebt die Amnestiegesetze auf, die den Militärs Straffreiheit für die großen Menschenrechtsverletzungen in der Zeit der Diktatur zugesichert hatten; diese Entscheidung ist ein Sieg der Ideen des Verfassungsstaates.
II. Die geltende Verfassung in kulturwissenschaftlicher Sicht 1. Die vorzügliche – kulturwissenschaftlich einer Ouvertüre oder einem Präludium vergleichbare – Präambel kann sich im weltweiten Vergleich 21 sehen lassen. Sie bekennt sich zur Gerechtigkeit, zum inneren Frieden, zur Förderung des allgemeinen Wohlergehens, zur Sicherung der Freiheit aller, auch der Nachgeborenen, auch der Einwanderer. Vor allem fi ndet sich eine Invocatio Dei, der als „Quelle aller Vernunft und Gerechtigkeit“ angesehen wird – diese Prinzipien werden so zu Verfassungsprinzipien. In hohem Ton sowie sprachlich außerordentlich prägnant, überzeugt die Präambel inhaltlich durch ihre Grundwerte. Sie ist ein „Konzentrat“ der Verfassung, wie dies sehr viele Präambeln von modernen Verfassungsstaaten bilden. Eine Invocatio Dei oder andere Gottesbezüge sind freilich für den Typus Verfassungsstaat nicht unverzichtbar (Beispiel Spanien). Insgesamt: Schon die Präambel fundiert die Verfassung Argentiniens „als Kultur“. 2. Als Regierungsform legt die Verfassung die „repräsentative, republikanische, föderale“ fest (Art. 1). Argentinien ist eine klassische Bundesrepublik mit 23 Ländern und der Hauptstadt Buenos Aires. Die Autonomie der Gliedstaaten ist im Vergleich mit der Schweiz und Deutschland allerdings bislang recht schwach (sie sind im Senat 20 Aus der Lit. zur Verfassungsentwicklung Argentiniens von 1980–1986: P. A. Ramella, JöR 36 (1987), S. 507 ff. 21 Zur Verfassungstheorie von Präambeln: P. Häberle, El Estado constitucional, 2007, S. 417 ff.
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repräsentiert). Man könnte vom „unitarischen Bundesstaat Argentinien“ sprechen. Die Verfassungen dürfen nicht in Widerspruch zur nationalen Verfassung stehen, eine eigene Steuerhoheit haben die Bundesländer nicht. Leider werden die Bundesländer von der Verfassung als „Provinzen“ bezeichnet (Art. 121–129). Sie sollten ihre Verfassungsautonomie ausbauen (Art. 5, 123), annähernd gemäß dem Vorbild von Buenos Aires; die Bundesverfassung regelt Buenos Aires freilich mehrfach gesondert (z. B. Art. 129). Immerhin gewährt Art. 125 den Gliedstaaten ein Stück Kulturhoheit. 3. Ein Wort zu den Grundrechten 22. Sie fi nden sich zunächst im Ersten Teil unter der Überschrift „Deklaration der Rechte und Garantien“ (Kapitel I). Genannt seien etwa die Wirtschaftsfreiheit, die Petitionsfreiheit, die Vereinigungs- und Pressefreiheit, die Eigentumsfreiheit und die Religionsfreiheit (Art. 14); freilich bekennt sich Art. 2 zum katholisch-apostolisch-römischen Glauben. Auffällig ist der anlässlich der Grundrechtsschranken normierte Gottesbezug in Art. 19 Abs. 1; Art. 16 garantiert das Privateigentum. Art. 14 bis, schon äußerlich als Verfassungsänderung erkennbar, nimmt detailliert sich des Schutzes der Arbeitnehmer an (soziale Rechte): in Stichworten wie „würdige Arbeitsbedingungen“, „begrenzte tägliche Arbeitszeit“, „Mindestlohn“, „Gewerkschaftsfreiheit“, „soziale Sicherheit“. Auch ist an den Verfassungsschutz der Familie gedacht (ebd. Abs. 3). Art. 15 normiert ein Stück „gemeinlateinamerikanisches Verfassungsrecht“, weil überall die Sklaverei abgeschafft ist. Gleiches gilt für Art. 16 (Gleichheitssatz), ausdrücklich auch im Steuerrecht, auch die habeas corpus-Rechte nach Art. 18. Art. 21 normiert die Grundpfl icht zur Verteidigung des Vaterlandes. Bemerkenswert sind Art. 28 (Garantie der Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber, der die Ausübung der Rechte sichert) sowie Art. 33 (Offenheit für neue zu entwickelnde Grundrechte, Vorbild sind auch hier die USA, osteuropäische Verfassungen nach 1989 normieren ebenfalls solche „Grundrechtsentwicklungsklauseln“). Art. 36 bis 53 figurieren unter dem Stichwort „Neue Rechte und Garantien“. Hier sind zum Beispiel neben einem Widerstandrecht die Gleichheit von Mann und Frau sowie das allgemeine Wahlrecht fi xiert (Art. 37). Art. 28 und 31 garantieren praktisch den Vorrang der Verfassung. Art. 38 institutionalisiert die politischen Parteien. An eher versteckter Stelle fi nden sich im Rahmen der Zuständigkeiten des Kongresses Staatsaufgaben Argentiniens (Kap. IV). Bei einem materiellen Kompetenzverständnis sind hier manche immanente Grundrechtsschranken „versteckt“. Aus dem reichen Katalog des Art. 75 sei nur erwähnt: die Anerkennung der „ethnischen und kulturelle Präexistenz“ der Ureinwohner Argentiniens (Ziff. 17), der Respekt vor ihrer Identität, die Gewährleistung ihrer Rechte auf eine zweisprachige Erziehung, sodann die Garantie der Urheberrechte sowie des Kulturgüterschutzes (Ziff. 19) – all dies ist Kulturverfassungsrecht. In diesen Kontext gehören etwa der Tango ebenso wie die zahlreichen Nationalparks, das Teatro Colón und das Mueso de Arte Hispano-Americano, auch der Folkloretanz sowie die vielen Sehenswürdigkeiten in 22 Aus der Lit.: E. S. Petracchi, Los derechos humanos en la jurisprudencia de la Corte Suprema de Justicia de la República Argentina, in: Annuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, 2006, II, S. 1253 ff.
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Córdoba, aber auch die Wasserfälle von Iguacú sowie Patagonien.23 Auffällig ist die etwas summarische Aufzählung der vielen universalen und regionalen Menschenrechtserklärungen und Menschenrechtspakte (Ziff. 22), die freilich eindrucksvoll im Rang „über den Gesetzen“ stehen – dies ist ein wesentliches Stück „Verfassungsstaat“. Als Staatsaufgabennorm vielleicht einzigartig ist Art. 25 in Sachen Förderung der „europäischen Einwanderung“ (vgl. auch Art. 75 Ziff. 18 sowie Art. 125 für die Provinzen). Diese Entwicklungsstufe des Typus Verfassungsstaat ist in Ländern des „alten Europa“ bislang noch nicht textlich festgeschrieben, obwohl etwa Deutschland in der Verfassungswirklichkeit längst zum Einwanderungsland geworden ist! Verfassungsvergleichung ist keine „Einbahnstraße“. 4. Der Volksanwalt (Art. 86) findet sich wie in vielen lateinamerikanischen Verfassungen, in einigen europäischen zum Beispiel in Österreich, auch in Argentinien; hier ist seine Stellung sehr stark. Er dient vor allem dem Grundrechtsschutz. 5. Ein eigenes Wort zum Supreme Court (Art. 108–115, 116–117). Er regelt selbst seine Geschäftsordnung (Art. 113) und gewinnt heute viel Autorität und Kompetenz durch bahnbrechende Judikate24. Die Richter werden vom Staatspräsidenten unter Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Senats ernannt (Art. 99 Ziff. 4).
Inkurs: Die Verfassung von Buenos Aires (1996) Wenigstens in Stichworten sei die in vergleichender Perspektive erschlossene höchst bemerkenswerte Verfassung von Buenos Aires (1996) gewürdigt25. Dies um so lieber als bedeutende Kollegen der hiesigen Universität daran mitgewirkt haben, insbesondere E. R. Zaffaroni, M. A. Ekmekdjian sowie R. G. Ferreyra. 1. Schon die Präambel ist in Text, Rhythmus und Inhalten ein kleines Meisterwerk, sie „intoniert“ Kultur und kann im Vergleich mit den neuesten Regionalstatuten in Italien (Toskana, Ligurien) und Spanien (Katalonien, Andalusien) sowie mit den total revidierten Kantonsverfassungen in der Schweiz und den Landesverfassungen Österreichs und Deutschlands konkurrieren. Sie normiert die Grundprinzipien der nachstehenden Texte in folgenden Stichworten: brüderliche föderale Union, menschliche Entwicklung zu einer auf der Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und den Menschenrechten gegründeten Demokratie, Anerkennung von Identität und Pluralität, Garantie der Menschenwürde, Bekenntnis zur Gastfreundschaft und vor allem eine „Invocatio Dei“. 2. Aus dem reichen Grundrechtsteil seien genannt: die Garantie von Menschenwürde und Gleichheit (Art. 11 Abs. 1) sowie das Verbot jeder Diskriminierung, auch die effektive Partizipation im politischen Leben (Art. 11 Abs. 3). Folgende weitere 23
Vgl. den Bildband von I. Brega, Argentinien, 1999/2007 sowie Teatro Colón, Aldo Sessa Editores,
2001. 24 Vgl. V. Bazán, La reconfiguración del rol institucional de la Corte Suprema de Justicia argentina y el camino hacia su consolidación como un tribunal constitucional, 2008, S. 25 ff. 25 Zit. nach R. G. Ferreyra de la Ciudad Autónoma de Buenos Aires, 1997.
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Grundrechte seien erwähnt: die Kommunikationsfreiheit, das Recht auf Privatheit, der Zugang aller zur Justiz ohne ökonomische Beschränkungen (Art. 12). Das Amparo-Verfahren ist in Art. 14 eindrucksvoll geregelt und wirkt als Baustein zum „gemeinlateinamerikanischen Verfassungsrecht“. Eigene reich ausgestaltete Abschnitte gelten u. a. der Erziehung, der Umwelt und dem Wohnungswesen sowie der Kultur (Art. 23 bis 32). Der Kulturartikel 32 schützt alle schöpferischen Aktivitäten, garantiert die „kulturelle Demokratie“, verlangt Erleichterungen beim Zugang zu den Kulturgütern und bekennt sich zur pluralistischen und multiethnischen Identität. Das kulturelle Erbe wird, wie in vielen lateinamerikanischen Verfassungen, geschützt (Abs. 3). 3. Aus den weiteren Kapiteln sei Art. 47 erwähnt. Denn er verlangt für Radio und Fernsehen eine Berücksichtigung der politischen Pluralität. Man fühlt sich an das deutsche Pluralitätsgebot erinnert („Binnenpluralismus“ und „Außenpluralismus“). Dieses ist bekanntlich erst durch das BVerfG in großen Leitentscheidungen entwickelt worden und jetzt in ostdeutschen Landesverfassungen zum Text geronnen – ein Beleg für das Textstufenparadigma, d. h. Rechtsprechung und Wissenschaft von heute werden von Verfassunggebern später auf die Textstufe gehoben. 4. Aus dem Zweiten Buch sei Art. 61 mit seiner Regelung der politischen Rechte und der Partizipation der Bürger erwähnt. 5. Die rechtsprechende Gewalt nach Art. 106 wird auf den Vorrang der Verfassung verpfl ichtet. Die Artikel zu den Kompetenzen des Supreme Court zeichnen sich durch eine kluge Regelung in Art. 113 Ziff. 2 aus (Rückverweisung von verfassungswidrig erklärten Gesetzen an die Legislative, die mit qualifizierter Mehrheit den Urteilsspruch revidieren kann). Sie sollte Schule machen. 6. Von den Kontrollorganen in Buenos Aires sei eigens erwähnt, der in Art. 137 vorgesehene Volksanwalt. Im Ganzen: Nach Form und Inhalt verdient das „Statut“ von Buenos Aires das hohe Prädikat „Verfassung“. Es sollte auch in Europa wissenschaftlich studiert werden. Es ist zu hoffen, dass es voll in die Wirklichkeit umgesetzt worden ist (Postulat der verfassungstextkonformen Verfassungswirklichkeit).
III. Versuch einer Gesamtbewertung Argentiniens als Verfassungsstaat Vergegenwärtigt man sich die Verfassungstexte, die seit 1853 formell nur fünfmal geändert worden sind, aber in Gestalt der bis heute ursprünglich gebliebenen vortreffl ichen Präambel und der Bundesstaatsstruktur, des neuen Kataloges sozialer Rechte, des Amparo-Verfahrens, des habeas data, des Ombudsmanns und des Schutzes der Urbevölkerung viele neue Wachstumsringe, d. h. gute Texte des Typus Verfassungsstaat, weltweit betrachtet aufweist und nimmt man einige Daten der Landes- und Verfassungsgeschichte, auch in ihren Gefährdungen (Diskriminierung der Urbevölkerung, zweimalige grauenvolle Militärdiktaturen) hinzu, so darf folgende Gesamtbilanz gezogen werden: Argentinien hat, was die Verfassungstexte angeht, viele positive Entwicklungsmöglichkeiten im Sinne des Möglichkeitsdenkens (- auch wenn die letzten Gestaltungskräfte im Fortschreiten einer Verfassungsentwicklung wohl nur dem „Weltgeist“ durchschaubar bleiben). Doch stellt sich die
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Frage, ob Argentinien auch schon die unverzichtbaren Elemente einer gedeihenden Verfassungskultur bzw. die erforderlichen Kontexte zu den guten Verfassungstexten hat, ob es also eine verfassungstextkonforme Verfassungswirklichkeit gibt. Diese Frage ist teils positiv, teils negativ zu beantworten. Der Verfassungsstaat Argentinien verfügt, obwohl nicht ausdrücklich in der Verfassung geregelt, über wichtige nationale bürgerintegrierende Identifi kationselemente: eine eindrucksvolle Nationalhymne und eine schöne unverwechselbare Nationalflagge26 sowie manche Feiertage: etwa der 2. April (Tag der Falklandinseln), der 25. Mai (erste Nationalregierung, 1810), 20. Juni (Tag der Flagge, Todestag von General Belgrano), 9. Juli (Unabhängigkeitstag), 17. August (Todestag von General J. de San Martin), 12. Oktober (Entdeckung Amerikas). Einmal mehr beweist sich die These von der „Trilogie“ von Nationalflaggen, Nationalhymnen und nationalen Feiertagen. Indes gehören zur „Verfassung als Kultur“, „Verfassungskultur“, zum „Kon-Text“ einer gelingenden Verfassung folgende zusätzliche Momente: das Verfassungsbewußtsein der Bürger und aller staatlichen Organe bis hin zu den Kommunen („Verfassungpatriotismus“ im Sinne von D. Sternberger und J. Habermas), die Sensibilität der Öffentlichkeit für Menschenrechtsverletzungen – die beharrliche Versammlung der „Mütter“ in Buenos Aires kann gar nicht überschätzt werden; die staatliche Aufgabe einer Erziehung zu den Menschenrechten, sie muss in den allgemeinen Schulen beginnen und bis in die Militärkasernen reichen – wie jüngst geschehen (Verfassungsprinzipien, insbesondere Menschenrechte als Erziehungsziele, „Verfassungspädagogik“27). Die normative Kraft der Verfassung (K. Hesse) muss von allen Bürgern und Politikern, von allen Staatsorganen und Beamten als solche empfunden und gelebt werden. All diese „Wachstumsringe“ einer Verfassungskultur lassen sich nicht von heute auf morgen schaffen. Es bedarf eines langen Atems und vieler Geduld, es bedarf der evolutionären „Stückwerktechnik“ (K.Popper). Der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Argentinien, aber auch der zunftmäßigen Wissenschaftlergemeinschaften an den Universitäten kommt hier große Verantwortung zu (vorbildlich ist der „Circulo doxa“ unter seinem Gründer R. G. Ferreyra). Die Wissenschaft hat insbesondere zu erarbeiten, dass ein innerer Ableitungszusammenhang zwischen Menschenwürde und Demokratie besteht. Diese ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, welche die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates bildet (Stichwort kulturwissenschaftlicher Ansatz). Bildung und Ausbildung dürften die Zukunftsaufgaben im Verfassungsstaat Argentinien sein. Eine Sonderstellung nimmt gerade heute das Supreme Court Argentiniens ein. Er erwirbt sich in den allerletzten Jahren viel Autorität und Kompetenz. Er arbeitet höchst erfi ndungsreich, etwa in Sachen Schaffung bzw. Aufwertung des Verfassungsprozessrechts, öffentliche Hearings als Konsequenz der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bzw. die Aktivierung des Institutes „amicus curiae“28. Ein Ver26 Dazu allgemein P. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007; ders., Nationalfl aggen: Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 27 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 28 Aus der Lit.: V. Bazán, Amicus curiae, transparencia del debate judicial y debido proceso, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, 2004, I, S. 251 ff.
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fassungsgericht kann und muss im Wachstumsprozess von jungen Verfassungsstaaten viel leisten, der Supreme Court in Brasilien ist heute ein glänzendes Beispiel, ja ein Vorbild. Im Osteuropa nach 1989 waren die neuen Verfassungsgerichte etwa in Polen und Ungarn den Verfassungstexten und der allgemeinen Öffentlichkeit pionierhaft und fast erzieherisch voraus. „Judicial activism“ war mindestens im Übergang notwendig. Mir scheint, dass dies auch in Buenos Aires heute der Fall ist, nicht zuletzt dank des Richters Zaffaroni. Der Supreme Court kann zum „Bürgergericht“ werden – langfristig wie das deutsche BVerfG. Er besitzt hohe Verantwortung, seine Möglichkeiten bei der Entwicklung des argentinischen Verfassungsstaates bei allem Respekt vor dem Kongress auszuschöpfen. Er sollte dabei auch die Methode der Rechtsvergleichung (als „fünfte Auslegungsmethode“) ausschöpfen: im Kontext der Familie der lateinamerikanischen Verfassungsgerichte und im Blick auf ein denkbares lateingemeinamerikanisches Verfassungsrecht. Richterliche Sondervoten wie am deutschen BVerfG, in Spanien und im EGMR in Straßburg können bei all dem förderlich sein. In einem Bundesstaat29 wie Argentinien käme auch den Verfassungen der leider sogenannten „Provinzen“ eine schöpferische Aufgabe zu. Man denke nur daran, wie in der „Werkstatt Schweiz“ in Sachen Fortentwicklung der Verfassung die Kantone durch ihre innovationsreichen Totalrevisionen seit etwa 40 Jahren neue Entwicklungen vorangetrieben haben, die der Bund dann in seiner neuen „nachgeführten“ Verfassung von 1999 übernehmen konnte (Stichwort: experimentelle Verfassunggebung im Bundesstaat). Aber auch auf der Bundesebene sollte im Sinne des „wissenschaftlichen Optimismus“ das Selbstbewusstsein des Kongresses gegenüber dem Präsidentialismus gestärkt werden.
Ausblick und Dank Meine lectio doctoralis konnte nur eine Skizze sein, zu wenig weiß ich von Ihrem großen Land. Ich bewundere aber Ihre lebendige Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat, die vielen Verbindungen nach Europa, insbesondere nach Spanien, und ich kann nur hoffen, dass Ihre Staatsrechtslehre das Ihre leisten kann, um Ihre Verfassung im Kreis der weltweiten Familie der pluralistischen Demokratien auch in Krisenzeiten zu bewahren. Je älter man als Wissenschaftler wird, desto eher erkennt man, dass der Anteil der Wissenschaft bei der Kontrolle gegenüber den Mächten der Politik nur bescheiden ist. Er ist die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ aller Bürger eines Landes, das diese in „guter Verfassung“ hält und Wirklichkeit werden lässt. Ich selbst kann für den heutigen großen Tag inmitten Ihrer ehrwürdigen Universität nur herzlich danken: für eine große Auszeichnung, die ich mir immer neu verdienen muss, zum Beispiel in Gestalt meines Glaubens an Lateinamerika, an sein reiches Reservoir von Humanismus, Mitmenschlichkeit und kultureller Identität sowie an seine Aussicht, durch seine Verfassungstexte und Verfas-
29 Aus der Lit.: A. M. Hernández, La descentralización del poder en el Estado argentino, in: J. M. Serna de la Garza (coord.), Federalsmo y regionalismo, 2002, S. 211 ff.
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sungswirklichkeit Großes zum Verfassungsstaat als universalem Projekt beizutragen. Kants „weltbürgerliche Absicht“ könnte hic et nunc in und durch uns alle wirken.
Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ – ein wissenschaftliches Projekt für Brasilien (2008) von
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Das Vorbild Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Das Beispiel Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungswirklichkeit am 25. April 2006 in Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eine kulturgeschichtliche Deutung der Verfassung von 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Teil: Verfassung „als Kultur“ (theoretisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Verfassung“ (positivrechtliche Bestandsaufnahme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verständnis von Verfassungen aus deutscher Sicht (Theorieelemente) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Kultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stichworte zur Sache „Kultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassung als Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangsthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Erkenntnisgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorbehalte und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vierter Teil: Ein Projekt für Brasilien (1500–2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines zur Verfassungsgeschichte in Dokumenten und Verfassungstexten: ein Bildband aus Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ergänzend: landeskundliche Vorgeschichte und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Verfassung von 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Diesen Beitrag hier in Brasilien zu Ihrem Verfassungsjubiläum leisten zu dürfen, ist eine große Freude und Ehre. Mit Ihrem Land verbinden mich seit Jahren wechselseitige Übersetzungen und persönliche, freundschaftliche Kontakte. Dafür danke ich vorweg. Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ zu dokumentieren, ist ein vielleicht großes Programm. Es ergibt sich aus dem Konzept der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982). Im Folgenden sei es aus einer neuen Perspektive erschlossen. Begonnen sei im Kleinen mit dem Verfassungstag: „Verfassungstage“ sind Tage, an denen jährlich wiederkehrend festlich der geltenden Verfassung, ihrer Vorgeschichte, ihrer Inkraftsetzung und ihrer erhofften künftigen Entwicklung staatlich-politisch, gesellschaftlich-sozial und mitunter auch privat (Schweiz) in vielerlei Weise gedacht wird. Als Elemente einer höchst fragmentarischen Bestandsaufnahme seien vorweg einige weltweite Beispiele dargestellt. Es gibt Verfassungstage, die als Feiertage figurieren, z. B. der Tag der nationalen Unabhängigkeit oder Revolution wie der 4. Juli in den USA oder der 14. Juli in Frankreich sowie der 25. April in Italien (Tag der Befreiung vom Faschismus), der 25. Mai in Argentinien (Tag der Unabhängigkeit). Sie sind genau gesehen Tage vor der Verfassung, präkonstitutionell, und gehören gleichwohl geschrieben oder ungeschrieben zum Fundament des Selbstverständnisses eines politischen Gemeinwesens. Sie bilden eine Art Verfassung vor der Verfassung. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass Verfassungstage nur der Sache nach bzw. gesetzlich, nicht aber verfassungstextlich der Erinnerung an das Inkrafttreten einer Verfassung dienen und mehr oder weniger offiziell (z. B. durch Beflaggung öffentlicher Gebäude) begangen werden. Dies gilt etwa in Deutschland für den 23. Mai in Sachen Grundgesetz von 1949. Auf der EU-Ebene hat sich kürzlich Bemerkenswertes, im Grunde Törichtes ereignet. Hatte der Verfassungsvertrag von 2004 in seinem Symbol-Artikel 4 noch einen „Europatag“ vorgesehen (9. Mai), so wurde dieser im sogenannten Reformvertrag von Lissabon 2007 bewusst gestrichen. Gleichwohl ist zu vermuten, dass der Europatag ebenso wie die Europahymne und die Europaflagge materiell als Verfassungswirklichkeit weiterleben werden. Nach dem Nein Irlands am 13. Juni 2008 werden diese Symbole zum Überleben und Erleben Europas noch wichtiger. Am 14. Juli 2008 wehte in Paris an vielen Orten auch die Europaflagge. Eine Textstufenanalyse kann belegen, dass weltweit eine Reihe von Verfassungen verfassungsbezogene oder an die Unabhängigkeit erinnernde Feiertage „anordnen“, z. B. Art. 14 Abs. 5 Verf. Albanien (1998), auch als Tag der „Flagge“ bezeichnet, Art. 4 Abs. 5 Verf. Äquatorial-Guinea (1991), Art. 2 Abs. 10 Verf. Gabun (1994). Erinnert sei aber auch an den festlich begangenen Reichsgründungsfeiertag (18. Januar 1871) in Deutschland, an dem etwa kein Geringerer als R. Smend in den letzten Tagen der Weimarer Republik einen großen Festvortrag hielt, dessen Stichworte noch bis heute ausstrahlen: „Bürger und Bourgeois“ . . . .1
1 Bürger und Bourgeois im Deutschen Staatsrecht (1933), jetzt in: R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309 ff.
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Erster Teil: Das Vorbild Italien Eine – vorbildliche – Feier eines Verfassungstages war in Rom zu erleben. Er bezog sich auf 50 Jahre der italienischen Corte („Verfassungsgerichtsjahr“). In einem auch als Ausstellung präsentierten Prachtband 2 wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Corte die Verfassung von 1947 von Seiten und mit den Mitteln der Kultur, Kunst und Wissenschaft gefeiert. Die einzelnen Artikel der Verfassung von 1947 und die zugehörigen großen Judikate der Corte wurden zugleich im Kontext von Erläuterungen berühmter Verfassungsrichter illustriert. Große Dokumente, Gemälde und Zeichnungen aus der Kulturgeschichte Italiens bis hin zu Beispielen moderner Malerei, etwa im Blick auf das Arbeitermilieu und historische Schlachtengemälde sowie Allegorien über die Gerechtigkeit, wurden dokumentiert. Hier einige Beispiele aus diesem kulturwissenschaftlich-verfassungsjuristisch einzigartigen bibliophilen Werk, das eine Ausstellung dokumentiert hat: – zu Art. 4 (insbes. Recht auf Arbeit): Gemälde einer alten Seidenspinnerei, streikender Arbeiter, auf Reisfeldern tätiger Frauen, eines pflügenden Bauern, einer Baustelle: die Arbeit wird hier zwar traditionell, aber in ihrer ganzen Vielfalt dokumentiert, konsequent angesichts des Art. 1 Satz 1: „auf die Arbeit gegründete Republik“ – zu Art. 9, 33 und 34 (insbes. Umwelt, Kultur, Landschaft, Schule): Michelangelos Entwurf des Grabmals für Leo X. und Clemens VII., ein Frauenportrait aus der Renaissance, das Autograph N. Machiavellis zur Einleitung seiner „Discorsi“ (vor 1531), ein Portrait eines Humanisten, mehrerer Astronomen (beide 16. Jh.), das Autograph eines Manuskripts von G. Galilei (1616), eine Ansicht von Venedig (F. Guardi, 18. Jh.), Gemälde des Colloseums (18. Jh.), Olivengärten eines quasi-impressionistischen Malers, „Mein Syrakus“, ein Gemälde im eher modernen Stil, „Die Erzieherin“ (fast kubistisch) – zu Art. 29, 30 und 31 (insbes. Familie unter dem Gesamttitel ethisch-soziale Beziehungen): „Madonna mit Kind“ (ca. 1580), Familienbild im Stil der Renaissance, bürgerliches Familienbild, Familienbilder aus dem 20. Jahrhundert, mithin wird auch der Wandel des Familienbildes über die Zeit offenbar – zu Art. 2 und 3 (insbes. Gleichheit, Vereinigungsfreiheit unter dem Gesamttitel Grundprinzipien, auch Religionsfreiheit): Renaissancegemälde einer Messe, antikisierende Darstellung der Predigt eines Apostels (18. Jh.), das Innere einer Synagoge (18. Jh.), Versammlung von Quäkern (18. Jh.), mithin also auch Darstellungen anderer Religionen als der eigenen, Gemälde verschiedener Versammlungen aus unterschiedlichen Zeitperioden (etwa Komödianten auf Märkten), Menschen in einer Straßenbahn (1923) – zu Art. 5 (insbes. lokale Autonomie): Phantasie-Städtebild, das die architektonischen Wahrzeichen vieler italienischer Kommunen vereinigt, etwa Roms, Mailands, Turins, Pisas, welches freilich nur exemplarisch bleiben kann – zu Art. 11 (insbes. Verbot des Angriffskrieges): mehrere Schlachtenbilder in altem und neuen Stil, eine Allegorie des Friedens mit Lamm (18. Jh.) 2 1956–2006 – 50 anni di Corte Costituzionale: le immagini, le idee, Rom 2006, a cura di P. Boragina und G. Marcenaro.
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– zu Art. 24 und 25 (insbes. Gerechtigkeit und Justizgrundrechte): mehrere allegoriehafte Gemälde zur Gerechtigkeit aus dem 17. und 20. Jahrhundert, eine Erstausgabe des Werks C. Beccarias (1764) – zu Art. 10 (insbes. internationales Recht): Gemälde des Empfangs eines Botschafters (18. Jh.); hier fällt ein Defizit ins Auge: der in Italien so früh aufgenommene Gedanke der europäischen Einigung (Ventotene!) ist durch keine einzige Abbildung präsent – zu Art. 32 (insbes. Gesundheit und Heilfürsorge): Gemälde der Armenfürsorge in Florenz (1514), Armenspeisung (17. Jh.) – zu Art. 41 und 47 (insbes. privatwirtschaftliche Initiative und Spartätigkeit): familiäre Stickerei im Adelsmilieu (18. Jh.), Portraits bekannter Kaufleute, alter handschriftlicher „Kontoauszug“ Michelangelos (1514). Dem Verf. ist weltweit keine vergleichbare kulturwissenschaftlich-juristische Umsetzung einer gelebten Verfassung im Spiegel ihrer Teilgebiete von Religion, Wissenschaft und Kunst, politischem und sozialen Leben bekannt. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade Italien als das Kulturland Europas, ja der Welt, sich in Gestalt dieser Publikation feiert. Andere Länder bzw. verfassungsrechtliche Wissenschaftlergemeinden könnten sich in Kooperation mit (anderen) Kulturwissenschaftlern ein Beispiel an diesem Projekt nehmen. Dazu ein Beispiel.
Zweiter Teil: Das Beispiel Portugal I. Verfassungswirklichkeit am 25. April 2006 in Lissabon Aus der Verfassungswirklichkeit sei ein Beispiel aus Lissabon herausgegriffen. Der Verf. hat im Jahre 2006 (25. April) fast zufällig die politisch-soziale Wirklichkeit des in Lissabon gefeierten Verfassungstages Portugals erlebt. Gewiss, er war damals als Redner zu einer Festveranstaltung des portugiesischen Verfassungsgerichts und der juristischen Fakultät der alten Universität eingeladen, doch zuvor mischte er sich unter das Publikum, genauer die nationale Öffentlichkeit, die in ihrer Weise auf der Prachtstraße der Stadt, der Av. de Liberdade, die Verfassung von 1976 feierte. Man erlebte fast ein Volksfest, eine Art „Verfassung als öffentlicher Prozess“ mit vielen Bürgern und Gruppen als aktiven Interpreten. Im Einzelnen: Parteipolitische Gruppierungen, gesellschaftliche Verbände, Dorfabordnungen und Stadtteilvertretungen, aber auch Berufsgruppen aller Art zogen in einer Art Parade den großen Boulevard zum Meer hinunter. Alle Beteiligten und fast alle Zuschauer trugen symbolisch die seit 1974 berühmte rote Nelke („Nelkenrevolution“). Auf Transparenten, teils von den Menschen getragen, teils auf Fahrzeugen gezeigt, wurde ausdrücklich auf bestimmte Verfassungs-Artikel verwiesen, etwa in Sachen Arbeit, Familie oder Umwelt, auch Frieden. Teils wurden verfassungspolitische oder allgemein politische Forderungen vorgebracht und auf schmuck dekorierten Wagen illustriert. Spürbar war eine republikanische Stimmung, eine Artikulierung des Selbstverständnisses als verfasste Nation, bei allen Defiziten, die etwa in Sachen Arbeitslosigkeit angeprangert wurden. Als „teilnehmender Beobachter“ erlebte man ein in die Tat umgesetztes „constitutional law in public action“. Dem Verf. bleibt all dies unvergesslich; es
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war ihm auch im eher akademischen Milieu der eindrucksvollen wissenschaftlichen Tagung in der Gulbenkian-Stiftung stets gegenwärtig.3
II. Eine kulturgeschichtliche Deutung der Verfassung von 1976 Aus der Tiefe der Kulturgeschichte Portugals und ihrem „Humus“ seien in Anlehnung an den dokumentierten Band aus Rom jetzt weitergreifend folgende Bezüge zu Verfassungsbestimmungen von 1976 im Blick auf Vorkommnisse, Ereignisse, große Werke der Kunst und Kultur hergestellt: – das „Goldene Zeitalter“ (16. Jahrhundert), mit seinen großen Werken (dazu bei Art. 42) – die nationale Katastrophe des Erdbebens von 17554 – die Loslösung Brasiliens 1822 – zur inhaltsreichen Präambel: Erzählung der jüngsten Geschichte in Sachen portugiesischer Verfassungsstaat: 25. April 1974: Befreiung von der Diktatur und vom Kolonialismus, Wahrnehmung der Grundrechte, Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und „brüderlichem Lande“; Bilder von den Straßenfesten während der „Nelkenrevolution“, Dokumente der Verkündung der Verfassung durch die Verfassunggebende Versammlung (2. April 1976) – zu Art. 7 (Internationale Beziehungen): völkerrechtliche Dokumente, insbesondere zu den „freundschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des portugiesischen Sprachraums“ (Portugiesisch gilt als Muttersprache für 120 Millionen); ein Bild vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag; zum Friedensgebot als Gegendokument z. B. die Schlacht bei Aljubarrota5 – zu Art. 11 (nationale Symbole), insbesondere die Flagge: Die Flagge Portugals liest sich wie ein Geschichtsbuch; sie setzt die Staats- und Verfassungsgeschichte buchstäblich ins Bildliche um: die fünf blauen Schilde in Form eines Kreuzes repräsentieren die fünf maurischen Könige, die 1139 in einer Schlacht besiegt wurden; grün als Zeichen der Hoffnung war die Farbe Heinrich des Seefahrers6 (1394 bis 1460); das Wappen mit der Armillasphäre, einem alten Navigationsinstrument, spiegelt die große Rolle wider, die Portugal bei der Entdeckung der Welt außerhalb Europas spielte (überall trifft man auf Spuren der Weltentdecker: in Sagres, Porto, Batalha oder sogar in Lagos: Vasco da Gama entdeckte 1497 den Seeweg nach Indien); sodann das goldene Rad mit dem goldenen Bogen in der Flagge wurde im 13. Jahrhundert von König Alfons III. auf dem Schild hinzugefügt; die fünf weißen Punkte auf jedem Schild stehen für die Wunden Christi; das rote Feld wurde als Symbol der Revolution übernommen7; die Rezeption des Symbols aus der Revolution vom 5. Oktober 1910 wäre durch ein Dokument dieser Tage zu 3 Der Vortrag ist veröffentlicht in EuGRZ 2006, S. 533 ff.: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus. 4 Abbildung von Lissabon in: Portugal, DuMont, 1987, S. 84. 5 Abgebildet in Portugal, DuMont, 1987, S. 40. 6 Sein Denkmal: abgebildet in: Portugal, Walter-Reiseführer 1986, S. 39; ebenfalls abgebildet in: G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, 1. Umschlagseite. 7 Abbildung zit. nach B. J. Barker, Weltatlas der Flaggen, 2005, S. 51. Allgemein zur Symbolfunktion
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illustrieren. Verfassungstheoretisch zeigt sich, dass die Präambel eine kurze Phase der Entstehung des Verfassungsstaates Portugal beschreibt, während die Nationalflagge die jahrhundertelange Entwicklung des Landes graphisch und farblich nachzeichnet zu Art. 12 f. (Grundrechte und Grundpflichten): große Judikate des Verfassungsgerichts in Lissabon und ihre Kommentierung durch die Wissenschaft zu Art. 15 (Ausländer, europäische Bürger): Heraushebung der Staatsbürger aus Ländern des portugiesischen Staatsraums; Dokumente der Länder wie Mosambik, Kap Verde, Angola, Guinea-Bissau zu Art. 41 (Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung): Dokumente aus der Geschichte der Kirche einschließlich der Inquisition8 ; das Wunder von Fátima, „Land der Burgen und Abteien“9 zu Art. 42 (Freiheit der kulturellen Entfaltung): Abbildungen aus der portugiesischen Kunst und Kultur, z. B. Manuelische Säulen im Kloster von Belém10, portugiesische Kachelkunst, Hieronymus-Kloster in Lissabon; aus der Lit.: L. de Camoes (1524–1580, Epos „Die Lusiaden“); F. Pessoa (1888–1935); der Nobelpreisträger J. Saramago „Hoffnung in Altentejo“; aus der Musik: der Fado („Saudade“). – Zur wissenschaftlichen Entfaltung: die Universitätsstadt Coimbra (Alte Universität, insbesondere die Universitätsbibliothek, von 1716–1732 errichtet11); die Gulbenkian-Stiftung in Lissabon; Tanzdarbietungen in Tracht12 ; erste Staatsrechtslehrer zur Verfassung von 1976 mit großen Lehrbüchern sind G. Canothilo und J. Miranda; als große Richter bzw. Präsidenten sind zu nennen: M. Cardoso da Costa zu Art. 66 (Umwelt- und Lebensqualität): Kulturlandschaften wie die Algarve, Albufeira und der Nationalpark von Buçaco, Costa do Sole, der Weinanbau im Douro-Tal, s. aber auch die „Afrikanischen Akzente“13 zu Art. 78 (kulturelles Schaffen): Abbildungen von Objekten des nationalen Kulturgüterschutzes, z. B. der kunstvollen Fliesen („Azulejos“), des Emanuelstils (1490– 1540); Unesco-Weltkulturerbe14 : Porto, Tomár, Évora, Sintra zu Art. 79 (Körperkultur und Sport): als Kultur im weiteren Sinne zu verstehen, wohl auch der portugiesische Stierkampf zu Art. 150 (Versammlung der Republik): Parlamentsgebäude Sao Bento15 zu Art. 278–283 (Verfassungsgericht): Abbildung des Palastes, einer Plenarsitzung und Darstellung großer Judikate, insbesondere zu den Grundrechten
von Nationalfl aggen: P. Häberle, Nationalfl aggen: kulturelle Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 8 Abbildung der Verbrennung von Inquisitionsopfern, in: Portugal, DuMont, 1987, S. 46. 9 Abbildungen in: G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 84 ff. 10 Abgebildet in: Portugal, DuMont, 1987, S. 63. Die weiteren Beispiele auf S. 67 ff. 11 Abbildung in G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 75. 12 Abbildung in G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 48. 13 Dokumentiert in: G. Faber/O. Kasper, Portugal, 1983, S. 142 ff. 14 Abbildungen in UNESCO-Weltkulturerbe, 2003, S. 214–223. 15 Abgebildet in: Portugal, DuMont, aaO., S. 96.
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Dritter Teil: Verfassung „als Kultur“ (theoretisch) I. „Verfassung“ (positivrechtliche Bestandsaufnahme) Nähern wir uns der „Sache Verfassung“ zunächst im Sinne einer Bestandsaufnahme an, um dann nach dem Sinn, den „Funktionen“ fragen zu können und Theorieelemente zu erarbeiten. Geschriebene Verfassungsurkunden (sie dienen auch der Rechtssicherheit) haben im Laufe der Zeit in formaler Hinsicht gewisse typische Strukturelemente entwickelt: Sie beginnen oft mit (z. T. durch Gottesklauseln eröffneten) Präambeln, die im feierlichen Sprachstil, kulturwissenschaftlichen Ouvertüren und Präludien ähnlich, in das Werk „einstimmen“ und wesentliche Prinzipien vorformulieren16, um Identität zu begründen (z. B. Symbol-Artikel). Es folgen meist zwei Teile – Grundrechtsgarantien und der organisatorische Teil –; schließlich runden Schluss- und Übergangsvorschriften, oft ein buntes, aber nicht unwichtiges Sammelsurium, das Ganze ab. Herkömmlich ist Verfassung auf den Staat bezogen, wir sprechen auch von „Verfassungsstaat“, der durch die Verfassung konstituiert wird. Erst neuerdings „expandiert“ der Verfassungsbegriff, z. B. auf Europa oder gar das Völkerrecht hin. Um beim eher Formalen zu bleiben: Im organisatorischen Teil, in dem Organe wie Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichte konstituiert werden (Organisationsfunktion der Verfassung), finden sich auch Verfahren zur Änderung der Verfassung (in reichen Varianten) und selten (wie in der Schweiz vorbildlich: „Totalrevision“) Verfahren zu neuer Verfassunggebung (mit oder ohne Beteiligung des Volkes) – im Ganzen der Versuch von Verfassungen, die „Zeit“ differenziert zu verarbeiten. Kommen wir zu den Inhalten: Der „Typus Verfassungsstaat“, eine kulturelle Errungenschaft vieler Jahrhunderte und Ensemble von Klassikertexten17 von Aristoteles über Montesquieu und Rousseau, die Federalist Papers (1787) und H. Jonas „Prinzip Verantwortung“ im Umweltrecht, begegnet in vielen (nationalen) Varianten, doch lässt er sich auch „idealtypisch“ darstellen: in seinen Fundamenten und Elementen wie die in den Themen und den Dimensionen immer weiter ausdifferenzierten Menschenrechten, der (pluralistischen) Parteiendemokratie, der Gewaltenteilung, Identität (so Artikel zu den Staatssymbolen), den Staatszielen wie Rechtsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat und neuerdings Umweltstaat, häufig auch als vertikale Gewaltengliederung (dem Föderalismus und Regionalismus). Typisch sind für den modernen Verfassungsstaat Verfassungsorgane wie die Verfassungsgerichtsbarkeit, die 1803 in den USA begonnen hat, für Europa um 1920 in Österreich etabliert wurde und in den Dekaden nach 1945 und nach 1989 fast weltweit einen Siegeszug ohnegleichen angetreten hat. Neue Themen (Minderheitenschutz, Ombudsmann, Subsidiaritätsklauseln, Pluralismus-Artikel) sind nach und nach hinzugekommen: z. B. sog. „EuropaArtikel“ (wie Art. 23 GG und Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal, die ein Stück „nationales Europaverfassungsrecht“ normiert haben) oder Ausprägungen des „kooperativen Verfassungsstaates“ (Art. 24) GG: Völkerrechtsoffenheit („Völkerrechtsfreundlichkeit“, z. B. Einsatz für die Menschenrechte, für internationale Sicherheit, für Kon16 17
P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.
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fl iktlösungen, Gerechtigkeit, vgl. Art. 7 Verf. Portugal von 1976, zuvor Art. 11 Verf. Italien). Zuletzt: Wahrheitskommissionen18 (jüngst etwa in Kanada).
II. Verständnis von Verfassungen aus deutscher Sicht (Theorieelemente) Deutschland zeichnet sich seit langem durch ein besonders intensives Ringen darüber aus, was „Verfassung“ sei, und die folgenden Stichworte können vielleicht eine erste Orientierung vermitteln. Lag für F. v. Lassalle (1862) das Wesen der Verfassung in den „tatsächlichen Machtverhältnissen“, so schreibt G. Jellinek in seiner großen Allgemeinen Staatslehre (1900), die Verfassung sei nur ein „Gesetz mit erhöhter formeller Geltungskraft“. Schon hier sehen wir, wie die einzelnen Versuche, der Sache Verfassung näher zu kommen, oft nur Teilwahrheiten formulieren: Verfassung ist sicher auch ein Gesetz mit erhöhter formeller Geltungskraft, insofern sie nur mit qualifizierter Mehrheit in besonderen Verfahren der Verfassungsänderung abgeändert werden kann (z. B. Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG, Art. 138 Verf. Italien)19, aber diese bloß formale Betrachtung reicht nicht aus: Vom Gegenstand und ihren Funktionen her ist „Verfassung“ weit mehr20. „Auf den Schultern von Riesen“ – dieses Wort gilt m. E. besonders für das Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre im Grundgesetz von 1949 bis heute zu „Weimar“. So wie die berühmten 20er Jahre in Berlin eine bis heute viel bewunderte „Blüte“ in Kunst und Wissenschaft hervorgebracht haben, so haben die Weimarer Staatsrechtslehrer in ihren Kontroversen Fragen gestellt und Antworten gegeben, die bis heute „klassisch“ sind und denen gegenüber wir Nachgeborenen allenfalls „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ sind, was nicht ausschließt, daß wir, weil wir auf den Schultern stehen, gelegentlich sogar weiter sehen als diese Riesen! Unter diesem Vorbehalt jetzt einige Positionen im „Weimarer Richtungsstreit“, der gerade in Italien so genau verfolgt worden ist (z. B. durch F. Lanchester) 21. Einflußreich wurde das Werk „Verfassung und Verfassungsrecht“ von R. Smend (1928); es ist als „Integrationslehre“ auch in Italien bekannt und hier sogar übersetzt. Smend begreift den Staat als Prozeß immer neuer Integration, wobei etwa Fahnen, Flaggen, Hymnen eine Rolle spielen. Diese Sicht ist im Rückblick auch als Versuch zu sehen, der unglücklichen Polarisierung der politischen Kräfte in Weimar entgegenzuwirken. Ganz anders C. Schmitt. Seine Verfassungslehre (1928) bleibt zwar ein großer Wurf, doch hat er in anderen Schriften Stichworte gegeben, die dem Verfassungsstaat gerade nicht dienlich sind. Genannt sei die dezisionistische Lehre, wonach politische Entscheidungen „normativ aus dem Nichts“ kommen – dies läßt sich schon 18
Dazu mein von U. Carvelli übersetzter Band: Os Problemas da Verdade no Estado Constitucional,
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Zum Ganzen: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 267 ff. Zum Verfassungsbegriff P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 342 ff. und passim; von einem präkonstitutionellen Staatsbegriff ausgehend demgegenüber J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HdBStR Bd. 1, 2. Aufl. 1995, S. 591 ff. 21 F. Lanchester, Momenti e Figure nel Diritto Costituzionale in Italia e in Germania, 1997. – Aus der deutschen Literatur: M. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 320 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band 1914–1945, 1999, bes. S. 153 ff. 20
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am rechtsvergleichenden Material widerlegen: man vergegenwärtige sich den Pluralismus der Ideen und Interessen, die etwa zur vorbildlichen Verfassung Portugals von 1976 und Spaniens von 1978 sowie Brasiliens von 1988 geführt haben. Zum anderen muß an das unselige Wort erinnert werden, wonach sich das Politische durch ein „Freund/Feind“-Denken defi niere. In der Verfassung des Pluralismus, in der offenen Gesellschaft, gibt es m. E. grundsätzlich „Konkurrenten“, „Gegner“, aber nicht prinzipielle „Feinde“. Die – im Blick auf Europa heute freilich neu zu fassende – damals national ausgerichtete Integrationslehre (von R. Smend) erinnert an die unverzichtbaren Gemeinschaftsbildungen, an die Friedensfunktion der Verfassung, an den (modern gesprochen) „Grundkonsens“, der alle Bürger einschließt und z. B. erst das Funktionieren des Mehrheitsprinzips mit abgestuftem Minderheitenschutz ermöglicht. H. Heller erinnert (1934) an den Aspekt des „bewußten, planmäßig organisierten Zusammenwirkens“, doch denkt er in seiner, bis heute Epoche machenden, „Staatslehre“ gezielt an den Staat, nicht aber – wie heute geboten – an die Verfassung. Es gibt aber im Verfassungsstaat nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert (R. Smend/A. Arndt). Mit C. Schmitt kann man weder die Schweiz erklären noch Europa bauen. Im Blick auf das deutsche Grundgesetz entwickelte sich ein weiteres „Verfassungsgespräch“ mit z. T. prominenter Besetzung. So hatte vorweg der Schweizer W. Kägi 1945 das Stichwort von der Verfassung „als rechtlicher Grundordnung des Staates“ formuliert. Damit hatte er eine Richtung angedeutet, die später kräftig ausgezogen wurde: Zitiert sei H. Ehmke (Verfassung als „Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses“) 22 und K. Hesse („Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“23 ). M. E. ist ein gemischtes Verfassungsverständnis erforderlich, in das die verschiedenen Funktionen differenziert eingebracht werden. Verfassung ist z. B. bei den Staatszielen und der Gewaltenteilung „Anregung und Schranke“ (R. Smend), sie ist auch „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), z. B. beim Rechtsstaatsprinzip und der Fixierung anderer Grundwerte. Sie hat ganz bestimmte Funktionen: Sie beschränkt und kontrolliert nicht nur Macht (etwa durch die dritte Gewalt), sie fundiert und legitimiert sie auch (durch Wahlen). Sie konstituiert Verfahren zur Konfl iktaustragung (etwa im Parlament), sie organisiert Kompetenzen und Institutionen zur Festlegung und Konkretisierung von bestimmten Aufgaben (entlang den drei Staatsfunktionen). Sie etabliert den (welt)offenen Staat als „kooperativen Verfassungsstaat“24 (Art. 24 GG, Art. 11 Verf. Italien, Art. 49 bis Verf. Luxemburg) sowie die „verfaßte Gesellschaft“ z. B. bei der „Drittwirkung“ der Grundrechte, beim Sozialstaat, und sie schafft Identifi zierungsmöglichkeiten für Bürger und Gruppen bei der Verpfl ichtung auf Gesetz und Recht bzw. bei der Nationalhymne und den Staatsfarben (emotionale bzw. rationale Konsensquellen). Im Kulturverfassungsrecht (z. B. über die Erziehungsziele in den Schulen) gibt sie auch Werte vor, die die offene Gesellschaft kulturell grundieren (etwa Toleranz, Achtung der Würde der Mitmenschen, Wahrheitsliebe, demokratische 22
H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 10. 24 Dazu mein von M. A. Maliska betreuter Band: Estado Constitucional Cooperativo, 2007. 23
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Gesinnung, Umweltbewußtsein). In der Zeitachse gesehen ist Verfassung (auch) öffentlicher Prozeß, so wie wir im Heute eine „republikanische Bereichstrias“ unterscheiden dürfen: den Bereich des Staatlich-Organisatorischen (der Staatsorgane, z. B. Öffentliche Hearings), des Gesellschaftlich-Öffentlichen (etwa der Gewerkschaften, Kirchen, Medien) und den des Höchstpersönlich-Privaten (z. B. Gewissensfreiheit). Öffentlichkeit ist ein „Quellgebiet der Demokratie“ (Martin Walser), auch wenn wir seit Hegel wissen, daß in der öffentlichen Meinung „alles Wahre und Falsche“ zugleich ist. Vor allem aber ist Verfassung Kultur – dazu sogleich.
III. „Kultur“ Nach der Annäherung an die „Verfassung“ steht jetzt die vorläufig noch gesonderte Erarbeitung der ihr zuzuordnenden „Kultur“ an.
1. Stichworte zur Sache „Kultur“ Stichworte zur „Sache Kultur“ müssen mit Cicero beginnen, der wohl der größte Jurist der römischen Antike war25. Im folgenden können nicht alle begriffsgeschichtlichen Wirkungen dieses großen Anfangs verfolgt werden, dies wäre ein eigenes Thema. Doch seien Werke wie die des Schweizer J. Burckhardt „Kultur der Renaissance“ (1919) ebenso in Erinnerung gerufen wie die Kultursoziologie eines A. Gehlen. Es gibt viele Klassikertexte zum Kulturbegriff, wohl in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Und erinnert sei auch an den offenen Streit, ob etwa die Mathematik Natur- oder Kulturwissenschaft sei. In Deutschland verläuft eine Linie des Denkens über Kultur zu Max Weber. Speziell in der deutschen Staatsrechtslehre wird man in der Weimarer Klassik mit ihren „Riesen“, hier R. Smend und H. Heller (1934), fündig. Stichworte von jenem: „Grundrechte als Kultursystem“ (1928). H. Heller verdanken wir die These von der Staatslehre als Kulturwissenschaft26. Erst Ende der 70er Jahre und verstärkt in den 80er Jahren wurde an diese Vorarbeiten angeknüpft27. Heute ist der Kulturbegriff fast abundant: er wird für nahezu alles verwendet („Esskultur“, „Kultur der Wirtschaft“, Boxsport als „Kultur“, sogar – negativ „Kultur des Todes“ i. S. von Papst Johannes Paul II.). Kultur gerät zum Mode- und Allerweltsbegriff und droht wissenschaftlich unergiebig zu werden. Dem kann nur eine gerade dem Juristen mögliche Strukturierung und Präzisierung abhelfen. 25 Aus der Lit.: J. Niedermann, Kultur, Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, 1941. 26 H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 32 ff. Aus der Sekundärliteratur: A. Dehnhardt, Dimensionen staatlichen Handelns, 1996. Aus anderen Disziplinen s. etwa das Projekt „Kulturthema Toleranz“. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung, hrsgg. von A. Wierlacher, 1996. 27 P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979; ders., Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982 (2. Aufl. 1998); U. Steiner/D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff. bzw. 46 ff.; K. Stern, Kulturstaatlichkeit – ein verfassungsrechtliches Ziel, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 111 ff.
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2. Erste Unterscheidungen Eine erste grobe Annäherung kann von den Gegenbegriffen her gelingen. Kultur steht gegen „Natur“. Diese ist „Schöpfung“ bzw. Ergebnis der Evolution. Kultur ist das vom Menschen Geschaffene, sit venia verbo: eine „zweite Schöpfung“. Dabei gibt es freilich Grenzprobleme: So steht der Jurist des Kulturgüterschutzes etwa vor der Frage, ob religiös „besetzt“ gedachte Naturstücke wie Bäume deshalb Kultur sind, weil bestimmte sog. Naturvölker ihre religiösen Vorstellungen damit verbinden („Baumgeister“)? M. E. ist die Frage zu bejahen, so wie wir ja auch von „Naturdenkmälern“ sprechen (vgl. Art. 40 Abs. 4 S. 3 Verf. Brandenburg von 1992). Am grundsätzlichen Unterschied von Natur und Kultur sollte man indes festhalten, auch wenn wir Goethes wunderbares Dictum vor Augen haben: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fl iehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden . . .“. Der Typus Verfassungsstaat bzw. die an und in ihm arbeitende Wissenschaft kann auf dem Hintergrund des sog. „offenen Kulturkonzepts“ einige Handreichungen liefern, teils sogar dank positiver Verfassungstexte in Europa. So bietet sich die Unterscheidung in „Hochkultur“ i. S. des „Wahren, Guten und Schönen“ der antiken Tradition, des italienischen Humanismus und des deutschen Idealismus an, es fi ndet sich z. B. in manchen Erziehungszielen deutscher Länderverfassungen (vgl. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern von 1946). Die „Volkskultur“, in den Entwicklungsländern als „Eingeborenen-Kultur“ bewahrt (vgl. Art. 66 Verf. Guatemala von 1985), ist eine zweite Kategorie. Der Verfassungsstaat achtet sie nicht gering und er tut gut daran: Demokratie lebt auch aus dieser Art von Kultur, man denke an den Föderalismus bzw. Regionalismus, der das Kleine, die Heimat vor Ort schützt. Alternativ- bzw. Subkulturen sind eine dritte Kategorie. Sie können sogar ein Nährboden für Hochkultur sein: Die Beatles sind heute klassisch geworden. „Gegenkulturen“ etwa der frühen Arbeiterbewegung, der heutigen Arbeitslosen wären zu nennen. Die Öffnung des Begriffs „Kunst“ im Rahmen der Freiheit der Kunst (Stichwort offener Kunstbegriff ) 28 zeigt, daß gerade auch Alternativkultur ihre Chance haben muß – bis zur Grenze der Pornographie. In einer „Verfassung des Pluralismus“ ist das offene, pluralistische Kulturkonzept nur konsequent. Der Jurist hat sich oft genug mit Definitionen „blamiert“, nicht nur im Strafrecht, wenn er voreilig, neuen Werken das Prädikat „Kunst“ oder „Kultur“ absprach.
3. Verfassung als Kultur a) Ausgangsthesen Nach dem Bisherigen erweist sich die These von der „Verfassung als Kultur“ konsequent. Nicht nach Verfassung und Kultur wird gefragt, vielmehr nach Verfassung als Kultur. Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen 28 Vgl. aus der Lit. m. w. N. I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. 1 1996 Art. 5 III (Kunst), Rn. 16 ff. (2. Aufl. 2004).
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und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives Regel-Werk, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament neuer Hoffnungen. Lebende Verfassungen sind ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft, sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen „kulturellen“ Informationen, Erfahrungen, Erlebnissen, ja auch Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Sie ist am schönsten erfaßt in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ Die entwicklungsgeschichtlichen Etappen des „Typus Verfassungsstaat“, das immer neue Facetten ins Spiel bringende Leben ihrer als Verfassungstexte im weiteren Sinne verstandenen Klassikertexte von Aristoteles bis H. Jonas, die oft wörtlich zu Verfassungstexten im engeren Sinne „geronnen“ sind (etwa Montesquieus Gewaltenteilung), aber auch ihre „Gegenklassiker“ provozieren, etwa B. Brechts Frage: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“, das Ringen um ein relativ „richtiges“ Verfassungsverständnis, schließlich die Freilegung von allgemeinem und speziellem Kulturverfassungsrecht, all diese Elemente zeigen in Verbindung mit der zugleich komparatistischen und kulturwissenschaftlichen Öffnung der Verfassungslehre: Verfassung ist Kultur, mit vielen Schichten und Differenzierungen. In sie gehen kulturelle Erfahrungen der Völker ein, von ihrem Boden aus werden kulturelle Hoffnungen bis hin zu konkreten Utopien wie im Fall der deutschen Wiedervereinigung genährt. Das einzelne Verfassungsprinzip lebt aus den Tiefenschichten des kulturellen Kontextes, etwa das (unterschiedliche) Verständnis des Regionalismus, der jetzt in Großbritannien seinen Durchbruch erlebt (Schottland, Wales, Nordirland) oder des Föderalismus ( als „Kulturföderalismus“ wie in Deutschland). Auch und gerade das sich konstitutionell in Form bringende Europa grundiert sich letztlich aus den 6 – gewachsenen – Elementen seiner Rechtskultur (Geschichtlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Religionsfreiheit, Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität. Europas Identität erschließt sich aus dem kulturwissenschaftlichen Ansatz; die in den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) sowie Nizza (2000) geschützte nationale Identität der Mitgliedstaaten ist Ausdruck von Europas Pluralität, die ihrerseits letztlich und erstlich eine kulturelle ist. Das gilt auch für die vorläufig gescheiterte EU-Verfassung von 2004.
b) Der Erkenntnisgewinn Der Erkenntnisgewinn des Paradigmas „Verfassung als Kultur“ sei stichwortartig angedeutet: Die Verfassungsrechtslehre wird in den Kreis der anderen Kulturwissenschaften, etwa der Literatur- und Musikwissenschaften (zurück-)geführt. Wie diese arbeitet sie einerseits an und mit Texten (Verfassungslehre als „juristische Text- und Kulturwissenschaft“), es besteht durchaus eine Nähe zwischen geschriebenen Verfas-
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sungen und den drei Weltreligionen als „Buchreligionen“. So kommt sogar die Theologie ins Blickfeld, soweit sie hermeneutisch arbeitet (seit Schleiermacher); doch ist der Text oft nur ein Hinweis auf den kulturellen Kontext. Wie nahe sich Verfassungstext und Literatur bzw. Musik sind, läßt sich am besten an den Präambeln studieren. Sie sollen die Bürger in feiertäglicher Hochsprache auf das nachstehende Werk buchstäblich „einstimmen“: Prologen, Ouvertüren oder Präludien vergleichbar. In der Schweiz bediente man sich 1977 der Hilfe eines Dichters (A. Muschg), der „Runde Tisch“ in Ostberlin 1989 rief die Literatin Christa Wolf herbei. Auf die in vielen Verfassungen defi nierte „Nationalhymne“ sei verwiesen (etwa in Art. 28 Abs. 3 Verf. Polen von 1997). Nationalhymnen gehören zur Kategorie der „emotionalen Konsensquellen“ eines politischen Gemeinwesens. Sind sie kontrovers, so zeigt sich von der negativen Seite her, wie tief bzw. hoch ihr Stellenwert anthropologisch ist. An Verdis „Nabucco“ (Gefangenenchor) als „geheimer Nationalhymne“ Italiens und seine bewährte Kraft gegen den Sezessionismus von U. Bossis „Padanien“ (Vorfall in Mailand) braucht nicht erinnert zu werden (1995). Das Verständnis von Verfassung als Kultur kann auch den Wandel der Bedeutung von Verfassungsnorm ohne Textänderung besser erklären. R. Smends Klassikertext aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts lautet: „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, meinen sie nicht dasselbe“ – das gilt auch heute, trotz der weltweiten Produktions- und Rezeptionsprozesse, in denen sich der Typus Verfassungsstaat „in“ seiner nationalen Beispielsvielfalt entwickelt. Überdies werden Begriffe wie „Grundrechtskultur“, „Verfassungskultur“, in Deutschland 1979 bzw. 1982 vorgeschlagen 29, erst im Gesamtrahmen dieses skizzierten kulturwissenschaftlichen Verfassungsverständnisses möglich. Zwei weitere Erkenntnisgewinne seien zuletzt angemerkt: Der Verfassungsbegriff wird in Deutschland klassisch auf den Staat bezogen, der seit G. Jellinek in Gestalt von dessen Dreielementenlehre („Volk, Gebiet, Gewalt“) 30 die Kultur vergessen hatte. Heute muß, soweit man am Verfassungsstaat arbeitet, die Kultur, wenn nicht als „erstes“, so als viertes Staatselement inkorporiert werden31. Im übrigen aber ist der Verfassungsbegriff von seiner Fixierung auf den Staat zu befreien. Die Völkerrechtswissenschaft bzw. A. Verdross haben das schon 1926 getan („Die Verfassung der Völkergemeinschaft“), und heute kann im Blick auf die Verfassungsperspektiven der EU/EG gerade nicht mehr mit dem Staatsbezug gearbeitet werden32. Der andere Erkenntnisgewinn dürfte in der Tatsache liegen, daß Verfassungslehre als Kulturwissenschaft besser als die Sozialwissenschaften die „vertikale“, „ideelle“, wenn man will „platonische“ Dimension zum Ausdruck bringt. Die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse – sie verschafft dem Bürger den „auf29 P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 f., 90; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaftl, 1. Aufl. 1982, S. 20 ff. 30 Zum Verfassungsbegriff K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 19 ff. 31 Ein früher, nicht weiter verfolgter Vorschlag von G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff.). 32 Dazu meine Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999 passim, bes. S. 15 ff. m. w. N. sowie Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 349 ff.
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rechten Gang“ in zahlreichen kulturellen Sozialisationsprozessen erarbeitet, daher spricht Hegel anschaulich von Erziehung als „zweiter Geburt“ des Menschen, verlangt A. Gehlen ein „Zurück zur Kultur“, ist Kultur die „zweite Schöpfung“ – die Demokratie ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, die wir i. S. I. Kants verstehen. Der normative Anspruchscharakter, den die Verfassungsprinzipien haben, ihre auch bestehende Grenzziehungsfunktion gegenüber (macht-)politischem Geschehen und wirtschaftlicher Übermacht, ihre „dirigierende Kraft“ etwa in Staatszielen greif bar, ihre oft unterbelichtet bleibenden Gerechtigkeitspostulate – all dies kann nur die das Normative ernst nehmende Kulturwissenschaft erfassen. Rechtswissenschaft ist eben gerade nicht „Sozialwissenschaft“, wie die 68er Revolution propagierte. Verfassung ist nicht identisch mit den „tatsächlichen Machtverhältnissen“ (so aber F. von Lassalle, 1862). Die Steuerungkraft und der Steuerungswillen, die „normative Kraft der Verfassung“ (K. Hesse) wirkt über Kultur: Leitbilder, Erziehungsziele, aber auch Rechtsschutz für den Bürger dank der Grundrechte und dank unabhängiger Gerichtsbarkeit.
c) Vorbehalte und Grenzen Damit kommen aber auch einige Vorbehalte und manche Grenzen dieses Ansatzes ins Blickfeld. Zu „erinnern“ ist an die spezifische Normativität der verfassungsstaatlichen Verfassung. Sie unterscheidet sich von der „Geltung“ von Thora, Bibeltexten und Koranversen, zumal es ja die offene Gesellschaft (K. Popper), die „Verfassung des Pluralismus“ ist, die den Verfassungsstaat ausweist. Zu erinnern ist auch an das spezifische „Handwerkszeug“ des Juristen, an seine nicht nur formalen Kunstregeln, mit denen er arbeitet, etwa eine Verfassung oder eine andere Norm auslegt: mit den seit F. C. von Savigny (1840) kanonisierten (schon im klassischen Rom z. B. bei Celsus im Ansatz praktizierten) vier Auslegungsmethoden (Wortlaut, Geschichte, Systematik, Telos), heute ergänzt um die rechtsvergleichende Methode als „fünfte“33, jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein rezipiert. So offen das Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden im Einzelfall ist, so intensiv der Durchgriff auf Gerechtigkeitspostulate den Pluralismus der Auslegungsmethoden ergebnisorientiert steuern muß: diese Kunstregeln sind unverzichtbar. Der Jurist, auch und gerade der „europäische Jurist“, gewinnt dadurch „Selbststand“ gegenüber anderen Wissenschaften, auch im Rahmen der Kulturwissenschaften. Die relative Autonomie des juristischen Umgangs mit Rechtstexten und kulturellen Kontexten bleibt bestehen – bei allen hermeneutischen Analogien oder werkinterprätatorischen Betrachtungen (etwa dem Verständnis eines Bildes von Rembrandt), bei allen rezeptionstheoretischen Gemeinsamkeiten (etwa im Sinne der Konstanzer Schule von H. R. Jaus in Sachen Literatur). Auch der Jurist hat seine Vorverständnisse und Paradigmen (etwa den „Runden Tisch“ als neuen Gesellschaftsvertrag), kennt ihren Wechsel und Wandel (in der 33
P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. Zu methodischen Konsequenzen des Rechtsvergleichs allgemein: E. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 190 ff. (2. Aufl. 2005); für die europäische Dimension vgl. H. Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, NJW 1990, S. 937 ff.
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Zeitprojektion etwa den „Generationenvertrag“), mitunter den „Sturz“ von Paradigmen (z. B. die Abschaffung der Todesstrafe als „wiederherstellende“ Vergeltung im Strafrecht); aber seine Paradigmen wirken im Medium „seiner“ Wissenschaft, auch wenn sie Kulturwissenschaft ist.
Vierter Teil: Ein Projekt für Brasilien (1500–2008) I. Allgemeines zur Verfassungsgeschichte in Dokumenten und Verfassungstexten: ein Bildband aus Brasilien Obschon der Bild- und Textband aus Rom für Italien und darüber hinaus einzigartig ist (2006), gibt es für Brasilien bereits wenig später einen eindrucksvollen Band aus dem Jahre 2007, der es einem Freund Brasiliens etwas leichter macht, das kulturelle Verfassungspotential dieses großen Landes zur Sprache zu bringen bzw. bildkräftig zu machen: ich meine den u. a. vom Supreme Court in Brasilien herausgegebenen Band zur Verfassungsgeschichte Brasiliens, der viel Bildmaterial vergegenwärtigt 34 : As Constituiçoes Brasileiras, Fundaçao Armando Alvares Penteado, 2007. Im Einzelnen: – die Konstituierende Versammlung von 1823 mit Dokumenten (S. 49–53) – die Verfassung von 1824 (S. 33 f.) – Münzen mit der Miniatur der Verfassung von 1824 (S. 56 f.) – Gemälde der Akklamation von Kaiser Pedro I. von 1839 (S. 42) – Zeremonie der Sagraçao von Kaiser Pedro I. von 1839 (S. 43) – die Verfassung von 1891 (S. 75 ff.) – die Proklamation der Republik von 1889 (Sturz des Kaisers Pedro II.), Alegorie (S. 86), Verfassunggebende Versammlung (S. 92, 97) – die Verfassung der Republik Brasilien von 1891 (Autograph S. 107) – die Hymne auf die Verfassung (S. 138) – G. Vargas: Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung von 1933, Photographien der Beteiligten und Texte (S. 142–148) – Verfassung von 1937 (S. 175 ff.) (Photographische Dokumente) – Verfassung von 1946 (S. 221 f.) unter E. C. Dutra – Verfassung von 1967 (S. 249 f.), zuvor Staatsstreich von 1964 (S. 251 ff.) – Plenarsitzung der verfassunggebenden Versammlung von 1988 (S. 305), Zeitungsausschnitte und Photos von Politikern, auch Karikaturen (S. 290 ff.).
II. Ergänzend: landeskundliche Vorgeschichte und Dokumente Über den analysierten Band hinaus bedarf es noch einiger Stichworte und zusätzlicher Bilddokumente: – Entdeckung Brasiliens (1500) 34 Einiges nichtjuristisches Bildmaterial in dem deutschen Werk Meyers Großes Länderlexikon, 2005, S. 90 bis 97.
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Brasilienkarte aus dem „Atlas Miller“, um 151935 Tupi-Indianerin, Darstellung von A. Eckhout, 17. Jh.36 Abschaffung der Sklaverei (1888) Demonstration landloser Bauern in Salvador (Ende des 20. Jh.)37 Karneval (in Rio) 38 Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten L. I. Lula da Silva (2003) Die Liste bleibt offen.
III. Die Verfassung von 1988 Im weltweiten Vergleich betrachtet, gibt es zwei Normbereiche, in denen verfassungsstaatlich die nationale Staats- und Verfassungsgeschichte hoch konzentriert verarbeitet wird: die Präambel und den Artikel zur Nationalflagge. Eindrucksvoll bewahrheitet sich dies, wie gezeigt, etwa in Portugal. Seine Präambel skizziert als „Verfassung in der Verfassung“ den Sieg über Diktatur und Kolonialismus und das Ensemble der neuen Verfassungsprinzipien. Die Nationalflagge aber lässt sich in ihrer praktischen Ausführung (nicht im Verfassungstext selbst: Art. 11) als „Erzählung“ des jahrhundertelangen Werdens dieses in Europa ersten Nationalstaates Portugal „lesen“. Brasilien hat in seiner Verfassung von 1988 leider keinen eigenen FlaggenArtikel geschaffen. Er gehörte eigentlich zu den „Grundprinzipien“ in Titel I. Die überall im Lande präsente, einheitsstiftende Flagge ist in ihren Teilen wie als Ganzes eine ungemein „sprechende“ Nationalflagge, sie ist in ihren Farben und ihrer Graphik bzw. Geometrie besonders suggestiv. Nimmt man das Motto („Ordnung und Fortschritt“) und den Nachthimmel über Rio am Tage der Unabhängigkeit (15. Januar 1889: 27 Sterne) hinzu, so gehört Brasiliens Flagge zu den schönsten nicht nur Lateinamerikas. Sie wirkt ein Stück wie als „Erziehungsziel“, wird gewiss so in den Schulen vermittelt und sie prägt sich als internationales Erkennungssymbol sehr ein. Man ist überrascht, dass sich die doch sehr umfangreiche, mitunter vielleicht sogar zu sehr ins Einzelne gehende, im Ganzen aber geglückte Verfassung von 1988 die Chance entgehen ließ, die Nationalflagge textlich zu skizzieren – wie dies etwa in Afrika nicht wenige Länder vorbildlich tun. Wie dem auch sei: die innere Nähe, ja Zusammengehörigkeit von Verfassungspräambeln und gelebten Nationalflaggen bleibt eine wichtige wissenschaftliche Erkenntnis für den Verfassungsstaat als Typus. 1) Jetzt zur Präambel Brasiliens von 1988. Sie umreißt überaus dicht das Selbstverständnis von Brasilien: Gewährleistung der „Ausübung der sozialen und individuellen Grundrechte“, von „Freiheit, Sicherheit, Wohlstand, Entwicklung, Gleichheit und Gerechtigkeit“; sie defi niert als „höchste Werte“ eine brüderliche, pluralistische und vorteilsfreie Gesellschaft, die auf sozialer Harmonie und auf der Verpfl ichtung zur friedlichen Lösung von Streitfragen in den inneren und internationalen Verhältnissen auf baut. Die so und im folgenden verkündete Verfassung wird von der Verfas35 36 37 38
Abgebildet in: H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 30. Abgebildet in: H. Taubald, aaO., S. 33. Abbildung in: H. Taubald, aaO., S. 48. Abbildungen in: H. Taubald, aaO., S. 66 ff.
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sunggebenden Versammlung „unter den Schutz Gottes“ gestellt. Die Präambel ist rundum geglückt: Sprachlich bürgernah, das Wesentliche der nachstehenden Texte zusammenfassend, beeindruckt sie. Allenfalls fehlt die sonst typische Zeitdimension: die Verarbeitung von Geschichte (z. B. das Militärregime: 1964 bis 1985). Die Zukunft freilich wird in den ihr auferlegten konstitutionellen Gestaltungsprinzipien erkennbar. Der wie selbstverständlich ausgesprochene Gottesbezug, in dem Verfassungsvertrag der EU weder 2004 noch 2007 gewagt, lässt den religiösen Wurzelgrund der Kultur des Landes bewußt werden („Gott ist ein Brasilianer“), bei aller Pluralität von Religionen und Konfessionen, auch Stammeskulturen. Bildlich illustriert ist etwa an die großen Kirchen des Landes (z. B. in Olinda) und in Rio an die überwältigende Christusstatue („Corcovado“) zu denken. 2) Zu den Grundrechten der Verfassung von 1988: in einem eigenen Titel II garantiert, gliedern sie sich in „Individuelle und kollektive Rechte“, in die „sozialen Rechte“ und die „staatsbürgerlichen Rechte“. Im Stile des römischen Bild- und Textbandes seien sie im Folgenden, bildlich unterstützt, „illustriert“: – Art. 5: Gleichheit der Menschen; als Kontrast Bilder aus der Zeit der Sklaverei39, auch der unmenschlichen Behandlung (vgl. III), Denkmalschutz für die „ehemaligen Siedlungen von entflohenen Sklaven“ nach Art. 216 V § 5 – die Garantie der freien Ausübung religiöser Kulte sowie der Schutz von „Kultstätten und Liturgien“ (VI): Bilder nichtchristlicher indogener Kulturrituale werden hier einschlägig (z. B. des Macumba-Kultes) – die „Freiheit der künstlerischen, wissenschaftlichen und kommunikativen Tätigkeit“ (IX) – dokumentiert in ihren Hervorbringungen in Gestalt der Musik (z. B. H. Villalobos und T. Jobim, auch des „Samba“), der Architektur (O. Niemeyer), Gemälde von I. Nery, L. Segall, C. Portinari, A. Volpi, C. Tozzi, G. De Barros u. a. in: As Constituiçoes Brasileiras, Fundaçao Armando Alvares Penteado, 2007, S. 208 ff. bzw. 282 ff., und nicht zuletzt der Rechtswissenschaften, insbesondere der höchst vitalen Verfassungsrechtslehre in ihren vielen Literaturgattungen: vom Lehrbuch bis zur Festschrift (etwa für P. Bonavides), vom Jahrbuch (herausgegeben von ihm) bis zur Monographie und zum Kommentar; bemerkenswert ist das Goethe-Denkmal in Porto Alegre – zum Schutz des „kleinen landwirtschaftlichen Eigentums“ (XXVI): eine im Vergleich vorbildliche Differenzierung des Privateigentums schon auf Verfassungsstufe (s. auch Art. 185 I) – Bildmaterial zu kleinen bäuerlichen Betrieben als Illustrierung hätte hier seinen Platz, auch zur „Landlosenbewegung“ – Popularklage (vgl. Art. 14 III) zum Schutz der „Moral in der Verwaltung“, der „Umwelt und des „geschichtlichen und kulturellen Erbes“ (LXXIV): diese geradezu sensationelle Textstufe wäre zu dokumentieren durch Photos eines konkreten Verfahrens und zu illustrieren durch bildliche Wiedergabe der großen Natur- und Kulturschätze Brasiliens – erwähnt sei der Amazonas (dazu Art. 225 VII § 4) und
39 Abbildung der Darstellung von J. B. Debret, 1822: „Von Sklaven betriebene Zuckermühle“, zit. nach H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 42.
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die Regenwälder40, Inseln wie Florianopolis41, aus dem geschichtlichen und kulturellen Erbe große Kirchen wie die Kathedrale in Olinda sowie in Ouro Prêto – Aus dem großen Tableau der „sozialen Rechte“ (Art. 6 bis 11): die Gegenwirklichkeit der Slums („Favelas“) als Herausforderung für die versprochene Obdachlosenhilfe in Art. 6 (s. auch die „Sozialhilfe“ in Art. 203 f.) sowie die Arbeitslosigkeit trotz der großen Postulate in Art. 7 („Armut als Normalität“); 42 hinzunehmen ist gemäß einem positiven Kompetenzverständnis die „gemeinsame Zuständigkeit“ zur „Bekämpfung der Ursachen der Armut und der Faktoren der Marginalisierung“ in Art. 23 X (s. auch Art. 3 III) sowie die eindrucksvollen Grundsätze im Teil „Wirtschafts- und Finanzordnung“ (Art. 170–181), insbesondere der an Italien erinnernde Satz: „Die Wirtschaftsordnung beruht auf der Förderung der menschlichen Arbeit“ (s. auch Art. 193: „Primat der Arbeit“; Art. 1 IV: „die sozialen Werte der Arbeit“). 3) Kulturelle Identitätselemente in der Verfassung von 1988 wie Sprache, Hymne, Nationalflagge, Multiethnien, lateinamerikanische Nationalitätengemeinschaft, Sport (insbesondere Fußball): Die einheitsbildende Kraft der brasilianischen Sprache wird oft erwähnt, auch ihre gewissen Abweichungen von der portugiesischen Muttersprache. Aus der Trilogie von Nationalfeiertag, Nationalhymne und Nationalflagge43 hat die Verfassung Brasiliens textlich nichts thematisiert, doch sind die drei Themen der Verfassungswirklichkeit sehr präsent; ein kräftiges kulturelles Identitätselement formuliert Art. 4 (einziger Paragraph): Streben nach „ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Integration der Völker Lateinamerikas“ „mit dem Ziel der Bildung einer lateinamerikanischen Nationengemeinschaft“. Dieser auf Lateinamerika bezogene Integrations-Artikel besitzt viele Parallelen in anderen, benachbarten Verfassungen (z. B. Präambel Verfassung Kolumbien von 1991; Art. 6 Verf. Uruguay von 1967/96), er könnte die textliche Basis für die Entwicklung des von mir seit Jahren geforderten „gemeinlateinamerikanischen Verfassungsrechts“ sein, er öffnet aber auch den Weg zu Mercosur44. Die in Kap. VIII Art. 231 normierten Garantien für die „Indios“ gehören in diesen Kontext. Was ein Verfassunggeber textlich leisten kann, ist hier geschehen. Eine andere Frage bleibt die nach der politischen Umsetzung dieser Verfassungsnorm in 20 Jahren: Bildmaterial zur Urbevölkerung der Indios in Brasilien. Pluralität und Homogenität der Kultur(en) Brasiliens als „Vielvölkerstaat“ (bis hin zum Karneval in Rio45) spiegelt sich in Art. 215 der Verfassung (s. auch Art. 23 IV). Er ist geradezu der Idealtypus eines verfassungsstaatlichen Kultur-Artikels, Stichworte lauten: die Jedermann-Zugangsrechte zu den „Quellen der nationalen Kultur“, deren 40 Tier- und Pfl anzenbilder, auch aus dem Nationalpark das Emas fi nden sich in dem Bildband von F. Colombini Brasilia e Goiás, 2004. S. 66 ff. 41 Dazu der Bildband Santa Catarina, 2004. 42 Vgl. die Abbildung unter dem Stichwort „Reichtum und Armut“, in: H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 52. 43 Dazu die Monographien des Verf.: Feiertage als kulturelle Identitätsgarantien des Verfassungsstaates, 1987; Nationalhymnen als kulturelle Identitätelemente des Verfassungsstaates, 2007; Nationalfl aggen: Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 44 Dazu M. A. Maliska, Die Supranationalität in Mercosur, in JöR 56 (2008), S. 639 ff.; F. Fuders, Die Wirtschaftsverfassung des Mercosur, 2008. 45 Vgl. den prächtigen Bildband Rio de Janeiro, hrsgg. von H. Donner, 3. Aufl. 2005.
Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“
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Pluralität (indianische und afrobrasilianische Volkskulturen, kultureller Pluralismus), kulturelle Teilhaberechte, Festlegung der „Gedenkdaten“ für die einzelnen ethnischen Schichten der Nation, Umschreibung des brasilianischen Kulturbesitzes nach ihren „Ausdrucksformen“, ihren Methoden und Schöpfungen sowie Ausdruckbereichen, Vielfalt der staatlichen Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung des brasilianischen Kulturbesitzes bis hin zu den ehemaligen Siedlungen von entflohenen Sklaven (1888: Verbot der Sklaverei!) nach Art. 216 V. § 5 (s. auch Art. 231: Schutz der Indios, ihrer „kulturellen Reproduktion“). Man darf vermuten, dass gerade die Garantie der Pluralität der Kulturen und Ethnien in Brasilien eine grundlegende Garantie für die Einheit dieses riesigen Landes ist. Man vermisst allenfalls einen Text zum kulturellen Trägerpluralismus von Staat, Kommunen, Gewerkschaften (Ansätze in Art. 227). Bilddokumente sind: Manaus, Rio (nach S. Zweig, die schönste Stadt der Welt), Brasilia46, Indianergebiet am Amazonas. 4) Schutz der Umwelt (Art. 5 LXXIII), Art. 225 Verf. Brasilien: Stichworte und z. T. neue Textstufen sind: „Recht auf eine ökologisch intakte Umwelt“, „Gemeingut des Volkes“, eine konkrete (?) Utopie, Generationenperspektive; „Integrität des genetischen Erbgutes des Landes“, „Umwelterziehung auf allen Unterrichtsstufen“, öffentliche Bewusstseinsbildung, Schutz von Flora und Fauna47 (eindrucksvoll ist der Band Cenas da Vida Gaúcha, 2003). Dieser vorbildliche konstitutionelle Umweltschutz lässt sich bildlich leicht illustrieren (vgl. nur Iguacu48, das Pantanal, ZentralAmazonas), doch sind die Gefahren für den Regenwald bekannt. Wir stehen vor der Möglichkeit eines „Musée imaginaire“ (A. Malraux), einer Verfassung Brasiliens „für alle“. 5) Politiken, insbesondere die „Stadtpolitik“ (Art. 182 f. Verf. Brasilien): Der Hauptstadt-Artikel49 in Sachen „Brasilia“50 (Art. 18 § 1) gehört – wie auch in anderen Verfassungen – zu den Integrationsfaktoren, jedenfalls der Idee nach. Angesichts des viel zitierten „künstlichen“ Charakters der Bundeshauptstadt Brasilia stellen sich freilich Zweifel ein. Es fehlen die Elemente einer lebenden Bürgergesellschaft vor Ort. Architektonisch ist die „Retortenhauptstadt“ Brasilia dank O. Niemeyer indes einzigartig (vgl. den Bildband: Oscar Niemeyer, Minha Arquitetura, 1937–2005, 2. Aufl. 2005). Erwähnt sei die Umsetzung der Verfassung in Architektur: der „Platz der drei Gewalten“. Der weltweit ebenfalls wohl einzigartige Verfassungs-Artikel zur Stadtpolitik (s. auch Art. 18 (4)) sei wie folgt aufgeschlüsselt und kommentiert: „Stadtentwicklungspolitik“, „soziale Funktionen der Stadt“, „Wohl ihrer Bürger“, Bildmaterial: z. B. über die „maßlose Stadt“ Sao Paulo51, aber auch über Curitiba52 46 Vgl. das J. Kubitschek-Denkmal in Brasilia, abgebildet in: H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 40; s. auch seine Abbildung in: As Constituiçoes Brasileiras, aaO., 2007, S. 231. 47 Vgl. die Bildbände: brasil retratos poéticos, brazil poetic portraits, Nr. 1, 2000, Nr. 2, 2001, Nr. 3, 2003. 48 Vgl. den Band: Das Welterbe der UNESCO, Naturwunder und Kulturschätze unserer Welt, Mittel- und Südamerika, 1997, S. 304–311. 49 Aus der Lit. vergleichend: C. Seiferth, Die Rechtsstellung der Bundeshauptstadt Berlin, 2008; P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, in: DÖV 1990, S. 989 ff. 50 Vgl. den Band: Das Welterbe der UNESCO, Naturwunder und Kulturschätze unserer Welt, Mittel- und Südamerika, 1997, S. 264–271. 51 Abbildungen in Merian: Brasilien, 01/55, S. 38 ff. 52 Vgl. J. P. Fagnani, Curitiba 3D, 2002.
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6) Brasiliens Schutz der Multiethnien (Art. 3 IV, 5 VI, 21 X IV, Art. 215, 261, Art. 231 Verf. Brasilien; Indios53, 232 (kollektives Klagerecht), beachtlich sind auch die deutschen Minderheiten im Süden, dazu der Band: A Saga dos Alemaes, Do Hunsrück para Santa Maria do Mundo Novo, 2004; Beispiele für Unesco-Erbe in Brasilien: Stadtkern von Sâo Louís und Salvador, Brasilia, Díamentina. 7) Brasiliens Bundesstaat (Art. 4, 18): „Föderative Republik Brasiliens“ mit 26 Bundesländern und einem Bundesdistrikt (Brasilia). Entwickelten sich Eigenarten in den einzelnen Verfassungen der Länder?; Art. 25: „Die Bundesstaaten“, speziell das „afrikanische“ Bundesland Bahia 8) Der Supreme Court in Brasilia (Art. 101–103): Dokumentation des Äußeren und Inneren, geschichtsträchtiger Plenarsaal54, Erwähnung großer Judikate (Beispiele aus der Feder des Richters G. Mendes), Aufgabe der „Wahrung der Verfassung“ (Art. 102), die Aufwertung des Verfassungsprozessrechts: theoretisch wie praktisch.
Ausblick In der Verfassung Brasiliens von 1988 fi ndet sich keine direkte Bezugnahme auf die alte Verbindung zum Mutterland Portugal (seit 1500 bis 1822), doch diese lebt in Gestalt der Sprache und Kultur fort: Gleiches im Blick auf Afrika im Norden (Musik!). Vor allem arbeiten portugiesische und brasilianische Staatsrechtslehrer eng zusammen. Es gibt auch eine deutsch-brasilianische Juristenvereinigung. Die Erarbeitung des reichen „kulturellen Verfassungspotentials“ Brasiliens ist authentisch eigentlich nur einem Brasilianer möglich. Darum sei hier nur eine fragmentarische Skizze vorgelegt, die ohne die vielfache Gastfreundschaft und Reisen in dieses „Land der Zukunft“ (S. Zweig) nicht einmal im Ansatz möglich wäre. Die „offene Gesellschaft der Verfassungsintepreten und Kunstschaffenden“ Ihres schönen Landes bleibt gefordert. Ein Bild- und Textband wie der römische wird zum Desiderat.
53 Abbildung einer Indioplantage des deutschen Malers J. M. Rugendas (Augsburg, 1858), in: As Constituiçoes Brasileiras, 2007, S. 70. Dessen malerische Reise „Malerische Reise“ in Brasilien mit einem Bild des Dschungels hat C. Darwins Theorie der Evolution vor 150 Jahren beeinflusst (vgl. FAZ vom 1. Juli 2008, S. 39). 54 Vgl. den Bildband Supremo Tribunal Federal Brasil, 2004.
II. Afrika
Der „arabische Frühling“ (2011) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft* von
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Einleitung Die „Arabellion“ 20111 kam ebenso unerwartet wie seinerzeit das erste „annus mirabilis“ 1989. Ist sie ein zweites annus mirabilis? Allenfalls die im Keim erstickte „grüne“ Revolution im Iran (2009 – damals, am 18. Juni 2009, waren 3 Millionen Iraner auf den Straßen Therans2 ) darf rückblickend als Vorbote gewertet werden. Der arabische Frühling bildet eine große Herausforderung des Verfassungsstaates als Typus mit seinen weltweiten Beispielen in Nord und Süd, Ost und West, hier und heute. Er müsste, sollte und könnte sich wie damals im Verhältnis zu Osteuropa bewähren. Erstaunlich sind die Domino-Effekte3 : Die Revolution in der arabischen Welt – im Namen von Demokratie und Menschenrechten – begann in Tunesien („JasminRevolution“, am 23. Oktober 2011 wird eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt werden), sie setzte sich in Ägypten fort (vielleicht als „stockende Revolution“, wenn man sich die derzeitige Militär-Diktatur vergegenwärtigt4, immerhin soll * Lectio magistralis, die der Verf. auf einem Internationalem Kongress an der Universität Catania (Sizilien) am 28. November 2011 gehalten hat. 1 Vgl. SZ vom 23. Mai 2011, S. 11: „Europas überraschte Reaktionen auf den arabischen Frühling (. . .) Die Hauptursache für die politische Gewalt ist der autoritäre Staat.“ 2 FAZ vom 14. Juni 2011, S. 6. 3 Vgl. FAZ vom 26. Februar 2011, S. 5: „Demonstrationen in Bahrain, Ägypten, Tunesien, Jemen, Irak und Jordanien“. 4 Vgl. FAZ vom 20. Juni 2011, S. 10: „In Ägypten wurde lediglich die Spitze der Pyramide ausgetauscht“, „In Bahrain ist Friedhofsruhe eingekehrt.“; FAZ vom 13. Juli 2011, S. 8: „In Ägypten herrscht nach dem Sturz des ‚Rais‘ Husni Mubarak faktisch eine Militärdiktatur“; s. auch SZ vom 19. Juli 2011, S. 8: „Die Armee reagiere inzwischen ähnlich brutal wie einst Mubarak, klagen viele Ägypter“; immerhin bildet Ägyptens Übergangspremier gelegentlich sein Kabinett um (SZ vom 19. Juli 2011, S. 8). Freilich versucht Ägyptens Übergangsregierung die Sonderstellung der Armee zu retten, was wenig Verständnis beim Volk fi ndet (SZ vom 23./24. Juli 2011, S. 8). Am 03. August 2011 begann der Prozess gegen Mubarak, der in einem „Metallkäfig“ in den Gerichtssaal geschoben wurde. Für die Demonstranten vom Tahrir-Platz ist dies eine große Genugtung, vgl. FAZ vom 04. August 2011, S. 1, 3. Auf dem Tahrir-Platz fi nden immer wieder Proteste für Wohlstand und Rechtsstaat bzw. Reformen statt (FAZ
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schon vor der Parlamentswahl eine „Verfassungserklärung“ verabschiedet werden, die die Prinzipien der neuen Verfassung enthält5, Stichwort: „laizistischer Staat in einem multikulturellem Ägypten, in einer toleranten Republik“, vorausgegangen sind bereits durch Referendum gebilligte Änderungen von acht Artikeln der alten Verfassung in Sachen Aussetzung der Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus, Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre6 ; die Revolution fand eine widersprüchliche Fortsetzung im Jemen7 und später (bis heute militärisch unentschieden) in Libyen; unklar bleibt Bahrain, immerhin hat das sunnitische Königshaus ein „Dialogforum“ berufen, auf dem jedoch nur 35 der 300 Bürger den Oppositionsparteien zugerechnet werden8. Die Militärdiktatur unter Assad in Syrien schlug bisher alle reformerischen bzw. revolutionären Versuche im Lande blutig und grausam nieder 9- syrische Oppositionelle gründeten im Juli 2011 in Istanbul einen „Rettungsrat“10. Die UN sind in Sorge wegen der alarmierenden Eskalation in Syrien, mit inzwischen Tausenden Toten11. Dem Sicherheitsrat gelang immerhin eine „Präsidentielle Erklärung“ wegen Verletzung der Menschenrechte in Syrien bzw. wegen exzessiver Gewalt gegen die eigene Bevölkerung12. Hierfür wird Syrien selbst von arabischen Ländern (Kuweit und Saudi-Arabien) kritisiert13. Etwas positiver könnte die vom marokkanischen König angekündigte und angenommene Verfassungsreform in Marokko werden. Historisch-kulturell und geographisch bietet sich hier für Spanien als „Brückenland“ eine besondere Chance, ja Verpfl ichtung14. Besonderes gilt viel-
vom 30. Juli 2011, S. 6). Bemerkenswert SZ vom 6./7. August 2011, S. 13: „Public Viewing im Ramadan 2011, Die arabische Welt schaut dem Prozess gegen die Mubaraks zu.“ 5 Dazu FAZ vom 18. Juli 2011, S. 5; schon im Februar 2011 forderte Ali Gooma, der Großmufti von Ägypten, „Eine Verfassung für Ägypten“, FAZ vom 15. Februar 2011, S. 8. 6 Vgl. FAZ vom 19. März 2011, S. 4; ebd. vom 22. März 2011, S. 8; ein neuer Art. 189 nennt die Voraussetzungen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung: Der Präsident soll mit Zustimmung des Kabinetts oder aber die Hälfte der Abgeordneten beider Häuser den Auftrag erteilen können, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. 7 Vgl. FAZ vom 23. April 2011: „Massenkundgebungen beider Lager im Jemen“; siehe auch SZ vom 7. Juni 2011, S. 8: „Saudi-Arabien behandelt Jemens Präsidenten Salih und versucht, die Entwicklung im Nachbarland zu steuern“; zuletzt FAZ 21. Juli 2011, S. 1: „Berlin vermittelt im Jemen, Salih offenbar zum Rücktritt bereit. – Das Sultanat Oman nimmt „eine besondere Stellung in der islamischen Welt ein“, manche Beobachter hoffen, dass dort die Arabellion „sanftere Züge“ annehmen wird (FAZ vom 27. Juli 2011, S. 8). 8 FAZ vom 19. Juli 2011, S. 6. In Bahrain hat es Festnahmen gegeben, auch hatte sich der Golf kopperationsrat eingeschaltet, FAZ vom 18. März 2011, S. 7. 9 Assad verspricht, wenig glaubhaft, Reformen. Er deutet an, dass Art. 8 der Verfassung (Monopol der Baath-Partei) zur Debatte stehe, FAZ vom 21. Juni 2011, S. 2; zuletzt FAZ vom 11. Juli 2011, S. 5: „Nationaler Dialog in Syrien ohne Opposition“. 10 Vgl. FAZ vom 18. Juli 2011, S. 1. 11 FAZ vom 03. August 2011, S. 1; SZ vom 6./7. August 2011, S. 8: „Die Leute werden wie Schafe abgeschlachtet.“ 12 FAZ vom 05. August 2011, S. 10. Die EU verschärft ihre Sanktionen gegen Syrien, SZ vom 02. August 2011, S. 1. 13 SZ vom 09. August 2011, S. 1. 14 Man erinnere sich auch des „Goldenen Zeitalters der arabischen Wissenschaften, insbesondere in Spanien“, dazu jüngst Jim al-Khalili, Im Hause der Weisheit, Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, 2011.
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leicht für das im Ganzen noch friedliche Jordanien, wo sich ebenfalls eine konstitutionelle Monarchie als Reformziel abzeichnet. Bahrain dürfte ein Sonderfall sein15. Der beratende Verfassungsvergleicher muss sich ein Sowohl-als-auch von vorsichtiger Realpolitik und klugen Visionen zum Ziel setzen – auch im Verfassungsstaat gibt es ein unverzichtbares Utopie-Quantum16, Beispiel ist von 1949 bis 1990 die deutsche Wiedervereinigung. Als Fernziel könnte sich daher für das Mittelmeer die Idee eines „mare nostrum constitutionale“ abzeichnen (mehr als eine bloße Revitalisierung des Barcelona-Prozesses). Die Europäer sollten sich für behutsame Verfassungsberatung als Teil einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft bereithalten: auf der Basis des Textstufenparadigma sowie kultureller, kontextsensibler Verfassungsvergleichung. Der Historiker erinnert sich an gewisse Parallelen zur Art und Weise, wie 1848 in Frankreich, der Schweiz sowie Deutschland nacheinander Umbrüche stattfanden und Einigungsprozesse gelangen: vor allem den „verspäteten Nationen“ Italien (1861) und Deutschland (1871). Viele Fragen stellen sich schon prima facie: Haben die „europäischen Ideale“ als kulturelles Erbe in der arabischen Welt eine Zukunft? Wird es zu einer Kräftigung von Nationalstaaten kommen? Gelingt es dem Mittelmeer, zum Forum des Gesprächs zwischen Europäern (Christen) und Arabern bzw. Muslimen zu werden? Handelt es sich um einen Aufstand der Jugend oder einen allgemeinen Volksaufstand? Wird es gelingen, die überkommenen Stammes- und Gesellschaftsstrukturen in den Verfassungsstaat zu integrieren? Welche Bedeutung haben Religionen, Sprache und Kultur als unverzichtbare Ressource für einen „arabischen Konstitutionalismus“ eigener Art?
Erster Teil: Fragmente, Elemente bzw. Materialien für eine Bestandsaufnahme Der vergleichende Verfassungsrechtler hat es bis jetzt schwer, sich einen ersten Überblick über die oft hektischen, diffusen, widersprüchlichen und heterogenen Entwicklungen in den einzelnen Ländern zu verschaffen, zumal diese eine ganz unterschiedliche Revolutions- bzw. Reformgeschichte durchleben. Die Bandbreite ist weit. Wir stehen vor der wohl langfristig wage gelingenden Revolution in Ägypten einerseits und dem Krieg gegen das eigene Volk andererseits, den Syriens Staatspräsident Assad führt. Besonders bedauerlich und verbrecherisch sind die Vorgänge im Libyen des seit 27. Juni 2011 mit Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Gaddafi s17 – er will Selbstmordkommandos nach Europa schicken18 und die Befreiung sog. arabischer Territorien aus dem „Herzen Europas“ wie die Kanarischen 15 Aus der Lit.: M. Schmidmayr, Politische Opposition in Bahrain, 2011; A. Gramsch, Die Umwandlung Bahrains in eine konstitutionelle Monarchie, in: P. Scholz/ N. Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, S. 159 ff. 16 Bemerkenswert SZ vom 19. Mai 2011, S. 13: „Eine Utopie, die man plötzlich leben konnte“ (bezogen auf die Revolution in Ägypten). 17 Überzeugend K. Ambos, Verhandlungen mit Gaddafi untergraben die internationale Strafgerichtsbarkeit, FAZ vom 11. August 2011, S. 6. 18 FAZ vom 11. Juli 2011, S. 1.
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Inseln, Sizilien und Andalusien erzwingen19. Gegenüber allen Medien ist Vorsicht am Platze, so ergiebig Zeitungsmeldungen, Internetportale, Facebook 20, Twitter und andere neue Formen der „Internet-Öffentlichkeit“ sein können und auch für die Arabellion Positives bewirkt haben – in Quatar gibt es ein „Libyen-TV“, einen Sender der Gaddafi-Gegner21. Unter Vorbehalt sind einige Beobachtungen möglich. 1. Besonders wichtig sind die „werdenden Zivilgesellschaften“, bestehend aus Bürgern, vor allem aus Frauen und Jugendlichen, sowie vielerlei (auch religiösen) Gruppierungen, etwa NGOs, z. B. Amnesty International, Transparency International oder Human Rights Watch. Demonstrationen, über Facebook etc. geplant, erzwingen den Sturz von Regimen wie in Tunesien und Ägypten relativ friedlich, da sich das Militär zurückhielt. Politische Gruppierungen wie Parteien entstehen in Tunesien erst langsam 22. In Ägypten ist eine schmerzliche Rivalität zwischen den christlichen Kopten und den Islamisten zu beobachten. Große Schwierigkeiten gibt es offenbar allenthalben bei den Versuchen, unterschiedliche politische Parteien im Spektrum eines demokratischen Pluralismus ins Leben zu rufen. Offenkundig fehlt es auch an anerkannten Führungspersönlichkeiten, selbst in Ägypten. „Zivilgesellschaft“ ist dabei ein Schlagwort unserer Tage, das bereits in neue Verfassungstexte vorgedrungen ist (Beispiel: Verfassung Tschechische Republik von 1992: „Bürgergesellschaft“). 2. Es gibt eine ganze Skala von Instrumenten und Verfahren zur Organisation des Übergangs: Nationale Übergangsräte, z. B. in Libyen 23 (u. a. Berlin und London haben diesen Übergangsrat anerkannt24), in Tunesien existiert eine „Reformkommission“25, um den Übergang zur Demokratie zu ermöglichen 26, in Syrien hat sich eine Gruppe von 50 Intellektuellen als Nationales Bündnis etabliert27, es gibt eine Libyen-Kontaktgruppe, bestehend aus 40 Ländern und internationalen Organisationen28 vor allem die AU, die Ankündigung von Wahlen 29 und Abstimmungen (z. B. über Inte19
FAZ vom 14. Juli 2011, S. 8: „Nicht nur Gaddafi instrumentalisiert den Verlust Andalusiens“. Vgl. B. Müchler, Mit Facebook gegen den Diktator (sc. in Bezug auf die Rebellion in Syrien), FAZ vom 05. Juli 2011, S. 7; siehe auch T. Apolte/ M. Möller, „Die Kinder der Facebook-Revolution“, FAZ vom 18. Februar 2011, S. 12. 21 FAZ vom 28. Juni 2011, S. 35; plastisch: Die Welt vom 11. April 2011, S. 6: „Das bleierne Libyen Gaddafi s“. 22 Vgl. FAZ vom 16. März 2011, S. 10: „In Tunesien gründen sich zahlreiche Parteien“; siehe auch SZ vom 4./5. Juni 2011, S. 8: „Weltoffene Islamisten, Die tunesische Partei an-Nahda gibt sich modern – manche ihrer Kandidatinnen treten sogar ohne Kopftuch auf “. 23 Die Gaddafi-Gegner bildeten früh eine Übergangsregierung, FAZ vom 28. Februar 2011, S. 1. Der „Nationale Übergangsrat“ unterhält Kontakte mit den Aufständischen und dem Gaddafi-Regime, FAZ vom 25. Juni 2011, S. 7. Dieser Rat hat bereits die „Vision eines demokratischen Libyen“ publiziert (FAZ vom 30. März 2011, S. 6). Darin werden eine Verfassung, die Gründung politischer Parteien, freie und faire Parlamentswahlen und Grundrechte gefordert. Der nationale Übergangsrat will einen demokratischen Staat sowie eine Zivilgesellschaft (FAZ vom 14. Juli 2011, S. 3). 24 FAZ vom 28. Juli 2011, S. 5. 25 Dieses Übergangsorgan gilt als Quasi-Parlament mit 161 Mitgliedern, dem Vertreter von Parteien, Zivilgesellschaft und Regionen angehören, FAZ vom 11. Mai 2011, S. 10. 26 FAZ vom 28. Juni 2011, S. 5. 27 FAZ vom 31. März 2011, S. 31. Mitunter wird auch von einem „Nationalem Koordinierungsrat“ gesprochen, FAZ vom 02. Juli 2011, S. 4. 28 FAZ vom 16. Juli 2011, S. 2. 29 In Tunesien hat die Übergangsregierung eine Verfassungsgebende Versammlung für Herbst 2011 angekündigt, SZ vom 14. Juni 2011, S. 13. 20
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rimspräsidenten30 ) oder das Militär wie in Ägypten (seitens der Übergangsregierung) oder gar teil- oder totalreformierte Verfassungen. In Jordanien arbeitet eine „Dialogausschuss“, der sich mit Empfehlungen an König Abdullah wandte31. Die Frage bleibt: Wie kann es zu sicheren, fairen und freien Wahlen kommen? Erinnert sei an die ersten Strafverfahren gegenüber den Repräsentanten des alten Regimes wie in Tunesien und Ägypten; besser sind wohl mittelfristig arbeitende Wahrheitskommissionen32 – wie seinerzeit vorbildlich in Südafrika und einigen Ländern Lateinamerikas (zuletzt Honduras). Nur offenkundig schwere Straftaten der einstmals Herrschenden (Diebstahl von Volksvermögen, Folter und Todesschüsse auf friedliche Demonstranten) sollten verfolgt werden. Letzte oder erste Stufe können Prozesse der Verfassungsgebung sein: über den Weg von freien Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung ohne Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf oder mit einer solchen. 3. Weitere Darstellungen von Entwicklungen „rund um das Mittelmeer“ sowie im fernen Jemen, auch in Bahrain, sehen sich vor besonderen, schwierigen Transformations- und Übergangsprozessen33. Zwar sind Parallelen zu Osteuropa 1989 ff. erkennbar, etwa in Sachen Rezeption von Elementen des konstitutionellen Erbes Europas, doch wirken vor Ort ganz andere kulturelle Kontexte: vor allem der Islam. Sodann geht es um vereinzelt noch absolutistische Königreiche wie in Marokko und Jordanien, die sich vielleicht nur dadurch retten können, dass sie sich konstitutionalisieren, d. h. zu konstitutionellen Monarchien wandeln (Stichwort: Repräsentations- und Integrationsfunktion, wie in alten Monarchien Europas, z. B. Großbritannien, skandinavischen Ländern und seit 1978 Spanien34 ). Andere Staaten könnten real geltende Republiken werden, i. S. des klassischen Zusammenhanges von Ciceros res publica und salus publica. Bei all dem sind die konstitutionellen Texte und kulturellen Kontexte aus dem Arsenal der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft unverzichtbar. Diese darf sich aber nicht als „Museum“ ohne den Mut zu neuen Instrumenten und Verfahren verstehen, sondern als lebendige Werkstatt, eine Art „Laboratorium“ – wie seit den 60er Jahren in Gestalt der Totalrevisionen der Schweizer Kantonsverfassungen („Werkstatt Schweiz“). Man denke an den Ombudsmann, neue Grundrechte, neue Verfahren der unmittelbaren Demokratie sowie den Schutz von Umwelt und kulturellem Erbe, gespeichert z. B. in Archiven, Bibliotheken und Museen. Empfohlen seien Geist-Klauseln35, um das Eigene, das Selbstverständnis der arabischen Länder zur Geltung zu bringen. 30 Das Nationale Übergangsrat plant eine „Verfassungserklärung“, die den Rahmen für die Verfassung vorgeben soll. Stichworte sind: demokratischer Staat, Zivilgesellschaft, Rechtssicherheit und Menschenrechte. Offen ist, ob Libyen später eine parlamentarische Demokratie oder ein Präsidialsystem sein soll, zit. nach FAZ vom 14. Juli, S. 10. 31 FAZ vom 07. April 2011, S. 3. 32 So gibt es in Tunesien bereits eine Antikorruptions-Kommission, die die Ereignisse der Ära Ben Ali aufarbeiten soll, von der Übergangsregierung eingesetzt, SZ vom 14. Juni 2011, S. 13. 33 Im Jemen hat sich ein Übergangsrat gebildet (FAZ vom 18. Juli 2011, S. 5). 34 Dazu mein Beitrag: Monarchische Strukturen und Funktionen in europäischen Verfassungsstaaten, FS Schambeck, 1994, S. 683 ff. 35 Beispiele in: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 600 ff. u. ö.; s. auch § 10 Verfassung Estland von 1992: „Sinn der Verfassung“.
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4. Besondere Aufgaben stellen sich aus vielen Gründen für das „arabische“ Spanien36 : dank seiner islamischen Geschichte und Kultur sowie seiner geographischen Nähe, dies gilt speziell für Granada. Italien ist wegen seiner Kolonialgeschichte wohl bis heute diskreditiert (nicht erst seit B. Mussolini37). Seine frühere Kolonialpolitik in Tunesien und Libyen hat einen schlechten Ruf. Freilich ist an den Kotau zu erinnern, den viele westliche Verfassungsstaaten gegenüber dem libyschen Machthaber Gaddafi noch bis vor kurzem praktizierten. Man denke an das Beduinen-Zelt, das der Libyer in einem französischen Park während seines Parisbesuchs bei Staatspräsident N. Sarkozy errichten durfte. Irritierend bleibt auch der freundschaftliche Handschlag zwischen dem seinerzeitigen Bundeskanzler G. Schröder und dem Diktator Gaddafi 38. Waren die westlichen Staaten aus wirtschaftlichen Gründen und Ölinteressen blind? Ging es ihnen nur um „Stabilität der Region“?
Zweiter Teil: Der Theorierahmen: ein arabischer bzw. islamischer Konstitutionalismus im Kontext eines künftigen Gemeinarabischen bzw. Gemeinislamischen Verfassungsrechts – analog dem Gemeineuropäischen Verfassungsrecht (1991) I. Relevanz der kulturellen Kontexte Hier ist primär an arabische Traditionen zu denken, wobei diese überaus vielfältig sind 39. Es gibt wohl keinen einheitlichen Islam40. Erstaunlicherweise finden heute gewaltige soziale Veränderungen realiter im Islam selbst statt, man denke an die große Zahl demonstrierender Frauen, ein Beginn ihrer Emanzipation. Die Wirkmächtigkeit der je eigenen Staats- und Völkergeschichte in den verschiedenen Ländern ist offenkundig. Zwar wird sie punktuell aufgebrochen, kann aber wohl nicht beseitigt werden und sollte als „kultureller Humus“ auch beachtet bleiben. Am Mittelmeer gibt es bisher keinen erkennbaren Willen, „Gottesstaaten“ wie im Iran zu gründen, wohl aber zum Teil den Wunsch, gewachsene Monarchien beizubehalten (Marokko und Jordanien), die zu konstitutionellen Monarchien reifen könnten und damit ähnlich manchen europäischen Ländern eine Stabilisierungs- und Integrationsfunktion erfüllen dürften. Es bleiben demgegenüber (noch?) aber auch sehr statische Gebilde wie Saudi-Arabien und Kuweit. 36 Vgl. G. Bossong, Al-Andalus, goldener Traum, Im Sommer 711 begann die arabische Herrschaft in Spanien. Sie schuf eine Kultur, in der Muslime, Juden und Christen zueinander fanden, in: Die Zeit vom 16. Juni 2011, S. 24. 37 Vgl. XLSemanal, Del 17 al 23 de abril de 2011, S. 54 ff.: „Libia – El juguete roto de Mussolini“. 38 Allgemein zum „Winter der Diktatoren“: Der Spiegel Nr. 9/28. 02. 2011, S. 78. 39 Programmatisch jetzt P.Scholz/ N. Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, bes. S. 11 ff. 40 Aus der Lit.: Das Vermächtnis des Islams, Artemis Verlag, Bd. I, 1980; G. Endreß, Der Islam, Eine Einführung in seine Geschichte, 3. Aufl., 1997; R. Paret, Mohammed und der Koran, 1957. Vgl. noch SZ vom 06. Juli 2011, S. 13: „Nichts ist klar im Koran: In Essen streiten muslimische Gelehrte über die Möglichkeiten einer Auf klärung im Islam.“
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II. Inhaltliche, juristische Maßstäbe und neue konstitutionelle Verfahren für den Übergang von autoritären Systemen zu arabischen bzw. islamischen Verfassungsstaaten, Vergewisserung der Strukturelemente von Verfassungsstaaten der heutigen Entwicklungsstufe – Rezeptionsprozesse 1. Das Prinzip der Balance von Stabilitätsfaktoren und Innovationen im Kraftfeld des Verfassungsstaates Die wissenschaftlich beratende Verfassungspolitik rund ums Mittelmeer muss um eine Balance zwischen Innovation und Tradition ringen. Nur eine Mischung beider Aspekte kann die anstehenden Transformations- und Transferprozesse bewältigen. Rezeptionen von westlichen Vorbildern müssen den unterschiedlichen kulturellen Kontexten gerecht werden. Europäische Besserwisserei ist zu vermeiden. Rezeptionsgegenstände können Verfassungstexte, große Judikate von Verfassungsgerichten und wissenschaftliche Theorien von den Klassikern bis in die Gegenwart sein – eine Trias. Das „konstitutionelle Erbe“ Europas kann inspirieren. Wechselseitige Lernprozesse aller beteiligten Akteure werden wichtig. So ist bemerkenswert, dass in Marokko Mohammed VI. sich im Mai 2011 eine ganze Woche lang diskret durch den spanischen König Juan Carlos I. beraten ließ41 – hier strahlt das spanische Modell aus. Zu denken ist sogar an die Revitalisierung der Idee des Gesellschaftsvertrags42 bzw. des „Runden Tisches“ (einen solchen gibt es in Bahrain und Syrien43 ) – als kulturelles Gen der Menschheit. Stichwortartig sei der Typus „Verfassungsstaat“ charakterisiert: Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse mit der pluralistischen Demokratie als organisatorische Konsequenz, Menschenrechte, horizontale Gewaltenteilung, insbesondere unabhängige Gerichte, Staatsaufgaben-Kataloge, vertikale Gewaltenteilung im Sinne von Föderalismus bzw. Regionalismus, soziale Marktwirtschaft, Verfassungsgerichte, Verfahren der Verfassungsänderung.
a) Beispiele für die Bewahrung von Kontinuitätselementen An erster Stelle wirken hier emotionale und rationale „Konsensquellen“, die sich aus Nationalflaggen, Nationalhymnen, Feiertagen und Mosaiksteinen der „Erinnerungskultur“ speisen.44 Zu empfehlen ist, grundsätzlich an den bewährten Traditionen festzuhalten (freilich bleibt bemerkenswert, dass die Aufständischen45 in Libyen 41
FAZ vom 04. Juli 2011, S. 6. R. Hermann, Entscheidung im Ramadan?, FAZ vom 26. Juni 2011, S. 8, spricht von Optionen für Syrien, etwa den Abschluss eines „neuen Gesellschaftsvertrags“ zwischen Sunniten und Alawiten. 43 Vgl. FAZ vom 09. Juli 2011, S. 35: „Kein Platz am Tisch für Demokratie, Die Machthaber in Bahrain und Syrien preisen ihre Gespräche am Runden Tisch als Beginn eines nationalen Dialogs an.“. 44 Dazu die Tetralogie des Verf.: Feiertagsgarantien (1987), Nationalhymnen (2006), Nationalfl aggen (2007), Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat (2011). 45 Treffend R. Hermann: „Revolutionäre, nicht Rebellen, In Benghasi sind fast alle Menschen zu engagierten Freiheitskämpfern geworden“, FAZ vom 04. April 2011, S. 7. 42
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um Bengasi in Berlin46 jüngst auf der libyschen Botschaft die alte Nationalflagge der Zeit vor Gaddafi gehisst haben, als Libyen noch das Königreich von Idris I. war)47. Bewegend ist die Tatsache, dass ein namenloser Demonstrant am 14. Januar, dem Beginn der Revolution in Tunesien, sich als erster in eine Nationalflagge gehüllt hatte48. Heute liegen Ergänzungen um neue Feiertage zur Erinnerung an die Revolutionen oder Reformen seit 2011 nahe, vielleicht auch die Schaffung neuer Denkmäler oder Erinnerungsorte wie der Tahrirplatz in Kairo, er ist zum Symbol der Freiheit geworden49. Namen für Plätze und Straßen, die Repräsentanten der alten Regime gewidmet sind, müssten getilgt werden50. Im Übrigen sollten speziell die Nationalflaggen und Nationalhymnen so weit wie möglich beibehalten werden51. Hier lassen sich Lehren aus der europäischen Geschichte ziehen: So sind in Europa etwa in Polen und Weissrussland, zum Teil auch in Deutschland die Nationalhymnen konstant geblieben – über alle Regimewechsel hinweg (vielleicht sollten nur die Texte, nicht aber die Musik geändert werden).
b) Innovationen aus dem Potenzial des Typus „Verfassungsstaat“ An erster Stelle ist neben Wahrheitskommissionen und der Verfassungsgerichtsbarkeit an die Grundrechte zu erinnern: Etwa schon positivierte Grundrechtskataloge (z. B. Verfassung Ägypten von 1971/80 Teil III.: Öffentliche Freiheiten, Rechte und Pfl ichten; Verfassung Jemen 1991/94 Teil II.: Die Rechte und Pfl ichten der jemenitischen Bürger52 ) sind aus ihrem semantischem Schattendasein zu holen, zu erneuern und fortzuschreiben und zu geltendem Verfassungsrecht zu machen. Hier sind Anknüpfungen an die islamischen Menschenrechtserklärungen53, aber auch neue Grundrechte wie das Recht auf Internet, als neue Form der Demonstrationsfreiheit 46 Vgl. FAZ vom 18. Juni 2011: „Rebellenfl agge weht in Berlin“, S. 5. – In Tunesien sind die Symbole der Diktatur rasch gefallen. Eine Woche nach der Flucht Ben Alis wurden die Straßen des 7. November 1987, die an den Amtsantritt Ben Alis erinnerten, umbenannt in: Straße des 14. Januar oder Platz des Märtyrers Mohamed Bouazizi, SZ vom 14. Juni 2011, S. 13. 47 Gaddafi hatte die Sommerresidenz des Königs verschlossen und alle Bücher über König Idris I. verbrennen lassen, FAZ vom 31. März 2011, S. 3: „Können die Rebellen einen Staat machen?“; siehe auch SZ vom 28. März 2011, S. 8: „Mit Rebellenfl agge und Trikolore“ (seitens der Gaddafi-Gegner). 48 FAZ vom 23. Juli 2011, Bilder und Zeiten, Z 2. 49 Vgl. FAZ vom 02. April 2011, S. 41, „Was vom Tahrir übrig blieb“. 50 Bemerkenswert FAZ vom 17. Juni 2011, S. 35: „Viele Libyer weigern sich, die Geldnoten, die Gaddafi s Konterfei tragen, auch nur in die Hand zu nehmen.“ – Auch tauchten Posters mit dem Konterfei von König Idris I. auf, FAZ vom 26. Februar 2011, S. 10. Vgl. auch FAZ vom 28. Februar 2011, S. 3: „Ein neues Libyen unter alter Fahne?“. 51 Freilich hat ein Marokkaner eine Hymne auf die Revolutionen in der arabischen Welt verfasst, SZ vom 18. April 2011, S. 16. 52 Zit. nach H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995. 53 Siehe freilich P.Scholz/N. Naeem, in dieselben, aaO., S. 41 (101): „Somit handelt es sich bei einem islamischen Rechtsstaat um einen Staat, dessen verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrechte einerseits formell keinen absoluten Vorrang gegenüber nicht kodifi ziertem islamischem Recht haben und andererseits keine oder nur wenig materielle Wirkung aufweisen.“ Ebenso einschlägig dieselben, aaO., S. 11 (12): „Hinsichtlich des Umgangs mit materiellen verfassungsrechtlichen Ideen Europas wie der Menschenrechte, der Gewaltenverschränkung, dem Rechtsstaatsprinzip oder dem Demokratieprinzip
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fruchtbar zu machen (so jüngst in Peru). Die Verfassunggeber müssen aus der Blockierung des Internets seitens der noch Herrschenden in Ägypten und Syrien lernen. Einmal mehr zeigt sich, dass Grundrechte aus negativen Erfahrungen älterer Zeiten erwachsen. Die neue Informationsfreiheit in Art. 5 GG war 1949 eine greif bare Reaktion auf die deutsche NS-Zeit. Die europäischen Grundrechtskataloge können im übrigen mancherlei Vorbilder liefern. Präambeln sind, kulturwissenschaftlich betrachtet, Prologen, Präludien und Ouvertüren vergleichbar. In bürgernaher, festlicher Sprache wollen und sollen sie die Vergangenheit beschreiben, die Gegenwart feststellen und zukunftorientierte Projekte entwerfen. Als „Textereignis“ können sie ein Konzentrat der Verfassung darstellen. Für neue Präambeln der arabischen bzw. islamischen Staaten54 ist die wichtigste Frage, wie wahrhaftig sie Geschichte schreiben und den Umbruch von 2011 nachzeichnen, ohne die Vergangenheit zu verleugnen. Hohe Präambelkunst, dank des weltweiten Vergleiches der besten Präambeln, z. B. in Südafrika (1996), Polen (1997) und Albanien (1998) möglich (nicht Ungarn 2012!), ist hier gefordert. Pathosformeln sind durchaus erlaubt und im arabischen Geist und Buchstaben zu schreiben. Die chinesische Charta 08 kann hier trotz ihrer Überlänge als Vorbild wirken55. Ein Sonderproblem ist die Gottesklausel56. Alle bisherigen arabischen und islamischen Verfassungen enthalten reiche Gottesbezüge (man denke an die Länder Kuweit (Verf. von 1962/80, Präambel). Bahrain (Verf. von 1973, Präambel), Mauretanien (Verf. von 1991, Präambel). In Europa sind sie oft umstritten. Polen und Albanien gelingt eine alternative Form (Präambel: „die diesem Glauben (sc. an Gott) nicht teilen“), auch für Nichtgläubige. Denkbar wäre die gleichzeitige Nennung von Allah, Jahwe und Gott: heute vielleicht noch eine Utopie!
c) Offenes Religionsverfassungsrecht Unerlässlich ist – im Geiste des Toleranzprinzips – die verfassungstextliche Schaffung von offenem Religionsverfassungsrecht57. Die Länder des arabischen Frühlings sollten textlich weder ein Monopol für den Islam beibehalten oder Gottesstaaten errichten, noch den Spuren des überholten deutschen sog. „Staatskirchenrechts“ folgen. Religiöse Minderheiten, wie etwa die Christen, müssen effektiv geschützt werden. In den öffentlichen Schulen müsste der Religionsunterricht für alle drei Weltreligionen geöffnet werden. Jede Form von Fundamentalismus ist zu vermeiden58. sowie dem die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen sichernden Element der Verfassungsgerichtsbarkeit herrscht hingegen große Unsicherheit.“ 54 Speziell zur Präambel der Iranischen bzw. Irakischen Verfassung: P.Scholz/ N. Naeem, aaO., S. 46 f. bzw. 48 f. 55 Dazu mein Beitrag: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 329 ff. 56 Allgemein dazu: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 276, 641 u. ö. 57 Dazu mein Beitrag, in: T. Holzner (Hrsg.), Staatskirchenrecht im 19. und 20. Jahrhundert, 2012, i.E. 58 Dazu mein Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates: rechtsbzw. kulturwissenschaftlich betrachtet, in: Liber Amicorum Josef Esser, 1995, S. 49 ff.
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Speziell in Europa wird der sog. Euro-Islam diskutiert 59. Vielleicht lassen sich manche Anforderungen und Aussagen über ihn auf die Länder des „mare nostrum constitutionale“ übertragen.
d) Wahrheitskommissionen als „dritter Weg“ Diese neue Errungenschaft des Verfassungsstaates, die Südafrika pionierhaft entwickelt hat, und sich mittlerweile in vielen Ländern fi ndet, sollte auch in den Reformstaaten des arabischen Frühlings praktiziert werden. Denn sie dient, sozusagen „zwischen“ der Bestrafung und der Amnestie stehend, der kollektiven Versöhnung 60. Allerdings wurde im Juli 2011 in Ägypten ein Strafverfahren gegen den ehemaligen Staatspräsidenten H. Mubarak und seine Söhne eröffnet, in Tunesien wurde im Juni 2011 der ehemalige Staatspräsident Ben Ali samt Ehefrau wegen Unterschlagung öffentlichen Vermögens angeklagt und in allzu raschem „kurzen Prozess“ zu 35 Jahren Haft verurteilt61; Strafverfahren wegen Mord und Folter sollen später folgen. Der vergleichende Verfassungsrechtler darf wissenschaftlich bei den Ländern mindestens für kleinere Delikte den milderen Weg der Wahrheitskommissionen empfehlen; Gleiches gilt für – zum Teil schon verkündete – Amnestien62.
e) Neue Formen der vertikalen Gewaltenteilung Die meisten Länder des arabischen Frühlings sind stark zentralisierte Einheitsstaaten – trotz ihrer vielen ethnischen Minderheiten in den verschiedenen Regionen. Der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe hat in langwierigen Prozessen zwei Strukturen geschaffen, die den Ländern des arabischen Frühlings „angeboten“ werden dürfen: gemeint ist der Föderalismus nach dem Vorbild der „glücklichen“ Schweiz, Deutschlands und auch Österreichs, auch des multinationalen Kanada, sowie der Regionalismus wie in Italien und Spanien. In diesen beiden Ländern sind die Regionalstatute auf dem Weg „kleine Verfassungen“ zu werden63. (Der Föderalismus in Belgien ist gefährdet, der österreichische Verfassungskonvent 2003–2005 scheiterte; die beiden deutschen Föderalismusreformen bleiben umstritten64). Beide Ver59
Bassam Tibi, Die Verschwörung, das Trauma arabischer Politik, aktualisierte Ausgabe, 2. Aufl., 1994; ders., Die neue Weltunordnung, 1999; ders., Euro-Islam: Die Lösung eines Zivilisationskonfl iktes, 2009; C. Leggewie, Auf dem Weg zum Euro-Islam?, 2002. 60 Aus der Lit.: P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1993; ders., „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat – eine Zwischenbilanz“, FS Hollerbach, 2001, S. 15 ff. 61 Vgl. FAZ vom 22. Juni 2011, S. 6, 10. Ende Juli wurde Ben Ali ein zweites Mal verurteilt (wegen Korruption und Immobilienbetrug), FAZ vom 30. Juli 2011, S. 6. 62 In Tunesien kam es zu einer Amnestie für Hunderte von Opfern des Ben Ali Regimes, FAZ vom 21. Februar 2011, S. 6. 63 Dazu P. Häberle, Konstitutionelles Regionalismusrecht – Die neuen Regionalstatute in Italien, JöR 58 (2010), S. 443 ff.; ders., Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – Ein Vergleich, JöR 54 (2006), S. 367 ff. 64 Aus der Lit.: Deutscher Bundestag, Bundesrat, Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Zur Sache 1/2005, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatli-
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fassungsstaaten, das heißt Italien und Spanien haben differenzierte Strukturformen entwickelt, d. h. manche Regionen besitzen einen verstärkten Sonderstatus (z. B. Katalonien oder das Baskenland in Spanien, in Italien die Region Alto Adige). All dies könnte vorbildlich sein für die arabischen bzw. islamischen Länder, insbesondere auch als Schutz für ethnische oder andere kulturelle, vor allem religiöse Minderheiten65. So sehr sich in mancher Hinsicht die Türkei als Vorbild empfiehlt (Stichwort: laizistischer Staat, aber islamische Gesellschaft): Angesichts der noch ungelösten Kurdenfrage (mehr Autonomie!) kann speziell in dieser Frage die Türkei wohl wenig helfen: sie bleibt derzeit unitarisch, ähnlich wie Großbritanien und Frankreich nur mühsam Prozesse der Dezentralisierung durchführen.
f) Parteien-Artikel und Wahlgesetze Bislang ist ein reales Mehrparteiensystem in den arabischen Ländern wohl erst im Entstehen (die Chinesische Charta 08 ringt ihrerseits darum66). Die Ausgangslagen scheinen verschieden zu sein. In Tunesien wachsen bereits parteipolitische Formationen heran; Gleiches dürfte für Ägypten gelten, wo die sog. Muslimbrüder schon gut organisiert sind und sich um Pluralismus bemühen. Indessen kann im Osten Libyens von Parteien noch kaum gesprochen werden. Die Aufständischen tun sich schwer, eine neue Führung für das Land aufzubauen67. Um so wichtiger wird ein ausdrücklicher Parteienartikel, der sich an westliche und osteuropäische Vorbilder anlehnen kann68. Es bedarf einer Einordnung aller politischen Parteien69 in den nationalen „Verfassungsbogen“ der einzelnen Länder. Neuzuschaffen ist das Wahlrecht, wobei sich wohl wegen seines Spiegelcharakters das Verhältniswahlrecht (mit niedrigen Sperrklauseln) empfiehlt, nicht das reine Mehrheitswahlrecht Großbritanniens. Gerade bei Wahlen sollten europäische Berater in arabischen bzw. islamischen Ländern sich vor Augen führen, wie sehr Menschenwürde und die demokratische Möglichkeit fair und frei wählen zu können, zusammengehören70. Der Militärrat in Kairo hat im Juli 2011 ein neues Wahlgesetz erlassen, wonach die 504 Abgeordneten je zur Hälfte über Parteilisten und in Wahlkreisen gewählt werden71. Es ist freilich umstritten: Die Muslimbrüder (sie treten mit chen Ordnung, 2005; H. Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008; C. Starck, Die Föderalismusreform 2006, Eine Einführung, 2007. 65 Zur „bundesstaatlichen Ordnung der Verfassung der Vereinigten Arabischen Emirate“: N. Naeem, JöR 58 (2010), S. 633 ff. 66 Dazu mein Beitrag: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre der Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 329 ff. 67 Vgl. SZ vom 29. März 2011, S. 10. 68 In Syrien verspricht Assad ein Mehrparteiensystem. Das neue Gesetz soll die Gründung von Parteien garantieren, wenn diese „auf dem Bekenntnis zur Verfassung, zu demokratischen Prinzipien der Geltung der Gesetze und dem Respekt vor Freiheit und Grundrechten“ stünden (SZ vom 26. Juli 2011, S. 8; FAZ vom 05. August 2011, S. 6). 69 Aus der Lit.: D. T. Tsatsos, Verfassung – Parteien – Europa, 1998/99. 70 Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HBStR I 1987, S. 315 (350 ff.), später auch das Lissabonurteil des BVerfGE 123, 267 (341). 71 FAZ vom 22. Juli 2011, S. 6. Eher optimistisch FAZ vom 02. Juli 2011, S. 10: „In Ägypten formiert sich neues politisches Leben.“
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einer Bekenntnis übergreifenden Vision auf 72 ) und die liberale Opposition wollen Abstimmungen allein über die Parteilisten73. Im Ganzen: Westeuropa bzw. formelle oder informelle Berater wie Professoren, Parteistiftungen, EU-Mitarbeiter, die Venedig-Kommission etc. sollten sich der verfassungspolitischen „Alternativentechnik“ bedienen (d. h. mehrere mögliche Texte zur Auswahl anbieten), wie sie sich bei den Schweizer Totalrevisionen in den dortigen Kantonen und im Vorfeld der neuen Bundesverfassung von 1999 seit Jahrzehnten bewährt haben. Auf keinen Fall darf auch nur der Anschein eines „Oktrois“ von Europa her erweckt werden. Afrikanische Vorbilder, etwa in Gestalt der Verfassungen von Äthiopien (1993) und Kenia (2010) sollten selbst dann ernst genommen werden, wenn diese neuen Texte in diesen Ländern derzeit noch sehr „semantisch“ geblieben sein mögen, d. h. keine Entsprechung in der Verfassungswirklichkeit fi nden.
g) Gemeinislamischen Verfassungsrecht Stichworte hierzu lauten – in Anknüpfung an die Vorschläge zum Gemeineuropäischen Verfassungsrecht aus dem Jahre 1991 sowie eines Gemeinasiatischen Verfassungsrecht aus dem Jahre 199774 : Prinzipienstruktur des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts, die zwei Wege seiner Gewinnung (Rechtspolitik und interpretatorische Rechtsfi ndung), die arbeitsteilige Entwicklung im Laufe der Zeit. Zu denken ist an die Organisation von die Nationen übergreifenden überregionalen Zusammenschlüssen.
2) Aufgaben der UN bzw. der „Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten“ sowie einzelner westlicher Verfassungsstaaten a) Die UN An erster Stelle obliegen den Vereinten Nationen bestimmte Aufgaben. In Sachen Libyen ist der Sicherheitsrat durch eine Resolution 1973 im Frühjahr 2011 vorbildlich tätig geworden75. Er formulierte einen Schutzauftrag für das Volk und die Bürger dieses Landes, das bisher von acht NATO-Staaten (einschließlich Italien) militärisch umgesetzt worden ist. Manche sehen darin freilich einen „Umbruch im Völkerrecht“. Es bleibt eine Schande der deutschen Bundesregierung, dass sich Deutschland 72
FAZ vom 21. Mai 2011, S. 35. FAZ vom 23. Juli 2011, S. 6; unumstritten ist, dass der Hohe Militärrat die Sperrklausel von 8% auf 0,2% gesenkt hat. 74 Dazu die Beiträge des Verf.: Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. bzw. ders., Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre, JöR 45 (1997), S. 555 ff. (bes. S. 576 ff.); zum Gemeinislamischen Verfassungsrecht: E. Mikunda, JöR 51 (2003), S. 21 ff. 75 C. Tomuschat, Wenn Gaddafi mit blutiger Rache droht, FAZ vom 23. März 2011, S. 29, hält sie mit guten Gründen für rechtmäßig. 73
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im Sicherheitsrat auf Weisung des Bundesaußenministers G. Westerwelle enthalten hat76. Dies umso mehr, weil sich dieser später im Juni 2011 von denselben Kindern und Eltern in Bengasi feiern ließ, die von den Truppen Gaddafi s ohne die Hilfe aktiver NATO-Staaten jedoch umgebracht worden wären. Neuerdings stellt Deutschland Hilfe bei der humanitären Mission der UN in Aussicht77. Immerhin gibt es schon einen „Treuhandfonds“ für die libyschen Aufständischen78. Kritisch sei angemerkt, dass sich Ähnliches wohl in dem gefolterten Land Syrien nicht ereignen wird – die USA fühlen sich überfordert, Europa ist feige, wagt nur Symbolpolitik und zieht die Stabilität der Region einer humanitären Intervention vor (anders seinerzeit auf dem Balkan). Die humanitäre Flüchtlingshilfe der Türkei (Zeltlager für Syrer an der Grenze) sei eigens positiv erwähnt.
b) Multinationale Hilfe Multinationale Hilfe kann in vielerlei Form geleistet werden, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Die EU-Kommission sollte hier eine Federführung ausüben. Speziell in Libyen sind manche Länder, insbesondere Frankreich schon aktiv. Langfristig ist auch an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu denken. Freilich stimmt der Fall des mit Internationalem Haftbefehl ohne Erfolg gesuchten, kürzlich in Rotchina mit allen Ehren empfangenen, Staatspräsidenten des Sudan O. AlBashir skeptisch.
c) Nationale Hilfe Nationale Hilfe einzelner Verfassungsstaaten kann sich mit unterschiedlichen Zielen in vielerlei Formen und Verfahren geltend machen: Zu denken ist an staatliche Hilfen humanitärer Art einschließlich des Auf baus von Polizeikräften; sodann an die Beratungstätigkeit seitens deutscher parteinaher Stiftungen bei der Neugestaltung des Verfassungsrechts79 und grundlegender Gesetze im Wahl- und Parteienrecht, auch der Gerichtsorganisationen. Zu denken ist auch an Seminare und Diskussionsforen, die einzelne Universitäten etwa von Spanien, insbesondere Granada aus, durchführen. Bei aller sich anbietenden Verfassungspolitik und wissenschaftlicher Vorratspolitik i. S. des „academical self restraint“ ist immer wieder daran zu erinnern, dass die westlichen Verfassungsstaaten nicht eurozentrisch argumentieren und handeln sollten. Besonders wichtig wird dieser Grundsatz bei so heiklen Fragen wie Gottesklauseln und Präambeln, beim offenen Religionsverfassungsrecht und Minderheitenschutz, beim Auf bau von „Zivilgesellschaft“ und „sozialen Marktwirtschaften“. 76 Vgl. auch die Kritik in Der Spiegel Nr. 9/28. Februar 2011, S. 22: „Historische Chance vertan“. – Siehe auch R. Hermann: „Ein zögerliches Europa, Der Wandel in der arabischen Welt muss als Chance begriffen werden“, FAZ vom 19. April 2011, S. 8. 77 Vgl. FAZ vom 29. Juli 2011, S. 6: „100-Millionen-Euro-Kredit Berlins für Benghasi“. 78 FAZ vom 06. Mai 2011, S. 5. 79 So versuchen die deutschen parteinahen Stiftungen, den Tunesiern beim Auf bau der Demokratie zu helfen, FAZ vom 23. März 2011, S. 3.
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Wissenschaftliche Hilfe ist besonders beim Erarbeiten von Grundsätzen eines etwaigen Gemeinislamischen bzw. Gemeinarabischen Verfassungsrecht erforderlich. Es geht darum, übernationale Strukturen und Verfahren nach dem Vorbild des Mercosul in Lateinamerika80 und der EU in Europa zu fi nden (Stichwort: Regionale Verantwortungsgemeinschaften). Für übernationale Verfassungsgerichte wie in Costa Rica und Straßburg ist die Zeit vielleicht noch nicht reif. Monarchien sollten buchstäblich – reformiert – „stehen“ gelassen werden. Sie können sich als unverzichtbare Integrations- und Stabilitätselemente beweisen. Dies dürfte etwa im Königreich Marokko81 gelingen, sofern der König Mohammed VI. mit den angekündigten Verfassungsreformen ernst macht und sich einerseits „konstitutionalisiert“, andererseits dem Parlament substanzielle Kompetenzen eingeräumt werden und eine unabhängige Gerichtsbarkeit entsteht. Marokko soll in eine parlamentarische Monarchie verwandelt werden82- freilich könnte der Monarch „Befehlshaber der Gläubigen“, d. h. religiöses Oberhaupt bleiben (er soll jetzt nicht mehr „heilig“, sondern nur noch „unantastbar“ sein), auch gibt es Zweifel, ob eine unabhängige Justiz gelingt. Die überwältigende Mehrheit hatte der von Mohammed VI. vorgeschlagenen Verfassung im Sommer 2011 zugestimmt.
Ausblick Die „Arabellion“ von 2011 bleibt eine große Chance und Herausforderung, ja Bewährungsprobe für den Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe einerseits und für die Völkerrechtsgemeinschaft andererseits. Das in den arabischen Ländern oft formulierte Motto „Arbeit, Würde, Freiheit“83 ist charakteristisch für den Typus Verfassungsstaat. Es besteht die ethische Pfl icht, den „verlorenen Generationen“, vor allem der Jugend, in jenen Ländern zu helfen, die zu Recht auf Teilhabe an der Globalisierung drängt und national mehr Freiheit und Demokratie wünscht. Freilich sollte man sich keinen Illusionen hingeben84. Nicht zuletzt von einer wieder funktionierenden Wirtschaft 85 hängt auch das Gelingen einer pluralistischen Demokratie 80
Dazu M. A. Maliska, Die Supranationalität in Mercosul, JöR 56 (2008), S. 639 ff. Aus der Lit.: C. Amelunxen, Staatsauf bau und Verfassungsentwicklung in Marokko (1908–1988), JöR 38 (1989), S. 499 ff.; A. P. Fernández, Das beredte Schweigen über die Verfassungsreform im Marokko von Mohammed VI., JöR 56 (2008), S. 561 ff. 82 Vgl. FAZ vom 21. Juni 2011, S. 7. Der spanische König Juan Carlos I. sowie der französische Staatspräsident N. Sarkozy begrüßten diese Pläne in Richtung auf mehr Demokratie und Respekt für Menschen- und Freiheitsrechte in Marokko. Das Referendum fand am 01. Juli 2011 statt (98% Zustimmung). Eher kritisch: FAZ vom 20. Juni 2011, S. 10: „Maßanzug für den Reformkönig, der Monarch bleibt weiterhin unantastbar, aber das Parlament erhält wichtige neue Befugnisse.“ Der Bewegung des 20. Februars sowie den Islamisten reichen die Reformen freilich nicht, FAZ vom 12. Juli 2011, S. 6. Anschaulich schon FAZ vom 19. März 2011, S. 10: „Reformkönig versucht Königsreform“; FAZ vom 15. Juli 2011, S. 8: „König Mohammed VI. könnte die Herausforderung der ‚Arabellion‘ bestehen“. 83 Dazu W. G. Lerch, Arabischer Lackmustest, FAZ vom 06. Juli 2011, S. 8. 84 Vgl. K. D. Frankenberger, „Dornenreicher Übergang, Die Arabellion hat noch einen langen und schwierigen Weg vor sich“, FAZ vom 13. Juli 2011, S. 8; W. G. Lerch, „Arabisches Jahrhundertprojekt“, „Die ‚Arabellion‘ ist so vielfältig wie die Araber. Sie wird länger dauern als nur einen Frühling“, FAZ vom 12. Juli 2011, S. 1. 85 Vgl. R. Hermann, FAZ vom 25. Juli 2011, S. 9: „Der wirtschaftliche Preis der Arabellion“. Ägyp81
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und die Verwirklichung der Menschenrechte ab. Wirtschaftshilfe aus dem Westen ist angesagt86. Die USA haben eine solche bereits versprochen, vielleicht kann auch die „neue Türkei“ ideell helfen87, jedenfalls preist sie sich als „Vorbild für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie“88. Bemerkenswert ist, dass der arabische Frühling jetzt sogar die Proteste der Jugend in Israel inspiriert89, wie zuvor vielleicht auch in Spanien. Der Auf bau einer auf die Würde des Menschen bezogenen pluralistischen Demokratie braucht viel Zeit90. Er muss – kulturelle grundiert – in den Schulen beginnen (Stichwort: Menschenrechte als Erziehungsziele nach dem Vorbild Guatemalas und Perus, „Verfassungspädagogik“) und in den Museen enden91. Vermutlich gibt es für jeden Verfassunggeber in den reformierten arabischen Ländern viele Themen für eingehende, Stück für Stück eingelöste Übergangs- und Schlussvorschriften92, handele es sich nun um Teil- oder Totalrevisionen. Der „Westen“ darf nicht selbstgerecht sein. Auch bei ihm sind manche Verfassungsreformen gescheitert (z. B. in Österreich93 und – noch – in Belgien). Der Typus Verfassungsstaat im ganzen ist allgemein durch die Globalisierung einerseits und Regionalisierung andererseits herausgefordert. Nur die „glückliche“ Schweiz kann sich rühmen, etwa in Sachen Schuldenbremse ein wohl für die ganze Welt vorbildliches Modell erfunden zu haben. Das „Prinzip Hoffnung“ (E. Bloch) und das Prinzip Verantwortung (H. Jonas) werden gleichermaßen relevant. Die Verfassunggeber müssen viel Kraft und Phantasie in den Umweltschutz und den Schutz des kulturellen Erbes investieren; auch sei empfohlen, den universalen Kulturgüterschutz nach dem Beispiel der Ukraine in die nationalen Verfassungen zu integrieren. Effektive Geltungsanordnungen für überregionale und universale Menschenrechtstexte dank unabhängiger Gerichtsbarkeit sind besonders wichtig. Der brasilianische Konstitutionalismus94 als Pionierbewegung in ganz Lateinamerika darf ebenso Vorbild sein wie europäische Lösungen. Europa ten will die Konjunktur beleben und denkt an „Marktwirtschaft mit mehr sozialen Elementen“, FAZ vom 30. Juni 2011, S. 11. 86 Vgl. FAZ vom 27. Mai 2011, S. 1: „G 8 wollen ‚arabischen Frühling‘ unterstützen“. 87 Bemerkenswert ist, dass die Türkei eine „letzte Warnung“ an Assad ausspricht, FAZ vom 10. August 2011, S. 1. 88 FAZ vom 04. Februar 2011, S. 4. 89 Vgl. SZ vom 09. August 2011, S. 11. 90 Vgl. Rami G. Khouri, „300 Millionen Träume von einer anderen Welt, Die arabische Revolutionen werden siegreich sein. Doch der Kampf um Freiheit und Demokratie kann Jahrzehnte dauern“, Die Zeit vom 19. Mai 2011, S. 8. 91 In Ägypten kam es zu Beginn der Revolution zu Diebstählen aus dem Antikenmuseum in Kairo, SZ vom 17. Februar 2011, S. 11; auch in Libyen drohen Plünderungen von antiken Stätten und Museen, FAZ vom 02. März 2011, S. 31; s. auch SZ vom 20. Juli 2011, S. 16: „Der Ägyptologe S. Seidlmayer über die Folgen des arabischen Frühlings für die Grabungen in Nordafrika.“ 92 Aus der Lit.: J. Zeh, Das Übergangsrecht, Zur Rechtsetzungstätigkeit von Übergangsverwaltungen am Beispiel von UNMIK im Kosovo und dem OHR in Bosnien-Herzegowina, 2011; allgemein: P. Häberle, Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen als typisch verfassungsstaatliches Regelungsthema, FS Lendi, 1998, S. 137 ff. 93 Aus der Lit.: W. Berka u. a., Verfassungsreform, Überlegungen zur Arbeit des Österreich-Konvents, 2004. 94 Ein Teilaspekt bei M. A. Maliska, Die Geschichte des brasilianischen Föderalismus, JöR 58 (2010), S. 617 ff.; G. Mendes, Die 60 Jahre des Bonner Grundgesetzes und sein Einfluss auf die brasilianische Verfassung, JöR 58 (2010), S. 95 ff.
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muss sich im eigenen Interesse, aber auch aus allgemeinen humanitären Gründen engagieren. Die UN ist als Ganzes gefordert. Bei all dem dürfen zwei Klassikertexte inspirieren: Goethes „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“, sowie Lessings „Ringparabel“ in Sachen Gleichberechtigung aller drei Weltreligionen. Vielleicht gibt es auch klassische Literatur in der arabischen Dichtung und Kunst, so wie in China etwa die Maximen eines Konfuzius95.
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Als Manuskript abgeschlossen am 12. August 2011.
III. Asien
Das koreanische Verfassungsgericht 20 Jahre seiner erfolgreichen Entwicklung, dargestellt anhand einer Vergleichsanalyse der Rechtsprechung zur Pressefreiheit des koreanischen Verfassungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts von
Rechtsanwältin Dr. jur. Barbara Wagner1 und Professor Dr. jur. Dr. h. c. Heinrich Scholler2 1. Entstehung und Entwicklung des koreanischen Gerichts Seit 1987 hat die Republik Korea eine neue Verfassung. Sie kam durch die 9. Verfassungsänderung vom 29. 10. 1987 zustande und ist mit der 6. Republik am 25. 2. 1988 in Kraft getreten. Die 9. Verfassungsänderung kann nicht nur als ein lediglich weiterer rechtsstaatlich-demokratisch klingender Verfassungstext angesehen werden. Im Unterschied zu den vorangegangenen Verfassungsänderungen seit der Staatsgründung im Jahr 1948 ist sie erstmalig aus einer Auseinandersetzung pluraler Kräfte hervorgegangen. In Korea gilt sie als die erste Verfassung, die auch von den oppositionellen politischen Kräften voll akzeptiert 3 wird und auf einem breiten Konsens des Volkes4 beruht. Im Unterschied dazu sind die vorangegangenen 8 Verfassungsänderungen zu sehen. Sie waren meistens von den jeweiligen Machthabern diktiert worden, um deren Machtposition zu festigen5.
1 Die Verfasserin war von 1990 bis 1992 als DAAD-Lektorin an der Korea-Universität tätig und hat als Beraterin des koreanischen Verfassungsgerichts auch an dessen Entwicklung teilgenommen. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen, unter anderem hat sie ein deutsch-koreanisches Rechtslexikon veröffentlicht. 2 Der Mitverfasser war 1991 ein Semester als Gastprofessor an der Sung Kyun Kwan-Universität in Seoul tätig. 3 Young Huh, Die Grundzüge der neuen koreanischen Verfassung von 1987, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 38 (1989), S. 566. 4 Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 1/1993, S. 6. 5 Vgl. Young Huh, aaO, S. 566.
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Der 9. Verfassungsänderung vorangegangen waren Ereignisse, die in der bereits über 40-jährigen koreanischen Verfassungs(änderungs)geschichte einmalig sind und als ein Anfang des lang ersehnten Demokratisierungsprozesses gelten. Ihren Anfang nahmen sie mit der Wahl zur 12. Nationalversammlung am 12. 2. 1985. Die damaligen wichtigen Oppositionsparteien NKDP (New Korea Democratic Party) und DKP (Democratic Korea Party) hatten während des Wahlkampfes die Einführung der Direktwahl des Staatspräsidenten durch die Bevölkerung 6 versprochen und die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können. Ermutigt durch diesen Wahlerfolg forderten sie7 von der Regierung und der Regierungspartei eine entsprechende Verfassungsänderung. Gepaart mit gewalttätigen Studentendemonstrationen8 wurde die politische Situation zunehmend instabiler. Am 30. 4. 1985 kündigte dann Staatspräsident Chung an, die Verfassung entsprechend den einverständlichen Vorschlägen von Regierungs- und Oppositionsparteien zu ändern. Am 24. 6. 1986 setzte die Nationalversammlung ein Komitee für Verfassungsänderung ein, das sich aber zu keinem Verfassungsänderungsvorschlag durchringen konnte. Grund waren fundamentale Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierungsund Oppositionsparteien über die Frage, wie nun das Regierungssystem unter der neuen Verfassung aussehen sollte. Der Verfassungsentwurf der Oppositionsparteien sah ein Präsidialsystem mit Direktwahl vor, der Entwurf der Regierungspartei dagegen das Parlamentssystem9. Unvermittelt am 13. 4. 1987 erklärte Präsident Chung, dass die weiteren Arbeiten an einer Verfassungsänderung während seiner noch laufenden Amtszeit ausgesetzt seien. Gründe waren eine erfolgreiche Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele in Seoul 1988 und die nächste Präsidentschaftswahl, die Präsident Chung nach wie vor nach der indirekten Wahlmethode10 durchführen wollte. Diese Erklärung von Präsident Chung mobilisierte die demokratischen Kräfte des Landes. Sie verlangten eine sofortige Verfassungsänderung. Im Juni 1987 erfassten die Massenprotestdemonstrationen, die nicht nur von Studenten und Dissidenten getragen waren, sondern auch von der mittelständischen Bevölkerung11, alle großen Städte des Landes. Diese revolutionäre Bewegung hatte nicht zuletzt auch wegen der sich zunehmend organisierenden Opposition einen derart heftig um sich greifenden Charakter erhalten, das die öffentliche Sicherheit und Ordnung im gesamten Land 6 Vorher war die Stellung des Staatspräsidenten mit der eines europäischen Königs des 18. Jahrhunderts vergleichbar, vgl. Young Huh, aaO, S. 576. 7 Nach der Wahl traten die meisten der gewählten DKP-Mitglieder der NKDP bei, so dass diese die führende Oppositionspartei im Lande wurde. 8 Nach einem Ministerialbericht an die Nationalversammlung hatten 1985 insgesamt 469.000 Studenten an 2.138 Demonstrationen teilgenommen, zitiert aus Boo-Whan Han, Major Features of the Constitution of the Sixth Republic of Korea and its Two-Year’s Implementation, in: The Justice, Korean Legal Center Seoul 1990, S. 100 Fn. 6. 9 Vgl. Boo-Whan Han, aaO, S. 100 Fn. 7. 10 Mit der 7. Verfassungsänderung im Jahr 1972 hatte Staatspräsident Park die indirekte Wahl des Präsidenten mittels Wahlmänner eingeführt. 11 Dazu zählten sich in diesen Jahren ca. 70 % der Koreaner, vgl. Wagner, aaO, in Koreana 1/1993, S. 6 Fn. 9.
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ernsthaft bedroht waren. Präsident Chung musste darauf hin nachgeben und dem Volk eine sofortige Verfassungsänderung versprechen. Mit der Verfassung von 1987 wurden die Direktwahl des Staatspräsidenten eingeführt, die Grundrechte gestärkt und ein Verfassungsgericht errichtet, das verfassungsrechtliche Streitfragen mittels besonderer verfassungsgerichtlicher Verfahren klären und die grundlegenden Rechte des Volkes schützen soll. Vor allem zwei Dinge sucht die neue Verfassung mit Hilfe des Verfassungsgerichts zu erreichen: Die Verwirklichung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Korea und die Förderung des 1987 in Gang gesetzten Demokratisierungsprozesses. Das neue Verfassungsgericht, das seine Tätigkeit am 1. 9. 1988 aufnahm, ähnelt trotz eigenständiger Regelungen in Organisation, Status und Funktion sehr stark den Verfassungsgerichtshöfen Italiens, Spaniens und Österreichs sowie dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Nach dem Fall der Sowjetunion hatten viele der neuen sich demokratisierenden Staaten Osteuropas neue Verfassungen und eigene Verfassungsgerichtsbarkeiten eingeführt12. Unter den Ländern Asiens gehört Korea zu den ersten, die das System der Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem europäischen Modell eines von den allgemeinen Gerichten unabhängigen eigenständigen Verfassungsorgans eingeführt haben13. In den 90er Jahren folgten viele andere Staaten Zentralasiens wie Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien, die Mongolei und Thailand. Auf dem afrikanischen Kontinent errichtete der südafrikanische Staat im Jahr 1996 ein Verfassungsgericht. In Lateinamerika waren es Kolumbien und Chile. Es ist nicht das erste Mal, dass in Korea ein Verfassungsgerichtssystem europäischen Typs übernommen wurde. Auch wenn sich das System der Verfassungsprüfung in Korea mit jeder Regierung änderte, besaß die Republik Korea doch immer irgendeine Form von Verfassungsgerichtsbarkeit14. So sahen die Verfassungen der 1. Republik (1948–1960), der 4. Republik (1972– 1980) und der 5. Republik (1980–1988) die Errichtung eines besonderen Verfassungsrates für Verfassungsgarantien vor, der neben anderen Kompetenzen auch über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die die in der Verfassung garantierten Grundrechte verletzen, zu entscheiden hatte. Dieser Verfassungsrat entfaltete in der Anfangsphase der 1. Republik gewisse Aktivitäten. Es gab allerdings nur im Jahr 1952 zwei Fälle, in denen der Verfassungsrat Gesetze für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte. Danach war über 15 Jahre kein einziger Fall mehr beim Verfassungsrat anhängig gemacht worden15. Die Verfassung der 2. Republik (1960–1972) sah die Errichtung eines Verfassungsgerichtes als Hüter der Verfassung vor. Infolge des Militärputsches von 1961 war die
12 Zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den osteuropäischen Staaten siehe Georg Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Band 53, Verlag W. Kohlhammer, Heidelberg 1993. 13 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, Hrsg.: Verfassungsgericht der Republik Seoul 2008, S. 66. 14 Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 1/1993, S. 7. 15 Young Huh, aaO, S. 580 Fn. 42, 43.
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Verfassung jedoch außer Kraft gesetzt, bevor dieses Verfassungsgericht errichtet werden konnte. Die Verfassung der 3. Republik (1961–1972) sah nach amerikanischem Vorbild ein verfassungsgerichtliches Überprüfungssystem durch den Obersten Gerichtshof dergestalt vor, dass es endgültig in den Rechtsfällen, in denen es um die Frage ging, ob ein Gesetz die Verfassung verletzt oder nicht, entscheiden sollte16. Insgesamt verhielt sich der Oberste Gerichtshof jedoch bei Verfassungwidrigerklärungen von Gesetzen sehr zurückhaltend. Lediglich am 22. 6. 1971 befand er erstmalig 2 Gesetzesregelungen als verfassungswidrig und nichtig. Diese Entscheidung war im ganzen Land von Anwälten und Wissenschaftlern als Sensation gepriesen worden. Allerdings hoffte man vergeblich, dass sich von nun an die Judikative aktiver für den Schutz von Rechten und Freiheiten gegenüber Missbräuchen der öffentlichen Gewalt einsetzen werden würde. Die Regierung und die Regierungsparteien hatten nämlich die Judikative gebrandmarkt, die „Lage der Nation nicht verstanden zu haben“17. Alle historischen Vorgänger des neuen Verfassungsgerichtes hatten über 40 Jahre somit keine großen Aktivitäten entfaltet oder entfalten können. Sie waren lediglich „schlafende“18 oder gar „im Sterben liegende“19 Verfassungsorgane gewesen. Das neue Verfassungsgericht kann dennoch nicht nur als bloßer Nachfolger der vorangegangenen Verfassungsorgane wie z. B. des ehemaligen Verfassungsrates gesehen werden. Angesichts seiner Entstehungsgeschichte und vieler Einzelaspekte ist es vielmehr ein eigenständiges neu geschaffenes Verfassungsorgan 20. Das Verfassungsgericht zählt zu den obersten Verfassungsorganen, das im gleichen Rang mit den Verfassungsorganen Parlament, Regierung und Oberster Gerichtshof steht21. Aufgrund der Kompetenz des Verfassungsgerichtes im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit die Machtausübung der anderen Staatsorgane (außer der Judikative) in die verfassungsmäßigen Schranken zu verweisen, bezeichnet sich das Verfassungsgericht als „vierte“ Staatsgewalt, im Unterschied zu den traditionellen 3 Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative22. Die nachfolgende Darstellung behandelt zunächst die strukturellen und kompetenzmäßigen Veränderungen des koreanischen Verwaltungsgerichts durch seine Neugestaltung. Der Unterschied dieses Gerichts im Vergleich zu den ausländischen Vorbildern liegt u. a. gerade darin, dass gegenüber dem amerikanischen Vorbild die koreanische Kontrolleinrichtung sich besonders mit Wirtschaft, Wettbewerb und Eigentum beschäftigt, während gegenüber dem deutschen Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit mehr die kommunikativen und persönlichen Menschenrechte im Vor16 „In case that a question whether a statute violates the Constitution or not arises in pending cases, the Supreme Court should fi nally decide“ zitiert aus Dong-Heub Lee, The influence of the American Constitution of Korean Constitutional Law, in: The Justice 1987, Vol. 20, S. 170. 17 Dong-Heub Lee, aaO, S. 170. 18 Young Huh, aaO, S. 580. 19 Vgl. Constitutional Justice in Korea, Hrsg.: Verfassungsgericht der Republik Korea, Seoul 1990, S. 10. 20 Vgl. Constitutional Justice in Korea, aaO, S. 12. 21 Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 1/1993, S. 9. 22 Young Huh, Die Grundzüge der neuen koreanischen Verfassung von 1987, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 38, 1989, S. 581.
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dergrund stehen. Grund dafür ist wohl vorwiegend der Umstand, dass die neue koreanische Lösung keine Verfassungsbeschwerde gegen höchstrichterliche Entscheidungen zulässt. Dabei kann es offenbleiben, ob gegenüber der höchsten richterlichen Gewalt eine Verbeugung vorliegt, die den Respekt vor einer souveränen Staatstätigkeit ausdrücken soll, ähnlich der Zurückhaltung der französischen Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Gesetzgeber, oder ob man hier nur Streitigkeiten zwischen höchstrichterlichen Gewalten vermeiden wollte. Im weiteren Verlauf soll nach der Darstellung der Strukturen und Kompetenzen ein Blick auf die Behandlung der Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit getan werden, um einen gewissen Vergleich zwischen beiden Einrichtungen in ihrer Beziehung auf die Demokratieverwirklichung zu erhalten.
2. Zuständigkeiten des koreanischen Verfassungsgerichtes und Statistik Das koreanische Verfassungsgericht ist zuständig für die Verfassungsbeschwerde, das konkrete Normenkontrollverfahren, die Organstreitigkeit, das Parteiverbotsverfahren und die Staatsanklage. Von den 5 verschiedenen Verfahren, die dem Verfassungsgericht übertragen sind, beschränkt sich die heutige Prüfung auf die Verfassungsbeschwerde. Unter dem Blickpunkt des Individualschutzes ragt die Verfassungsbeschwerde als die bedeutendste Zuständigkeit des Verfassungsgerichtes heraus. Auch in Korea gilt wie für die meisten Länder, in denen ein Verfassungsgericht eingerichtet ist, dass die Verfassungsbeschwerde den größten Anteil an allen am Verfassungsgericht anhängigen Verfahren ausmacht: Von den seit Beginn im September 1988 bis Dezember 2007 insgesamt anhängig gemachten 15.716 Verfahren betrafen laut der offiziellen Statistik des Verfassungsgerichtes allein 15.102 Verfassungsbeschwerden. Entschieden waren 14.221 Verfassungsbeschwerden und 881 Verfahren noch anhängig (pending). 5.981 Verfassungsbeschwerden wurden von den Vorabprüfungskammern (Designated Panels) nicht zur Entscheidung angenommen, 1.233 Verfassungsbeschwerden wurden vom Plenum (Full Bench) als unzulässig abgewiesen (dismissed). 407 Verfassungsbeschwerdeführer hatten ihre Anträge zurückgezogen (withdrawn). Dem Begehren wurde in 279 Fällen statt gegeben (Request granted). In 5.169 Fällen wurde das Klagebegehren zurückgewiesen (Request rejected). Die Verfassungswidrigkeit wurde in 187 Fällen festgestellt (Unconstitutional). In 68 Verfassungsbeschwerden erkannte das Plenum die Nichtvereinbarkeit mit der Verfassung (Nonconformity to the Constitution) an, in 33 Fällen die beschränkte Verfassungswidrigkeit (Limited Unconstitutionality) und 21-mal die beschränkte Verfassungsmäßigkeit (Limited Constitutionality). 839 Verfassungsbeschwerden waren unbegründet (Constitutional).
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3. Die koreanische Verfassungsbeschwerde im Einzelnen im Vergleich mit dem deutschen Recht Jedermann, der durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in einem verfassungsgeschützten Grundrecht verletzt worden ist, kann beim Verfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde erheben. Ausgenommen sind Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen der Verletzung ihres Rechtes auf Selbstverwaltung23. Solche kennt die koreanische Verfassung nicht. Ebenfalls ausgenommen sind Verfassungsbeschwerden gegen Akte der rechtsprechenden Gewalt. Das Verfassungsgerichtsgesetz betont einerseits das Subsidiaritätsprinzip, andererseits aber schließt es grundsätzlich aus, dass gegen Justizakte eine Verfassungsbeschwerde erhoben werden darf. Aufgrund dieser Ungereimtheit, die Ausfluss eines missverstandenen Prestigedenkens der Judikative ist, sind Verfassungsbeschwerden gegen Akte der rechtsprechenden Gewalt und damit de facto auch Akte der vollziehenden Gewalt, gegen die der Rechtsweg offen steht, prinzipiell ausgeschlossen. Übrig bleiben nur Akte der Legislative und Akte der Staatsanwaltschaft, gegen die der Rechtsweg nicht offen steht. Die Mitautorin des heutigen Beitrages meinte deshalb vor 20 Jahren, dass die Verfassungsbeschwerde in Korea wohl kaum in der Lage sein würde, ihre Aufgabe erfüllen zu können 24. Dieser Systemfehler ist im Grunde genommen kein Zufall, sondern auf den Obersten Gerichtshof der Republik Korea zurückzuführen. Dieser hatte sich energisch dagegen gewehrt, dass das neu einzurichtende Verfassungsgericht ihm nicht nur Kompetenzen „wegnimmt“, sondern auch noch die Stellung einer „Primadonna“25 innerhalb der Rechtssprechungsgewalt einnimmt. Vergeblich hatten namhafte Staatsrechtler davor gewarnt, dass ein Prestigekampf zwischen dem Obersten Gerichtshof und dem Verfassungsgericht in der Arena der Verfassungsbeschwerde fehl am Platz sei26. Die Einlegung der Verfassungsbeschwerde ist an Fristen gebunden. Ist gegen die Rechtsverletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtsweges eingelegt werden. Desweitern bestehen strenge Formvorschriften. Dazu gehören Anwaltszwang und Vorschusszahlung innerhalb einer bestimmten Frist. Das koreanische Verfassungsgericht entwickelte vor 20 Jahren die 3 folgenden Grundsätze der Verfassungsbeschwerde: 1) Die Verfassungsbeschwerde kann gegen Gesetze erhoben werden, wenn der Beschwerdeführer durch das Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist. Es bedarf also keines eigenen, besonderen Vollziehungsaktes mehr. Die hierzu ergangene Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichtes vom 17. 3. 1989 dürfte von der Rechtssprechung des deutschen Verfassungsgerichtes beeinflusst worden sein 27. Wie der Mitautorin 2010 mitgeteilt wurde, war die einschlägige 23 24 25 26 27
Vgl. in Deutschland Art. 93 I Nr. 4b GG. Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 2/1993, S. 6. Young Huh, die neue koreanische Verfassung, aaO, S. 572. Vgl. Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 2/1993, S. 13. Vgl. z. B. BVerfGE 1,97 (101 f.).
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Bestimmung des koreanischen Verfassungsgerichtsgesetzes (kVerfGG), nämlich § 90 Abs. 1, unter dem Einfluss des deutschen VerfGG (§ 68 Abs. 1) eingeführt worden. 2) Es kann Verfassungsbeschwerde gegen Unterlassen des Gesetzgebers erhoben werden, wenn der Gesetzgeber trotz einer ausdrücklich verfassungsrechtlichen Verpfl ichtung zu einer Gesetzgebung zur Verwirklichung der Grundrechte dieser Pfl icht nicht nachkommt28. In Deutschland können nur bestehende Rechtsvorschriften, bei denen also das Gesetzgebungsverfahren durch die Verkündung abgeschlossen ist, auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Eine vorbeugende Normenkontrolle kennt das BVerfG nicht. Ausgenommen sind Gesetze, durch die dem Abschluss von Verträgen mit anderen Staaten zugestimmt wird (Art. 59 II GG). Hier ist die Normenkontrolle schon vor der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und der Verkündung zulässig. Vorausgesetzt ist, dass das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen ist. 3) Gegen Akte der Staatsanwaltschaft, die trotz eines berechtigten Strafantrages oder einer Privatklage von der Erhebung der öffentlichen Klage absieht, kann Verfassungsbeschwerde erhoben werden, wenn der Beschwerdeführer dadurch selbst und gegenwärtig in einem seiner Grundrechte verletzt worden ist29. Hier hat sich seit 2007 die Verfassungsgerichtspraxis erheblich verändert. Die frühere „Beschwerdeflut“ im Zusammenhang mit der staatsanwaltlichen Klageerhebung lag eigentlich daran, dass für die Strafprozessordnung Koreas das Opportunitätsprinzip gilt und das Klageerzwingungsverfahren nur auf einige Amtsdelikte begrenzt war. Mit der Reform der koreanischen StPO im Jahr 2007 wurde der Umfang des Klageerzwingungsverfahrens deutlich erweitert, so dass es nur noch im Ausnahmefall Verfassungsbeschwerden gegen Akte der Staatsanwaltschaft geben wird. Sofern die 3 Vorabprüfungskammern (Petty Benches) die Annahme nicht ablehnen, entscheidet das Plenum des Verfassungsgerichtes (Grand Bench) über die Verfassungsbeschwerde. Nicht vorgesehen ist der Erlass von einstweiligen Anordnungen, was bereits vor 20 Jahren als Gesetzeslücke bezeichnet wurde30. Die Verordnung zum verfassungsgerichtlichen Verfahren vom 7. 12. 2007 regelt in § 50 nunmehr die allgemeine Möglichkeit der einstweiligen Anordnung. Über die entsprechende Änderung des koreanischen VerfGG wird zur Zeit diskutiert. Die Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich, wenn mindestens 6 der 9 Verfassungsrichter sie für zulässig und begründet halten. Wird der Verfassungsbeschwerde gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt stattgegeben, so hebt das Verfassungsgericht den Akt auf. Bei einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Unterlassung stellt das Gericht die Verfassungswidrigkeit der Unterlassung fest. Bei Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz wird das Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtes binden alle Gerichte, Behörden und Körperschaften der kommunalen Selbstverwaltung. 28
So die Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichtes vom 17. 3. 1989. So die Entscheidung des Verfassungsgerichtes vom 17. 4. 1989. 30 Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 2/1993, S. 6; vgl. Young Huh, aaO, S. 584. 29
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Mit einer Einschränkung bei der Verfassungswidrigkeitserklärung kennt die koreanische Verfassungsbeschwerde wie bei der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG 4 Entscheidungsformen: 1) Die verfassungskonforme Entscheidung, das heißt, das Gesetz ist verfassungsmäßig. 2) Die Verfassungswidrigkeit. Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz oder der Teil eines solchen tritt am Tag der Verkündung außer Kraft (ex nunc Wirkung). Mit der Entscheidung für die ex nunc Wirkung sollen die Rechtssicherheit vergrößert und die Probleme mit Gesetzen, die bereits seit langen Jahren in Kraft sind und nun für nichtig erklärt werden, umgangen werden. Ausgenommen sind Strafgesetze. Sie sind mit ex tunc Wirkung nichtig. Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer für verfassungswidrig erklärten Norm beruht, ist die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zulässig. 3) Die Unvereinbarkeit. Danach bleibt das Gesetz für einen befristeten Zeitraum weiterhin in Kraft und verbindliches Recht. Dies ist vergleichbar mit der deutschen Appellentscheidung. Die Unvereinbarkeitserklärung kam erstmals in der Entscheidung des Verfassungsgerichtes vom 8. 9. 1989 über die Verfassungswidrigkeit der Art. 33, 34 des Wahlgesetzes zur Nationalversammlung zum Tragen, wo die Folge einer Verfassungswidrigkeitserklärung mit ex nunc Wirkung gewesen wäre, dass dann die meisten Parlamentsmitglieder aufgrund eines nichtigen Wahlgesetzes gewählt gewesen wären. Das wollte man vermeiden und erklärte die beiden Artikel des WahlG zwar für verfassungswidrig, aber als rechtswirksam bis Mai 199131. 4) Die beschränkt verfassungskonforme Entscheidung. Das Gesetz bleibt bei bestimmter Auslegung verfassungskonform („soweit“; vergleichbar mit der verfassungskonformen Interpretation). Das koreanische Verfassungsgericht kann den eigenen Angaben in seiner Website zufolge eigene frühere Entscheidungen modifizieren und nennt dazu zwei Beispiele aus der vierten Amtsperiode: Die Entscheidung des Gerichtes vom 28. Juni 2007, in der es das Wahlgesetz, das die Wahlrechte von im Ausland lebenden Koreanern einschränkte, für verfassungswidrig erklärte, weil es das Recht des Volkes zu wählen und zur Gleichbehandlung verletzte. Diese Entscheidung hob ein Verfassungsgerichtsurteil auf, das 8 Jahre zuvor die Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes festgestellt hatte. Ebenso hob das Verfassungsgericht am 30. August 2007 eine frühere Verfassungsgerichtsentscheidung auf, in der das „Gesetz zur zivilrechtlichen Haftung für nachlässig verursachte Feuerschäden“ für verfassungsgemäß erklärt worden war, und entschied jetzt auf dessen Verfassungswidrigkeit 32. Das Bundesverfassungsgericht hat im Bereich der Verfassungsbeschwerde doch eine Reihe von Abweichungen gegenüber dem koreanischen Recht aufzuweisen: Die Verfassungsbeschwerde kann sowohl gegen letztinstanzielle Gerichtsentscheidungen als auch als sog. „kommunale Verfassungsbeschwerde“ nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 gegen Akte der Gemeinden erhoben werden. Auch war die einstweilige Anordnung immer auch im Rahmen von Verfassungsbeschwerden nach deutschem 31 32
Vgl. dazu Wagner, Das koreanische Verfassungsgericht in: Koreana 2/1993, S. 11. Siehe www.english.court.gv.kr/Jurisdiction/FAQ (2. 6. 2009).
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Recht zulässig. Im Wesentlichen sind aber die prozessualen Möglichkeiten des deutschen Verfassungsgerichts demjenigen des koreanischen ähnlich. Auch im deutschen Recht gilt grundsätzlich die Nichtigkeitsentscheidung ex nunc, und nur im Strafrecht wird eine ex tunc Entscheidung angenommen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist entweder eine kassatorische oder eine feststellende. Kassatorische Entscheidungen sind solche, die eine Entscheidung, einen Verwaltungsakt oder eine Rechtsnorm auf heben oder ihre spätere Aufhebung anordnen. Wird eine spätere Auf hebung angeordnet, bzw. der Beklagte zur späteren Auf hebung verurteilt, liegt eine sogenannte Appell-Entscheidung vor. Auch insofern liegt eine wichtige Ähnlichkeit zum koreanischen Recht vor. Neben diesen kassatorischen Entscheidungen sind die Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Beschwerdeverfahren auch als feststellende Entscheidungen denkbar. In diesen Fällen wird die Feststellung der Gültigkeit oder Nichtigkeit einer Maßnahme getroffen. Wendet sich die Beschwerde gegen das Unterlassen der öffentlichen Gewalt, dann ist, ähnlich wie im koreanischen Recht, nur ein Feststellungsurteil oder ein Feststellungsbeschluss denkbar. Das Gericht wählt die Form des Beschlusses oder die des Urteils, je nachdem, ob das Verfahren ohne mündliche Verhandlung oder mit mündlicher Verhandlung geendet hat33. Auch die im koreanischen Recht eingeführte Praxis und Theorie der einschränkenden Interpretation einer gesetzlichen Bestimmung ist im deutschen Verfassungsbeschwerdeverfahren üblich und gilt auch als durchaus legitim, weil die Rechtsfortbildung dadurch gefördert wird.
4. Grundrechtsentscheidungen des koreanischen Verfassungsgerichts von 1988 – 2006 Da die Errichtung des Verfassungsgerichtes zum ersten Mal das Ergebnis eines Kompromisses zwischen der herrschenden Partei und der Oppositionsparteien war, kam es dieses Mal ganz entscheidend darauf an, ob sich das neue Gericht – wie alle seine Vorgänger – nur in abstrakten Theorien ergehen würde, sondern ob es seine Aufgabe, Hüter der Verfassung zu sein, wirklich mit Leben würde erfüllen können. Die erste Amtsperiode des Verfassungsgerichtes, die vom 14. September 1988 bis 1994 dauerte, war deshalb davon geprägt, aus dem Schatten der früheren Verfassungsorgane zu treten und die Hoffnungen des Volkes, endlich mit dem Verfassungsgericht einen unabhängigen Hüter der Verfassung zu haben, der nicht nur auf dem Papier stand, zu erfüllen. Die ersten beachtenswerten Entscheidungen des jungen Verfassungsgerichtes betrafen eine Serie von Entscheidungen, die Gesetze, die die körperliche Unversehrtheit (bodily freedom) 34 verletzt hatten, zu Fall brachten35. Desweitern ergingen wichtige Entscheidungen, die die Meinungsfreiheit (freedom of expression) und das Recht 33
Christoph Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, C. F. Müller Verlag, Heidelberg 1988. Der Begriff „Bodily freedom“ ist wie in Art. 2 Abs. 2 GG als „körperliche Unversehrtheit“ zu verstehen. 35 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 179. 34
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an politischer Beteiligung (right to participate in government) erweiterten, beides essentielle Rechte zur Festigung einer Demokratie36. Im Bereich der wirtschaftlichen Freiheit (economic liberty) und der Eigentumsrechte, trug die erste Amtsperiode des Verfassungsgerichtes mit einigen Entscheidungen zum Schutz der grundlegenden Rechte des Volkes bei. So bestätigte das Gericht das Prinzip der freien Wirtschaftsordnung und die Notwendigkeit für den Staat, die wirtschaftlichen Freiheiten seiner Bürger zu respektieren und sich von allzu exzessiven Einschränkungen fernzuhalten. Andererseits betonte das Gericht aber auch die öffentlichen und sozialen Aspekte der wirtschaftlichen Betätigung und der Eigentumsrechte, indem es klarstellte, dass die Ausübung der grundlegenden Rechte des Einzelnen auch gewissen sozialen Beschränkungen unterliegt. Insbesondere bei der wirtschaftlichen Betätigung und den Eigentumsrechten, die sich stark auf die Freiheiten anderer Leute auswirken, unterstrich das Verfassungsgericht die Notwendigkeit einer staatlichen Regulierung als Vorbedingung dafür, dass jedermann seine Rechte effektiv ausüben kann37. Andere Entscheidungen waren Präzedenzfälle zur Stärkung des Rechtes auf gerichtliche Überprüfung (peoples right to trial) oder wichtige Entscheidungen zum Erwachsenenstrafrecht und zur bevorzugten Einstellung von Abgängern der nationalen oder öffentlichen Lehrerschulen38. Die zweite Amtperiode begann am 15. September 1994. Das Gericht der ersten Amtsperiode war in der Folgezeit rasant schneller sozialer Veränderungen eingerichtet worden, so dass seine größten Anstrengungen darin gelegen hatten, Gesetze zu heilen, die sich in langen Jahren autoritärer Regime angehäuft hatten und deren Verfassungsmäßigkeit relativ leicht beurteilt werden konnte. Demgegenüber musste sich das Gericht der zweiten Amtsperiode überwiegend mit Fällen befassen, deren Verfassungsmäßigkeit zu bestimmen wesentlich schwieriger war und die differenziertere Analysen erforderte39. Gleich zu Beginn musste das Gericht über einige politische Fälle entscheiden, die die Aufmerksamkeit der Medien und des Volkes auf sich gezogen hatten und alles Nebenprodukte des vergangenen Regimes waren. So war z. B. eine Verfassungsbeschwerde eingelegt worden, die die Entscheidung der Staatsanwälte, die beiden früheren Staatspräsidenten Chun Doo-Hwan und Roh Tae-Woo und andere in den militärischen Staatsstreich vom 12. Dezember 1979 involvierten Personen40 nicht anzuklagen, in Frage stellte. Die Kampagne „Bereinigung der Vergangenheit“ setzte sich fort in einer Serie ähnlicher Infragestellungen von unterlassenen Anklageerhe36
Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 181. Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 183, 185. 38 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 188, 190. 39 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 192. 40 Als nach fast 20jähriger Alleinherrschaft Präsident Park Chung-Hee erschossen wurde, öffnete sich die Gelegenheit das Land demokratisch zu reformieren. Chong Sun-Ho, der damalige Chef des Generalstabs der Armee, hatte gefordert, dass das Militär von Grund auf reformiert und dabei die Politik vom Militär gereinigt werden müsse. Eine Clique von 9 Militärkräften, zu der die späteren Präsidenten Chun Doo-Hwan und Roh Tae-Woo gehörten, stellte einen detaillierten Plan für einen Staatsstreich auf. Am 12. Dezember 1979 verhafteten sie Chong Soo-Ah, den Kopf der Reformbewegung, und rissen durch die Mobilisierung von Streitkräften die Macht an sich. 37
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bungen gegen die an dem Massaker vom 18. Mai 198041 beteiligten Personen. Sie kam schließlich zu einem Abschluss, als das Gericht das „Sondergesetz zur Mai Demokratisierungsbewegung“ (Special Act on the May Democratization) bestätigte, das den Status der Immunität der in den Militärputsch Involvierten auf hob42. Abgesehen von diesen beiden Fällen, die sich auf die historischen Ereignisse vom 12. Dezember 1979 und 18. Mai 1980 bezogen, verkündete das Gericht einige Entscheidungen zu grundlegenden Prinzipien der Demokratie wie dem Rechtsstaatsprinzip und dem Allgemeinwohl (public welfare). In einer Entscheidung, die maßgeblich das Verhältnis des Verfassungsgerichtes zu den ordentlichen Gerichten beeinflusste, revidierte das Verfassungsgericht Art. 68 Absatz 1 des Verfassungsgerichtsgesetzes, der die Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen Akte der rechtsprechenden Gewalt regelte 43. Während die ersten beiden Amtsperioden des Verfassungsgerichtes noch als Zeit der Festigung für das Verfassungsgericht (period of entrenchment for the court) angesehen werden können, war die dritte Amtsperiode eine Periode des „Take off “, in der das Verfassungsgericht ein bemerkenswertes Wachstum sowohl in Quantität als auch Qualität seiner Entscheidungen erreichte. Sie begann am 14. September 2000 mit der Amtseinführung von Yun Young-Chul als neuem Verfassungsgerichtspräsidenten. Das Gericht konnte nicht nur die Entscheidungen der vorangegangenen Perioden zum Schutz der grundlegenden Rechte ausbauen, sondern auch wichtige Entscheidungen fällen, die die Prinzipien des Konstitutionalismus und der grundlegenden Rechte in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft verbreitete (spread to), die zuvor jenseits der Reichweite einer verfassungsmäßigen Kontrolle gewesen waren. Vielleicht das herausragendste Charakteristikum der dritten Amtsperiode ist die Tatsache, dass das Verfassungsgericht mitten in hoch politische Kontroversen und Diskussionen hinein gezogen wurde, in dem es um Entscheidung in Fällen gefragt wurde, die notwendigerweise die politische Meinung spalteten. Der Fall der Amtsenthebung des Staatspräsidenten, das erste Mal in der Geschichte Koreas, und der Fall zur Einführung eines neuen „Verwaltungskapitals“, über das die politischen Interessen des Volkes scharf geteilt waren, wurden vom Verfassungsgericht unter dem wachsamen Auge der gesamten Nation entschieden. Dadurch, dass das Gericht in diesen beiden Fällen schnell und fair entschied, trug es maßgeblich dazu bei, die große Kluft in der öffentlichen Meinung zu minimieren44. Einerseits kann man die dritte Amtsperiode als die Amtsperiode des Verfassungsgerichtes ansehen, die durch ihre friedfertige und systematische Rechtsprechung (peaceful and orderly adjudication) in den genannten politischen Fällen das Ansehen des Verfassungsgerichts als des letzten Verteidigers der Verfassung wieder hergestellt hat. Andererseits haben diese Entscheidungen auch zu leidenschaftlichen Diskussionen über das richtige Verhältnis zwischen dem System der verfassungsrechtlichen 41 Volksaufstand am 18. Mai 1980 in Gwangju gegen die damalige Militärdiktatur Südkoreas. Der Aufstand endete in einem furchtbaren Massaker mit vielen Opfern. Heute ist der 18. Mai ein offi zieller Gedenktag: Zeichen für die fortschreitende Demokratisierung des Landes. 42 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 193. 43 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 202 f. 44 Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 205.
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Entscheidung einerseits und den Prinzipien einer repräsentativen Demokratie und ihrer mehrheitlichen Gesetzgebung andererseits angeregt. Laut eigener Aussage erhielt das Verfassungsgericht während seiner dritten Amtsperiode stets die besten Ergebnisse in Umfragen, die von den Medien durchgeführt wurden und in denen das Volk danach befragt wurde, welche staatlichen Einrichtungen sie am vertrauenswürdigsten und einflussreichsten hielten. In weniger als 20 Jahren seit seiner Errichtung hatte es damit das Verfassungsgericht geschafft, als wahrhafter „Hüter der Verfassung“ angesehen zu werden45. Ausblick: Die vierte Amtsperiode begann am 15. 9. 2006. Der Ausschuss für Verfassungsfragen präsentierte in 2009 Vorschläge zu einer grundlegenden Verfassungsreform. Zu den Änderungsvorschlägen gehören die Möglichkeit, den Präsidenten wieder wählen zu können, seine Amtszeit auf vier Jahre zu verkürzen und das Amt des Vizepräsidenten einzuführen. Außerdem soll ein gemischt präsidial-parlamentarisches Regierungssystem eingeführt werden, bei dem sich Staatspräsident und Ministerpräsident mehr Aufgaben teilen, um einer Zentralisierung der Macht vorzubeugen. Präsident Lee Myung-Bak sprach sich für eine begrenzte Änderung der Verfassung aus, in der auch verwaltungs- und Wahlkreise umgestaltet werden. Eine grundlegende Änderung sei seiner Meinung nach kaum möglich. Die regierende Partei GNP erklärte, sich mit der Verfassungsreform auseinander setzen zu wollen, damit sie bis zum ersten Halbjahr 2010 vollendet werden kann. Auch die Oppositionspartei DP kündigte einen Änderungsvorschlag an, sprach sich aber dafür aus, das Anliegen erst nach den Kommunalwahlen im Juni 2010 zu erörtern, da unter den Bürgern noch keine breite Zustimmung zu finden sei46. In Bezug auf die Meinungs- und Pressefreiheit in Korea könnten evtl. die neuen Mediengesetze zu einem Schwerpunkt der gerichtlichen und der verfassungsgerichtlichen Tätigkeit werden. Am 22. 7. 2009 hatte das koreanische Parlament die neuen Mediengesetze gebilligt. Dabei hatte die Regierungspartei GNP im Alleingang die Änderung des Zeitungs-, Rundfunk- und Internetfernsehengesetzes beschlossen. Jetzt ist es Zeitungsverlagen und Großunternehmen möglich, ins Rundfunkgeschäft einzusteigen. Sie können Anteile von bis zu 10 Prozent an einer Rundfunkgesellschaft und bis zu 30 Prozent an einem Internetfernsehen – oder Nachrichtensender halten. Heftiger Protest war der Billigung der Mediengesetze voraus gegangen. Unter anderem besetzten rund 40 Abgeordnete der Regierungspartei und der oppositionellen Partei DP über Nacht den Hauptsaal des Parlaments. Die DP wollte damit verhindern, dass der Parlamentspräsident von seinem Recht Gebrauch machte, das umstrittene Gesetz direkt zur Abstimmung zu bringen, und die GNP wollte verhindern, dass die Opposition den Sitzungssaal blockierte. Außerdem rief die Mediengewerkschaft einen Generalstreik aus. Schließlich legte der Parlamentspräsident ohne Einwilligung des zuständigen Ausschusses den Gesetzesentwurf der Vollversammlung zur Abstimmung vor. Es kam zu Handgreifl ichkeiten zwischen den Abgeordneten, bei denen mehrere Personen verletzt wurden. Die DP kehrte nach tagelangen außerparlamentarischen Protesten ins Parlament zurück und entschied sich damit 45 46
Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 205. Hanns-Seidel-Stiftung Quartalsbericht III/2009.
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gegen einen Boykott der Sitzungen. Bürgerorganisationen kündigten an gegen das Gesetz rechtliche Schritte einzuleiten47. Es bleibt abzuwarten, ob es bei der Ankündigung bleiben wird.
5. Entscheidungen zur Pressefreiheit a) Im koreanischen Recht Insgesamt 16 Entscheidungen befassten sich in den ersten drei Amtsperioden des koreanischen Verfassungsgerichtes mit der Pressefreiheit. Dabei konnte das Verfassungsgericht vor allem in seiner dritten Amtsperiode die Pressefreiheit sehr stärken. Beispiele hierfür sind die Entscheidung der Verfassungswidrigkeit bei der vom „Korea Media Ratings Board“ geübten Praxis des Unterlassens einer Filmbewertung (practice of withholding of rating) und die Entscheidung des Verfassungsgerichtes, die das Verbot der „unangemessenen Kommunikation“ im Internet auf hob48. In seiner Entscheidung vom 4. Oktober 199649 (während der zweiten Amtsperiode) hatte das Gericht das System der Vorabprüfung von Filmen durch das „Public Performance Ethics Committee“ als Vorzensur für ungesetzlich erklärt. In seiner Entscheidung vom 30. August 200150 entschied das Verfassungsgericht darüber hinaus, dass das System, Filme (trotz Antrag) nicht zu bewerten, gegen die Verfassung verstieß. Dieser Fall betraf die Verfassungsmäßigkeit des Film Promotion Gesetzes, das nach einer vorangegangenen Entscheidung, in der das Verfassungsgericht dieses System der Nichtprüfung von Filmen bereits für verfassungswidrig gehalten hatte, erneut überprüft wurde. Gemäß dem Film Promotion Gesetz war die Vorführung eines Filmes ohne Rating des Korea Media Ratings Board verboten. Verstöße dagegen wurden strafrechtlich verfolgt. Da es jedoch keine Begrenzungen dazu gab, wie oft der Media Ratings Board den Antrag, ein solches Rating vorzunehmen, zurückweisen konnte, konnte dieses Gremium die Vorführung eines Filmes de facto für immer verhindern, in dem es sich einfach stets weigerte, den Film zu bewerten. Das Verfassungsgericht hielt dieses Fehlen von Begrenzungen für verfassungswidrig, da damit eine Vorzensur eingerichtet wurde51. Am 26. Januar 2002 änderte die Nationalversammlung die Bestimmungen im Motion Pictures Industry Gesetz entsprechend der Entscheidung des Verfassungsgerichtes. Das überarbeitete Gesetz setzte die Möglichkeit, eine Filmbewertung zu unterlassen außer Kraft und führte das Rating „nur für beschränkte Vorführung“ ein. Alle Filme mit dieser Bewertung durften nur in eigens dafür bestimmten Filmhäusern (restricted theatres) gezeigt werden52. Im Fall des Telekommunikationsgeschäftsgesetzes (Telecommunications Business Act) hielt das Verfassungsgericht das Verbot der Internetkommunikation, deren In47 48 49 50 51 52
Hanns-Seidel-Stiftung Quartalsbericht III, 2009. Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 204. Motion Pictures Pre-Inspection Case, 8–2 KCCR 212, 93 Hun-Ka 13 et al, Oct. 4, 1996. Motion Pictures Rating Case, 13–2 KCCR 134, 2000 Hun-Ka 9, Aug. 30, 2001. Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 206. Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 237.
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halte „den öffentlichen Frieden oder die soziale Moral und guten Sitten gefährdeten“ für verfassungswidrig. Es erklärte auch diejenige Bestimmung als verfassungswidrig, die den Minister für Information und Kommunikation ermächtigte, Internet Provider zurückzuweisen und die Kommunikation über das Internet einzuschränken. Indem das Gericht ausführte, dass dies zu einer Verletzung der freien Meinungsäußerung (freedom of expression) führen würde, erkannte es die neuen Kommunikationsmedien durch ihr Einbeziehen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit effektiv an53. Nach dieser Entscheidung änderte die Legislative am 26. Dezember 2002 das Telekommunikationsgeschäftsgesetz und hob die verbotenen Inhalte auf, indem sie die Bezeichnung der „unangemessenen Kommunikationen“ (unsound communications) durch die Formulierung „gesetzeswidrige Kommunikationen“ (illegal communications) ersetzte. Mit der Gesetzesänderung wurde darüber hinaus auch ein ordentlicher Verfahrensschutz für jede Person eingeführt, die dem regulierenden Regierungshandeln ausgesetzt war, indem sie ein Recht auf Anhörung erhielt. Diese Entscheidung wurde von der Wissenschaft sehr begrüßt und von der Koreanischen Gesellschaft für Medienrecht, Ethik und Methodenforschung zur Entscheidung des Jahres ernannt54.
b) Im deutschen Recht Der Inhalt des Schutzbereiches der Pressefreiheit nach deutschem Recht bestimmt sich nicht nach dem Inhalt, sondern nach dem Herstellungsverfahren (Pressedruck). Umstritten ist, ob auch andere Träger wie Schallplatten, CDs usw. unter den Begriff der Pressefreiheit fallen. Die Gewährleistung reicht „von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen“55. Der Schutz umfasst auch die Äußerung von Tatsachen, so z. B. auch Anzeigen und Werbung in der Presse56. Es besteht aber eine Wahrheits- und Nachforschungspfl icht. Dies sagt aber noch nichts darüber aus, inwieweit eine falsche Nachricht den Schutz der Pressefreiheit genießt. Die Ansichten hierfür reichen von erwiesen oder bewusst57, über zusätzlich der Differenzierung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit58, bis hin zu offensichtlich unwahr59. Grundrechtsberechtigt sind „alle im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen“60 (Spiegelentscheidung). Pressefreiheit ist ein Abwehrrecht gegen den Staat. Sie hat aber auch eine objektive Seite als institutionelle Garantie. Die Presse fungiert in der repräsentativen Demokratie als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen Volk und Parlament 53
Ban on Improper Communication on the Internet, 14-1 KCCR 616, 99 Hun-Ma 480, June 27,
2002. 54 55 56 57 58 59 60
Twenty Years of the Constitutional Court of Korea, aaO, S. 243. BVerfGE 10, 118 (121); 20, 162 (176) – Spiegelentscheidung. BVerfGE 64, 108 (114). BVerfGE 61, 1 (8). Herzog, in M/D, Art. 5 I,II, Rdnr. 148. Starck, in: Mangoldt/Klein, Art. 5 I,II, Rdnr. 43. BVerfGE 20, 162 (175).
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bzw. Regierung. Ihr fällt somit eine „öffentliche Aufgabe“61 zu. Daraus folgt ein Auskunftsanspruch gegenüber öffentlichen Behörden62 sowie ein Zugangsanspruch zu öffentlichen Veranstaltungen63. Art 5 Abs. 2 GG stellt der Pressefreiheit gegenüber 3 Schranken auf: die gesetzlichen Bestimmungen zum Jugendschutz, das Recht der persönlichen Ehre und die allgemeinen Gesetze. „Unter dem Begriff des allgemeinen Gesetzes sind alle Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswertes, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“64 (Lüthurteil). Zwischen den Schranken ziehenden allgemeinen Gesetzen und der Garantie der Pressefreiheit besteht eine Wechselwirkung, weil die Schranken im Lichte der Bedeutung des Freiheitsrechtes interpretiert werden müssen (Wechselwirkungstheorie). Daraus folgt, dass eine Güterabwägung durch den Richter zu erfolgen hat, die sich aber auf den Einzelfall nicht auf die abstrakten Rechtsgüter beziehen soll, was dem Gericht vorgeworfen wurde (Einzelfallabwägung). Weiterhin wurde dem Gericht das Vorliegen eines Zirkelschlusses vorgeworfen, weil sich Pressefreiheit und allgemeine Gesetze gegenseitig beschränken, was aber von Herzog als im System der Grundrechte angelegt und daher unvermeidbar angesehen wird. Die Begründung folgt aus Art 19 Abs. 2 GG, der den Wesengehalt auch der Pressefreiheit vor Rechtseingriffen schützt. Die Pressefreiheit hat einen höheren Rang als die reine Meinungsfreiheit, weil sie die Aufgabe hat, die öffentliche Meinung zu bilden. Eine weitere Schranke der Pressefreiheit sieht Art 5 Abs. 2 GG zugunsten des Jugendschutzes vor, „durch welche der Jugend drohende Gefahren abgewehrt werden. Derartige Gefahren drohen auf sittlichem Gebiet von allen Druck-, Ton- und Bilderzeugnissen, die Gewalttätigkeiten oder Verbrechen glorifizieren, Rassenhass provozieren, den Krieg verherrlichen oder sexuelle Vorgänge in grob Scham verletzender Weise darstellen und deswegen zu erheblichen, schwer oder gar nicht korrigierbaren Fehlentwicklungen führen können“65. Die Schranke des in Art 5 Abs. 2 garantierten Ehrenschutzes muss ebenfalls im Sinne der Wechselwirkungslehre interpretiert werden66. Außerdem besteht für die Pressefreiheit noch die besondere Schranke des Zensurverbotes gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG. Unter Zensur ist nach dem BVerfG jede „einschränkende Maßnahme vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts“ zu verste-
61 62 63 64 65 66
BVerfGE 20, 162 (175). BVerfGE 20, 162 (176). BVerfGE 50, 234 (239 ff.). BVerfGE 7, 198 (209). BVerfGE 30, 336 (347). BVerfGE 42, 143 (150).
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hen67 (Präventivzensur). Nachzensur ist dagegen zulässig, wenn sie sich im Rahmen der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG bewegt. Das Grundgesetz garantiert im folgenden Absatz 3 des Art. 5 sozusagen parallel zur Pressefreiheit oder zur Meinungs- und Informationsfreiheit die Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Der Grund hierfür ergibt sich aus der sich rasch modernisierenden Gesellschaft.
6. Pressefreiheit und Wissenschaftsfreiheit Die ursprüngliche Funktion der Lehrfreiheit als Mitteilung von Bildungswissen ist der Aufgabe der Übermittlung von Herrschafts- und Leistungswissen gewichen,68 wodurch augenscheinlich auch der selbständige Grundrechtscharakter der Lehrfreiheit unmittelbar berührt wurde, so dass sie als Tradierung von Leistungswissen zu einer Komplementärfunktion der Forschungsfreiheit wurde.69 Auch die Forschungsfreiheit selbst unterliegt einem Funktionsumwandlungsprozess, der aus der Gewährleistung eines wissenschaftlichen Einsamkeitsraumes, wie er dem klassischen Humboldtschen Gedanken der deutschen Universität und ihrer Forschung entsprach, wegführt zur Garantie des team-works,70 der Forschungskommunikation und der Mitteilung von Forschungsergebnissen: Die heutige Hochschule, folgerte Arnold Köttgen71 zutreffend, vermittle nicht nur eine Vielfalt praktischer Chancen, sie verstricke sich zugleich oder werde verstrickt in eine entsprechende Vielfalt der public relations. Diese Funktionswandlung wird auch von Hellmuth Ridder und Stein in charakteristischer Weise beschrieben: Lehre im Sinne der Wissenschaftsfreiheit werde immer die Seite der Forschung, die im Kommunizieren der Forscher und in der Kommunikation von Forschungsergebnissen bestehe, sein. Freiheit der Wissenschaft bedeute daher vor allem die Garantie dieses unbehinderten Zusammenspiels, die Freiheit jedes einzelnen Wissenschaftlers, sich über die bisherige Forschung zu informieren, darauf auf bauend weiter zu forschen und die Ergebnisse allen zugänglich zu machen.72 Die Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit wird seit langem als institutionelle Freiheit verstanden und gerade in ihrem institutionellen Charakter will man den markantesten Unterschied zur Meinungsäußerungsfreiheit erblicken, weil es hier um die subjektive Meinung, dort aber um die Sache der Wissenschaft gehe; obwohl 67
BVerfGE 33, 52 (72). Köttgen, Grundrecht, S, 27. 69 Werhahn, Lehrfreiheit und Verfassungstreue, Tübingen 1955, S. 13; v. Mangoldt/Klein, X, 5 zu Art. 5 GG. 70 Die Gefahren dieser Entwicklung zeigen sich an der Kollektivierung der Geistesfreiheit in der SBZ: Zu dieser Kollektivierung gehört, dass sich der geistig oder künstlerisch Schaffende einordnet in „das System der sozialistischen Gemeinschaften, das das gesamte Leben in der Zone zu durchdringen begonnen hat und schon in kurzer Zeit die letzten kümmerlichen Reste der individuellen Existenz, der persönlichen Freiheit, der privaten Sphäre vernichten wird.“ (Kasten, Experimente des Ungeistes, SBZArchiv 1960, 150). Ein solches Team ist die Einrichtung der Zirkel der schreibenden Arbeiter, über welche der Weg zur publizistischen und literarischen Tätigkeit in der SBZ führen muss. 71 Köttgen, Grundrecht, S. 27 und S. 28. 72 Ridder/Stein, Freiheit der Wissenschaft, DÖV 1962, 363. 68
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selbstverständlich auch die Freiheit des einzelnen Forschers gemeint ist, geht es dennoch zuvörderst um die Sache der Wissenschaft selbst, in ihrer Bedeutung als Bestandteil der Kultur wie als Motor der Entwicklung von Technik und Wirtschaft.73 Wenn Rudolf Smend in der Gewährleistung der Lehrfreiheit die Verankerung einer öffentlichen Institution und die Gewährleistung des Grundrechtes der deutschen Universität erblickte, so wurde dieser heute allgemein anerkannte Rechtscharakter in der Wissenschaftsfreiheit nicht als aliud zur Meinungsäußerungsfreiheit verstanden, vielmehr brachte Rudolf Smend nur den Doppelcharakter dieses Grundrechts zum Ausdruck, das gleichzeitig Grundrecht der deutschen Universität und ein subjektiv-öffentliches Recht des Universitätslehrers mit dem Inhalt sei, bei der Erfüllung der positiven Lehraufgabe keinen Anweisungen in Bezug auf den Inhalt der wissenschaftlichen Wahrheit und die Form ihrer Darstellung zu unterliegen.74 Dass sich auch auf dem Sektor der Meinungsäußerungsfreiheit nochmals eine ähnliche objektivierende Subjektverschiebung in der Ausklammerung der Pressefreiheit aus der allgemeinen Meinungsäußerungsfreiheit vollziehen kann, hat Rudolf Smend später ausdrücklich bejaht.75 In seiner Stellungnahme „Das Problem der Presse in der heutigen geistigen Lage“ hat Smend bereits 1946 in Abkehr von der liberalen Auffassung der Beliebigkeit und Ungebundenheit der Presse die „Stunde der Presse“ verkündet, die er als Raum geistigen und politischen Kampfes versteht: Eine gesetzgeberische Rückkehr zum liberalen Pressegesetz von 1874 würde schwerlich als eine wirkliche Antwort auf die pressepolitische Frage der Zeit erscheinen, denn nicht liberale Sicherung gegen polizeiliche Übergriffe, sondern „eine positive Gestaltung des Berufsstandes“ sei die gesetzgeberische Aufgabe.76 ·Die Absage an die ungebundene Beliebigkeit der Presse, die Zerstörung des Glaubens an die freie Konkurrenz der Meinungen, führen Smend zu der Feststellung, dass der Gedanke des „öffentlichen Amtes“ oder doch „wenigstens der gebundenen öffentlichen Aufgabe der Presse“ als ihre in der Natur der Sache liegende Eingliederung in die Ordnung der Berufe erscheine.77 Fasst man das Ergebnis der Zusammenschau der in Art. 5 Abs. 1 und 3 GG gewährten Grundrechte in eins, so kann man eine parallele Entwicklungslinie nicht leugnen, die aus dem subjektiven Individualrecht der Gedanken- und Meinungsfreiheit objektive Ausgliederungsgrundrechte abgespalten hat, die bestimmte Sphären geistiger Produktion und Kommunikation schützen. So verbinden verschiedene gemeinsame Merkmale die Freiheit von Forschung und Wissenschaft mit der Pressefreiheit: Beide Gewährleistungen haben vorwiegend institutionellen Charakter und gewähren den in ihrem Bereich Tätigen ein Individualrecht kraft ihrer Doppelnatur. Beide Garantien zeigen eine Hervorhebung der Wahrheitsorientierung – ein Hinwandern der Meinung zur Information und der Lehre zur Forschung –, beide Ver73 Gerber, Schrifttum zur Entwicklung des Hochschulrechts; AöR, Bd. 84, 514; Ridder/Stein, Freiheit der Wissenschaft, S. 363. 74 Smend, Recht der freien Meinungsäußerung, S. 113 und S. 118; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 173. 75 Smend, Das Problem der Presse in der heutigen geistigen Lage (1946), Staatsrechtliche Abhandlungen 1955, S. 380. 76 Smend, Presse, Staatsrechtl. Abhandlungen, S. 380. 77 Smend, Presse, Staatsrechtl. Abhandlungen, S. 389.
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bürgungen verlassen den Einsamkeitsraum isolierender Grundrechte und übernehmen Kommunikationsfunktionen, stehen im Öffentlichkeitslicht und ersetzen die Vermittlung von Bildungswissen durch Leistungs- und Herrschaftswissen.
7. Die besondere Bedeutung der Pressefreiheit in den Vereinigten Staaten Eine besondere Bedeutung hat die Pressefreiheit in den Vereinigten Staaten erhalten, weil sie sich nicht aus einer rein bürgerlich verstandenen Meinungsfreiheit, noch einer rein akademischen Wissenschaftsfreiheit entwickelt hat, sondern weil die Redefreiheit, also gerade die Freiheit der öffentlichen Rede, oder die Parlamentsrede Ausgangspunkt für diesen besonderen Schutz war. Dies zeigt sich auch an den nachfolgend aufgeführten Defi nitionsvarianten. Ausgangspunkt für die Rechtsprechung in den USA ist das erste Amendment,78 das eine Garantie der Rede- und Pressefreiheit enthielt, wie sie auch in den vorangegangenen „Federal and State Constitutions“ aufgenommen worden waren.79 Entgegen der revolutionären Auffassung von Jefferson, der Meinungs- und Pressefreiheit als „monuments of the safety“ auch den politischen Gegnern zubilligen wollte, die den Bundesstaat oder die republikanische Ordnung aufzulösen beabsichtigten, hielt die Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten im Anschluss an Blackstone an der „no previous restraints“ Doktrin fest.80 Diese Auffassung entspricht der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zur Herrschaft gelangten Theorie der Pressefreiheit als der Freistellung von jeder unmittelbaren oder mittelbaren geistigen Vorprüfung unter Beibehaltung der Repression durch den Pressestrafprozess. Zur gleichen Zeit wies Thomas Cooley in den Vereinigten Staaten nach, dass die „no previous restraints“ Doktrin dem aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassungsbestimmungen sich ergebenden Wesensgehalt des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nicht gerecht werde.81 Nicht die Zensur sei das alleinige Übel, das die Verfassung verhüten wolle, vielmehr könne der Sinn- und Begründungskern dieses Grundrechts nur dann erfasst werden, wenn „any action of the government by means of which it might prevent such free and general discussion of public matters as seems absolutely essential to prepare the people for an intelligent exercise of their rights as citizens“ als verfassungswidrig angesehen werde. Damit war der Weg offen, um die Pressefreiheit von den Schranken eines formellen Zensurbegriffes durch Einführung eines materiellen Zensurbegriffes zu befreien und die Rechtsprechung des Supreme Court hat sich diesen überzeugenden Argumenten nicht verschlossen, indem sie versucht hat, an die Stelle des formellen Kriteriums materielle Kriterien zu setzen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung seine 78 „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press.“ (Poore, Constitutions, S. 2). 79 Vgl. vorstehende Anmerkung. 80 Grossmann, Inhalt und Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Spiegel der Entscheidungen des Supreme Court of the United States, JöR 1961, 183. 81 Cooley, A Treatise on the Constitutional Limitations, 8. Aufl., II, S. 875, 885.
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verfassungsrechtliche Funktion als „concrete restraints on officials dealing with the problems of the twentieth century“ erfüllen könne.82 Das postpublikative Merkmal des nachzensurierenden Eingriffs genügte nicht mehr, um eine Bestrafung wegen einer Meinungs- und Presseäußerung zu rechtfertigen, vielmehr musste diese Bestrafung oder konkrete Beschränkung im Grundrechtsgenuss sich am Grundrechtssinn orientieren und mit der Grundrechtsfunktion als „foundation of their own conduct“83 im Einklang stehen, da man mit den Worten Holmes’ glaubte, „that the ultimate good desired is better reached by free trade in ideas – that the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market, and that truth is the only ground upon which their wishes safety can be carried out.“84 Mit Karl-Heinz Grossmann können wir sechs verschiedene Lehrmeinungen unterscheiden, mit deren Hilfe der Supreme Court oder die von seiner Rechtsprechung abweichenden votes (dissenting votes) versuchen, Meinungs- und Pressefreiheit durch die Bestimmung des Inhalts einer materiellen Nachzensur zu gewährleisten, nämlich: die „bad tendency“ oder die „dear and present danger“ Doktrin, die „reasonable apprehension of danger“ Doktrin85 , die „preferred position“ Doktrin, die „reasonable regulation“ Doktrin, die Dennis Doktrin und die „advocacy of unlawful aktion“ Doktrin.86 Seit 1950 ist festzustellen, dass der Supreme Court die „dear and present danger“ Doktrin nicht mehr einheitlich anwendet, dass es vielmehr unter Aufgabe der zwischenzeitlich vertretenen „preferred position“ Doktrin, welcher der Meinungs- und Pressefreiheit eine übergeordnete Funktion gegenüber anderen Freiheitsbetätigungen eingeräumt wissen wollte, zu einer Auffassung gelangt ist, die als „reasonable regulation“ Doktrin die Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit zulässt, wenn ein wichtiges öffentliches Interesse den Eingriff verlangt und die Eingriffsfolgen gegenüber dem Grundrechtsträger gering sind. Es zeigt sich demnach, dass eine gewisse Abschwächung in der Funktionsaufwertung der Meinungs- und Pressefreiheit eingetreten ist, dass aber dennoch der Funktionswandel des Grundrechts von der Vorzensurfreiheit zur Fundamentalnorm demokratischer Lebensgestaltung in der Rechtsprechung anerkannt und verteidigt wird.
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Grossmann, Inhalt und Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, S. 186. Castberg, Freedom of Speech, S. 269. 84 Diese Formulierung wird von Castberg als „classical formulation“ in der Rechtswissenschaft bezeichnet und fi ndet sich erstmals in einem „dissent“ von Justice Holmes von 1919 (Castberg, Freedom of Speech, S. 269/270). 85 Grossmann, Inhalt und Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung 186/187, 195. Die „clear and present danger“ Doktrin entstammt ebenfalls einem „dissent“ von Justice Holmes, wonach es darauf ankommt, „whether the words used are used in such circumstances and are of such a nature as to create a clear and present danger that they will bring about the substantive evils that Congress has a rigid to prevent“. Zu dieser Frage und zum Problem des Kommunismus und der Meinungsfreiheit vergleiche Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, Berlin 1959, S. 489/490, 532. 86 Ders., JöR, S. 199, 202, 205, 211. Das BVerfG bekennt sich in seinem Spiegelurteil vom 5. 8. 1966, NJW 1966, 1603 = DVBI. 1966,684 zu einer Grundrechtsbevorzugung der Presse. 83
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8. Abschließende Beurteilung Vergleicht man die Tätigkeit der Verfassungsgerichte anhand der von ihnen entschiedenen Pressefreiheits-Fälle, so zeigen sich zwei Aspekte einer ähnlichen und doch wieder unterschiedlichen Entwicklung. Vorausschicken sollte man aber die Tatsache, dass gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich mit Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit staatlichen Handelns beschäftigt, in ganz besonderer Weise mit der Kultur des Staates und der Gesellschaft in Verbindung steht, in der sie beurteilt werden soll. Denn in Ostasien ist die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht eine konsequente historische Entwicklung aus einer über Jahrhunderte bestehenden Rechtskultur, sondern ein Institut, das von außen transferiert wurde, auch wenn es Bestandteil einer allgemeinen Umorientierung war. Dennoch kann man sagen, dass trotz der anfänglichen Fremdheit des Gedankens die Verfassungsgerichtsbarkeit in Korea fester Bestandteil einer Gesellschaft geworden ist, die auch in wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Sektoren den Stand westlicher Gesellschaften erreicht hat. Dennoch bestehen natürlich Ähnlichkeiten neben den sich entwickelten gleichen Bedingungen. Ähnlichkeit liegt insofern vor, als der Aspekt der demokratischen Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit hervortritt, wenn er auch deutlicher in Deutschland als in Korea erkennbar ist. Das mag an der problematischen Entwicklung der deutschen Freiheitsrechte liegen, die lange nicht genug Beachtung fanden und nicht genug Schutz gewähren konnten. Südkorea hatte eine andere historische Vergangenheit und eine entschiedenere Zuwendung zur demokratischen Absicherung in der Gegenwart erfahren können. Daneben aber gibt es noch deutlich erkennbar juristisch-technische oder grundrechtsspezifische Gemeinsamkeiten. Zwar steht bei den koreanischen Entscheidungen das Medium des Films im Vordergrund, während die deutsche Rechtsprechung an der Pressefreiheit und ihrer Garantie vom Buchhalter bis hin zum Herausgeber des Unternehmens sich orientiert. Gemeinsam ist aber eindeutig der Zug, der in Richtung auf den Schutz moderner Medien gerichtet ist, die tatsächlich, sei es als Film oder als Internet, die klassische Presse verdrängen. Interessant ist auch die Tatsache, dass die alte Frage, ob die Meinungsfreiheit auch die Tatsachenmitteilung mit schützt oder dies nicht tut, beiden Grundrechtskreisen gemeinsam ist. Konkurrenz und Spannung zwischen dem Verfassungsgericht und dem obersten Zivilgericht, wie sie in Korea bestehen und wo sie wahrscheinlich auf einen amerikanischen Rechtseinfluss zurückgeht, besteht im deutschen Recht nicht, was man doch wohl als Vorteil ansehen kann. Vergleicht man die koreanische und die deutsche Konstruktion der Verfassungsgerichtsbarkeit mit der der Vereinigten Staaten, so fällt einerseits auf, dass die USA keine eigenständige ausgegliederte Verfassungsgerichtsbarkeit kennt, dass sie aber andererseits dafür eine andere Sicht- und Wirkweise der Pressefreiheit zuweist. Pressefreiheit ist wesentlich mehr an der traditionellen Garantie der „freedom of speach“, also der parlamentarischen Redefreiheit und damit an der demokratischen Funktion orientiert als in Korea oder Deutschland. Es lässt sich aber dennoch sagen, dass die schon Tradition gewordene Konferenz der Verfassungsrichter aller in der Welt bestehenden Verfassungsgerichte ein wich-
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tiges Element des Grundrechtsschutzes im Allgemeinen und der Demokratie sichernden Pressefreiheit geworden ist.
Vom Abgang des Staatspräsidenten bis zur Verkündung der verfassungsrechtlichen Erklärung für die Übergangszeit Ein Bericht über den verfassungsrechtlichen Weg Ägyptens nach Mubarak von
Dr. iur Naseef Naeem* I. Einführung Die Volksbewegungen in den arabischen Staaten zu Ende 2010 und Beginn 20111 werden allgemein als „Arabischer Frühling“ gekennzeichnet.2 Allerdings ähnelt die Entwicklung der Lage in Libyen, Jemen, Syrien und Bahrain eher einem kalten Winter als einem blühenden Frühling.3 Bisher haben die Volksaufstände in Tunesien und * Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Seminar für Arabistik/Islamwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen und habilitiert sich an der Juristischen Fakultät derselben Universität. 1 Die Entscheidung für den Begriff „Volksbewegung“ fiel, um dem Neutralitätsgebot einer juristischen Untersuchung gerecht zu werden. Denn es ist eine Tatsache, dass sich die Völker in den arabischen Staaten durch ihre Bewegungen gegen die herrschenden Regimes positionierten. Dennoch sind beispielsweise Fragen, ob derartige Bewegungen als Revolutionen im politischen Sinne bezeichnet werden dürfen oder ob diese zu einer totalen und wesentlichen Veränderung des politischen und verfassungsrechtlichen Systems führen werden, zu diesem Zeitpunkt nicht zu beantworten, was eine Zurückhaltung bei der Anwendung entsprechender Terminologie rechtfertigt. 2 Die FAZ nannte den Aufruhr in der arabischen Welt die „Arabellion“ als eine Zusammenlegung zweier Wörter „Arab“ und „Revolution“ und etablierte eine Rubrik mit diesem Titel. Dazu s. beispielsweise in dieser Rubrik Lerch, Wolfgang Günter, „Permanente Revolution“, in: FAZ, 04. 03. 2011, http://www.faz.net/artikel/C32321/arabellion-permanente-revolution-30329528.html. (Der letzte Abruf aller Internetlinks erfolgte am 01. 09. 2011). 3 Während in Libyen seit etwa fünf Monaten ein offener Bürgerkrieg herrscht, der vor kurzem zur Vertreibung von Gaddafi aus der Hauptstadt führte, wurden die Proteste in Bahrain mit aller Härte niedergeschlagen. In Syrien geht das Regime militärisch gegen seine Gegner vor. Im Jemen ist die Lage völlig instabil, nachdem ein Attentat am 03. 06. 2011 gegen den Staatspräsidenten verübt wurde, was zu seiner Abreise nach Saudi-Arabien führte; seine Anhänger und Gegner kämpfen immer wieder militärisch gegeneinander. Mit anderen Worten ist von einem Frühling in diesen Ländern keine Spur. In mehreren Zeitungsartikeln ist die Lage nicht nur in den erwähnten Staaten, sondern im gesamten arabischen Raum als ein „eiskalter Winter“ beschrieben worden. Dazu s. beispielsweise Von Marschall, Christoph, „Arabische Welt, wo auf Frühling Winter folgt“, in: Der Tagesspiegel, 16. 03. 2011, http:// www.tagesspiegel.de/meinung/wo-auf-fruehling-winter -folgt/3954040.html.
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Ägypten einzig dazu geführt, dass die Staatspräsidenten beider Länder von ihren Ämtern zurückgetreten sind. Da dies zurzeit faktisch die einzige erkennbare Veränderung im Staatssystem Ägyptens darstellt, ist in der Überschrift dieses Artikels vom „Abgang“ des ägyptischen Präsidenten die Rede. Die Tatsachenfeststellung des Rücktrittes des ägyptischen Staatspräsidenten dient in den nun folgenden Ausführungen dazu, ähnlich wie bei der Anwendung der Bezeichnung Volksbewegung, grundsätzliche politische Fragestellungen zu meiden, etwa, ob man in Ägypten von einem völligen Systemwechsel ausgehen kann, darf oder vielleicht muss. Zudem ist dieser Rücktritt für eine verfassungsrechtliche Beobachtung insofern entscheidend, als seine Plötzlichkeit dazu führte, dass das ägyptische Semipräsidentschaftssystem4 de facto und de jure ohne Staatsoberhaupt dastand. Im Folgenden geht es darum, einen verfassungsrechtlichen und -theoretischen, aber auch -politischen Blick auf die Ereignisse in Ägypten zu werfen, die mit dem Rücktritt des Staatspräsidenten und der Zeit danach zusammenhängen. Es wird also eine Art verfassungsrechtlicher Berichterstattung geben, die eine Querverbindung von Zeitablauf, Handlungen, Entscheidungen, normativer Basis, theoretischer und verfassungspolitischer Betrachtungsweise zum Ausdruck bringt. Zu Beginn rückt das Geschehen vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten ins Blickfeld, denn dies ist entscheidend, um ein umfassendes verfassungsrechtliches Bild der Lage in Ägypten im Lichte dieses Rücktrittes wiederzugeben. Dann werden die Einzelheiten des Rücktritts erörtert und verfassungsrechtlich analysiert. Anschließend werden die getroffenen Maßnahmen analysiert, die den Beginn einer neuen verfassungsrechtlichen Ära einleiteten und die den Fahrplan des Landes in Richtung auf permanenten Konstitutionalismus bestimmten und/oder weiter bestimmen.
II. Vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten: Das Zusammenkommen des Obersten Rates der Streitkräfte als Ausgangspunkt eines neuen verfassungsrechtlichen Zustandes Als der Druck der Straße auf den ägyptischen Staatspräsidenten und sein Regime wuchs und die Lage fast außer Kontrolle geraten schien,5 trat am 10. 02. 2011 der Oberste Rat der Streitkräfte zusammen und verkündete die Erklärung Nr. 1. In dieser Erklärung wird zum einen die besondere Verantwortung der ägyptischen Streit4 Die Bezeichnung des ägyptischen Verfassungssystems als „Semipräsidentschaft“ leitet sich von der formellen Koexistenz eines Staatspräsidenten und eines Ministerrates unter der Führung eines Ministerpräsidenten ab. Die Frage, ob der Staatspräsident nach den Verfassungsbestimmungen den Ministerrat im materiellen Sinne dominiert, bleibt hier ausgeklammert. Zur ausführlichen Erklärung des Status des Staatspräsidenten innerhalb des ägyptischen Verfassungssystems s. Rabi‘, Amro Hashim, „Der Status des Republikpräsidenten im ägyptischen politischen System (Mauqi‘ ra‘is al-jumhuriyya fi al-nizam al-siyasi al-misri)“, in: Ders. (Hrsg.), Verfassungsänderung und Präsidentschaftswahl 2005 (al-Ta‘dil al-dusturi wa-ntikhabat al-ri‘asa 2005), Markaz al-dirasat al-siyasiyya wa-l-istratijiyya, Kairo, 2005, S. (13–32). 5 Die Lage drohte insbesondere zu eskalieren, als einige, aus Anhängern des Regimes bestehende Schlägertrupps am 02. 03. 2011 die Demonstranten auf dem Kairoer Platz der Befreiung (Midan al-Tahrir) angriffen. Darauf folgten Auseinandersetzungen und Schlägereien zwischen Anhängern und Gegnern des Regimes. Eine weitere Eskalation der Lage wurde dadurch verursacht, dass sich Tausende von Gefangenen befreiten und damit die Sicherheit im Lande bedrohten.
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kräfte für den Schutz des Volkes, seiner Sicherheit und der Unversehrtheit des Heimatlandes hervorgehoben; zum anderen werden alle Forderungen des Volkes generell als legitim bestätigt. Außerdem sandte der Oberste Rat der Streitkräfte ein weiteres wichtiges Signal für eine mögliche neue Entwicklung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Gestaltung, indem er sein Zusammenkommen zu einem Dauerzustand erklärte, um weitere Maßnahmen mit dem Zweck zu beraten, Ruhe im Land zu bewahren und Wünsche des Volkes zu erfüllen. Mit anderen Worten haben sich die Mitglieder des Obersten Rates der Streitkräfte selbst mit der Aufgabe betraut, die Gesamtlage im ägyptischen Staat im Auge zu behalten, um schnellstmöglich im Sinne der Interessen des Landes und des Volkes zu handeln. Im Hinblick auf dieses Verhalten des Militärs sollen folgende normative Tatsachen in Betracht gezogen werden, die für eine verfassungsrechtliche Analyse der gesamten Lage Ägyptens von größerer Bedeutung sind: a) Der Oberste Rat der Streitkräfte ist kein Verfassungsorgan und besitzt auch keinen verfassungsrechtlichen Status. Er ist das operative Organ des ägyptischen Militärs und setzt sich aus 18 Führungsgenerälen zusammen, die alle Abteilungen und Divisionen der ägyptischen Streitkräfte repräsentieren. b) Nach Art. 150 der ägyptischen Verfassung von 1971 ist der Staatspräsident der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, was vereinfacht bedeutet, dass der Staatspräsident der Vorsitzende des Obersten Rates der Streitkräfte ist und Letzterer dem Staatspräsidenten unterstehen muss. Betrachtet man beide Tatsachen in einem Zusammenhang, stellt man fest, dass das operative Organ der Streitkräfte auf eigenen Beschluss und ohne einen Beschluss des Staatspräsidenten als dem Vorsitzenden zusammengekommen ist. Das Militär handelte also unabhängig von der verfassungsrechtlichen Macht des Staatspräsidenten und riss mit seiner eigenmächtigen Entscheidung sogar die völlige Verantwortung für das Land an sich. Dafür spricht auch, dass sich der Obersten Rat weder auf den Staatspräsidenten in seiner Position als dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte bezog, noch die Erklärung Nr. 1 und andere Erklärungen vom Staatspräsidenten unterzeichnen ließ. Zudem ist festzustellen, dass der in Art. 182 der ägyptischen Verfassung vorgesehene und vom Staatspräsidenten zu leitende nationale Verteidigungsrat nicht zusammengekommen ist,6 obgleich diesem – nicht aber dem Obersten Rat der Streit6 In Art. 182 der ägyptischen Verfassung ist nur vorgesehen, dass der Staatspräsident der Vorsitzende des nationalen Verteidigungsrates ist. Andere Mitglieder dieses Rates sind in der Verfassung nicht genannt, auch ein Gesetz zur Regelung der Angelegenheiten dieses Rates ist dem Verfasser nicht bekannt. Nach den vorhandenen Informationen diesbezüglich scheint dieser Rat ein Organ zu sein, welches ausschließlich vom Staatspräsidenten kontrolliert wird. Einige nennen diesen Rat auch „Nationaler Sicherheitsrat“, der in seiner jetzigen Form aus der Ära Sadat (also den siebziger Jahren) stammt. Diesem gehörten als stimmberechtigte Mitglieder neben dem Staatspräsidenten der Vizepräsident, der Ministerpräsident, der Verteidigungs-, Außen-, Innen-, Wirtschafts- und Finanzminister sowie der Chef des allgemeinen Nachrichtendienstes an. Zudem saßen in diesem Rat einige Mitglieder, wie beispielsweise der Chef des militärischen Nachrichtendienstes, die nicht stimmberechtigt waren. Angeblich kam dieser Rat nur einige Male in der Zeit vom Husni Mubarak, jedoch seit 2000 nicht mehr zusammen. Dazu s. Uthman, Dalia, „Politiker und Diplomaten: Ägypten ist mit gefährlichen politischen Herausforderungen konfrontiert (Siyasiyun wa-diblumasiyyun: Misr tuwajih tahdiyat siyasiyya khatira)“, in: Almasry Alyoum, Heft 733, 16. 06. 2006, S. 5, http://www.almasry-alyoum.com /article2.aspx?ArticleID =20214&IssueID=304.
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kräfte – laut Art. 182 die Aufgabe obliegt, über die Angelegenheiten der Bewahrung der Unversehrtheit des Landes zu entscheiden. Auch hier zeigt sich, dass das ägyptische Militär an einer Beteiligung des Staatspräsidenten an den die gesamte staatliche Gestaltung betreffenden Entscheidungen nicht interessiert war, gänzlich unabhängig davon, ob der Staatspräsident laut Verfassung den obersten Militärführer darstellt und damit die Befehlsgewalt über die Streitkräfte samt ihrem operativen Organ innehat. Diese Annahme kann durch die Erklärung Nr. 2 des Obersten Rates der Streitkräfte, die ja Stunden vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten am 11. 02. 2011 verkündet wurde, bestätigt werden. Denn in Punkt 2 dieser Erklärung (der getroffenen Maßnahmen) wird – wie in der Erklärung Nr. 1 – die Verpfl ichtung der Streitkräfte auf die legitimen Forderungen des Volkes betont. Diese Forderungen waren explizit mit der friedlichen Übergabe der Macht auf dem Weg zu einer seitens des Volkes angestrebten demokratischen Gesellschaft verknüpft. Der Oberste Rat der Streitkräfte hat sich in seinen ersten beiden Erklärungen deutlich hinter die allgemeinen Forderungen des Volkes gestellt, die im Kern darin bestanden, dass der Staatspräsident zurücktreten muss. Eine Verknüpfung zwischen der Bindung des Militärs an die Forderungen des Volkes, der Bezeichnung dieser Forderungen als legitim und dem Handeln seines obersten Organes unabhängig von der Zustimmung des Staatspräsidenten als dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte zeigt deutlich, dass das Zusammenkommen des Obersten Rates der Streitkräfte faktisch einen neuen verfassungsrechtlichen Zustand in Ägypten eingeleitet hat. Dieser Zustand ist so zu defi nieren, dass das operative Organ der Streitkräfte sich legitimiert sah, sich über die legalen Befugnisse des Präsidenten als einem Verfassungsorgan hinwegzusetzen und die legale Macht im Staat an sich zu reißen. Dies wird insbesondere dadurch bestätigt, dass in Punkt 3 der Erklärung Nr. 2 faktisch eine Generalamnestie für alle Personen ausgesprochen wird, die sich gegen das Unrecht erhoben und Reformen gefordert haben. Eine derartige Befugnis wäre unter normalen Umständen gem. Art. 149 der ägyptischen Verfassung dem Gesetzgeber vorbehalten gewesen.7
III. Die Versetzung Ägyptens in einen außerverfassungsmäßigen Zustand durch den Rücktritt des Staatspräsidenten Dass oben zunächst nur zurückhaltend von einem neuen verfassungsrechtlichen Zustand in Ägypten durch das Zusammenkommen des Obersten Rates der Streitkräfte die Rede war, begründet sich damit, dass sich die Arbeit dieses Rates vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten – trotz der oben erklärten normativen Lage – ausschließlich auf Erlass von zwei Erklärungen beschränkte. Dennoch gewinnt das Verhalten des Obersten Rates der Streitkräfte im Lichte der weiteren Entwicklung eine Bedeutung, die über einen bloßen neuen verfassungsrechtlichen Zustand hinausgeht. 7 In Art. 149 der ägyptischen Verfassung wird zwischen der Generalamnestie, die ausschließlich durch ein Gesetz zu verkünden ist, und einer Spezialamnestie in Form der Auf hebung oder Reduzierung der Strafe unterschieden, wobei letztere in die Zuständigkeit des Staatspräsidenten fällt.
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Denn wenige Stunden nach der Verkündung der Erklärung Nr. 2 seitens des Obersten Rates der Streitkräfte erklärte der ägyptische Staatspräsident seinen Rücktritt. Der Rücktritt des Staatspräsidenten wurde vom Vizepräsidenten verkündet. In der Rücktrittserklärung ist neben der Rücktrittsentscheidung auch eine Bevollmächtigung des Obersten Rates der Streitkräfte enthalten. Der ägyptische Staatspräsident hat also am 11. 02. 2011 beschlossen, zurückzutreten und gleichzeitig den Obersten Rat der Streitkräfte mit der Verwaltung der Angelegenheiten des Landes betraut. Dieser Vorgang samt seiner beiden Aspekte (Rücktritt und Delegation der Macht) war defi nitiv eine außerverfassungsmäßige Handlung des Staatspräsidenten, d. h., beide Handlungen haben keine in den Bestimmungen der ägyptischen Verfassung verankerten rechtlichen Grundlagen. Denn nach Art. 83 der ägyptischen Verfassung hätte der Staatspräsident sein Rücktrittsgesuch der ersten Kammer des Parlaments – also dem Volksrat – vorlegen müssen, was aber nicht geschah. In diesem Fall hätte der Volksrat nach Art. 84 Satz 2 erklären müssen, dass das Amt des Staatspräsidenten nicht mehr besetzt wäre. Zudem hätte der Präsident des Volksrates gem. Art. 84 Satz 1 das Amt des Staatspräsidenten provisorisch übernehmen müssen.8 Andererseits hätte der Staatspräsident im Fall seiner temporären Verhinderung gem. Art. 82 Satz 1 seine Macht an seinen Vizepräsidenten delegieren sollen.9 Wenn er also durch seinen Rücktritt keinen endgültigen Rücktritt beabsichtigt hätte, sondern ausschließlich eine temporäre Maßnahme zur Beruhigung der Lage im Lande bezweckte, dann hätte der Vizepräsident die Befugnisse des Staatspräsidenten ausüben müssen. Diese Absicht ist in keiner Weise geäußert worden. Von daher bleibt es zum einen eine Tatsache, dass der Staatspräsident in verfassungswidriger Weise zurückgetreten ist. Zum anderen hätte der Staatspräsident den Obersten Rat der Streitkräfte niemals beauftragen dürfen, die Angelegenheiten des Landes zu verwalten, denn dazu ist er verfassungsrechtlich nicht befugt. Selbst wenn man die Handlung des Staatspräsidenten und die Übertragung der Macht an den Obersten Rat der Streitkräfte im Lichte von Art. 74 wahrnehmen wollte, könnte man sich nicht darüber hinwegsetzen, dass einige Maßnahmen hätten daran angeknüpft werden müssen,10 aber nicht berücksichtigt worden sind. Dies bestätigt den Eindruck, dass die Übernahme der Macht und die Herrschaft über den ägyptischen Staat seitens des Obersten Rates der Streitkräfte keine Grundlage in der Verfassung haben.
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In Art. 84 Satz 1 sind zwei Fällen vorgesehen, die dazu führen, dass der Präsident des Volksrates das Amt des Staatspräsidenten übernimmt: Rücktritt und permanente Verhinderung der Ausübung der Aufgaben des Staatspräsidenten. Zudem soll der Präsident des Verfassungsgerichts diese Aufgabe übernehmen, wenn der Volksrat aufgelöst sein sollte. 9 Sollte der Staatspräsident keinen Vizepräsidenten haben oder letzterer mit der Aufgabe des Staatspräsidenten aus welchem Grund auch immer nicht betraut werden können, sollen die Befugnisse des Staatspräsidenten gem. Art. 82 Satz 1 an den Ministerpräsidenten delegiert werden. 10 Nach Art. 74 soll der Staatspräsident im Fall massiver Gefährdung der nationalen Einheit und der Unversehrtheit des Landes oder der Hinderung staatlicher Institutionen bei der Ausübung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben alle Maßnahmen ergreifen, um dieser Situation zu begegnen. Drei Voraussetzungen für die Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen sind in Art. 74 verankert: a) Einholung der Meinungen des Ministerpräsidenten und der Präsidenten beider Parlamentskammer; b) Verlesung einer Erklärung diesbezüglich für das Volk; c) die Abhaltung eines Referendums über die getroffenen Maßnahmen innerhalb von sechzig Tagen.
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Um den verfassungsrechtlichen Zustand in Ägypten unmittelbar nach dem Rücktritt des Staatspräsidenten genau zu beschreiben, sollte man von einem außerverfassungsmäßigen Zustand sprechen. Dabei wäre es möglich, zu behaupten, dass aufgrund des Passus in Art. 82 Satz 2, 84 Satz 1 der ägyptischen Verfassung keine andere Möglichkeit vorhanden war, um der Forderung des Volkes nach einem sofortigen Rücktritt des Staatspräsidenten nachzugeben und gleichzeitig einen Verfassungsänderungsprozess einzuleiten. Denn der oben erwähnte Passus hätte unter normalen verfassungsrechtlichen Umständen dazu geführt, dass während der Zeit einer temporären Verhinderung des Staatspräsidenten oder bis zur Wahl eines neuen Staatspräsidenten im Fall eines verfassungsmäßigen Rücktritts weder eine Verfassungsänderung noch eine Auflösung beider Kammer des Parlaments11 noch eine Entlassung des Kabinetts möglich gewesen wären. Zudem wäre die Pfl icht gem. Art. 84 Satz 3, einen neuen Staatspräsidenten in max. sechzig Tagen vom Volk wählen zu lassen, schwierig zu realisieren gewesen. Somit kann der Weg des Verfassungsbruches in verfassungspolitischer Hinsicht als unausweichlich angesehen werden, wenn man den Volkswillen als die einzige Basis der Legitimation in Betracht ziehen möchte.
IV. Ägypten unter der Macht des Obersten Rates der Streitkräfte: Ein erklärter außerverfassungsmäßiger Zustand Auf die außerverfassungsmäßige Übernahme der Macht über den ägyptischen Staat seitens des Obersten Rates der Streitkräfte folgte eine explizite Entscheidung des Rates, die ägyptische Verfassung außer Kraft zu setzen. Dennoch geschah dies nicht unmittelbar nach dem Rücktritt des Staatspräsidenten. Denn zunächst beschäftigte sich der Oberste Rat der Streitkräfte in seiner Erklärung Nr. 3 hauptsächlich mit der Würdigung der Arbeit des Staatspräsidenten zugunsten des Landes im Laufe der Jahre und versprach weitere Schritte zur Verwirklichung der Volksbestrebungen. In seiner Erklärung Nr. 4 hat der Oberste Rat der Streitkräfte u. a. die Verbindlichkeit internationaler Verpfl ichtungen für Ägypten bekräftigt,12 die arbeitende Regierung geschäftsführend im Amt bestätigt und seinen Willen zum Ausdruck gebracht, eine friedliche Übergabe der Macht an eine demokratisch gewählte zivile Gewalt zu ermöglichen. Erst in der Erklärung Nr. 5 vom 13. 02. 201113 beschloss der Oberste Rat der Streitkräfte, nicht nur die ägyptische Verfassung außer Kraft zu setzen, sondern vielmehr beide Kammern des Parlaments aufzulösen, die Bestätigung der Regierung als 11 Die Auflösung beider Parlamentskammer ist auch gem. Art. 74 im Rahmen und aufgrund der durch den Staatspräsidenten getroffenen Maßnahmen gänzlich verboten. 12 Wortwörtlich sprach die Erklärung Nr. 4 des Obersten Rates der Streitkräfte von allen internationalen Abkommen, die von Ägypten unterzeichnet worden sind. Dies wurde auch in der Erklärung Nr. 5 wiederholt. Das Militär wollte also als Erstes ein Signal an die internationale Gemeinschaft senden, dass Ägypten zu seinen internationalen Verpfl ichtungen, insbesondere zum Friedensabkommen mit Israel stehen will. 13 Dieser Erklärung wird auch „verfassungsrechtliche Erklärung“ genannt. Hier wird diese Benennung ignoriert, um eine Verwechslung mit der verfassungsrechtlichen Erklärung für die Übergangszeit vom 30. 03. 2011 zu vermeiden.
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geschäftsführend im Amt wie in der Erklärung Nr. 4 zu wiederholen und sich selbst die Befugnisse zu verleihen, in der Übergangszeit Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Diese außerverfassungsmäßige Selbstermächtigung deutet in Verbindung mit der Außerkraftsetzung der Verfassung, der Auflösung der legislativen Staatsorgane und den davor geschehenen anderen außerverfassungsmäßigen Handlungen des Staatspräsidenten darauf hin, dass der Oberste Rat der Streitkräfte explizit festgelegt hat, was implizit seit seinem ersten Zusammenkommen einen Tag vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten passierte. Deshalb kann zu Recht behaupten werden, dass das ägyptische Militär die Macht im Staat an sich gerissen hat und das Leben des ägyptischen Verfassungsstaates einen Tag vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten beendete. Dementsprechend untersteht Ägypten faktisch seit dem 10. 02. 2011 der Macht des Obersten Rates der Streitkräfte, der Ägypten nach außen und nach innen repräsentiert,14 die legislativen Aufgabe und die exekutive Befugnisse durch eine völlige Kontrolle der geschäftsführenden Regierung (de facto Befugnisse eines Staatspräsidenten in einem Präsidentschaftssystem) ausübt.
V. Auf dem Weg zum neuen Konstitutionalismus in Ägypten: Verfahren und Fahrpläne Der derzeit über Ägypten herrschende Oberste Rat der Streitkräfte hat seit dem Erlass seiner Erklärung Nr. 1 stets betont, dass er nur des Volkswillens wegen handelt. Außerdem sind die Forderungen des Volks – neben ihrer allgemeinen Bestätigung und Unterstützung in der Erklärung Nr. 1 – in den Erklärungen Nr. 2–4 des Obersten Rates der Streitkräfte daran geknüpft, einen friedlichen Machtwechsel zu einer zivilen, vom Volk legitimierten Gewalt zu gewährleisten und eine in einer demokratischen staatlichen Ordnung lebende demokratische Gesellschaft zu schaffen. Allerdings änderte sich der vom Militär vorgegebene Weg zu Übergabe der Macht über das Land und Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes, so dass von zwei unterschiedlichen Verfahrensweisen zu sprechen ist, die wiederum zwei verschiedene Konzepte zur Verwaltung des Landes in einer Übergangsphase seitens des Obersten Rates der Streitkräfte widerspiegeln: a) Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes durch eine Verfassungsreform; b) Erlangung eines permanenten Konstitutionalismus durch in einer verfassungsrechtlichen Erklärung verankerte Verfahren.
1. Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes durch eine Verfassungsreform: Der erste Fahrplan zum neuen ägyptischen Konstitutionalismus In seiner Erklärung Nr. 2 – vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten wohl gemerkt – sprach sich der Oberste Rat der Streitkräfte dafür aus, die notwendigen verfas14 Der Oberste Rat der Streitkräfte wird laut der Erklärung Nr. 5 nach außen und nach innen von seinem Präsidenten vertreten.
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sungsrechtlichen und gesetzlichen Änderungen durchzuführen und aufgrund dessen freie und redliche Präsidentschaftswahlen abhalten zu lassen. Zudem wird hervorgehoben, dass der seit 1967 herrschende Notstand15 laut Erklärung des Rates aufgehoben werden soll, sobald die Umständen dies erlauben. Des Weiteren betont der Oberste Rat in dieser Erklärung die Notwendigkeit, dass die beim ägyptischen Revisionsgericht liegenden Anfechtungsklagen gegen die Parlamentswahlen von 2010 schnellstmöglich entschieden werden müssen.16 Mit diesen Forderungen entsprach der Oberste Rat der Streitkräfte einerseits den Hauptforderungen der Demonstranten und deren Vertreter. Andererseits bestätigte man weiter die Richtung, die Präsident Mubarak vorgegeben hatte, als dieser seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärte, zur Verfassungsänderung mit dem Zweck der Erleichterung der Präsidentschaftskandidatur aufrief und das Parlament aufforderte, die gerichtlichen Entscheidungen über die Anfechtungsklagen der Wahl zu akzeptieren bzw. umzusetzen.17 Diese vor dem Rücktritt des Staatspräsidenten vertretene Haltung des Obersten Rates der Streitkräfte zugunsten der Durchführung einer Verfassungsreform hat sich auch nach dem Rücktritt Mubarak gefestigt. Denn in der Erklärung Nr. 5 beschloss der Oberste Rat der Streitkräfte, eine Kommission mit dem Zweck zu gründen, einige Verfassungsartikel zu ändern und Regeln für ein Referendum über solche Änderungen auszuarbeiten. Des Weiteren sah sich der Oberste Rat als ein provisorischer Verwalter des Landes und begrenzte seine Zeit auf die Dauer von sechs Monaten oder bis zu Wahl beider Kammer des Parlamentes und des Staatspräsidenten. In Verbindung damit, dass die Verfassung in derselben Erklärung des Obersten Rates der Streitkräfte außer Kraft gesetzt wurde, beabsichtigte das Militär das Land außerverfassungsgemäß solange zu verwalten, bis aufgrund der von der Kommission ausgearbeiteten Änderungen der Verfassung zwei Kammern des Parlaments und ein Staatspräsident gewählt worden sind. Mit anderen Worten lag der erste Fahrplan in Richtung auf einen neuen ägyptischen Konstitutionalismus darin, die außer Kraft gesetzte Verfassung nach den angestrebten Änderungen nur zum Teil wieder in Kraft zu setzen, um aufgrund ihrer Bestimmungen Wahlen durchführen zu lassen. Der Rest der Verfassung sollte außer Kraft bleiben oder je nach dem in Kraft gesetzt werden, wenn der Oberste Rat der Streitkräfte dies entscheidet. Der Oberste Rat steht damit über die Verfassung und hat die völlige Kontrollbefugnisse, den ägyptischen Verfassungsstaat nach beliebig in eine Art „Koma“ zu versetzen oder wiederzubeleben, solange beide Kammer des Parlaments und der Staatspräsident nicht gewählt werden. Um den Weg zu diesen 15 Das Gesetz Nr. 162 vom 27. 09. 1958 regelt nach wie vor die Angelegenheiten des Notstandes in Ägypten. Aufgrund dieses Gesetzes wurde der Notstand in Ägypten vom Präsidenten Gamal ‚Abd alNasir am 05. 06. 1967 erklärt. Dieser wurde erst im Mai 1980 vom Präsidenten Sadat aufgehoben. Nach der Ermordung Sadat im Oktober 1981 wurde der Notstand erneut erklärt und dauerte bis heute an. Am 11. 08. 2011 hat die ägyptische Regierung nach eigener Aussage damit begonnen, juristische Schritte einzuleiten, um den herrschenden Notstand aufzuheben. Dies verlief bis dato ergebnislos. Dazu s. „Sharaf ’s Government is close to repealing emergency law“, in: Ahram Daily, 11. 08. 2011, http://eng lish.ahram.org.eg/News/18588.aspx. 16 Die Parlamentswahlen fanden im November und Dezember 2010 statt und waren sehr umstritten, so dass 1527 Anfechtungsklagen gegen 486 Parlamentarier beim Revisionsgericht vorlagen. 17 Diese waren die Hauptmerkmale seiner im Fernsehen ausgestrahlten Rede zum Volk vom 01. 02. 2011.
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Wahlen zu ebnen, hat der Oberste Rat zügig am 14. 02. 2011 beschlossen, eine Kommission aus acht Mitgliedern einzusetzen.18 Der Kommission wurden zehn Tage eingeräumt, um folgende Aufgaben zu erledigen: a) Auf hebung des Art. 179 der ägyptischen Verfassung, welcher ermöglichte, einige Justizgrundrechte im Rahmen der Maßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus außer Kraft zu setzen; 19 b) Änderung von Art. 76, 77, 88, 93, 189, die einige Verfahren der Wahl des Präsidenten, des Parlaments und der Verfassungsänderung regeln; 20 c) Prüfung aller anderen mit diesen Bestimmungen zusammenhängenden Artikel und anderer von der Kommission als notwendig betrachteter Artikel, um Demokratie und Redlichkeit bei der Wahl des Staatspräsidenten und beider Parlamentskammern zu gewährleisten; d) Prüfung aller mit den oben genannten zu ändernden Verfassungsartikeln zusammenhängenden Gesetze, um mögliche Änderungen auszuarbeiten. Im Sinne des Willens des Obersten Rates der Streitkräfte, die Macht an neu gewählte Staatsorgane abzugeben, lässt sich der Hauptarbeitsauftrag für die Kommission, abgesehen von den Streitfragen hinsichtlich des Grundrechtsschutzes im Fall des Terrorismus und/oder des Notstandes, so zusammenfassen, dass die Kommission die Regelungen der Wahl des Präsidenten und des Parlaments zu modifizieren und dabei die Kontrolle der Rechtsprechung darüber zu stärken hatte. Dies hat die Kommission in ihren Änderungsvorschlägen gemacht, die dem Obersten Rat der Streitkräfte am 26. 02. 2011 vorgelegt wurden: 21 18 Die Kommission setzte sich aus einem ehemaligen Verwaltungsrichter als dem Vorsitzenden, zwei Verfassungsrichtern, dem Präsident des Staatsvertretungsorgans beim Verfassungsgericht, einem Rechtsanwalt beim Revisionsgericht und drei Verfassungsrechtsprofessoren (zwei von der Universität Kairo und einer von der Universität Alexandria) zusammen. 19 In Art. 179 Satz 1 ist vorgesehen, dass der Staat alles tun muss, um Sicherheit zu wahren und die öffentliche Ordnung vor den Gefahren des Terrorismus zu schützen. Zu diesem Zweck räumt der Verfassungsgeber dem Gesetzgeber einen weitreichenden Spielraum ein, um die notwendigen Regelungen für die Untersuchung von Terroraktionen zu treffen. Im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus hält es der Verfassungsgeber explizit für möglich, gesetzliche Ausnahmen von den allgemeingültigen Regelungen bei Festnahmen, Durchsuchungen und/oder Aushebelung des Fernmeldegeheimnisses in Art. 41 Satz 1, 44, 45 Satz 2 insbesondere hinsichtlich der Rolle der Justiz in diesem Zusammenhang zu treffen. Dennoch muss die Kontrollrolle der Justiz gewahrt bleiben. Des Weiteren ist der Staatspräsident nach Satz 2 berechtigt, jede Straftat terroristischer Natur dem in der Verfassung oder im Gesetz vorgesehenen Gericht zur Entscheidung weiterzuleiten. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 179 in diesem Wortlaut erst durch die Verfassungsreform 2007 formuliert wurde, was damals heftige Kritik auslöste, denn viele sahen in dieser Bestimmung eine Hintertür, um den Notstand und die Macht des Staatspräsidenten bis in die Ewigkeit zu verlängern. Dazu s. beispielsweise Farhat, Muhammad Nur, „Das Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus… (Qanun mukafahat al-irhab…)“, in: Save Egypt Front, 01. 03. 2008, http://www.saveegypt front.org/news/?c=180 &a=13442. 20 Art. 76 behandelt das Verfahren der Kandidatur und Wahl des Staatspräsidenten. In Art. 77 sind Dauer und mögliche Wiederwahl des Staatspräsidenten vorgesehen. Art. 88 regelt Voraussetzungen und Kontrolle der Parlamentswahl. In Art. 93 sind Verfahren der Anfechtung der Mitgliedschaft des Parlamentes verankert. Art. 189 regelt Voraussetzungen und Verfahren der Verfassungsänderung. 21 Neben diesen Änderungen wurde Art. 179 tatsächlich aufgehoben. Art. 148 bezüglich der Notstandserklärung wurde so geändert, dass der Staatspräsident, wie in der alten Fassung, zwar für die Notstandserklärung zuständig ist, diese Erklärung ist in max. 7, nicht aber in 15 Tagen dem Volksrat (Erster Kammer des Parlaments) zur Entscheidung vorzulegen. Der Volksrat muss der Notstandserklä-
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a) Durch die Änderung des Art. 75 wurden die Voraussetzungen der Kandidatur zum Amt des Staatspräsidenten dahin gehend erschwert, dass der Kandidat (oder die Kandidatin) 22 nicht nur ein Ägypter zu sein hat, der, wie in der alten Fassung des Art. 75,23 von zwei ägyptischen Elternteilen abstammen muss, sondern vielmehr darf weder er noch seine beide Eltern jemals eine andere Staatsangehörigkeit besitzen oder in der Vergangenheit besessen haben. Zudem darf er nicht mit einer Nicht-Ägypterin verheiratet sein. Beide Änderungen deuten auf ein völliges Misstrauen gegenüber jedem hin, der im Ausland lebte oder dort seine Wurzeln hat. Außerdem wird der Präsidentschaftskandidat durch die Ausdehnung des Verbots einer Doppelstaatsangehörigkeit auf die Eltern mit einer Voraussetzung konfrontiert, die in einigen Fällen nicht in seiner Macht steht, insbesondere wenn sich die Eltern für eine zusätzliche Staatsangehörigkeit entschieden haben, als der Kandidat noch ein Kind war. b) Die Dauer der Präsidentschaft wurde durch die Änderung des Art. 77 von sechs auf vier Jahre heruntergesetzt. Außerdem wurde die Wiederwahlmöglichkeit auf ein einziges Mal beschränkt, um zu verhindern, dass der Amtsinhaber wie im Falle Mubaraks24 sich an das Amt klammert.25 Auch im Rahmen der Reaktion auf die Vergangenheit standen die Voraussetzungen der Präsidentschaftskandidatur im Mittelpunkt der Arbeit der Kommission, um die Hürden für diese Kandidatur durch Änderung des Art. 76 herunterzusetzen.26 So soll ein Kandidat beispielsweise für die Gültigkeit seiner Kandidatur nicht mehr die Unterstützung von 250 Mitgliedern beider Parlamentskammer bzw. der Provinzräte einholen müssen. Es sollen dafür nach der Änderung des Art. 76 nur noch dreißig Mitglieder beider rung zustimmen, deren Dauer nicht mehr als 6 Monate sein und ohne Referendum nicht verlängert werden darf. 22 Die maskuline Form wird mit dem Zweck verwendet, Wiederholungen zu vermeiden. Außerdem ist es im juristischen Arabisch üblich, die maskuline Form für feminine mit zu benutzen, solange nicht auf einen explizit männlichen Zusammenhang hingewiesen wird. Dennoch entbrannte eine Diskussion im Hinblick auf diese Verfassungsänderung darüber, ob sich eine Ägypterin zur Präsidentschaftswahl aufstellen dürfte. Der Präsident und ein Mitglieder der Kommission haben explizit zum Ausdruck gebracht, dass nichts in der Verfassungsänderung im Sinne eines Verbotes der Wahl einer Präsidentin interpretiert werden darf. Dazu s. beispielsweise Ayyad, ‚Abir ‚Ali, „Die Frau und das Amt des Staatspräsidenten…(al-Mar‘a wa-kursi al-ri‘asa …)“, in: Ahramdigital, 25. 03. 2011, http://www. ahramdigital.org.eg/articles.aspx?Serial=471239&eid=553; „Die Verfassungsänderung erlaubt der Frau, den Kopten und Elbaradei, sich zur Präsidentenwahl aufzustellen (Ta‘dil al-dustur yasmah li-lmar‘a wa-l-aqbat wa-l-baradi‘i bi-l-tarashshuh li-ri‘asat misr)“, in: Alazmenah, 09. 03. 2011, http:// www.alazmenah.com /?page=show_det&select_page=44&id=19783. 23 Weitere Voraussetzungen in Art. 75, die durch die Verfassungsänderung unberührt blieben, sind die Vollendung des 40. Lebensjahres und die Besetzung der zivilen und politischen Rechte. 24 Der Staatspräsident Husni Mubarak hat Ägypten fünf Perioden hintereinander von 1981 bis 2011 regiert. 25 Zum Zweck der Begrenzung der Macht des Staatspräsidenten wurde Art. 139 so geändert, dass der Staatspräsident verpfl ichtet ist, einen Vizepräsidenten in spätestens 60 Tagen zu ernennen. Selbst wenn Letzterer entlassen wird, muss ein anderer ernannt werden. Die alte Fassung delegierte diese Kompetenz ausschließlich an den Staatspräsidenten, der eine gewisse Freiheit genoss, einen Vizepräsidenten oder auch keinen zu ernennen. Husni Mubarak hat die Möglichkeit ausgenutzt und verweigerte in den Jahren seiner Präsidentschaftszeit, einen Vizepräsidenten zu ernennen, bis er unter Druck der Straße am 29. 01. 2011 dies getan hat. 26 Art. 76 wurde zweimal hintereinander 2005 und 2007 geändert und stand aufgrund seiner Komplexität und Länge in der Kritik. Darauf kann hier nicht näher angegangen werden.
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Parlamentskammer oder dreißigtausend Bürger in mindestens fünfzehn Provinzen (mindestens tausend Bürger in jeder Provinz) ausreichen. Dennoch dürfen Parlamentarier und Bürger in beiden Fällen ausschließlich einen Kandidaten unterstützen. Zudem ist jeder Partei, die über nur einen Mandat in einer der beiden Parlamentskammer verfügt, das Recht eingeräumt, einen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen.27 c) Im Rahmen der Kontrolle der Präsidentschaftswahl wurde in der geänderten Fassung des Art. 76 die Präsidentschaftswahlkommission samt ihrer absoluten Kontrollrolle über Wahlverfahren und -ergebnisse bestätigt. Allerdings besteht diese Kommission ausschließlich aus Richtern (Präsidenten und dem ältesten Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts, Präsidenten des Appellationsgerichts von Kairo, dem ältesten Vizepräsidenten des Revisionsgerichts sowie dem ältesten Vizepräsidenten des Staatsrates).28 Das Gesetz der Präsidentschaftswahl hingegen muss nach wie vor dem Verfassungsgericht vorgelegt werden, das innerhalb von max. 15 Tagen über die Verfassungsmäßigkeit des Präsidentenwahlgesetzes zu entscheiden hat. Seine Entscheidung bindet in diesem Zusammenhang alle Staatsgewalten. Zudem stärkt die Änderung des Art. 93 die Kontrollrolle des Verfassungsgerichts im Rahmen der Parlamentswahl, das für die Anfechtungsklagen gegen die Mitgliedschaft des Volksrates zuständig ist. Dies stellt, insbesondere in Verbindung mit der nach der Änderung des Art. 88 vorgesehenen Delegation der operativen Kontrolle über die Durchführung der Parlamentswahl an eine Kommission justiziabler Art,29 eine wesentliche Wende im ägyptischen Verfassungsrecht dar. Denn in der alten Fassung war das Revisionsgericht für solche Klagen nur beratend zuständig, d. h., es durfte den Fall nur untersuchen und die Ergebnisse der Untersuchung dem Volksrat vorlegen, der berechtigt war, der Empfehlung des Gerichts zu befolgen oder auch nicht. Obwohl der Oberste Rat der Streitkräfte in seinen Erklärungen zumindest explizit nicht von der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, sondern ausschließlich von einer Verfassungsreform spricht, sind über die erklärten Änderungsvorschläge der Kommission hinaus folgende Verfassungsbestimmungen in das Verfassungsdokument mit dem Zweck hinzugefügt, den Weg zu der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu ebnen: a) Art. 189: Bezüglich des Verfassungsänderungsverfahrens wurde ein Satz ergänzt. Demnach sind der Staatspräsident nach der Zustimmung des Ministerrates und die 27 In der alten Fassung des Art. 76 darf jede Partei, die mindestens fünf Jahren zuvor gegründet worden ist und ihre Aktivitäten ununterbrochen ausübte sowie in einer oder beider Kammer des Parlaments in der letzten Wahl über mindestens 3 % der Sitze verfügte, ein Mitglied ihres obersten Organs zur Wahl aufstellen, vorausgesetzt, dass es diese Funktion seit mindestens einem Jahr ununterbrochen ausübt. 28 In der alten Fassung des Art. 76 waren neben den oben ernannten Richtern auch fünf Persönlichkeiten als Mitgliedern vorgesehen, die von beiden Kammern des Parlaments (drei vom Volksrat und zwei vom Beratungsrat) ernannt werden. 29 Der Wahl- und Zählungsprozess untersteht nach der Änderung des Art. 88 der Kontrolle von Richtern, die für diese Aufgabe von den obersten Rechtsprechungsorganen zu kandidieren und dann von der vorgesehenen Kommission justiziabler Art auszuwählen sind. Dabei ist zu bemerken, dass diese Kommission gem. der alten Fassung des Art. 88 aus Richtern, aber auch anderen der Justiz nicht zugehörigen Mitgliedern bestand.
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Hälfte der Mitglieder beider Parlamentskammer berechtigt, eine neue Verfassung anzustreben. In diesem Fall ist eine verfassungsgebende Versammlung aus hundert Mitgliedern in einer gemeinsamen Sitzung beider Parlamentskammer zu wählen.30 Diese Versammlung hat den Verfassungsentwurf in max. sechs Monaten auszuarbeiten, der in einem Referendum innerhalb 15 Tage ratifiziert werden muss. b) Um zügig mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung voranzukommen, verpfl ichtet der neu hinzugefügte Art. 189 (wiederholt) die gewählten Mitglieder beider Parlamentskammern, spätestens sechs Monaten nach der Wahl eine verfassungsgebende Versammlung, wie in Art. 189 vorgesehen, zu wählen. Diese Verfassungsänderungen stießen nicht überall auf Gegenliebe.31 Dessen ungeachtet wurden die Änderungsvorschläge der Kommission im Verfassungsreferendum am 19. 03. 2011 vom ägyptischen Volk mit 77,3 % Ja-Stimmen ratifiziert.
2. Eine verfassungsrechtliche Erklärung als Brücke zum neuen ägyptischen Konstitutionalismus Mit der Ratifizierung der Verfassungsänderung durch das Volk ist eine Legitimationsbasis für weitere Handlungen des Obersten Rates der Streitkräfte im Sinne dieser Änderungen geschaffen worden. Somit erwartete man nach dem Referendum, dass der Oberste Rat die Verfassung ganz oder zum Teil oder vielleicht die geänderten Verfassungsbestimmungen wieder in Kraft setzen würde, um zumindest die Wahlen des Präsidenten und beider Parlamentskammer auf verfassungsrechtlicher Basis durchführen zu lassen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Stattdessen kündigte der Oberste Rat der Streitkräfte in seiner Erklärung vom 23. 03. 2011 an, eine verfassungsrechtliche Erklärung erlassen zu wollen, die die Staatsgewalten in der Übergangszeit bis zur Wahl des Parlaments und des Staatspräsidenten regelt und die vom Volk im Verfassungsreferendum gebilligten Änderungen enthält. 30
Wahlberechtigt sind ausschließlich die gewählten Parlamentarier beider Häuser, denn nach Art. 87 Satz 3 ist der Staatspräsident berechtigt, 10 Mitglieder im Volksrat zu ernennen. Im Beratungsrat hingegen ist ein Drittel der Mitglieder gem. Art. 196 Satz 3 vom Staatspräsidenten zu ernennen. Die Verfassungsänderung hat die Befugnisse des Staatspräsidenten in diesem Zusammenhang nicht berührt, einzig ist im neu hinzugefügten Art. 189 (wiederholt 1) vorgesehen, dass der nächste gewählte Beratungsrat seine Aufgabe zunächst nur mit seinen gewählten Mitgliedern (zwei Drittel der gesamten Mitgliederzahl) auszuüben hat. Sobald der Staatspräsident gewählt wird, ist er dann verpfl ichtet, umgehend das fehlende Drittel zu ernennen. 31 Die Kritik am Prozess der Verfassungsänderung lässt sich wie folgt zusammenfassen: a) manche empfanden die Abstimmung für alle Änderungen in nur einem Wahlgang mit Ja oder Nein als ungerecht; b) andere kritisierten die Eile, in der die Änderungsvorschläge ausgearbeitet wurden; c) eine dritte Gruppe betrachtete den gesamten Prozess als sehr bedenklich, denn das Land brauche eine neue und keine Reform der alten Verfassung, die mit dem verhassten alten Regime verbunden sei; d) die vierte Gruppe hegte Befürchtungen, dass sich der Prozess der Gebung einer neuen Verfassung durch die Ratifi zierung dieser Verfassungsänderungen verlangsamen könnte. Zur Erklärung der verschiedenen Meinungen s. Sarhan, Humam, „Die Verfassungsänderungen in Ägypten zwischen Befürwortern, Ablehnern und Vorbehalt Habenden (al-Ta‘dilat al-dusturiyya bayna al-mu‘idin wa-l-mu‘aridin wa-lmutahafidin)“, in: swissinfo.ch, 17. 03. 2011, http://www.swissinfo.ch /ara /detail/content.html?cid= 29744746.
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Das Militär begründet diesen Schritt damit, den Forderungen des Volkes, welches Ursprung aller Staatsgewalten und alleiniger Inhaber der Souveränität im Staat sei, bei der Bestimmung der Grundzüge des Staatssystems entgegenzukommen. In seiner Erklärung spricht der Oberste Rat der Streitkräfte weiter hauptsächlich von der Etablierung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewährleistung von Grundrechten in der Übergangszeit sowie von der Ebnung des Weges zur Gründung einer demokratischen Ordnung mit ausbalancierten Staatsgewalten als den Motiven zur Verkündung der verfassungsrechtlichen Erklärung. Zudem wird die Beteiligung des Volkes am Verfassungsreferendum als Zeichen einer lebendigen Demokratie gelobt. Dabei kann genau dieses Verhalten des ägyptischen Volkes verfassungstheoretisch als ein Problem im Rahmen des Erlasses der verfassungsrechtlichen Erklärung betrachtet werden. Denn das ägyptische Volk hat zwar nicht das gesamte Verfassungsdokument von 1971 ratifiziert, sondern nur Verfassungsänderungen zugestimmt, diese Änderungen sind jedoch an das ursprüngliche Verfassungsdokument gebunden. Mit anderen Worten sind die vom ägyptischen Volk gebilligten Änderungen schlicht als Änderungen der ägyptischen Verfassung von 1971 zu definieren. Von daher hat das Volk also bestimmte Änderungen einer bestimmten Verfassung ratifiziert, nicht aber juristischen Texten als neuen Dokumenten zugestimmt. Somit ist die Integration dieser Änderungen in ein anderes Verfassungsdokument als problematisch zu betrachten. Man neigt in diesem Zusammenhang zu der Behauptung, dass der Oberste Rat der Streitkräfte legale Tatsachen schaffen wollte, ohne dass deren Legitimität auf den ganzen Volkswillen zurückgeführt werden kann. Zudem scheint der Erlass der verfassungsrechtlichen Erklärung im verfassungspolitischen Sinne eine Demonstration der Macht des Militärs über Ägypten zu sein. Eine derartige Wahrnehmung wird bestätigt, wenn die Kritik, die von verschiedenen Seiten über die Art und Weise des Erlasses dieser Erklärung seitens des Militärs geäußert wurde, in Anbetracht gezogen wird. Hauptsächlich wird die fehlende Beratung mit den politischen Kräften in diesem Zusammenhang kritisiert.32 Der Oberste Rat der Streitkräfte hat die verfassungsrechtliche Erklärung für die Übergangszeit am 30. 03. 2011 im Stil eines minimalen Übergangsverfassungsdokuments aus 63 Artikeln in einer Reihe ohne Teilung in Kapitel oder Abschnitten verkündet.33 Diese Erklärung trat nach Art. 63 am nächsten Tag, dem 31. 03. 2011, in Kraft und stellt seitdem die verfassungsrechtlichen Grundlagen des ägyptischen Staates dar. Neben den meisten im Referendum vom 19. 03. 2011 ratifi zierten oben er32 Zu verschiedenen kritischen Auffassungen an der verfassungsrechtlichen Erklärung s. Jum‘a, Mahmud, „Kritiken an der verfassungsrechtlichen Erklärung in Ägypten (Intiqadat li-l-i‘lan al-dusturi bi-misr)“, in: Aljazeera, 01. 04. 2011, http://www.aljazeera.net/NR/exeres/B4AAF88B-EE42-40998B93 -99D37AB33E E7.htm. Trotzdem ist darauf hinzuweisen, dass viele Stimmen (wie etwa auf einer Tagung im März 2011 an der Amerikanischen Universität in Kairo) den Erlass einer derartigen verfassungsrechtlichen Erklärung befürworteten, denn ihrer Auffassung nach existierte die ägyptische Verfassung durch die Übernahme des Obersten Rates der Streitkräfte nicht mehr. Dazu s. ‚Ali, Mustafa, „Experten schlagen den Erlass ein verfassungsrechtlichen Erklärung vor, die die geänderten Artikel enthält (Khubara‘ yaqtarihun isdar i‘lan dusturi yashmul al-mawad al-mu‘adala)“, in: Masrawy.com, 14. 03. 2011, http://www.masrawy.com/news/egypt/politics/2011/march/14/law_renew.aspx. 33 Obwohl diese verfassungsrechtliche Erklärung faktisch eine Art Übergangsverfassung darstellt, wird in diesem Aufsatz auf diesen Begriff verzichtet, um im Rahmen der verwendeten Rechtsterminologie zu bleiben.
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klärten geänderten Verfassungsvorschriften bezüglich Voraussetzungen und Wahlverfahren des Staatspräsidenten und des Parlaments34 ist die Mehrheit der 63 Artikel der verfassungsrechtlichen Erklärung von der ägyptischen Verfassung ganz oder teilweise übernommen worden. Dazu gehören folgende Bereiche, die manchmal durch in sich überkreuzende Bestimmungen geregelt sind: a) Merkmale von Staat und Wirtschaft in Art. 1, 2, 3, 4, 5, 6; 35 b) Grundrechte und -pfl ichten in Art. 4, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 38, 53; 36 c) Justizgrundrechte in Art. 19, 20, 21, 22, 23, 24; 37 d) Politisch-symbolische Rolle des Staatspräsidenten im staatlichen System Ägyptens und sein Amtseid in Art. 25, 30; 38 e) Zusammensetzung, Aufgaben und Arbeitsweise beider Parlamentskammer in Art. 18, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 42, 43, 44, 45; 39
34 Dies betrifft Art. 26 der verfassungsrechtlichen Erklärung (geänderte Fassung des Art. 75 der ägyptischen Verfassung), 27 & 28 (geänderte Fassung des Art. 76), 29 (geänderte Fassung des Art. 77), 31 (geänderte Fassung des Art. 139), 39 (geänderte Fassung des Art. 88). 35 Diese Artikel sind ursprünglich dem ersten Kapitel (Staat) bzw. dem zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels (Die wirtschaftlichen Merkmale) der ägyptischen Verfassung entnommen. In diesen Artikeln ist Ägypten als eine arabische Republik mit einer auf dem Konzept Bürgerschaft basierenden demokratischen Ordnung, dem Islam als Staatsreligion und dem islamischen Recht als der Hauptquelle der Gesetzgebung sowie der arabischen Sprache als der Amtssprache bezeichnet. Das ägyptische Volk stellt einen Teil der arabischen Großnation dar und ist der alleinige Inhaber der Souveränität im Staat. Die ägyptische Wirtschaft basiert auf sozialer Gerechtigkeit und verschiedenen Arten von Eigentum (öffentlich und privat), die geschützt werden müssen. Allerdings ist die Betonung des Mehrparteiensystems in Art. 5 der ägyptischen Verfassung in Art. 4 der verfassungsrechtlichen Erklärung nicht übernommen, sondern ausschließlich die Voraussetzungen und Schranken der Gründung von Parteien, Gewerkschaften und Vereinen. 36 Die Artikel sind dem dritten Kapitel der ägyptischen Verfassung mit dem Titel Die allgemeinen Grundfreiheiten, -rechte und -pflichten entnommen. In diesen Artikeln sind insbesondere Gewährleistung und Schutz des Rechts auf Gründung von Gewerkschaften und Vereinen, der Gleichheit und Gleichberechtigung, persönlicher Freiheit, der Würde des Menschen im Fall der Inhaftierung, der Privatwohnung, des Fernmeldegeheimnisses, der Religions- und Gewissens- sowie Äußerungsfreiheit, der Medienfreiheit, der Freizügigkeit und der Versammlungsfreiheit. Gegenüber diesen Rechten und Freiheiten ist die Verteidigung des Heimatlandes als eine heilige Pfl icht vorgesehen. 37 Die Artikel sind dem vierten Kapitel der ägyptischen Verfassung mit dem Titel Die Rechtsstaatlichkeit entnommen. In diesen Artikeln sind einige Grundsätze wie beispielsweise nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege, in dubio pro reo verankert. 38 Beide Artikel sind dem ersten Abschnitt des fünften Kapitels (Der Staatspräsident) der ägyptischen Verfassung entnommen. 39 Die Artikel sind dem zweiten Abschnitt des fünften Kapitels (Die Legislative Gewalt: Der Volksrat) und dem ersten Abschnitt des siebten Kapitels (Der Beratungsrat) der ägyptischen Verfassung entnommen. In diesen Artikeln sind z. B. die Legislaturperiode des Volksrates auf fünf Jahre und des Beratungsrates auf sechs Jahre sowie die Zahl der Mitglieder des Volksrates auf mindestens 350 und des Beratungsrates auf mindestens 132 angesetzt. Der Volksrat ist im Prinzip das Hauptorgan der Gesetzgebung in Ägypten, einzig ist die Meinung des Beratungsrates u. a. über den Plan der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie über Gesetzentwürfe einzuholen, die ihm vom Staatspräsidenten vorgelegt werden. Die verfassungsrechtliche Erklärung erwähnt im Rahmen der Regelung von Voraussetzungen der Mitgliedschaft oder dem Wahlverfahren zumeist beide Parlamentskammern – natürlich jenseits der nur für eine Kammer geltenden Bestimmungen – nebeneinander.
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f ) Aufgabe und Arbeitsweise der Rechtsprechung einschließlich der Verwaltungsund Verfassungsgerichtsbarkeit in Art. 46, 47, 48, 49, 50, 52; 40 g) Aufgabe der Streitkräfte in Art. 51, 53, 54; 41 h) Das Verbot in Art. 58,42 dass der Minister während seiner Amtszeit anderer Beschäftigung nachgeht oder mit dem Staat Geschäfte macht. Dabei ist zu erwähnen, dass Art. 55 bezüglich der Definition und Aufgabe der Polizei zwar auf dem Wortlaut des Art. 184 der ägyptischen Verfassung basiert, dieser sieht aber entgegen dem ursprünglichen Text den Staatspräsidenten nicht als den Obersten Präsidenten des Polizeiapparates vor. Diese Änderung lässt sich in verfassungspolitischer Hinsicht durch die verhasste Rolle der Polizei als Hüter des alten Regimes und seiner Spitze begründen. Außerdem war diese Bestimmung kein Thema im Verfassungsreferendum. Im Gegensatz dazu sind folgende zwei im Referendum gebilligte Artikel in der verfassungsrechtlichen Erklärung geändert worden: a) Obwohl Art. 40 der verfassungsrechtlichen Erklärung die Macht der Rechtsprechung über die Richtigkeit der Mitgliedschaft in beiden Parlamentskammern bestätigt, wie oben im Zusammenhang mit der geänderten Fassung des Art. 93 der ägyptischen Verfassung dargelegt, ist nun das Revisionsgericht, nicht aber das Verfassungsgericht, dafür zuständig, die vorgesehene gerichtliche Prüfung im Fall einer Anfechtungsklage durchzuführen. b) Art. 59 der verfassungsrechtlichen Erklärung gibt grundsätzlich die in der geänderten Fassung des Art. 148 der ägyptischen Verfassung enthaltenen neuen Regelungen der Notstanderklärung wieder, wie oben erklärt. Dennoch setzt Art. 59 über den Wortlaut des Art. 148 hinaus eine Pfl icht voraus, dass vor der Erklärung des Notstandes seitens des Staatspräsidenten die Meinung des Ministerrates eingeholt werden muss. Der Oberste Rat der Streitkräfte hat sich also durch die Integration einer selbstständig geänderten Fassung beider Bestimmungen in die verfassungsrechtliche Erklärung faktisch in Teilen über die Ergebnisse des Verfassungsreferendums hinweggesetzt, was die Macht des Militärs auch gegenüber der durch die Ratifizierung bestimmter Textformen zum Ausdruck gebrachten Volkssouveränität bestätigt. Dabei hat sich der Oberste Rat der Streitkräfte in der verfassungsrechtlichen Erklärung alle staatlichen Kompetenzen legislativer und exekutiver Art ausdrücklich selbst verliehen. Denn nach Art. 56 Nr. 1 & 2 der verfassungsrechtlichen Erklärung besitzt der Oberste Rat der Streitkräfte die Befugnisse der Gesetzgebung in Ägypten und solche dazu, die allgemeine Politik des Staates und den Staatshaushalt zu bestimmen.43 Zu40 Die Artikel sind dem vierten Abschnitt des fünften Kapitels (Die Rechtsprechung) und dem fünften Abschnitt des fünften Kapitels (Das Oberste Verfassungsgericht) der ägyptischen Verfassung entnommen. In diesen Artikeln ist die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und der Richter sowie der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit hervorgehoben. Das Verfassungsgericht ist mit den Befugnissen zur Normenkontrolle und zur Interpretation der gesetzgeberischen Texte betraut. 41 Die Artikel sind dem siebten Abschnitt des fünften Kapitels (Die Streitkräfte und der nationale Verteidigungsrat) der ägyptischen Verfassung entnommen. In diesen Artikeln sind u. a. die militärische Gerichtsbarkeit, der Militärdienst, der Waffenmonopol des Staates und die Rolle der Streitkräfte als Hüter der Unversehrtheit des Landes vorgesehen. 42 Der Artikel ist dem zweiten Unterabschnitt des dritten Abschnittes des fünften Kapitels (Die Regierung) der ägyptischen Verfassung entnommen. 43 Diese Befugnisse sind als Befugnisse des Volksrates (faktisch dem Unterhaus des Parlaments) in
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dem übt der Oberste Rat nach den weiteren Ziffern des Art. 56 weitere Befugnisse aus, die in der ägyptischen Verfassung dem Staatspräsidenten und/oder dem Parlament vorbehalten waren.44 Des Weiteren ist im Hinblick auf die exekutiven Befugnisse des Obersten Rates der Streitkräfte festzustellen, dass Art. 57 der verfassungsrechtlichen Erklärung den Ministerrat faktisch zu einer Unterabteilung des Militärs macht,45 welches die Gesetze erlässt und deren Ausführung durch den Ministerrat kontrolliert. Diese Vormachtstellung des Militärs samt allen seinen Befugnissen soll nach Art. 61 der verfassungsrechtlichen Erklärung solange dauern, bis beide Parlamentskammer und der Staatspräsident nicht nur gewählt worden sind, sondern vielmehr ihre Arbeit aufgenommen haben. In diesem Sinne hat der Staatspräsident gem. Art. 25 Satz 2 der verfassungsrechtlichen Erklärung erst nach seiner Wahl die in Art. 56 verankerten exekutiven Kompetenzen auszuüben.46 Auch beide Parlamentskammern sollen nach deren Wahlen gem. Art. 33, 37 der verfassungsrechtlichen Erklärung ihre Aufgabe übernehmen. Dabei ist in der verfassungsrechtlichen Erklärung keinerlei Zeitpunkt für die Wahlen exekutiver und legislativer Staatsorgane festgelegt. Außerdem ist die in Punkt 1 der Erklärung Nr. 5 des Obersten Rates der Streitkräfte vom 13. 02. 2011 vorgesehene sechsmonatige Frist ohne Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen abgelaufen. Der Oberste Rat hat entschieden, dass die Wahlen in drei Stufen (Volks-, Beratungsrat und dann Staatspräsidenten) stattfi nden sollen. Zudem werden die Wahltermine erst nach dem 18. 09. 2011 verkündet.47 In Art. 60 der verfassungsrechtlichen Erklärung wird ausschließlich das Zusammenkommen der verfassungsgebenden Versammlung nach der Wahl beider Parlamentskammer geregelt. Dabei stellen diese Regelungen faktisch nicht mehr als eine Zusammenlegung und Verkürzung zweier Bestimmungen (Art. 189 Satz 2, 189 „wiederholt“ der ägyptischen Verfassung) dar, die im Zuge des Prozesses der Verfassungsänderung und des Referendums in das ägyptische Verfassungsdokument hinzugefügt und ratifiziert wurden. Abgesehen davon, dass sich der Oberste Rat der Art. 86 der ägyptischen Verfassung vorgesehen. Der Oberste Rat der Streitkräfte beanspruchte für sich die Möglichkeit in Art. 62 der verfassungsrechtlichen Erklärung, die vorhandenen Gesetze des Landes – trotz ihrer grundsätzlichen Anerkennung – nach Belieben zu ändern. 44 Die ausdrücklich verankerten Kompetenzen in Art. 56 Nr. 3–9 der verfassungsrechtlichen Erklärung umfassen z. B. die Ernennung der zu ernennenden Mitglieder des Volksrates, die Verkündung der Gesetze, Ernennung und Entlassung des Ministerpräsidenten bzw. der Minister sowie Auf hebung und Verminderung der von den Gerichten verhängten Strafen. Zudem verleiht Art. 56 Nr. 10 dem Obersten Rat der Streitkräfte alle andere Befugnisse des Staatspräsidenten, die in Gesetzen und/oder Verordnungen vorgesehen sind. 45 Nach Art. 57 der verfassungsrechtlichen Erklärung üben der Ministerrat sowie die Minister die exekutive Gewalt aus und haben u. a. dem Obersten Rat der Streitkräfte bei der Festlegung der allgemeinen Politik des Staates zu helfen, die Ausführung der Gesetze zu beaufsichtigen, die Gesetze und den Staatshaushalt sowie die nationale wirtschaftliche Planung zu entwerfen. 46 Die legislativen Kompetenzen in Art. 56 Nr. 1 & 2 werden explizit von den Kompetenzen des gewählten Staatspräsidenten ausgenommen. 47 Auf dieser Weise hat sich der Oberste Rat der Streitkräfte am 20. 07. 2011 im Rahmen des Erlasses von drei Gesetzen (diese werden hier in die Analyse nicht berücksichtigt) zur Regelung des Wahlprozesses geäußert. Dazu s. ‚Abd Allah, Muhammed u. a., „Die Wahlen der legislativen Gewalt Ägypten fi nden in drei Stufen statt (al-Intikhabat al-tashri‘iyya al-misriyya tajri ‚ala thalath marahil)“, in: Middle East Online, 21. 07. 2011, http://www.middle-east-online.com/?id=114526.
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Streitkräfte auch in diesem Zusammenhang über die Ergebnisse des Referendums hinweggesetzt hat,48 ist in Art. 60 der verfassungsrechtlichen Erklärung vorgesehen, dass der Oberste Rat der Streitkräfte alle gewählten Mitglieder beider Parlamentskammer, sobald beide gewählt worden sind, innerhalb der ersten sechs Monate nach der Wahl zu einer gemeinsamen Sitzung einzuberufen hat. In dieser Sitzung ist eine verfassungsgebende Versammlung aus hundert Mitgliedern zu wählen, die einen Verfassungsentwurf in max. sechs Monaten nach ihrer Gründung auszuarbeiten hat. Der Verfassungsentwurf muss innerhalb von fünfzehn Tagen in einem Referendum vom Volk ratifiziert werden und tritt dann ab diesem Datum als die endgültige ägyptische Verfassung in Kraft. Rein rechnerisch ist also keine ägyptische Verfassung vor dem Ende des Jahres 2012 zu erwarten. Bis dahin untersteht Ägypten einzig und allein der Macht des Militärs.
VI. Fazit Denkt man an den Enthusiasmus im Inn- und Ausland, der den Abgang des ägyptischen Staatspräsidenten und die Übernahme der Staatsgewalt seitens des Obersten Rates der Streitkräfte über Ägypten begleitete, dann wird nach diesem rechtlichen Überblick schnell klar, dass „nicht alles, was glänzt, auch Gold ist.“ Ein Verfassungsstaat, zumindest in formeller Hinsicht,49 wird jubelnd aufgelöst und seine Organe werden durch einen Militärrat ersetzt, der meint, durch seine Handlung ausschließlich dem Volkswillen nachkommen zu wollen. Er schöpft also die Legitimation seiner Handlung aus dem Straßenslogan „Das Volk will den Sturz des Regimes“ und schafft eine neue Normativität in Ägypten, im Rahmen derer ausschließlich als positives Recht gilt, was vom Obersten Rat der Streitkräfte als solches anerkannt wird. Zudem fehlt es diesem Rat in seiner Bestrebung, den Konstitutionalismus in Ägypten wiederherzustellen, an einem erkennbaren Kompass. Denn allein die Idee, eine Verfassung außer Kraft zu setzen, um sie zu reformieren und danach wieder in Kraft zu setzen, ist im verfassungsrechtlichen, aber insbesondere -theoretischen Sinne als ein befremdlicher Weg in die Verfassungsstaatlichkeit zu betrachten. Was aber danach passierte, dass nämlich die vom Volke in einem Referendum ratifizierten Änderungen der ägyptischen Verfassung von 1971 in eine verfassungsrechtliche Erklärung als ein Übergangsverfassungsdokument eingeflossen sind und folgend die Tatsache der eigenständigen Änderung der ratifizierten Texte seitens des Militärs, ist nur zu erklären, wenn der neue ägyptische Konstitutionalismus als Militärkonstitutionalismus zu bezeichnen ist. In diesem Rahmen ist die derzeit entbrannte Auseinandersetzung darüber, ob der Oberste Rat der Streitkräfte Überverfassungsleitlinien erlassen darf, die die verfassungsgebende Versammlung binden sollen, einzuordnen. Dass dies von mehreren ägyptischen Verfassungsrechtlern ausdrücklich und strikt 48 Es ist nicht nur der Fall, dass beide oben erwähnten Bestimmungen formell in einem gemeinsamen Text zusammengelegt und materiell geändert sind, sondern vielmehr wurde Art. 189 (wiederholt 1), der die Zusammensetzung des Beratungsrates regeln sollte und im Verfassungsreferendum auch gebilligt wurde, komplett gestrichen. 49 Auf eine Diskussion über die materielle Staatlichkeit muss hier verzichtet werden.
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abgelehnt wird,50 ist einerseits begrüßenswert. Andererseits wird dies das Militär nicht daran hindern, seinen Willen in diesem Sachverhalt durchzusetzen. Denn mit dem Zusammenkommen des Obersten Rates der Streitkräfte am 10. 02. 2011 begann in Ägypten faktisch das, oder ein neues, Zeitalter des Militärs. Ob und wann diese Zeit endet, im Übrigen mit oder ohne eine(r) neue(n) Verfassung, entscheidet allein das Militär. Dieser legale Zustand kann als Preis der Systemveränderung – auf die Verwendung des Begriffes „Revolution“ sei hier ausdrücklich verzichtet – bezeichnet werden, wenn eine derartige Bezeichnung (Systemveränderung) auf die Lage in Ägypten überhaupt zutreffen sollte.
50 Wie z. B. vom Mustafa Abu Zaid Fahmi, einem Staatsrechtslehrer und ehemaligem Justizminister Ägyptens, der die Überverfassungsprinzipien als völlig verfassungswidrig bezeichnet hat. Dazu s. „Die Überverfassungsprinzipien sind keinesfalls verfassungsgemäß (al-Mabadi‘ fauq al-dusturiyya ghair dusturiyya ‚ala al-itlaq)“, in Ahramdigital, 24. 08. 2011, http://digital.ahram.org.eg/Policy.aspx?Serial =611989.
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan von
Stephan Mörs, Universität Bayreuth I. Vorbemerkung Das kleine Königreich Bhutan, zwischen Indien und China gelegen, ist kaum Gegenstand in den Medien. Lediglich durch den Demokratisierungsprozess im Jahre 2008 und das damit entstandene Interesse für das „Bruttosozialglück“, welches in der bhutanischen Verfassung verankert ist, konnten vermehrt Berichte über Bhutan gelesen werden.1 Danach wurde das Land vornehmlich aus touristischer Sicht betrachtet. So anregend diese Art der Berichterstattung sein mag, so einseitig ist sie, vernachlässigt sie doch weitestgehend die politisch und gesellschaftlich herausragende Rolle Bhutans im zentralen Himalaja. Bhutan heißt in der Landessprache Dzongkha „Druk Yul“, was wörtlich „Land des Donnerdrachens“ bedeutet. Gelegen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde, China und Indien, muss das Königreich, das mit ca. 38.000 km 2 ähnlich groß ist wie die Schweiz, sicherstellen, dass es zwischen den beiden „Riesen“ nicht „zerrieben“ wird.2 Diese angespannte Lage resultiert zum einen daraus, dass Bhutan es in der Vergangenheit vermied diplomatischen Beziehungen zu China zu pflegen, obschon es Unklarheiten hinsichtlich des Grenzverlaufs im Norden gibt. Gespräche zur Lösung dieses Konfl ikts können zum anderen aber auch Folgen für die enge Beziehung zu Indien haben.3 Doch auch nationale Probleme und Herausforderungen stellen sich diesem Staat, der als letzter Staat der Erde die Staatsreligion des Mahayana-Buddhismus führt, welcher 72 %, also 700.000 Einwohner, angehören. So ist die Geschichte Bhutans geprägt von politisch eher introvertiertem Verhalten. Dies wirkte sich zum einen auch auf die Gesellschaft hinsichtlich ihres Verständnisses für Unabhängigkeit aus und führte zum anderen zu einer starken Konservierung der traditionellen Werte und des Glaubens.4 Ein weiteres wichtiges Kapitel des Landes, 1
Andreas Hilmer, Im Paradies der Glückseligen, Die Zeit, Nr. 13 vom 19. 03. 2008, S. 27. In der Vergangenheit wurden Bhutans Nachbarstaaten Sikkim und Tibet von Indien bzw. China eingenommen. 3 Dorji Penjore, in: Journal of Bhutan Studies Vol. 10, 2004, S. 108 (113–114). 4 Ders., S. 109. 2
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das der Auf klärung bedarf, ist die Vertreibung und Unterdrückung der nepalesischen Minderheit, die zum Teil in Bhutan, aber auch in Flüchtlingscamps in Nepal lebt.5 Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Verfassung von Bhutan und ihre Entstehung vorgestellt. Insbesondere soll zunächst auf die frühgeschichtliche Entwicklung, den Demokratisierungsprozess und das innen- und außenpolitische Handeln des Landes sowie den Umgang mit der nepalesischen Minderheit eingegangen werden.6 Dem folgt eine genauere Betrachtung einzelner Besonderheiten der Verfassung hinsichtlich Königreich und Monarchie, dem spirituellen Erbe und der Kultur sowie dem Gross National Happiness und der Staatsbürgerschaft.
II. Geschichte des Landes Bhutan 1. Frühgeschichtliche Entwicklung Die Geschichte Bhutans vor dem 17. Jahrhundert ist kaum dokumentiert und wird erst durch die Aufzeichnungen portugiesischer Missionare im Jahre 1627 greif barer. Eine detaillierte Dokumentation war schon deshalb nicht möglich, weil das Land von verschiedenen Herrschern beherrscht wurde, welche keinen festen Wohnsitz hatten und mit ihren Zelten von Ort zu Ort zogen. Erst mit der Herrschaft von Ngawang Namgyal (1594–1651) wurden weite Teile Bhutans zusammengeführt, indem er sich die Unterstützung der unterschiedlichen Adelsfamilien sicherte und damit begann, an strategisch wichtigen Stellen Dzongs, Klosterburgen zubauen, die Gericht und Verwaltungssitz einer Region waren und es heute noch sind. Somit wurde das Land in ein dual-theokratisches System überführt, an dessen Spitze zum einen der religiöse Führer, genannt Je Kempo, und zum anderen der die Zivilgewalt ausübende Druk Desi standen. Nach dem Tod des Ngawang Namgyal fiel das Land in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand, da sich die religiösen und weltlichen Führer nicht auf einen Herrscher einigen konnten und die Oberhäupter der Adelsfamilien die Macht wieder an sich rissen und sich untereinander bekämpften.7 Dieser uneinheitliche Zustand hielt bis in das 20. Jahrhundert an.
2. Etablierung der Erbmonarchie – Beginn der Wangchuk-Dynastie Trotz der starken Vormachtstellung des Britischen Empires in Mittel- und Ostasien im 18. und 19. Jahrhundert, war Bhutan nie eine Kolonie. Nichtsdestoweniger gab es zwei Auseinandersetzungen mit dem Britischen Empire in Bezug auf Grenzverläufe und Gebietsansprüche. Bezüglich der bhutanischen Gebietsansprüche in As5 Freedom House Country Report 2010 für Bhutan, http://www.freedomhouse.org/template.cfm ?page=22&year=2010&country=7784 (Stand: 08. 11. 2010). 6 Eine Darstellung historisch wichtiger Ereignisse in Bhutan s. statt aller Zitate Herbert Wilhelmy, Bhutan, München 1988, S. 118–129; Luiza Maria Baillie, in: Journal of Bhutan Studies Vol. 1, 1999, S. 1–35 (13–25). 7 Harald Nestroy, in: Journal of the Royal Society for Asian Affairs November 2004, S. 338–352 (341).
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sam, welches 1841 nach mehreren militärischen Auseinandersetzungen endgültig unter britische Kontrolle geriet, wurde eine jährliche Ausgleichszahlung des Empires an Bhutan von 10.000 Rupien vereinbart. In den darauf folgenden 20 Jahren kam es aber immer wieder zu Grenzstreitigkeiten zwischen Bhutan und dem Britischen Empire, die letztlich 1864 zum anglo-bhutansichen Krieg führten. Der Krieg endete 1865 mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens, nach dem Bhutan alle Gebietsansprüche in Assam und Bengal verlor, dafür aber 50.000 Rupien jährlich erhielt. Nach dieser Zeit bis 1900 blieb Bhutan weiterhin führerlos, jedoch gingen aus den Machtkämpfen zwei führende Provinzgouverneure, die von Paro und Trongsa8, hervor. Die relative Instabilität des Landes erzeugte jedoch Sorge bei der britischen Kolonialregierung Indiens hinsichtlich der Frage, ob sich der Nachbar im Norden zu Tibet, das damals stark von China beeinflusst wurde, oder zu Indien orientieren würde. Durch die erfolgreiche diplomatische Zusammenarbeit Indiens mit dem Gouverneur von Trongsa, Ugyen Wangchuk, konnte dieser seine Position festigen und wurde, durch Einwirken des bevollmächtigten Diplomaten John Claude White auf die anderen Adelsfamilien in Bhutan, am 17. Dezember 1907 zum ersten König von Bhutan ernannt.9 Trotz der nun geklärten Frage des Staatsoberhaupts blieb Bhutan im Interesse der beiden Nachbarn im Norden und Süden. China erhob Anspruch auf Bhutan und sah es auf Grund von früheren Geschenken Bhutans an Peking lediglich als eine Art Lehnsreich an. Überdies erkannte man Wangchuk nicht als Drug Gyalpo10 an, sondern behielt die frühere Anrede als Gouverneur von Tongsa bei, als man ihm mitteilte, dass man plane, chinesische Militäreinheiten in Bhutan zu stationieren. Die indische Kolonialregierung empfahl dem König, auf diese Mitteilungen nicht zu reagieren, was dazu führte, dass der chinesische Einfluss, auch wegen der Vertreibung der Chinesen aus Tibet durch Aufstände im Jahr 1912, immer unerheblicher wurde. Dadurch entstand ein enger und fruchtbarer Kontakt Bhutans zu Indien und Großbritannien. Dieser bestand auch nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 fort, mit welcher die Anerkennung Bhutans als unabhängigen Staat durch Indien einherging.11 Spätere Aufstände in Tibet ließen eine größere Invasion Chinas im zentralen Himalaja befürchten, wodurch Bhutan sich noch stärker nach Indien hinorientierte, um so wirtschaftliche, aber auch militärische Unterstützung zu erhalten und seine Unabhängigkeit zu festigen.
3. Bewegungen in Richtung Demokratie und strukturelle Entwicklung seit 1953 Die Entwicklung der Demokratie in Bhutan ist, genau betrachtet, ein Prozess von ca. 50 Jahren und demnach im Ergebnis nicht überraschend. Ihre Verwirklichung ist 8 Paro hatte mit dem einzigen eisfreien Pass nach Tibet damals eine strategisch wichtige Position. Heute liegt im Paro-Tal der einzige Flughafen des Landes. Trongtsa war ein wichtiger Knotenpunkt für den inländischen Handelsverkehr. 9 Leo E. Rose, The Politics of Bhutan, London 1977, S. 147. 10 In der Sprache Bhutans, Dzongkha, lautet der genaue Titel für den König „Druk Gyalpo“. 11 Ausführlich zu den frühen Einflüssen von Indien und China: Harald Nestroy, aaO. (Fn. 7) S. 343– 344.
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jedoch nicht nur auf innere Antriebe zurückzuführen, sondern auch auf die besondere geopolitische Lage des Landes. Darüber hinaus unterliegt die bhutanische Politik starken Einflüssen ihres kulturellen und religiösen Erbes, weswegen u. a. in der Gesetzgebung des Landes auf Werte wie soziale Harmonie, Respekt vor Umwelt und Leben, Unabhängigkeit und Immaterialismus unmittelbar zurückgegriffen wird.12 Dies lässt sich insbesondere in der Verfassung selbst erkennen, die in Art. 1 Nr. 113 die Souveränität Bhutans festlegt, in Art. 3 das spirituelle Erbe behandelt und in Art. 4 und 5 den Kultur- und Umweltschutz gewährleistet. Der Demokratisierungsprozess kann in zwei Phasen aufgeteilt werden, die sich aus den Regentschaften des dritten (1952–1972) und vierten (1972–2008) Königs von Bhutan zusammensetzen. Unmittelbar nach seiner Thronbesteigung veranlasste König Jigme Dorji Wangchuck 1953 die Errichtung der Nationalversammlung, welche dem König zwar zunächst nur beratend zur Seite stand, aber nach und nach mit Handlungsvollmachten ausgestattet wurde. Hinsichtlich derer personeller Zusammensetzung oblag es aber dem König, die wählbaren Kandidaten zu nominieren. Dieses Verfahren wurde von der Nationalversammlung selbst beschlossen, um Korruption und eigennütziges Handeln der Kandidaten zu verhindern. Zudem musste ein Kandidat bereits einen höheren Regierungsposten bekleidet haben. Die Amtszeit eines Ministers ist auf fünf Jahre begrenzt.14 1965 rief der König zusätzlich als beratende Institution den Royal Advisory Council ins Leben, der 1968 zum Ministerrat umfunktioniert wurde.15 Zu Beginn seiner Regierungszeit stand Bhutan außerdem vor dem Problem, dass so gut wie keine Infrastruktur vorhanden war, was zu einer hohen Kindersterblichkeit bzw. geringen Lebenserwartung und zu einer großen Zahl von Analphabeten führte.16 Mit starker fi nanzieller und personeller Hilfe von Indien, wurde der erste Fünfjahresplan (1961– 1966) ausgearbeitet, mit dem man die wichtigsten Maßnahmen zur Errichtung der Infrastruktur sowie zur Durchführung einer Bodenreform traf. Der anschließende Fünfjahresplan sah vor, die Standards in Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung zu verbessern. Der vierte König Jigme Singye Wangchuk verfolgte die Pläne seines Vaters nach dessen plötzlichem Tod weiter, so dass Bhutan in der Lage war Produkte, insbesondere aber Elektrizität zu exportieren, die Lebenserwartung bis 1994 auf 66 Jahre verdoppelt wurde und 80 % aller Kinder im Grundschulalter Zugang zu Schulbildung haben.17 Der 1981 angeregte Dezentralisierungsprozess, der auf die Aufteilung des Landes in 20 Distrikte abzielte, konnte gewährleisten, dass die Bevölkerung maßgeblich in sozio-ökonomische Entscheidungsprozesse eingebunden wird und das politische Bewusstsein gestärkt wird.
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Thierry Mathou, in: Journal of Bhutan Studies, Vol. 2, 2000, S. 228–262 (230). Alle Normen ohne Bezeichnung sind die der Verfassung von Bhutan. Leo E. Rose, aaO. (Fn. 9), S. 167. Thierry Mathou, in: Journal of Bhutan Studies, Vol. 1, 1999, S. 114–145 (115). Michael Rutland, in: Journal of the Royal Society for Asian Affairs, 1999, S. 284–294 (289). Thierry Mathou, aaO. (Fn. 14), S. 116.
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4. Außenpolitisches Handeln Bhutans Bhutans Zurückhaltung hinsichtlich außenpolitischen Handelns ist hauptsächlich auf das Verhalten seiner geografischen Nachbarn zurückzuführen, da 1959 China Tibet, 1976 Indien Sikkim einnahm. Diese Ereignisse ließen Befürchtungen aufkommen, selbst eingenommen zu werden. In der Vergangenheit trug insbesondere China zu dieser Befürchtung bei. Mao Zedong erklärte 1930, dass der eigentliche Grenzverlauf Chinas Bhutan mit einschließen würde; diese Ansprüche wurden, wenn auch nicht für das ganze bhutanische Staatsgebiet, so doch für weite Teile, 1958 und 1960 erneuert.18 Seit 1984 gibt es regelmäßige Gespräche zwischen China und Bhutan, um den Grenzkonfl ikt zu lösen. Mit der Besetzung Tibets verlor Bhutan einen traditionellen Handelspartner, so dass lediglich zu Indien eine sehr enge Verbindung entstehen konnte. Diese Zusammenarbeit begann mit massiven wirtschaftlichen Hilfeleistungen Indiens, die nicht ganz uneigennützig waren, weil Indien es möglichst vermeiden wollte, durch den Verlust Bhutans eine unmittelbare Grenze mit China zu haben. Seit 1949 besteht ein bhutanisch-indischer Freundschaftsvertrag, welcher 2007 erneuert wurde. Dieser wird zumindest in seiner frühen Fassung von der chinesischen Regierung missbilligt, die darin einen hegemonistischen Akt Indiens sieht.19 Der Vertrag sieht vor, dass sich beide Nationen zu enger Zusammenarbeit hinsichtlich des kulturellen Austauschs und der Verbrechensverfolgung sowie zu wirtschaftlichem Freihandel verpfl ichten.20 40 Jahre lang war der Kontakt zu Indien die einzige diplomatische Verbindung Bhutans. Dies hatte auch strategische Gründe, da man einerseits nicht in internationale Streitigkeiten verwickelt werden und andererseits nicht die enge Beziehung zu Indien brüskieren wollte. Mittlerweile erhält Bhutan auch technologische Unterstützung aus europäischen Ländern wie Österreich und der Schweiz, auf Grund vergleichbarer geografischer Gegebenheiten. Weiterhin ist Bhutan Mitglied der Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC) und seit 1971 der UN.
5. Der Auseinandersetzungen mit der nepalesischen Minderheit21 Die ethnische Zusammensetzung der bhutanischen Bevölkerung besteht im Wesentlichen aus drei Gruppen, den Ngalong, den Sharchops und den Nepalesen, Lhotshampas genannt. Keine dieser Gruppen stellt für sich allein eine Mehrheit dar, jedoch ist der kulturelle Hintergrund der ersten beiden Bevölkerungsgruppen ähnlich, da sie beide hauptsächlich aus Buddhisten bestehen und die sprachliche Divergenz gering ist. Dagegen haben die Nepalesen, die ungefähr 28 % der Bevölkerung ausmachen, einen anderen Sprachhintergrund und sind zumeist Anhänger des Hinduismus.22 18
Dorji Penjore, in: Journal of Bhutan Studies, Vol. 10, 2004, S. 108–131 (114). Ders., S. 117. 20 Das ganze Abkommen von 2007 ist einzusehen unter: http://www.bhutandnc.com/Treaty.htm (zuletzt besucht am 23. 11. 2010). 21 Zur ganzen Problematik: Bernice Carrick, in: Asia-Pacific Journal on Human Rights and the Law, 2008, S. 13–28. 22 Ben Saul, International Journal of Refugee Law, 2000, 321–353 (325). 19
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Zwischen 1950 und 1970 wurden die Nepalesen nach und nach integriert und auch in hohen Staatsposten eingesetzt. Mangelhafte Verwaltung im Süden Bhutans, wo hauptsächlich die Lhotshampas leben, und die rasche Verbesserung des Lebensstandards sowie die Modernisierung des Landes trugen dazu bei, dass immer mehr Nepalesen illegal in das Land strömten und die Staatsbürgerschaft erwarben. Seit den frühen 1970er Jahren wurden von staatlicher Seite Maßnahmen ergriffen, um das kulturelle Erbe und eine einheitliche Landeskultur zu fördern. Die nepalesische Kultur wurde hierbei kaum berücksichtigt.23 1981 ergab eine Befragung, dass mittlerweile nahezu 50 % der Bevölkerung Bhutans einen nepalesischen Hintergrund haben.24 Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wurden verschiedene Gesetze erlassen, die die kulturelle Identität Bhutans schützen sollten, aber auch dazu beitrugen, die nepalesischen Traditionen zu unterdrücken.25 Höhepunkt der antinepalesischen Politik Bhutans ist der Citizenship Act 1985,26 durch welchen die Staatsbürgerschaft neu definiert wurde und somit ca. 15 % der Nepalesen in Bhutan ihre Staatsangehörigkeit verloren. Diese flohen 1990 nach Nepal in Flüchtlingslager, nachdem die bhutanische Regierung die Vertreibung mit Waffengewalt vorantrieb. Dem voraus gingen verschiedene Agitationen von nepalesischer Seite, den Süden des Landes Nepal zuzuführen, oder aber die politische Macht in Bhutan zu übernehmen, was durch den Ministerpräsidenten Nepals unterstützt wurde. Die Rückkehr der Flüchtlinge nach Bhutan und die Auflösung der Flüchtlingslager war für 2004 geplant, wurde jedoch, auf Grund eines Angriffs auf bhutanische Regierungsvertreter im Jahr 2003, auf unbestimmte Zeit verschoben.27
III. Die Verfassung und die Herausforderungen durch die Demokratie Wie oben schon dargelegt ist der Verfassungsgebungsprozess nur die Spitze einer langen Reihe von Veränderungen, welche seit 1952 angegangen wurden. Obschon das Volk lange auf das Inkrafttreten der Verfassung vorbereitet wurde, mussten von Seiten der Regierung viele Zweifel des Volkes ausgeräumt werden.28 Letztlich ist die Verfassung aber auch eine Reaktion auf wachsende Einflüsse von außen, sei es um die Tradition und die Kultur des Landes zu schützen, oder um von modernen Errungenschaften zu profitieren. Im letzten Teil dieser Betrachtung sollen einige Besonderheiten der Verfassung erörtert werden, die zum Teil auch in der hiesigen Presse Beachtung fanden.29 23
B. R. Giri, in: Journal of the Royal Society for Asian Affairs, November 2004, 353–364 (355). Michael Hutt, Unbecoming Citizens: Culture, Nationhood, and the Flight of Refugees from Bhutan, Oxford 2005, S. 132. 25 Ausführlich zu den einzelnen Maßnahmen: B. R. Giri, aaO. (Fn. 23), S. 356. 26 Einzusehen unter: http://www.satp.org/satporgtp/countries/bhutan/document/actandordinanc es/bhutan_citenship_act_1985.html, (zuletzt besucht am 26. 11. 2010). 27 Harald Nestroy, aaO., (Fn. 8), S. 349. 28 Aim Sinpeng, Journal of Bhutan Studies, Vol. 17, 2007, S. 21–48 (23, 39–40). 29 Insbesondere das GNH (Gross National Happiness = Bruttosozialglück) wurde in der Vergangenheit häufig von der Presse thematisiert. So bei: Andreas Hilmer, aaO. (Fn. 1); Patrick Bernau, Was die Völker der Welt glücklich macht, FAZ Nr. 38, vom 20. 09. 2009, S. 45. 24
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1. Königreich und konstitutionelle Monarchie Art. 1 der Verfassung von Bhutan enthält Bestimmungen über das Königreich und seine „Grundausstattung“. Hier werden nationale Symbole und Sprache, Souveränität, Staatsgebiet sowie das Verhältnis der Verfassung zu anderen Gesetzen und die verfassungsrechtliche Interpretationshoheit des Supreme Courts festgelegt. Dass die Unabhängigkeit und das Territorium die erstgenannten Gegenstände in der Verfassung sind, ist zum einen für asiatische Staaten nicht unüblich, die Verfassungen von Indien und Singapur beginnen mit ähnlichem Inhalt, zum anderen zeigt es, dass man sich in Bhutan seiner geopolitisch schwierigen Lage bewusst ist. Auch hat die Unverletzlichkeit des Staatsterritoriums historische Tradition, da Bhutan nie kolonialisiert wurde.30 Obschon Art. 1 Nr. 2 zweifelsfrei festlegt, dass Bhutan eine demokratisch konstitutionelle Monarchie ist, wird in Art. 2 die Rolle der königlichen Familie und der Erbmonarchie selbst umfassend bestimmt. Der König ist gem. Art. 2 Nr. 1–2 „Druk Gyalpo“ und „Chhoe-sid“, also weltliches und religiöses Oberhaupt des Landes. Seine herausragende Rolle ergibt sich in der Verfassung u. a. aus Art. 2 Nr. 15 ff., wonach ihm umfassende Vorrechte zugesichert werden und er volle Immunität genießt gegenüber der Justiz. Darüber hinaus behält das Volk, trotz des Systemwechsels, seine volle Loyalität gegenüber dem König. Dies zeigt sich auch darin, dass die beiden Parteien, DPT (Partei für Frieden und Wohlstand – Druk Phuensum Tshogpa) und PDP (People’s Democratic Party) ähnliche Parteiprogramme haben, welche die Fortsetzung der Politik des Königs vorsehen.31
2. Spirituelles Erbe und Kultur 32 Kultur und Religion sind in Bhutan tief verwurzelt und stellen immer wieder einen Bezugspunkt für Entscheidungen dar. Jedoch sind sie auch Anlass für Spannungen, gerade wenn es um Kulturprotektionismus auf Kosten von Minderheiten, wie zum Beispiel der nepalesischen Minderheit in Bhutan, geht. Hierbei können Gesetze zum Schutz der Kultur für Assimilationszwecke missbraucht werden.33 Betrachtet man allein den Gesetzeswortlaut, so erscheint es fraglich, ob die bestehenden Spannungen hinsichtlich der nepalesischen Minderheit in Bhutan mit Hilfe der neuen Verfassung gelöst werden können. So ist der König gem. Art. 3 Nr. 2 zwar Schützer aller Religionen in Bhutan, jedoch ist gem. Art. 3 Nr. 1 der Buddhismus das spirituell geschützte und geförderte Erbe des Landes. Darüber hinaus fi nden sich weder in Art. 3 noch in Art. 4 Aussagen über einen pluralistischen Kultur- und Religionsausübungsschutz. Die Bezugnahme auf das kulturelle oder spirituelle Erbe des
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S. o. II, 2. Aim Sinpeng, aaO. (Fn. 28), S. 41. 32 Siehe allgemein zu Entwicklungsländern und Kulturverfassungsrecht: Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 9–18. 33 S. o. II, 5. 31
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Landes wurde in der Vergangenheit eher einseitig und zum Nachteil der Bevölkerung mit nepalesischem Hintergrund ausgelegt.34 Eine weitere Herausforderung des starken und umfassenden Kulturschutzes in der Verfassung liegt auch in der medialen und touristischen Öffnung des Landes. Fernsehen und Internet wurden ende der 1990er Jahre in Bhutan eingeführt.35 Für den Erhalt der kulturellen Identität Bhutans ergeben sich hieraus sowohl Risiken als auch Chancen.36 So wird einerseits befürchtet, dass durch die Medien Bedürfnisse geweckt werden, die dem Glauben und der Kultur Bhutans fern sind und so eine Erosion bewirken, andererseits sollen die Medien auch dafür sorgen, dass Kultur konserviert und besser verbreitet wird.
3. Umweltschutz Umweltschutz genießt in Bhutan hohe Priorität. Mindestens 60 % des Landes sind gem. Art. 5 Nr. 3 geschützt. Auch auf die Nachhaltigkeit der Umweltnutzung wurde Rücksicht genommen. So besteht ein Großteil des Staatshaushaltes aus Einnahmen, die durch den Verkauf von Energie aus Wasserkraft generiert werden. Schon früh wurden auch die Gefahren des unregulierten Tourismus für die Natur und Kultur Bhutans erkannt. Die Regierung entschloss sich, diesen Wirtschaftszweig unter dem Gesichtspunkt „high value low volume“ zu erschließen und reguliert die Anzahl der möglichen Touristen sowie die Zahl der Expeditionen.37 Darüber hinaus wird dem Urlaubsreisenden ein Tagessatz von bis zu 200 $ berechnet. Über diese Einnahmen hinaus verfügt Bhutan über einen Treuhänderfonds, der dem Staat dazu dient, seinen Aufgaben im Bereich Umweltschutz umfassend gerecht zu werden.
4. Gross National Happiness (GNH) – Staatsbürgerschaft Das GNH oder auch „Bruttosozialglück“ ist eine Eigenheit der bhutanischen Verfassung die in Art. 9 Nr. 2 als Staatsziel verankert wurde. Es wurde mittlerweile in etwas anderer Form in die Verfassungen von Ecuador38 und Bolivien39, unter dem Begriff „buen vivir“, gutes Leben, eingearbeitet.40 GNH ist der Versuch, den Wohlstand eines Landes nicht durch seine wirtschaftliche Leistung zu bestimmen, sondern durch die Zufriedenheit seiner Bevölkerung. In Bhutan fi ndet das Prinzip seine Ausgestaltung darin, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bewusst langsam voranschreitet, um Kultur und Natur zu er34
Sanjoy Hazarika, in: Weiner/Russel, Demography and National Security, 2002, S. 247. Ross McDonald in: Journal of Bhutan Studies, Vol. 11, 2004, S. 68–89 (68). 36 Ausführlich zum Thema Medien statt aller Zitate: Kritisch: Ross McDonald, aaO., (Fn. 32); ders. in: Selling Desire and Dissatisfaction: Why Advertising should be banned From Bhutanese Television, Journal of Bhutan Studies, Vol. 16, 2004; Positiv: Tshewang Dendup in: Roar of the Thunder Dragon: The Bhutanese Audio-visual Industry and the Shaping and Representation of Contemporary Culture, Bhutan Journal of Bhutan Studies, Vol. 14, 2006. 37 Tandi Dorji, in: Journal of Bhutan Studies, Vol. 3, 2001, S. 84–104 (85). 38 Art. 3 der Verfassung von Ecuador. 39 Art. 8 und 309 der Verfassung von Bolivien. 40 Almut Schilling-Vacaflor in: Juridikum, Nr. 4, 2009, S. 214–218 (215). 35
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halten. Als Kompensation werden von staatlicher Seite die Mittel gestellt, damit jeder Einzelne die Möglichkeit zu einem gesicherten Leben hat.41 Dieses Prinzip ist der gesamten Verfassung Bhutans inhärent und fi ndet seine Ausgestaltung in ihr selbst. Darüber hinaus wird aber auch die Politik des GNH in Zukunft Veränderungen erfahren müssen, da sich mit steigendem Wohlstand die Bedürfnisstruktur der Menschen ändert. Wann jemand die bhutanische Staatsbürgerschaft hat, ist in Art. 6 geregelt. In diesem wurde weitestgehend der Wortlaut des Citizenship Act von 1985 übernommen.42 Somit bleibt auch mit der Verfassung die Frage der Nationalität der Vertriebenen aus Bhutan ungeklärt, bzw. ihre Staatsbürgerschaft wird ihnen weiterhin vorenthalten.
IV. Fazit Mit der Verfassungsgebung hat das Königreich Bhutan den letzten großen Schritt zur Öffnung des Landes hinter sich gebracht. Dadurch konnte es sein Bestehen neben den beiden großen Nachbarn, Indien und China, sichern. Jedoch kommen durch die Öffnungspolitik auch neue Aufgaben auf die neue Regierung und das Land zu. Das starke Bestreben, die eigene Kultur und Identität zu wahren, tritt in der Verfassung deutlich hervor. Inwieweit dies aufrechterhalten werden kann, wird die Zukunft zeigen, denn zunehmend werden kommende Generationen mit Hilfe der Medien den Blick über die Grenzen Bhutans hinaus richten. Auch aus dem Weltgeschehen kann sich Bhutan nicht mehr heraushalten. Seine Position zu Konfl ikten seiner Nachbarn, wie zwischen China und Taiwan, und sein Abstimmungsverhalten in internationalen Gremien wird genau beobachtet. Auch muss die Demokratie weiter gefestigt und ausgebaut werden. Die starke Stellung des Königs ist momentan noch notwendig, wird in der Zukunft aber möglicherweise korrigiert werden müssen, wenn die Parteien mit ihren Programmen dynamischer und selbstständiger werden. Erfreulich ist hierbei, dass Regierung und Opposition die rechtsstaatlichen Mittel nutzen, um zu verfassungskonformen Entscheidungen zu kommen.43 Letztlich muss der Status der nepalesischen Minderheit, die sich in Flüchtlingslagern befindet, geklärt werden. Die Richtung, welche Bhutan eingeschlagen hat, erscheint alles in allem positiv. Im Hinblick auf den Naturschutz und das Staatsziel des Gross National Happiness dürfte dem Land sogar eine Vorreiterrolle zukommen.44 Es wird also nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht interessant sein, den weiteren Weg des „Landes des Donnerdrachens“ zu verfolgen. 41
Siehe ausführlich zum GNH statt aller Zitate: Johannes Hirata in: Journal of Bhutan Studies, Vol. 9, 2003, S. 99. 42 AaO. (Fn. 26). 43 Siehe: Entscheidung des High Court über die Verfassungskonformität der von der Regierung vorgenommenen Steueränderungen vom 18. 09. 2010. http://www.judiciary.gov.bt/html/case/englishj.pdf (zuletzt besucht am 06. 12. 2010). 44 Siehe zur Diskussion über das „Bruttosozialglück“ anstelle des BIPs als Bewertungsmaßstab: Markus Balser und Michael Bauchmüller, Vergleich von Volkswirtschaften – Schaut mal nach Bhutan, Süddeutsche Zeitung vom 18. 01. 2011.
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Preamble WE, the people of Bhutan: BLESSED by the Triple Gem, the protection of our guardian deities, the wisdom of our leaders, the everlasting fortunes of the Pelden Drukpa and the guidance of His Majesty the Druk Gyalpo Jigme Khesar Namgyel Wangchuck; SOLEMNLY pledging ourselves to strengthen the sovereignty of Bhutan, to secure the blessings of liberty, to ensure justice and tranquillity and to enhance the unity, happiness and well-being of the people for all time; DO HEREBY ordain and adopt this Constitution for the Kingdom of Bhutan on the Fifteenth Day of the Fifth Month of the Male Earth Rat Year corresponding to the Eighteenth Day of July, Two Thousand and Eight. Article 1 Kingdom of Bhutan 1. Bhutan is a Sovereign Kingdom and the Sovereign power belongs to the people of Bhutan. 2. The form of Government shall be that of a Democratic Constitutional Monarchy. 3. The international territorial boundary of Bhutan is inviolable and any alteration of areas and boundaries thereof shall be done only with the consent of not less than three-fourths of the total number of members of Parliament. 4. The territory of Bhutan shall comprise twenty Dzongkhags with each Dzongkhag consisting of Gewogs and Thromdes. Alteration of areas and boundaries of any Dzongkhag or Gewog shall be done only with the consent of not less than three-fourths of the total number of members of Parliament. 5. The National Flag and the National Emblem of Bhutan shall be as specified in the First Schedule of this Constitution. 6. The National Anthem of Bhutan shall be as specified in the Second Schedule of this Constitution. 7. The National Day of Bhutan shall be the Seventeenth Day of December of each year. 8. Dzongkha is the National Language of Bhutan. 9. This Constitution is the Supreme Law of the State.
10. All laws in force in the territory of Bhutan at the time of adopting this Constitution shall continue until altered, repealed or amended by Parliament. However, the provisions of any law, whether made before or after the coming into force of this Constitution, which are inconsistent with this Constitution, shall be null and void. 11. The Supreme Court shall be the guardian of this Constitution and the fi nal authority on its interpretation. 12. The rights over mineral resources, rivers, lakes and forests shall vest in the State and are the properties of the State, which shall be regulated by law. 13. There shall be separation of the Executive, the Legislature and the Judiciary and no encroachment of each other’s powers is permissible except to the extent provided for by this Constitution. Article 2 The Institution of Monarchy 1. His Majesty the Druk Gyalpo is the Head of State and the symbol of unity of the Kingdom and of the people of Bhutan. 2. The Chhoe-sid-nyi of Bhutan shall be unified in the person of the Druk Gyalpo who, as a Buddhist, shall be the upholder of the Chhoesid. 3. The title to the Golden Throne of Bhutan shall vest in the legitimate descendants of Druk Gyalpo Ugyen Wangchuck as enshrined in the inviolable and historic Gyenja of the Thirteenth Day, Eleventh Month of the Earth Monkey Year, corresponding to the Seventeenth Day of December, Nineteen Hundred and Seven and shall: (a) Pass only to children born of lawful marriage; (b) Pass by hereditary succession to the direct lineal descendants on the abdication or demise of the Druk Gyalpo, in order of seniority, with a prince taking precedence over a princess, subject to the requirement that, in the event of shortcomings in the elder prince, it shall be the sacred duty of the Druk Gyalpo to select and proclaim the most capable prince or princess as heir to the Throne;
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang (c) Pass to the child of the Queen who is pregnant at the time of the demise of the Druk Gyalpo if no heir exists under section 3(b); (d) Pass to the nearest collateral line of the descendants of the Druk Gyalpo in accordance with the principle of lineal descent, with preference being given for elder over the younger, if the Druk Gyalpo has no direct lineal descendant; (e) Not pass to children incapable of exercising the Royal Prerogatives by reason of physical or mental infi rmity; and (f ) Not pass to a person entitled to succeed to the Throne who enters into a marriage with a person other than a natural born citizen of Bhutan. 4. The successor to the Throne shall receive dar from the Machhen of Zhabdrung Ngawang Namgyal at Punakha Dzong and shall be crowned on the Golden Throne. 5. Upon the ascension of the Druk Gyalpo to the Throne, the members of the Royal Family, the members of Parliament and the office holders mentioned in section 19 of this Article shall take an Oath of Allegiance to the Druk Gyalpo. 6. Upon reaching the age of sixty-five years, the Druk Gyalpo shall step down and hand over the Throne to the Crown Prince or Crown Princess, provided the Royal Heir has come of age. 7. There shall, subject to the provision of section 9 of this Article, be a Council of Regency when: (a) The successor to the Throne has not attained the age of twenty-one years; (b) The Druk Gyalpo has temporarily relinquished, by Proclamation, the exercise of the Royal Prerogatives; or (c) It has been resolved by not less than threefourths of the total number of members of Parliament in a joint sitting that the Druk Gyalpo is unable to exercise the Royal Prerogatives by reason of temporary physical or mental infi rmity. 8. The Council of Regency shall collectively exercise the Royal Prerogatives and the powers vested in the Druk Gyalpo under this Constitution and shall be composed of: (a) A senior member of the Royal Family nominated by the Privy Council; (b) The Prime Minister; (c) The Chief Justice of Bhutan; (d) The Speaker; (e) The Chairperson of the National Council; and (f ) The Leader of the Opposition Party. 9. In the case speîified under section 7(b) or 7(c) of this Article, the descendant of the Druk Gyalpo, who is the heir presumptive, shall, in-
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stead of the Council of Regency, become Regent by right, if the heir presumptive has attained the age of twenty-one years. 10. The members of the Council of Regency shall take an Oath of Allegiance before Parliament to faithfully discharge their duties. 11. When the successor to the Throne attains the age of twentyone years or when the Druk Gyalpo resumes the exercise of the Royal Prerogatives under sections 7(a) and 7(b) of this Article, notice shall be given by Proclamation. However, when the Druk Gyalpo regains the ability to exercise the Royal Prerogatives under section 7(c) of this Article, notice shall be given to that effect by resolution of Parliament. 12. The members of the Royal Family shall be the reigning and past Monarchs, their Queens and the Royal Children born of lawful marriage. 13. The Druk Gyalpo and the members of the Royal Family shall be entitled to: (a) Annuities from the State in accordance with a law made by Parliament; (b) All rights and privileges including the provision of palaces and residences for official and personal use; and (c) Exemption from taxation on the royal annuity and properties provided for by sections 13(a) and 13(b) of this Article. 14. There shall be a Privy Council, which shall consist of two members appointed by the Druk Gyalpo, one member nominated by the Lhengye Zhungtshog and one member nominated by the National Council. The Privy Council shall be responsible for: (a) All matters pertaining to the privileges of the Druk Gyalpo and the Royal Family; (b) All matters pertaining to the conduct of the Royal Family; (c) Rendering advice to the Druk Gyalpo on matters concerning the Throne and the Royal Family; (d) All matters pertaining to crown properties; and (e) Any other matter as may be commanded by the Druk Gyalpo. 15. The Druk Gyalpo shall not be answerable in a court of law for His actions and His person shall be sacrosanct. 16. The Druk Gyalpo, in exercise of His Royal Prerogatives, may: (a) Award titles, decorations, dar for Lhengye and Nyi- Kyelma in accordance with tradition and custom; (b) Grant citizenship, land kidu and other kidus;
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(c) Grant amnesty, pardon and reduction of sentences; (d) Command Bills and other measures to be introduced in Parliament; and (e) Exercise powers relating to matters which are not provided for under this Constitution or other laws. 17. The Druk Gyalpo may promote goodwill and good relations with other countries by receiving state guests and undertaking state visits to other countries. 18. The Druk Gyalpo shall protect and uphold this Constitution in the best interest and for the welfare of the people of Bhutan. 19. The Druk Gyalpo shall, by warrant under His hand and seal, appoint: (a) The Chief Justice of Bhutan in accordance with section 4 of Article 21; (b) The Drangpons of the Supreme Court in accordance with section 5 of Article 21; (c) The Chief Justice of the High Court in accordance with section 11 of Article 21; (d) The Drangpons of the High Court in accordance with section 12 of Article 21; (e) The Chief Election Commissioner and Election Commissioners in accordance with section 2 of Article 24; (f ) The Auditor General in accordance with section 2 of Article 25; (g) The Chairperson and members of the Royal Civil Service Commission in accordance with section 2 of Article 26; (h) The Chairperson and members of the AntiCorruption Commission in accordance with section 2 of Article 27; (i) The heads of the Defence Forces from a list of names recommended by the Service Promotion Board; ( j) The Attorney General in accordance with section 2 of Article 29; (k) The Governor of the Central Bank of Bhutan on the recommendation of the Prime Minister; (l) The Chairperson of the Pay Commission in accordance with section 1 of Article 30; (m) The Cabinet Secretary on the recommendation of the Prime Minister; (n) The Secretary General of the respective Houses on the recommendation of the Royal Civil Service Commission; (o) Ambassadors and Consuls on the recommendation of the Prime Minister; (p) The Secretaries to the Government on the recommendation of the Prime Minister who shall obtain nominations from the Royal Civil Service
Commission on the basis of merit and seniority and in accordance with other relevant rules and regulations; and (q) Dzongdags on the recommendation of the Prime Minister who shall obtain nominations from the Royal Civil Service Commission. 20. The Druk Gyalpo shall abdicate the Throne for willful violations of this Constitution or for being subject to permanent mental disability, on a motion passed by a joint sitting of Parliament in accordance with the procedure as laid down in sections 21, 22, 23, 24 and 25 of this Article. 21. The motion for abdication shall be tabled for discussion at a joint sitting of Parliament if not less than twothirds of the total number of the members of Parliament submits such a motion based on any of the grounds in section 20 of this Article. 22. The Druk Gyalpo may respond to the motion in writing or by addressing the joint sitting of Parliament in person or through a representative. 23. The Chief Justice of Bhutan shall preside over the joint sitting of Parliament mentioned in section 21 of this Article. 24. If, at such joint sitting of Parliament, not less than three-fourths of the total number of members of Parliament passes the motion for abdication, then such a resolution shall be placed before the people in a National Referendum to be approved or rejected. 25. On such a resolution being approved by a simple majority of the total number of votes cast and counted from all the Dzongkhags in the Kingdom, the Druk Gyalpo shall abdicate in favour of the heir apparent. 26. Parliament shall make no laws or exercise its powers to amend the provisions of this Article and section 2 of Article 1 except through a National Referendum. Article 3 Spiritual Heritage 1. Buddhism is the spiritual heritage of Bhutan, which promotes the principles and values of peace, non-violence, compassion and tolerance. 2. The Druk Gyalpo is the protector of all religions in Bhutan. 3. It shall be the responsibility of religious institutions and personalities to promote the spiritual heritage of the country while also ensuring that religion remains separate from politics in Bhutan. Religious institutions and personalities shall remain above politics. 4. The Druk Gyalpo shall, on the recommendation of the Five Lopons, appoint a learned and respected monk ordained in accordance with the
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang Druk-lu, with the nine qualities of a spiritual master and accomplished in ked-dzog, as the Je Khenpo. 5. His Holiness the Je Khenpo shall, on the recommendation of the Dratshang Lhentshog, appoint monks with the nine qualities of a spiritual master and accomplished in ked-dzog as the Five Lopons. 6. The members of the Dratshang Lhentshog shall comprise: (a) The Je Khenpo as Chairman; (b) The Five Lopons of the Zhung Dratshang; and (c) The Secretary of the Dratshang Lhentshog who is a civil servant. 7. The Zhung Dratshang and Rabdeys shall continue to receive adequate funds and other facilities from the State. Article 4 Culture 1. The State shall endeavour to preserve, protect and promote the cultural heritage of the country, including monuments, places and objects of artistic or historic interest, Dzongs, Lhakhangs, Goendeys, Ten-sum, Nyes, language, literature, music, visual arts and religion to enrich society and the cultural life of the citizens. 2. The State shall recognize culture as an evolving dynamic force and shall endeavour to strengthen and facilitate the continued evolution of traditional values and institutions that are sustainable as a progressive society. 3. The State shall conserve and encourage research on local arts, custom, knowledge and culture. 4. Parliament may enact such legislation as may be necessary to advance the cause of the cultural enrichment of Bhutanese society. Article 5 Environment 1. Every Bhutanese is a trustee of the Kingdom’s natural resources and environment for the benefit of the present and future generations and it is the fundamental duty of every citizen to contribute to the protection of the natural environment, conservation of the rich biodiversity of Bhutan and prevention of all forms of ecological degradation including noise, visual and physical pollution through the adoption and support of environment friendly practices and policies. 2. The Royal Government shall:
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(a) Protect, conserve and improve the pristine environment and safeguard the biodiversity of the country; (b) Prevent pollution and ecological degradation; (c) Secure ecologically balanced sustainable development while promoting justifi able economic and social development; and (d) Ensure a safe and healthy environment. 3. The Government shall ensure that, in order to conserve the country’s natural resources and to prevent degradation of the ecosystem, a minimum of sixty percent of Bhutan’s total land shall be maintained under forest cover for all time. 4. Parliament may enact environmental legislation to ensure sustainable use of natural resources and maintain intergenerational equity and reaffi rm the sovereign rights of the State over its own biological resources. 5. Parliament may, by law, declare any part of the country to be a National Park, Wildlife Reserve, Nature Reserve, Protected Forest, Biosphere Reserve, Critical Watershed and such other categories meriting protection. Article 6 Citizenship 1. A person, both of whose parents are citizens of Bhutan, shall be a natural born citizen of Bhutan. 2. A person, domiciled in Bhutan on or before the Thirty-First of December Nineteen Hundred and Fifty Eight and whose name is registered in the official record of the Government of Bhutan shall be a citizen of Bhutan by registration. 3. A person who applies for citizenship by naturalization shall: (a) Have lawfully resided in Bhutan for at least fi fteen years; (b) Not have any record of imprisonment for criminal offences within the country or outside; (c) Be able to speak and write Dzongkha; (d) Have a good knowledge of the culture, customs, traditions and history of Bhutan; (e) Have no record of having spoken or acted against the Tsawa-sum; (f ) Renounce the citizenship, if any, of a foreign State on being conferred Bhutanese citizenship; and (g) Take a solemn Oath of Allegiance to the Constitution as may be prescribed. 4. The grant of citizenship by naturalization shall take effect by a Royal Kasho of the Druk Gyalpo.
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5. If any citizen of Bhutan acquires the citizenship of a foreign State, his or her citizenship of Bhutan shall be terminated. 6. Subject to the provisions of this Article and the Citizenship Acts, Parliament shall, by law, regulate all other matters relating to citizenship. Article 7 Fundamental Rights 1. All persons shall have the right to life, liberty and security of person and shall not be deprived of such rights except in accordance with the due process of law. 2. A Bhutanese citizen shall have the right to freedom of speech, opinion and expression. 3. A Bhutanese citizen shall have the right to information. 4. A Bhutanese citizen shall have the right to freedom of thought, conscience and religion. No person shall be compelled to belong to another faith by means of coercion or inducement. 5. There shall be freedom of the press, radio and television and other forms of dissemination of information, including electronic. 6. A Bhutanese citizen shall have the right to vote. 7. A Bhutanese citizen shall have the right to freedom of movement and residence within Bhutan. 8. A Bhutanese citizen shall have the right to equal access and opportunity to join the Public Service. 9. A Bhutanese citizen shall have the right to own property, but shall not have the right to sell or transfer land or any immovable property to a person who is not a citizen of Bhutan, except in keeping with laws enacted by Parliament. 10. A Bhutanese citizen shall have the right to practice any lawful trade, profession or vocation. 11. A Bhutanese citizen shall have the right to equal pay for work of equal value. 12. A Bhutanese citizen shall have the right to freedom of peaceful assembly and freedom of association, other than membership of associations that are harmful to the peace and unity of the country, and shall have the right not to be compelled to belong to any association. 13. Every person in Bhutan shall have the right to material interests resulting from any scientific, literary or artistic production of which he or she is the author or creator. 14. A person shall not be deprived of property by acquisition or requisition, except for public purpose and on payment of fair compensation in accordance with the provisions of the law.
15. All persons are equal before the law and are entitled to equal and effective protection of the law and shall not be discriminated against on the grounds of race, sex, language, religion, politics or other status. 16. A person charged with a penal offence has the right to be presumed innocent until proven guilty in accordance with the law. 17. A person shall not be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. 18. A person shall not be subjected to capital punishment. 19. A person shall not be subjected to arbitrary or unlawful interference with his or her privacy, family, home or correspondence nor to unlawful attacks on the person’s honour and reputation. 20. A person shall not be subjected to arbitrary arrest or detention. 21. A person shall have the right to consult and be represented by a Bhutanese Jabmi of his or her choice. 22. Notwithstanding the rights conferred by this Constitution, nothing in this Article shall prevent the State from subjecting reasonable restriction by law, when it concerns: (a) The interests of the sovereignty, security, unity and integrity of Bhutan; (b) The interests of peace, stability and wellbeing of the nation; (c) The interests of friendly relations with foreign States; (d) Incitement to an offence on the grounds of race, sex, language, religion or region; (e) The disclosure of information received in regard to the affairs of the State or in discharge of official duties; or (f ) The rights and freedom of others. 23. All persons in Bhutan shall have the right to initiate appropriate proceedings in the Supreme Court or High Court for the enforcement of the rights conferred by this Article, subject to section 22 of this Article and procedures prescribed by law. Article 8 Fundamental Duties 1. A Bhutanese citizen shall preserve, protect and defend the sovereignty, territorial integrity, security and unity of Bhutan and render national service when called upon to do so by Parliament. 2. A Bhutanese citizen shall have the duty to preserve, protect and respect the environment, culture and heritage of the nation. 3. A Bhutanese citizen shall foster tolerance, mutual respect and spirit of brotherhood amongst
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang all the people of Bhutan transcending religious, linguistic, regional or sectional diversities. 4. A person shall respect the National Flag and the National Anthem. 5. A person shall not tolerate or participate in acts of injury, torture or killing of another person, terrorism, abuse of women, children or any other person and shall take necessary steps to prevent such acts. 6. A person shall have the responsibility to provide help, to the greatest possible extent, to victims of accidents and in times of natural calamity. 7. A person shall have the responsibility to safeguard public property. 8. A person shall have the responsibility to pay taxes in accordance with the law. 9. Every person shall have the duty to uphold justice and to act against corruption. 10. Every person shall have the duty to act in aid of the law. 11. Every person shall have the duty and responsibility to respect and abide by the provisions of this Constitution. Article 9 Principles of State Policy 1. The State shall endeavour to apply the Principles of State Policy set out in this Article to ensure a good quality of life for the people of Bhutan in a progressive and prosperous country that is committed to peace and amity in the world. 2. The State shall strive to promote those conditions that will enable the pursuit of Gross National Happiness. 3. The State shall endeavour to create a civil society free of oppression, discrimination and violence, based on the rule of law, protection of human rights and dignity, and to ensure the fundamental rights and freedoms of the people. 4. The State shall endeavour to protect the telephonic, electronic, postal or other communications of all persons in Bhutan from unlawful interception or interruption. 5. The State shall endeavour to provide justice through a fair, transparent and expeditious process. 6. The State shall endeavour to provide legal aid to secure justice, which shall not be denied to any person by reason of economic or other disabilities. 7. The State shall endeavour to develop and execute policies to minimize inequalities of income, concentration of wealth, and promote equitable distribution of public facilities among individuals
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and people living in different parts of the Kingdom. 8. The State shall endeavour to ensure that all the Dzongkhags are treated with equity on the basis of different needs so that the allocation of national resources results in comparable socioeconomic development. 9. The State shall endeavour to achieve economic self-reliance and promote open and progressive economy. 10. The State shall encourage and foster private sector development through fair market competition and prevent commercial monopolies. 11. The State shall endeavour to promote those circumstances that would enable the citizens to secure an adequate livelihood. 12. The State shall endeavour to ensure the right to work, vocational guidance and training and just and favourable conditions of work. 13. The State shall endeavour to ensure the right to rest and leisure, including reasonable limitation of working hours and periodic holidays with pay. 14. The State shall endeavour to ensure the right to fair and reasonable remuneration for one’s work. 15. The State shall endeavour to provide education for the purpose of improving and increasing knowledge, values and skills of the entire population with education being directed towards the full development of the human personality. 16. The State shall provide free education to all children of school going age up to tenth standard and ensure that technical and professional education is made generally available and that higher education is equally accessible to all on the basis of merit. 17. The State shall endeavour to take appropriate measures to eliminate all forms of discrimination and exploitation against women including trafficking, prostitution, abuse, violence, harassment and intimidation at work in both public and private spheres. 18. The State shall endeavour to take appropriate measures to ensure that children are protected against all forms of discrimination and exploitation including trafficking, prostitution, abuse, violence, degrading treatment and economic exploitation. 19. The State shall endeavour to promote those conditions that are conducive to co-operation in community life and the integrity of the extended family structure. 20. The State shall strive to create conditions that will enable the true and sustainable develop-
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ment of a good and compassionatesociety rooted in Buddhist ethos and universal human values. 21. The State shall provide free access to basic public health services in both modern and traditional medicines. 22. The State shall endeavour to provide security in the event of sickness and disability or lack of adequate means of livelihood for reasons beyond one’s control. 23. The State shall encourage free participation in the cultural life of the community, promote arts and sciences and foster technological innovation. 24. The State shall endeavour to promote goodwill and cooperation with nations, foster respect for international law and treaty obligations, and encourage settlement of international disputes by peaceful means in order to promote international peace and security. Article 10 Parliament 1. There shall be a Parliament for Bhutan in which all legislative powers under this Constitution are vested and which shall consist of the Druk Gyalpo, the National Council and the National Assembly. 2. Parliament shall ensure that the Government safeguards the interests of the nation and fulfi ls the aspirations of the people through public review of policies and issues, Bills and other legislations, and scrutiny of State functions. 3. The election of the members of Parliament shall be in accordance with the provisions of the Electoral Laws of the Kingdom. 4. A person shall not be a member of the National Council as well as the National Assembly or a Local Government at the same time. 5. The Druk Gyalpo shall summon the fi rst sitting of Parliament after each general election. 6. At the commencement of each session of Parliament, the Druk Gyalpo shall be received in a joint sitting of Parliament with Chibdrel Ceremony. Each session shall be opened with a Zhugdrel-phunsum tshog-pai ten-drel and each session shall conclude with the Tashi-mon-lam. 7. The Druk Gyalpo may address or sit in the proceedings of either House or a joint sitting of Parliament as and when deemed expedient. 8. The Druk Gyalpo may send messages to either or both the Houses as deemed expedient. 9. The House receiving the message shall, as early as possible, consider the matter referred to in the message and submit its opinion to the Druk Gyalpo.
10. The Prime Minister shall present an Annual Report on the state of the nation, including legislative plans and the annual plans and priorities of the Government, to the Druk Gyalpo and to a joint sitting of Parliament. 11. Both Houses shall determine their rules of procedure, and the proceedings of each House shall be conducted in accordance with its own rules. The rules of procedure in each House shall provide for the appointment of Committees to carry out the business of Parliament. 12. The Speaker and the Chairperson shall convene an extraordinary sitting of Parliament on the command of the Druk Gyalpo if the exigencies of the situation so demand. 13. Each Member of Parliament shall have one vote. In case of equal votes, the Speaker or the Chairperson shall cast the deciding vote. 14. The presence of not less than two-thirds of the total number of members of each House respectively shall constitute a quorum for a sitting of the National Council or the National Assembly. 15. The proceedings of Parliament shall be conducted in public. However, the Speaker or the Chairperson may exclude the press and the public from all or any part of the proceedings if there is a compelling need to do so in the interests of public order, national security or any other situation, where publicity would seriously prejudice public interest. 16. The Speaker shall preside over the proceedings of a joint sitting and the venue for the joint sitting of the Houses shall be the hall of the National Assembly. 17. When the office of a member of Parliament becomes vacant for any reason other than the expiration of term, an election of a member to fi ll the vacancy shall be held within ninety days as from the date of the vacancy. 18. The members of Parliament shall take an Oath or Affi rmation of Office, as provided for in the Third Schedule of this Constitution, before assuming their responsibilities. 19. The Prime Minister, the Ministers, the Speaker, the Deputy Speaker, the Chairperson and Deputy Chairperson of the National Council shall take an Oath or Affi rmation of Secrecy, as provided for in the Fourth Schedule of this Constitution, before assuming office. 20. Every member of Parliament shall maintain the decorum and dignity of the House and shall desist from acts of defamation and use of physical force. 21. The members of Parliament or any Committee thereof shall be immune from any inquiry,
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang arrest, detention or prosecution on account of any opinion expressed in the course of the discharge of their functions or vote cast in Parliament and no person shall be liable in respect of any report, paper or proceedings made or published under the authority of Parliament. 22. The immunities herein granted shall not cover corrupt acts committed by the members in connection with the dischargen of their duties or cover other acts of accepting money or any other valuables in consideration to speak or to vote in a particular manner. 23. The concurrence of not less than twothirds of the total number of members of each House respectively is required to remove the right of immunity of a member. 24. The National Assembly and the National Council shall continue for five years from the date of the fi rst sitting of the respective Houses. While the National Council shall complete its five-year term, premature dissolution of the National Assembly may take place on the recommendation of the Prime Minister to the Druk Gyalpo or in the event of a motion of no confidence vote against the Government being passed in the National Assembly or in accordance with section 12 of Article 15. 25. Except for existing International Conventions, Covenants, Treaties, Protocols and Agreements entered into by Bhutan, which shall continue in force subject to section 10 of Article 1, all International Conventions, Covenants, Treaties, Protocols and Agreements duly acceded to by the Government hereafter, shall be deemed to be the law of the Kingdom only upon ratification by Parliament unless it is inconsistent with this Constitution. Article 11 The National Council 1. The National Council shall consist of twenty-five members comprising: (a) One member elected by the voters in each of the twenty Dzongkhags; and (b) Five eminent persons nominated by the Druk Gyalpo. 2. Besides its legislative functions, the National Council shall act as the House of review on matters affecting the security and sovereignty of the country and the interests of the nation and the people that need to be brought to the notice of the Druk Gyalpo, the Prime Minister and the National Assembly. 3. A candidate to or a member of the National Council shall not belong to any political party. 4. At the fi rst sitting after any National Council election, or when necessary to fi ll a vacancy,
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the National Council shall elect a Chairperson and Deputy Chairperson from among its members. 5. The Druk Gyalpo shall, by warrant under His hand and seal, confer Dakyen to the Chairperson. 6. The National Council shall assemble at least twice a year. Article 12 The National Assembly 1. The National Assembly shall have a maximum of fi fty-five members, elected from each Dzongkhag in proportion to its population, provided that no Dzongkhag shall have less than two members or more than seven members, for which purpose Parliament shall, by law, provide for each Dzongkhag to be divided into constituencies through appropriate delimitation, and for the voters in each constituency directly electing one member to the National Assembly. 2. The number of elected members from each Dzongkhag shall be reapportioned to reflect the changing registered voter population after every ten years, subject to the limitation of a minimum of two and a maximum of seven members from each Dzongkhag. 3. At the fi rst sitting after any general election, or when necessary to fi ll a vacancy, the National Assembly shall elect a Speaker and a Deputy Speaker from among its members. 4. The Druk Gyalpo shall, by warrant under His hand and seal, confer Dakyen to the Speaker. 5. The National Assembly shall assemble at least twice a year. Article 13 Passing of Bills 1. A Bill passed by Parliament shall come into force upon Assent of the Druk Gyalpo. 2. Money Bills and fi nancial Bills shall originate only in the National Assembly whereas any other legislative Bill may originate in either House. 3. A Bill pending in either House shall not lapse by reason of the prorogation of either House. 4. A Bill shall be passed by a simple majority of the total number of members of the respective Houses or by not less than twothirds of the total number of members of both Houses present and voting, in the case of a joint sitting. 5. Where a Bill has been introduced and passed by one House, it shall present the Bill to the other House within thirty days from the date of passing
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and that Bill may be passed during the next session of Parliament. In the case of Budget and Urgent Bills, they shall be passed in the same session of Parliament. 6. Where the other House also passes the Bill, that House shall submit the Bill to the Druk Gyalpo for Assent within fi fteen days from the date of passing of such Bill. 7. Where the other House does not pass the Bill, that House shall return it to the House in which the Bill originated with amendments or objections for re-deliberation. If the Bill is then passed, it shall be presented to the Druk Gyalpo for Assent within fi fteen days from the date of passing of such Bill. 8. Where the House in which the Bill originated refuses to incorporate such amendments or objections of the other House, it shall submit the Bill to the Druk Gyalpo, who shall then command the Houses to deliberate and vote on the Bill in a joint sitting. 9. Where the other House neither passes nor returns the Bill by the end of the next session, the Bill shall be deemed to have been passed by that House and the House in which the Bill originated shall present the Bill within fi fteen days to the Druk Gyalpo for Assent. 10. Where the Druk Gyalpo does not grant Assent to the Bill, He shall return the Bill with amendments or objections to deliberate and vote on the Bill in a joint sitting. 11. Upon deliberation and passing of the Bill in a joint sitting, it shall be resubmitted to the Druk Gyalpo for Assent thereto, whereupon Assent shall be granted to the Bill. Article 14 Finance, Trade and Commerce 1. Taxes, fees and other forms of levies shall not be imposed or altered except by law. 2. There shall be a Consolidated Fund into which shall be deposited all public monies not allocated to specific purposes by law and from which expenditure of the State shall be met. 3. Public money shall not be drawn from the Consolidated Fund except through appropriation in accordance with the law. 4. The Government, in the public interest, may raise loans, make grants or guarantee loans in accordance with the law. 5. The Government shall exercise proper management of the monetary system and public finance. It shall ensure that the servicing of public debt will not place an undue burden on future generations.
6. The Government shall ensure that the cost of recurrent expenditures is met from internal resources of the country. 7. A minimum foreign currency reserve that is adequate to meet the cost of not less than one year’s essential import must be maintained. 8. The annual budget, with a report on the budget of the previous fi scal year, shall be presented to the National Assembly by the Finance Minister. 9. Where the budget has not been approved by the National Assembly before the beginning of the fi scal year, the preceding budget on current expenses shall be applied until the new one is sanctioned. Revenues shall be collected and disbursements made in accordance with the law in force at the end of the preceding year. However, if one or more parts of the new budget have been approved, they shall be put into effect. 10. Any expenditure not included in the budget, or in excess of the budget appropriation, as well as the transfer of any fund from one part of the budget to another, shall be made in accordance with the law. 11. Funds for more than one fi scal year may be appropriated in accordance with the law if the nature of the expenditure so requires. In such a case, each annual successive budget shall include the funds allocated for that year. 12. Parliament shall establish a relief fund and the Druk Gyalpo shall have the prerogative to use this fund for urgent and unforeseen humanitarian relief. 13. The State shall make adequate fi nancial provisions for the independent administration of constitutional bodies. 14. Unless otherwise provided for under the provisions of this Constitution or any other laws, there shall be free movement of goods and services among all the Dzongkhags. 15. Trade and Commerce with foreign nations shall be regulated by law. 16. Parliament shall not enact laws that allow monopoly except to safeguard national security. Article 15 Political Parties 1. Political parties shall ensure that national interests prevail over all other interests and, for this purpose, shall provide choices based on the values and aspirations of the people for responsible and good governance. 2. Political parties shall promote national unity and progressive economic development and strive to ensure the well-being of the nation.
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang 3. Candidates and political parties shall not resort to regionalism, ethnicity and religion to incite voters for electoral gain. 4. A political party shall be registered by the Election Commission on its satisfying the qualifications and requirements set out hereinafter, that: (a) Its members shall be Bhutanese citizens and not otherwise disqualified under this Constitution; (b) Its membership is not based on region, sex, language, religion or social origin; (c) It is broad-based with cross-national membership and support and is committed to national cohesion and stability; (d) It does not accept money or any assistance other than those contributions made by its registered members, and the amount or value shall be fi xed by the Election Commission; (e) It does not receive money or any assistance from foreign sources, be it governmental, nongovernmental, private organizations or from private parties or individuals; (f ) Its members shall bear true faith and allegiance to this Constitution and uphold the sovereignty, territorial integrity, security and unity of the Kingdom; (g) It is established for the advancement of democracy and for the social, economic and political growth of Bhutan; and (h) It has not been dissolved earlier under the provisions of section 11 of this Article. 5. Election to the National Assembly shall be by two political parties established through a primary round of election in which all registered political parties may participate. 6. A primary round of election shall be held to select the two political parties for the general election on the expiry of the term of the National Assembly or in the event of dissolution under section 12 of this Article. 7. The two political parties obtaining the fi rst and the second highest number of votes in the primary election shall be declared as the two political parties for the purpose of section 5 of this Article to contest in the general election. 8. The party which wins the majority of seats in the National Assembly in the general election shall be declared as the ruling party and the other as the opposition party. However, in the case of casual vacancy, if the opposition party gains majority of seats in the National Assembly after the bye-election, such party shall be declared as the ruling party.
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9. No election shall be held where the remainder of the term of the National Assembly is less than one hundred and eighty days. 10. The members of the National Assembly belonging to one party shall not defect to the other party either individually or en bloc. 11. A political party shall be dissolved only by declaration of the Supreme Court: (a) If the objectives or activities of the party are in contravention of the provisions of this Constitution; (b) If it has received money or assistance from foreign sources; (c) On such other grounds as may be prescribed by Parliament or under a law in force; or (d) On violation of the Electoral Laws. 12. Where the ruling party in the National Assembly stands dissolved under section 11 of this Article or the Government is dismissed under section 24 of Article 10 or under section 7 of Article 17, the National Assembly shall also stand dissolved and, accordingly, sections 1 to 8 of this Article shall apply. 13. During the election of the opposition party under section 14 of this Article, the National Assembly shall be suspended animation and the ruling party and their candidates shall not contest in the elections. 14. Where the original opposition party stands dissolved under this Constitution, an opposition party shall be elected: (a) Within sixty days from the date of the dissolution of the original opposition party; (b) From the parties registered with the Election Commission in accordance with section 4 of this Article; and (c) Through an election held under the Electoral Laws to fi ll the seats of those constituencies which stood vacant on the dissolution of the original opposition party. 15. Upon such election of the opposition party and the seats having been fi lled up, the National Assembly shall resume thereafter in accordance with the provisions of this Constitution. 16. Parliament shall, by law, regulate the formation, functions, ethical standards, and intraparty organization of political parties and shall ensure the transparency of party funds through regular auditing of their accounts. Article 16 Public Campaign Financing 1. Parliament shall, by law, establish a Public Election Fund into which shall be paid every year such amounts as the Election Commission may consider appropriate to fund registered political
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parties and their candidates during elections to the National Assembly and candidates to the National Council. 2. The payment out of the Public Election Fund shall be made by the Election Commission in a non-discriminatory manner to registered political parties and candidates in accordance with laws made by Parliament. 3. The Election Commission shall fi x a ceiling for the total expenditure that may be incurred by political parties and their candidates taking part in elections to the National Assembly. 4. The Election Commission shall fi x a ceiling for contribution offered voluntarily by any of its registered members to a political party subject to the provisions of the Election Fund Act. 5. The funding received by political parties and their candidates shall be subjected to scrutiny and auditing as called for by the Election Commission in accordance with laws made by Parliament or law in force. Article 17 Formation of Government 1. The Druk Gyalpo shall confer Dakyen to the leader or nominee of the party, which wins the majority of seats in the National Assembly, as the Prime Minister. 2. No person shall hold office as Prime Minister for more than two terms. 3. The Druk Gyalpo shall appoint Ministers from among the members of the National Assembly, on the recommendation of the Prime Minister, or shall remove a Minister on the advice of the Prime Minister. 4. A candidate for the post of Prime Minister or Minister shall be an elected member of the National Assembly and a natural born citizen of Bhutan. 5. Not more than two members elected from the electoral constituencies of the same Dzongkhag shall be entitled to be appointed as Ministers. 6. A motion of no confidence against the Government may be moved by not less than one-third of the total number of members of the National Assembly. 7. A vote of no confidence against the Government, if passed by not less than two-thirds of the total number of members of the National Assembly, shall require the Government to be dismissed by the Druk Gyalpo.
Article 18 The Opposition Party 1. The Opposition Party shall play a constructive role to ensure that the Government and the ruling party function in accordance with the provisions of this Constitution, provide good governance and strive to promote the national interest and fulfi l the aspirations of the people. 2. The Opposition Party shall promote national integrity, unity and harmony, and co-operation among all sections of society. 3. The Opposition Party shall endeavour to promote and engage in constructive and responsible debate in Parliament while providing healthy and dignified opposition to the Government. 4. The Opposition Party shall not allow party interests to prevail over the national interest. Its aim must be to make the Government responsible, accountable and transparent. 5. The Opposition Party shall have the right to oppose the elected Government, to articulate alternative policy positions and to question the Government’s conduct of public business. 6. The Opposition Party shall aid and support the Government in times of external threat, natural calamities and such other national crises when the security and national interest of the country is at stake. Article 19 Interim Government 1. Whenever the National Assembly is dissolved, the Druk Gyalpo shall appoint an Interim Government to function for a period, which shall not exceed ninety days, to enable the Election Commission to hold free and fair elections. 2. The Interim Government shall consist of a Chief Advisor and other Advisors appointed by the Druk Gyalpo within fi fteen days after the dissolution of the National Assembly. The Chief Justice of Bhutan shall be appointed as the Chief Advisor. 3. Upon the appointment of the Interim Government, the Prime Minister and the Ministers who were in office immediately before the National Assembly was dissolved shall resign from office. 4. The Interim Government shall carry out the routine functions of the Government but shall not be entitled to take any policy decisions or enter into any agreement with foreign governments or organizations. 5. The Government shall be formed within ninety days from the date of dissolution of the National Assembly.
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang 6. The Interim Government shall cease to exist from the date on which the new Prime Minister enters office when the new National Assembly is constituted. Article 20 The Executive 1. The Government shall protect and strengthen the sovereignty of the Kingdom, provide good governance, and ensure peace, security, well-being and happiness of the people. 2. The Executive Power shall be vested in the Lhengye Zhungtshog which shall consist of the Ministers headed by the Prime Minister. The number of Ministers shall be determined by the number of Ministries required to provide efficient and good governance. Creation of an additional ministry or reduction of any ministry shall be approved by Parliament. Ministries shall not be created for the purpose only of appointing Ministers. 3. Subject to sections 16 and 19 of Article 2, the Lhengye Zhungtshog shall aid and advise the Druk Gyalpo in the exercise of His functions including international affairs, provided that the Druk Gyalpo may require the Lhengye Zhungtshog to reconsider such advice, either generally or otherwise. 4. The Prime Minister shall keep the Druk Gyalpo informed from time to time about the affairs of the State, including international affairs, and shall submit such information and fi les as called for by the Druk Gyalpo. 5. The Lhengye Zhungtshog shall: (a) Assess the state of affairs arising from developments in the State and society and from events at home and abroad; (b) Defi ne the goals of State action and determine the resources required to achieve them; (c) Plan and co-ordinate government policies and ensure their implementation; and (d) Represent the Kingdom at home and abroad. 6. The Lhengye Zhungtshog shall promote an efficient civil administration based on the democratic values and principles enshrined in this Constitution. 7. The Lhengye Zhungtshog shall be collectively responsible to the Druk Gyalpo and to Parliament. 8. The Executive shall not issue any executive order, circular, rule or notification which is inconsistent with or shall have the effect of modifying, varying or superseding any provision of a law made by Parliament or a law in force.
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Article 21 The Judiciary 1. The Judiciary shall safeguard, uphold, and administer Justice fairly and independently without fear, favour, or undue delay in accordance with the Rule of Law to inspire trust and confidence and to enhance access to Justice. 2. The judicial authority of Bhutan shall be vested in the Royal Courts of Justice comprising the Supreme Court, the High Court, the Dzongkhag Court, the Dungkhag Court and such other Courts and Tribunals as may be established from time to time by the Druk Gyalpo on the recommendation of the National Judicial Commission. 3. The Supreme Court shall be a court of record. 4. The Chief Justice of Bhutan shall be appointed from among the Drangpons of the Supreme Court or from among eminent jurists by the Druk Gyalpo, by warrant under His hand and seal in consultation with the National Judicial Commission. 5. The Drangpons of the Supreme Court shall be appointed from among the Drangpons of the High Court or from among eminent jurists by the Druk Gyalpo, by warrant under His hand and seal in consultation with the National Judicial Commission. 6. The term of office of: (a) The Chief Justice of Bhutan shall be five years or until attaining the age of sixty-five years, whichever is earlier; and (b) The Drangpons of the Supreme Court shall be ten years or until attaining the age of sixty-five years, whichever is earlier. 7. The Supreme Court of Bhutan, which shall comprise the Chief Justice and four Drangpons, shall be the highest appellate authority to entertain appeals against the judgments, orders, or decisions of the High Court in all matters and shall have the power to review its judgments and orders. 8. Where a question of law or fact is of such a nature and of such public importance that it is expedient to obtain the opinion of the Supreme Court, the Druk Gyalpo may refer the question to the Supreme Court for its consideration, which shall hear the reference and submit its opinion to Him. 9. The Supreme Court may, on its own motion or on an application made by the Attorney General or by a party to a case, withdraw any case pending before the High Court involving a substantial question of law of general importance relating to the interpretation of this Constitution and dispose off the case itself.
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10. The Supreme Court and the High Court may issue such declarations, orders, directions or writs as may be appropriate in the circumstances of each case. 11. The Chief Justice of the High Court shall be appointed from among the Drangpons of the High Court or from among eminent jurists by the Druk Gyalpo, by warrant under His hand and seal, on the recommendation of the National Judicial Commission. 12. The Drangpons of the High Court shall be appointed from among the Drangpons of the Dzongkhag Courts or from among eminent jurists by the Druk Gyalpo, by warrant under His hand and seal, on the recommendation of the National Judicial Commission. 13. The term of office of the Chief Justice and the Drangpons of the High Court shall be ten years or until attaining the age of sixty years, whichever is earlier. 14. The High Court of Bhutan, which shall comprise of a Chief Justice and eight Drangpons, shall be the court of appeal from the Dzongkhag Courts and Tribunals in all matters and shall exercise original jurisdiction in matters not within the jurisdiction of the Dzongkhag Courts and Tribunals. 15. The independence of the Drangpons of the Supreme Court and the High Court shall be guaranteed, provided that a Drangpon may be censured or suspended by a command of the Druk Gyalpo on the recommendation of the National Judicial Commission for proven misbehaviour, which, in the opinion of the Commission, does not deserve impeachment. 16. Parliament may, by law, establish impartial and independent Administrative Tribunals as well as Alternative Dispute Resolution centres. 17. The Druk Gyalpo shall appoint members of the National Judicial Commission by warrant under His hand and seal. The National Judicial Commission shall comprise: (a) The Chief Justice of Bhutan as Chairperson; (b) The senior most Drangpon of the Supreme Court; (c) The Chairperson of the Legislative Committee of the National Assembly; and (d) The Attorney General. 18. Every person has the right to approach the courts in matters arising out of the Constitution or other laws subject to section 23 of Article 7.
Article 22 Local Governments 1. Power and authority shall be decentralized and devolved to elected Local Governments to facilitate the direct participation of the people in the development and management of their own social, economic and environmental well-being. 2. Bhutan shall have Local Governments in each of the twenty Dzongkhags comprising the Dzongkhag Tshogdu, Gewog Tshogde and Thromde Tshogde. 3. Local Governments shall ensure that local interests are taken into account in the national sphere of governance by providing a forum for public consideration on issues affecting the local territory. 4. The objectives of Local Government shall be to: (a) Provide democratic and accountable government for local communities; (b) Ensure the provision of services to communities in a sustainable manner; (c) Encourage the involvement of communities and community organizations in matters of local governance; and (d) Discharge any other responsibilities as may be prescribed by law made by Parliament. 5. A Local Government shall strive, within its fi nancial and administrative capacity, to achieve the objectives set out under this Article. 6. The Dzongkhag Tshogdu shall comprise: (a) The Gup and Mangmi as the two elected representatives from each Gewog; (b) One elected representative from that Dzongkhag Thromde; and (c) One elected representative from Dzongkhag Yenlag Thromdes. 7. A Gewog shall be divided into Chiwogs for the election of the Tshogpas to the Gewog Tshogde. The Gup and Mangmi, who are elected by the people of the Gewog shall be the members of the Gewog Tshogde. The Gup shall be the Chairperson of the Gewog Tshogde. 8. A Thromde Tshogde shall be headed by a Thrompon, who is directly elected by the voters of the Dzongkhag Thromde. The powers and functions of the Thrompon shall be defi ned by law made by Parliament. 9. A Dzongkhag Thromde shall be divided into constituencies for the election of the members of the Thromde Tshogde. 10. A Gewog Tshogde or a Thromde Tshogde shall not have more than ten and fewer than seven elected members. 11. The Dzongkhag Tshogdu shall elect a Chairperson from among its members.
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang 12. The Dzongkhag Tshogdu shall meet at least twice a year while the Gewog Tshogde and the Thromde Tshogde shall assemble at least three times a year. 13. The presence of not less than two-thirds of the total number of members shall be required to constitute a quorum for a sitting of a Local Government. 14. When the office of a member of the Local Government becomes vacant for any reason other than the expiration of term, an election of a member to fi ll the vacancy shall be held within thirty days as from the date of the vacancy. 15. The members of Local Governments shall take an Oath or Affi rmation of Office, as provided for in the Third Schedule of this Constitution, before assuming their responsibilities. 16. The election of the members of Local Governments shall be conducted in accordance with the provisions of the Electoral Laws. 17. A candidate to or a member of the Local Governments shall not belong to any political party. 18. Local Governments shall be: (a) Supported by the Government in the development of administrative, technical and managerial capacities and structures which are responsive, transparent, and accountable; (b) Entitled to levy, collect, and appropriate taxes, duties, tolls, and fees in accordance with such procedure and subject to limitations as may be provided for by Parliament by law; (c) Entitled to adequate fi nancial resources from the Government in the form of annual grants; (d) Allocated a proportion of national revenue to ensure self-reliant and self-sustaining units of local selfgovernment; (e) Supported by the Government to promote holistic and integrated area-based development planning; and (f ) Entitled to own assets and incur liabilities by borrowing on their own account subject to such limitations as may be provided for by Parliament by law. 19. Local Governments shall be supported by administrative machinery staffed by civil servants. 20. A Dzongkhag shall have a Dzongdag as the chief executive supported by civil servants. The Dzongdag shall have no political affi liation and shall discharge his or her responsibilities as the chief executive in the interests of the people and the country. 21. The Dzongkhag Tshogdu, the Gewog Tshogde and the Thromde Tshogde, unless soon-
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er dissolved, shall continue for five years from the date of the fi rst sitting of the respective bodies. 22. The powers and functions of the Dzongdag and the Local Governments shall be in accordance with the laws made by Parliament. Article 23 Elections 1. Under this Constitution, the general will of the people shall be the basis of government and it shall be expressed through periodic elections. 2. A person shall have the right to vote by direct adult suffrage through secret ballot at an election if the person is: (a) A Bhutanese citizen as evidenced by a Citizenship Card; (b) Not less than eighteen years of age; (c) Registered in the civil registry of that constituency for not less than one year, prior to the date of the election; and (d) Not otherwise disqualified from voting under any law in force in Bhutan. 3. A candidate for an elective office under this Constitution shall: (a) Be a Bhutanese citizen; (b) Be registered voter of that constituency; (c) Be a minimum of twenty-five years and maximum of sixty-five years of age at the time of fi ling the nomination; (d) Not receive money or any assistance from foreign sources, be it governmental, non-governmental, private organizations or from private parties or individuals; and (e) Fulfi l the necessary educational and other qualifications prescribed in the Electoral Laws. 4. A person shall be disqualified as a candidate or a member holding an elective office under this Constitution, if the person: (a) Is married to a person who is not a citizen of Bhutan; (b) Is terminated from Public Service; (c) Is convicted for any criminal offence and sentenced to imprisonment; (d) Is in arrears of taxes or other dues to the Government; (e) Has failed to lodge accounts of election expenses within the time and in the manner required by law without good reason or justification; (f ) Holds any office of profit under the Government, public companies or corporations as prescribed in the Electoral Laws; or (g) Is disqualified under any law made by Parliament. 5. Any disqualification under section 4 of this Article shall be adjudicated by the High Court on
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an election petition fi led pursuant to a law made by Parliament under section 7 of this Article. 6. In order to provide for informed choice by the voter, a candidate for an elective office shall fi le, along with his or her nomination, an affidavit, declaring: (a) The income and assets of the candidate, spouse and dependent children; (b) His or her bio-data and educational qualifications; (c) Records of criminal convictions, if any; and (d) Whether the candidate is accused in a pending case for an offence punishable with imprisonment for more than one year and in which charges are framed or cognizance is taken by a court of law prior to the date of fi ling of such a nomination. 7. Parliament shall, by law, make provisions for all matters relating to, or in connection with, elections including the fi ling of election petitions challenging elections to Parliament and Local Governments, and the Code of Conduct for the political parties and the conduct of the election campaign as well as all other matters necessary for the due constitution of the Houses of Parliament and the Local Governments. Article 24 Election Commission 1. There shall be an Election Commission which shall be responsible for the preparation, maintenance, and periodical updating of electoral rolls, the election schedule, and the supervision, direction, control, and conduct of elections to Parliament and Local Governments, as well as holding of National Referendums, in a free and fair manner. 2. The Election Commission shall be independent and shall consist of a Chief Election Commissioner and two Election Commissioners, appointed by the Druk Gyalpo from a list of names recommended jointly by the Prime Minister, the Chief Justice of Bhutan, the Speaker, the Chairperson of the National Council and the Leader of the Opposition Party. 3. The term of office of the Chief Election Commissioner and Election Commissioners shall be five years or until they attain the age of sixtyfive years, whichever is earlier. 4. The Election Commission shall be responsible for the delimitation of constituencies for election of the members of Parliament and Local Governments. 5. Parliament shall, by law, ensure that the Election Commission holds elections so that the
National Assembly and Local Governments are re-constituted within ninety days after its dissolution. Provided that in the case of the National Council, elections shall be held so that it is reconstituted on the date of expiry of the term. In the case of the Dzongkhag Tshogdu, the Gewog Tshogde and the Thromde Tshogde being dissolved prematurely, it shall be re-constituted within ninety days after its dissolution. 6. The Election Commission shall function in accordance with the Electoral Laws. Article 25 The Royal Audit Authority 1. There shall be a Royal Audit Authority to audit and report on the economy, efficiency, and effectiveness in the use of public resources. 2. The Royal Audit Authority shall be an independent authority headed by the Auditor General who shall be appointed by the Druk Gyalpo from a list of eminent persons recommended jointly by the Prime Minister, the Chief Justice of Bhutan, the Speaker, the Chairperson of the National Council and the Leader of the Opposition Party. 3. The term of office of the Auditor General shall be five yearsor until attaining the age of sixty-five years, whichever is earlier. 4. The Royal Audit Authority shall, without fear, favour, or prejudice, audit the accounts of all departments and offices of the Government including all offices in the Legislature and the Judiciary, all public authorities and bodies administering public funds, the police and the defence forces as well as the revenues, public and other monies received and the advances and reserves of Bhutan. 5. The Auditor General shall submit an Annual Audit Report to the Druk Gyalpo, the Prime Minister and Parliament. 6. Parliament shall appoint a five member Public Accounts Committee, comprising members of Parliament who are reputed for their integrity, to review and report on the Annual Audit Report to Parliament for its consideration or on any other report presented by the Auditor General. 7. The Royal Audit Authority shall function in accordance with the Audit Act. Article 26 The Royal Civil Service Commission 1. There shall be a Royal Civil Service Commission, which shall promote and ensure an independent and apolitical civil service that will discharge its public duties in an efficient, transparent and accountable manner.
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang 2. The Commission shall consist of a Chairperson and four other members appointed by the Druk Gyalpo from among eminent persons having such qualifications and experience as would enhance the performance of the Commission, from a list of names recommended jointly by the Prime Minister, the Chief Justice of Bhutan, the Speaker, the Chairperson of the National Council and the Leader of the Opposition Party. 3. The term of office of the Chairperson and members of the Commission shall be five years or until they attain the age of sixty-five years, whichever is earlier. 4. The Commission shall endeavour to ensure that civil servants render professional service, guided by the highest standards of ethics and integrity to promote good governance and social justice, in implementing the policies and programmes of the Government. 5. The Commission shall, in the interest of promoting merit, productivity and equity, ensure that uniform rules and regulations on recruitment, appointment, staffi ng, training, transfers and promotion prevail throughout the civil service. 6. The Commission shall ensure that all civil servants shall have recourse to justice through the Administrative Tribunal established under section 16 of Article 21 to hear their appeals against administrative decisions including those of the Commission. 7. Every civil servant who has been adversely affected by an administrative action shall have the right of access to the Commission. 8. The Commission shall meet regularly and shall be supported by a permanent Secretariat, which shall function as the central personnel agency of the Government. 9. The Commission shall submit an Annual Report on its policies and performances to the Druk Gyalpo and to the Prime Minister. 10. The Royal Civil Service Commission shall function in accordance with the Civil Service Act. Article 27 The Anti-Corruption Commission 1. There shall be an Anti-Corruption Commission, headed by a Chairperson and comprising two members, which shall be an independent authority and shall take necessary steps to prevent and combat corruption in the Kingdom. 2. The Chairperson and members of the Commission shall be appointed by the Druk Gyalpo from a list of names recommended jointly by the Prime Minister, the Chief Justice of Bhutan, the
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Speaker, the Chairperson of the National Council and the Leader of the Opposition Party. 3. The term of office of the Chairperson and members of the Commission shall be five years or until attaining the age of sixty-five years, whichever is earlier. 4. The Commission shall submit an Annual Report on its policies and performances to the Druk Gyalpo, the Prime Minister and Parliament. 5. Prosecution of individuals, parties or organizations on the basis of the fi ndings of the Commission shall be undertaken expeditiously by the Office of the Attorney General for adjudication by the courts. 6. The Anti-Corruption Commission shall function in accordance with the Anti-Corruption Act. Article 28 Defence 1. The Druk Gyalpo shall be the Supreme Commander in Chief of the Armed Forces and the Militia. 2. The Royal Body Guards shall be responsible for the security of the Druk Gyalpo while the Royal Bhutan Army shall serve as a professional standing army and both forces shall form the core of Bhutan’s defence against security threats. 3. The Royal Bhutan Police shall, as a trained uniform force under the Ministry of Home Affairs, be primarily responsible for maintaining law and order and prevention of crime, and shall also be considered an important part of the nation’s security force. 4. Parliament may, by law, require compulsory militia service for adult citizens to strengthen the defence of the country. 5. The State shall be responsible for the maintenance of the Armed Forces to safeguard the security of the country and the well-being of the nation. 6. Bhutan shall not use military force against a foreign State except in self-defence or for the purpose of maintaining its security, territorial integrity and sovereignty. Article 29 The Attorney General 1. There shall be an Office of the Attorney General, which shall be autonomous, to carry out the responsibilities within the domain and authority of the Government and such other legal matters as may be entrusted to the office. 2. The Druk Gyalpo shall, by warrant under His hand and seal, appoint an eminent jurist as the
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Attorney General on the recommendation of the Prime Minister. 3. The Attorney General as the chief legal officer shall be the legal advisor to and legal representative of the Government. 4. In the performance of his or her duties, the Attorney General shall have the right to appear before all courts. 5. The Attorney General shall have the power to institute, initiate, or withdraw any case in accordance with the law. 6. The Attorney General shall have the right to appear and express opinions on any legal question in Parliament. 7. The Attorney General shall submit an Annual Report to the Druk Gyalpo and to the Prime Minister. 8. The Attorney General’s Office shall function in accordance with the Office of the Attorney General’s Act. Article 30 The Pay Commission 1. There shall be a Pay Commission, headed by a Chairperson, which shall be autonomous and shall be constituted, from time to time, on the recommendation of the Prime Minister. 2. The Pay Commission shall recommend to the Government revisions in the structure of the salary, allowances, benefits, and other emoluments of the Royal Civil Service, the Judiciary, the members of Parliament and Local Governments, the holders and the members of constitutional offices and all other public servants with due regard to the economy of the Kingdom and other provisions of this Constitution. 3. The recommendations of the Commission shall be implemented only on the approval of the Lhengye Zhungtshog and subject to such conditions and modifications as may be made by Parliament. Article 31 Holders of Constitutional Offices 1. No person shall hold a constitutional office or post under this Constitution unless the person is: (a) A natural born citizen of Bhutan; and (b) Not married to a person who is not a citizen of Bhutan. 2. The holders of constitutional offices under this Constitution shall be: (a) The Chief Justice of Bhutan and the Drangpons of the Supreme Court;
(b) The Chief Justice and the Drangpons of the High Court; (c) The Chief Election Commissioner; (d) The Auditor General; (e) The Chairperson of the Royal Civil Service Commission; and (f ) The Chairperson of the Anti-Corruption Commission. 3. The holders of the constitutional offices shall have no political affi liation. 4. The holders of the constitutional offices shall not be eligible for re-appointment. 5. Parliament may, by law, prescribe necessary educational and other qualifications for the holders of constitutional offices. 6. The holders of constitutional offices shall take an Oath or Affi rmation of Office, as provided for in the Third Schedule of this Constitution, before assuming office. 7. The salary, tenure, discipline and other conditions of service of the holders of constitutional offices shall be as prescribed by law, provided that the salary and benefits of the holders of constitutional offices shall not be varied to their disadvantage after appointment. Article 32 Impeachment 1. The holders of constitutional offices shall be removed only by way of impeachment by Parliament. 2. A holder of constitutional office shall be liable to be impeached only on the ground of incapacity, incompetency or serious misconduct with the concurrence of not less than two-thirds of the total number of members of Parliament. 3. The Chief Justice of Bhutan shall preside over all impeachment proceedings and, in the case of the impeachment of the Chief Justice of Bhutan, the senior most Drangpon of the Supreme Court shall preside. 4. The Attorney General shall submit a written report on the Articles of impeachment to the Speaker. 5. The procedure for impeachment, incorporating the principles of natural justice, shall be as laid down by law made by Parliament. Article 33 Emergency 1. The Druk Gyalpo may, on the written advice of the Prime Minister, proclaim an emergency if the sovereignty, security, and territorial integrity of Bhutan or any part thereof is threatened by an act of external aggression or armed rebellion.
Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie Bhutan – Textanhang 2. The Druk Gyalpo may, on the written advice of the Prime Minister, proclaim that a public emergency or calamity, which threatens or affects the nation as a whole or part thereof, exists in which case the Government may take measures to the extent strictly required by the exigencies of the situation. 3. The Proclamation of Emergency under section 1 or 2 of this Article shall remain in force for a period of not more than twenty-one days from the date of the Proclamation unless Parliament, in a joint sitting, resolves by not less than twothirds of the total number of members of Parliament to extend it within the said period. 4. Not less than one-fourth of the total number of members of the National Assembly may move a resolution to disapprove such a Proclamation of Emergency or disapprove the continuance in force of such Proclamation by writing to the Druk Gyalpo if the House is not in session and to the Speaker if the House is in session. 5. A joint sitting shall be held at the earliest date within twentyone days from the day on which the motion is received by the Speaker or, as the case may be, by the Druk Gyalpo, failing which the Proclamation of Emergency shall lapse. 6. Where a Proclamation of Emergency is in operation, the Government shall be empowered to give appropriate directions to the concerned Local Government. 7. Where a Proclamation of Emergency is in operation, the enforcement of the rights conferred by this Constitution under sections 2, 3, 5, 12 and 19 of Article 7 may be suspended. 8. The Druk Gyalpo may, on the written advice of the Prime Minister, proclaim a Financial Emergency if His Majesty is satisfied that a situation has arisen whereby the fi nancial stability or credit of Bhutan is threatened. Such a Proclamation shall be laid before each House within a period of twenty-one days after such Proclamation unless Parliament, in a joint sitting, resolves by not less than two-thirds of the total number of members of Parliament to extend it within the said period. 9. The Constitution shall not be amended during a state of emergency.
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Article 34 National Referendum 1. The will of the people shall be expressed in a National Referendum. A simple majority of the total number of votes cast and counted shall be required for the referendum to be adopted. 2. The Druk Gyalpo may command a National Referendum if: (a) In His opinion a Bill, which is not passed in a joint sitting of Parliament, is of national importance; or (b) An appeal is made by not less than fi fty percent of the total number of members of all Dzongkhag Tshogdues. 3. A National Referendum shall not be held on the question of imposition, variation, repeal of taxes or any other grounds as may be prescribed by law made by Parliament. 4. Parliament shall, by law, prescribe the procedure for holding a National Referendum. Article 35 Amendment & Authoritative Text 1. Subject to the provision of section 26 of Article 2 and section 9 of Article 33, Parliament shall have the power to amend by way of addition, variation, or repeal the provisions of this Constitution in accordance with the procedure set out in this Article. 2. A motion to amend the Constitution under section 1 of this Article shall be initiated by a simple majority of the total number of members of Parliament at a joint sitting and, on being passed by not less than three-fourths of the total number of members in the next session at a joint sitting of Parliament, the Constitution shall stand amended on Assent being granted by the Druk Gyalpo. 3. Parliament may call for a National Referendum if, in its opinion, a Constitutional Bill, which is not granted Assent by the Druk Gyalpo is of national importance. Accordingly, sections 1, 3 and 4 of Article 34 shall apply. 4. In any instance of a difference in meaning between the Dzongkha and the English texts of this Constitution, each text shall be regarded as equally authoritative and courts shall reconcile the two texts.
IV. Australien
Grundlegende Entwicklungen des australischen Bundesverfassungsrechts von
Prof. Dr. Jürgen Bröhmer, Murdoch University, Australien I. Einführung Es gibt viele Länder die älter sind als Australien mit seinen nunmehr fast 111 Jahren als Bundesstaat. Das gilt selbst dann, wenn man den Beginn Australiens zurückverlegt auf die Ankunft der elf Schiffe der „First Fleet“ unter dem Kommando Kapitän Phillips am 18. Januar 1788 in der Botany Bay, dort wo heute die Besucher aus aller Welt im internationalen Flughafen von Sydney immer noch landen, wenn sie Sydney als Gateway nach Australien gewählt haben.1 Aber es gibt wenige Länder, die auf eine längere ungebrochene Verfassungstradition zurückblicken können. Die Bundesverfassung Australiens trat am 1. Januar 1901 in Kraft und diese Verfassung gilt bis heute fast unverändert fort. Es ist eine föderale Verfassung eines bis heute in enger britischer Tradition stehenden Staates, der sich über einen fast menschenleeren Kontinent von der Größe der kontinentalen USA erstreckt. Mit der Verfassungsgebung war das „Nation building“ keineswegs abgeschlossen. Noch lange, und vielleicht sogar immer noch oder schon wieder, suchte und sucht Australien nach seiner nationalen Identität. Zu den britischen kamen zunächst andere europäische Einwanderer, auch aus südeuropäischen Staaten wie Griechenland oder Italien. Später dann wurden die Tore für andere Einwanderungswillige etwas weiter geöffnet, auch für nicht weiße Einwanderer.2 Und heute sieht sich Australien einerseits sehr in Asien eingebettet, mit dem wirtschaftlichen Riesen Japan, dem schon großen Indonesien und dem noch größeren China, das einerseits als Bedro1
Die elf Schiffe der sog. First Fleet hatten Portsmouth am 13. Mai 1787 verlassen. Die zuerst angesteuerte Botany Bay war jedoch mangels Frischwassers ungeeignet, sodass man sich entschied, die Küste hochzusegeln. Schon nach wenigen Meilen erreichte man am 26. Januar 1788 den Eingang zur Sydney Cove, dem heutigen Sydney Harbor. Den Namen Sydney wählte Kapitän Phillips zu Ehren des damaligen englischen Innenministers, Lord Syndey. Vgl. http://www.sl.nsw.gov.au/discover_collections/ history_nation/terra_australis/fi rstfleet.html. 2 Etwa ein Viertel der insgesamt ca. 22 Millionen Einwohner Australiens sind außerhalb Australiens geboren. Weitere Angaben im Fact Sheet 4 – More than 60 Years of Post-War Migration, Department of Immigration and Citizenship, http://www.immi.gov.au/media/fact-sheets/04fi fty.htm.
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hung wahrgenommen wird 3, aber doch auch mit seinem Rohstoff hunger den australischen Wohlstand mitfi nanziert4 und Chancen aller Art bietet. Den Außenstehenden verwundert das Ausmaß der Präsenz des 1. Weltkrieges im australischen Diskurs. Dieser Krieg, bei dem Australien bei weniger als fünf Millionen Einwohnern über 400.000 Soldaten stellte, 60.000 Gefallene und fast 160.000 Verwundete beklagte5, ist heute immer noch – oder wieder – der zentrale Anker der nationalen Identität. Der ANZAC Day am 25. April ist der nationale Feiertag und in diesem Sinne weitaus bedeutender als der Australia Day am 26. Januar, der an die Ankunft der „First Fleeter“ in Sydney anknüpft. Der Ort Gallipoli in der Türkei, an dem die ANZAC Legende ihren Anfang nahm, ist jedem australischen Schulkind ein Begriff.6 Der australische Verfassungsstaat ist bis heute ein Gebilde weitgehend ohne Grundrechte. Das bedeutet nicht, dass Grundrechtsschutz nicht stattfi ndet. Es bedeutet vielmehr, dass der Schutz der Grundrechte und –freiheiten auf andere Weise hergestellt wird, aber es bedeutet auch, dass letztlich die politische Mehrheit den Zugriff hat und die persönliche Autonomie und Freiheit zurückstehen muss.
II. Historischer Hintergrund 1. Die Australischen Ureinwohner Verfassungsrechtlich gesehen ist Australien ein europäisches oder genauer gesagt, ein am britischen Vorbild orientiertes, jedoch schriftlich verfasstes Land. Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Geschichte des Landes, auch die Rechtsgeschichte, weit vor die Zeit der europäischen Siedler zurückreicht. Die Geschichte der australischen Ureinwohner geht zurück in die graue Vorzeit.7 Seit wenigstens 40.000 Jahren leben die „First Australians“ in diesem Land. Ihre Zahl wurde im 18. Jahrhundert auf über 300.000 geschätzt. Auch wenn man mit anderen Schätzungen davon ausgeht, dass es mehr als doppelt so viele waren8, so wird doch deutlich wie leer das Land Australien war, als die ersten Europäer zunächst als Entdecker und später als Siedler mit der „First Fleet“ in Australien eintrafen. Sie tra3 Vgl. White, Hugh, A Focused Force – Australia’s Defence Priorities in the Asian Century, Lowy Institute Paper 26, 2009, http://www.lowyinstitute.org/Publication.asp?pid=1013; Defending Australia in the Asia Pacific Century: Force 2030, Defense White Paper 2009, http://www.defence.gov. au/whitepaper/docs/defence_white_paper_2009.pdf. 4 Das australisch-chinesische Handelsvolumen (Waren und Dinestleistungen) betrug 2010 fast 105 Milliarden australische Dollar, http://www.dfat.gov.au/geo/fs/chin.pdf; mit der EU betrug das Volumen im gleichen Jahr knapp AUD 78 Milliarden. 5 Vgl. Australian War Memorial, First World War 1914-1918, http://www.awm.gov.au/atwar/ww1. asp. 6 ANZAC steht für „Australian and New Zealand Army Corps“. In Gallipoli sollten ANZACTruppen anlanden und letztlich Istanbul erobern. Der Feldzug ist jedoch gescheitert und hat 8000 Austra lier das Leben gekostet, vgl. http://www.awm.gov.au/commemoration/anzac/anzac_tradition. asp. Aus-australischer Sicht verblasst der 2. Weltkrieg deutlich hinter dem 1. Weltkrieg. 7 D. R. Horton, Unity and Diversity: The History and Culture of Aboriginal Australia, in: I. Castles, Year Book Australia 1994, 397 ff. (im Volltext verfügbar über Google Books). 8 Die Schätzungen reichen bis über 1 Million, Year Book Australia 1994 (Fn. 7), S. 409 ff.
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fen auf eine stark dezentrale Urbevölkerung, mit mehreren hundert Sprachen und noch viel mehr Dialekten, die vorwiegend in kleineren Gruppen als Nomaden über das Land verstreut lebten. Heute leben in Australien etwas mehr als 500.000 Menschen indigener Herkunft.9 Insbesondere der (zahlenmäßig kleinere) Teil der indigenen Bevölkerung, der in abgelegenen kleinen Gemeinschaften wohnt, oft ohne Zugang zu Versorgungseinrichtungen oder Schulen, ist von extremen sozialen Problemen bedroht (was nicht bedeutet, dass alle davon betroffen sind). Armut, Alkohol, Drogen und die Verfügbarkeit von pornografischem Material haben zu erschütternden Konsequenzen geführt. Ein 2007 veröffentlichter Bericht über die Zustände in abgelegenen Teilen des Northern Territory10 veranlasste die Bundesregierung zu einer Intervention mit Militär- und Polizeikräften und zu teilweise drastischen Maßnahmen sozial- und polizeirechtlicher Art.11
2. Das Verfassungsreferendum 1967 Das Verfassungsreferendum von 1967 war, mit einer Mehrheit in allen Bundesstaaten und einer insgesamten Zustimmungsquote von über 90 % das bisher erfolgreichste Verfassungsänderungsreferendum.12 Mit diesem Referendum wurde Section 127 der Bundesverfassung ersatzlos gestrichen. Diese Vorschrift hatte bestimmt, dass die „aboriginal natives“ bei der auch wahlrechtlich relevanten Volkszählung nicht mitzuzählen waren. Des Weiteren wurde die Kompetenzvorschrift des Art. 51 (xxvi) geändert und der Bund durch Streichung der Ausnahme ermächtigt, zum Schutz der indigenen Bevölkerung gesetzgeberisch tätig werden zu können.13 Damit war die ausschließliche Zuständigkeit der Einzelstaaten in diesem Bereich gebrochen. Das Referendum war mit großen Hoffnungen verbunden, dass durch diese Zentralisierung vieles verbessert werden könne. Diese Hoffnungen haben sich insgesamt eher nicht bewahrheitet, was auch daran liegt, dass diesem Problemkomplex mit technischen Mitteln wie Gesetzgebung, so unabdingbar gute Gesetzgebung auch ist, alleine nicht beizukommen zu sein scheint. Dennoch war und bleibt dieses Verfassungseferendum ein Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung der indigenen Bevölkerung.
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http://www.abs.gov.au/AUSSTATS/[email protected]/mf/4714.0/. Report of the Northern Territory Board of Inquiry into the Protection of Aboriginal Children from Sexual Abuse, Ampe Akelyernemane Meke Mekarle “Little Children are Sacred”, 2007, http:// www.inquirysaac.nt.gov.au/. 11 Die sog. Intervention, offi ziell Northern Territory National Emergency Response. Rechtsgrundlage ist das gleichnamige Gesetz (Act) aus 2007, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/ ntnera2007531/. 12 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Richter Kirby in Kartinyeri v Commonwealth (1998) 195 CLR 337, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1998/22.html, para. 142 ff. 13 S. National Archives, fact Sheet 150 – The 1967 Referendum, http://www.naa.gov.au/aboutus/publications/fact-sheets/fs150.aspx; s.a. Gardiner-Garden, John, Research Brief No. 11 2006–07 – The 1967 Referendum – History and Myths, Parliamentary Library, http://www.aph.gov.au/library/ pubs/rb/2006-07/07rb11.htm. 10
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3. Terra Nullius Terra Nullius ist ein völkerrechtliches Konzept im Zusammenhang mit der Aneignung von Land im Wege der Okkupation. Die Okkupation war ursprünglich eine Möglichkeit des originären Landerwerbs. Voraussetzung für den Erwerb von Land durch Okkupation war, dass das Land niemandem gehört, dass es also „terra nullius“ war.14 Bewohnte bzw. besiedelte Gebiete konnten nicht terrae nullius sein, wenn die Einwohner über eine gewisse soziale und politische Struktur verfügten. Dabei genügt es, wenn z.B. eine Stammesgemeinschaft ein Oberhaupt hat, welches in der Lage ist, für die Gemeinschaft zu sprechen.15 Daran gemessen konnte Australien nicht als terra nullius angesehen werden. Dass dies doch der Fall war, hatte wohl, neben – jedenfalls aus heutiger Sicht – rassistischen Grundhaltungen16, auch mit der Größe des Landes im Verhältnis zur Gesamtzahl der Ureinwohner zu tun, die das Land als leer erscheinen lassen musste. Es hatte aber auch mit dem Sachenrecht des Common Law zu tun.17 Die Feststellung einer Eigentümerposition erfolgt im Common Law grundsätzlich durch Rückverfolgung der eigentumsrechtlichen Position bis hin zu einem originärem Rechtserwerb18 und den konnte die Okkupation einer terra nullius bieten. 1833 beschrieb der Supreme Court of New South Wales die indigene Bevölkerung als: „[...] wandering tribes [...] living without certain habitation and without laws [who] were never in the situation of a conquered people.“19
Man ging von der Besiedlung leeren Landes aus bei der die indigene Bevölkerung nicht ins Gewicht fiel. Lord Watson brachte das 1889 wie folgt zum Ausdruck: „There is a great difference between the case of a Colony acquired by conquest or cession, in which there is an established system of law, and that of a Colony which consisted of a tract of territory practically unoccupied, without settled inhabitants or settled law, at the time 14 Vgl. Legal Status of Eastern Greenland, PCIJ, Series A/B, No. 53, 44 f., 63 f.; ICJ, Western Sahara, Gutachten v. 16. 10. 1975, ICJ Reports 1975, 12, para. 79. 15 ICJ, Western Sahara, Gutachten v. 16. 10. 1975, ICJ Reports 1975, 12, para. 81. 16 Man darf jedoch nicht vergessen, dass es immer schwierig ist, Vorgänge und Ansichten der Geschichte aus heutiger Sicht zu bewerten. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sogar 1919 die Satzung des Völkerbundes von der Existenz von “peoples not yet able to stand by themselves under the strenuous conditions of the modern world” ausging (Artikel 22.1 Satzung des Völkerbundes, http://avalon.law. yale.edu/20th_century/leagcov.asp) und auch an anderen Stellen Formulierungen enthält, die man sich heute nur schwer vorstellen kann. 17 Ganz umfassend zu der Bedeutung des Common Law und den Beziehungen zu indigenen Gesellschaften McHugh, P.G., Aboriginal Societies and the Common Law – A History of Sovereignty, Status, and Self-Determination, 2004. Zur sachenrechtlichen Komponente und den tragenden Grundsätzen der „doctrine of tenure“ s. Mabo v Queensland („Mabo case No. 2“), (1992) 175 CLR 1, http:// www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1992/23.html, und zwar die Ausführungen des Richters Brennan, para. 48 und nachfolgenden Ausführungen der Richter Deane and Gaudron JJ, para. 7. 18 Erst mit der Einführung des sog. Torrens Title Systems wurde ein dem deutschen Grundbuch ähnliches Registersystem geschaffen, bei dem die Eigentümerposition aus der Eintragung in einem Register folgt und nicht auf der Vorlage und Rückverfolgung von entsprechenden Dokumenten. Dazu Raff, Murray: Torrens, Hübbe, Stewardship and the Globalisation of Property Law Systems, 30 Adelaide Law Review (2009), S. 245 ff. 19 MacDonald v Levy (1833), 1 Legge 39 (45).
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when it was peacefully annexed to the British dominions. The Colony of New South Wales belongs to the latter class.“20
Die Meinung, dass das vorkoloniale Australien “terra nullius” war und seine Ureinwohner Nomaden, die weder eine Regierung besaßen, ja noch nicht einmal eine Gesellschaft bildeten oder Grundeigentum kannten, herrschte bis weit ins 20. Jahrhundert vor. Erstmals 1971 wurde in dem Fall Milirrpum21 anerkannt, dass dies so nicht richtig ist und die Aboriginals ein komplexes Rechtssystem besaßen. Justice Blackburn stellte in deutlichem Kontrast zu den obigen Zitaten fest: “I am very clearly of the opinion, upon the evidence, that the social rules and customs of the plaintiffs cannot possibly be dismissed as lying on the other side of an unbridgeable gulf. The evidence shows a subtle and elaborate system highly adapted to the country in which the people led their lives, which provided a stable order of society and was remarkably free from the vagaries of personal whim or influence. If ever a system could be called “a government of laws, and not of men”, it is that shown in the evidence before me.” 22
Allerdings stellte auch 1971 das Gericht noch fest, dass die Ureinwohner keine eigentumsrechtliche Beziehung zum Boden hatten und daher auch keine ursprünglichen Eigentumsrechte entstanden sein konnten.23 Diese Entscheidung führte zur Woodward Royal Commission und deren Feststellungen führten zum Erlass des Aboriginal Land Rights (NT) Act 1976.24 Dieses Gesetz erlaubte unter engen Voraussetzungen die Übertragung von Landeigentum an Aboriginals wenn diese eine traditionelle Verbindung zu dem Land nachweisen konnten und sonst keine entgegenstehenden Rechte zu berücksichtigen waren.
4. Die Mabo-Entscheidungen des High Court Erst 1992 mit der legendären zweiten Mabo-Entscheidung des High Court of Australia 25 wurde die terra nullius Doktrin verworfen und die Möglichkeit vorkolonialer ursprünglicher Eigentumsrechte festgestellt. Eddie Mabo, der Namensgeber, sowie David Passi and James Rice waren Angehörige des Meriam-Volkes auf den Murray Inseln in der Torres Straight zwischen Australien und Neuguinea. Sie erhoben Klage gegen den Bundesstaat Queensland und begehrten Feststellung ihrer – eigenen und stellvertretend für alle Bewohner der Inseln – Stellung als Eigentümer des Landes. Queensland hatte versucht, diesem Begehren durch Verabschiedung des The Queensland Coast Islands Declaratory Act 1985 den Boden zu entziehen. Dort wurde deklaratorisch festgestellt, dass mit der Annexion der Inseln durch Queensland alle früheren Eigentumsrechte untergegangen 20
Cooper v Stuart (1889), 14 App Cas 286 (291). Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 141. 22 Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 266 f. 23 Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 273. 24 R. S. French, Native Title – A Constitutional Shift?, in: Lee/Gerangelos (eds.), Constitutional Advancement in a Frozen Continent: Essays in Honour of George Winterton, S. 126 (131). 25 Mabo v Queensland („Mabo case No. 2“), (1992) 175 CLR 1, http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1992/23.html. Brennan J. geht ausführlich auf die geschichtlichen und rechtsgeschichtlichen Hintergründe ein. 21
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seien.26 In einer ersten Entscheidung hatte der High Court darauf hin festgestellt, dass dieses einzelstaatliche Gesetz gegen Section 10 des vorrangigen bundesstaatlichen Rassendiskrimierungsgesetzes verstoße und daher nichtig sei.27 Dies hatte zur Folge, dass ein Bundesstaat ab Geltung des Rassendiskriminierungsgesetzes eine ursprüngliche Eigentumsstellung („native title“) nur dann nicht anerkennen konnte, wenn ein solcher „native title“ nie entstanden war.28 Mit dieser Frage setzte sich das Gericht dann in Mabo No. 2 auseinander und erklärte dort, dass „the Meriam people are entitled as against the whole world to possession, occupation, use and enjoyment of the lands of the Murray Islands.“
Damit war nunmehr klar, dass die Kolonialgeschichte Australiens die schon bestehenden Eigentumsrechte der indigenen Bevölkerung nicht per se ausgelöscht hatte und dass das Common Law Australiens unter bestimmten Voraussetzungen, u.a. dem Fehlen einer eindeutigen anderweitigen Zuweisung von Eigentumsrechten, die ursprüngliche Existenz von Eigentum („native title“) anerkennt.29 Man kann sich vorstellen, welche auch emotionalen Konsequenzen der Ausgang dieses epochalen Rechtstreites hatte. Auch in Deutschland war und ist, wiewohl in Umfang und Bedeutung kaum vergleichbar, die eigentumsrechtliche Aufarbeitung der deutschen Nachkriegsgeschichte keineswegs einfach verlaufen.
5. Verfassung und „Federation“ Der Staat Australien als politisches Konstrukt begann mit dem Zusammenschluss der Kolonien zu einem Bundesstaat unter der am 1. Januar 1901 in Kraft getretenen Verfassung, der „Constitution of the Commonwealth of Australia“. Diese Verfassung war Ausfluss eines etwa 10-jährigen Verfassungsgebungsprozesses30, der zwischen 1898 und 1900 zu erfolgreichen Referenden in den einzelnen Kolonien und schließlich zur Verabschiedung des Commonwealth of Australia Constitution Acts 190031 26
Vgl. Section 3 des Gesetzes, http://www.mabonativetitle.com/info/doc11.htm. Der Vorrang des Bundesrechts ergibt sich aus Section 109 der Bundesverfassung. Die erste MaboEntscheidung (Mabo No. 1): Mabo v Queensland (1989) 166 CLR 186, http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1988/69.html. Racial Discrimination Act 1975: http://www.austlii.edu.au/au/legis/ cth/consol_act/rda1975202/. 28 Vgl. die Ausführungen der Richter Brennan, Toohey und Gaudron in Mabo v Queensland (1989) 166 CLR 186, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1988/69.html, para. 21 f. http://www. austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1988/69.html. 29 Zusammenfassung der Ergebnisse von Mabo 2 und der Voraussetzungen für die Anerkennung von Native Title bei French, Robert S., Mabo – Native Title in Australia, (2004) Federal Judicial Scholarship 24, http://www.austlii.edu.au/au/journals/FedJSchol/2004/24.html, para. 26 ff. 30 Den Anfang machte die Australasian Federation Conference vom 6. bis 14. Februar 1890 in Melbourne, wo sich Vertreter der sechs australischen Kolonien und Neuseelands trafen, um den Wunsch nach einer „early union under the crown“ zu bekräftigen. Vom 2. März bis 9. April 1891 tagte die National Australasian Convention of 1891 in Sydney und erarbeitete einen ersten Verfassungsentwurf, auf dessen Grundlage die Australasian Federal Convention in drei Sitzungen in Adelaide (22. März bis 5. Mai 1897), Syndey (2. bis 24. September 1897) und Melbourne (22. Januar bis 17. März 1898) die endgültige Verfassung ausarbeiteten. Die Materialien dieser Konferenzen sind im Internet verfügbar unter http://www.aph.gov.au/senate/pubs/records.htm. 31 S. z.B. http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca430/, http://www.aph.gov.au/ 27
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durch das Parlament des Vereinigten Königreiches in London führte.32 Die australische Verfassung ist mithin kein exklusiver Akt australischer Verfassungsgesetzgebung, sondern beruht auf einem Gesetz des Vereinigten Königreichs. Das neue Land hatte 1901 knapp 3,8 Mio. Einwohner.33 Für die Schaffung eines australischen Bundesstaates wurde eine Reihe von Gründen vorgebracht.34 Neben der Schaffung eines effektiveren und stabileren Finanzsystems durch Bündelung der Kreditmärkte und Schaffung zentraler Finanzinstitutionen wurde die Abschaffung der Zölle zwischen den Kolonien als ein wichtiger Vorteil der Schaffung eines Bundesstaates gesehen.35 Zunächst war dies jedoch lange ein Hinderungsgrund, weil die Kolonien auf diese Einnahmequelle nicht verzichten wollten. Zunehmend wurden jedoch die strengen Zollgrenzkontrollen zwischen den Kolonien als Zumutung empfunden, die durch einen Bundesstaat beendet werden konnte. Die Schaffung einer adäquaten nationalen Verteidigung spielte eine wichtige Rolle, insbesondere nachdem das Deutsche Reich Ende 1884 den östlichen Teil Neuguineas annektierte. Aus heutiger Sicht eher erschreckend wirkt die rassistische Argumentation für einen australischen Bundesstaat. Alfred Deakin, einer der Väter des Bundesstaates und der zweite Premierminister Australiens, wird mit den Worten zitiert: „[...] certainly no motive power operated more powerfully in dissolving the technical and arbitrary political divisions which previously separated us than the desire that we should be one people and remain one people without the admixture of other races [...]. This was the motive power which swayed tens of thousands who take little interest in contemporary politics.“36
Daneben begünstigten und beförderten auch ganz praktische Gründe die Hinwendung zu mehr Gemeinsamkeit in einem Bundesstaat. Die rechtliche und wirtschaftliche Zersplitterung wurde mit zunehmender Entwicklung von Wirtschaft und Handel als störend empfunden und die Entwicklung und der schnelle Ausbau des
senate/general/constitution/; s.a. http://www.legislation.gov.uk/ukpga/Vict/63-64/12/contents – man beachte die Quelle dieses Textes. 32 Entsprechende bundesstaatlichen Überlegungen wurden schon früher angestellt, vgl. z.B. Ward, John M., Earl Grey and the Australian Colonies – 1846-1857, 1958. Bedeutsam war auch das kanadische Beispiel mit der Schaffung eines kanadischen Bundesstaates durch den „British North America Act 1867“ (nunmehr The Constitution Act 1867, 30&31 Victoria, c.3. (U.K.), http://laws.justice.gc.ca/ eng/Const/), weil das dortige Modell eines parlamentarischen Regierungssystems im Verbund mit einer konstitutionellen Monarchie und mit engen Verbindungen zu Großbritannien große Anziehungskraft besaß. Mit der Abspaltung Queenslands von New South Wales 1859 war auch das Kräftegleichgewicht zwischen den Kolonien etwas besser austariert. Vgl.dazu La Nauze, J.A., The Making of the Australian Constitution, 1972, S. 1–5. 33 Irving, Helen (Hrsg.), The Centenary Companion to Australian Federation, 1999, S. 441. 34 Zum folgenden Bennett, Scott, The Making of the Commonwealth of Australia, 1971, S. 3 ff. und Parkinson, Patrick, Tradition and Change in Australian Law, 3. Aufl. 2005, S. 135 ff. 35 Die Schaffung einer Zollunion und letztlich einer Wirtschafts- und Währungsunion zeigt interessante Parallelen zur EU auf. 36 Zitiert nach Bennett (s.o. Fn. 34), S. 48; s.a. Willard, Myra, History of the White Australia Policy to 1920, S. 119 und dort auch Fn. 1. Danach lassen sich rassistische Argumentationslinien für die Schaffung eines Bundesstaates in parlamentarischen Debatten bis 1856/57 zurückverfolgen.
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Telegraphennetzes erleichterte die Kommunikation und überwand die riesigen Distanzen zwischen den einzelnen Zentren.37 Trotz alledem war die Entwicklung hin zu einem unabhängigen Bundesstaat weniger eine Konsequenz einer sich entwickelnden eigenen nationalen Identität oder dem Drang nach demokratischer Selbstbestimmung, sondern mehr von Nützlichkeitserwägungen geprägt.38 Erfolgreiche Beispiele für föderale Entwicklungen waren zu jener Zeit dünn gesät und gegen das junge kanadische Beispiel konnte der amerikanische Bürgerkrieg ins Feld geführt werden.39
6. Souveränität Bei der australischen Verfassung handelt es sich um ein Gesetz, welches vom britischen Parlament am 5. 7. 1900 verabschiedet wurde.40 Im Vorfeld war der Text in Referenden zwischen 1898 und 1900 von den Bürgern in den australischen Kolonien gebilligt worden. Die australische Verfassungsgebung war daher nicht gleichbedeutend mit der Erlangung völliger völkerrechtlicher Souveränität.41 Diese war vielmehr Ergebnis einer Entwicklung die mit dem Statute of Westminster 193142 und seiner Umsetzung in Australien durch den Statute of Westminster Adoption Act 1942 abgeschlossen wurde.43 Aber selbst danach galt imperiales britisches Recht in den australischen Bundesstaaten weiter und vorrangig. Erst mit dem Australia Act 1986 (Cth)44 wurde auch dieser Zustand endgültig beseitigt.
37 Die Wichtigkeit der Kommunikation über riesige Distanzen widerspiegelt auch die Verfassung, die in Section 51(v) die Zuständigkeit für „telegraphic, telephonic, and other like services“ in die Hände des neuen Bundesstaaten legte, die Eisenbahnen jedoch in einzelstaatlicher Zuständigkeit beließ. 38 Eine durchaus bemerkenswerte Parallele zur bisherigen Entwicklung der Europäischen Union, die auch stark von Nützlichkeitserwägungen geprägt ist. 39 Parkinson, Patrick, Tradition and Change in Australian Law, 3. Aufl. 2005, S. 136. 40 S.o. Fn. 31. 41 A.A., die sich aber nicht durchsetzen konnte, Justice Murphy in dissenting opinions, z.B. in Kirmani v Captain Cook Cruises Pty Ltd (No 1) (1985) 159 CLR 351, http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1985/8.html, Murphy J. para. 2 ff. mwN. Auch die Tatsache, dass Australien eigenständig an der Friedenskonferenz nach dem 1. Weltkrieg teilnahm und Mitglied des Völkerbundes und der ILO wurde, spricht nicht gegen den Befund, dass volle Souveränität noch nicht bestand. Weitere Schritt in die Richtung voller Souveränität waren die Imperial Conference 1923, die den verschiedenen Regierungen des Empires erlaubte, Verträge mit anderen Staaten abzuschließen, wenn dabei die Belange des Empires berücksichtigt wurden und dieses über die Absicht des Vertragsschlusses unterrichtet worden war und die Imperial Conference 1926 mit der sog. Balfour Declaration: „They [the Dominions] are autonomous Communities within the British Empire, equal in status, in no way subordinate one to another in any aspect of their domestic or external affairs, though united by a common allegiance to the Crown, and freely associated as members of the British Commonwealth of Nations“, see http:// foundingdocs.gov.au/item-did-24.html and http://foundingdocs.gov.au/resources/transcripts/cth11_ doc_1926.pdf. See also Ratliff, William G., Imperial Conference 1923 and Imperial Conference 1926, in: Olsen, James S. et al. (ed.), Historical Dictionary of European Imperialism, 1991, S. 296 ff. 42 http://www.austlii.edu.au/au/legis/qld/consol_reg/sow1931347/. 43 Zines, Leslie, The High Court and the Constitution, 5. Aufl age 2008, S. 376. 44 http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aa1986114/.
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Die Kolonien selbst besaßen nie völkerrechtliche Souveränität.45 Nur die Krone konnte internationalrechtlich handeln, auch wenn schon vor der Unabhängigkeit Konsultationsverfahren eingerichtet worden waren und die Teilnahme der Kolonien an den von der Krone ausgehandelten Verträgen durchaus nicht automatisch war.46 Mit der Schaffung des Bundesstaates durch die Verfassung von 1901 war somit noch kein Völkerrechtssubjekt geschaffen worden.47 Vielmehr war aus den vormals sechs Kolonien eine teilautonome, sich selbst regierende Kolonie geworden, ein „selfgoverning Dominion“.48 Rechtlich betrachtet hatten sich die vormals sechs Kolonien zu einer einzigen zusammengeschlossen.49 Insbesondere galt weiterhin die „doctrine of repugnancy“ aus Section 2 des Colonial Law Validity Acts von 1865 wonach, ganz ähnlich dem Art. 31 GG, Gesetze in den Kolonien, die im Widerspruch zu einem Gesetz des Londoner Parlaments standen, nichtig waren.50 Dieser Zustand wurde erst durch Section 2 des Statutes of Westminster51 beendet. Mit diesem Gesetz wurde u.a. für „the Commonwealth of Australia“ (Section 1) die Geltung des Colonial Law Validity Acts 1865 aufgehoben (Section 2). Britische Gesetzgebung war nach Section 4 nur noch dann bindend, wenn sie von der „Dominion“ verlangt worden war oder genehmigt wurde.52 Allerdings wurde auch im Statute of Westminster die verfas45
New South Wales v Commonwealth (1975) 135 CLR 337 (373), http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1975/58.html para 51 (Seas and Submerged Lands case). Der Begriff ‚Kolonie’ als Rechtsbegriff meint ein Gebilde ohne eigene Rechtspersönlichkeit und daher ohne eigene Souveränität, vgl. z.B. Aust, Anthony, Handbook of International Law, 2. Aufl. 2010, S. 30. 46 Victoria v Commonwealth 187 CLR 416 (4 September 1996) („Industrial Relations Act case“), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1996/56.html, para. 11. 47 S.o. Fn. 41. 48 China Ocean Shipping Co v South Australia (1979) 145 CLR 172, http://www.austlii.edu.au/ au/cases/cth/HCA/1979/57.html, para. 21. 49 New South Wales v Commonwealth (1975) 135 CLR 337 (373), http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1975/58.html (Seas and Submerged Lands case), para 49 („A new colonial polity was brought into existence.“) and para 52: „ Whilst the new Commonwealth was upon its creation the Australian colony within the Empire, the grant of the power with respect to external affairs was a clear recognition, not merely that, by uniting, the people of Australia were moving towards nationhood, but that it was the Commonwealth which would in due course become the nation state, internationally recognized as such and independent. The progression from colony to independent nation was an inevitable progression, clearly adumbrated by the grant of such powers as the power with respect to defence and external affairs. Section 61, in enabling the Governor-General as in truth a Viceroy to exercise the executive power of the Commonwealth, underlines the prospect of independent nationhood which the enactment of the Constitution provided. That prospect in due course matured, aided in that behalf by the Balfour Declaration and the Statute of Westminster and its adoption.“ 50 Colonial Laws Validity Act 1865, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/Vict/28-29/63/contents. Section 2 lautet: „Any colonial law which is or shall be in any respect repugnant to the provisions of any Act of Parliament extending to the colony to which such law may relate, or repugnant to any order or regulation made under authority of such Act of Parliament, or having in the colony the force and effect of such Act, shall be read subject to such Act, order, or regulation, and shall, to the extent of such repugnancy, but not otherwise, be and remain absolutely void and inoperative.“ 51 Statute of Westminster 1931, c.4 (Regnal. 22 and 23 Geo 5), http://www.legislation.gov.uk/ukpga/Geo5/22-23/4/contents. Dieses Gesetz wurde jedoch, wie durch Section 10 vorgeschrieben, erst durch den Statute of Westminster Adoption Act 1942, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/sowaa1942379/, in Australien „ratifi ziert“ und rückwirked zum 3. 9. 1939, dem Beginn des 2. Weltkrieges, in Kraft gesetzt. Diese Daten zeigen, dass jedenfalls kein großer politischer Druck in Richtung volle Souveränität bestand. 52 Vgl. dazu Copyright Owners Reproduction Society Ltd v EMI (Australia) Pty Ltd (1958) 100
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sungsgebende Gewalt ausdrücklich dem Vereinigten Königreich vorbehalten.53 Im übrigen galt gemäß Section 9 das Statute of Westminster nur für den Bund, nicht aber für die Gliedstaaten selbst. Für letztere galt daher der Crown Laws Validity Act und damit der Vorrang britischer Gesetzgebung weiter. Das Londoner Parlament hätte daher auch gegen den Willen der australischen Bundesstaaten für diese bindend gesetzgeberisch tätig sein können, wiewohl anerkannt war, dass diese Befugnis nicht ausgeübt werden sollte.54 Erst mit dem Australia Act 198655 wurde die volle legislative Unabhängigkeit hergestellt. Section 1 dieses Acts formuliert unmissverständlich: „No Act of the Parliament of the United Kingdom passed after the commencement of this Act shall extend, or be deemed to extend, to the Commonwealth, to a State or to a Territory as part of the law of the Commonwealth, of the State or of the Territory.“56
Im einzelnen ist die Bewertung dieser Schritte durchaus umstritten. So weist Geoff Lindell zurecht darauf hin, dass man zwischen der Befugnis, die rechtliche Verbindung zum Mutterland kappen zu können und der Inanspruchnahme dieser Befugnis unterscheiden müsse. Die Befugnis jedenfalls sei mit dem Statute of Westminster gegeben gewesen. Dass diese erst später realisiert wurde bedeute nicht, dass auch die Unabhängigkeit erst später eingetreten sei.57 Dieser Ansicht kann man auch deshalb zustimmen, weil der Unabhängigkeit und vollen Souveränität eines Landes auch völkerrechtlich nicht entgegensteht, dass Souveränitätsrechte abgetreten wurden und nunmehr sogar dauerhaft von einem anderen Verbund ausgeübt werden, wie das Beispiel der Europäischen Union eindrucksvoll zeigt. Auch sonst ist die Entwicklung der rechtlichen Beziehungen zwischen Australien – und anderen Dominions – und dem Vereinigten Königreich im Hinblick auf die EU und ihre Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten interessant. Das britische Parlament ist in der Lage, Souveränitätsverzichte auszusprechen und seine Befugnisse sowohl territorial als auch inhaltlich selbst und dauerhaft zu beschränken. Im Vergleich zu deutschen Verfassungsrechtslage insbesondere nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts58, wo einem solchen Souveränitätsverzicht signifi kante Grenzen gesetzt werden59, ist dies ein bemerkenswerter Unterschied.
CLR 597, wo der High Court feststellte, dass der neue britische Copyright Act von 1956 in Australien keine Geltung beanspruchen könne, weil dieses Gesetz von Australien weder „verlangt noch genehmigt“ worden war, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1958/54.html. 53 Section 8 des Statute of Westminster lautet: „ Nothing in this Act shall be deemed to confer any power to repeal or alter the Constitution or the Constitution Act of the Commonwealth of Australia or the Constitution Act of the Dominion of New Zealand otherwise than in accordance with the law existing before the commencement of this Act.“ 54 Winterton, George, The Acquisition of Independence, in: French/Lindell/Saunders (Hrsg.), Reflections on the Australian Constitution, 2003, S. 31 (39) unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Supreme Court of Victoria in Ukley v Ukley (1977) VR 121 (129-30). 55 http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aa1986114/. 56 http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aa1986114/s1.html. 57 Lindell, Geoff, Further Reflection on the Date of the Acquisition of Australia’s Independence, in: French/Lindell/Saunders (Hrsg.), Reflections on the Australian Constitution, 2003, S. 51 (53 ff.). 58 BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 (BVerfGE 123, 267), http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html. Vgl. auch die Entscheidung des BVerfG vom 7. 9. 2011 im Zusam-
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III. Wesentliche Entwicklungslinien im Verfassungsrecht 1. Verfassung und Common Law Der Korpus des australischen Verfassungsrechts besteht zuvörderst aus der Verfassung selbst, also aus Section 9 des Commonwealth of Australia Constitution Acts 1900. Darüber hinaus gehören aber zum Verfassungsrecht auch das Statute of Westminster 1931 und der Australia Act 1986, weil auch diese beiden Gesetzeswerke für die vollständige Staatswerdung Australiens von Bedeutung sind.60 Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach dem Verhältnis von Verfassung im engeren Sinne und dem Common Law. Australien ist rechtlich gesehen ein Mischsystem aus geschriebener Verfassung (wie in den USA) und ungeschrieben Regeln und Prinzipien britischer Tradition. Die Verfassung wurde durch britische Gesetzgebung geschaffen als Bestandteil eines bestehenden und vom Common Law geprägten Systems. Entsprechend fußen die Begriffl ichkeiten und alles notwendige Vorverständnis auf Grundlagen, die im Common Law entfaltet wurden. So werden etwa Grundprinzipien wie der Juryprozess, das Amt des Parlamentsprechers oder gar der Grundsatz der dem Parlament verantwortlichen Regierung („responsible government“) dem Common Law zugeordnet, weil diese – und andere – Begriffe in der Verfassung nicht etwa neu geschaffen, sondern einfach mit einem bestimmten und sehr konkreten Vorverständnis übernommen wurden.61 Dessen ungeachtet hat jedoch der High Court deutlich gemacht, dass im Konfl iktfalle die geschriebene Verfassung in der Auslegung des High Court vorgeht. Die (geschriebene) Verfassung determiniert Inhalt und Reichweite des Common Law und nicht umgekehrt. In der Entscheidung Lange v ABC hat das Gericht unmissverständlich festgestellt: 59
„Of necessity, the common law must conform with the Constitution. The development of the common law in Australia cannot run counter to constitutional imperative. The common law and the requirements of the Constitution cannot be at odds. The common law of libel and slander could not be developed inconsistently with the Constitution, for the common law’s protection of personal reputation must admit as an exception that qualified freedom to discuss government and politics which is required by the Constitution.“62
Die notwendige Folge dieses Verständnisses ist, dass das Common Law nicht länger als einheitliches, transnationales Rechtssystem verstanden werden kann, sondern mit dem Vorrang der Verfassung in Australien eine eigenständige Entwicklung eines menhang mit der europäischen Staastschuldenkrise, BVerfG, 2 BvR 987/10, http://www.bverfg.de/ entscheidungen/rs20110907_2bvr098710.html. 59 Wiewohl unklar bleibt, ob diese Grenzen absolut sind, also nur durch Revolution überwindbar, oder ob Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 146 wenigstens den Weg der Verfassungsneugebung offen lässt. Dazu auch Bröhmer, Jürgen, „Containment eines Leviathans“ – Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, ZEuS 2009, 543 (552 ff.). 60 S.o. II.5 – Verfassung und „Federation“ und II.6 – Soveränität. 61 Saunders, Cheryl, Future Prospects fort he Australian Constitution, in: French/Lindell/Saunders (Hrsg.), Reflections on the Australian Constitution, 2003, S. 212 (230), s.a. generell zur Frage des Verhältnisses von geschriebener und ungeschriebener Verfassung S. 219 ff. und 229 ff. 62 Lange v Australian Broadcasting Corporation („Political Free Speech case“) (1997) HCA 25; (1997) 189 CLR 520 (8. 7. 1997), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1997/25.html.
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australischen Common Law begonnen hat.63 Diese Entwicklung wurde auch dadurch bestärkt, dass der Wegfall des Rechtswegs zum Privy Council, also einem britischen Gericht, durch Section 11 des Australia Act 1986 abgeschafft wurde64 und damit der High Court of Australia als Verfassungsgericht und Gericht letzter Instanz unangefochten eine Spitzenposition einnahm und diese eigenständige Entwicklung eines australischen Common Law unter dem Vorrang der geschrieben Verfassung vorantreiben konnte.65
2. Verfassung und Konvention Die Figur der Konvention ist schwieriger zu fassen. Im eigentlichen Sinne sind Konventionen nicht Bestandteil des Rechts. Sie sind z.B. nicht gerichtlich durchsetzbar. AV Dicey, einer der Altväter britischen Verfassungsrechts, beschrieb diese Kategorie wie folgt und bringt damit den Widerspruch in der Qualifikation der Konvention zum Ausdruck: “The other set of rules [sic!] consist of conventions, understandings, habits, or practices which, though they may regulate the conduct of the several members of the sovereign power, the Ministry, or other officials – are not really laws, since they are not enforced by the courts. This portion of constitutional law may, for the sake of distinction, be termed the ‚conventions of the constitution’, or constitutional morality.”66
„Constitutional conventions“ sind aber dennoch von verfassungsrechtlicher Relevanz, denn sie beschreiben mit großer Bindungskraft die verfassungsrechtliche Realität. Das betrifft insbesondere die Exekutive in Australien. Das Amt und die Befugnisse des Premierministers sind in der Verfassung nicht beschrieben und die Beschreibung der Rolle des Governor-General in der Verfassung hat mit der Realität
63 S.a. Theophanous v Herald & Weekly Times Ltd [1994] HCA 46; (1994) 182 CLR 104, http:// www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1994/46.html. Dort setzt sich das Gericht (Rn. 19) auch mit Sir Owen Dixon auseinander, der die These vertreten hatte (in: The Common Law as an Ultimate Constitutional Foundation, (1957) 31 Australian Law Journal 240), dass auch konstitutionelle Freiheitsgewährleistungen nicht absolut seien, sondern im Lichte von aus dem Common Law fl ießender Abwägungsparameter zu sehen seien. Zum Ganzen auch Tate, Pamela, Some Observations on the Common Law and the Constitution, (2008) 30(1) Sydney Law Review 119. 64 Section 11 des Australia Act 1986, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aa1986114/ s11.html, stellt unter dem Titel „Termination of appeals to Her Majesty in Council“ fest: „Subject to subsection (4) below, no appeal to Her Majesty in Council lies or shall be brought, whether by leave or special leave of any court or of Her Majesty in Council or otherwise, and whether by virtue of any Act of the Parliament of the United Kingdom, the Royal Prerogative or otherwise, from or in respect of any decision of an Australian court.“ Zur Einrichtung des s. den Judicial Committee Act 1833, 1833 c.41 3_and_4_Will_4, http://www.bailii.org/uk/legis/num_act/1833/1030885.html und Homepage des Privy Council, http://www.jcpc.gov.uk/. Instruktiv Brennan, Gerard, The Privy Council and the Constitution, in: Lee, H.P./Winterton, George, Australian Constitutional Landmarks, 2003, S. 312 ff. 65 Dazu Foley, Kathleen, The Australian Constitution’s Influence on the Common Law, 31(1) Federal Law Review (2003), S. 131, http://www.austlii.edu.au/au/journals/FedLRev/2003/4.html. 66 Dicey, Albert Venn, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10th ed. 1959, S. 23 f.; s.a. Sydow, Gernot, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 12 ff.
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nichts zu tun.67 In beiden Beispielen ergibt sich die Reichweite der Befugnisse aus Verfassungskonventionen und nicht aus dem geschriebenen Recht. Man mag sich fragen, ob sich nicht justiziable Verfassungskonventionen nicht auch im deutschen Verfassungsrecht fi nden lassen. Prima facie mag man das verneinen, weil es im deutschen Verfassungsrecht grundsätzlich keine nicht-justiziablen Räume gibt und daher das Bundesverfassungsgericht in entsprechenden Disputen immer eine Entscheidungsbefugnis hat. Beurteilungs- oder Ermessenspielräume sind anders zu werten, weil in diesen Fällen auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenebene von vorneherein Spielräume bestehen. Dennoch lassen sich aber auch in der Rechtsprechung des BVerfG ähnliche Figuren nachweisen. Ein gutes Beispiel ist die Rechtsprechung des BVerfG zur Auflösung des Bundestages (Art. 68 GG) durch verabredete Vertrauensfragen. Im Falle des Art. 68 GG hatte das Bundesverfassungsgericht in der ersten Entscheidung über die Auflösung des Bundestages 198368 aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen können, ob die Vorschrift eine sog. materielle Auflösungslage verlange oder nicht und von Art. 68 GG als einer „offenen Verfassungsnorm“ gesprochen, deren Inhalt in Bezug zur Verfassungswirklichkeit stehe. Diese Verfassungswirklichkeit könne nicht alleine vom Bundesverfassungsgericht gestaltet werden und entsprechend seien zur konkreten Ermittlung des Inhalts einer solchen „offenen“ Verfassungsnorm auch andere Verfassungsorgane berufen. Mit dieser Begründung hat man die genaue Ausgestaltung des Auflösungsrechts, also die Befugnisse von Bundeskanzler und Bundespräsident in diesem Zusammenhang jedenfalls in die Nähe einer verfassungsrechtlichen Konvention gesetzt, jedenfalls soweit sich die Beteiligten innerhalb des Rahmens bewegen, innerhalb dessen das BVerfG gewillt ist, eine solche Konvention zu tolerieren.69
3. Verfassungsänderung Die australische Bundesverfassung kann gemäß Section 128 geändert werden. Die Verfahrenshürden sind jedoch derart hoch, dass von den insgesamt 44 Änderungsversuchen seit 1901 nur 8 erfolgreich waren. Die Bundesverfassung ist ein eher statisches Dokument und die Rolle des High Court bei der Auslegung ist daher sehr bedeutsam. Gemäß Section 128 muss ein verfassungsänderndes Gesetz mit absoluter Mehrheit in beiden Häusern des Bundesparlaments verabschiedet werden oder – wenn ein Haus den Vorschlag ablehnt oder abändert – in einer Kammer zweimal mit absoluter Mehrheit.70 Anschließend ist ein Referendum mit doppeltem Mehrheitserfordernis durchzuführen. Zum einen muss die Auszählung eine Mehrheit auf Bundesebene 67 Blackshield, Tony/Williams, George, Australian Constitutional Law and Theory – Commentary and Materials, 5th ed. 2010, S. 105 ff. (107). 68 BVerfGE 62, 1. 69 Vgl. dazu auch Bröhmer, Jürgen, „Containment eines Leviathans“ – Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, ZEuS 2009, 543 (549 ff.). 70 Ähnlich der Überstimmung eines Einspruchs des Bundesrats durch den Bundestag gemäß Art. 77 Abs. 4 GG. Allerdings ist diese Möglichkeit sowohl für das Repräsentantenhaus als auch für den Senat eröffnet.
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ergeben, zum anderen muss eine solche Mehrheit auch in der Mehrheit der Bundesstaaten, also in vier von sechs Bundesstaaten erreicht werden.71 Die Einzelheiten für solche Referenden sind im Referendum Act 1984 geregelt.72 Gemäß Section 45 besteht, wie auch sonst bei Bundeswahlen73, Abstimmungspfl icht, sodass sich die Frage nach einer Mindestbeteiligung nicht stellt. Gemäß Section 11 erhält grundsätzlich jeder Abstimmungsberechtigte per Post ein „Pamphlet“ mit einer auf 2000 Wörter begrenzten Zusammenfassung jeweils der Argumente für und gegen den Referendumsgegenstand. Die beiden Positionspapiere werden durch Mehrheitsbeschluss der im Bundesparlament jeweils dafür bzw. dagegen stimmenden Mitglieder autorisiert.74 Die hohen Hürden für Verfassungsänderungen haben dazu geführt, dass es seit 1901 nur insgesamt 44 Änderungsversuche75 gegeben hat von denen nur acht erfolgreich waren. Das wohl wichtigste erfolgreiche Referendum fand am 27. Mai 1967 statt und gab dem Bund die Kompetenz zum Erlass von Gesetzen betreffend die australischen Ureinwohner. Außerdem wurde das Verbot, die indigene Bevölkerung bei der Einwohnerzahl im Bund und den Einzelstaaten mitzuzählen, aufgehoben. Zu den wichtigsten Referenden denen kein Erfolg beschieden war, gehört sicherlich das Referendum vom 6. November 1999 zur Schaffung einer Republik in der anstelle der Queen und des Governor-Generals ein von beiden Häusern des Parlaments mit Zweidrittelmehrheit gewählter Präsident treten sollte und das Referendum vom 3. September 1988 bei dem nicht nur ein ausgesprochen moderater Vorschlag zum Ausbau von Grundrechten in der Bundesverfassung keine Mehrheit fand, sondern auch die Anerkennung einer kommunalen Selbstverwaltung.76
4. Die Legislative Fast die Hälfte der Vorschriften der Bundesverfassung – Section 1 bis 60 – befasst sich mit dem Parlament. Section 1 der Verfassung bestimmt:
71 Section 128 war 1977 selbst Gegenstand einer – und bisher der letzten – erfolgreichen Verfassungsänderung mit dem Resultat, dass auch die Einwohner der Territorien nunmehr abstimmen und bei der Auszählung auf Bundesebene zur Berechnungsgrundlage gehören. Die Territorien zählen jedoch nicht bei der zweiten Mehrheit mit, den Bundesstaaten. 72 Referendum (Machinery Provisions) Act 1984, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_ act/rpa1984353/. 73 Seit einer Gesetzesänderung 1924, s. Section 245(1): „It shall be the duty of every elector to vote at each election“, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/cea1918233/. 74 Zu Reformbestrebungen s. den Report „A Time for Change: Yes/No? – Inquiry into the Machinery of Referendums“ des House Standing Committees on Legal and Constitutional Affairs, Dezember 2009, http://www.aph.gov.au/house/committee/laca/referendums/report.htm. 75 Wobei jeder materielle Änderungsvorschlag einzeln gezählt wird, weil teilweise am selben Tage über mehrere Änderungsvorschläge abgestimmt wurde. Zählt man nach Abstimmungstagen, gab es nur 19 Änderungsreferenden. 76 Überblick über alle Referenden und die Abstimmungsergebnisse unter http://www.aec.gov.au/ Elections/referendums/Referendum_Dates_and_Results.htm.
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“The legislative power of the Commonwealth shall be vested in a Federal Parliament, which shall consist of the Queen, a Senate, and a House of Representatives, and which is hereinafter called The Parliament, or The Parliament of the Commonwealth.”
Dass die Queen als Teil des Parlaments erscheint77 geht auf die vom Vereinigten Königreich direkt übernommene unitaristische Staatsbetrachtung zurück, wonach alle Staatsgewalt letztlich königliche Staatsgewalt ist. Sections 59 und 60 der Bundesverfassung reflektieren dieses Grundverständnis und geben der Queen das Recht bis zu einem Jahr nach der Gegenzeichnung durch den Governor-General Gesetzgebungsakte zu kassieren („disallowance power“, Section 59) oder sich die Zustimmung unter bestimmten Voraussetzungen vorzubehalten („reservation Power“, Section 60). In der Praxis haben diese scheinbar weitreichenden Befugnisse jedoch keine Bedeutung, da verfassungsrechtliche Konvention die Ausübung dieser Rechte verbietet.78 Das Unterhaus (House of Representatives) setzt sich aus der angenähert doppelten Anzahl von Senatoren zusammen, die nach einem komplizierten Verfahren gemäß Section 24 der Verfassung i.V.m. Section 48 des Commonwealth Electoral Act79 berechnet wird. Zur Zeit sind es 150 Abgeordnete mit einer Legislaturperiode von drei Jahren. Die Abgeordneten werden in einem sog. präferentiellen Wahlsystem gewählt, bei dem, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit im Wahlkreis erreicht, Wahlpräferenzen aus den Stimmen der erfolglosen Kandidaten solange zugeteilt werden, bis eine absolute Mehrheit erreicht ist. Auf diese Weise können Wähler kleinerer Parteien oder weniger chancenreicher Kandidaten dennoch sicherstellen, dass ihre Stimme einem von ihnen bevorzugten Kandidaten einer der größeren Parteien oder einem chancenreichen Kandidaten zugute kommt. Das Oberhaus, der Senat, besteht aus nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen und für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählten Vertretern aus den Bundesstaaten und, seit 1974, auch aus den beiden Territorien des Festlandes.80 Den sechs Bundesstaaten stehen zur Zeit, unabhängig von der Größe und des Gewichtes des Bundesstaates, je 12 Senatoren zu, dem Australian Capital Territory (ACT) und dem Northern Territory (NT) je zwei.81 Ob die Territorien im Senat repräsentiert sein können, war verfassungsrechtlich sehr umstritten und wurde 1975 zugunsten der Territorien entschieden.82 Die Schwierigkeit lag darin, dass die den Senat betreffenden Vorschriften in Sections 7– 15 der Verfassung nur von Senatoren aus Bundesstaaten sprechen und nicht von Territorien, dass aber Section 122 dem Bundesparlament ausdrücklich die Kompetenz zuweist, Gesetze betreffend die Repräsentation der Territorien in beiden Häusern des 77 Das gilt auch für die Bundesstaaten, z.B. Section 15 Constitution Act of Victoria (1975), http:// www.austlii.edu.au/au/legis/vic/consol_act/ca1975188/. 78 Tate, John W., Giving Substance to Murphy’s Law: The Question of Australian Sovereignty, 27(1) Monash University Law Review (2001), S. 21 (22). 79 http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/cea1918233/s48.html. 80 Senate (Representation of Territories) Act 1973, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/num_ act/sota1973408/. 81 See Section 3 Representation Act 1983, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/ ra1983186/ und http://www.aph.gov.au/senate/pubs/brochure/index.htm. 82 Western Australia v Commonwealth (First Territory Senators Case) (1975) 134 CLR 201, http:// www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1975/46.html.
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Parlaments zu erlassen. Dass es zur Auflösung dieses Streites einer 4:3 Entscheidung des High Courts bedurfte, zeigt, dass die Herangehensweise an die Interpretation einer Verfassung komplexer ist, als vermeintlich ähnliche Auslegungsgrundsätze vielleicht nahelegen würden. Denn ungeachtet der demokratischen und föderalen Argumente für die eine oder andere Seite spräche für das Mehrheitsergebnis der lex specialis Grundsatz und die Tatsache, das Section 122 mit Blick auf Territorien leer liefe, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es zunächst nicht nur keine solche Repräsentanz der Territorien gab, sondern weder das ACT noch das NT existierten83, die Verfassung aber offenkundig von deren zukünftiger Existenz ausging und daher eine Repräsentanz später durch Parlamentsakt ermöglichen wollte. Die von der Gegenseite befürchtete Schwächung des Föderalismus durch eine eher kleine Repräsentanz der Territorien im Senat vermag dagegen nicht besonders zu überzeugen. Der damalige und in der Erstentscheidung unterlegene Chief Justice Barwick griff die Sache alsbald wieder auf und forderte in einer anderen Entscheidung84 indirekt aber deutlich auf, die Frage noch einmal vor das Gericht bringen. Mittlerweile war nämlich einer der vier Mehrheitsrichter des First Territory Case aus dem Amt geschieden. Der Bundesstaat Queensland nahm den Hinweis auf. In der darauf hin ergangenen zweiten Entscheidung85 wurde dennoch die erste Entscheidung bestätigt, weil zwei Richter nicht bereit waren, sich über die erste Entscheidung hinwegzusetzen, obwohl sie sie für falsch hielten und obwohl unumstritten ist, dass der High Court nicht an seine eigenen Entscheidungen gebunden ist, die Stare Decisis Doktrin also nicht zur Anwendung kommt. Diese Entscheidung wirft ein interessantes Licht auf die Rolle und das Selbstverständnis des High Court in seiner Rolle als Verfassungsgericht. Justice Gibbs beschreibt dieses Rollenverständnis eindrucksvoll wie folgt: “No Justice is entitled to ignore the decisions and reasoning of his predecessors, and to arrive at his own judgment as though the pages of the law reports were blank, or as though the authority of a decision did not survive beyond the rising of the Court. A Justice, unlike a legislator, cannot introduce a programme of reform which sets at nought decisions formerly made and principles formerly established. It is only after the most careful and respectful consideration of the earlier decision, and after giving due weight to all the circumstances, that a Justice may give effect to his own opinions in preference to an earlier decision of the Court. [...] But when it is asked what has occurred to justify the reconsideration of a judgment given not two years ago, the only possible answer is that one member of the Court has retired, and another has succeeded him. It cannot be suggested that the majority in Western Australia v. The Commonwealth failed to advert to any relevant consideration, or overlooked any apposite decision or principle. The arguments presented in the present case were in their essence the same as those presented in the earlier case. No later decision has been given that confl icts with Western Australia v. The Commonwealth. Moreover, the decision has been acted on; senators for the Territories have been elected under the legislation there held valid. To reverse 83 S.u. Fn. 137. Das ACT wurde erst nach 1909 geschaffen, war aber in Section 125 der Bundesverfassung schon vorgesehen. Zum NT s.u. Fn. 136. 84 Attorney-General (NSW); Ex Rel McKellar v Commonwealth (1977) 139 CLR 527 (532), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1977/1.html. 85 Queensland v Commonwealth (Second Territory Senators case) (1977) 139 CLR 585, http:// www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1977/60.html.
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the decision now would be to defeat the expectations of the people of the Territories that they would be represented, as many of them believed that they ought to be represented, by senators entitled to vote – expectations and beliefs that were no less understandable because in my view they were constitutionally erroneous, and that were encouraged by the decision of this Court.”86
Richter Gibbs geht mithin davon aus, dass eine verfassungsrechtlich falsche Entscheidung, mithin eine, die der Verfassung bzw. einer Vorschrift darin eine irrige Bedeutung zumisst, Bestand haben soll, es sei denn der Defekt ist so manifest, dass eine Abweichung geboten ist. In der Abwägung zwischen Richtigkeit und Verlässlichkeit ist der Verlässlichkeit ein hohes Gewicht beizumessen.
5. Die Exekutive: Die Regierung, die Queen und der Governor-General a. Queen und Governor-General Section 61 der Bundesverfassung gleicht – nur im Auf bau – dem Artikel 62 des GG und bestimmt lapidar: “The executive power of the Commonwealth is vested in the Queen and is exercisable by the Governor-General as the Queen’s representative, and extends to the execution and maintenance of this Constitution, and of the laws of the Commonwealth.”87
Es fällt auf, dass weder der Premierminister, noch die Minister Erwähnung finden. In Section 62 wird bestimmt, dass ein „Federal Executive Council“ einzurichten ist, welcher den Governor-General berät. Erst in Section 64 fi nden die Minister Erwähnung, die laut dieser Vorschrift vom Governor-General ernannt werden und qua Amtes Mitglied im Federal Executive Council sind. Das Amt des Premierministers fi ndet überhaupt keine Erwähnung. Noch weniger fi ndet sich in der Bundesverfassung zur Rückbindung des Staatshandelns and den Souverän, das Volk, vermittelt durch das Parlament („responsible government“). Grundlegende Fragen, etwa wer die Regierung bildet oder das wichtige Prinzip, dass der Governor-General nur auf den „Rat“ der dem Parlament verantwortlichen Richter handelt, finden sich nicht in der Verfassung, sondern gelten als verfassungsrechtliche Konvention. In besonderer Weise kommt in diesen Vorschriften zur Exekutive zum Ausdruck, dass man die australische Bundesverfassung nicht ohne diese dazugehörigen ungeschriebenen Konventionen verstehen kann. Man könnte auch schärfer formulieren, dass die Vorschriften der Verfassung schon im Zeitpunkt ihres Erlasses die Rechtswirklichkeit nicht widerspiegelten oder auch nur widerspiegeln wollten.88 Es kommt ein anderes Verfassungsverständnis zum Vorschein, welches nicht so sehr darauf ausgerichtet ist, in der Verfassung normativ zu beschrieben was sein soll, sondern ein überkommenes – und im Zeitpunkt der australischen Verfassungsgebung sehr zu86
AaO (Fn. 85), para. 9 f. S. http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca430/s61.html. 88 Crommelin, Michael, The Commonwealth Executive – A Deliberate Enigma, Melbourne, 1986, S. 36: „[...] unlike Chapter I of the Constitution, Chapter II was intended to mask rather than prescribe the workings of the executive.“ 87
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gunsten des Parlamentes gefestigtes – Verständnis von Demokratie und Monarchie widerzuspiegeln. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Stellung des Monarchen ist sehr komplex und sprengt den Rahmen dieser Darstellung. Nach britischer Verfassungsentwicklung ist seit der Revolution von 1688 das Parlament das bestimmende Organ und der Monarch handelt nur nach Maßgabe der dem Parlament verantwortlichen Minister. Dies ist auch die Grundstruktur in Australien, wobei der Governor-General den Monarchen in Australien vertritt und von dieser auf Vorschlag des Premierministers zu ernennen ist.89 Section 2 der Bundesverfassung bringt das zum Ausdruck: “A Governor-General appointed by the Queen shall be Her Majesty’s representative in the Commonwealth, and shall have and may exercise in the Commonwealth during the Queen’s pleasure, but subject to this Constitution, such powers and functions of the Queen as Her Majesty may be pleased to assign to him.”
Die Krone ist dabei kein einheitliches Konstrukt mehr. Queen Elizabeth ist nicht eine Königin eines Gebildes, welches das Vereinigte Königreich und Australien (neben anderen Gebieten umfasst), sondern sie ist, wenn es um Australien betreffende Amtsgeschäfte geht, Königin des Commonwealth von Australien.90 Die Krone besitzt Rechtspersönlichkeit.91
b. Die Whitlam Affäre Die Unbestimmtheit der exekutiven Befugnisse des Governor-Generals führte im November 1975 zu einer dramatischen Verfassungskrise.92 Die Labor-Regierung des damaligen Premierministers Gough Whitlam verfügte über eine Mehrheit nur im House of Representatives, nicht aber im Senat. Die konservative Opposition unter der Führung von Malcolm Fraser blockierte darauf hin die Hauhaltsgesetzgebung um Neuwahlen zu erzwingen. In der sich zuspitzenden Blockadesituation entschloss sich der Governor-General, Sir John Kerr, den Premierminister ab – und Malcolm Fraser als geschäftsführenden Premierminister einzusetzen. Fraser löste das Parlament absprachegemäß sofort auf, setzte Neuwahlen an, gewann diese deutlich und diente dann als Premierminister. Die Frage, ob der Governor-General zu diesem Schritt befugt war, ist bis heute umstritten. Obwohl es sich nach deutscher Diktion um einen klassischen Organstreit handelte, ist der High Court mit dieser Sache nie 89
Sue v Hill (1999) 199 CLR 462, para 74, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1999/30.
html. 90
McConvill, James, The United Kingdom is a Foreign Power – Sue v Hill, 4(2) Deakin Law Review Royal (1999/2000), S. 151 (156); s.a. Styles and Title Act 1973, http://www.austlii.edu.au/au/legis/ cth/consol_act/rsata1973258/. 91 Clarke, Jennifer/Keyzer, Patrick, Stellios, James, Hanks’ Australian Constitutional Law – Materials and Commentary, 8th ed. 2009, 1011 ff. 92 Zum Ablauf der Krise s. z.B. Lee, H.P./Winterton, George (eds.), Australian Constitutional Landmarks, 2003, S. 229 ff.; s.a. die eher politische Bewertung von Neville Wran, Dismissal to Republic, in Coper, Michael/Williams, George, Power, Parliament and the People, 1997, S. 193 ff. In dem Buch gibt es noch eine Reihe anderer Beiträge, die sich direkt mit dieser Affäre auseinandersetzen.
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betraut worden. Er hätte sie auch nicht mehr lösen können, denn schon am 13. Dezember 1975 fanden die Neuwahlen statt, die den Regierungswechsel legitimierten.
c. Prerogative Powers Die Abgrenzung von exekutiven und legislativen Befugnissen und die Frage, ob es einen eigenen, unantastbaren Bereich exekutiver Macht gibt, ist in der Bundesverfassung nur unvollständig geregelt. In Teilen geht es hier, in deutscher Diktion, um die Frage der Reichweite des Gesetzesvorbehalts. Ausgangspunkt ist die schon erwähnte Section 61 der Bundesverfassung, der überwiegend umfassend in dem Sinne ausgelegt wird, dass alle Ausübung exekutiver Gewalt auf dieser Vorschrift gründet, dass es so gesehen mithin keine über- oder außerverfassungsrechtliche Ausübung exekutiver Gewalt gibt93, d.h. keine aus dem Common Law stammenden außerverfassungsrechtlichen Befugnisse.94 Unbestritten ist auch, dass, soweit die legislative Zuständigkeit reicht, die Macht der Exekutive durch entsprechende Gesetzgebung beschnitten werden kann.95 Der Tampa Fall96 ist einer der Leitentscheidungen zu dieser Frage aus jüngerer Zeit und betrifft einen Sachverhalt der weltweit Schlagzeilen gemacht hat. Am 26. August 2001 rettete das norwegische Frachtschiff MV Tampa unter Kapitän Arne Rinnan auf Bitten australischer Behörden auf dem Weg von Fremantle in Westaustralien nach Singapur 433 afghanische Flüchtlinge von einem sinkenden Fischerboot. Die australische Küstenwache bedeutete dem Kapitän dann, die Flüchtlinge nach Indonesien zu bringen. Das wiederum wollten die Flüchtlinge nicht, die teilweise mit Selbstmord drohten. Der Kapitän entschied daher, die Weihnachtsinseln anzusteuern, ein australisches Territorium, und ging noch in internationalen Gewässern vor Anker. Die australische Regierung weigerte sich jedoch, die Flüchtlinge an Land zu lassen. Die Zustände an Bord verschlechterten sich zusehends und der Kapitän beschloss, sich den Inseln bis auf wenige Meilen zu nähern, also in australische Territorialgewässer einzufahren. Das Schiff wurde von Spezialeinheiten gestürmt, um zu verhindern, dass es die Inseln erreicht, wo die Flüchtlinge einen Asylantrag hätten stellen können. Die Flüchtlinge wurden später auf ein australisches Militärschiff umgeladen, im Zwischendeck verwahrt und teilweise nach Nauru und nach Neuseeland verbracht, wo ihnen Asyl gewährt wurde. Die Rechtsfrage, die dieser Fall aufwarf, 93
Vgl. Zines, Leslie, The High Court and the Constitution, 5. Aufl age 2008, S. 358 f. Barton v Commonwealth (1974) 131 CLR 477, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/ 1974/20.html, para. 20: „By s. 61 the executive power of the Commonwealth was vested in the Crown. It extends to the execution and maintenance of the Constitution and of the laws of the Commonwealth. It enables the Crown to undertake all executive action which is appropriate to the position of the Commonwealth under the Constitution and to the spheres of responsibility vested in it by the Constitution. It includes the prerogative powers of the Crown, that is, the powers accorded to the Crown by the common law.“ 95 Ruddock v Vadarlis [2001] FCA 1329, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/FCA/2001/1329. html, para. 181 ( Justice French): „The executive power can be abrogated, modified or regulated by laws of the Commonwealth. Its common law ancestor, the Royal Prerogative, was similarly subject to abrogation, modification or regulation by statute“ m.w.N. 96 Ruddock v Vadarlis [2001] FCA 1329, s. Fn. 95. 94
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war die nach der Notwendigkeit einer gesetzlichen Rechtsgrundlage für das Handeln der australischen Behörden. Der erstinstanzliche Richter hatte festgestellt, dass eine solche nicht existiere und die Handlungen der Regierung daher rechtswidrig gewesen seien. Die zwei Mehrheitsrichter des Federal Court, darunter der jetzige Chief Justice Australiens, Robert French, entschieden anders und sahen die Rechtsgrundlage direkt in Section 61 der Bundesverfassung. Diese Vorschrift enthalte auch das Recht, Ausländer nicht einreisen zu lassen und sie abzuschieben.97 Diese Befugnis könne durch Gesetz konkretisiert und beschnitten werden, aber solange dies nicht geschehen ist, bleibe Section 61 eine tragfähige Grundlage.98 Es zeigt sich hier ein wesentlicher Unterschied zu deutschen Rechtslage, wonach jedenfalls alle grundrechtsrelevanten Eingriffe einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Eine Ähnlichkeit besteht insoweit, als auch das BVerfG in den Entscheidungen betreffend die Warnungen vor mit Glykol versetztem Wein99 und vor der Gefährlichkeit der OSHO-Sekte100 die Existenz von sog. Regierungshandeln bzw. staatsleitendem Handeln anerkannt hat, also von exekutivem Handeln das nicht in gleicher Weise einer gesetzlichen Grundlage bedürfe.
d. Das Verbot der Kommunistischen Partei Schon fünf Jahre vor dem erfolgreichen Verbot der KPD in der damaligen Bundesrepublik101 hatte sich der High Court mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Verbots der Kommunistischen Partei Australiens auseinanderzusetzen.102 Ein dem Artikel 21 ähnlicher Artikel fehlt in der Bundesverfassung gänzlich und mangels Grundrechten, die verfassungsrechtlich implizierte politische Meinungsfreiheit wurde vom High Court erst viele Jahre später entwickelt, stellt sich die Frage, wie man dem dem Verbot zugrundeliegenden Gesetz überhaupt verfassungsrechtlich beikommen konnte. Die Antwort lag in den kompetenzrechtlichen Vorschriften. Der Commonwealth hatte sich bei der Verabschiedung des Communist Party Dissolution Acts 1950 auf zwei Kompetenzgrundlagen bezogen. Zum einen war dies die Verteidigungskompetenz des Section 51(vi), wonach der Bund die Kompetenz zum Erlass von Gesetzen hat, die der Sicherheit und der Verteidigung Australiens dienen. Zum anderen war dies die Befugnis aus Section 61 der Bundesverfassung „zur Durchführung und Aufrechterhaltung der Verfassung und der Gesetze des Commonwealth.“103 Bei beiden Handlungsgrundlagen stellt sich die Frage, inwieweit die Adressaten, z.B. 97
Ruddock v Vadarlis [2001] FCA 1329, s. Fn. 95, para. 193. Ruddock v Vadarlis [2001] FCA 1329, s. Fn. 95, para. 197 f. und 199 ff. 99 BVerfGE 105, 252 = BVerfG, 1 BvR 558/91 vom 26. 6. 2002, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20020626_1bvr055891.html. 100 BVerfGE 105, 279 = BVerfG, 1 BvR 670/91 vom 26. 6. 2002, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20020626_1bvr067091.html. 101 BVerfGE 5, 85. 102 Australian Communist Party v Commonwealth („Communist Party case“) (1951) 83 CLR 1, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1951/5.html. 103 Section 61: „The executive power of the Commonwealth is vested in the Queen and is exercisable by the Governor General as the Queen’s representative, and extends to the execution and maintenance of this Constitution, and of the laws of the Commonwealth.“ S. http://www.austlii.edu.au/au/ 98
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der Governor-General oder das Parlament, selbst die Reichweite der Befugnis bestimmen können. Für die Verteidigungskompetenz hatte das Gericht schon entschieden, dass diese im Kriegsfalle sehr weitreichend sein kann, weil sich das Gericht nicht anmaßen will, selbst zu entscheiden, was der Verteidigung dient und was nicht. Dennoch hat auch diese Befugnisnorm selbst im Krieg ihre Grenzen, denn eine objektive Geeignetheit der Maßnahme zur Verteidigung kann das Gericht überprüfen.104 Im Frieden oder außerhalb sonstiger vergleichbarer Notsituationen verringert sich die Einschätzungsprärogative der Adressaten. Da eine solche Notsituation nicht bestand, wurde der Akt mangels Kompetenzgrundlage für verfassungswidrig erachtet und damit auch das Verbot der Kommunistischen Partei.105 Im Ergebnis operiert der High Court letztlich auf der Grundlage einer Art Notfallrecht. Je nach Existenz eines solchen Ausnahmezustandes kann sich die Nutzungsbreite jedenfalls der Verteidigungskompetenz erweitern.106 Demgegenüber spielen grundrechtliche oder demokratisch-partizipatorische Erwägungen keine Rolle.
6. Die Judikative und der High Court a. Allgemeines und Organisation Die australische Justiz ist in den Sections 71 bis 80 geregelt. Section 71 bestimmt: „The judicial power of the Commonwealth shall be vested in a Federal Supreme Court, to be called the High Court of Australia, and in such other federal courts as the Parliament creates, and in such other courts as it invests with federal jurisdiction. The High Court shall consist of a Chief Justice, and so many other Justices, not less than two, as the Parliament prescribes.“
In der Zusammenschau mit Section 73 ergibt sich, dass Australien ein zweigeteiltes Gerichtssystem besitzt, bei dem eine einzelstaatliche Gerichtsbarkeit neben der bundesstaatlichen Gerichtsbarkeit steht. Allerdings besteht eine Verzahnung dadurch, dass Section 73 den obersten Gerichtshof (High Court of Australia) als Berufungsoder Revisionsgericht auch gegenüber einzelstaatlichen Gerichten zulässt. Die Bundesgerichtsbarkeit besteht neben dem High Court of Australia als oberstem Gerichtshof und Verfassungsgericht aus dem Family Court of Australia, der 1976 geschaffen wurde und seine spezialgerichtliche Zuständigkeit aus dem Family Law
legis/cth/consol_act/coaca430/s61.html. Diese Befugnis wurde später unter dem Begriff „nationhood power“ zusammengefasst. 104 Marcus Clark & Co Ltd v Commonwealth („Capital Issues case“) (1952) 87 CLR 177, http:// www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1952/50.html, para. 12. 105 Zines, Leslie, The High Court and the Constitution, 5. Aufl age 2008, S. 300 ff.; Lee, H.P./Winterton, George, Australian Constitutional Landmarks, 2003, S. 108 ff. 106 Die Entscheidung wurde mit 6:1 getroffen. Was die „Nationhood Kompetenz“ betraf war jedoch ein Teil der Richter der Meinung, dass diese hier nicht einschlägig sein könne, ein anderer Teil interpretierte sie ähnlich wie die Verteidigungskompetenz. Vgl. Blackshield, Tony/Williams, George, Australian Constitutional Law and Theory – Commentary and Materials, 5th ed. 2010, S. 852.
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Act 1975107 bezieht, dem 1977 geschaffenen Federal Court of Australia108 und dem seit 2000 bestehenden Federal Magistrates’ Court.109 Die Gerichtsorganisation in den Einzelstaaten ist in der Bundesverfassung nicht geregelt. Deren Gerichte sind dort nur insofern erwähnt, als sie der Berufungs- bzw. Revisionsgerichtsbarkeit des High Court unterliegen. Die Besoldung der Richter ist außerordentlich großzügig. Sie wird von dem Remuneration Tribunal auf der Grundlage eines Gesetzes mit parlamentarischem Einspruchsrecht festgelegt.110 Der Chief Justice bezieht danach ein Grundgehalt von fast 500.000 Dollar, ein „normaler“ Richter am Federal Court erhält fast 380.000 Dollar und ein Federal Magistrate fast 300.000 Dollar.111 Ein einfacher Parlamentsabgeordneter verdient mit knapp 137.000 Dollar deutlich weniger und selbst die Premierministerin, die 260 % dieser Summe als Gehalt bezieht, also ca. 350.000 Dollar, verdient deutlich weniger als die führenden Richter.112 Die Einzelstaaten unterscheiden sich nicht grundlegend in ihrer jeweiligen Gerichtsorganisation, sieht man einmal davon ab, dass in den Territorien (ACT und NT) und in Tasmanien der Gerichtsauf bau nur zweizügig ist und sonst dreizügig. Alle Staaten haben einen Supreme Court als höchstes Gericht. Dieses Gericht vereint die Berufungsgerichtsbarkeit in Straf- und Zivilsachen.113
b. Judikative und Exekutive Gewaltenteilung – Die Rechtssachen Kable und Kirk (1) Kable v Director of Public Prosecutions Die Kable-Entscheidung114 ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen, weil sie die wichtige Frage nach dem Verhältnis von Bundesverfassung und einzelstaatlicher Gerichtsorganisation neu gelöst hat und zum anderen, weil dieser Fall ein instruktives Beispiel bildet, wie man vergleichbare Ergebnisse auf ganz unterschiedlichen Wegen erzielen kann. 107
http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/fl a1975114/. Federal Court of Australia Act 1976, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/fcoaa 1976249/. 109 Federal Magistrates Act 1999, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/fma1999186/ und Federal Magistrates (Consequential Amendments) Act 1999, http://www.austlii.edu.au/au/legis/ cth/num_act/fmaa1999426/. Der Family Court und die Federal Magistrates’ Courts haben im Familienrecht sich überschneidende Kompetenzen. 110 Remuneration Tribunal Act 1973, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/rta1973 251/ und Judicial and Statutory Officers (Remuneration and Allowances) Act 1984, http://www. austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/jasoaaa1984573/. 111 S. die 2011/2012 – Judicial and Related Offices – Remuneration and Allowances, http://www. remtribunal.gov.au/default.asp (unter „Judicial and realted Offices) 112 Vgl. Background Note – Parliamentary allowances, salaries of office and entitlements, Updated February 2011, http://www.aph.gov.au/library/pubs/bn/pol/parlrem.htm. 113 In New South Wales (NSW) setzt sich der Supreme Court aus dem Court of Appeal, dem Court of Criminal Appeal, der Common Law Division (Criminal Law and Administrative Law matters) und einer Equity Division zusammen, s. http://www.lawlink.nsw.gov.au/lawlink/supreme_court/ll_sc.nsf /pages/SCO_aboutus. 114 Kable v Director of Public Prosecution (NSW) (1996) 189 CLR 51, 108
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Kable hatte seine Frau umgebracht und war dafür zu etwas über fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden.115 Von dort bedrohte er die Familie seiner getöteten Frau, sodass die herannahende Entlassung, auch im Lichte des von vielen für viel zu gering erachteten Urteils, zu einem Politikum wurde und zum Erlass des Community Protection Act116 führte. Dieses Gesetz ermöglichte eine Art nachträgliche Sicherungsverwahrung. Section 5 formulierte in allgemeiner Weise, dass als gefährlich eingestufte Personen auch ohne bzw. nach einem verbüßten Strafurteil mit einer auf sechs Monate befristeten, aber erneuerbaren richterlichen Anordnung in Haft gehalten werden konnten.117 Section 3 des Gesetzes machte jedoch klar, dass dies nur für den dort namentlich benannten Gregory Wayne Kable gelten sollte und für niemand anderen. Es handelte sich mithin um ein klassisches Einzelfallgesetz in der Form eines Einzelpersonengesetzes. Eine Mehrheit des High Courts hielt das für unzulässig. Da es jedoch kein Verbot der Einzelfallgesetzgebung ähnlich des Art. 19 Abs. 1 GG gibt, und darüber hinaus sowohl die zugrundeliegende Rechtssache als auch die zuständigen Gerichte solche eines Einzelstaates waren, musste ein anderer Ansatzpunkt gefunden werden. Dieser lag in den die Gerichtsbarkeit betreffenden Vorschriften der Section 3 der Bundesverfassung. Da dort in Section 73 auch die Supreme Courts der Einzelstaaten erwähnt werden und da diese Gerichte auch zur Entscheidung bundesrechtlicher Angelegenheiten („federal jurisdiction“) berufen sind, erstreckten die Mehrheitsrichter bundesverfassungsrechtlich begründete Gesichtspunkte der Gewaltenteilung auch auf die Gerichte der Einzelstaaten. Demnach sei darauf zu achten, dass die Gerichte der Einzelstaaten, die „federal jurisdiction“ ausüben118, auch als Gerichte wahrgenommen würden und nicht als Exekutiv- oder Legislativorgane und dafür sei eine rechtliche und tatsächlich auch sichtbare Trennung und Unabhängigkeit von den beiden anderen Gewalten notwendig. Diese Trennung und Unabhängigkeit sei nicht gegeben, wenn ein Richter in Anwendung eines – nach deutscher Diktion – Einzelpersonengesetzes119, bestimmte Anordnungen zu treffen habe. Mit dieser Entscheidung war nunmehr für den Bereich der Gerichtsbarkeit der Durchgriff des High Courts auf die Einzelstaaten festgestellt. Die beiden Minderheitsrichter hatten demgegenüber ganz föderal argumentiert und es den Staaten überlassen wollen, mit welchen Befugnissen diese ihre Gerichte ausstatten, mit der Folge, dass ein bundesrechtlicher Zugriff auf dieses Einzelpersonengesetz nicht möglich gewesen wäre.120 Der 115
S. Rees, Neil/Fairall, Paul, Gregory Wayne Kable v The Director of Public Prosecutions for New South Wales – The Power to Legislate for One, (1995) High Court Review 4, http://www.austlii. edu.au/au/journals/HCRev/1995/4.html. 116 Community Protection Act (1994), http://www.austlii.edu.au/au/legis/nsw/consol_act/ cpa1994270/. 117 Section 5 Community Protection Act (1994), s.o. Fn. 116. 118 Das sind nicht nur die Supreme Courts der Staaten, vgl. K Generation v Liquor Licensing Court (2009) 252 ALR 471. 119 Vgl. zu diesem Begriff als eigentlichem Angriffspunkt des Art. 19 Abs. 1 GG, MD-Herzog, Art. 19 Abs. 1, Rn. 35 ff. 120 Dazu auch Gogarty, Brendan/Bartl, Benedict, Tying Kable Down: The Uncertainty about the Independence and Impartiality of State Courts Following Kable v DPP (NSW) and Why it Matters, (2009) 32(1) University of New South Wales Law Journal 75 m.w.N auch zur vorangegangenen und zurückhaltenderen Rechtsprechung, s. S. 81 ff. Die Kable Rechtsprechung wurde durch den High
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Begriff „Supreme Court of any State“ in Section 73 Abs. 2 der Bundesverfassung war nun ein bundesverfassungsrechtlicher Terminus mit eigenem Rechtsgehalt und nicht mehr nur ein deskriptiver Verweis.121 Das Gewaltenteilungsargument war auch in zwei neueren, die Kable Rechtsprechung bestätigenden Urteilen, maßgeblich. Dort ging es um gegen kriminelle Vereinigungen, vor allem, aber nicht nur Rocker Banden wie z.B. die Hells Angels, gerichtete Gesetzgebung, die den Erlass sog. Kontrollanordnungen ermöglichte, die dem Betroffenen, der kontrollierten Person, unter Strafandrohung die Ausübung bestimmter Gewerbe und Tätigkeiten sowie die Kontaktaufnahme mit anderen kontrollierten Personen verbietet. In den Erlass solcher Kontrollanordnungen sind durch das zugrunde liegende Gesetz auch Richter eingebunden, weil es bestimmten Richtern obliegt, eine Organisation als kriminelle Organisation zu deklarieren. Diesen „Missbrauch“ der Gerichtsbarkeit, d.h. die Einspannung der Gerichte in administrative, also exekutive Funktionen hat der High Court als verfassungswidrig eingestuft und das zugrundeliegende Gesetz für nichtig erklärt.122
(2) Kirk v Industrial Relations Commission (NSW) In der Rechtssache Kirk123 hat der High Court den bundesverfassungsrechtlichen Zugriff auf die Ausgestaltung des Rechtsschutzes auch in den Einzelstaaten weiterentwickelt und damit das Verhältnis von Verfassungs- und Verwaltungsrecht grundsätzlich neu bestimmt. Auch hier war der Zugang jedoch kein grundrechtlicher, wie es in Deutschland mit Art. 19 Abs. 4 GG der Fall gewesen wäre, sondern ein auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung basierender Gedanke. In Kirk ging es um die Verurteilung von Kirk auf der Grundlage von ausgesprochen weitreichenden Zurechnungsvorschriften eines einzelstaatlichen (NSW) Arbeitssicherheitsgesetzes, weil Kirks erfahrener Farmverwalter bei einem Unfall mit einem sog. ATV (All-Terrain Vehicle) ums Leben gekommen war. Die Haftung unter dem Arbeitssicherungsgesetz konnte zwar vor dem Industrial Court von NSW angegriffen werden, aber nur dort. Eine sog. „privative clause“, Section 179 des Industrial Relations Act124, hätte die Überprüf barkeit von Entscheidungen des IndusCourt in der Entscheidung International Finance Trust Co. Ltd v New South Wales Crime Commission (2009) 240 CLR 319 (s. http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/2009/49.html) bestätigt. 121 Spigelman, James Jacob, The Centrality of Jurisdictional Error, 21 Public Law Review 2010, S. 77 (78). 122 S.a. Wainohu v New South Wales [2011] HCA 24, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ HCA/2011/24.html. S.a. South Australia v Totani [2010] HCA 39 (11 November 2010), http://www. austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/2010/39.html. Dort ging es um eine ähnliche Konstellation. Allerdings oblag dem Attorney-General, also einem Regierungsmitglied die Feststellung des kriminellen Charakters der Organisation. Dafür jedoch war danach ein Magistrate (Richter) verpfl ichtet, Kontrollanordnungen zu erlassen, also letztlich verpfl ichtet, eine exekutive Anordnung ohne eigenen Kontrollspielraum umzusetzen. Auch dies wurde für verfassungswidrig erachtet. 123 Kirk v Industrial Relations Commission (NSW) (2010) 239 CLR 531, http://www.austlii.edu. au/au/cases/cth/HCA/2010/1.html. 124 Section 179 Abs. 1 lautet: „A decision of the Commission (however constituted) is fi nal and may not be appealed against, reviewed, quashed or called into question by any court or tribunal“, http:// www.austlii.edu.au/au/legis/nsw/consol_act/ira1996242/s179.html.
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trial Courts durch andere Gerichte, also z.B. den Supreme Court von NSW und damit auch den Zugriff im Wege der Revision durch den High Court, ausschließen können. Der High Court kam zu dem Ergebnis, dass in diesem Falle die Auslegung der Norm die rechtsschutzbeschränkende Wirkung der Norm nicht hergab. Der High Court stellte aber auch fest, und hierin liegt die Bedeutung, dass eine solche Kappung des Rechtsweges nicht verfassungsgemäß sein könne, weil den in Section 3 der Bundesverfassung genannten Supreme Courts die umfassende Rechtskontrolle durch die Parlamente der Einzelstaaten nicht entzogen werden dürfe, da sonst die Rechtseinheit unter Verfassung und Common Law nicht gewährleistet sei. Damit hat der High Court für die einzelstaatlichen Parlamente nachvollzogen was das Gericht schon vorher für das Bundesparlament und das Bundesrecht festgestellt hatte: „It is important to emphasise that the difference in understanding what has been decided about privative clauses is real and substantive; it is not some verbal or logical quibble. It is real and substantive because it reflects two fundamental constitutional propositions, both of which the Commonwealth accepts. First, the jurisdiction of this Court to grant relief under s 75(v) of the Constitution cannot be removed by or under a law made by the Parliament. Specifically, the jurisdiction to grant s 75(v) relief where there has been jurisdictional error by an officer of the Commonwealth cannot be removed. Secondly, the judicial power of the Commonwealth cannot be exercised otherwise than in accordance with Ch III. The Parliament cannot confer on a non-judicial body the power to conclusively determine the limits of its own jurisdiction.“125
Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, ob es überhaupt möglich ist, die Überprüf barkeit durch „ordentliche Gerichte“, also Gerichte im Sinne der Section III der Bundesverfassung und im Unterschied zu den Spezialgerichten oder Tribunals und insbesondere auch der diversen Verwaltungstribunale und anderer Rechtsprechungseinrichtungen, rechtlich zu gestalten bzw. limitieren. Die Antwort auf diese Frage bietet die Figur des sog. „jurisdictional errors“. Liegt ein solcher jurisdiktioneller Fehler vor, ist der Rechtsweg zu den „ordentlichen Gerichten“ und damit ggf. auch zum High Court gegeben, während andere, nicht-jurisdiktionelle Fehler keine solche Konsequenz zeitigen.
(3) „Jurisdictional Error“ Die Kategorie des jurisdiktionellen Fehlers ist beleibe keine neuere Erfindung. Die Kategorie entstand mit der Entwicklung eines Verwaltungsrechts im Common Law und der sich daraus u.a. ergebenden Frage, inwieweit die Verwaltungsbehörden der richterlichen Kontrolle unterliegen.126 Dabei bezeichnet der jurisdiktionelle Fehler einen Fehler, bei der die entscheidende Stelle ihren Zuständigkeitsbereich verletzt und nicht nur einfach einen Rechtsanwendungsfehler macht. In diesem Falle und nur dann besteht die Möglichkeit der Anfechtung und Nichtigkeitserklärung des 125
Plaintiff S157/2002 v Commonwealth [2003] 211 CLR 476, http://www.austlii.edu.au/cgibin/sinodisp/au/cases/cth/HCA/2003/2.html, para. 98. 126 Zur historischen Entwicklung s. Seggie, K J, Jurisdictional Error in Administrative Law, 5(1) Sydney Law Review (1965), S. 89 (90 ff.).
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zugrundeliegenden Aktes durch die ordentliche Gerichtsbarkeit, also die Gerichte i.S.v. Section III der Bundesverfassung. Das House of Lords in London selbst hatte die schwierige Unterscheidung127 sogar schon weitgehend aufgegeben128 und damit umfassendere gerichtliche Überprüfungsmöglichkeiten von Verwaltungshandeln geschaffen.129 Der High Court wollte aber auf diese Unterscheidung nicht verzichten. Gestützt auf das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen der judikativen und exekutiven Gewalt entschied das Gericht in der Rechtssache Craig130, dass das Parlament nicht befugt sei, den Zugang zu Gerichten im Sinne der Section III der Bundesverfassung zu begrenzen und statt dessen ein Verwaltungstribunal mit der Rechtsaufsicht zu betrauen.131 Diese Rechtsprechung hat das Gericht in Kirk in zweierlei Hinsicht erweitert. Zum einen durch die Erweiterung der Tatbestände die als jurisdiktioneller Fehler angesehen werden können und zum zweiten, und im vorliegenden Zusammenhang bedeutsamer, wurde die verfassungsrechtliche Wirkung der so verstandenen Gewaltenteilung auch auf die einzelstaatlichen Parlamente ausgedehnt. Diese haben, so der High Court ausdrücklich, nicht die Befugnis, dem jeweiligen State Supreme Court die Zuständigkeit zur Entscheidung über jurisdiktionelle Fehler zu entziehen.132
127 Vgl. Bros Bins Systems Pty Ltd v Industrial Relations Commission of New South Wales (2008) NSWCA 292, http://www.austlii.edu.au/au/cases/nsw/NSWCA/2008/292.html, para. 39 unter Verweis auf das bekannte Zitat des ehemaligen Chief Justices Murray Gleeson, Judicial Legitimacy, 20 Australian Bar Review (2000), S. 1 (23) zur Problematik von rechtlichen Grauzonen: „Australian statutes on the subject, and the principles of common law, distinguish between review of the merits of administrative decisions, which is usually undertaken by specialist tribunals, and judicial review based upon principles of legality. The difference is not always clear-cut; but neither is the difference between night and day. Twilight does not invalidate the distinction between night and day; [...]“. 128 Anisminic Ltd v Foreign Compensation Commission (1969) 2 AC 147 (171); s.a. Page v Hull University Visitor (1993) AC 682. 129 Dazu Bath, Vivienne, The Judicial Libertine – Jurisdictional and Non-Jurisdictional Error of Law in Australia, 13 (1) Federal Law Review (1982), S. 13 ff. 130 Craig v South Australia (1995) 184 CLR 163, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ HCA/1995/58.html. 131 Craig v South Australia (Fn. 130), para. 14 f.: „The position is, of course, a fortiori in this country where constitutional limitations arising from the doctrine of the separation of judicial and executive powers may preclude legislative competence to confer judicial power upon an administrative tribunal. If such an administrative tribunal falls into an error of law which causes it to identify a wrong issue, to ask itself a wrong question, to ignore relevant material, to rely on irrelevant material or, at least in some circumstances, to make an erroneous fi nding or to reach a mistaken conclusion, and the tribunal’s exercise or purported exercise of power is thereby affected, it exceeds its authority or powers. Such an error of law is jurisdictional error which will invalidate any order or decision of the tribunal which reflects it.“ 132 Kirk v Industrial Relations Commission (NSW) (2010) 239 CLR 531, http://www.austlii.edu. au/au/cases/cth/HCA/2010/1.html, para. 100: „Rather, the observations made about the constitutional significance of the supervisory jurisdiction of the State Supreme Courts point to the continued need for, and utility of, the distinction between jurisdictional and non-jurisdictional error in the Australian constitutional context. The distinction marks the relevant limit on State legislative power. Legislation which would take from a State Supreme Court power to grant relief on account of jurisdictional error is beyond State legislative power. Legislation which denies the availability of relief for non-jurisdictional error of law appearing on the face of the record is not beyond power.“
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(4) Judikative und Legislative Gewaltenteilung Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass der High Court auch gegenüber der Legislative auf dem Vorrang der Rechtsprechung bei der Gesetzesauslegung bestanden und die sog. „doctrine of deference“ ausdrücklich zurückgewiesen hat.133 Nach dieser Lehre, die sowohl vom Supreme Court of Canada als auch vom Supreme Court der USA vertreten wird134, überprüfen die Gerichte die Auslegung von Gesetzesrecht durch Behörden nur, wenn die gewählte Auslegung sich außerhalb dessen bewegt, was man vernünftigerweise („reasonable“) noch als mit dem Willen des Gesetzgebers vereinbar ansehen kann.
(5) Ergebnis Die Ausführungen machen in besonderer Weise deutlich, wie schwierig es ist, Rechtssysteme zu vergleichen und wie ähnliche Rechtsfragen systemisch anders angegangen werden müssen. Die in diesem Abschnitt skizzierten Fragen treten auch in Deutschland auf. Sie sind dort jedoch anders eingebettet, z.B. in den Anwendungsbereich der Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Abs. 4 GG oder in die verwaltungsrechtliche Abgrenzung zwischen Zweckmäßigkeits- und Rechtskontrolle, die wiederum in das Konzept des subjektiven Rechts eingebunden ist. Schließlich wird der Unterschied deutlich zwischen einem System stringent eingerichteter Rechtswege einerseits (Artikel 95, 96, 101 GG) und einem über die Jahrhunderte aus dem Common Law gewachsenen System von klassisch-ordentlicher Gerichtsbarkeit neben einem Flickenteppich zahlreicher legislativ eingerichteter Spezialtribunale und ähnlichen Entscheidungsinstanzen.
7. Föderalismus a. States and Territories Der Bundesstaat Australien (The Commonwealth of Australia) besteht aus sechs Bundesstaaten (New South Wales, Queensland, Victoria, South Australia, Western Australia und Tasmanien) und aus zwei „mainland“ Territorien135, dem Northern 133 Corporation of the City of Enfield v Development Assessment Commission (2000) 199 CLR 135, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/2000/5.html. 134 Für die USA s. Chevron USA v NRDC, 467 U.S. 837 (1984), http://laws.fi ndlaw.com/ us/467/837.html. Zum Ganzen Dolehide, Robert C., A Comparative „Hard Look“ at Chevron: What the United Kingdom and Australia Reveal About American Administrative Law, 88 Texas Law Review (2009–2010), S. 1381 ff. 135 Zählt man das kleine Jervis Bay Territory als eigenes Territory und nicht als Teil des Australian Capital Territories, dessen Seezugang und Hafen es bilden sollte, dann sind es sogar drei Mainland Territories, s. http://foundingdocs.gov.au/enlargement-eid-105-pid-95.html. Die Gestaltung erinnert ein wenig an Bremen und Bremerhaven, wiewohl Bremerhaven ein ungleich bedeutenderer Teil des Bundeslandes Bremen darstellt als es die knapp 400 Einwohner von Jervis Bay für das ACT sind.
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Territory (NT)136 und dem Australian Capital Territory (ACT)137 mit der Bundeshauptstadt Canberra138. Hinzu kommen noch einige kleinere Inseln als Territorien außerhalb Australiens.139 Ferner gibt es das Australian Antarctic Territory140, ungeachtet der Tatsache, dass die rechtliche Wirkung der Qualifi kation dieses Gebietes als nationales Territorium und ihre Konsequenzen umstritten sind.141 Die Territorien sind verfassungsrechtlich schwer zu fassen. Section 122 der Bundesverfassung142 verdeutlicht, dass sie der Bundesgesetzgebung unterliegen und dass dies auch für die Frage gilt, ob und wenn ja in welchem Umfang die Bewohner der Territorien im Bundesparlament repräsentiert sind. Die Territorien unterscheiden sich in Größe, Geographie und geschichtlich-politischem Hintergrund in derart starker Weise, dass eine einheitliche Qualifi kation nicht in Betracht kommt. Das NT und das ACT haben weitgehende Selbstverwaltungsrechte erlangt.143 Allerdings bleiben die gesetzgeberischen und exekutiven Eingriffsrechte des Bundes erhalten. Besonders deutlich wurde das im Jahr 2007, als ein detaillierter Bericht über schockierende Zustände in abgelegenen Teilen des Northern Territory144 die Bundesregierung 136 1907 von South Australia and den Bund abgetreten und von diesem 1911 akzeptiert, s. Northern Territory Surrender Act 1907/1908 (SA), http://foundingdocs.gov.au/item-sdid-58.html und Northern Territory Acceptance Act 1910 (Cth), http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/ntaa 1910325/. Das NT hatte am 31. 12. 2009 etwa 228.000 Einwohner; knapp 30 % sind Aboriginals, s. http://www.abs.gov.au/ausstats/[email protected]/mf/1362.7. 137 S. Seat of Government Act 1908, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/soga 1908204/; Seat of Government Surrender Act 1909 (NSW), http://www.austlii.edu.au/au/legis/nsw/ consol_act/sogsa1909317/; Seat of Government Acceptance Act 1909 (Cth), http://www.austlii.edu. au/au/legis/cth/consol_act/sogaa1909265/ und 1922 (Cth), http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/ consol_act/sogaa1922265/. Ende 2010 hatte das ACT knapp 362000 Einwohner, http://www.abs.gov. au/ausstats/[email protected]/mf/3101.0. 138 Section 125 der Bundesverfassung, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca 430/s125.html. 139 Unter direkter Kontrolle des Commonwealth stehen: Ashmore and Cartier Islands, Christmas Island, Cocos (Keeling) Islands), Coral Sea Islands, Jervis Bay Territory, Territory of Heard Island and McDonald Islands. Norfolk Island, mit eigener Administration, s. Norfolk Island Act 1979, http:// www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/nia1979158/. Norfolk Island besitzt eine eigene Administration, s. Norfolk Island Act 1979, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/nia197915 8/. 140 Durch den Australian Antarctic Territory Acceptance Act 1933, http://www.austlii.edu.au/au/ legis/cth/consol_act/aataa1933407/ und entsprechende britische Rechtsakte wurde das in Section 2 defi nierte Territorium mit Wirkung vom 24. 8. 1936 vom Vereinigten Königreich an Australien übertragen. Dazu z.B. White, Michael, Australian Offshore Laws, 2010, S. 253 ff. 141 Insbesondere die Frage, ob die Antarktis überhaupt Gegenstand solcher Ansprüche sein kann oder gar Teile davon zum Territorium eines Staates, hier Australien, gehören, ist offen und wird offen bleiben, solange der Antarktis-Vertrag (S. Art. IV) gilt. Vgl. z.B. Rothwell/Kaye/Akhtarkhavari/Davis, International Law – Cases and Materials with Australian Perspectives, 2011, S. 289 f. De lege lata gilt der Australian Antarctic Territory Act 1954, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/ aata1954346/. Gemäß Section 6 gilt dort grundsätzlich das Recht des Australian Capital Territory. 142 http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca430/s122.html. 143 Northern Territory (Self-Government) Act 1978, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/nta1978425/; Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988, http://www.austlii. edu.au/au/legis/cth/consol_act/acta1988482/. Das NT versucht seit geraumer Zeit Bundesstaat zu werden, jedoch bisher erfolglos. Ein entsprechendes Referendum im NT 1998 brachte eine knappe Mehrheit für den Status Quo (52:48 %). S.a. http://www.statehood.nt.gov.au/. 144 Report of the Northern Territory Board of Inquiry into the Protection of Aboriginal Children
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zu einer Intervention mit Militär- und Polizeikräften und zu teilweise drastischen Maßnahmen sozial- und polizeirechtlicher Art veranlasste. Das die Rechtsgrundlage bildende Gesetz beruhte seinerseits auf Section 122 der Bundesverfassung, wonach das Bundesparlament die Befugnis hat, Gesetze für die Territorien zu verabschieden.145
b. Vertikale Gewaltenteilung: Die Grundlagen der Kompetenzverteilung zwischenCommonwealth und Bundesstaaten (und Territorien) Die australische Verfassung operiert, ähnlich wie das deutsche Grundgesetz, mit einem sachmateriebezogenen Kompetenzkatalog in Section 51, und ergänzenden, im Text verstreuten weiteren Kompetenztiteln für den Bundesgesetzgeber. Section 107 der Bundesverfassung bestimmt, ähnlich den Artikeln 30 und 70 GG, dass dem Bund nur die zugewiesenen Befugnisse zustehen sollen und alles übrige im Zuständigkeitsbereich der Länder verbleibe.146 Auf der Grundlage dieser Vorschrift wurden die Befugnisse des Bundes anfangs eng ausgelegt. Das Beispiel der besonders bedeutsamen Trade and Commerce Power des Bundes aus Section 51(i) verdeutlicht dies.147 Diese Zuständigkeit wurde ursprünglich so ausgelegt, dass der innerbundesstaatliche Handel nur durch die Bundesstaaten geregelt werden dürfe und eben gerade nicht durch den Bund. Daraus wurde gefolgert, dass die anderen Kompetenztitel in der Verfassung, also z.B. die Corporations Power in Section 51(xx) nicht so ausgelegt werden dürfen, dass sie in diesen reservierten Bereich der Bundesstaaten eingreifen (reserved powers doctrine).148
from Sexual Abuse, Ampe Akelyernemane Meke Mekarle “Little Children are Sacred”, 2007, http:// www.inquirysaac.nt.gov.au/. 145 Die sog. Intervention, offi ziell Northern Territory National Emergency Response beruhend auf dem gleichnamigen Gesetz (Act) aus 2007, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/ntnera 2007531/. 146 Section 107 [Saving of Power of State Parliaments]: „Every power of the Parliament of a Colony which has become or becomes a State, shall, unless it is by this Constitution exclusively vested in the Parliament of the Commonwealth or withdrawn from the Parliament of the State, continue as at the establishment of the Commonwealth, or as at the admission or establishment of the State, as the case may be.“ 147 Dazu ausführlicher Bröhmer, Jürgen, Die „Commerce-Clause“ der australischen Bundesverfassung – Der Binnenmarkt in Australien, in: Meng/Ress/Stein (Hrsg.), Europäische Integration und Globailiserung, FS zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts, 2011, S. 37 ff. 148 In diesem Sinne etwa Peterswald v Bartley [1904] HCA 21; (1904) 1 CLR 497 (31 August 1904) Federated Amalgamated Government Railway & Tramway Service Association v New South Wales Railway Traffic Employes Association [1906] HCA 94; (1906) 4 CLR 488 (17 December 1906); Baxter v Commissoners of Taxation (NSW) [1907] HCA 76; (1907) 4 CLR 1087 (7 June 1907); AttorneyGeneral (NSW) ex rel Tooth & Co Ltd v Brewery Employees’ Union of NSW [1908] HCA 94; (1908) 6 CLR 469 (8 August 1908); R v Barger [1908] HCA 43; (1908) 6 CLR 41 (26 June 1908). Dazu auch umfassend Aroney, Nicholas, Constitutional Choices in the Work Choices Case, or What Exactly ist Wrong with the Reserved Powers Doctrine?, in: (2008) Melbourne University Law Journal 1, http:// www.austlii.edu.au/au/journals/MULR/2008/1.html. Dazu auch Zines, Leslie, The High Court and the Constitution, 5. Aufl age 2008, S. 6 ff.
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(1) Die Engineers-Entscheidung des High Court of Australia Diese Sicht der Dinge wurde in der grundlegenden Engineers-Entscheidung des High Court schon 1920 aufgegeben.149 In diesem Fall stellte sich die Frage, ob der auf der Grundlage der Kompetenz zur Vermittlung und Schlichtung in arbeits- bzw. tarifrechtlichen Auseinandersetzungen in Sec. 51(xxxv) vom Bund eingerichtete Commonwealth Court of Conciliation and Arbitration in einer Auseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft („Amalgamated Society of Engineers“) und zwei dem Bundesstaat Western Australia gehörender Unternehmen eine verbindliche Entscheidung treffen konnte. Das Gericht nutzte diese Konstellation, um der „reserved powers doctrine“ ein Ende zu setzen. Die Vorschriften in der Bundesverfassung seien vor allem grammatisch auszulegen. Wenn eine Kompetenzzuweisung keine Beschränkungen erhalte, dann könne man nicht aus vermeintlich existierenden Gesamtzusammenhängen solche Restriktionen konstruieren. Auch aus der die Bundesstaaten in ihrem Kompetenzbestand schützenden Sec. 107 der Verfassung, wonach die nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesenen oder den Bundesstaaten entzogenen Befugnisse den Bundesländern verbleiben, folge nichts anderes, denn auch danach müsse zuerst einmal ermittelt werden, was denn dem Bund zugewiesen worden sei.150 Die Engineers-Entscheidung bewirkte einen Paradigmenwechsel hin zu einer starken Zentralisierung des australischen föderalen Systems, weil die Betonung der grammatischen Auslegung auf Kosten systematischer Auslegungsansätze, den einzelnen Kompetenztiteln in der Verfassung einen deutlich breiteren Anwendungsspielraum verschaffte. Der High Court begründete die Abweichung u.a. auch damit, dass, im Gegensatz zur US-Verfassung, die bis dahin als Vorbild im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten gesehen wurde, Australien eine parlamentarische Regierungsform habe und die Regierung daher dem Parlament verantwortlich sei. Dem Machtmissbrauch durch den Bund und die Bundesregierung sei daher demokratisch durch Wahlen entgegen zu treten und nicht durch gerichtliche Auslegung außerhalb der grammatischen Grundlage.151 149
Amalgamated Society of Engineers v Adelaide Steamship Co Ltd („Engineers’ case“) [1920] HCA 54; (1920) 28 CLR 129 (31 August 1920), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1920/54. html. 150 Amalgamated Society of Engineers v Adelaide Steamship Co Ltd („Engineers’ case“) [1920] HCA 54; (1920) 28 CLR 129 (31 August 1920), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1920/54. html: „But it is a fundamental and fatal error to read sec. 107 as reserving any power from the Commonwealth that falls fairly within the explicit terms of an express grant in sec. 51, as that grant is reasonably construed, unless that reservation is as explicitly stated.“ 151 Amalgamated Society of Engineers v Adelaide Steamship Co Ltd („Engineers’ case“) [1920] HCA 54; (1920) 28 CLR 129 (31 August 1920), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1920/54. html: „But possible abuse of powers is no reason in British law for limiting the natural force of the language creating them. It may be taken into account by the parties when creating the powers, and they, by omission of suggested powers or by safeguards introduced by them into the compact, may delimit the powers created. But, once the parties have by the terms they employ defi ned the permitted limits, no Court has any right to narrow those limits by reason of any fear that the powers as actually circumscribed by the language naturally understood may be abused. […]. The ordinary meaning of the terms employed in one place may be restricted by terms used elsewhere: that is pure legal construction. But, once their true meaning is so ascertained, they cannot be further limited by the fear of abuse. The nongranting of powers, the expressed qualifications of powers granted, the expressed retention of powers,
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Diese auf den Grundsatz des ‚responsible government‘ auf bauende Argumentationslinie spielt in der australischen verfassungsrechtlichen Diskussion auch sonst eine wichtige Rolle. Die Debatte um die Einführung einer Bill of Rights wird von vielen mit ganz ähnlichen Argumenten geführt.152 Konfl ikte seien besser beim demokratisch legitimierten Parlament aufgehoben. Hier wie da wird das Parlament als am besten geeigneter Schutzpatron der involvierten Interessen – hier Individualrechte, dort der Föderalismus und die Rechte der Einzelstaaten – angesehen.
(2) Die „Corporations Power“ und die „Work Choices“-Entscheidung des High Court Die ‚Work-Choices‘ Entscheidung betraf tiefgreifende und sehr umstrittene Reformen des Arbeitsrechts durch die konservative Regierung unter Premierminister Howard.153 Diese Reformen betrafen z.B. die Zentralisierung auf Bundesebene des australischen Systems der Beziehungen zwischen den Koalitionspartnern („industrial relations“), die Schaffung einer „Fair Pay Commission“ zur Festlegung von Mindestlöhnen, Kündigungsschutzregeln und strengere Regeln für die Ausübung des Streikrechts, also ein breit gefächertes Arsenal von Maßnahmen. Die bisher im Bereich des Arbeitsrechts herangezogenen Kompetenzgrundlagen konnten das neue Gesetz nicht tragen, weswegen es auch auf die gesellschaftsrechtliche Kompetenz aus Art. 51(xx) der Bundesverfassung gestützt wurde. Danach hat der Bund die Kompetenz zum Erlass von Gesetzen betreffend u.a. innerhalb Australiens inkorporierte Finanz- und Handelsgesellschaften. Aber auch auf diese Kompetenz konnte das Gesetzeswerk nur in einer extrem weiten Auslegung gestützt werden. Die Mehrheit des High Court folgte dem Commonwealth und sah das Gesetz von der Corporations-Kompetenz gedeckt. Letztlich wurde der Ansatz der Engineers-Entscheidung, wonach die Kompetenztitel wörtlich auszulegen und diese nicht durch systematische Gesichtspunkte zu reduzieren seien, rigoros ausgedehnt. Eine kaum vorstellbare Analogie läge vor, wenn das BVerfG den Kompetenztitel „Recht der Wirtschaft“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG so auslegen würde, dass alles und jedes was irgendwie mit Wirtschaft zu tun hat auf diese konkurrierende Bundeskompetenz gestützt werde könnte. Diese Entscheidung kann erhebliche Auswirkungen auf das Verhältnis von Bund und Einzelstaaten haben. Der Richter Kirby hat in seiner abweichenden Entscheidung die möglichen Auswirkungen skizziert: „The States, correctly in my view, pointed to the potential of the Commonwealth’s argument, if upheld, radically to reduce the application of State laws in many fields that, for more than a century, have been the subject of the States’ principal governmental activities. Such fields include education, where universities, tertiary colleges and a lately expanding cohort of are all to be taken into account by a Court. But the extravagant use of the granted powers in the actual working of the Constitution is a matter to be guarded against by the constituencies and not by the Courts.“ 152 Vgl. z.B. Malcolm David, Does Australia need a Bill of Rights?, in: 5(3) Murdoch University Electronic Journal of Law (1998), http://www.murdoch.edu.au/elaw/issues/v5n3/malcolm53.html. 153 Workplace Relations Amendment (Work Choices) Act 2005, http://www.austlii.edu.au/au/ legis/cth/consol_act/wraca2005418/.
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private schools and colleges are already, or may easily become, incorporated. Likewise, in healthcare, where hospitals (public and private), clinics, hospices, pathology providers and medical practices are, or may readily become, incorporated. Similarly, with the privatisation and out-sourcing of activities formerly conducted by State governments, departments or statutory authorities, through corporatised bodies now providing services in town planning, security and protective activities, local transport, energy, environmental protection, aged and disability services, land and water conservation, agricultural activities, corrective services, gaming and racing, sport and recreation services, fi sheries and many Aboriginal activities. All of the foregoing fields of regulation might potentially be changed, in whole or in part, from their traditional place as subjects of State law and regulation, to federal legal regulation, through the propounded ambit of the corporations power.“154
(3) Die Bundeszuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten: Dammbau in Tasmanien Die Bundeszuständigkeit für die auswärtige Gewalt ist ein weiteres Beispiel für die Zentralisierung der australischen Föderation. Dieser Kompetenztitel gibt dem Bund die Kompetenz zur Regelung von Materien, die außerhalb Australiens liegen. So hat der High Court entschieden, dass die Zuständigkeit zur Gesetzgebung über die australischen Territorialgewässer dem Bund zusteht und nicht den Einzelstaaten, weil diese Gewässer als außerhalb Australiens liegend zu qualifizieren seinen.155 Zum Zweiten hat der Bund die Zuständigkeit, die Beziehungen zu anderen Völkerrechtssubjekten zu regeln.156 Zum dritten, und hier liegt ein interessantes Parallelproblem zur deutschen Verfassungsrechtslage, stellt sich die Frage, wem die Kompetenz zur innerstaatlichen Implementierung völkerrechtlicher Verpfl ichtungen zukommt. Im Kontext des Art. 32 GG ist weitgehend anerkannt, dass die Transformationskompetenz nicht der Abschlusskompetenz folgt, sondern der allgemeinen Kompetenzverteilung des GG.157 Die Frage ist bisher verfassungsrechtlich letztlich ungeklärt geblieben, weil Bund und Länder mit dem sog. Lindauer Abkommen eine bis heute akzeptierte praktische Lösung gefunden haben. In Australien haben sich die Dinge anders entwickelt158 und zwar in Richtung der in Deutschland sog. Berliner-Lösung, also der den Zentralstaat bevorzugenden Lösung wonach die Umsetzungs- der Abschlusskompetenz folgt. Das Argument, dass damit die eigentliche Kompetenzordnung durch zwischenstaatliche Aktivitäten aus154 New South Wales v Commonwealth [2006] HCA 52, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ high_ct/2006/52.html, para. 539. 155 New South Wales v Commonwealth (1975) 135 CLR 337 (Seas and Submerged Lands Case), http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1975/58.html. 156 R v Sharkey (1949) 79 CLR 121, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1949/46.html. Dort ging es um Gesetzgebung die die Verunglimpfung des Vereinigten Königreiches und seiner Regierung verbot. S.a. Koowarta v Bjelke-Petersen (1982) 153 CLR 168, http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1982/27.html für Beziehungen mit Internationalen Organisation. 157 Statt aller Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 32 ff. 158 Ausführlicher Saunders, Cheryl, Articles of Faith or Lucky Breaks? The Constitutional Law of International Agreements in Australia, 17 Sydney Law Review (1995), S. 150 ff.
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gehöhlt werden könnte, hat sich in Australien nicht durchgesetzt. Nachdem der High Court zunächst noch mit knapper Mehrheit verlangt hatte, dass für die Bundeskompetenz zur Umsetzung diese selbst auch einen internationalen Belang aufweisen müsse159, wurde auch diese Restrestriktion in der Tasmania-Dam-Entscheidung aufgegeben.160 Damit wurde Bundesgesetzgebung sanktioniert, die in Umsetzung des UNESCO Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt den Bau eines Staudammes in Tasmanien verhinderte. Im Gefolge der Weltfinanzkrise 2007/2008 und der Beschlüsse der G-20 mit Empfehlungen an die Staaten, nachfragewirksam tätig zu werden („economic stimulus“), kam es auch in Australien zu entsprechender gesetzgeberischer Aktivität. Eine Maßnahme war eine Direktzahlung an bestimmte Steuerpfl ichtige in Höhe von 200 bis 900 Dollar („tax rebate“). Diese Maßnahme wurde u.a. auch auf die Zuständigkeit des Bundes für auswärtige Angelegenheiten gestützt, weil damit, wenn auch unverbindliche, Beschlüsse der G-20 umgesetzt würden. Der High Court musste diese Frage letztlich nicht entscheiden, weil andere Kompetenzgrundlagen zur Verfügung standen. Drei Richter setzten sich dennoch mit dieser Materie auseinander und deuteten an, dass doch mehr nötig sei als nur eine unverbindliche Empfehlung, dass es also um die Umsetzung völkerrechtlicher Verpfl ichtungen gehen muss.161
c. Insbesondere: Finanzföderalismus Vielleicht die stärkste Zentralisierungswaffe enthält Section 96 der Bundesverfassung: „During a period of ten years after the establishment of the Commonwealth and thereafter until the Parliament otherwise provides, the Parliament may grant fi nancial assistance to any State on such terms and condition as the Parliament thinks fit.“
Diese Vorschrift ist so etwas wie der exakte Gegenentwurf zu Art. 104a GG. Dort wird bestimmt, dass Bund und Länder ihre Ausgaben gesondert tragen und die Möglichkeiten zur Finanzierung von Landesaufgaben durch den Bund sind eingeschränkter Natur. Im Unterschied dazu erlaubt Section 96 auf der Grundlage eines Bundesgesetzes dem Bund, den Einzelstaaten Finanzhilfen zukommen zu lassen und die Inanspruchnahme an die Erfüllung politischer Bedingungen zu knüpfen. Dadurch ist es dem Bund gelungen, in Bereichen, die eigentlich nicht in seine Zuständigkeit fallen, zur bestimmenden Kraft zu werden. Das gilt z.B. für das Hochschul-, Bildungs- und Gesundheitswesen, für Straßen162 und viele andere Bereiche.163 159 Koowarta v Bjelke-Petersen (1982) 153 CLR 168, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ HCA/1982/27.html, para. 24 (aus dem entscheidenden Votum des Richters Stephen). 160 Commonwealth v Tasmania („Tasmanian Dam case“) (1983) 158 CLR 1, http://www.austlii. edu.au/au/cases/cth/HCA/1983/21.html. 161 Pape v Commissioner of Taxation [2009] HCA 23, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ HCA/2009/23.html, para. 458 ff. (Heydon J). 162 Vgl. z.B. Victoria v Commonwealth (1926) 38 CLR 399, http://www.austlii.edu.au/au/cases/ cth/HCA/1926/48.html. Die Entscheidung ist sicherlich eine der kürzesten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die sich fi nden lassen: „The Court is of opinion that the Federal Aid Roads Act No. 46 of 1926 is a valid enactment. It is plainly warranted by the provisions of sec. 96 of the Constitution, and
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Nimmt163 man hinzu, dass 1942 die Erhebung der Einkommensteuer von den Einzelstaaten auf den Bund überging164, die dafür mit den an politische Vorgaben des Bundes gekoppelte Finanzzuweisungen nach Section 96 „entschädigt“ werden, wird deutlich, dass Australien sich in fi nanzverfassungsrechtlicher Sicht zu einem ganz erheblich vom Bund bestimmten Gemeinwesen entwickelt hat und insoweit stark zentralstaatliche Züge trägt.165
8. Grundrechte und Bundesverfassung a. Überblick und historische Entwicklung Die Frage, ob die australische Verfassung Grundrechte ähnlich der „Bill of Rights“ in der amerikanischen Verfassung enthalten soll, war von Anfang an Gegenstand der Debatte und diese Debatte hält bis heute an. Die letzte größere Maßnahme auf Bundesebene war die Ende 2008 vom Bundesjustizminister in Erfüllung eines Wahlversprechens der neuen Labor-Regierung ausgerufene und groß angelegte „National Human Rights Consultation“.166 Bisher ist die Frage auf Bundesebene immer verneint worden.167 Das Kernargument ist immer das Gleiche geblieben und wurde von Sir Owen Dixon, einem früheren Chief Justice, so zusammengefasst: „It may surprise you to learn that in Australia one view held was that these checks on legislative action were undemocratic, because to adopt them argued a want of confidence in the will of the people. Why, asked the Australian democrats, should doubt be thrown on the wisdom and safety of entrusting to the chosen representatives of the people sitting either in the Federal Parliament or in the State Parliaments all legislative power, substantially without fetter or restrictions?“.168 not affected by those of sec. 99 or any other provisions of the Constitution, so that exposition is unnecessary. The action is dismissed.“ 163 French, Robert (Chief Justice of Australia), Liberty and Law in Australia, Vortrag an der Washington University, St. Louis, USA am 14. 1. 2011, http://www.hcourt.gov.au/assets/publications/speeches/current-justices/frenchcj/frenchcj14jan11.pdf, S. 19. 164 South Australia v Commonwealth („First Uniform Tax case“) [1942] HCA 14; (1942) 65 CLR 373, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1942/14.html; Victoria v Commonwealth („Second Uniform Tax case“) [1957] HCA 54; (1957) 99 CLR 575, http://www.austlii.edu.au/au/cases/ cth/HCA/1957/54.html. 165 Instruktiv zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Einzelstaaten s. Intergovernmental Agreement (IGA) on Federal Financial Relations (2008), http://www.coag.gov.au/intergov_agree
ments/federal_fi nancial_relations/. 166
Dazu umfassend http://www.humanrightsconsultation.gov.au/www/nhrcc/nhrcc.nsf. Zwei grundrechtsbezogene Verfassungsänderungsversuche scheiterten: Das Postwar Reconstruction and Democratic Rights Referendum1944 (Ausbau von grundrechtlichem Schutz auf Bundesebene im Gegenzug für mehr Bundeszuständigkeiten) und das Rights and Freedom Referendum von 1988. Letzteres Referendum war dasjenige mit den meisten Neinstimmen (69.2 %) in der Geschichte. S. Bennett, Scott, The Politics of Constitutional Amendment, Parliamentary Research Service, Commonwealth Parliament, Reserach Paper No. 11, 2002–3, http://www.aph.gov.au/library/pubs/rp/2002 -03/03RP11.htm. 168 Zitiert nach Clarke, Jennifer/Keyzer, Patrick, Stellios, James, Hanks’ Australian Constitutional Law – Materials and Commentary, 8th ed. 2009, S. 1058. S.a. La Nauze, J.A., The Making of the Australian Constitution, 1972, S. 227 ff. 167
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In Abgrenzung zur amerikanischen Präsidialverfassung mit einem dem Parlament nicht verantwortlichen starken Präsidenten war und sind viele in Australien der Meinung, dass es eines Grundrechtsschutzes gegen die Exekutive nicht bedürfe, sondern das Parlament, dem die Regierung direkt verantwortlich ist, genüge, um die Bürger zu schützen. Richter Dawson stellte in der Australian Capital Televison Entscheidung fest: “16. Thus the Australian Constitution, unlike the Constitution of the United States, does little to confer upon individuals by way of positive rights those basic freedoms which exist in a free and democratic society. They exist, not because they are provided for, but in the absence of any curtailment of them. Freedom of speech, for example, which is guaranteed in the United States by the First Amendment to the Constitution, is a concept which fi nds no expression in our Constitution, notwithstanding that it is as much the foundation of a free society here as it is there. The right to freedom of speech exists here because there is nothing to prevent its exercise and because governments recognize that if they attempt to limit it, save in accepted areas such as defamation or sedition, they must do so at their peril. Not only that, but courts recognize the importance of the basic immunities and require the clearest expression of intention before construing legislation in such a way as to interfere with them […] The fact, however, remains that in this country the guarantee of fundamental freedoms does not lie in any constitutional mandate but in the capacity of a democratic society to preserve for itself its own shared values.”169
Freilich gilt das nur für die jeweilige Mehrheit der Bürger, denn die Regierung wird von der Mehrheit im Parlament getragen. Das demokratische Problem der Grundrechte und ihres Schutzes durch ein Gericht, dessen Richter nicht gewählt und dem Bürger nicht verantwortlich sind, ist bis heute das Kernproblem geblieben. Das Problem wird in der Literatur als „countermajoritarian difficulty“ beschrieben.170 Es geht von der – aus kontinentaleuropäischer Sicht – falschen Annahme aus, dass das Wesen der Demokratie im wesentlichen nur aus dem Mehrheitsprinzip besteht und daher die Beschränkung des Mehrheitswillens durch gerichtlich festgestellte Abwehrrechte oder die faktische Umgehung von Mehrheitserfordernissen durch gerichtlich festgestellte grundrechtliche Schutzpfl ichten dem Demokratieprinzip zuwiderlaufen. Zum Wesen der Demokratie gehört aber eben auch die Zurücknahme des Machtanspruches der Mehrheit und der damit einhergehende Minderheitenschutz im weitesten Sinne. Auch der vielfach zitierte Schutz der Rechte durch das Common Law stößt dort an seine Grenzen, denn parlamentarische Gesetzgebung genießt in ihrem Anwendungsbereich absoluten Vorrang. Allerdings ist ebenso darauf hinzuweisen, dass die Entwicklung Australiens zum souveränen Verfassungsstaat harmonisch verlaufen ist und weder Reaktion auf totalitäre oder autokratische Vorgängerregime war, noch Reaktion auf koloniale Unterdrückung oder Manifestation eines eigenen nationalen Freiheitsstrebens und daher die Notwendigkeit starken Individualrechtsschutzes durch Grundrechte nicht in
169 Australian Capital Television Pty Ltd & New South Wales v Commonwealth (1992) 177 CLR 106, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1992/45.html, para. 16 (Dawson J). 170 Dazu ausführlich Ghosh, Eric, Deliberative Democracy and the Countermajoritarian Difficulty: Considering Constitutional Juries, 30(2) Oxford Journal of Legal Studies (2010), S. 327 (329 ff.), http: //ojls.oxfordjournals.org/cgi/reprint/gqq011?ijkey=ih4PiPPRMj2Kws2&keytype=ref.
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gleicher Weise evident war und ist wie dies z.B. in den USA, Deutschland, Spanien oder Portugal der Fall war.171 Wichtiger noch, und hierin liegt eine Parallele zu den Vereinigten Staaten, wo die Macht des Supreme Court ebenfalls mit Blick auf das Demokratieprinzip hinterfragt wird172, erscheint, dass das Parlament auf eine vermeintlich zu weit gehende Rechtsprechung nicht reagieren kann. In Deutschland besteht in den weiten Grenzen der Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG die Möglichkeit, das Grundgesetz durch qualifizierte Mehrheit zu ändern. In Australien besteht diese Möglichkeit nur sehr theoretisch, praktisch jedoch nicht. Das Machtverhältnis zwischen Judikative und Legislative gewinnt dadurch, im Verbund mit weiten prozessualen Zugriffsrechten, erheblich an Brisanz.173 Nicht zuletzt auch deshalb kann man mit ziemlicher Sicherheit die Prognose wagen, dass ein verfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz, also die Aufnahme eines Grundrechtskataloges in die Verfassung in absehbarer Zeit ausgeschlossen erscheint. Eine derartige Stärkung der Gerichtsbarkeit – ohne Korrekturmöglichkeit – ist so umstritten, dass mit einem solchen Vorschlag die hohen Hürden für eine Verfassungsänderung in Section 128 der Bundesverfassung sicherlich nicht überwunden werden können. Allenfalls denkbar ist die bundesrechtliche Nachvollziehung einer Entwicklung die im Australian Capital Territory (ACT) und im Bundesstaat Victoria zum Erfolg geführt hat, nämlich die Schaffung einer Menschenrechtscharta auf einfachgesetzl icher Grundlage.174 Der die National Human Rights Consultation durchführende Ausschuss hat den Konsultationsprozess mit der Empfehlung abgeschlossen, dass Australian einen bundesrechtlichen Human Rights Act verabschieden solle.175 Die Bundesregierung reagierte auf diese Empfehlung mit einem Aktionsplan unter dem Namen „Australia’s Human Rights Framework“.176 Ein legislativer Rechtskatalog ist nicht Teil dieses Aktionsplans.177 171 S.a. Chief Justice Gleesen in Roach v Electoral Commissioner (2007) 233 CLR 162, http:// www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/2007/43.html, para 1: „The Australian Constitution was not the product of a legal and political culture, or of historical circumstances, that created expectations of extensive limitations upon legislative power for the purpose of protecting the rights of individuals. It was not the outcome of a revolution, or a struggle against oppression. It was designed to give effect to an agreement for a federal union, under the Crown, of the peoples of formerly self-governing British colonies.“ 172 Zu dieser Diskussion vgl. z.B. Breyer, Stephen, America’s Supreme Court – Making Democracy Work, 2010, S. 3 ff. m.w.N. 173 S.a. Bröhmer, Jürgen, The Federal Element of the German Republic – Issues and Developments, in: Bröhmer, Jürgen (Hrsg.), The German Constitution Turns 60 – Basic Law and Commonwealth Constitution, German and Australian Perspectives, 2011, 15 (16 f.). 174 Den Anfang machte das ACT mit dem Human Rights Act 2004, http://www.austlii.edu.au/au/ legis/act/consol_act/hra2004148/. In 2006 folgte Victoria mit dem Charter of Human Rights and Responsibilty Act 2006, http://www.austlii.edu.au/au/legis/vic/consol_act/cohrara2006433/. Ähnliche Bestrebungen gibt es auch in Tasmanien, http://www.justice.tas.gov.au/corporateinfo/projects/ human_rights_charter, und in New South Wales 9NSW), http://www.parliament.nsw.gov.au/prod/ parlment/publications.nsf/key/Charterof RightsUpdate. 175 Vgl. Kapitel 15 des Consultation Reports, http://www.humanrightsconsultation.gov.au/www/ nhrcc/nhrcc.nsf/Page/Report_NationalHumanRightsConsultationReport-Chapter15. 176 http://www.ag.gov.au/humanrightsframework. 177 In einer Ansprache des Attorney-Generals von Australien, Robert McClelland and den Na-
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b. Grundrechte in der Bundesverfassung Die Bundesverfassung ist nicht gänzlich frei von Rechten. Gemeinhin wird zwischen Rechtspositionen unterschieden, die in der Verfassung ausdrücklich genant sind und solchen, die vom High Court implizit aus der Verfassung entwickelt wurden. Zu den ausdrücklichen erwähnten Rechten zählt Section 116178, welche es dem Bund verbietet eine Staatsreligion festzuschreiben oder die freie Religionsausübung zu verbieten. Grundsätzlich hat der High Court den Begriff der Religion sehr weit ausgelegt179 und z.B. auch die Scientologen darunter subsumiert.180 Allerdings wurde der Schutzbereich sehr eng ausgelegt und etwa religiös begründete Wehrdienstverweigerung nicht zugelassen.181 Die Zwangsauflösung einer Zeugen Jehovas Gemeinschaft während des 2. Weltkrieges, weil deren anti-staatliche und anti-militaristische Anschauungen auf der Grundlage einer entsprechenden Verordnung als die Kriegsanstrengung behindernd angesehen wurden, wurde vom High Court nicht als Verstoß gegen Section 116 angesehen.182 Der High Court verlangt, dass ein Gesetz gerade auf die Religion als solche abzielen muss, was nicht der Fall ist, wenn der Zweck des Gesetzes auf ein anderes Schutzgut zielt.183 Allerdings sah der High Court die zugrundeliegende Verordnung dennoch als verfassungswidrig an, weil es einer Bundeskompetenz dafür ermangelte. Die geltend gemachte Zuständigkeit für Verteidigung aus Section 51(vi) der Bundesverfassung wurde mehrheitlich als nicht tragfähig angesehen. Vom Ergebnis her kann man daher festhalten, dass zwar die grundrechtliche Religionsfreiheit letztlich sehr eng konstruiert wurde, der Grundrechtsschutz aber dennoch, auch mit Blick auf die eigentumsrechtlichen Konsequenzen der Auflösung, wenn auch auf kompetenzrechtlicher Grundlage gewährt wurde.184
tional Press Club am 21. 4. 2010 zur Vorstellung des Human Rights Frameworks stellte der Justizminister fest: „Let me say at the outset, that a legislative charter of rights is not included in the Framework as the Government believes that the enhancement of human rights should be done in a way that, as far as possible, unites rather than divides our community.“ S. http://www.attorneygeneral.gov.au/www/ ministers/mcclelland.nsf/Page/Speeches_2010_21April2010-AddresstotheNationalPressClubofAustralia-LaunchofAustraliasHumanRightsFramework. 178 Section 116: „The Commonwealth shall not make any law for establishing any religion, or for imposing any religious observance, or for prohibiting the free exercise of any religion, and no religious test shall be required as a qualification for any office or public trust under the Commonwealth.“ S. http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca430/s116.html. 179 Adelaide Company of Jehovah’s Witnesses Incorporated v Commonwealth („Jehovah’s Witnesses case“) (1943) 67 CLR 116, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1943/12.html. 180 Church of the New Faith v Commissioner of Pay-Roll Tax (Vic) („Scientology case“) (1983) 154 CLR 120, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1983/40.html. 181 Krygger v Williams (1912) 15 CLR 366, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1912/65. html. 182 S. o. Adelaide Company of Jehovah’s Witnesses (Fn. 179). 183 S.a. Kruger v Commonwealth („Stolen Generations case“) (1997) 190 CLR 1, http://www. austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1997/27.html. 184 Blackshield, Tony/Williams, George, Australian Constitutional Law and Theory – Commentary and Materials, 5th ed. 2010, S. 1166.
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Section 80185 verlangt für bestimmte, qualifizierte Straftaten einen Juryprozess. Allerdings gilt dies nur für bundesrechtliche Straftaten, was den Anwendungsbereich der Vorschrift erheblich einschränkt.186 Section 117187 verbietet die Diskriminierung aufgrund des Wohnsitzes. Die Vorschrift ist primär auf die Bundesstaaten anwendbar und weniger auf den Bund selbst. Der High Court hat der Vorschrift eine besondere Wirkung dergestalt zugeschrieben, dass ein Verstoß die Norm nicht nichtig macht, sondern diese wird nur insoweit unanwendbar, als sie diskriminierende Tatbestände erfasst.188 Auch die Vorschrift in Section 51(xxxi) wird hierher gezählt, obwohl diese Vorschrift systematisch Teil des die Gesetzgebungskompetenzen des Bundesparlamentes benennenden Katalogs ist. Dort wird dem Bundesparlament die Befugnis eingeräumt, Eigentum zu fairen Bedingungen zu erwerben, also Enteignungsgesetze zu verabschieden.189 Gleichzeitig wird diese Gesetzgebungsbefugnis aber durch die einschränkende Kompetenzausübungsbefugnis „on just terms“ zugunsten der Eigentümer eingeschränkt. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist notwendigerweise auf Enteignungen auf der Grundlage eines Gesetzes des Bundes beschränkt, setzt aber nicht voraus, dass der Commonwealth selbst der Begünstigte ist.190 Teilweise wird auch eine Vorschrift wie Section 71 zu den grundrechtlichen Positionen der Verfassung gezählt.191 Diese Vorschrift benennt die Judikative und ihre Organe und entspricht etwa den Artikeln 92 und 95 GG. Die Existenz unabhängiger Gerichte und der Zugang zu ihnen ist sicherlich von erheblicher grundrechtlicher Relevanz, man muss aber dennoch solche Organisationsvorschriften nicht zwingend als grundrechtliche Vorschriften qualifizieren.
185
Section 80: „The trial on indictment of any offence against any law of the Commonwealth shall be by jury, and every such trial shall be held in the State where the offence was committed, and if the offence was not committed within any State the trial shall be held at such place or places as the Parliament prescribes.“ S. http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca430/s80.html. 186 Joseph, Sarah/Castan, Melissa, Federal Constitutional Law – A Contemporary View, 3. Aufl. 2010. S. 406. 187 Section 117: „A subject of the Queen, resident in any State, shall not be subject in any other State to any disability or discrimination which would not be equally applicable to him if he were a subject of the Queen resident in such other State.“ S. http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca 430/s117.html. 188 Street v Queensland Bar Association [1989] HCA 53; (1989) 168 CLR 461, http://www.austlii. edu.au/au/cases/cth/HCA/1989/53.html. Nicht nur vom Sachverhalt her – es ging um die Nichtzulassung eines Anwalts in Queensland wegen Verstoßes gegen eine Residenzpfl icht – besteht eine Parallele zum Unionsrecht, welches nur grenzüberschreitende Sachverhalte betrifft und entsprechend Inländerdiskriminierungen nicht erfasst. 189 Section 51(xxxi): „The Parliament shall, subject to this Constitution, have power to make laws for the peace, order, and good government of the Commonwealth with respect to: [...] (xxxi) the acquisition of property on just terms from any State or person for any purpose in respect of which the Parliament has power to make laws; [...]“, http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/ coaca430/s51.html. 190 Joseph, Sarah/Castan, Melissa, Federal Constitutional Law – A Contemporary View, 3. Aufl. 2010. S. 387. 191 Jackson, D.F., Internationalisation of Rights and the Constitution, in: French/Lindell/Saunders (Hrsg.), Reflections on the Australian Constitution, 2003, S. 105 (109).
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Schließlich kann man auch, in Anlehnung an die Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes, an wirtschaftsrechtliche Verfassungsnormen denken.192 So gebietet Section 92, das der Handel zwischen den Einzelstaaten „absolut frei“ sein muss.193 Nebenbei sei vermerkt, dass auch in Australien der Rechtsbegriff „absolut“ durchaus relativ sein kann. Mit ganz ähnlicher Diktion wie sie sich etwa beim EuGH nachweisen ließe, hat der High Court ausgeführt, dass Section 92 nichtdiskriminierende und sachlich begründete und verhältnismäßige („reasonable“) Restriktionen durchaus zulässt.194
c. Die verfassungsgerichtlich entwickelte implizierte grundrechtliche Garantie der politischen Kommunikation Es fällt auf, dass die demokratische Verfassung Australiens die Meinungs- und Pressefreiheit mit keinem Wort erwähnt. Erst in den neunziger Jahren entwickelte das Gericht ein implizites Grundrecht auf politische Kommunikation.195 Anlass dazu gab die Strafverfolgung des Herausgebers einer großen australischen Tageszeitung („The Australian“) wegen Verstoßes gegen ein Gesetz welches die Verunglimpfung eines Mitglieds einer bestimmten arbeitsrechtlichen Kommission mit tarifrechtlichen Befugnissen verbot.196 In der Zeitung war ein Artikel eines Journalisten veröffentlich worden, der folgende Passage enthielt: “The right to work has been taken away from ordinary Australian workers. Their work is regulated by a mass of official controls, imposed by a vast bureaucracy in the ministry of labour and enforced by a corrupt and compliant ‚judiciary‘ in the official Soviet-style Arbitration Commission.”
Alle Richter hielten die Strafvorschrift für verfassungswidrig. Die Mehrheit begründete dies mit einer in der Verfassung implizit enthaltenen und insbesondere aus dem Grundsatz, dass beide Kammern des Parlaments direkt vom Volk gewählt werden (Section 7 und 24 der Bundesverfassung) abzuleitenden Garantie der freien politischen Meinungsäußerung. Die Richter Deane and Toohey führten aus, dass die 192
Bailey, Peter, The Human Rights Enterprise in Australia and Internationally, 2009, S. 274. Section 92: „On the imposition of uniform duties of customs, trade, commerce, and intercourse among the States, whether by means of internal carriage or ocean navigation, shall be absolutely free.“ S. http://www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/coaca430/s92.html. 194 Cunliffe v Commonwealth („Migration Agents case“) [1994] HCA 44; (1994) 182 CLR 272, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1994/44.html, para 25: „The freedom of intercourse which the section demands is freedom within an ordered community and a law which incidentally and non-discriminately affects inter-State intercourse in the course of regulating some general activity, such as the carrying on of a profession, business or commercial activity, will not contravene s.92 if its incidental effect on inter-State intercourse does not go beyond what is necessary or appropriate and adapted for the preservation of an ordered society or the protection or vindication of the legitimate claims of individuals in such a society.“ Die Parallele zu den „zwindenden Erfordernissen“ im Gemeinschaftsrecht ist deutlich. 195 Nationwide News Pty Ltd v Wills (1992) 177 CLR 1, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ HCA/1992/46.html. 196 Section 299(1)(d)(ii) Industrial Relations Act 1988 (Cth): „A person shall not [...] by writing or speech [...] bring a member of the Commission into disrepute“. 193
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Bürger ihre Kontrollrechte nicht ausüben könnten, wenn keine Kommunikation möglich sei.197 Allerdings hielten zwei andere Richter das Abstellen auf eine solche implizite Garantie nicht für notwendig und leiteten die Verfassungswidrigkeit kompetenzrechtlich her. Am gleichen Tage erging eine zweite Entscheidung, die das pauschale Verbot politischer Radio und Fernsehwerbung während der Wahlen zum Bundesparlament auf hob.198 Auch in diesem Fall stellte das Gericht auf diese implizite Garantie ab. Wie schwer man sich tat, wird aus den Ausführungen von Chief Justice Mason deutlich, der sich dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ansatz annähert, wonach die Konvention ein „living instrument“ sei, welches im Lichte heutiger Gegebenheiten auszulegen sei199 : “33. In the light of this well recognized background, it is difficult, if not impossible, to establish a foundation for the implication of general guarantees of fundamental rights and freedoms. To make such an implication would run counter to the prevailing sentiment of the framers that there was no need to incorporate a comprehensive Bill of Rights in order to protect the rights and freedoms of citizens. That sentiment was one of the unexpressed assumptions on which the Constitution was drafted. 34. However, the existence of that sentiment when the Constitution was adopted and the influence which it had on the shaping of the Constitution are no answer to the case which the plaintiffs now present. Their case is that a guarantee of freedom of expression in relation to public and political affairs must necessarily be implied from the provision which the Constitution makes for a system of representative government. The plaintiffs say that, because such a freedom is an essential concomitant of representative government, it is necessarily implied in the prescription of that system.”
Allerdings handelt es sich nicht um ein Individualrecht auf politische Kommunikation im engeren Sinne, sondern um eine Kompetenzausübungsschranke für das Parlament, das kompetenzrechtlich nicht befugt ist, Gesetze zu erlassen, die diese implizite Garantie beeinträchtigen.200 Aus deutscher Sicht ist der Unterschied zwischen einer solchen Kompetenzausübungsschranke und einem subjektiven Recht letztlich nur prozessrechtlich relevant, weil im ersten Fall dem Einzelnen grundsätzlich kein Klagerecht zustehen würde und auch die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich verschlossen wäre. Jedoch ist auch aus deutscher Sicht selbst dieser Unterschied im grundrechtlichen Bereich wegen der Elfes-Rechtsprechung des BVerfG nicht relevant, weil auch ein kompetenzrechtliches Ausübungsverbot auf der Grundlage des Auffanggrundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG individualschutzrechtlich überprüf bar wäre. Im australischen Kontext lässt sich mangels prozessualrechtlicher Ausprägung des Konzepts der subjektiven Rechte der Unterschied ebenfalls nur schwer greifen. In Analogie zur objektiven Wirkung von Grundrechten hat der High Court auch entschieden, dass die implizite Garantie der politischen Kommunikation auch die 197
AaO (Fn. 195), para. 18 (Deane and Toohey JJ). Australian Capital Television Pty Ltd & New South Wales v Commonwealth (1992) 177 CLR 106, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1992/45.html. 199 Seit EGMR, 25. 4. 1978, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Serie A, Nr. 26, Rn. 30. 200 French, Robert (Chief Justice of Australia), Liberty and Law in Australia, Vortrag an der Washington University, St. Louis, USA am 14. 1. 2011, http://www.hcourt.gov.au/assets/publications/speeches/current-justices/frenchcj/frenchcj14jan11.pdf, S. 38. 198
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Anwendung des Common Law beeinflusst. Im Common Law ist der „DefamationTort“ das Vehikel zum Schutz der Persönlichkeitsrechte und die Anwendung entsprechender Verteidigungsrechte („qualified privilege“) muss im Einklang mit der impliziten Garantie stehen. Mithin ist der Persönlichkeitsrechtsschutz durch diese implizite Garantie aus der Bundesverfassung eingeschränkt.201 Als politische Kommunikation gilt alles was für politische Maßnahmen und Entscheidungen relevant sein kann 202 bzw. all das, was für die öffentliche Meinungsbildung relevant und worüber sich ein intelligenter Bürger Gedanken machen sollte.203
201
Lange v Australian Broadcasting Corporation („Political Free Speech case“) (1997) 189 CLR 520, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1997/25.html. S.a. Theophanous v Herald & Weekly Times Ltd (1994) 182 CLR 104, http://www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1994/46. html; Stephens v West Australian Newspapers Ltd (1994) 182 CLR 211, http://www.austlii.edu.au/au/ cases/cth/HCA/1994/45.html; McGinty v Western Australia (1996) 186 CLR 140, http://www. austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/1996/48.html. 202 S. Australian Capital Television Pty Ltd & New South Wales (Fn. 198), para. 38 (Mason CJ). 203 S. Theophanous v Herald & Weekly Times Ltd, aaO (Fn. 201), para. 14 (Mason CJ, Toohey, Gaudron JJ) unter Bezugnahme auf Barendt, EM, Freedom of Speech, 1985, S. 152. Dazu gehöre (aaO): „[...] discussion of the conduct, policies or fitness for office of government, political parties, public bodies, public officers and those seeking public office. The concept also includes discussion of the political views and public conduct of persons who are engaged in activities that have become the subject of political debate, e.g., trade union leaders, Aboriginal political leaders, political and economic commentators.“
Sachregister Bearbeitet von Roland Schanbacher, Richter am Verwaltungsgericht Die Zahlen verweisen auf die Seiten des Jahrbuchs
Abhandlungen 1 ff. Abschiedsvorlesungen 281 ff. administrative procedure (Croatia) 433 ff. – new organisation and technical measures 454 ff. – role of the citizens 451 ff. – special decisions 453 ff. Ägypten – Konstitutionalismus 649 f. – Oberster Rat der Streitkräfte (Macht) 648 ff. – Staatspräsident – – Rücktritt 646 ff. – Streitkräfte (Oberster Rat) 644 f. – verfassungsrechtlicher Weg 543 ff. – Verfassungsreform 649 ff. Afrika 605 ff. Al Qaida 251, 260 f. Amerika – Verfassungsrecht (Entwicklungen) 545 ff. Antrittsvorlesungen 225 ff. „arabischer Frühling“ (2011) 605 ff., 643 – Ausblick 618 f. – Bestandsaufnahme 607 ff. – gemeinislamisches Verfassungsrecht 616 – Gewaltenteilung (vertikale) 614 f. – Innovationen 612 f. – konstitutionelle Verfahren 611 f. – Parteien-Artikel 615 – Religionsverfassungsrecht 613 – Stabilitätsfaktoren 611 – Systemübergang (Maßstäbe) 611 f. – Wahlgesetze 615 – Wahrheitskommissionen 614 Argentinien – als Verfassungsstaat (Gesamtbewertung) 581 f. – kulturelles Verfassungspotenzial 576 ff. – Landesgeschichte 576 ff. – Supreme Court 582 f. – Verfassung – – kulturwissenschaftliche Sicht 578 ff. – – von Buenos Aires (1996) 580 f. – Verfassungsstaat 571 ff. – – Vorbilder in Europa 572 ff. – – Italien 572 ff.
– – Portugal 574 ff. Aristoteles 42 f., 591, 596 Arzneimittelforschung – fremdnützige 268 ff. – verfassungsrechtliche Perspektive 268 f. Asien 621 ff. Aufgabe – staatliche ~ – – Bildung 47 f. Auf klärung – Freiheitsbegriff 191 – Menschenrechtsdebatte 197 f. – Menschenwürde 194 – politische Texte 183 ff. – Schriftsteller – – Freiheitsverständnis 183 ff. – – Menschenrechtsverständnis 201 f. – – Staatsverständnis 183 ff. – – Verfassungsverständnis 183 ff. – Verfassungsbegriff 200 – Vervollkommnung 191 f. Ausdrucksformen – der Musik 217 f. Australien 689 ff. – Bundesstaaten 715 f. – Commonwealth u. Bundesstaaten (Kompetenzverteilung) 714 f. – Föderalismus 715 ff. – Gewaltenteilung – – vertikale ~ 717 ff. – Governor-General 705 f. – High Court – – Mabo-Entscheidungen 693 f. – historischer Hintergrund 690 f. – Queen 705 f. – Souveränität 696 ff. – States and territories 715 f. – Terra Nullius 692 f. – Ureinwohner 690 f. – Verfassung u. Federation 694 ff. – Verfassungsrecht – – Entwicklungslinien 699 ff. –„Whitlam Affäre“ 706 f. australisches Bundesverfassungsrecht 689 ff.
732 – Bundeszuständigkeit – – auswärtige Angelegenheiten 720 f. – – Finanzföderalismus 721 f. – Exekutive 705 f. – Gewaltenteilung 710 ff. – Grundrechte 722 ff., 725 ff. – Judikative u. High-Court 709 ff. – Kable-Entscheidung 710 ff. – Kirk-Entscheidung 712 f. – Kommunistische Partei (Verbot) 708 f. – Legislative 702 ff. – politische Kommunikation 727 – prerogative powers 702 f. – Verfassungsänderung 701 f. auswärtige Angelegenheiten – Bundeszuständigkeit (Australien) 720 f. Bach, J. S. 210, 212 f. Bausback, W. 39 ff. Beamten – Wahl (China) 343 Beethoven 218 f. Bhutan 661 ff. – Außenpolitik 665 f. – Demokratie (Entwicklung) 663 f. – Erbmonarchie 662 f. – Geschichte 662 ff. – Gross National Happiness (GNH) 668 f. – konstitutionelle Monarchie (Verfassung) 661 ff. – Kultur u. Religion 667 f. – nepalesische Minderheit 665 f. – Öffnung des Landes 669 – Staatsbürgerschaft 668 f. – Umweltschutz 668 – Verfassung 666 f. – – Textanhang 670 ff. Bildung – Begriff 39 ff. – Expansion 226 ff. – im Gohrischen Verfassungsentwurf (Sachsen) 145 – im Verfassungsstaat 225 ff. – – Grundfaktor 225 f. – – Herausforderungen 226 ff., 232 ff. – – Funktion 225 ff. – – Standort 225 ff. – in der politischen Philosophie 41 ff. – Mobilisierung der Gesellschaft 226 ff. – staatliche Aufgabe 47 f. – u. demokratische Grundwerte 45 f. – u. religiöse Pluralität 239 ff. – u. Teilhabe 45 f. – Verfassungsvoraussetzung 39 ff., 43 ff. – vorschulische ~ 236 f.
Sachregister – Zukunft im freiheitlichen Verfassungsstaat 248 f. Bildungssektor – Erfolge 226 ff. Bildungsstaat – u. Religion 247 f. Bildungssystem – Charta 08 (China) 345 – Schule (Zentrum) 228 ff. Bildungsverfassung – u. religiöse Pluralität 239 ff. Bildungswesen – Veränderungen (Wirkung) 238 Bofi ll, H. L. 533 ff. Brahms, J. 210 Brasilien – Verfassung „aus Kultur“ u. „als Kultur“ 585 ff. – Verfassungsgeschichte 599 f. – Verfassung von 1988 600 ff. Bröhmer, J. 689 ff. Brown, J. 209 Bürgerkultur 292 – im verfassungsrechtlich geordneten Raum 296 ff. Bürgertugend 281 ff. – Deliberation 291 f. – Denken – – ganzheitliches ~ 293 f. – – kosmopolitisches ~ 293 f. – – repräsentatives ~ 293 f. – Dezision 291 f. – im Völkerrecht 294 f. – traditionell 290 ff. Bundesstaat – Brasilien 604 – Australien 715 f. Bundesverfassungsrecht – australisches ~ (Entwicklungen) 689 ff. Burckhardt, J. 594 Charta – der Grundrechte der EU 69 ff. Charta 08 (China) 329 ff. – Ausblick 349 f. – Beamten(wahl) 343 – Bildungssystem 345 – Demokratie 339 f. – Eigentumsschutz 345 – Finanz- u. Steuerreform 346 – Freiheit 338 – Gewaltenteilung 342 – Gleichberechtigung 339 – Machtbalance 342 – Menschenrechte 339 – öffentliches Eigentum 343
Sachregister – Organisationsfreiheit 344 – Rehabilitation der Ungerechtigkeiten 347 – Religionsfreiheit 345 – Sicherung der Menschenrechte 343 – soziale Sicherung 346 – Text in Kontexten 332 – – Methodenwahl 332 – – Vorverständnis 332 f. – Text (China) 336 ff. – Umweltschutz 346 – Unabhängigkeit der Judikative 342 – verfassungsgemäßes Regieren 340 – Verfassungsrevision 341 – Versammlungsfreiheit 344 – Vorwort 336 ff. – Wahrheitskommission 347 – Wissenschaft 340 China – Charta 08 329 ff. – Kulturgeschichte 333 ff. Chryssogonos, K. 401 ff. Common law – u. Verfassung (Australien) 699 ff. Commonwealth – u. Bundesstaaten (Australien) 717 ff. constitution – of details 15 ff. – of principles 15 ff. – principle of hope 12 ff. constitutionality – discretion 8 f. constitutional principle – developing 6 ff. – political guarantee 1 ff. constitutional state 28 f. – classification of principles 5 f. – principles 3 ff. Constitutions of the Kingdom Bhutan (2008) 670 ff. Croatia – democracy 446 – draft law 431 ff., 473 ff. – drafting process 436 f. – general administrative procedures 433 ff. – human rights 446 – legislation 438 f., 442 – new LGAP 444 ff. – rule of law 446 f. Dalai Lama 331 Debussy, C. 210 democracy – Croatia 446 Demokratie – Charta 08 (China) 339 f. – in Bhutan 666 f.
733
– innerparteiliche ~ (Griechenland) 420 ff. – u. Parteienvielfalt (Deutschland – Europa) 317 ff. Denken – wissenschaftliches ~ (Hans Schneider) 389 ff. Deutschland – Fünfparteiensystem 326 – Parteienlandschaft (Diversifi zierung) 318 ff. – Pressefreiheit 634 ff. discretion – constitutionality 8 f. draft law – on general administrative procedures (Croatia) 433 ff. – – table of contents 473 ff. Dürig, G. 332, 358 ff. Eckpunkte – der Verfassung von Venezuela (1811) 558 ff. Eigentum – Öffentliches ~ (China) 343 Eigentumsschutz – Charta 08 (China) 345 Einbindung – internationale u. supranationale ~ (Griechenland) 409 f. Entwicklung – argumentative ~ – – Kontinuität u. Kohärenz 49 ff. Erbmonarchie – in Bhutan 662 f. España – Constitucion 1978 526 f. – la noción de dignidad des Hombre 503 ff. EuGH 412 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 255 f., 408 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 100, 255, 408 f. europäischer Jurist 307 ff. europäischer Menschenrechtsschutz – extraterritoriale Tötungshandlungen 254 f. Europäische Union (EU) – Grundrechte (Charta) 69 ff. – Wertekanon 313 f. europäische Wiederherstellung 113 ff. Europa – Parteienvielfalt 317 ff., 320 f. Exekutive – in Australien 705 f. – in Griechenland 403 ff. – Verfassung von Venezuela (1811) 566 ff. Federation – Australien 694 ff.
734 Ferreyra, R. G. 21 ff. Feudalismen 281 ff. – neue ~ 298 ff. – – illegitime internationale Regime 299 f. Finanzföderalismus – in Australien 721 f. Finanzierung – von Katalonien (Statut) 542 f. Finanzkrise – in Griechenland 401 ff. – – Fazit u. Ausblick 429 – – Verantwortung des politischen Systems 413 ff. Finanz- u. Steuerreform – Charta 08 (China) 345 föderales Prinzip – Verfassung von Venezuela (1811) 558 ff. Föderalismus – in Australien 715 ff. Freiheit – Charta 08 (China) 328 – Sorge um ~ 355 ff. Freiheitsbegriff – in der Auf klärung 191 Freiheitsrechte – u. soziale u. kulturelle Rechte (Verhältnis) 95 f. Freiheitsverständnis – der Auf klärung 183 ff. Freistaat Sachsen – historische Vorläufer 146 ff. Fried, Alfred Hermann – europäische Wiederherstellung 113 ff. – Fortschritte u. Ehrungen 118 ff. – Friedensnobelpreisträger 105 ff. – Haager Friedenskonferenzen (1899 u. 1907) 109 ff. – Krieg (1914–1918) 120 ff. – Pazifi st, Publizist u. Wegbereiter 105 ff. – Versailles u. Völkerbund 123 ff. – Werdegang 106 ff. Friedensnobelpreisträger – Alfred Hermann Fried 105 ff. Fünfparteiensystem – in Deutschland 326 fundamental rights 34 ff. – legal world 21 ff. Fundamente – des Rechts 387 ff. Garantie – politische ~ 1 ff. Gedankenfreiheit 69 ff. general administrative procedures (Croatia) – guidelines for the legislation 436, 461 f.
Sachregister – methodological approach 434 – principles of the reform 435 f., 459 f. – status quo of the legislation 438 f. Gesetzgebungslehre – Hans Schneider 395 ff. Gewaltenteilung – Charta 08 (China) 342 – in Australien 710 ff., 715 – vertikale ~ (neue Formen) 614 f. Gewissensfreiheit 69 ff. Glaeser Schmitt, W. – Bayer. Senat 365 ff. – Marburger Jahre 361 f. – Mitglied des Bayer. Verfassungsgerichtshofes 364 f. – Planungsrecht 364 – Recht der Neuen Medien 364 Gleichberechtigung – Charta 08 (China) 339 Gleichheit – der Stadt- u. Landbewohner (Charta 08 – China) 344 Gleichheitsgebot – Verfassung von Venezuela (1881) 563 ff. Gohrischer Verfassungsentwurf – Dokumente 156 ff. Gottesgnadentum – monarchisches ~ 200 Griechenland 401 ff. – als „limited access“-Ordnung 428 f. – fi nanzielle Tragödie 401 ff. – Finanzkrise 403 ff. – – Fazit u. Ausblick 429 – innerparteiliche Demokratie (Defi zite) 420 ff. – internationale u. supranationale Einbindung (Grenzen) 409 f. – Legislative – Exekutive (Verhältnis) 403 ff. – mandatory law 411 f. – Ministerverantwortung 426 ff. – politische Parteien – – Klientel- u. Patronagenetzwerke 418 ff. – politisches Personal 416 ff. – politisches System – – Finanzkrise (Verantwortung) 413 ff. – – Pathologien 415 f. – souveräne Staatlichkeit – – Gefährdung 410 ff. – soziale Grundrechte 406 ff. – Wahlsystem 423 f. – Zweiparteiensystem 423 ff. Grimm, D. 351 ff. Großbritannien – Parteien 322 – Wahlsystem 322 Grotius, H. 251 ff.
Sachregister Grundlagen – naturrechtliche ~ – – der Verfassung von Venezuela (1811) 554 ff. Grundrechte – Australien 722 ff. – der Europäischen Union (Charta) 69 ff. – Entfaltung (Schule) 242 f. – Katalonien (Statut) 539 – soziale ~ (Griechenland) 406 ff. – Verfassung von Brasilien (1988) 601 Grundrechtsentscheidungen – des korean. Verfassungsgerichts 629 ff. Grundrelation – verfassungsrechtliche ~ – – Schule, Bildung, Verfassungsstaat 231 ff. Grundsatzstudien – Hans Schneider 392 ff. – – Unrechtsbewältigung 392 ff. – – Volksabstimmungen 394 f. – – Widerstandsrecht 394 f. Grundstrukturen – feudalistische ~ (Griechenland) 401 ff., 415 f. Grundwerte – demokratische ~ – – Bildung 45 f. guarantee – political ~ 1 ff. guarantyism – political ~ 17 f. Haager Friedenskonferenzen 109 ff. Häberle, P. 205 ff., 307, 329 ff., 359, 571 ff., 585 ff., 605 ff. Haushaltsgrundsätzegesetz 144 f. Haydn, J. 217, 220, 222 Heller, H. 593 f. Henker – u. Rechtsstaat – – gezieltes Töten zur Terrorbekämpfung 251 f. Hesse, K. 338, 362, 593 High-Court – Australien 693 f. – – „Corporations Power“-Entscheidung 719 ff. – – Engineers-Entscheidung 718 f. – – Grundrechte 725 ff. – – „Jurisdictional Error“ 713 f. – – „Work Choises“-Entscheidung 719 f. Hintergrund – historischer ~ (Australien) 690 f. Hitler, A. 323 Hobbes, T. 224 Hoegner, W. 356 ff. Hoffnung (Prinzip) 12 ff. Homogenität – Bedürfnis 52 ff.
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– Begriff (H. Preuß) 57 ff. – Demokratiedefi zit 65 – im Mehrebenensystem 49 ff. – u. Kelsens Rechtslehre (Verhältnis) 61 f. Homo politicus – Hans Schneider 387 ff. human rights – Croatia 446 – transcivilizational approach 77 ff. Identität – europäische ~ (Suche) 310 f. – nationale konstitutionelle ~ (Suche) 310 ff. – Wechselwirkung u. Dialektik 313 Individualrechte – in der Verfassung von Venezuela (1811) 561 ff. Institutionen – Katalonien (Statut) 541 f. Internet 99 f. Interpretation – teleologische ~ – – u. Programmusik 222 Italien 572 ff. – Verfassung als Kultur 586 ff. Jellinek, G. 330, 592 Jonas, J. 591 Judikative – Charta 08 (China) 342 – u. High-Court (Australien) 709 ff. „Jurisdictional Error“ – Australien 713 f. Jurist – europäischer 307 ff. s. a. europäischer Jurist Kant, I. 94, 187 ff., 224 Karpen, M. 431 ff. Katalonien – Sprache 538 f. – Statut 533 ff. – – Finanzierung 542 f. – – Grundrechte 539 – – Institutionen 541 – – Kompetenzverteilung 539 f. – – Nation 536 – – Präambel 536 f. – – Rechte 536 – – Selbstregulierung 536 – – Symbole 536 f. – – Verfassungskontrolle 534 f. – Verfassungskontrolle 534 ff. Kelsen, H. 27, 61 f. Kirchenrecht – u. Musik 224 Kirchhof, P. 387 ff.
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Sachregister
Klonen 272 ff. – Begriff 272 – Grundrecht auf Leben 275 f. – Herstellungsakt 273 ff. – Identitätskriterium 279 f. – körperliche Unversehrtheit 275 f. – Kontinuitätskriterium 279 – Menschenwürde 276 – Verbot 274 Koch, R. 371 Königreich Bhutan 661 ff. körperliche Unversehrtheit – Eingriff (Arzneimittelversuche) 268 f. – Grundrecht 275 f. Kommunikation – politische ~ (Australien) 727 f. Kommunistische Partei – Australien (Verbot) 708 f. Kompetenzverteilung – Communwealth u. Bundesstaaten (Australien) 717 f. Konfuzius 334 Konstitutionalismus – arabischer bzw. islamischer ~ 610 ff. – – Kontinuitätselemente (Bewahrung) 611 f. – – Theorierahmen 610 f. – in Ägypten 649 f., 654 f. Konvention – u. Verfassung (Australien) 700 f. Korea – Pressefreiheit 633 f. – Verfassungsgericht 621 ff. Koreanisches Verfassungsgericht – Entstehung u. Entwicklung 621 ff. – Grundrechtsentscheidungen (1988– 2006) 629 f. – Pressefreiheit (Entscheidungen) 633 f. – Statistik 625 f. – Verfassungsbeschwerde 626 ff. – Wissenschaftsfreiheit 636 ff. – Zuständigkeiten 625 f. Koutnatzis, S. J. 401 ff. Krieg (1914–1918) 120 ff. Kroatien – Verwaltungsrecht 431 ff. kulturelle Rechte – u. Freiheitsrechte (Verhältnis) 95 f. Kulturgeschichte – China 333 ff. – Portugal 574 f. Kultur – Stichworte zur ~ 594 f. – Unterscheidungen 595 – u. Religion (Bhutan) 667 f. – Verfassung 595 f.
Kulturwissenschaft – Musik u. Recht 205 ff. – – Theorierahmen 206 f. – – Verfassungsstaat 207 ff. – Verfassungslehre 329 ff., 605 ff. Kunzmann, B. 131 ff. Lang, H. 265 ff. Laotse 334 Lassalle, F. v. 592 law – as “the reason of force” 31 f. – body of rules 25 ff. Leben – Grundrecht auf ~ 275 f. – Schutz (verfassungsrechtlich) 277 f. Lectiones Aureae 317 ff. legal positivism 31 f. legal world – approach to ~ 21 ff. – constitution 21 ff. – fundamental rights 21 ff. Legislative – in Australien 702 ff. – in Griechenland 403 ff. – Verfassung von Venezuela (1811) 566 ff. Legitimationsmodell – kontraktualistisches ~ 199 f. Legitimität – im Völkerrecht 85 f. Leibeigenschaft 188 Leibholz, G. 330 Leiblichkeit – Inanspruchnahme für andere 265 ff. – rechtliche Beurteilung 266 ff. LGAP (Croatia) 444 ff. – basic principle 445 ff. – key elements for structure and content 449 ff. – methodological aspects 448 f., 464 – structure 455 ff. Lissabon-Vertrag 312 Literaten – der Auf klärung 183 ff. – – politische Texte 183 ff. Locke, J. 224 Luhmann, N. 365 Macht – der Musik 209 f. Machtbalance – Charta 08 (China) 342 – im Völkerrecht 85 f. – wirtschaftliche ~ (Missbräuche) 300 ff. Maier, H. 362 mandatory law 411 f. Mao Tse Tung 334
Sachregister Mehrebenensystem – Aktualität 49 f. – Begriff 49 f. – Homogenität 49 ff. – Souveränität 50 ff. Meinungsmessung 323 f. Menschenrechte 281 ff. – als Kommunikationsform 86 f. – Charta 08 (China) 339 – im 21. Jahrhundert 77 f. – in der chinesischen Rechtskultur 91 ff. – Rechtsbegriff (Problem) 93 f. – relevante Akteure – transnationale Unternehmen 97 f. – Sicherung (China) 343 – unverzichtbar, wandelbar 287 ff. – völkerrechtliches Denken 83 f. Menschenrechtsschutz 288 ff. – des AGMR 100 – des EGMR 100 f. – diskursiver Modus 102 f. – edukativer Modus 101 f. – imperativer Modus 100 f. – europäischer ~ – – extraterritoriale Tötungshandlungen 254 f. – universeller ~ 257 f. – interkultureller Diskurs 77 f. – internationaler ~ 77 ff. – kommunikative Strategien 100 f. Menschenrechtsverständnis – der Auf klärung 183 ff. Menschenwürde 531 – Begriff 93 f., 194 Merz, F. 371 Ministerverantwortung – Griechenland 426 ff. Miranda, Francisco de 549 ff. Mitwirkungspfl ichten – als Freiheitsgrenze (Schule) 246 f. Monarchie – konstitutionelle (Bhutan) 661 ff., 667 Montesquieu, C. de 224, 285, 591 Mozart 209, 213 f., 217 ff. Mubarak 643, 652 Multiethnien – Brasilien 604 Musik – Ausdrucksformen 217 ff. – grenzüberschreitende Kraft 209 f. – im Kirchenrecht 224 – im Wandel 212 – Interpretation 213 – Interpretation von Rechtstexten 222 – Macht der ~ 209 – Nationalhymnen 217 f. – Referenzgebiete 217 ff.
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– u. Recht 205 ff. – – Theorierahmen 206 f. – u. Sprache 222 – Urheberrechtsfragen 223 f. – Wahrnehmbarkeit 211 – Zeitbezug 210 f. „Musikerjuristen“ 223 Musikgeschichte – u. Entwicklung des Verfassungsstaates 214 ff. Mußgnug, R. 377 ff. Naem, N. 643 ff. Nation – katalanische ~ 536 f. Nationalhymnen – als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates 217 f. – musikalische Analyse der Melodien 218 f. – postkonstitutionelle ~ 220 f. – präkonstitutionelle ~ 220 f. – Verfassungshymnen 219 f. – verfassungstheoretischer Ertrag 220 Netzwerke – Klientel- u. Patronage~ (Griechenland) 418 ff. Noción de Dignidad des Hombre – constitucionalizacion 527 f. – el liberalismo del XIX 514 ff. – significación juridica inicial 505 ff. – sobre la evolución juridica 503 ff. Oberster Rat – Streitkräfte v. Ägypten 644 ff. – – Macht 648 ff. Ontogenese – der sächsischen Verfassung 131 ff. Onuma, Y. 78 f., 86 ff. Oppermann, T. 317 ff. Ordnungsraum – Schule (Besonderheiten) 241 f. Organisationsfreiheit – Charta 08 (China) 344 Organspende 265 ff. Parteien – in Griechenland – – Klientel- u. Patronagenetzwerke 418 ff. Parteienlandschaft – in Deutschland (Diversifi zierung) 318 ff. Parteienvielfalt – angelsächsische Ausnahme 321 ff. – in Deutschland 317 ff. – in Europa 317 ff., 320 f. – Meinungsmessung 323 f. – politische Willensbildung 323 f. Pathologien – politisches System (Griechenland) 415 f.
738 Personal – politisches ~ (Griechenland) 416 f. Philosophie – politische ~ 41 ff. Platon 41 f. Pluralität – religiöse ~ 239 ff. political guarantee – constitutional principle 1 ff. politische Philosophie – Bildung 41 ff. politische Texte – der Auf klärungszeit 183 ff. ponderation 11 f. Portugal 574 ff. – Kulturgeschichte 574 f. – Verfassung aus Kultur 588 ff. – Verfassung von 1976 589 f. – Verfassungswirklichkeit 574 f. positivism – legal ~ 31 f. Prerogative Powers (Australien) 707 ff. Pressefreiheit – im deutschen Recht 634 ff. – im koreanischen Recht 633 f. – in den USA 638 ff. Preuß, H. 49 ff. – Homogenitätsbegriff 57 ff. principle – of hope 12 ff. Prinzip – Hoffnung 12 ff. Privatentwürfe 330 f. s. a. Verfassungsentwürfe Queen 705 f. Quelle – der Verfassungsgeschichte 183 ff. Ramirez, J. M. 69 ff. Ravel, M. 210 Reagenzglas – der Ideen 131 ff. Recht – Fundamente 387 ff. – im Völkerrecht 85 f. Rechtsbegriffe – Menschenrechte 93 f. Rechtsdurchsetzung – gezieltes Töten 253 f. Rechtskultur – chinesische ~ – – u. Menschenrechte 91 ff. Rechtslehre – von Kelsen 61 f.
Sachregister Rechtsstaat – gezieltes Töten 251 ff. – Terrorbekämpfung 251 ff. – Weg zum ~ 21 ff. Recht – u. Musik 205 ff., 213 ff. Redefreiheit – Charta 08 (China) 344 Referenzgebiete – der Musik 217 f. Regieren – verfassungsgemäßes (China) 340 Regime – illegitime internationale ~ 299 f. Religion – in der Schule (Schutz) 240 f. – u. Bildungsstaat (Bewährungsprobe) 247 f. Religionsfreiheit 69 ff. – Charta 08 (China) 345 – Umfang (Schule) 240 f. Religionsverfassungsrecht – offenes ~ 613 f. Religionsvorbehalt – Verfassung von Venezuela (1811) 563 ff. Republic of Croatia 431 ff. s. a. Croatia res publica – Begriff u. Phänomen 284 ff. Reyes, A. O. 503 ff. Richterbilder 351 ff. Richter, C. 77 ff. rights – fundamental ~ 21 ff., 34 ff. Rittersbach, Theodor 351 ff. – Berufsweg 351 f. – Lüth-Urteil 351 – Parteiverbotsprozesse 352 – Verfassungsrichter 352 f. römisches Recht – Wiederentdeckung 308 f. Rousseau, J. J. 224, 285, 591 ff. rule of law – Croatia 446 f. rules 25 ff. Runder Tisch – der DDR 135 f. Sachsen – historische Vorläufer 146 ff. Sachverständigenräte 152 f. Sächsische Verfassung – Analysebefund 154 f. – Dokumente zur Entstehung 156 ff. – Gohrischer Entwurf (Hauptquelle) 133 f. – Spektralanalyse zur Ontogenese 131 ff. – von 1990
Sachregister Schefold, D. 49 ff. Schiller, Friedrich 190, 198 Schlichtmann, K. 105 ff. Schmalenbach, K. 251 ff. Schmitt, C. 592 Schmitt Glaeser, W. 355 ff. Schneider, Hans 377 ff., 387 ff. – akademische Selbstverwaltung 385 – Gesetzgebungslehre 395 ff. – Grundsatzstudien 392 ff. – Homo politicus 387 ff. – Kriegsdienst u. Verwundung 381 – Lehrauftrag in Göttingen 382 – Professur in Breslau 381 – Professur in Heidelberg 383 ff. – Professur in Tübingen 382 – Schulzeit 378 – Studentenrevolte (60er Jahre) 383 f. – Studium 379 – Weg zum öffentlichen Recht 380 f. – Wissenschaftler 387 ff. Scholler, H. 621 ff. Schriftsteller – der Auf klärung 183 ff. – – politische Texte 183 ff. Schröder, G. 334 Schuirer, F. 39 ff. Schule – Grundrechtsentfaltung 242 f. – im Wettbewerb 243 f. – Maßstab der Verfassung 244 f. – Mitwirkungspfl ichten als Freiheitsgrenze 246 f. – Ordnungsraum 241 f. – religiöse Imprägnierung 245 f. – u. Religion (Schutz) 240 f. – Veränderungen 232 ff. – Verwaltungsanstalt 243 – Zentrum des Bildungssystems 228 ff. Schulwesen – Typenvielfalt 235 f. Schumann, R. 211, 219, 223 secularity 11 f. Sibelius, J. 210 Sorge – um Freiheit 355 ff. Souveränität – Australien 696 ff. – u. Mehrebenensystem 50 ff. – Verfassung von Venezuela (1811) 555 f. soziale Rechte – u. Freiheitsrechte (Verhältnis) 95 f. soziale Sicherung – Charta 08 (China) 346 Spanien 503 ff., 533 ff. s. a. auch España
– Statut von Katalonien 533 ff. Spanische Verfassung – von 1978 526 f. Spanisches Verfassungsgericht – Statut von Katalonien 533 ff. – – Nation 537 – – Präambel 536 f. – – Rechte 536 f. – – Selbstregierung 536 f. Sprache – u. Musik 222 – von Katalonien 538 f. Staatlichkeit – Griechenlands 410 ff. Staatsbürgerschaft – von Bhutan 668 f. Staatspräsident – Ägypten 643 ff. – – Rücktritt 644 ff. Staatsrechtslehre – in Selbstdarstellungen 355 ff. – deutsche ~ 377 ff. Staatsverständnis – der Auf klärung 183 ff. Staatszweck – Verfassung von Venezuela (1811) 557 f. Stadtpolitik – Verfassung von Brasilien 603 state – as an “end” 29 f. – as a “means” 30 f. – legal systems (base) 32 f. Statut – von Katalonien 533 ff. Strategien – kommunikative ~ – – u. internationaler Menschenrechtsschutz 100 f. Strawinsky, I. 210, 223 Streitkräfte – Oberster Rat (Ägypten) 644 f. – – Macht 648 ff. Suarez, F. 286 Subsidiaritätsprinzip 313 f. Supreme Court – von Argentinien 582 f. – von Brasilien 604 Smetana, F. 210 Terrorbekämpfung – gezieltes Töten 251 ff. Textanhang – Gohrischer Verfassungsentwurf (Sachsen) – – Dokumente zur Entstehung 156 ff. – Verfassung des Landes Sachsen (Entwurf ) 160 ff.
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740 Textanhang – Verfassung von Bhutan 670 ff. Texte – Charta 08 (China) 336 ff. – politische ~ (Auf klärung) 183 ff. Thürer, D. 281 ff. Timmermann, A. 545 ff. Töten – gezieltes ~ – – Mittel zur Terrorbekämpfung 251 f. – – Mittel zur Rechtsdurchsetzung 213 f. – – u. Völkerrecht 253 f. Tötungshandlungen – europäischer Menschenrechtsschutz 254 ff. – humanitäres Völkerrecht 258 ff. – universeller Menschenrechtsschutz 257 f. Tragödie – fi nanzielle ~ (Griechenland) 401 ff. transcivilizational approach – Internet 99 f. – Menschenrechtsdenken – – West-Zentriertheit 83 f. – relativistischer Ansatz 87 f. – Eckpunkte 79 ff. – Erkenntnisgewinn 89 ff. – Perspektiven – – internationale u. transnationale (Abgrenzung) 81 f. Transnationalisierung 97 f. Transplantationsgesetz – Regelungsgehalt 266 ff. Tschaikowsky, P. 210, 222, 223 Tschira, O. 357 ff. Umweltschutz – Charta 08 (China) 346 – in Bhutan 668 – Verfassung von Brasilien 603 Ungerechtigkeit – Rehabilitation (China) 347 Unrecht – Bewältigung 392 ff. Unternehmen – transnationale ~ – – u. Menschenrechte 97 f. Unversehrtheit – körperliche ~ – – Grundrecht 275 f. – – u. Arzneimittelversuche 268 f. Ureinwohner – von Australien 690 f. Urheberrecht – Musik-~ u. Recht 223 f. USA – Pressefreiheit (Bedeutung) 638 ff.
Sachregister Valades, D. 1 ff. Venezuela – Verfassung von 1811 – – Vorbilder u. Grundlagen 545 ff. Verdi, G. 209 f. Vereinigte Staaten von Amerika s.a. USA – Pressefreiheit 638 ff. Vereinte Nationen (UN) 53 – Aufgaben 616 f. – Hilfe (national – multinational) 617 f. Verfassung – u. Common law (Australien) 699 f. – u. Konvention (Australien) 700 f. – als Kultur 595 f. – – Erkenntnisgewinn 596 f. – – Grenzen 598 f. – – Vorbehalte 598 – „aus Kultur“ u. „als Kultur“ (Brasilien) 585 ff., 599 f. – – Italien 587 ff. – – Portugal 588 ff. – – positivrechtliche Bestandsaufnahme 591 ff. – Präambeln 221 Verfassungsänderung – Australien 701 f. Verfassungsbeschwerde – koreanische ~ (Vergleich Deutschland – Korea) 626 ff. Verfassungsentwürfe – China – – Charta 08 329 ff. – von 1989 bzw. 2011 330 f. – eigene sächsische Entwürfe 145 ff. – Gohrischer Entwurf (Sachsen) – – Bildungsbereich 151 f. – – DDR-Vergangenheit (Aufarbeitung) 150 – – Landesverfassung Schleswig-Holstein 145 – – Sachverständigenräte 152 f. – – Staat-Kirche-Verhältnis 150 f. – Gohrischer Entwurf (Hauptquellen) – – Bayerische Verfassung 141 f. – – Demokratie-Initiative 90, 142 f. – – u. Grundgesetz 137 f. – – „Gruppe der Zwanzig“ 133 – – Verfassung von Baden-Württemberg 139 ff. – – Zentraler Runder Tisch der DDR 135 f. – Textanhang 160 ff. Verfassungsgericht – von Korea 621 ff. s. a. Koreanisches Verfassungsgericht – von Spanien 533 ff. s. a. Spanisches Verfassungsgericht Verfassungsgeschichte – europäische ~ 315 – Quelle (politische Texte) 183 ff.
Sachregister Verfassungsgrundsätze – Entwicklung 6 ff. – politische Garantie 1 ff. Verfassungsinterpretation – u. Musik 222 Verfassungskontrolle – Statut v. Katalonien 534 f. Verfassungslehre – als Kulturwissenschaft 329 ff., 605 ff. – – Musik u. Recht 205 ff. Verfassungspotenzial – kulturelles ~ (Argentinien) 576 ff. Verfassungsrecht – gemeinarabisches ~ 610 f. – gemeinislamisches ~ 616 – im außereuropäischen Raum – – Amerika 545 ff. – in Australien 689 ff. s. a. australisches Bundesverfassungsrecht Verfassungsreform – in Ägypten 649 ff. Verfassungsrevision – in China 341 f. Verfassungsstaat 28 f. – Argentinien 571 ff. – – Gesamtbewertung 581 f. – Bildung 225 ff. – Entwicklung – – u. Musikgeschichte 214 ff. – Grundsätze 3 ff. – Zukunft der Bildung (5 Thesen) 248 f. Verfassungsvergleichung – europäische ~ 315 Verfassungsverständnis – der Auf klärung 183 ff., 201 – deutsche Sicht 592 ff. Verfassungsvoraussetzung – Bildung 39 ff., 43 ff. Verfassung von Argentinien – kulturwissenschaftliche Sicht 578 ff. Verfassung von Australien 694 ff. Verfassung von Baden-Württemberg – u. Gohrischer Verfassungsentwurf (Sachsen) 139 ff. Verfassung von Bayern – u. Gohrischer Verfassungsentwurf (Sachsen) 141 f. Verfassung von Bhutan 661 ff. – Textanhang 670 ff. Verfassung von Brasilien (1988) 600 ff. – Bundesstaat 604 – Grundrechte 601 – kulturelle Identitätselemente 602 – Multiethnien (Schutz) 604 – Pluralität 602 – Präambel 600
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– Stadtpolitik 603 – Supreme Court 604 – Umweltschutz 603 Verfassung von Italien – als kulturwissenschaftliches-verfassungsjuristisches Werk 587 ff. Verfassung von Sachsen 131 ff. s. a. sächsische Verfassung Verfassung von Schleswig-Holstein – u. Gohrischer Verfassungsentwurf (Sachsen) 145 Verfassung von Venezuela (1811) 545 ff. – Eckpunkte ~ 558 ff. – – Exekutive 566 ff. – – föderales Prinzip 558 ff. – – Gleichheitsgebot 563 ff. – – Individualrechte 561 ff. – – Legislative 566 ff. – – Religionsvorbehalt 563 ff. – Francisco de Miranda 549 ff. – naturalrechtliche Grundlagen 554 ff. – – Souveränität 555 f. – – Staatszweck 557 f. – – Vertrag 554 – – Widerstand 556 f. – Weg zur ~ 551 ff. – – Initiative der Institutionen 551 f. – – Rolle der Provinzen 552 ff. Vergangenheit – juristische Bewältigung (Hans Schneider) 392 ff. Versailles 123 f. Versammlungsfreiheit – Charta 08 (China) 344 Vertrag von Lissabon 66 Verwaltungsanstalt – Schule 243 Verwaltungsrecht – in Kroatien 431 ff. – – Text (Annex 3) 473 ff. Völkerbund 53, 123 ff. Völkerrecht – gezieltes Töten 253 f. – humanitäres ~ – – gezieltes Töten 258 ff. – Macht, Recht, Legitimität 85 f. – Menschenrechte 81 ff. – u. Bürgertugend 294 f. Volksabstimmungen 394 f. Volksgesetzgebung – in Sachsen – – Verfassungsentwurf DemokratieInitiative 90, 142 f. von Weber, C. M. 222 v. Beethoven, L. 208
742 Wagner, B. 621 ff. Wagner, R. 222 f. Wahlsystem – Griechenland 423 ff. Wahrheitskommission 614 – Charta 08 (China) 347 Wangchuk-Dynastie – Bhutan 662 f. Weber, A. 307 ff. Weber, M. 594 Weck, B. 183 ff. Wehner, H. 324 Weimarer Republik 323 f. Wertekanon – der EU 313 f. Whitman, J. Q. 93 ff. Widerstand – Verfassung von Venezuela (1811) 557 f. Widerstandsrecht 394 Willensbildung – politische ~ 323 f. Wirtschaft – griechische ~ – – Rettungsmechanismus 403 f. Wissenschaft – Charta 08 (China) 340
Sachregister Wissenschaftler – Hans Schneider 387 ff. Wissenschaftsfreiheit – u. Pressefreiheit 636 ff. Wißmann, H. 225 ff. Würde 530 f. Zeitbezug – der Musik 210 f. Zentralisierung – im Bildungswesen 233 f. Zentrum – des Bildungssystems (Schule) 228 ff. Zivilisationsbegriff 80 f. Zukunft – der Bildung (5 Thesen) 248 f. Zusammensetzung – politisches Personal (Griechenland) 416 ff. Zustand – verfassungsrechtlicher ~ (Ägypten) 644 ff. Zuständigkeit – des korean. Verfassungsgerichts 625 f. Zweiparteiensystem – in Griechenland 423 ff.